eJournals Vox Romanica 76/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
10.2357/VOX-2017-031
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2017
761 Kristol De Stefani

Roger Bellon (ed.), Études de linguistique médiévale. Hommage à Ambroise Jean-Marc Queffélec, vol. 1, Frankfurt am Main (Peter Lang) 2015, 208 p.

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2017
Roger  Schöntag
vox7610396
396 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 396-402 DOI 10.2357/ VOX-2017-031 l odge , R.A. 2004: A sociolinguistic history of Parisian French, Cambridge l usignan , S. 2011: «Le français médiéval: perspectives historiques sur une langue plurielle», in: p. C ohen / s. l usignan / f. M artineau / y. C. M orin , L’introuvable unité du français. Contacts et variations linguistiques en Europe et en Amérique (xii e -xViii e siècle), Québec r iegel 2009 = p ellat , J.-C./ r iegel , M./ r ioul , r. Grammaire méthodique du français, Paris Roland = La Chanson de Roland, ed. I. s hort , Paris 1990 s outet , O. 1992: Études d’ancien et de moyen français, Paris s outet , o. 2001: *Claude B uridant , Grammaire nouvelle de l’ancien français, Paris, SEDES, 2000, 800 p., L’Information Grammaticale 88: 57-59 s tengel , E. 1882: Wörterbuch der ältesten französischen Sprache, Marburg s traKa , G. 1950: «Système des voyelles du français moderne», Bulletin de la Faculté des Lettres de Strasbourg 28, cité par: f. de l a C haussée , Initiation à la phonétique historique de l’ancien français, Paris 1982: 29 t aBaChoVitz , A. 1932: Étude sur la langue de la version française des Serments de Strasbourg, Uppsala z inK , G. 1994: Morphologie du français médiéval, Paris z inK , g. 2006: Phonétique historique du français, Paris  r oger B ellon (ed.), Études de linguistique médiévale. Hommage à Ambroise Jean-Marc Queffélec, vol. 1, Frankfurt am Main (Peter Lang) 2015, 208 p. Der Sammelband der Études de linguistique médiévale ist dem kürzlich verstorbenen Linguisten A. J.-M. Queffélec (1948-2013) gewidmet. Er enthält neben eines in der Einleitung integrierten Nachrufes, eine Publikationsliste seines wissenschaftlichen Œuvres sowie im zweiten Teil vier wiederabgedruckte Artikel zu verschiedenen Problemkreisen der altfranzösischen Grammatik. Der erste Teil der von r. B ellon editierten Aufsatzsammlung besteht aus sieben kurzen Beiträgen, die von dem Wirken Queffélecs direkt oder indirekt beeinflusst sind, der sich selbst vor allem dem Altfranzösischen sowie dem Französischen in Afrika widmete. Um die hier vorliegenden Einzeluntersuchungen entsprechend einordnen zu können, sei darauf verwiesen, dass der gesamte Band gemäß der theoretischen Ausrichtung des Geehrten in der Tradition von G. Guillaume (1883-1960) und seiner psychomechanischen Methode steht. Der erste Beitrag von s. B azin -t aCChella fällt insofern aus dem thematischen Rahmen, als er sich nicht dem Altfranzösischen widmet, sondern ein Phänomen des Mittelfranzösischen behandelt, nämlich die Entwicklung von nonobstant und seinen grammatischen Funktionen («Nonobstant en moyen français»). Der TLF (Trésor de la langue française) verzeichnet diesbezüglich sowohl die Etymologie - jur. lat. oBstans (Part. Präs. zu lat. oBstare ‘faire obstacle’) - als auch die verschiedenen Erstbelege sowie die mit diesem sich grammatikalisierenden Ausdruck verbundenen Funktionen: 1) als Präposition (1336), 2) als konjunktionale Wendung (1344), 3) als Adverb (1480). Grundlage der Untersuchung ist die Datenbank des DMF - Dictionnaire du Moyen Français (1330-1500) sowie ergänzend das Korpus von Frantext Moyen Français (Frantext MF). Auffällig ist dabei die graphische Variation, so dass Formen wie nonobstant, non obstant, non ostant und nonostant berücksichtigt werden müssen sowie zusätzlich Varianten mit unterschiedlicher syntagmatischer Einbettung wie ce nonostant, non obstant ce que, nonostant que oder non obstant + NP und die nicht verneinte Form obstant bzw. ostant (29-30). Was die Funktion als tour prépositionnel anbelangt, so zeigt sich bei (non) obstant ein zunehmeder Grammatikalisierungsprozess, und zwar dahingehend, dass die syntagmatische Variabilität zurückgeht und der Anschluss mit einer NP zunehmend obligat wird. 397 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 396-402 DOI 10.2357/ VOX-2017-031 Die positive Form (obstant) erscheint in dieser präpositionalen Verwendung dabei erst ab ca. 1400 in literarischen Texten (31-36). Die locution adverbiale, die ein anaphorisches Element ce enthält (ce non obstant bzw. non obstant ce) stellt im Korpus des Frantext MF 13,5 % der Fälle (36-37). Die Stellung des Demonstrativum ce ist dabei noch variabel, der gesamte Grad der Grammatikalisierung deshalb noch nicht einschätzbar. Der Ausdruck non obstant (ce) que im Sinne einer locution conjonctive entwickelt sich im Untersuchungszeitraum in Richtung Verlust des demonstrativen Elementes (37-38). Der adverbiale Gebrauch von nonobstant bzw. non obstant macht im Frantext MF 12,1 % aus, mit äquivalenter Distribution der graphischen Varianten. Diese Art des Gebrauchs erscheint eher spät aufzutreten und ist zudem abhängig von Textsorte und Autor (38). Bezüglich dieses Eingangsbeitrages, dessen Skopus nur bedingt klar wird («réhabiliter nonobstant» (38)), sei kritisch angemerkt, dass keinerlei bibliographische Angaben vermerkt sind bzw. die wenigen Verweise auf Literatur nach einem in-group-Verhalten angedeutet werden, das heutzutage eigentlich nicht mehr akzeptabel ist 1 . Der folgende Beitrag von r. B ellon , dem Herausgeber des Bandes, beschäftigt sich mit dem renforcement pittoresque de la négation im Heldenepos Aliscans (Ende 12. Jh.). Diese Erscheinung des sogenannten renforcement pittoresque beruht in der Regel auf einem Vergleich mit einem tertium comparationis und verstärkt die Verneinung emphatisch oder wie es der in vorliegendem Buch viel zitierte f. Möhren ausdrückt, affektivisch 2 . Dabei handelt es sich nicht um die Variationen der Verneinung, über die das Altfranzösische standardmäßig verfügt (pas, point, mie, goutte, etc.), sondern um poetische Ausschmückungen. Bellon unterscheidet diesbezüglich zwischen den expressions d’une valeur minimale und den expressions d’une valeur maximale (41). Diejenigen Ausdrücke, so stellt er fest, die sinnbildlich einen möglichst geringen Wert repräsentieren, sind zu einem großen Teil den semantischen Feldern der Pflanzenwelt (z.B. bouton, rain, festu, alie) oder des Geldes (z.B. ax, denier, besant, romaisin) zuzuordnen (41-42). Weitere Objekte, die ebenfalls im Rahmen eines Vergleichs die Negation anschaulich verstärken, jedoch weniger frequent sind und nicht klar zu kategorisieren, werden von Bellon allgemein als «objets de valeur dérisoire ou nulle de la vie quotidienne» (43) bezeichnet, worunter er u.a. oef, espaniere, esperon, gant, mantel, panoncel und sarpe fasst. Der gesamte Vergleich wird dabei in der Regel durch die Konstruktion ne … valoir bestimmt, z.B. «Qui il [Guillaume] ateint a plein cop entesé / Ne li vaut arme vaillant un oef pelé» (Aliscans, 1301- 02), «Si lai tes dex qui ne valent .II. ax» (Aliscans, 6790), wobei im Falle des Geldvergleichs dies auch durch ein quantifizierendes Element (un, deus) ausgedrückt werden kann, z.B. «Mes en un cuir velu s’iert fet fichier / D’une serpent, ne prise arme un denier» (Aliscans, 6492-93) (42-43). Die expression d’une valeur maximale hingegen funktioniert insofern anders, als der Vergleich oft durch die Präposition por eingeleitet wird und dann quantifizierend entweder durch tot oder eine übergroße, unrealistische Mengenangabe eine negative Hyperbolik erzeugt wird, z.B. «Le tinel trovent, qui fu couchié en bas / Mes nel meüssent por tot l’or de Baudas» (Aliscans, 3981-82) oder «Il et si fust se jurent lez a lez / Car tant fort l’aime, c’est fine veritez / Qu’il nel donast por XIIII. citez» (Aliscans, 4626-28) (56), die mitunter auch nur durch die Wertangabe or evoziiert wird, z.B. «Ne le donast por l’or d’une cité» (Aliscans, 7398-99) (59). 1 So wird beispielsweise ein nicht weiter belegtes Zitat (35) nur mit den Worten «comme l’expose O. Soutet» eingeleitet, ohne Werkreferenz oder Seitenangabe. Auch zur konsultierten Primärliteratur fehlt jeglicher Nachweis. 2 Cf. f. M öhren , Le renforcement affectif de la négation par l’expression d’une valeur minimale en ancien français, Tübingen 1980. 398 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 396-402 DOI 10.2357/ VOX-2017-031 Bellon arbeitet hier dankenswerterweise mit viel Präzision und Sachverstand ein Phänomen der Negation heraus, welches mehr Raum in Handbüchern und Grammatiken verdienen würde 3 . Der Aufsatz von C. B uridant behandelt die Entwicklung des Indefinitpronomens im romanischen Vergleich in Bezug auf die Pluralbildung («Unes manieres de … L’indéfini pluriel uns/ unes en français médiéval: nouvel aperçu en perspective romane»), der auch als Ergänzung zu seinen Anmerkungen in seiner Grammaire zu verstehen ist 4 . Basis der Untersuchung ist ein breitgefächertes Korpus, u.a. basierend auf Gdf, TL und GNAF. Der theoretische Ansatz, den Buridant auch seiner altfranzösischen Grammatik zugrundegelegt hat (cf. B uridant 2000: §35) ist eine Weiterentwicklung des von Guillaume konzipierten Modells eines internen Plurals 5 . Dieses in zwei Schemata erläuterte Konzept (65, 66) versteht den internen Plural als Selektionsoperator, der aus einem Kontinuum von abnehmenden Mengen (vaste ensemble - série - paire), den tatsächlichen Gebrauch herausfiltert, während der externe Plual eine Multiplikation einer Einzelmenge repräsentiert, also vom Singular zum Plural strebt. Auf diese Weise erklärt Buridant den altfranzösischen Gebrauch von uns bzw. unes und unterscheidet folgende Verwendungsweisen, die auf verschiedene Arten auf den dort ausgedrückten (internen) Plural referieren: a) Elemente, die er als «wahre» pluralia tantum apostrophiert und eine duale Semantik (paire) repräsentieren, wozu beispielsweise symmetrische Körperteile gehören (z.B. unes narines, uns ueils, unes levres), aber auch Objekte, die im weitesten Sinn zu Bereichen wie «Kleidung» oder «Werkzeug» zu rechnen sind (z.B. une paires de chausses, uns esperons, uns ganteletz bzw. uns cisiaux, unes tenailles, unes balances); b) Elemente, die eine pluralische Reihung repräsentieren (série), d.h. eine Anzahl identischer oder ähnlicher Objekte (z.B. unes armes, unes barrieres, unes chambres, unes murailles, uns dras, unes verges) oder Abstrakta (z.B. unes questions, uns degrez), wobei sich eine weitere Spezifizierung anschließen kann (z.B. unes bestes isneles comme chevaulx); c) Elemente, die eine Amplifizierung ausdrücken, d.h. eine große, nicht näher bestimmte Menge, und zwar bezüglich Ausdehnung, Umfang, Weite oder Größe (z.B. unes terres, unes montaignes, uns plains, unes rochiers) (66-71). Der romanische Vergleich zeigt, dass es ähnliche pluralische Verwendungsweisen bereits im Lateinischen gab (z.B. in unis aedibus) und diese heute vor allem im Spanischen lebendig sind - mit ähnlicher Extension wie im Altfranzösischen (z.B. unos zapatos vs. unos mamiferos vs. unos churros) -, aber auch im Okzitanischen oder Portugiesischen (72-73). Im Französischen hingegen werden die Pluralformen ab dem 13. Jh. sukzessive vom aufkommenden Indefinitum des verdrängt (71). Diesen Ablöseprozess erklärt Buridant im Rahmen des guillaumistischen Ansatzes mit der «contradiction entre le mouvement vers le singulier et le contre-mouvement du pluriel extensif» (74), was in sich schlüssig sein mag, aber gleichzeitig andere womöglich ebenfalls plausible Prozesse des Sprachwandels ausblendet und auch nicht wirklich die je anderen Entwicklungen in der Romania befriedigend erklärt. Gleichwohl bleibt die Aufschlüsselung der Pluralverwendungen ein wichtiger Beitrag. Der Artikel von B. C oMBettes geht bestimmten Umstandsangaben in Form von Präpositionalsyntagmen wie d’une voix forte, d’un geste noble oder avec un sourire de mepris nach 3 Eventuell hätte man noch anmerken können, dass es sich bei Aliscans um einen pikardischen Text handelt, um bei der Analyse von diskurstraditionellen Spezifika auch denkbare diatopische Implikationen zu berücksichtigen oder gegebenenfalls auszuschließen. 4 Cf. C. B uridant , Grammaire nouvelle de l’ancien français, Paris 2000. 5 Cf. g. g uillauMe , «Duel», in: a. B oone / a. J oly (ed.), Dictionnaire terminologique de la systématique du langage, Paris 1996: 134-36. Er erklärt dort den Dual psychomechanistisch als Zwischenstufe zweier auseinanderstrebenden tensions eines internen und eines externen Plurals: «Le premier mouvement porte la pluralité interne, dont le duel est la dernière position avant l’atteinte du singulier; le second mouvement porte la pluralité externe» (g uillauMe 1996: 135). 399 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 396-402 DOI 10.2357/ VOX-2017-031 und untersucht deren textpragmatische Funktion in literarischen Texten des 18. und 19. Jh. (Les compléments de manière en position initiale: étude diachronique). Dabei stellt sich die Frage nach ihrer anaphorischen und kataphorischen Einbettung sowie nach ihrer Position im Satz und der damit einhergehende Bezug zu anderen Konstituenten. Für das 18. Jh. isoliert Combettes folgende in seinem Korpus (basierend auf Frantext) auftretende Schemata, wobei er mit X die im Fokus stehende PP (z.B. d’une voix forte) bezeichnet: a) VP + X, z.B. «répéta d’une voix douce et tendre» (79); b) NP (Subjekt) + X, z.B. «La baronne, d’une voix incertaine» (79); c) X: + direkte Rede, z.B. «et d’une voix incertaine: monsieur» (80); Proposition + X + VP, z.B. «s’approcha de lui; et d’une voix basse, dont je ne laissai pas» (82); X + Proposition, z.B. «Alors, d’une voix faible, mais irritée, elle m’a pressé» (83). Gerade letzter Beispielfall zeigt, dass die fragliche Umstandsangabe in Initialposition steht und dabei die Referenzkontinuität zur vorausgehenden Proposition gewährleistet (hier auch verstärkt durch alors). Aber auch in den anderen Fällen hat die Adverbiale eine textverknüpfende Funktion, und zwar anaphorisch sowie kataphorisch. Im 19. Jh., so konstatiert Combettes, verstärkt sich die bereits zuvor angedeutete Tendenz einer Initialstellung dieses circonstant de manière (85). Er sieht die Ursache dabei in einer engeren Bindung der Umstandsangaben an das Prädikat und eine insgesamt zu beobachtende «syntactisation de l’unité ‹phrase›» (85), wobei die Voranstellung den Elementen vorbehalten ist, die eine wichtige diskurskonstituierende Funktion innehaben. Dies könnte, vorsichtig formuliert, eine allgemeinere Tendenz andeuten: «Il nous semble tout de même possible de voir dans le développement - assez faible quantitativement, il est vrai - de l’antéposition du complément de manière les débuts d’un mouvement visant à une plus grande intégration de la zone initiale à l’ensemble de la hiérarchisation de l’énoncé» (85). Combettes zeigt hier, indem er syntaktische Veränderungen mit textstrukturellen Fragestellungen verknüpft bzw. parallelisiert, einen plausiblen Erklärungsansatz auf, wie durch eine engere Bindung dieser Art der circonstanciels de manière an das Prädikat und eine zunehmende Präferenz für eine syntaktische Frontstellung, die kataphorische Funktion an Bedeutung gewinnt. Offen und schwer isolierbar bleibt dabei jedoch die Differenzierung von Ursachen- und Wirkungszusamenhängen. Der Beitrag von y. K awaguChi («Formules d’adresse et variation entre faire savoir et faire a savoir dans les actes champenois au XIII ème siècle») beschäftigt sich mit unterschiedlichen Anredeformeln in champagnischen Urkunden des 13. Jh.. Die ältesten französischsprachigen actes in Nordfrankreich datieren aus der 2. Hälfte des 12. Jh., wobei die vermutlich älteste Urkunde von 1163 noch hauptsächlich auf Latein abgefasst wurde und nur einen Satz auf Französisch enthielt und die nächst jüngere eher als moitie romanz moitie latin (96) zu charakterisieren ist. Erst gegen Ende des 12. Jh. findet sich dann eine Schenkungsurkunde zugunsten der Templer von Haute-Avesnes, die vollständig in der langue vernaculaire redigiert wurde. Das Auftauchen von volkssprachlichen Dokumenten in Nordfrankreich und Belgien hängt mit dem sich dort etablierenden städtischen Bürgertum zusammen, welches sich ab dem Aufstand von Cambrai (1077) nach und nach gewisse Privilegien der Selbstverwaltung sicherte 6 . Vorbild der französischsprachigen Urkunden blieben dabei jedoch die lateinischen, d.h. die Textsorte war bereits etabliert und bestimmte diskurstraditionelle Merkmale wurden weitgehend übernommen; dies betraf sowohl die Textstruktur, als auch die Versprachlichungsmuster (93). Was die sprachlichen Elemente anbelangt, so führt Kawaguchi als Beispiel die Formeln der (indirekten) Anrede (formules d’adresse) aus den lateinischen Urkunden des Herzogs der Champagne und des Klosters von Clairvaux (1150-1206) an und zeigt die Distribution von Notum facio, 6 Zu den bei Kawaguchi nicht weiter belegten Kommunebildungen in Nordfrankreich und Flandern gegen den Willen des jeweiligen bischöflichen Stadtherren (Cambrai 1077, St-Quentin 1081, Beauvais 1099, Noyon 1108/ 1109, Laon 1112/ 1116, Sens 1147) cf. beispielsweise f. s ChMieder , Die mittelalterliche Stadt, Darmstadt 2012: 61. 400 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 396-402 DOI 10.2357/ VOX-2017-031 Notum fieri volo, Notum sit und Notificetur (97), wobei die ersten beiden Wendungen in der herzoglichen Kanzlei dominieren, während die unpersönlichen Konstruktionen präferentiell in Dokumenten der abbaye aufscheinen. Eine frühe Entsprechung der Formeln mit konkretem ego-Bezug (lat. facio, volo) in den französischen chartes wäre Jo … fas a sauoir (97). Das Korpus der untersuchten champagnischen Urkunden umfasst nun den Zeitraum zwischen 1230 und 1300 und beinhaltet verschiedene Arten von juristischen Dokumenten. Dabei sind die häufigsten formules d’adresse die folgenden: a) je fais savoir a touz ces qui, b) nous faisons savoir a touz ces qui, c) a touz cels qui (100). Die Verteilung von faire savoir und faire a savoir ist dabei weder semantisch, noch stilistisch, textsortenspezifisch oder diatopisch eindeutig zu klären. Dies widerlegt zumindest die bisherige These von faire a savoir als einem Marker der Kanzleisprache. Die zunehmenden Dominanz der unpersönlichen Konstruktion a touz cels qui (oder auch sachez bzw. sachez tuit) und dem gleichzeitigen Verschwinden der persönlichen Formeln (je fais savoir bzw. nous faisons savoir), weist laut Kawaguchi eindeutig auf die «disparition du comté champenois et de la mise en place de la baillie» (106) hin. Der argumentativ sehr gute Beitrag zeigt damit in einer äußerst umsichtigen Analyse, unter Berücksichtigung zahlreicher Faktoren, den engen Zusammenhang zwischen politischen Umbrüchen und der Urkundensprache der Zeit. Der folgende Artikel von V. M éot -B ourquin zur Negation im Altfranzösischen («La négation dans Berte aus grans piés: l’élégance d’un style») untersucht verschiedene Negationstypen und ihren stilistischen Effekt im Rahmen der guillaumistischen Theorie. Grundlage ist die bekannteste chanson de geste von Adenet le Roi (ca. 1240-1305), nämlich das 3486 Alexandriner umfassende Epos Berte aus grans piés (2. Hälfte 13. Jh.). Die Zielsetzung, die Abhängigkeit von syntaktischer Konstruktion und Stil nachzuweisen, formuliert die Autorin dabei äußerst präzise: «Notre projet est ici de tenter de motiver au plan linguistique, par un biais ténu, l’usage de la négation, l’impression de lecture dominante face à l’écriture d’Adenet le Roi, celle de la ‹délicatesse› …, qui fonde le sentiment de l’élégance aussi bien que celui de la mièvrerie» (110). Entsprechend ihrem psychomechanistischen Ansatz charakterisiert sie die Negation im Altfranzösischen als entweder rein aus dem adverbe négatif bestehend (d.h. ne) oder als ein diskontinuierliches Morphem, welches in kinetischem Sinne als bi-tensive aufgefasst wird und aus ne + forclusif besteht 7 . Bezüglich der Negation mit ne und einem weiteren Korrelativ isoliert Méot-Bourquin zunächst den Gebrauch mit einem adverbialen Element, wobei sie folgende Konstruktionen erfasst: ne ja, ne onques, ne mais, ne ainc/ ains, ne gaires, ne plus (111). Die meisten Okkurrenzen sind diesbezüglich für ne plus, ne ja und ne onques festzustellen. Für die Negation mit einem nominalen Zweitelement werden in abnehmender Frequenz die Konstruktionen ne pas, ne mie und ne point ermittelt, die zusammen ca. 30% aller Fälle der négation totale ausmachen, während 70% durch alleiniges ne repräsentiert sind. Weiterhin ergeben sich Okkurenzen mit einem pronominalen oder adjektivischen Zweitelement (z.B. ne nul, ne noient), die allerdings insgesamt nur eine marginale Position einnehmen. Ebenfalls Berücksichtigung findet die Negation der affektiven Verstärkung, wobei sowohl solche 7 Es sei hier ergänzend angemerkt, dass die Kategorisierung von ne als discordantiel und dem Zweitelement als forclusif auf Damourette und Pichon zurückgeht: «En effet, l’étude détaillée que nous avons faite de ces divers emplois de ne dans la subordonnée nous ont amenés à penser que ne y exprimait toujours une discordance entre cette subordonnée et le fait central de la phrase. C’est pourquoi nous avons donné à ne le nom de discordantiel. … Le second morceau de la négation française, constitué par des mots comme rien, jamais, aucun, personne, plus, guère, etc. …, s’applique aux faits que le locuteur n’envisage pas comme faisant partie de la réalité. Ces faits sont en quelque sorte forclos, aussi donnonsnous à ce second morceau de la négation le nom de forclusif» (J. d aMourette / e. p iChon , Des mots à la pensée. Essai de grammaire de la langue française 1911-27, vol. 1, Paris 1968: 131, §115; 138, §116). 401 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 396-402 DOI 10.2357/ VOX-2017-031 Fälle des renforcement erhoben wurden, die mit Hilfe einer quantité minimale operieren (z.B. «Mais onques n’en aprirent un bouton vaillissant» (Berte, v. 2530) (117), als auch solche, die eine quantité maximale beinhalten (z.B. «Ne le briseroit mie pour l’or de dis cités» (Berte, v. 2946) (117); etwa in ähnlicher Distribution. Der Einsatz dieser je unterschiedlichen Mittel der Negation im untersuchten Text lässt Méot-Bourquin zu folgender Schlussfolgerung kommen: «Parce que le choix de la négation peut paraître désinvesti d’enjeu littéraire et qu’en AF sa malléabilité est grande, nous avons examiné son emploi dans Berte aus grans piés pour, peutêtre, appréhender l’élégance stylistique d’Adenet. L’étude a dégagé en premier lieu la pratique d’une langue plutôt répétitive, claire et harmonieuse, d’une pauvreté recherchée, où termes et structures canoniques sont privilégiés pour ne pas heurter l’oreille d’une noblesse pour qui la qualité de la langue est ‹une preuve de culture et de finesse› …» (121-22). Die einzelnen Begründungen, die zu diesem Ergebnis führen, sind dabei recht heterogen, denn während das renforcement affectif sehr detailliert in seiner Anwendung untersucht wurde, erscheint der Einsatz anderer traditioneller Negationsformen in Bezug auf den damit verbundenen stilistischen Effekt nur sehr vereinzelt dargelegt. Der letzte Artikel des ersten Teils des Sammelbandes ist eine Untersuchung von o. s outet zum Adverb plus im Rahmen der guillaumistischen Negationstheorie («Plus entre positivité et négativité»). Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Auffassung, dass die menschliche Vorstellung von der räumlichen Ausdehnung entsprechend der kinetisch zu verstehenden Psychomechanik von zwei Spannungen bzw. Kräften geprägt ist, nämlich einer tension fermante, die von der Weite zur Enge tendiert und einer entgegenwirkenden tension ouvrante, die von eng zu weit bzw. ad infinitum strebt (126). Dieser Mechanismus wird von Soutet als tenseur binaire radical charakterisiert. Das zweitensionale (bi-tensif) Schema wird von den guillaumiens auch auf die Genese des sprachlichen Zeichens appliziert, bei der eine tension 1 postuliert wird, die die Isoliserung eines Gedankens zur Bildung eines Lexems beinhaltet (lexigénèse) und eine tension 2, die dann die morphologische Ausdrucksseite (morphogénèse) zur Folge hat (128) 8 . In gleicher Weise wird auch die Opposition von unbestimmten und bestimmten Artikel erklärt (un vs. le), die in dieser Theorie durch die entgegenwirkenden Kräfte der particularisation und der generalisation erklärt werden. Dabei strebt die erste tension auf einen Punkt P zu und die zweite von diesem Punkt weg (129). In der konkreten Fragestellung bezüglich des sprachlichen Zeichens plus, versucht nun Soutet im Rahmen dieser theoretischen Vorüberlegungen die je nach Kontext unterschiedliche Realisierungen [ply] und [plys] zu erklären. Dafür postuliert er wiederum zwei tensions, und zwar eine der Negativität, die zu einem Punkt der Positivität strebt und eine andere Art der Negativität, die von diesem positiven Punkt wegstrebt. Den Gebrauch von plus sieht er dabei in einer Distribution, die eine [ply]/ [plys] Verwendung in der tension 1 verortet (zone de négativité en perspective de positivité oder ‘moins im Blickwinkel von plus’), ein Auftreten von [plys] in der reinen zone de positivité (Punkt P) und das von [ply] in der zone de franche négativité, die der tension 2 entspricht, auch als moins‘ zu verstehen (138-139). Die von Soutet erarbeitete Erklärung dieser unterschiedlichen lautlichen Realisierung von plus mag systemimmanent schlüssig sein, es fällt jedoch schwer, nicht auf 8 Soutet baut hier auf Guillaume auf, der - so sei hier für Nicht-Guillaumisten nachgetragen - folgende Grundgedanken dazu hat: «On sait … que le mécanisme de base de la morphologie d’une langue, de toute langue, est le double mouvement inhérent à l’esprit humain, selon lequel sans cesse il va du plus large au plus étroit et du plus étroit au plus large» (g. g uillauMe , Leçon de linguistique. 1948-1949. Grammaire particulière du français et grammaire générale (IV). Série C, vol. 3, Paris 1973: 139). 402 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 76 (2017): 402-405 DOI 10.2357/ VOX-2017-032 den Gedanken zu kommen, dass hier womöglich auch andere Faktoren eine Rolle spielen, wie beispielsweise historische Sprachwandelsprozesse oder lautliche Kontexte 9 . Der zweite Teil des vorliegenden Sammelbandes sind Wiederabdrucke von älteren, bereits erschienenen Artikeln des hier Geehrten, die hier nicht weiter besprochen werden sollen, da sie längst Teil der Wissenschaftstradition sind. Dennoch seien sie hier der Vollständigkeit halber zumindest als Beitragstitel erwähnt: J ean M arC q uefféleC , «La mie, la goutte et l’aillie. Essai sur l’intégration des lexèmes du boire et du manger dans le processus de renforcement de la négation en ancien français» (147-63), «L’impératif négatif en ancien français» (165-76), «Les subordonnées d’exclusion en ancien français» (177-93), «Les réponses négatives averbales à pronom sujet en ancien français» (195-208). Insgesamt ist es äußerst erfreulich, dass hier eine Reihe von aktuellen Forschungsprojekten zum Altfranzösischen präsentiert wurden, doch scheint Qualität und Erkenntnisgewinn der einzelnen Beiträge eher heterogen zu sein. Es ist verständlich angesichts der Hommage und der damit verbundenen Forschungsschwerpunkte, dass hier die Artikel einen gewissen thematischen, aber auch theoretischen Schwerpunkt aufweisen. Dennoch wäre es manchmal wünschenswert gewesen, dass so mancher Beitrag weniger hermetisch gestaltet und auch für ein Publikum jenseits des engen Zirkels der guillaumiens zugänglich wäre 10 (zumal auch im internationalen Peter Lang Verlag erschienen). Nicht ganz erklärbar ist auch der Titel des Bandes, da sich zumindest drei Beiträge nicht dem Altfranzösischen widmen (cf. Bazin-Tacchella, Combettes, Soutet). Es überwiegt jedoch der positive Eindruck, dass hier die Forschung zum Altfranzösischen mit interessanten Konzepten vorangetrieben wird. Roger Schöntag  s tefania M affei -B oillat / a lain C orBellari (ed.), L’aventure du sens. Mélanges de philologie provençale en l’honneur de François Zufferey, Strasbourg (ELiPhi) 2016, 231 p. (TraLiRo - Philologie et édition de textes) Les Mélanges offerts à François Zufferey, le «philologue heureux» auquel A. C orBellari réserve dans les premières pages un «portrait» à la fois simple et caustique, forment un livre cohérent et homogène par la qualité des communications, toutes très sérieuses et très soignées, et, chose appréciable, presque toutes brèves. Mais l’ouvrage se lit aussi, par sa structure, dans une continuité assez naturelle: d’abord, il n’y a pas de chapitres, ce qui a l’avantage d’éviter un cloisonnement artificiel entre les articles qui aurait inutilement accusé des disproportions thématiques. Comme y invitait la spécialité du professeur honoré, une majorité d’études est en effet dédiée à la poésie lyrique provençale - on n’osera plus dire «occitane», l’éditeur nous 9 Bei der von Soutet angesetzten Theorie von Guillaume, der die Negation introspektiv psychologisierend interpretiert, drängt sich der Verdacht auf, dass hier 1: 1 von morphologischen bzw. lexikalischen Gegebenheiten auf zugrundeliegende kognitive Prozesse geschlossen wird und damit womöglich Ursache und Wirkung verkehrt werden, wenn er einen immanenten und einen transzendenten Prozess der Negation rein anhand der beteiligten Partikel bzw. Adverbien unterscheidet: «Ainsi, très clairement, ne, employé seul en discours, est l’aspect immanent de la négation et ne pas en est l’aspect transcendant» (g uillauMe 1973: 138). 10 Nicht nur im ersten, bereits kritisierten Artikel werden oft Werke der Primärliteratur nicht im Literaturverzeichnis angegeben, sondern mitunter auch grundlegende der Sekundärliteratur wie z.B. im Artikel von Buridant, der Guillaume nur en passant erwähnt (65), ohne ihn dezidiert aufzuführen. Weiterhin werden oft Abkürzungen nicht aufgelöst, und zwar nicht nur solche, die man als Kenner der altfranzösischen Forschung evtl. parat haben sollte.