Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
10.2357/VOX-2017-025
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Kristol De StefaniRicarda Liver (ed.), La Sabgienscha da Iesu filg da Sirach. Die altengadinische Ecclesiasticus- Übersetzung von Lüci Papa. Neuausgabe des Drucks von 1613 mit linguistischem Kommentar, Tübingen (A. Francke Verlag) 2016, 199 p. (Romanica Helvetica, 137)
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Wolfgang Eichenhofer
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367 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 367-368 DOI 10.2357/ VOX-2017-025 Raetoromania r iCarda l iVer (ed.), La Sabgienscha da Iesu filg da Sirach. Die altengadinische Ecclesiasticus-Übersetzung von Lüci Papa. Neuausgabe des Drucks von 1613 mit linguistischem Kommentar, Tübingen (A. Francke Verlag) 2016, 199 p. (Romanica Helvetica, 137) Das Buch Jesus’, des Sohnes Sirachs, ein dem Alten Testament beigefügter Text, ist eine Sammlung von Sittensprüchen in 51 Kapiteln, denen jeweils ein Lobpreis der Weisheit Gottes folgt. Lüci Papa (1566-1632), Enkel des Giachem Bifrun, der mit seiner Übersetzung des Neuen Testaments dem Oberengadinischen als Schriftsprache ein frühes Denkmal setzte, lebte vor allem in Samedan und war dort als Pfarrer und Notar tätig. La Sabgienscha, ebenfalls auf Oberengadinisch verfasst, erschien zweimal (1613 und 1628). r. l iVer hatte bereits in ihrem Aufsatz «‹La Sabgienscha›, die altengadinische Ecclesiasticus-Übersetzung von Lucius Papa», BM 1972: 4-45 für die Notwendigkeit einer erneuten Edition des Textes plädiert, da Papas Werk für Interessenten und Studierende der Geschichte des Engadinischen nützlich sei. Im genannten Artikel wird Papas Ausgangstext vorgestellt: Der Übersetzer richtet sich besonders nach der lateinischen Ausgabe der im Jahre 1543 in Zürich gedruckten und 1564 wieder aufgelegten Bibel von Leo Jud; außerdem nutzt Papa die Vulgata und die deutsche Zürcher Bibel. Auf p. 19s. ihres Artikels erläutert Liver, welchen Beitrag die Sabgienscha zur Kenntnis der rätorom. Sprachgeschichte und des Wortschatzes liefert. Die Neuausgabe mit linguistischem Kommentar kann in der Tat als willkommener Beitrag zum besseren Verständnis nicht nur des Altengadinischen bezeichnet werden. Der Text Papas wurde weitgehend der ersten Ausgabe von 1613 folgend wiedergegeben. Eingefügt ist allerdings die Verseinteilung der lateinischen Zürcher Bibel von 1564; nur wenige graphische Zeichen oder Symbole Papas wurden modernisiert (11). Die Einleitung (11-32) informiert ziemlich detailliert über die Graphie des Autors, die gut 50 Jahre nach Bifrun auf dem Weg zu einer größeren Einheitlichkeit war, über seinen Wortschatz, der auch Archaismen wie medeschem für modernes listess ʻder-, dasselbeʼ oder mittlerweile verschwundene Germanismen wie damffi ‘Dampf’ birgt, enthält eine Synopse des ersten Teils von Kapitel 43 mit dem Text der Zürcher Bibel Z 1544 und Papas Version sowie Anmerkungen zu seiner Übersetzungs-Strategie: Zum Beispiel «etymologische» Übersetzungen bzw. Nutzung engadinischer, mit dem Latein der Vorlage etymologisch verwandter Wörter etwa in «Quaunt dischfammo ais ün chi abanduna seis bab» für «Quam infamis est desertor patris», eine Stelle, die auch Papas Tendenz zu verbalen statt nominalen Ausdrücken zeigt («ün chi abanduna» = «desertor»). Im Fazit dieser Einleitung (32-35) hebt Liver Papas Text als Fundgrube für Besonderheiten des Puter von Anfang des 17. Jahrhunderts, des Autors flüssige und natürliche Ausdrucksweise sowie seine Nähe zur gesprochenen Sprache hervor. Wenige dieser Besonderheiten seien hier genannt: Ariôs davend ‘ausgerissen’ (53, Cap. iii , 30 mit N103) dürfte auf lat. radicāre ‘an der Wurzel fassen’ beruhen; das in der Fußnote verzeichnete ueng. rajar entstammt wie surs. dargiar ‘sieben’ einer Ableitung von lat. drāgiu ‘Sieb’, dessen anlautendes [d-] im Engadinischen schwand: Oeng. rios ‘ausgerissene’ wie ‘gesiebte’ sind also in der Tat Homonyme. Aufschlussreich ist die Feststellung, aura ‘Wetter’ habe - im Unterschied zu HWR: 76 - auch die Bedeutung ‘Wind’ (101s. N437). Der Archaismus spazchaer (143, Cap. xxxViii , 7 und N740), welcher für pharmacopola der Vorlage steht, kann nicht aus speciārius ‘Gewürzhändler’ ererbt, sondern muss Lehnwort aus dem Süden sein, cf. in der Val Antrona spitsyé ‘pharmacien’ (FEW 12: 156), sofern nicht sprachinterne Ableitung aus spezcha ‘Gewürz’ angenommen werden muss. Die Form Papas hätte als Erbwort *[ ʃpɐˈtʃeːr ] zu lauten, was Reflexe wie surs., eng. glatscher, trent. glačái̯ , tess. džaséi̯ < * glaciāriu ‘Gletscher’ zeigen (HWR: 370). 368 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 367-368 DOI 10.2357/ VOX-2017-025 Von Papas Archaismen seien folgende aufgeführt: fafflamaint ‘Rede’ als Ableitung von heute nur mehr poetisch gebrauchtem favler ‘sprechen’ (69, Cap. ix , 22 und N211), parschendimaint ‘Ursprung’ für parschandüda ‘id.’ (70s., Cap. x , 15, N 222), ula ‘Topf’ (79, Cap. xiii , 3, N269), das noch in Mittelbünden lebt (HWR: 545 s. oula) und schirmagiamaint ‘Schutz’ zu alteng. schirmagiar ‘schützen’ (83, Cap. xiV , 26, N298 und HWR: 741 s. schurmegiar). Erwähnung verdient schließlich «l’g grand thoen dalg thun» ‘der große Klang des Donners’ (166, Cap. xlVi , 20), womit thoen als Pendant zu modernem surs. tien ‘Klang’ auch für das Altoberengadinische belegt wird. Als Beispiele für semantische Archaismen wären zu nennen peduns ‘Fußsoldaten’ (85, Cap. xVi , 11) mit der heutigen Bedeutung ‘Fußgänger’, viers ‘Klang’, heute im Sinne von ‘Schrei’ (130, Cap. xxxii , 5 und N642), oder alimaeri ‘Lebewesen’, modern ‘Schwein’ (150, Cap. xl , 8).Papa verwendet das Verb tommaer ‘fallen’ (96, Cap. xx , 20), das gemäß FEW 13/ 2: 408 als altoit. tombar ‘purzeln’, borm. tomar und in der Val Antrona als tumá ‘fallen’ (< onomat. tŭmb-) vorkommt. Das moderne Puter hat hierfür cruder ‘id.’. Auch andere Lexeme bereichern unsere Kenntnisse dieses Idioms: So der Archaismus aider ‘Gang’ (95, Cap. xix , 27), ein lautgerechter Reflex von lat. ĭter ‘Weg’, aus it. antiveduto ‘vorsichtig’ übernommenes antevedieu ‘id.’ (135, Cap. xxxiV , 10) oder der Germanismus craes (dalg tschêl) ‘Erdkreis’ (106, Cap. xxiV , 8); zu damffi ‘Dampf’ siehe oben. Originell sind Bildungen wie sunarunza, wohl mit der Bedeutung ‘Musikantin’ (68, Cap. ix , 4 und N202), eine eher eigenwillige Kreation aus suner ‘spielen (eines Instrumentes)’, wenn man mit chürunza ‘Hüterin’ vergleicht, einer Ableitung aus dem Stamm chürvon chürer ‘pflegen’. Zu der Stelle «e l’g ho do authoritaed cun ün bel iffitamaint, cun chiotschettas, arassa lungia, arassetta» (163, Cap. xlV , 9s. mit N897) wäre die Luther-Bibel von 1545 zu vergleichen, welche die Annahme der Bedeutung ‘mit Beinkleidern’ von cun chiotschettas - gegenüber DRG 3: 631 ‘mit Strümpfen (? )’ - erhärtet. Luther schreibt: «Er rüstet jn mit köstlichem Geschmeide / vnd legt jm an die Niderwad / den Lagenrock vnd Leibrock». Niderwad ist aus nider und mhd. wât ‘Kleidung’ zusammengesetzt und Synonym zu nidergewant, wofür M. l exer , Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart 38 1992: 150 die Bedeutungen ‘Kleid für den Unterleib, Hosen’ angibt. Im Weiteren möge man das Glossar der Neuausgabe (179-95) einsehen. Zum Schluss sei noch eine Auffälligkeit der Sprache Papas angemerkt, die heute im Puter nicht mehr besteht: Es handelt sich um den Gebrauch des periphrastischen Futurs, worauf Liver schon in BM 1972: 10 hingewiesen hat. Zum Beispiel in Cap. xix , 3 schreibt Papa: «e quel chi s’cuffida sün sia oarma vain à gnir dscharischo, e vain ad esser cusümo cun ün greiff chiastiamaint». «[El] vain à gnir dscharischo» ist Futur i des Passivs und lautet im modernen Surs. «el vegn a vegnir sragischaus» ‘er wird entwurzelt werden’, «[el] vain ad esser cusümo» lautet als Futur ii des Aktivs im Surs. «el vegn ad esser consumaus» ‘er wird verzehrt sein’. Im modernen Puter stünde hierfür «el gnaro srischo» bzw. «el saro consümo», cf. g. p. g anzoni , Grammatica ladina, Samedan 2 1983: 120 und 91. Wie eingangs erwähnt, werden an der Geschichte des Altengadinischen Interessierte von dieser Edition der Ecclesiasticus-Übersetzung sicherlich profitieren. Notwendig wäre jedoch die Konsultation von (im Internet abrufbaren) Bibeleditionen wie die Vulgata, die Luthersche etc., sollte der Leser an Informationen gelangen wollen, die in Livers reichhaltigen Anmerkungen zu Papas Text nicht enthalten sind. Wolfgang Eichenhofer
