eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 31/2

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.2357/PM-2020-0026
511
2020
312 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessen

511
2020
Markus Schmidtner
Holger Timinger
Der moderne automobile Produktentstehungsprozess (PEP) findet nicht mehr nur beim Erstausrüster statt, sondern ist zum großen Teil über die gesamte Lieferkette fragmentiert. Daraus resultieren viele Teilprojekte in unterschiedlichen Unternehmen. Bisher wird die Zusammenarbeit und Kommunikation durch planbasierte Vorgehensweisen bestimmt, obwohl die Kontextfaktoren einzelner Teilprojekte für agile oder hybride Vorgehensweisen sprechen. Für die Handhabung der Vielfalt an Vorgehensvarianten und die Integration von alternativen Vorgehensmodellen in den PEP wird hier ein adaptives Referenzmodell vorgeschlagen. Auf Basis der Ausprägung von Kontextfaktoren, passt sich das Modell an die Bedürfnisse des jeweiligen Partners in der Lieferkette an.
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Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessen Markus Schmidtner, Holger Timinger Für eilige Leser | Der moderne automobile Produktentstehungsprozess (PEP) findet nicht mehr nur beim Erstausrüster statt, sondern ist zum großen Teil über die gesamte Lieferkette fragmentiert. Daraus resultieren viele Teilprojekte in unterschiedlichen Unternehmen. Bisher wird die Zusammenarbeit und Kommunikation durch planbasierte Vorgehensweisen bestimmt, obwohl die Kontextfaktoren einzelner Teilprojekte für agile oder hybride Vorgehensweisen sprechen. Für die Handhabung der Vielfalt an Vorgehensvarianten und die Integration von alternativen Vorgehensmodellen in den PEP wird hier ein adaptives Referenzmodell vorgeschlagen. Auf Basis der Ausprägung von Kontextfaktoren, passt sich das Modell an die Bedürfnisse des jeweiligen Partners in der Lieferkette an. Schlagwörter | Hybrides Projektmanagement, Referenzmodellierung, Automobilindustrie, Technologie, Innovation, Produktentstehungsprozess Der Produktentstehungsprozess (PEP) in der Automobilindustrie dauert mehrere Jahre und ist entscheidend für den späteren Erfolg des Produkts. Für die Umsetzung des PEP bevorzugen Erstausrüster planbasierte Vorgehensmodelle mit sequenziellen Projektphasen. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass die Wertschöpfung zu immer größeren Teilen auf die Lieferkette ausgelagert wird. Aufgrund dieser neuen Arbeitsteilung sind Kommunikation und Synchronisation zu einem zentralen Bestandteil geworden. Allerdings eignet sich das von den Erstausrüstern geprägte planbasierte Vorgehen nicht für alle Partner. Oft würden sie agile Arbeitsweisen bevorzugen, sind jedoch an die Vorgaben der Erstausrüster gebunden. Modernes Projektmanagement ist gefragt, um diesen Herausforderungen entgegenzutreten. Die Automobilindustrie ist eines der zentralen Standbeine der deutschen Wirtschaft. Jedoch steht gerade diese Branche vor einem gewaltigen Umbruch. In den letzten Jahren ist der Druck, neue und umweltfreundlichere Antriebsformen zu entwickeln, stetig gestiegen. Zudem drängen weitere Mitbewerber wie Google und Tesla auf den Markt und versuchen mit disruptiven Technologien, wie dem autonomen Fahren, etablierte Erstausrüster herauszufordern. Die Integration dieser neuen Technologien stellt die Branche vor Herausforderungen, welche eine neue Herangehensweise an bestehende Prozesse und Konventionen erfordert [1]. Der bisherige Produktentstehungsprozess in der Automobilindustrie erstreckt sich meist über mehrere Jahre und folgt dabei einer stark plangetriebenen Vorgehensweise. Dies erschwert es den beteiligten Firmen, neue Technologien zu nutzen und in die Fahrzeuge zu integrieren. Ein einfaches Beispiel hierfür lässt sich an der Schnittstelle zwischen Automobil und Mobiltelefon finden. Das Mobiltelefon ist inzwischen zu einem unverzichtbaren Alltagsgegenstand geworden, der für Kommunikation, Information und Unterhaltung genutzt wird. Die Integration im Automobil ist allerdings weit hinter den technischen Möglichkeiten zurück. Ein nicht unerheblicher Grund hierfür sind die unterschiedlichen Entwicklungszyklen dieser beiden Technologien. Während ein Automobil im Schnitt drei oder mehr Jahre Entwicklungszeit benötigt, werden Mobiltelefone meist schon innerhalb eines Jahres von der nächsten Generation abgelöst. Um mit dieser rasanten Entwicklung Schritt halten zu können, müssten die Erstausrüster den Produktentstehungsprozess agiler gestalten und dadurch die Möglichkeit schaffen auf Änderungen während der Entwicklung besser reagieren zu können. Betrachtet man den aktuellen Produktentstehungsprozess mehrerer deutscher Erstausrüster, so erkennt man, dass alle einem ähnlichen Stage-Gate oder Quality-Gate Modell folgen. Jedoch ist die Einteilung der Phasen und Quality Gates sowie deren Bezeichnung jeweils individuell geregelt. So ist in Abbildung 1 beispielsweise erkennbar, dass Erstausrüster 1 und Erstausrüster 3 die Serienentwicklung als Wissen Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessent DOI 10.2357/ PM-2020-0026 31. Jahrgang · 02/ 2020 39 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0026 07_Schmidtner.indd 39 28.04.2020 14: 36: 02 eine einzige Phase betrachten, während Erstausrüster 2 hier eine Unterteilung in Fahrzeugphase und Anlaufphase vornimmt. Eine weitere Besonderheit des automobilen Produktentstehungsprozesses ist die Ergänzung von Meilensteinen um Quality Gates. Ein Meilenstein repräsentiert ein Datum bis zu dem die vorhergehende Phase abgeschlossen sein muss. Ein Quality Gate enthält zusätzlich eine Liste von Key Performance Indicators (KPIs) die erfüllt sein müssen. Hierbei ist meist auch streng geregelt wie die einzelnen KPI gemessen werden. Erst wenn ein Quality Gate komplett erfüllt ist, kann ein Übergang zur nächsten Phase erfolgen. Bei Meilensteinen dominiert folglich der Aspekt der zeitlichen Fortschrittskontrolle, während Quality-Gates den Inhalt der vorangehenden Phase bewerten und überwachen [3]. Die bisherige Betrachtungsweise des automobilen Produktentstehungsprozesses zeigt nur die Sicht der Erstausrüster. Durch eine zunehmende Globalisierung und Spezialisierung im Bereich der Lieferanten wurden immer mehr Teile vom Erstausrüster auf die Lieferanten ausgelagert, wodurch ein fragmentierter Prozess entstanden ist. In der Praxis bedeutet dies, dass mehr als 80% der Wertschöpfung nicht mehr beim Erstausrüster intern, sondern bei Zulieferern stattfindet. Auch die Entwicklung von neuen Komponenten und Subsystemen findet direkt beim Lieferanten statt. Aufgrund dieser Arbeitsteilung haben die einzelnen Partner entlang der Lieferkette teilweise recht unterschiedliche Perspektiven auf den Produktentstehungsprozess. Wie in Abbildung 2 zu erkennen ist, werden die Lieferanten in sogenannte Tiers aufgeteilt. Ein Tier 1 Lieferant arbeitet direkt mit dem Erstausrüster zusammen und erhält meist einen Entwicklungsauftrag für ganze Module oder Systeme. Ein Tier 2 Lieferant wird vom Tier 1 Lieferanten zur Entwicklung von Komponenten und Subsystemen beauftragt. Eine direkte Zusammenarbeit oder Kommunikation mit dem Erstausrüster findet meist nicht statt. Ein Tier 3 Lieferant wird meistens vom Tier 2 für die Beibringung von Halbfabrikaten oder Standardteilen beauftragt. Auch hier findet nur selten eine Kommunikation mit Partnern aus nicht angrenzenden Schichten statt. Während der Erstausrüster selbst das gesamte Fahrzeug als System of Systems (ein Verbund von komplexen Systemen) im Blick hat und sich primär auf das Zusammenwirken der einzelnen Systeme und Module konzentriert, wird auf Seiten des Tier 1 Lieferanten eines dieser komplexen Systeme für das Gesamtsystem entwickelt. Für die Entwicklung dieses Systems müssen nicht nur Hardware und/ oder Software-Bestandteile konzipiert werden, sondern auch die Schnittstellen extern zum Erstausrüster implementiert werden. Systeme, die an einen Tier 2 Lieferanten ausgelagert wurden, müssen integriert werden. Die Subsysteme und Komponenten eines Tier 2 Lieferanten wiederrum können zwar immer noch komplexe Hard- und Softwareentwicklungen umfassen, sind meist aber nur mit einer Schnittstelle zum Tier 1 System ausgestattet. Ein Tier 3 Lieferant hingegen bringt üblicherweise nur relativ einfache Produkte in den Prozess ein. Die Entwicklung erfolgt größtenteils unter stabilen Anforderungen. Er hat aber ein großes Interesse daran den Entwicklungs- und späteren Fertigungsprozess möglichst effizient zu gestalten. Wie in Abbildung 3 zu sehen, löst der Produktentstehungsprozess des Erstausrüsters mehrere abhängige Produktentstehungsprozesse bei den Tier 1 Zulieferern aus. Dies setzt sich dann ebenso bei den Tier 2 und Tier 3 Lieferanten fort. Um den eigenen Produktentstehungsprozess in der sequenziellen Prozessabfolge abschließen zu können, ist es notwendig dass alle Partner aus darunterliegenden Tiers den jeweiligen Produktentstehungsprozess durchlaufen haben. Hierdurch ergibt sich im Prinzip die Form einer umgedrehten Pyramide, bei dem die Tier 3 Zulieferer die Basis bilden. Da sich die Entwicklungspläne der Zulieferer in den Rahmenplan des Erstausrüsters einfügen müssen, bleibt meist nur ein deutlich verkürzter Zeitrahmen für die Prozesse der Lieferanten, wobei dieser mit jedem Tier weiter abnimmt. Aufgrund der inhärenten Abhängigkeit bedeutet dies jedoch auch, dass Probleme und Verzögerungen aus darunterliegenden Tiers sich direkt auf den Produktentstehungsprozess des Erstausrüsters auswirken können. Aufgrund des verwendeten Quality-Gate Modells tendieren die Partner allerdings dazu, erst beim Erreichen eines Quality Gates zu kommunizieren. Bis also tatsächlich die Information über ein bestehendes Problem beim Erstausrüster ankommt, können bereits erhebliche Kosten entstanden sein. Agile Methoden im Produktentstehungsprozess Wie eine Studie zu interorganisationalen Entwicklungsprozessen belegt [4] führt die oben geschilderte Situation zu großem Frust auf Seiten der Zulieferer. Einerseits entsteht durch die strikten Vorgaben der Erstausrüster auf die Lieferanten Abb. 1: Darstellung der unterschiedlichen Produktentstehungsprozesse von mehreren deutschen Erstausrüstern in Anlehnung an Göpfert und Schulz [2] Wissen | Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessent 40 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0026 07_Schmidtner.indd 40 28.04.2020 14: 36: 02 ein hoher Kosten- und Zeitdruck für den Produktentstehungsprozess, andererseits behindern diese auch die Fähigkeit der Erstausrüster durch ihre jeweilige Fachexpertise Innovationen in die neuen Produkte einzubringen. Auch die mangelnde Kommunikation bei der Verknüpfung der jeweiligen Unternehmensprozesse wurde von den Zulieferern als negativer Einfluss auf den Entwicklungsprozess angegeben. Diese Aussagen weisen eine große Parallele zu der Situation auf, in der sich die Softwarebranche um die Jahrhundertwende befand. Um diesen Herausforderungen zu begegnen wurden schließlich neuartige Ideen im agilen Manifest zusammengefasst, das • Individuen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge, • Funktionierende Software über eine umfassende Dokumentation, • Zusammenarbeit mit dem Kunden über Vertragsverhandlungen und • das Reagieren auf Veränderungen über die Befolgung eines Plans stellte [5]. Diese wurden dann schnell in konkrete Vorgehensmodelle, Rollen und Strukturen gefasst, die eine Umsetzung in der Praxis ermöglichten. Obwohl agile Vorgehensmodelle heutzutage einen wichtigen Beitrag zum modernen Projektmanagement leisten, finden diese bislang in der deutschen Automobilindustrie nur wenig Anwendung. Zum einen ist dies in der starken Dominanz der Erstausrüster begründet, die an den bisher verwendeten, strikt plangetriebenen Vorgehensweisen festhalten, zum anderen beinhalten Entwicklungen im Automobilsektor meist auch Hardwarekomponenten. Da agile Vorgehensmodelle meist mit Softwareentwicklung oder Prozessmanagement assoziiert werden und Ingenieure oft von der Arbeit mit planbasierten Vorgehensmodellen geprägt sind, existiert hier eine gewisse Skepsis inwieweit agile Vorgehensmodelle auch auf physische Entwicklungen angewendet werden können. Oft mangelt es am Verständnis für die agilen Rollen, der Änderungsbereitschaft der Mitarbeiter und der Anpassung von organisatorischen Strukturen [6]. Das agile und hybride Vorgehensmodelle jedoch auch einen positiven Effekt auf den Produktentstehungsprozess von physischen Gütern haben können hat sich bereits in ersten Feldversuchen gezeigt [7, 8]. Dabei wurde festgestellt, dass durch die Verwendung agiler Methoden, die Motivation von Mitarbeitern deutlich gesteigert wurde. Dies war vor allem auf die regelmäßigen Projektbesprechungen, die zusammen mit Vertreten des Kunden stattfanden, zurückzuführen. Durch das direkte Feedback fanden sich die Entwickler deutlich stärker in den Prozess eingebunden und betrachteten es als einfacher Innovationen zur Sprache zu bringen. Abb. 2: Unterschiedliche Perspektiven der einzelnen Partner entlang der automobilen Lieferkette. Je höher ein Lieferant in der Pyramide ist, desto komplexer das Produkt, bzw. die Vernetzung im Fahrzeug. Abb. 3: Der fragmentierte Produktentstehungsprozess wie er über Erstausrüster und mehrere Tiers der Lieferkette hinweg abläuft. Während der Prozess zwar ähnliche Phasen durchläuft, ist der Fokus innerhalb jedoch deutlich unterschiedlich. Von links nach rechts sind die sequenziellen Phasen des PEP chronologisch geordnet. Wissen | Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessent 41 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0026 07_Schmidtner.indd 41 28.04.2020 14: 36: 03 Ein weiterer positiver Effekt fand durch die Einführung von Timeboxing statt. Anstatt großer Aufgaben die einen Abgabetermin erst lange in der Zukunft haben, wurden diese in wöchentliche Sprints heruntergebrochen. Hierdurch war es den Entwicklern möglich sich mehr auf die aktuell anstehenden Aufgaben zu fokussieren und die notwendigen Aktivitäten zu priorisieren. Im Gesamtbild wurde der Produktentstehungsprozess flexibler für Änderungen und die Zeit bis zur Marktreife wurde verkürzt. Da jedoch die Entwicklung von physischen Produkten anderen Anforderungen unterliegt als die Entwicklung von Software mussten bekannte Vorgehensmodelle modifiziert werden. Ein Beispiel hierfür ist die abgeänderte Definition von Sprint-Ergebnissen. Während im Softwarebereich am Ende eines Sprints meist ein auslieferbares Produkt entsteht, ist dies bei einer Hardware-Entwicklung selten möglich. Im vorliegenden Testversuch wurde dies durch Unternehmen so gehandhabt, dass aus auslieferbaren Produktinkrementen „vorzeigbare und bewertbare Ergebnisse“ wurden, wie beispielsweise Konstruktionszeichnungen, 3D-Modelle oder Simulationen. Es existiert also der Wunsch agile und hybride Methoden im automobilen Produktentstehungsprozess anzuwenden. Auch wurden bereits erste Versuche hierzu durchgeführt, die deren positiven Effekt festgestellt haben. Was bisher aber noch fehlt, ist ein Leitfaden, der Unternehmen bei der Einführung dieser Vorgehensmodelle unterstützt und die verschiedenen Möglichkeiten zur Kommunikation mit Partnern in vorhergehenden bzw. nachfolgenden Tiers aufzeigt. Um dieser Herausforderung zu begegnen, soll im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und des Europäischen Sozialfonds geförderten Projektes HyValue ein Geschäftsmodell „Kollaborationsexperte“ entwickelt werden, dass Erstausrüstern und Zulieferern eine engere und flexiblere Zusammenarbeit ermöglicht. Adaptive Referenzmodellierung Ein Teil dieses Geschäftsmodells ist die Entwicklung eines adaptiven Referenzmodells, welches basierend auf den Kontextfaktoren des jeweiligen Partners eine Handlungsempfehlung für die Umsetzung des Produktentstehungsprozesses gibt. Dieses Teilprojekt wird am Institut für Projektmanagement und Informationsmodellierung der Hochschule Landshut erarbeitet. Hierbei ist es zunächst von Bedeutung, die Sichtweise des jeweiligen Partners zu verstehen. Um den unterschiedlichen Perspektiven der am PEP beteiligten Partnern Rechnung zu tragen, ist es zuerst notwendig die Kontextparameter des jeweiligen Partners zu ermitteln. Diese bestimmen maßgeblich die Umsetzung des Prozesses und lassen sich in eine Prozessebene und eine Vorgehensebene aufteilen (siehe Abbildung 4). Die Kontextfaktoren der Prozessebene dienen zur Ermittlung der für den jeweiligen Partner relevanten Prozessschritte. Hierzu muss zunächst nur eine Reihe von einfachen „Ja“ oder „Nein“ Fragen beantwortet werden. Ein Beispiel hierfür ist „Müssen Softwarekomponenten entwickelt werden? “. Intern werden die Antworten dann als boolesche Werte „Wahr“ und „Falsch“ repräsentiert. Der zweite Aspekt, welcher auf den jeweiligen Partner zugeschnitten sein muss, ist die Art wie ein Prozessschritt umgesetzt werden kann. Hierfür werden die Kontextfaktoren der Vorgehensebene bewertet. Basierend auf diesen wird hier ermittelt ob ein planbasiertes, agiles oder hybrides Vorgehensmodell am besten für den Partner geeignet ist. Aufgrund der Thematik können hier keine einfachen „Ja“ oder „Nein“ Fragen angewendet werden. Welche Vorgehensmodelle präferiert werden sollten, wird meist durch einen Mix aus Variablen bestimmt. Erste Beispiele finden sich hier in der Literatur, wie z.B. die von Boehm und Turner [9] oder Špundak [10] ermittelten Faktoren. Eine Veranschaulichung hierfür findet sich in Abbildung 5. Hier werden die Faktoren „Menschen“, „Gefährdungspotenzial“, „Projektteamgröße“, „Kultur“ und „Stabilität der Anforderungen“ betrachtet. Diese Werte können dann jeweils anhand einer Skala vom Partner definiert werden. Ein niedriger Wert favorisiert ein agileres Vorgehensmodell, ein hoher Wert ein plangetriebenes Vorgehensmodell. Verbindet man die Punkte, erhält man eine Fläche, welche ein Indikator dafür ist, welches Vorgehensmodell bevorzugt verwendet werden soll. Je größer die abgedeckte Fläche, desto mehr ist ein plangetriebenes Vorgehensmodell zu favorisieren. Für die Umsetzung im Referenzmodell bedeutet dies, dass ein Term aufgestellt werden muss, der einen Vorschlag für die Umsetzung auf Basis dieser und weiterer Parameter ermittelt. Abb. 4: Aufteilung des Referenzmodells in eine Prozessebene, die bestimmt welche Prozessschritte empfohlen werden, und eine Vorgehensebene, die einen Vorschlag macht nach welchen Vorgehensmodellen die jeweiligen Schritte umgesetzt werden können. Wissen | Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessent 42 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0026 07_Schmidtner.indd 42 28.04.2020 14: 36: 05 Ein weiterer Punkt, der in das Referenzmodell eingearbeitet wurde, ist die Art der Kommunikation mit vorhergehenden und nachfolgenden Tiers in der Prozesspyramide. Ein anderes Teilprojekt von HyValue beschäftigt sich mit der Ermittlung der Optionen wie diese Kommunikation durchgeführt werden kann und welche Faktoren ausschlaggeben für die Festlegung sind. Erste Ansätze für diese firmenübergreifende Prozesskommunikation finden sich beispielsweise im „Collaborative Projekt Management“ des PROSTEP Verbundes der Automobilindustrie [11]. Diesem Modell folgend könnte ergänzend eine eigene Kommunikationsschicht modelliert werden, welche Regeln für die Zusammenarbeit und Kommunikation enthält. Wie in Abbildung 6 dargestellt, können hierzu Methoden wie Meilensteine, Reifegrade oder Bewertungsmodelle verwendet werden. Betrachtet man Abbildung 7, so kann man die Anwendung der zuvor beschriebenen Funktionalitäten an einem einfachen Beispiel erkennen. Hier werden die Vorteile eines adaptiven Referenzmodells zur Handhabung von Variantenvielfalt nochmals hervorgehoben. Der Prozess beschreibt einen stark abstrahierten Produktentstehungsprozess, der von drei Firmen jeweils unterschiedlich ausgeführt wird. Während Firma-1 den Prozess mit Hard- und Softwareentwicklung durchläuft und hierbei ein V-Modell einsetzt, so führen Firma-2 und Firma-3 lediglich eine Hardware oder Softwareentwicklung durch. Firma-3 setzt im Vergleich zu Firma-1 auf ein agiles Vorgehensmodell zur Softwareentwicklung. Ist eine Änderung am für alle Firmen identischen Prozessschritt „Qualitätssicherung“ notwendig, so muss diese Änderung dreimal separat erfolgen. Um den Verwaltungsaufwand zu minimieren wurden die drei Produktentstehungsprozesse in einen zusammengefasst. Hierbei entscheiden Parameter auf der Prozessebene darüber ob generell Hardwareund/ oder Softwareentwicklung durchgeführt werden. Im Bereich der Softwareentwicklung wird anhand der beiden Parameter „Kritikalität“ und „Teamgröße“ entscheiden ob das V-Modell oder Scrum zum Einsatz kommt. Um abschließend nochmals die gesamte Funktionsweise des Referenzmodells darzustellen ist in Abbildung 8 der Verlauf schematisch dargestellt. Der Partner definiert zunächst die Kontextfaktoren gemäß seiner Sichtweise auf den Pro- Abb. 5: In Abhängigkeit der Kriterien Mensch, Gefährdungspotenzial, Projektteamgröße, Kultur und Stabilität der Anforderungen lässt sich bestimmen, ob eher agile oder traditionelle (plangetriebene) Vorgehensmodelle zum Einsatz kommen sollten in Anlehnung an Boehm und Turner [9]. Abb. 6: Darstellung von möglichen Synchronisationsmechanismen mit denen die Kommunikation entlang der Prozesspyramide realisiert werden kann. Wissen | Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessent 43 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0026 07_Schmidtner.indd 43 28.04.2020 14: 36: 06 duktentstehungsprozess. Auf Basis der Kontextfaktoren der Prozessebene wird dann im nächsten Schritt der Teil des Referenzmodells ausgewählt, der für den Partner relevant ist. Anschließend werden die Kontextfaktoren der Vorgehensebene verwendet, um eine Handlungsempfehlung zu geben, welches Vorgehensmodell am besten für die Umsetzung geeignet ist. Ausblick Im Moment befindet sich das Referenzmodell noch in der Aufbauphase. Derzeit wird das initiale Modell um Daten von Erstausrüstern und Partnern aus allen Tiers der Prozesspyramide ergänzt. Dabei werden die unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet und die verschiedenen Kontextfaktoren und Prozessvarianten in das Referenzmodell einfließen. Die gewonnenen Erkenntnisse darüber, welche Kontextfaktoren ausschlaggebend für die Durchführung des Produktentstehungsprozesses sind, und wie diese die Kommunikation steuern werden über Terme in das Referenzmodell integriert. Die Konstruktion und Implementierung des Referenzmodells erfolgt in der eigens hierfür optimierten Software ADAMO, die am Institut für Projektmanagement und Informationsmodellierung der Hochschule Landshut entwickelt wurde. ADAMO wird auf Basis der im Projekt auftretenden Anforderungen stetig weiterentwickelt. Das am Ende entstehende Referenzmodell kann dann für die Implementierung von agilen und hybriden Vorgehensmodellen im eigenen Produktentstehungsprozess genutzt werden. Förderhinweis Dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekt wird im Rahmen des Programms „Zukunft der Arbeit" vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Literatur 1. Kume, H.: Tesla teardown finds electronics 6 years ahead of Toyota and VW - Nikkei Asian Review, https: / / asia. nikkei.com/ Business/ Automobiles/ Tesla-teardown-findselectronics-6-years-ahead-of-Toyota-and-VW2 2. Göpfert, I. (ed.): Logistik der Zukunft - Logistics for the Future. Springer Gabler, Wiesbaden (2016) Abb. 7: Einfaches Beispiel eines adaptiven Prozesses. Anstatt drei separate Prozesse zu pflegen die nur geringe Abweichung aufweisen, wird nur ein Prozess gepflegt der basierend auf Parametern angepasst wird. Abb. 8: Exemplarisches Beispiel für die Verwendung des Referenzmodells. Zuerst werden Kontextfaktoren für Prozessebene und Vorgehensebene ermittelt. Diese werden dann im Referenzmodell verarbeitet, um eine aus den Kontextfaktoren und dem Referenzmodell resultierende Empfehlung für ein passendes Vorgehensmodell zu generieren. Wissen | Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessent 44 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0026 3 Agile Heroes im Quadrat Persönlich und aufs Unternehmen bezogen: Mit diesen Büchern auf ein neues Level 07_Schmidtner.indd 44 28.04.2020 14: 36: 12 Markus Schmidtner Markus Schmidtner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Landshut und Lehrbeauftragter für Projektmanagement und Collaborative Business Process Modelling. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geschäftsprozessmanagement, Informationsmodellierung und agiles Projektmanagement. Kontakt: E-Mail: markus.schmidtner@haw-landshut.de Web: http: / / ipim.institute Prof. Dr. Holger Timinger Holger Timinger ist Professor für Projektmanagement und Leiter des Instituts für Projektmanagement und Informationsmodellierung (IPIM) an der Hochschule Landshut. Dort ist er unter anderem Studiengangsleiter des berufsbegleitenden MBA-Studiengangs Systems and Project Management. Kontakt: E-Mail: holger.timinger@haw-landshut.de Web: http: / / ipim.institute 3. Wuest, T., Liu, A., Lu, S.C.-Y., Thoben, K.-D.: Application of the Stage Gate Model in Production Supporting Quality Management. Procedia CIRP 17, 32-37 (2014) 4. Kalkowski, P., Mickler, Ü.: Kooperation in der Produktentwicklung. Mitteilungen aus dem SOFI 7, 9-19 (2014) 5. Beck, K.e.a.: Manifesto for Agile Software Development, http: / / agilemanifesto.org/ 6. Nuhn, H.F.R., Martini, J.-P., Kostron, A.: Hybride Strukturen in der Automobilindustrie-Studie zu Agilen Praktiken in Forschungs- und Entwicklungsprozessen. 38857965 (2016) 7. Cooper, R.G.: Agile-Stage-Gate Hybrids: The Next Stage for Product Development Blending Agile and Stage- Gate methods can provide flexibility, speed, and improved communication in new-product development. Research-Technology Management 59, 21-29 (2016) 8. Cooper, R.G., Sommer, A.F.: Agile-Stage-Gate for Manufacturers: Changing the Way New Products Are Developed Integrating Agile project management methods into a Stage-Gate system offers both opportunities and challenges. Research-Technology Management 61, 17-26 (2018) 9. Boehm, B.W., Turner, R.: Balancing agility and discipline. A guide for the perplexed. Addison-Wesley, Boston (2004) 10. Špundak, M.: Mixed Agile/ Traditional Project Management Methodology - Reality or Illusion? Procedia - Social and Behavioral Sciences 119, 939-948 (2014) 11. ProSTEP iViP Association: CPM Recommendation Version 3.0. Darmstadt (2010) Eingangsabbildung: © iStock.com/ Sjoerd van der Wal Anzeige Wissen | Automatisiertes Tailoring von Produktentstehungsprozessent 45 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0026 Roman Simschek, Fabian Kaiser Roman Simschek, Fabian Kaiser 3 Agile Heroes im Quadrat Persönlich und aufs Unternehmen bezogen: Mit diesen Büchern auf ein neues Level www.uvk.de 07_Schmidtner.indd 45 28.04.2020 14: 36: 16