Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
10.2357/VOX-2018-005
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
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Kristol De StefaniDas Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers in der Sprachgeschichte des Bündnerromanischen
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Ricarda Liver
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Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers in der Sprachgeschichte des Bündnerromanischen 129 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers in der Sprachgeschichte des Bündnerromanischen Ricarda Liver (Lützelflüh/ Bern) Abstract: L’articolo esamina la lingua di Gian Travers, primo autore engadinese nel secolo XVI, nel poema epico La Chianzun dalla guerra dalg Chiaste da Müs. Sono messe in rilievo le differenze tra la lingua di Travers e il puter (alto-engadinese) moderno nei settori grafia/ fonetica, morfosintassi e lessico. Nel lessico, l’influsso delle lingue di contatto tedesco e italiano è considerevole. Casi di interpretazione difficile danno luogo alla discussione di problemi particolari della storia linguistica del romancio grigionese. Keywords: History of written Romansh, Old Puter (Upper Engadine), Languages in contact, Problematic interpretations 1. Zielsetzung Am Anfang der Literatur in rätoromanischer Sprache steht eine epische Dichtung, die Chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs von Gian Travers 1 . An anderer Stelle habe ich versucht, diesen Text in die literarische Tradition der Zeit einzuordnen 2 . Die Chianzun da Müsch schildert in 705 Versen die Ereignisse des ersten Müsserkrieges (1525/ 26), an denen der Autor, damals Landeshauptmann im Veltlin, in prominenter Funktion Anteil hatte 3 . Die Chianzun ist sicher keine dichterische Glanzleistung, aber sie schildert in unbekümmerter Frische das Erleben des Autors, der sich auch immer wieder mit Kommentaren zu der eigenen Situation und zum Zeitgeist zu Worte meldet. Für die Geschichte des Engadinischen in der Frühphase seiner Verschriftung ist der Text trotz der späten Überlieferung eine interessante Quelle. Im Folgenden sollen einige Fakten herausgegriffen und interpretiert werden, die für die Beschreibung des Oberengadinischen im 16. Jahrhundert von Bedeutung sind. 1 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die kritische Ausgabe des Textes von Schorta/ Gantenbein 1942. Cf. auch Bezzola 1979: 152s., Deplazes 1993: 53s. Der Ortsname, im Titel der Ausgabe von Schorta/ Gantenbein Müs gschrieben, lautet in rätoromanischer Aussprache Müsch, wie wir in der Folge schreiben. 2 Liver 2010: 96s. Dort auch zum historischen Hintergrund des Gedichts. 3 Cf. Pieth 1945: 127, Collenberg 2003: 116. 129 171 005 Ricarda Liver 130 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 2. Schreibung und Lautung Die Überlieferungsgeschichte der Chianzun da Müsch bietet keine ideale Ausgangslage für die Beurteilung der Lautgestalt des Puter in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es ist kein Manuskript aus der Entstehungszeit des Gedichts (1527) erhalten. Sämtliche Kopien stammen aus der Zeit nach 1600 (cf. Schorta/ Gantenbein 1942: 8). Dennoch erlauben die überlieferten Handschriften einige Beobachtungen, die zu einer besseren Kenntnis des Puter in den Anfängen seiner Schriftlichkeit beitragen können. Die heutige Schriftsprache des Oberengadins weist bekanntlich einige historische Schreibungen auf, die ältere, von der lautlichen Entwicklung längst überholte Phasen der Sprache festhalten. So zeugt die Graphie <awn> in paun, chaun, launa etc. für einen alten Diphthong als Resultat von a in offener Silbe vor n, wie er heute noch im Surselvischen und im Münstertal besteht und auch im Samnaun bis zum Aussterben der dortigen rätoromanischen Mundart (anfangs 20. Jahrhundert) bestanden hatte 4 . Ferner ist -n in dieser Konstellation, wie auch sonst nach Vokal, im Puter zu -m geworden: canem > [ ʨɛ m], panem > [pɛm], mansionem > [m ɐˈʒ um]. Beide Lautentwicklungen, -au > ɛ und -n zu -m, finden in der modernen Orthographie keinen Niederschlag. Man möchte natürlich gerne wissen, zu welcher Zeit diese lautlichen Veränderungen stattgefunden haben. Die Autoren des Artikels zur Grammatik in der internen Geschichte des Bündnerromanischen in LRL 3 (Nr. 226) nehmen an, dass die Monophthongierung von au zu [ ɛ ] «seit dem 16. Jahrhundert» erfolgt sei (Stimm/ Linder 1989: 766). Meinen sie damit «nach dem 16. Jahrhundert»? Das würde bedeuten, dass die Schreibungen bei den Autoren dieser Zeit noch die effektive Aussprache wiedergäben, also der Diphthong noch erhalten wäre. Auf diese Auffassung scheint auch die Formulierung bei Lutta 1923: 50 N1 hinzuweisen: «Celer. [pɛːm]. Aus alteng. paun (Bifrun), wie noch heute geschrieben wird». Nun gibt es aber im Text von Travers einige Fakten, die an einer solchen Sicht der Dinge Zweifel aufkommen lassen. Obschon die Überlieferung der Chianzun erst im 17. Jahrhundert einsetzt, lassen gewisse Graphien, die in mehreren Manuskripten nicht nur vereinzelt begegnen, auf eine progressivere Notierung der beschriebenen Lautungen bei Travers schliessen. Der erste Fall betrifft die Endungen der 3. Person Plural des Präteritums, das in der Chianzun da Müsch allgegenwärtig ist 5 . In traditioneller Schreibung und so in den meisten Beispielen in der Chianzun wird die Endung des Präteritums der 1. Konjugation als <aun> verschriftet. Seltener, aber doch mehrfach belegt, ist die Graphie <en> 6 . 4 Auch im Unterengadin muss eine diphthongische Vorstufe des heutigen [an], [a ŋ ] bestanden haben. Chiampel schreibt noch maun, damaun etc. Cf. Schorta 1938: 24s. (§30), Stimm/ Linder 1989: 766. 5 Dazu unten p. 132s. 6 Neben diesen älteren Formen verwendet Travers auch das Präteritum auf -et, -ettan, das sich in der modernen (literarischen) Sprache allein durchgesetzt hat. So findet sich neben piglietan (52, ` 131 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers So findet sich neben cumanzaun (95, 97, 217, 225) cumanzen (227), neben laschaun (561, 568) laschen (593) und laschien (417, 613) 7 . Dass die beiden Schreibungen für ein und dieselbe Lautung stehen, wird besonders dort deutlich, wo -aun und -en im Reim stehen: Da chiürer lur Chiastels et terras nun asügnen Perchie alg lur üttel traivne â maun (V. 29/ 30). Ausser in diesen Präteritumsformen ist jedoch die Graphie <en> für das Resultat von a vor n in unserem Text nicht belegt 8 . Schwach belegt ist im Ms. A auch die Graphie <m> für ursprüngliches n nach Vokal. Sie begegnet nur gelegentlich nach u, so 12 cumpagniums, 200 lumgiamain, 413 l’g morum (sonst Morun), 548 dalumgia, 674 lumgia saschun. In den andern Handschriften ist sie etwas häufiger. Nirgends jedoch weisen die Präteritumsendungen -aun und -en eine Graphie <m> auf. Sehr aussagekräftig für das Verhältnis zwischen Lautung und Schreibung sind die hier erwähnten Fakten wegen der ungünstigen Überlieferung nicht. Wenn man bedenkt, wie konservativ die Schreibung noch im heutigen Puter ist, gewinnen gewisse Graphien in den Manuskripten der Chianzun aber doch ein gewisses Gewicht. Es ist wahrscheinlich, dass sowohl die Monophthongierung von au zu [ ɛ ] als auch die Entwicklung von n zu [ m ] im 16. Jahrhundert mindestens angebahnt wenn nicht schon vollzogen war. Im Übrigen sind die Graphien bei Travers oft schwankend, wie das in den Frühphasen der Schriftlichkeit üblich ist. Besonders Palatallaute, für die ja im lateinischen Alphabet keine eigenen Zeichen vorhanden sind, werden auf verschiedene Weise wiedergegeben. Die Affrikata [ ʨ ], im heutigen Engadinischen als <ch> verschriftet, erscheint im Anlaut und im Wortinnern meist als <chi> (chia, chiavalg, manchiaiva, 553), piglietne (mit enklitischem Subjektspronomen, 137, 403) piglien (210, 241, 313, 565, 568), neben turnetan (671) turnaun (19), neben s’matetne (66) s’matten (230) und maten (139). 7 In der ganzen Chianzun stehen 39 -aun 15 -en als Endung der 3. Ps.Pl. gegenüber. 8 Ein Sonderfall ist wohl der Titel des Kastellans von Musso, der in der Chianzun in verschiedenen Schreibungen erscheint. Im Ms. A, das der Ausgabe von Schorta/ Gantenbein zugrunde liegt, ist der verbreitetste Graphietyp Castel(l)an (12x Castellan, 2x Castelan). Für Castelaun gibt es 7 Belege, für Castellaun einen. Im heutigen Puter würde der Kastellan chastlaun heissen. Dieser Form entspricht weitgehend die in den Manuskripten B, C und D häufigste Schreibung chiaschlaun. Vereinzelt findet sich in C auch ciaschlaun, Chiastlaun und Chiasthlaun, in E chiaschlaun. Die in A vorherrschende Schreibung Castellan erklärt sich wohl dadurch, dass der Titel des Müssers in der lombardischen Gegend, die Schauplatz des in der Chianzun erzählten Geschehens ist, entsprechend lautete. Einige Reime in derselben Handschrift weisen jedoch darauf hin, dass die Schreibung mit -an eine Graphie ist, die nicht dem Lautwert entspricht: dreimal reimt sich Castellan mit Wörtern auf aun: 528 a maun, 578 falaun, 515 arivaun. In zwei Fällen ist der Reim Castelaun / aun (425/ 426, 515/ 516). Ähnliche Reime, in denen abweichende Graphien übereinstimmende Lautungen repräsentieren, sind etwa Oestereich / inminchia Vich 161/ 162, sprauntza / danza 165/ 166, uscheia / via 619/ 620, da Müs / ad üsch 683/ 684. Ricarda Liver 132 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 prattichio etc.), im Auslaut als <ig>, <ik> oder <ick> 9 . Bei Bifrun ist die graphische Vielfalt noch viel ausgeprägter 10 . Ein <i> als rein graphisches Zeichen für eine Palatalisierung (ohne lautliche Realisierung) findet sich auch bei anderen Palatallauten, so bei [ ʥ ], [ ʧ ], [ ʃ ] und [ ʒ ] 11 . 3. Morphologie, Morphosyntax, Syntax 3.1. Präteritum An die Aufgabe, die Geschichte des Präteritums im Bündnerromanischen aufzuarbeiten, hat sich scheinbar noch niemand gewagt. Das kann auch an dieser Stelle nicht geleistet werden. Dieses Verbalparadigma, das, ähnlich wie im Französischen und in grossen Teilen Italiens, aus der gesprochenen Sprache des Bündnerromanischen völlig verschwunden ist, verdrängt durch das periphrastische Perfekt (passé composé), existiert nur noch in der engadinischen Schriftsprache. Das in älterer Zeit recht vielfältige Formeninventar ist hier zu einem einzigen monotonen Paradigma (auf -ett, -ettan, -it, -ittan) zusammengeschrumpft 12 . Gartner vertritt in seiner Grammatik die Auffassung, das (synthetische) Perfekt gehöre im Bündnerromanischen gar nicht in die Sprachgeschichte, sondern vielmehr in die «Grammatikergeschichte», mit andern Worten, es handle sich um einen Import aus der italienischen Schriftsprache, eingeführt von den Grammatikern, «denn in solchen Sprachen ist jeder Schriftsteller ein Grammatiker» (Gartner 1883: 116s.). Abgesehen davon, dass auch Einflüsse anderer Sprachen, seien sie in der gesprochenen oder in der literarischen Norm wirksam, zur Geschichte einer Sprache gehören, macht die in alter Zeit weit grössere Formenvielfalt im Präteritum nicht den Eindruck, es handle sich dabei um einen reinen Import aus dem Italienischen. Auch Stürzinger, der sich eingehend mit der Herkunft der einzelnen Endungen befasst, scheint von einer einheimischen Weiterentwicklung des lateinischen Perfekts auszugehen, die nach einer Frühphase im Laufe der Zeit zusehends abgebaut wurde, in der Surselva vollständig, im Engadin bis auf das Einheitsparadigma auf -et, -ettan (Stürzinger 1879: 21-25). Ob ursprünglich einheimisch oder entlehnt, jedenfalls zeugen die zahlreichen Präteritumsformen in der Chianzun da Müsch für die Präsenz dieses Verbalparadigmas 9 ‘Wenig’, heute poch, wird poig (614) und poik (27, 512) geschrieben, aber auch pock (213). ‘Pakt, Vertrag’, heute pach, erscheint als paick (581) und als pak (pl. Paks, 277). 10 Darms 1989: 829s. spricht von «mindestens 11 verschiedene(n) Schreibungen». 11 Ausgewähle Beispiele: bgiers dis (351); la bratschia (444); schia (Konjunktion ‘wenn, ob’, passim); preschiantettan (51). 12 Cf. Arquint 1964: 72s. unter der Bezeichnung «passà defini», Ganzoni 1977: 87s. (Formen), 170s. (Gebrauch), «passo definieu». 133 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 im Engadinischen des 16. Jahrhunderts. Sie sind in diesem Gedicht viel zahlreicher als etwa bei Bifrun (Gartner 1913: 583, Mourin 1964: 251-54) oder Lüci Papa (Liver 2016a: 19). Das liegt nicht in erster Linie an der Entstehungszeit der Werke der drei Autoren, sondern vielmehr an der Textsorte. Das epische Gedicht, das Geschehnisse in der Vergangenheit erzählt, hat naturgemäss eine grössere Affinität zum Präteritum als die Bibeltexte in Prosa, welche das Präsens bevorzugen. Kommt hinzu, dass die Präteritumsformen sich leichter in den Vers einfügen als die längeren Formen des periphrastischen Perfekts 13 . Das Inventar der Präteritumsformen in der Chianzun da Müsch ist äusserst umfangreich. Allein in den Reimen finden sich 72 Beispiele. Entsprechend der epischen Natur des Textes gehören die Belege ausschliesslich der 3. Person Singular und Plural an. Wo Travers in eigener Person spricht, handelt es sich stets um sentenzartige Äusserungen, die im Präsens stehen. Die überwiegende Zahl der Beispiele für die 3. Person (Singular und Plural) gehört dem heute vorherrschenden Paradigma auf -et, -ettan an, das sich, ausgehend von den Perfektformen der Verben dare und stare, dedit und stetit (resp. *stetuit), analogisch ausgebreitet hat (cf. Schmid 1949: 38). Die ältere Form der 3. Person Singular der 1. Konjugation, die auf -o lautet 14 , kommt in der Chianzun da Müsch nur gerade dreimal vor: dvantô 323, dvanto 466, s’arasô 57, die entsprechende Pluralform auf -aun, -en dagegen sehr häufig 15 . Bei Bifrun sind beide Formen gut belegt. Es scheint, dass im 16. Jahrhundert die Paradigmen auf -o, -aun und auf -et, -ettan im Oberengadin nebeneinander bestanden. So findet sich in der Chianzun neben dvanto auch dvante (55), dvantè (363) 16 , dvantet 138, dvantêt 240, 357, neben s’arasô s’araset (505), neben turnaun (19) turnetan (671), neben piglien (210 und öfters) piglietan (52, 553). Dieselbe Situation zeigt sich bei Bifrun (cf. Mourin 1964: 254). Auch bei den unregelmässigen Verben mischen sich verschiedene Flexionstypen. Während im Bereich der regelmässigen Verben die Flexion auf -et, -ettan schon bei Travers vorherrschend ist, weisen die unregelmässigen Verben in der Chianzun da Müsch öfters auch starke Perfektformen auf: Esser: 3. Sg. meist füt, fütt, dazu der Plural fütt’ne (= fütten e, mit enklitischem Subjektspronomen, 499) 17 . Seltener fü (189), Plural fün (155 und öfters). 13 Ursicin G. G. Derungs sagte einmal in einem Referat (Laax 1989? ) zu seiner Übersetzung von Gesängen der Divina Commedia, das Fehlen eines synthetischen Perfekts im Surselvischen hätte die Übersetzung wesentlich erschwert. Cf. zu diesem Problem auch Andri Peer in Litteratura 1 (1978): 140. 14 Nach Stürzinger 1879: 22 aus -a(v)it, nach Gartner 1883: 116 aus dem Italienischen entlehnt. 15 Cf. oben p. 130s. Zur Erklärung der Lautung Stürzinger 1879: 25. 16 Die Formen ohne -t sind geläufig, auch bei unregelmässigen Verben: fü neben füt, fütt von esser, fe neben fet von fer. 17 Im modernen Puter füt, füttan (Ganzoni 1977: 91). Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 134 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Avair: 3. Sg. havet (9 und vier weitere Belege), Plural havetne (= havetten e, 120) 18 , havé (485), Plural aven (32) 19 und havennen (153). Fer: 3. Sg. fè (397), Plural fen (207, 503, 657, 678), fenne (= fenn e, mit enklitischem Subjektspronomen, 391), fennan (351). 3. Sg. auch fet (461), fadschiêt (43, 496), Plural fadschetne (= fadschettan e, 247) 20 . Gnir: 3. Sg. ven (15 und öfters), Plural vennen (140, 152, 614) und gnitan (538) 21 . Ir: 3. Sg. giet (493), giêt (405) 22 . Dir: 3. Sg. dis (306) 23 . In den beiden Modalverben vulair und pudair sind in der Chianzun da Müsch die starken Formen klar vorherrschend. Für stuvair gibt es nur zwei Belege, je eine starke und eine schwache Form. Vulair: 3. Sg. vos (62, 50), vous (236, 259, 517, 544), Plural vossen (197), vossene (mit enklitischem Subjektspronomen, 65), voussen (181), vous’n els (182), vous’ne (411). Die schwache Form vulettan, die im heutigen Puter gilt, ist nur einmal belegt (vuletten 410) 24 . Pudair: 3. Sg. pous (260, 582, 653), Plural poussen (198), pos’n (229). Daneben 3. Sg. pudet (354), podet (86) 25 . Stuvair: 3. Sg. stôs (576), stue (321) 26 . Obschon es bei der ungünstigen Überlieferungssituation der Chianzun da Müsch heikel ist, chronologische Schlüsse zu ziehen, weisen die Fälle, in denen in den Handschriften C und D -et-Formen stehen, wo die Handschrift A ein starkes Präteritum hat, auf eine zunehmende Dominanz dieses Paradigmas hin. Die Ms. C und D, die sich sprachlich sehr ähnlich sind, dürften jünger sein als A (cf. Schorta-Gantenbein 1942: 12s.). Hier einige Beispiele. Pudair: A 582, 653 pous, CD pudet 27 . 18 Im modernen Puter (a)vet, (a)vettan (Ganzoni 1977: 91). 19 Nach DRG 1: 562 s. avair als (h)aven in E noch längere Zeit erhalten. 20 So auch Bifrun: faschett, faschetten (Mourin 1964: 258) 21 Auch bei Bifrun die beiden Typen ven/ vennen und gnit/ gnitten. Mourin 1964: 260, DRG 7: 578 s. gnir. 22 Bifrun giet, giettan. Mourin 1964: 257. Giett auch bei Lüci Papa, Sabgienscha 46,7 (Liver 2016a, Glossar), in DRG 10: 9 s. ir als einzige alte Präteritumsform zitiert. 23 Bifrun hat neben dis/ dissen auch den heute gebräuchlichen Typus dschett/ dschetten. Mourin 1964: 258, DRG 5: 255 s. dir I. 24 Auch bei Bifrun dominiert vous, vousan, vuosan; vulet kommt nur einmal vor. Mourin 1964: 260. 25 Bifrun hat nur pous, pousen. Mourin 1964: 259. 26 Bifrun, Apg. 21,35 stous. 27 A 260 pous, BF poss, C pudet, D pouss. Wo A ebenfalls Formen auf et aufweist (86 podet, 354 pudet), haben auch C und D pudet. 135 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Beim Verb vulair ersetzt nur Ms. C die starken Präteritumsformen teilweise durch -et, -ettan, während D durchwegs beim starken Präteritum bleibt: Vulair: A 517 vous, C vulet. A 197 vossen, C vuletten, D voussen, und öfters. Im Fall von avair ist zwar kein starkes Perfekt belegt, aber Ms. A hat die ältere Endung -en, -ennen, C und D an gleicher Stelle -etten: Avair: A 32 aven, C havetten, D havettan. A 153 havennen, CD havettan. 3.2. Fehlende Flexion bei Adjektiven Bei einigen Adjektiven (bun, pover) und Indefinita oder Quantoren (alchün, oter, bger, tuot) in attributiver Funktion fehlt zuweilen die Markierung der Flexion: als bun Grischuns (139), ls bunʼ Grischuns (238), da bun Grischuns (522) bun vschins (17), seis bun cumpagnuns (258) ls pover Vutlinesks (80) tres oter bun factuors (164) cun alchün Cumpagnuns (491), alchün dis (665) bger dis (= dits ‘Worte, Reden’) et cusailgs (169), bgêr chiavals (402) tuot las vias (70), tuot lur fantasia (679) und öfters. Entsprechendes findet sich auch bei Bifrun 28 , während in Lüci Papas Sabgienscha Beispiele fehlen. Heinrich Schmid weist im Artikel bun/ bien DRG 2: 629s. anlässlich vereinzelter unflektierter Formen des attributiven Adjektivs 29 auf eine Übereinstimmung mit dem Schweizerdeutschen hin, wo ebenfalls Syntagmen wie rich Lüt (neben richi Lüt), guet Herdöpfel (neben gueti Herdöpfel) vorkommen. Von unflektiertem attributivem Adjektiv ist auch im Artikel bler, DRG 2: 383s., die Rede. Es kommt im Engadin nur in alten Texten vor, in Mittelbünden und der Surselva dagegen mundartlich auch in neuerer Zeit: Almen: aun blear ons, noch viele Jahre. Schluein: el durmeva era bia gadas, er schlief auch manchmal 30 . Die Hypothese, die Kopräsenz von flektiertem und unflektiertem attributivem Adjektiv könnte mit den Verhältnissen im Deutschen zusammenhängen, hat einiges für 28 Cf. Mourin 1964: 203 s.: dapoeia bgier ans Apg. 24,17: bgier porgs Mt. 1,17, tuot aquels Apg. 20,31; 28,30. 29 Cf. p. 613, Brav.: ke e buŋ ardeffelts, das sind gute Kartoffeln (neben ke e buŋdz ardeffelts). 30 Problematisch ist der Interpretationsversuch DRG 2: 383, in diesem Gebrauch «eine ursprünglich substantivische Funktion (als Apposition)» zu sehen. Der Verweis auf Gartner 1883: 80 (§103) wäre nur angebracht, wenn man dessen Herleitung von bler aus milliarium annähme, was DRG 2: 386 abgelehnt wird. Cf. aber Lüdtke 1962: 108-11, der diese Etymologie verteidigt. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 136 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 sich. Ob es sich um einen direkten Einfluss oder um eine unabhängige parallele Entwicklung handelt, ist jedoch kaum zu entscheiden. Fest steht, dass im Mittelhochdeutschen flektierte und unflektierte attributive Adjektive gleichwertig nebeneinander standen. Seit frühneuhochdeutscher Zeit verschwinden die unflektierten Formen allmählich, zunächst im Maskulin und im Feminin. Im Neutrum leben sie zum Teil in festen Fügungen, Redensarten und Sprichwörtern bis heute weiter (auf gut Glück, gut Ding will Weile haben) 31 . 3.3. Artikel beim Possessivum Wie die Surselva verwendet heute das ganze Engadin das Possessivum ohne Artikel, während in Mittelbünden der Gebrauch schwankend ist. Vor allem die surmeirische Schriftsprache bevorzugt das vom Artikel begleitete Possessivum 32 . In alter Sprache ist jedoch das Possessivum in allen Gebieten sowohl mit als auch ohne Artikel belegt. Im Altoberengadinischen gilt das unter anderem für Bifrun und Lüci Papa, wobei der artikellose Gebrauch deutlich überwiegt 33 . In dieses Bild passt auch, wie Travers in der Chianzun da Müsch mit dem Possessivum umgeht. Entsprechend dem erzählenden Charakter des Textes gehören die meisten Beispiele der dritten Person an. In der dritten Person Singular stehen zwei Beispiele mit Artikel 9 Beispielen ohne gegenüber (V. 85, 262 vs. 24, 50, 105, 270, 294, 304, 536, 640, 660). Im Plural ist das Verhältnis 5 zu 22 (30, 172, 225, 231, 673 vs. 29, 58, 63, 72, 118, 159, 176, 226, 228, 236, 244, 272, 284, 398, 428, 442, 507, 568, 617, 670, 679, 684). Gründe oder Regeln für die Setzung resp. Nichtsetzung des Artikels sind hier wie in den Texten anderer Autoren nicht ersichtlich. Auch in unmittelbar aufeinanderfolgenden Versen erscheint das Possessivum einmal mit, einmal ohne Artikel: L’s lur guafens cumanzaune â masdêr Et lur guargiamaintas fick â tuner (V. 225-26) 34 . 31 Cf. Dal 1966: 53. Aus der Karte 3,253 des SDS geht hervor, dass im Schweizerdeutschen die unflektierten Formen in den südlichen Dialekten stärker präsent sind. Das würde zum allgemein archaischeren Charakter des Höchstalemannischen passen. Die Verknüpfung dieser Beobachtung mit einer Hypothese, die dem Sprachgebrauch der Walser in Graubünden einen Einfluss auf die Verhältnisse im Rätoromanischen zutraute, wäre allerdings höchst gewagt. 32 Thöni 1969: 19 sagt in seiner Grammatik Rumantsch-Surmeir: «Das besitzanzeigende Fürwort kann mit oder ohne Artikel verwendet werden». In der Sutselva sind die Verhältnisse nicht ganz klar. Grosso modo kann man sagen, dass im Plaun, im Domleschg und am Heinzenberg die artikellose Variante vorherrscht (oder vorherrschte), im Schams die Verwendung mit Artikel. In der Literatur herrscht Uneinheitlichkeit. 33 Cf. Ulleland 1963. Eine überzeugende Analyse der Situation im Artikel meis I des DRG (14: 111, M. Grünert). Zu Lüci Papa Liver 2016a: 22. 34 In der Übersetzung von DRG 7: 951 s. guargiamainta: «ihre Waffen begannen sie zu kreuzen, und ihre Rüstungen tönten gewaltig». Zur syntaktischen Inkongruenz unten p. 138s. 137 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Für das Feminin der dritten Person Singular (sia) und die 1. und 2. Person des Possessivs fehlen Belege für den Gebrauch mit Artikel ganz, wobei auch die Beispiele für das artikellose Possessivum in diesen Personen sehr spärlich sind. 3.4. Die Konjunktion cha ‘dass’ Die Konjunktion cha leitet meist untergeordnete Aussagesätze ein. Sie kann jedoch in dieser Konstellation auch fehlen, ebenso nach gewissen Konjunktionen, die normalerweise aus zwei Elementen bestehen, deren zweites cha ist. Umgekehrt tritt cha expletiv oder pleonastisch in Hauptsätzen auf. Beispiele für eine pleonastische Verwendung der Konjunktion cha in Hauptsätzen sind in der Chianzun da Müsch (geschrieben chia oder chʼ) nicht selten. Im Artikel cha/ che des DRG 2: 134 wird unter 4. festgehalten: «Pleonastischer Gebrauch. Dient, soweit nicht rein expletiv, zur Hervorhebung eines Satzteils, indem dieser vorangestellt und die folgende Aussage ihm mittels cha/ che untergeordnet wird. Besonders in E gebräuchlich.» Es folgen Beispiele aus den Dialekten (nur aus E und Bravuogn) und aus der Literatur (hier auch aus C und S). Darunter finden sich Zitate aus Bifrun, Hiob und anderen altengadinischen Texten, aber keines aus der Chianzun da Müsch. In 6 von 7 Beispielen wird ein Objekt, teils erweitert durch adverbiale Bestimmungen, vorweggenommen und die Verbindung zum Subjekt durch pleonastisches cha hergestellt: XXII sudôs unna noat à Clavena chiel tramtêt (22 Sodaten schickte er eines nachts nach Chiavenna, V. 45) Et lo Mastrael Sylveister ch’els aspettaun (und dort erwarteten sie Landammann S., V. 48) Tuot alg poevel stramieu ch’el vssaiva (alle Leute sah er verängstigt,V. 90) Unna cumpagnia d’Napolitauns ch’el assudet (eine Kompanie Neapolitaner nahm er in Sold, V. 185) La Streda nouva ch’el rumpet (er öffnete die neue Strasse, V. 194) Ün punt in bulchia d’Adda ch’el büttêt (er liess eine Behelfsbrücke 35 an der Addamündung errichten, V. 202). Im letzten Beispiel steht am Anfang eine adverbiale Bestimmung: Aʼ Clavennna cun tuot ch’els arivaun (damit kamen sie nach Chiavenna, V. 515). Für die Auslassung von cha, die etwa bei Lüci Papa ziemlich häufig ist (cf. Liver 2016a: 20s.), findet sich in unserem Text nur ein einziges Beispiel: Johan Travers, traversô taunt m hest tü Ch’eau nun vöelg tü ʼm traversast plü (J. T., du hast mir so viel in die Quere gelegt, dass ich nicht will, dass du mir noch mehr in die Quere legst, V. 473-74) 36 . 35 Stampa 1976: 188 übersetzt: «fece gettare un ponte di fortuna …» 36 Wortspiel mit dem Namen Travers. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 138 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 3.5. Inkongruente Syntax 37 und constructio ad sensum Zuweilen unterbleibt die Übereinstimmung von Subjekt und Prädikat: In tel fuorma füt pertz Claven(n)a 38 cun lg cunto (so ging Chiavenna zusammen mit der Grafschaft verloren, V. 67) Da lg tuot füt praist aviso las trais Lias (davon wurden bald die Drei Bünde informiert, V. 69) Per aque bger dis et cusailgs fü fat (in dieser Angelegenheit wurde viel geredet und beratschlagt 39 , V. 169). Im ersten Beispiel würde man im Partizip der Verbform die weibliche Form erwarten, da Clavenna anderswo als Femininum behandelt wird 40 . Im zweiten und dritten Beispiel steht das Prädikat im Singular, das Subjekt im Plural. Eine andere Art von Inkongruenz, die man eher als freie Syntax bezeichnen möchte, liegt im folgenden Beispiel vor, wo das Verb im ersten Vers transitiv ist, im zweiten, wo es nicht explizit wiederholt, aber zu ergänzen ist, intransitiv: L’s lur guaffens cumanzaune â masdêr Et lur guargimaintas fick â tuner (Übersetzung oben N 34, V. 225-26). Mit ähnlicher Unbekümmertheit geht Travers von V. 99, wo das Prädikat ein Passiv ohne Agens ist (füt antrô, es wurde eingedrungen, man drang ein), zu V. 100 über, wo das Verb esser zu ergänzen ist, allerdings nicht im Singular, sondern, passend zum neuen Subjekt, im Plural (fün oder fütten): Cun grand algrezchia in Morbeing füt antrô, Et ls Jnimis our d’la Vutlina schiatschô (mit grosser Freude drang man in Morbegno ein und verjagte alsbald die Feinde, V. 99-100). Auf den ersten Blick scheint auch das folgende Beispiel inkongruente Syntax aufzuweisen: Plü dan in tel schiaramütschia nun haune arfschieu Ne üngiün oter d’lur cumpagnia manchieu (grösseren Schaden haben sie in diesem Scharmützel nicht erfahren, und es fehlte kein weiterer 41 aus ihrer Mannschaft, V. 243-44). So, wenn man das Verb mancher als intransitiv ‘fehlen, ausbleiben’ auffasst. Als Kopula müsste dann ho ergänzt werden. Vereinzelt ist allerdings auch transitiver Ge- 37 Es geht hier um eine andere Art von syntaktischer Inkongruenz als bei dem surselvischen Phänomen, das Liver 2010: 148s. beschreibt und als «Nicht-Kongruenz» bezeichnet. 38 Die Korrektur der Herausgeber ist überflüssig, da im Text die Schreibung der Geminaten schwankt. Neben Clavenna kommt auch Clavena vor, so V. 45, wo keine Korrektur vorgenommen wurde. 39 Wörtlich: wurden viel Worte (dis = dits) und Beratungen gemacht. 40 V. 261: In tel guissa fü Clavena recupareda. 41 Über die vier erwähnten Gefallenen (V. 242) hinaus. 139 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 brauch von mancar belegt, in der Bedeutung ‘vermissen’ 42 . Wäre diese hier intendiert, müsste man übersetzen: «und sie vermissten keinen weiteren» 43 . Nicht aussergewöhnlich wie in vielen Sprachen sind die Fälle von constructio ad sensum, wo ein grammatisch singularisches Subjekt eine Mehrzahl von Individuen bezeichnet und entsprechend mit einem Prädikat im Plural verbunden wird (lg cusalg ‘der Rat, die Ratsmitglieder’, la glieud ‘die Leute’ 44 ): Lg cusalg in Cuoira tel amnatschias poik apridse(n) (der Rat in Chur schätzte solche Drohungen wenig, V. 27) Fen la pru glieud 45 dir messas et oratiun (liessen die frommen Leute Messen und Gebete lesen, V. 207). Wenn nicht wirklich inkongruent so doch mindestens approximativ ist die Syntax im folgenden Beispiel, wo das Possessivum lur sich nicht auf das Subjekt des Verses, sondern vage auf Claven(n)a im vorhergehenden Vers bezieht: Aquella nouva bôd in Claven(n)a s’arasô Et tres lur avis l’s d’Bragalia in cuort fün lô (diese Nachricht breitete sich rasch in Chiavenna aus, und auf ihre Warnung hin [für: durch die Warnung, die sie von Chiavenna erhalten hatten] waren die Bergeller bald zur Stelle, V. 57-58) 46 . 42 DRG 12: 646 s. mancar I, Abs. II.6. Cf. auch S schar muncar ‘jdn. nicht haben, jdn. vermissen’ p. 643 Abs. I.11.e. 43 Entgegen ersten Vermutungen fallen auch die Beispiele, wo ven bei einem Subjekt im Plural steht (V 605, 655) nicht unter das Thema «Inkongruenz», da ven hier offensichtlich die 3. Ps. Plural repräsentiert, wohl in Analogie zu aven, fen. Die Form ist im 17. Jahrhundert bezeugt, so RC 7: 249 und 508. 44 Das Verb im Plural ist bei glieud im Altengadinischen, aber auch in anderen Regionen und Zeiten, gut belegt. Cf. DRG 7: 411 s. glieud. 45 Die Fügung pruglieud, die Pallioppi 1895 als veraltet verzeichnet (so auch surs. pruaglieud bei Decurtins 2001 und im LRC), begegnet auch im Drama Filg pertz von Travers (RC 5: 85 V. 1491 und 5: 99 V. 2051). Ob pruin dieser Fügung wirklich etymologisch vom Adjektiv prus zu trennen ist, wie es die Wörterbücher vorschlagen (das erste von prode < prodest, das zweite von pro[r]sus), ist fraglich. Dazu unten p. 172s. 46 DRG 1: 607 s. avis übersetzt kommentarlos: und durch ihre Warnung … Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 140 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 4. Besonderheiten im Wortschatz 4.1. Der Wortschatz von Travers in der Geschichte des Bündnerromanischen Im Folgenden werden Aspekte des Wortschatzes der Chianzun da Müsch hervorgehoben, die relevant sind für die Charakterisierung des Altengadinischen, wie es in der Sprache von Travers zum Ausdruck kommt. In erster Linie geht es um Lexeme, die nur der alten Sprache angehören. Oft sind es auch nur einzelne Bedeutungen oder Anwendungsbereiche eines Lexems, die sich vom heutigen Gebrauch unterscheiden, wo eine Bedeutungsverengung oder Spezialisierung eingetreten ist. In gewissen Fällen belegen diese Beispiele alte Gemeinsamkeiten innerhalb eines grösseren bündnerromanischen Gebiets, die durch spätere Entwicklungen verloren gegangen sind 47 . Auch Ableitungen, die vom System her durchaus naheliegen, aber nicht in die allgemeine Norm eingegangen sind, gehören in diesen Zusammenhang. Manche Besonderheiten der alten Sprache in unserem Text sind durch Sprachkontakt bedingt, durch die Nachbarschaft mit dem Deutschen und mit dem Italienischen. Die grosse Zahl von Italianismen, seien es Entlehnungen ganzer Lexeme oder solche von speziellen Bedeutungen, überrascht nicht wirklich im Fall von Travers und seiner Chianzun da Müsch, die ja Ereignisse beschreibt, die sich in italienischsprachigem Gebiet abgespielt haben. Als Landeshauptmann im Veltlin stand Travers in unmittelbarem Kontakt mit dem Italienischen. Manche seiner Italianismen führen zu Korrekturen von Aussagen des DRG, in denen gewisse Phänomene als einheimisch bündnerromanisch bezeichnet werden. Schliesslich sollen Fälle diskutiert werden, deren Interpretation problematisch ist oder wo das DRG eine Übersetzung oder eine historische Interpretation vorschlägt, die nicht überzeugt. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Beispiele, die für die skizzierte Thematik besonders ergiebig sind. Die Zuordnung der Beispiele zu den in den Untertiteln definierten Kategorien ist jedoch oft nicht eindeutig. So kann in vielen Fällen nicht mit Sicherheit entschieden werden, ob eine bestimmte Verwendung einheimisch rätoromanisch oder durch den Kontakt mit Nachbarsprachen bedingt ist. 4.1.1. Lexeme, die nur der alten Sprache angehören 48 - avder ‘verhindern’ Tuot aque vous l’g Castelaun da Müs avdêr (all das wollte der Schlossherr von Musso verhindern, V. 259) 47 Cf. zu entsprechenden Beispielen bei Lüci Papa Liver 216a: 14-18. 48 Die Beispiele werden innerhalb der Unterkategorien alphabetisch geordnet. Die bei Travers schwankende Orthographie wird in den Stichwörtern nach der heutigen Norm vereinheitlicht. 141 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Chiampel übersetzt in der Historia Raetica (2: 100,29): «Quod etiamsi Mussiensis castellanus evitare voluisset impedireque». Das Verb, das wie it. vietare, afr. veer, aprov. vedar gleicher Bedeutung lat. vetare fortsetzt, erscheint später in der Form vall. vadar, put. vader. Bezzola/ Tönjachen führen vadar an dritter Stelle unter verweigern an (nach refüsar, rechüsar). Es ist aber fraglich, ob das dem effektiven Sprachgebrauch entspricht. Schon Pallioppi bezeichnet vader als veraltet. Im Drama vom Verlorenen Sohn (Histoargia dalg filg pertz) von Travers finden sich zwei Belege für afder ‘verweigern’ 49 , ebenso einer bei Bifrun 50 . - cumbagl ‘Verhalten’ Dalg tuot avisaiva l’g Düchia alg cusailg Chia d el 51 nun plaschaiva noas cumbalg («gänzlich, zeigte der Herzog dem Rathe an, missfalle ihm unser Thun» 52 , V. 21-22) Die Stelle ist der einzige Beleg für dieses Lexem unbekannter Herkunft in der Chianzun da Müsch. Es ist jedoch bei Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts aus dem Ober- und Unterengadin gut belegt, unter anderem bei Chiampel. Für spätere Zeiten führt DRG 4: 377 s. cumbagl keine Beispiele an 53 . - glivreda ‘Ende, Schluss’ Diese vom System her naheliegende Ableitung vom Verb glivrer ‘beendigen, zu Ende gehen’ ist nur in der formelhaften Einleitung zu der epischen Erzählung von Travers bezeugt (cf. Liver 2010: 99): Da te scodünn oura dêss gnir cumazeda p(er) havair bun metz et meildra glivreda (bei dir [scil. Gott] muss jegliches Werk seinen Anfang nehmen, um eine gute Mitte und ein besseres Ende zu haben, V. 3-4) Unter den Ableitungen von glivrar DRG 7: 471 ist unsere Stelle das einzige Beispiel, so auch in der RC. 49 RC 5: 70 V. 988 und 71 V. 1043. 50 Mt. 3,14: Mu Iohannes afdeva ad el aquè (nämlich ihn zu taufen, wie Jesus gebeten hatte). Im Glossar von Gartner 1913 figuriert nur das homonyme afdêr ‘wohnen’ (< habitare), ohne Stellenangaben (Beispiele DRG 1: 586 s. avdar). Umgekehrt verzeichnet Fermin 1954 nur afdêr ‘s’opposer’ (55 und 71, zu Mt. 3,14), mit falscher Etymologie (abdicere). 51 Ms. B ad ell, C ad el. 52 So Flugi 1865: 42. Diese Übersetzung ist derjenigen in DRG 4: 377 s. cumbagl ‘Sitte, … Verhalten …’ vorzuziehen. 53 Die Aufnahme von cumbagl ‘Intrige, pl. Ränke’ in die Wörterbücher der Lia Rumantscha (Bezzola/ Tönjachen 1976 und Peer 1962) dürfte der Tendenz der Zeit zu verdanken sein, alte Wörter neu beleben zu wollen. Cumbigl s. ‘Intrige’ bei Bezzola/ Tönjachen ist wohl ein Fehler. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 142 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 - largeda ‘Freilassung’ Ähnlich verhält es sich mit dieser Ableitung von larger ‘freilassen’: Quindasch Milli Curun(n)as l’g gnissen dedas, Et in sieu Chiastè consignedas, A largeda da ls praschuners, la mitaed, Alg reist alhura, vi la sted (15000 Kronen würden ihm [scil. dem Müsser] gegeben und in seinem Schloss ausgehändigt, bei der Freilassung der Gefangenen die Hälfte, der Rest dann auf den Sommer hin, V. 659-62) Unter den Ableitungen von largiar I DRG 10: 480 figuriert largeda nicht, und in der RC ist es das einzige Beispiel. - slupater ‘Schütze’ L’g Capitauni Grâs, cun 500 slupatêrs, Per val da l’g Bit, vous gnir da tiers (der Hauptmann Grasso wollte mit fünfhundert Schützen durch die Valle del Bitto herankommen, V. 543-44) Auch dies ist der einzige Beleg für das Lexem im Text, ebenfalls in der ganzen RC. Bei Chiampel heisst es: «cum globo quingentorum sclopetariorum» (Historia Raetica 2: 110,11). It. schioppettiere ‘soldato armato di schioppetto’ (Zing.) legt eine Herkunft aus dem Italienischen nahe. - tratto ‘Vertrag’ Et ün chiatif tratto havetne â maun (und es lag ihnen ein schlechter Vertrag vor 54 , V. 120) Wie it. trattato, fr. traîté in der Form eines Partizips der Vergangenheit vom Verb tratter abgeleitet. Das Lexem ist in der RC mehrfach belegt, aber nicht in den neueren Wörterbüchern, die für ‘Vertrag’ tractat angeben. 4.1.2. Grösserer (oder abweichender) Bedeutungsumfang in alter Sprache, grösserer Anwendungsbereich - adatter ‘vorbereiten, anordnen, sich anschicken, bewerkstelligen …’ Das Verb, das heute auf die Bedeutung reduziert ist, die it. adattare, fr. adapter und entsprechenden Verben in anderen Sprachen eignet, ‘(sich) anpassen, eignen’, hat im Altoberengadinischen ein sehr viel weiteres semantisches Spektrum. Der Versuch in DRG 1: 95, diese Bedeutungsnüancen in Kategorien zu ordnen, ist wenig überzeugend. Die Bedeutungen überschneiden sich und nicht alle Beispiele passen zu den 54 DRG 3: 464 s. chativ ‘böse, schlecht …’: «und hatten einen listigen Vertrag zur Hand». Flugi 1865: 44 «einen schlechten Vertrag». 143 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 jeweiligen Definitionen. Die Beispiele stammen ausschliesslich von Travers und Bifrun. Im Glossar zu Bifruns NT von Gartner 1913 wird ad(d)at(t)êr als ‘bereiten, vorbereiten’ erklärt. An den drei Stellen, an denen adatêr in der Chianzun da Müsch erscheint, zeigen sich jeweils verschiedene Verwendungsmöglichkeiten dieses Verbs, das zwar nicht gerade als passe partout bezeichnet werden kann, aber durch seine etwas vage Grundbedeutung sehr verschiedene Nutzungen und entsprechende Interpretationen zulässt, wie sie in den Übersetzungsvorschlägen von DRG und Alfons von Flugi zum Ausdruck kommen. Seis Chapitanis havet el ordino Et cumpagniums da d alver adatô (DRG 4: 114 s. cumpogn Ableitungen: «er hatte seine Hauptleute ernannt und Mannschaften auszuheben angeordnet», V. 11-12) Die Übersetzung «angeordnet», hier im deutschen Text durchaus passend, ergibt sich aus der Bedeutung ‘vorbereiten, vorsorgen’ (DRG 1: 95 unter 2., wo unsere Stelle jedoch fehlt). Alhura l’g Düchia da Milaun â las Lias per arender Lg chiaste da Clavenna adatet da prender (DRG 1: 95 s. adattar 2. ‘vorbereiten’: «dann, um sich an den Drei Bünden zu rächen, schickte sich der Herzog von Mailand an, das Schloss Chiavenna zu erobern», V. 33-34) Ls Grischus vulaivnè incrasêr, sch’havessen pudieu adatêr (DRG 1: 95 s. adattar 3. ‘bereitstellen, … bewerkstelligen’: «die Bündner wollten sie einkreisen, wenn sie es zustande gebracht hätten», V. 545-46) Vergleichbare Verwendungen von adattare werden von den italienischen Wörterbüchern (Battaglia, LEI) nicht ausgewiesen. Die Bedeutung ‘vorbereiten’, die dafür wohl den Ausgangspunkt bildet, ist zwar auch im Italienischen belegt, allerdings nur in transitiver Funktion. Sie findet sich auch in lat. adaptare im Sprachgebrauch christlicher Autoren der Spätantike, bei Gregor von Tours in der Wendung se adaptare ad (+ Gerundium), was den beiden letztzitierten Verwendungen bei Travers recht nahe kommt 55 . - appruver ‘angehen, bearbeiten, zu gewinnen versuchen’ Per que ls’ Grischuns fün apruvôs, Et tres alg Zettera prattichiôs, Pesch d’fer cun lg’ Castellan da Müs (Deshalb wurden die Bündner angegangen und durch den Zettera 56 gedrängt, mit dem Schlossherrn von Musso Frieden zu schliessen, V. 681-83) 55 Cf. Blaise s. adapto. Hier auch der Hinweis, dass adaptare ‘préparer’ griech. κατασκευάζειν entspricht, das alle bei Travers vorkommenden Bedeutungen ebenfalls aufweist (‘veranstalten, ins Werk setzen, anordnen …’. Cf. Menge-Güthling s.v.). 56 Es handelt sich um Claude de Lorraine, duc de Guise (1496-1550). Chiampel nennt ihn «Magnus Guisius» (Historia Raetica 2: 114). Was es mit dem mutmasslichen Spitznamen Zettera auf Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 144 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Dass das Verb apruver hier die obige Bedeutung hat, geht aus der Periphrase der Stelle durch Chiampel (HR 2: 114) hervor: «Hinc Raeti, per magnum Guisium et ipsi tentati, ut in foedus illud eatenus consentirent …». Auch Flugi übersetzt: «darum wurden die Bündner angegangen» (Flugi 1865: 53). Heute ist die Bedeutung von approvar, appruver, wie in it. approvare, fr. approuver ‘gutheissen’. - attanter ‘angreifen’ Das Verb attantêr erscheint bei Travers nur einmal, und zwar in der Bedeutung ‘angreifen’: La streda nova ch’el rumpet Per pudair la Vutlina attantêr (er öffnete die neue Strasse, um das Veltlin angreifen zu können 57 , V. 194-95) Diese Bedeutung hat schon lat. attentare, attemptare (cf. Georges s. attento). FEW 13: 183 verzeichnet unter temptare wallon. atanter ‘attaquer’ (BWall. 2,45). Im Italienischen fehlen Belege für eine entsprechende Verwendung von attentare. Wie attemptare hat auch das Simplex temptare im Lateinischen u. a. die Bedeutung ‘angreifen’ (Georges s. tempto: ‘feindlich bedrohen, angreifen …’). So auch tentêr bei Travers im folgenden Zitat: Ls Jnimis co giu Sak s’laschaun Et vêr quant dis Morbèng tentaun (die Feinde liessen sich nach Sacco hinunter und griffen während einiger Tage Morbegno an, V. 561-62) 58 . - dubiter ‘fürchten’ Die folgende Stelle ist der einzige Beleg für die Bedeutung ‘fürchten’ von dubitar (heute ‘zweifeln’) im gleichlautenden Artikel DRG 5: 464. Verben, die auf lateinisch dubitare zurückgehen, haben in verschiedenen Sprachen des romanischen Mittelalters diese Bedeutung (afr./ mfr. do[u]ter, aprov. doptar, ait. dottare). So auch fass. dubièr (neben temer). Dies, im Unterschied zu rtr. dubitar, in einer volkstümlich entwickelten Lautung. Schon seit dem ersten Jh. n. Chr., dann häufiger im Spätlatein und im Lateinischen des Mittelalters, ist dubitare ‘fürchten’ belegt (Stotz 2000: 65 [V 29.9]). Tuot l’g pöevel havaiva stramitzzi, Dubitandt da stuair purter pantizzi («das ganze Volk hatte Angst und befürchtete, [dafür] büssen zu müssen» 59 , V. 273-74) sich hat, ist nicht bekannt. (Freundliche Auskunft von Dr. Florian Hitz, Chur). 57 Flugi 1865: 45: «die neue Strasse liess er brechen, um das Veltlin angreifen zu können». 58 Zu tentar, attentar im Aeng. und heute cf. auch Liver 2012a: 237. 59 Nach DRG 5: 464. Eine weitere Bedeutungsnüance des Verbs, bei Travers nicht vertreten, begegnet zweimal bei Lüci Papa (Jesus Sirach 13,14 und 18,22). DRG 4: 464 s. dubitar unter 4. refl. ‘unterlassen, zögern’. Dazu Liver 2016a: 79 N 275. An beiden Stellen übersetzt nun t’dubitaer 145 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 - fantasia ‘Angst, Sorge; Vorstellung, Absicht’ Peer 1962 gibt zwar unter fantaschia, fantasia nach der ersten Bedeutung ‘Phantasie, Einbildungskraft’ und der zweiten ‘Trugbild’ als dritte Bedeutung ‘Unruhe, Sorge, Furcht’ an. Die Beispiele dafür in DRG 6: 88 s. fantaschia gehören jedoch ausschliesslich der alten Sprache an, ebenso diejenigen für die verbalen Verbindungen mit avair, dar, far, prender, portar und fantaschia in dieser Bedeutung (cf. auch Liver 2012a: 239). Zuond grand pisser, chia l’piglaiva, Fantasia 60 , e rampoargna l’g cusümaiva (ganz grosse Sorge ergriff ihn, Angstvorstellungen und seine missliche Lage 61 zehrten an ihm, V. 519-20) Die Verwendung von fantasia als ‘Vorstellung, Absicht’, die im folgenden Zitat vorliegt, knüpft an die schon in lat. phantasia vorhandene Bedeutung ‘Bild, Gedanke’ an: Et eira tuot lur fantasia, D’schiatschier tramuntauns our d’Lumbardia (und es war ihre feste Absicht, die Bündner 62 aus der Lombardei zu verjagen, V. 679-80). - Grischunia ‘Gemeinschaft der Bündner, Bündner Heer, Bündner Truppen’ Eher als um eine Veränderung des Bedeutungsumfangs geht es hier um einen unterschiedlichen Anwendungsbereich in alter Zeit und heute. In der Chianzun da Müsch kommt Grischunia, Ableitung von Grischun ‘Bündner, bündnerisch’, dreimal vor: Uscheia â Clavenna et in Vuclina d’inmincha lia, S’araspet üna bella Grischunia (so versammelte sich in Chiavenna und im Veltlin eine schöne Schar von Bündnern aus jedem der Drei Bünde, V. 157-58) DRG 7: 831 s. grischun II, Ableitungen, übersetzt: «ein stolzes Bündner Heer», eine legitime, aber nicht zwingende Interpretation. Das gilt auch für die folgenden Stellen: La Grischunia mattêt maun cun granda spraunza («die Bündner Truppen setzten mit grosser Hoffnung zum Angriff an» 63 , V. 224) 64 Süsura da tuotta la Grischunia, Turnet scodün â chiesa sia (darauf kehrte jeder von allen Bündnern nach Hause zurück, V. 611-12) Grundlegend für die Bildung ist das Wortbildungsmuster, das mit dem Suffix -ia Kollektiva erzeugt (wie barunia ‘Gesamtheit der Freiherren’, signuria ‘Herrenleute’ etc.). lat. ne dubites des Ausgangstextes. Zu ergänzen wäre, dass schon lat. dubitare ‘Bedenken tragen, zaudern’ bedeuten kann (Georges s.v.). 60 Die Ms. BCD haben Fantaschia. 61 Zu rampoargna und den Übersetzungen der Stelle im DRG unten 4.1.6. 62 Zu tramuntauns unten p. 160. 63 Übersetzung nach DRG 7: 831. 64 Ms. CD: Grischunaria. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 146 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Die in den zitierten Beispielen naheliegende Bedeutung ‘Heer, Truppe’ ist kontextbedingt. Die Wörterbücher (DRG loc. cit., LRC s.v.) ordnen die beiden Verwendungsweisen in eine historische Folge (‘Heer’ historisch, ‘Gemeinschaft der Bündner’ neuer). DRG 7: 832 betrachtet Grischunia als Ausgangspunkt für das heute geläufige Rumantschia ‘Gemeinschaft der Rätoromanen’. - guaffen ‘Waffe’ Der alte Germanismus (< ahd. wâfan) bedeutet heute im ganzen bündnerromanischen Gebiet ‘Werkzeug, Gerät, Ding’ 65 . In alter Sprache ist daneben auch die Bedeutung ‘Waffe’ belegt. Der heutigen Sprachwirklichkeit entspricht wohl eher die Darstellung des HWR, das die Bedeutung ‘Waffe’ als Archaismus bezeichnet (so auch Decurtins 2001 und LRC), als diejenige in DRG 7: 901 66 . Travers verwendet guaffen in der Chianzun da Müsch zweimal in der Bedeutung ‘Waffe, Gewehr’ (so auch Bifrun und Chiampel; cf. DRG 7: 901): L’s lur guaffens cumanzaune â masdêr (sie begannen ihre Waffen zu kreuzen, V. 225) A quelas la Pelafiga tschintaun, Et cun granda fürgia in quell intraun, Cun armas guaffens d’inminchia soart («die umringten die Pelafiga und drangen mit grosser Wuth in dieselbe ein, mit Waffen und Gewehren aller Art» 67 , V. 433-35). - praticher ‘verhandeln, veranlassen, betreiben’ Auch in diesem Fall beobachtet man eine Verlagerung des Bedeutungsschwerpunktes zwischen dem Gebrauch von Travers und den heutigen Verhältnissen. Peer s.v. gibt als Hauptbedeutung von pratichar (auch pratchar) ‘praktizieren, (einen Beruf) ausüben’ an, als figurative Verwendung des Verbs ‘herumwerken, treiben, hantieren’. In losem Zusammenhang mit letzterer ist der Gebrauch angesiedelt, den Travers von pratichier macht. Hier geht es immer um Aktivitäten in der Politik, das Vorantreiben von Verhandlungen, die Beeinflussung von Verhandlungspartnern. Al Raig d’Francia in las lias havet prattichio Da der guerra alg Milanais Düchiô («Der König von Frankreich hatte in den Bünden dahin gewirkt, dass man Krieg beginne mit dem mailändischen Herzogthum» 68 , V. 9-10) In que temp l’Arciduca da d Oesterreich Cumaintza â pratichiêr per inmincha Vich, 65 Surs. uaffen, suts. guafen, surm. gaffen. 66 «1. ‘Waffe, Bewaffnung’ im allg. So allg. in S, im Sutselv. und Aengad.» 67 Übersetzung nach Flugi 1865: 50. 68 Übersetzung nach Flugi 1865: 42. 147 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Cun trametter seis Ambaschiaduors (zu dieser Zeit begann der Erzherzog von Österreich in jedem Dorf aktiv zu werden, indem er seine Botschafter hinschickte, V. 161-62) Per que ls’ Grischuns fün apruvôs, Et tres alg Zettera prattichiôs, Pesch d’fer cun lg’Castellan da Müs (daher wurden die Bündner angegangen und durch den Zettera gedrängt, mit dem Schlossherrn von Musso Frieden zu schliessen 69 , V. 681-83) Die unterschiedlichen Übersetzungen zeigen, dass die jeweilige Bedeutung des Verbs nicht leicht zu fassen ist. In den ersten beiden Zitaten, wo pratichier intransitiv ist, lässt sich der Inhalt der Aussage etwa mit ‘sich zu schaffen machen’ umschreiben. Eine negative Färbung, die in die Richtung von ‘intrigieren’ geht, ist gelegentlich auch in fr. pratiquer vorhanden 70 . Im dritten Zitat ist prattichier transitiv verwendet, in der passiven Wendung «ls Grischuns … fün … prattichiôs» (die Bündner wurden gedrängt) 71 . - saschun ‘Zeit’ Metz an düret la lur praschun, Sumgiêt ad els lumgia saschun (ein halbes Jahr dauerte ihre Gefangenschaft. Es schien ihnen eine lange Zeit, V. 673-74) Heute bedeutet saschun im Engadin wie fr. saison ‘Jahreszeit’, ist aber auch in dieser Bedeutung weitgehend verdrängt durch aus dem Oberitalienischen entlehntes stagiun (HWR s. v.) 72 . Die Ausweitung der Bedeutung von saschun ‘Jahreszeit’ auf ‘Zeit’ allgemein, wie sie im obigen Beispiel vorliegt, findet sich seit dem Mittelalter auch im Galloromani- 69 Cf. oben p. 143s. zu apruver. 70 Cf. FEW 9: 275 s. practice ‘praxis’. 71 Bei Chiampel, der den Text der Chianzun in der Historia Raetica oft sehr wörtlich ins Lateinische übersetzt: «Raeti … sollicitati fuerunt» (Plattner 1890: 114). Flugi übersetzt: «darum wurden die Bündner angegangen und durch den Zettera überredet, mit dem Castellan von Musso Frieden zu schliessen» (Flugi 1865: 53). Stampa: «Ai Grigioni fu suggerito di fare la pace…» (Stampa 1976: 194). Ähnlich hatte derselbe Autor schon das erste unserer drei Zitate übersetzt: «Le Leghe furono incitate dal re di Francia a dichiarare la guerra …» (ibid. p. 185). 72 Der Worttypus saschun ist heute noch in Mittelbünden präsent, aber ebenfalls kokurrenziert durch den Typus stagiun. HWR s. saschun bezeugt das Lexem in der Bedeutung ‘Jahreszeit, Saison’ für E nur in Ftan, Tschlin und S. Maria. Pallioppi 1895 bezeichnet saschun ‘Zeit, Jahreszeit, Anlass’ gesamthaft als veraltet. Dass der Typus einer älteren Sprachschicht angehört als stagione zeigt auch das Vorkommen von sason ‘stagione, periodo propizio’ im sprachlich archaischen Verzascatal (LSI 4: 533). Auch im Dolomitenladinischen (Gröden, Enneberg, Fassa, Buchenstein) sind Fortsetzer von satio, -onem für ‘Jahreszeit’ erhalten (AIS 310 «Le stagioni, la stagione», Tagliavini 1934: 309s.), ebenso im westlichen Piemont (AIS 310). Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 148 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 schen (afr. saison, aprov. sazon, saizon; cf. FEW 11: 241 s. satio). Sie ist auch in der altengadinischen Literatur gut belegt 73 . - spier ‘achten auf, aufpassen, denken an; ausdenken, ersinnen’ Zu den Verben mit grösserem semantischem Spektrum in alter Zeit gehört auch spiar. Peer verweist unter spiar auf spiunar ‘spionieren’, das heute in ganz RB geläufig ist. Nach HWR s.v. ist dieses aus dt. spionieren entlehnt. Sowohl Pallioppi 1895 als auch Velleman 1929 führen beide Formen, die sie offenbar als synonym betrachten, mit identischer Glossierung an. Es ist jedoch offensichtlich, dass heute spiunar vorherrscht. Die verschiedenen Bedeutungsnüancen von spiar, die in alter Sprache über den heutigen Gebrauch hinausgehen, ergeben sich allesamt zwanglos aus der Semantik des althochdeutschen Etymons spehôn (dt. spähen). Das gilt auch für die beiden Beispiele aus der Chianzun da Müsch. Schʼ las Lias vulessen pür perseverêr Cunter sieu Düchiô da giüder guaragiêr, Schi vules el â sia pusaunza spiêr, Da quel ingürgia vers las Lias da sʼavangiêr ([der Herzog von Mailand liess wissen,] falls die Drei Bünde dennoch fortfahren wollten, Hilfe im Krieg gegen sein Herzogtum zu leisten, dann würde er sich auf seine Macht besinnen und sich an den Drei Bünden für jenes Unrecht rächen, V. 23-26 74 ) Die Bedeutung ‘achten auf, aufpassen’, die spiêr an dieser Stelle hat, ist auch im Galloromanischen belegt (FEW 17: 173 ‘regarder, examiner, faire attention’). Besser belegt ist im Altengadinischen eine andere Nutzung des Lexems, nämlich ‘erfinden, ersinnen, ausdenken’, wie sie im folgenden Zitat vorliegt: Sün lg davous ün oter cusailg fü spiô (zuletzt wurde ein anderer Plan ausgeheckt, V. 355). Pallioppi 1895 führt spier ‘ausdenken’ als veraltet an. Bifrun verwendet das Verb verschiedentlich in dieser Bedeutung (Vorwort des Ersamus p. 10,19, Apg. 17,19, 2. Petr. 2,3). In gleicher Bedeutung ist im heutigen Engadinischen, aber auch schon in alter Sprache, die präfigierte Form inspiar geläufig (DRG 9: 370) 75 . 73 So etwa bei L. Wietzel (Psalm 10 Strophe 9 und in der Genesisübersetzung von J. P. Salutz p. 133). 74 Die Übersetzung folgt für V. 23-24 DRG 7: 986 s. guerragiar, für V. 25-26 DRG 11: 111s. inguria. 75 Cf. dazu und zu spiar ‘fragen’ im Altsurselvischen und im Altitalienischen Liver 2012a: 238. 149 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 - sügner ‘sich kümmern um’ Während die Verwendung von sögnar heute auf ‘pflegen, kultivieren’ eingeengt ist (Peer: cuschina sögnada, -eda ‘gepflegte Küche’), hat das Verb im Altengadinischen die weitere Bedeutung ‘sich kümmern um, beachten’ 76 . Ls Sudos in Milaun nun voussen quella vouta sügner La terza peia vous’n els avaunt tuchiêr (die Soldaten in Mailand wollten da nichts davon wissen 77 . Sie wollten zuvor erst einmal den dritten Sold in der Hand haben, V. 181-82) Huossa l’g mael fer, nun vain sugnô, Neir alg bain fer remunarô («jetzt achtet man nicht auf die böse Tat, aber auch die gute Tat wird nicht belohnt» 78 , V. 637-38) Travers verwendet auch die Form asügner mit dem im Altengadinischen verbreiteten prothetischen a (cf. Liver 2016b): Da chürer lur Chiastels et terras nun asügnen (sie sorgten nicht dafür, ihre Burgen und Ländereien zu bewachen 79 , V. 29) Nach HWR ist das Verb sögnar vom Substantiv sögn ‘Sorge, Sorgfalt’ abgeleitet, das die Wörterbücher als «archaisch» bezeichnen 80 . - tschinter ‘umringen, einkreisen’ Pü barchias lo pareten per mauns, Plainas da mêl chiatalauns, A quelas la Pelafiga tschintaun (da erschienen noch mehr Schiffe, voll von üblen Kerlen; die umringten die Pelafiga [das Schiff, auf dem die Bündner Gesandten reisten], V. 331-33) Peer glossiert tschintar mit ‘gürten, umgürten’. Eine weitere Bedeutung als ‘(um) gürten’, nicht ganz übereinstimmend mit derjenigen im obigen Zitat, hat auch it. cintare: ‘umgeben, einzäunen, einfrieden’. Sie ist auch für einige Dialekte des Sopraceneri (Leventina, Blenio, Roveredo) bezeugt (LSI 1: 816 s. cintá). 76 Sowohl Pallioppi als auch Velleman bezeichnen das Verb überhaupt als veraltet. Pallioppi 1895: ‘pflegen, ehren, besorgen, versorgen, sich (um jemd.) kümmern’, Velleman 1929: ‘besorgen, pflegen’. 77 Nämlich auf Geheiss der Drei Bünde in die Heimat zurückzukehren. Flugi übersetzt frei: «wollten … nicht gehorchen» (Flugi 1865: 45). 78 Übersetzung nach DRG 12: 289 s. malfar. Flugi 1865: 53 «jetzt wird die schlechte That nicht gesühnt». Ebenso Ulrich 1883 im Glossar p. 247: sugnêr ‘sühnen’ wofür jegliche Parallelen fehlen. Ms. B hat sügnio, was zweifellos die richtige Lesart ist. 79 DRG 3: 659 s. chürar: «ihre Schlösser und ihr Gebiet zu bewachen, daran dachten sie nicht» (= Flugi 1865: 42). 80 Bezeugt bei Bifrun und Chiampel (HWR s. sögn). Cf. auch FEW 17: 272s. s. *sunni ‘sorge, gram’. Neben m. soing im Afr. auch f. songne, dazu Parallelen in mittelalterlichen oberitalienischen Texten (p. 279 und N29 p. 282). Die etymologische Erklärung ist unsicher. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 150 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 4.1.3. Grössere geographische Verbreitung in älterer Zeit Einige Worttypen, die bei Travers belegt sind, finden sich heute nur noch in anderen Regionen des Bündnerromanischen, meistens in der Surselva, zum Teil auch in Mittelbünden. - as-cher ‘wagen’ Der Typus as-char ‘dürfen, wagen’ war im 16./ 17. Jahrhundert im ganzen Gebiet des Bündnerromanischen verbreitet. Heute ist im Unterengadin das-chair, im Oberengadin sus-chair an dessen Stelle getreten, in Teilen Mittelbündens dastgeir u.ä. oder Formen mit l-Anlaut. Der ursprüngliche Typus herrscht heute noch in der Surselva und Teilen der Sutselva (cf. DRG 5: 95s.). In der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts ist er jedoch bei Schriftstellern aller Gebiete bezeugt (cf. DRG loc.cit.), so auch bei Travers: Uschiglöe nun havess aschiô l’g Castellan Cun taunt ardimaint piglier â maun (sonst hätte der Kastellan nicht gewagt, [die Sache] mit so grosser Kühnheit an die Hand zu nehmen, V. 527-28). - furtüna ‘Eile’ DRG 6: 791s. s. furtüna stellt die semantisch breit aufgefächerte Nachfolge von lat. fortuna im Bündnerromanischen dar. Eine der vielen Bedeutungen, die heute vor allem in der Surselva und in Mittelbünden weiterlebt, ist ‘Hast, Eile’. Auch sie ist im Altengadinischen bezeugt, kommt im Engadin in moderner Sprache jedoch höchstens noch in Sprichwörtern vor (p. 797). Die Wendung cun furtüna ‘hastig, eilig, schnell’ ist bei Bifrun und Wietzel belegt (p. 796). So auch in der Chanzun da Müsch: Aʼ Chiastasegnia in glieud d’la Bregalia füt inbatieu Et preist cun furtünna p(er) praschun tgnieu (in Castasegna traf er [scil. Mastrel Silveister] auf Leute aus dem Bergell und wurde alsbald eilig gefangen genommen, V. 109-10). - scuvida ‘Neid’ Turneten tuotts à chiesa lûr, Cun scuvida da bgêrs e dischfavûr (alle kehrten nach Hause zurück, unter Neid und Missgunst vieler, V. 671-72) Die Ableitung von scuir ‘missgönnen, neiden’ ist heute in E nicht mehr vital, in der Form scuida jedoch in der Surselva, nach LRC s.v. als scueida auch im Surmeir. In ganz Romanisch Bünden findet sich dagegen die Ableitung auf -antia scuidanza in gleicher Bedeutung. 151 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 - vangiauntamaing ‘angemessen, gebührend’ Peer 1962 führt das Adjektiv vangiaunt ‘verdienstvoll’ für das Oberengadin an. Bei Pallioppi fehlt es, und sowohl Velleman 1929 als auch das HWR s. vengonz bezeichnen es als archaisch. Dagegen ist vengonz ‘würdig, wert’ im Surselvischen, vangiànt in gleicher Bedeutung im Sutselvischen nach wie vor geläufig, nach HWR auch surmiran vengont. Im folgenden Beispiel aus der Chanzun da Müsch ist die Bedeutung des Adverbs vangiauntamaing neutral (‘gebührend, angemessen’), während die heutigen Vertreter des Lexems eine positive Eigenschaft (‘wert, würdig’) bezeichnen. Cun drett füt bain fal achiatto, Ma üngiün vangiauntamaing chiastio («das wurde durch das Gericht zwar mit Recht als Vergehen bezeichnet, aber niemand wurde gebührend bestraft» 81 , V. 339-40). 4.1.4. Redewendungen Ein grosser Teil der folgenden Formulierungen, die sich auf Grund ihrer sprachlichen Struktur als Redewendungen einstufen lassen, sind nur gerade hier belegt. Daher ist es schwierig einzuschätzen, ob es sich um okkasionelle Ausdrücke handelt oder ob die Wendungen in der Sprache der Zeit geläufig waren. - tschercher salüd a la chamma 82 ‘sein Heil in der Flucht suchen’ Nun eira üngün chi ls dês agüdt, Zscherchiaiven â la chiamma tuots salüdt (niemand war da, der ihnen geholfen hätte. Alle suchten ihr Heil in der Flucht, V. 557-58) DRG 3: 229 s. chamma zitiert die Stelle als einziges Beispiel. Die Formulierung kombiniert die deutsche Redewendung sein Heil in der Flucht suchen, die dem lateinischen fuga salutem petere nachgebildet ist, mit dem einheimischen fer chammas ‘sich beeilen, fliehen’ (DRG loc.cit., Bezzola/ Tönjachen s. fliehen), das seinerseits an italienisch darla a gambe ‘fuggire’ erinnert. - der chavagl ‘sich bemühen’ Usche craj ad havair complieu, Que ch’impromis, eau hae hagieu, In quinter las chiosas passedas, Da duos anns inno cumazedas (sic! ) Cun pitschna destrezza do chiavalg, Haves h’gieu bsöeng d’meilder cusailg (so glaube ich erfüllt zu haben, was ich versprochen hatte, [nämlich] die Ereignisse der Vergangenheit zu erzählen, die vor zwei Jahren begonnen 81 Übersetzung nach DRG 6: 43 s. fal. 82 Wo wir eine Grundform konstruieren, verwenden wir die heutige Schreibung des Puter. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 152 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 hatten. Mit geringem Geschick habe ich 83 mir Mühe gegeben; ich hätte jedoch bessere Einsicht nötig gehabt, V. 693-98). Die Ausführlichkeit des Zitates ist notwendig, um den syntaktischen Zusammenhang deutlich zu machen, in dem der Ausdruck do chiavalg steht. Liver 1997 begründet ausführlich die Interpretation der Stelle, wie sie in der obigen Übersetzung zum Ausdruck kommt. Meine Argumentation richtet sich gegen die Übersetzung der Stelle in DRG 3: 117 s. cavegl: «was ich mit geringer Geschicklichkeit angefangen habe» und gegen die von den Wörterbüchern bis heute 84 vertretene Etymologie capitulum ‘Anfang’. Ich ziehe dagegen eine Anknüpfung an die Sippe von *cavicula, -iculu (für clavicula ‘Pflock’; cf. it. incaviliare, surs. encavigliar) in Erwägung. - masder ils guaffens ‘die Waffen kreuzen’ L’s lur guaffens cumazaune â masdêr Et lur guargiamaintas fick â tuner («ihre Waffen begannen sie zu kreuzen, und ihre Rüstungen tönten gewaltig» 85 , V. 225-26) Ob es sich bei dieser Wendung um eine geläufige Redensart oder um eine okkasionelle Formulierung von Travers handelt, ist nicht zu entscheiden. Sowohl in DRG 7: 901 s. guaffen 86 als auch in DRG 13: 485 s. masdar ist die Stelle jeweils das einzige Beispiel. Dt. die Waffen kreuzen weicht durch das Verb von der hier vorliegenden Wendung ab. Im lateinisch-romanischen Bereich gibt es verschiedene Fortsetzer des Stammes misc-, die dem semantischen Bereich ‘Kampf’ angehören, so lat. miscere certamina, proelia, manus (Georges «von Kämpfenden»), mlat. misceri, se miscere und (se) misculare ‘sich einmischen’ (Niermeyer 1976), wovon fr. se mêler (de) gleicher Bedeutung und die Ableitung mêlée ‘Handgemenge, Schlägerei’ (cf. it. mischia). Eng. masdar beruht wie surs. mischedar auf spät (7.-10. Jahrhundert, FEW 6/ 2: 185) belegtem miscitare 87 . - nun laschier na cuschina ‘nichts überlassen’ (? ) Auch in diesem Fall ist es keineswegs sicher, dass es sich wirklich um eine Redensart handelt. Dies wird zwar von DRG 3: 599 s. cuschina suggeriert, wo V. 36 unter «2. Übertragene Bedeutung» mit der folgenden Übersetzung zitiert wird: Et als Grischuns nun laschier na cuschina («und den Bündnern nichts überlassen»). 83 Im Text der Ausgabe von Schorta/ Gantenbein fehlt in diesem Vers das konjugierte Verb. Ms. B hat jedoch hae do, Ms. E he do. 84 Nach HWR auch Decurtins 2001 und LRC. 85 Übersetzung nach DRG 7: 951 s. guargiamainta. Zur Syntax cf. oben p. 138. 86 Eine Übersetzung «ihre Waffen begannen sie zu kreuzen und ihr Kriegsgerät laut ertönen zu lassen» wäre fragwürdig, da tuner als transitives Verb nicht bezeugt ist. 87 Fortsetzer auch im Dolomitenladinischen. Cf. Tagliavini 1934: 210. 153 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Betrachtet man den Vers in einem grösseren Zusammenhang, erscheint die Einstufung der Wendung als Redensart nicht zwingend: Alhura lʼ Düchia da Milaun â las Lias p(er) arender Lg chiaste da Clavenna adatet da prender Cun las Plaifs, et la Val d Vutlina Et als Grischuns nun laschier na cuschina (da schickte sich der Herzog von Mailand an, um es den Drei Bünden heimzuzahlen, das Schloss Chiavenna zu erobern, mitsamt den Tre Pievi 88 und dem Veltlin, und den Bündnern nicht einmal eine Küche übrig zu lassen, V. 33-36). Die Interpretation des DRG «nicht einmal eine Küche = gar nichts» ist zwar naheliegend, aber es fehlen Parallelen für den Begriff «Küche» im Rahmen der Negationsverstärkungen mit Lexemen, die etwas Kleines oder Wertloses ausdrücken (mica, gutta, passus etc.). - per ova e per tera ‘überall’ In DRG 1 s. aua (511s.) erscheint die Wendung nicht; sie dürfte inhaltlich seit Bifrun belegtem per mar e per terra entsprechen, was DRG 13: 141 s. mar I mit «zu Wasser und zu Lande» übersetzt. Die Formulierung bei Travers kombiniert diese auch im Italienischen geläufige Redensart (per mare e per terra ‘dappertutto’) mit dt. zu Wasser und zu Lande. Sun que l’g Castellaun p(er) ova e p(er) terra, Agüdt tscherchia … (darauf sucht der Kastellan überall Hilfe, V. 531-32). - trer a maun ‘auf etwas bedacht sein’ Da chiürer lur Chiastels et terras nun asügnen Perchie alg lur üttel traivne â maun (ihre Burgen und ihr Gebiet zu bewachen, daran dachten sie nicht, denn sie waren nur auf den eigenen Vorteil bedacht, V. 29-30) DRG 12: 542 s. man I zitiert die Stelle unter den zahlreichen Fügungen aus Verb + Präposition + man als «aoengad. trar 89 a maun qchs. ‘auf etwas bedacht sein’» als einziges Beispiel. 4.1.5. Einfluss der Nachbarsprachen 4.1.5.1. Deutsch Dass das Bündnerromanische seit dem Mittelalter und bis heute durch den intensiven Kontakt mit dem Deutschen massiv beeinflusst wurde und wird, ist sattsam bekannt und oft beschrieben worden 90 . Einige der folgenden Beispiele illustrieren die auch 88 Den drei Gemeinden Dongo, Gravedona und Sorico am oberen Comersee. 89 Richtig: trer. 90 Z.B. Decurtins 1993: 172-92, Liver 2010: 78s., beide mit weiterer Literatur. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 154 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 oben in anderem Zusammenhang zur Sprache gekommene Beobachtung, dass manche Lexeme in alter Zeit eine grössere geografische Verbreitung aufweisen als heute. - abscheid ‘Bescheid’ Cun que abscheid ls Ambaschiaduors turnaun (mit diesem Bescheid kehrten die Gesandten zurück, V. 313) DRG 1: 65 s. abscheid ‘Beschluss, schriftlich fixierte Entscheidung einer Behörde’ zitiert unsere Stelle als einziges Beispiel für die Bedeutung ‘Bescheid’. Diese ist auch im älteren Deutsch der Schweiz gut belegt (cf. SchwId. 8: 199s., besonders p. 200). Da die offizielle Sprache der Drei Bünde das Deutsche war, konnte Travers das Verständnis dieses Begriffs der Kanzleisprache bei seinen Lesern voraussetzen. - jenner ‘Januar’ Aque dvante in Jen(n)er lgʼ di otaeval, L’ann Milli tschingtschent vaing ed tschingaeval (das geschah am 8. Januar im Jahre 1525, V. 55-56) Jenner ist der gleichlautenden Form im Schweizerdeutschen und Tirolischen entlehnt (HWR s. schaner). Nach der Karte «gennaro» im AIS (2: 319) ist die Form in Ramosch (Pt. 9) und Sta. Maria im Münstertal (Pt. 29) bezeugt. Die RC belegt jen(n)er 91 sowohl für S wie für E. - lantrichter ‘Landrichter, Vorsteher des Oberen Bundes’ L’g lantrichter d’la Part 92 , p(er) havair pü prôs 93 , La via incunter chiesa prandêt («der Landrichter des Oberen Bundes trat, um mehr Ruhe zu haben, den Heimweg an» 94 , V. 422-23) Der durch die politischen Verhältnisse bedingte Germanismus ist vor allem in S und C gut belegt. Unsere Stelle ist das einzige Beispiel für E, was DRG 10: 424 s. landrehter kommentiert wird: «Die Eigenschaft des Amtsnamens als offizielle dt. Titulatur erlaubte G. Travers dessen Verwendung im Epos vom Müsserkrieg» 95 . Der Terminus reiht sich in die zahlreichen Entlehnungen deutscher Komposita mit erstem Element Landein (von landamma ‘Landammann’ bis langeger ‘Landjäger, Polizist’, DRG 10: 409-29). 91 Die Ergänzung des zweiten n durch Schorta/ Gantenbein in V. 55 ist überflüssig. 92 Part für la Part sura ‘der Obere/ Grau Bund’. 93 Prôs ist sicher Verschreibung für pos ‘Ruhe’; in Ms. B pôos. 94 Übersetzung nach DRG 10: 423 s. landrehter, wo nach RC 5: 11 zitiert wird (mit der Lesart pôs). 95 In dieser Bedeutung ist der Titel bis ins Misox bezeugt. Cf. landricter ‘capo governatore della Lega Grigia’ LSI 3: 93. 155 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 - murdaik ‘Streitaxt’ Quo nun vallet launtschia ne murdak («da half weder Lanze noch Streitaxt» 96 , V. 560) Nach SchwId. 1: 620 bezeichnete Mordax die Streitaxt der alten Eidgenossen. In der RC ist der Germanismus nebst unserer Stelle in der Schreibung Mordagk im Vorwort von J. P. Salutz zu seiner Genesisübersetzung (RC 6: 367,11) belegt 97 . - rüter ‘Reiter’ Gniand aquels rüters usche affidôs, Fün da glieud d’las Lias schvalischôs (als diese Reiter so vertrauensvoll 98 daherkamen, wurden sie von Leuten aus den Bünden ausgeraubt, V. 329-30) Rüter ist nach SchwId. 6: 1696 eine ältere Form für riter 99 . Der Germanismus ist einzig an unserer Stelle belegt. - trost ‘Trost’ A’las Lias daiv’el trost et granda Sprauntza, Schia vulaiven ballêr zieva sia danza («die Bünde vertröstete er und machte ihnen grosse Hoffnungen für den Fall, dass sie nach seiner Pfeife tanzen wollten» 100 , V. 165-66) Der Germanismus trost ist im Altsurselvischen gut belegt, dort vorwiegend als Femininum (nach LRC in Anlehnung an consolaziun), ebenso die Ableitung trostegiader ‘Tröster’ sowie das noch heute gebräuchliche Verb trostegiar ‘trösten’ (Decurtins 2001, LRC). - grammamaing ‘mit Gewalt’ Völlig vereinzelt ist die Verwendung des Adjektivs gram, hier in adverbieller Form, im folgenden Bespiel: Ls sudôs d’Müs alhura s’preschiantettan L’g pover Sylveister cun l’g Chiaste piglietan In la fortezza füt el grammamaing condüt (da tauchten die Soldaten von Musso auf. Sie bemächtigten sich des armen Silvester und des Schlosses. Er wurde mit Gewalt in die Festung gebracht, V. 51-53). 96 Übersetzung nach DRG 10: 443 s. lantscha. 97 Pallioppi 1895 und Velleman 1929 bezeichnen mordac als veraltet. Die Glossierung mit ‘Morgenstern’ ist sachlich unzutreffend. 98 Sie sind vertrauensvoll, weil sie sich auf das versprochene freie Geleit (V. 327) verlassen. Cf. unten p. 161. 99 Nach Spalte 1700 kommt rüter etymologisch von afr. routier und wurde dann lautlich an dt. riter angeglichen. 100 Übersetzung nach DRG 2: 101 s. ballar I. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 156 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Das Adjektiv gram (von germ. gram ‘zornig, unmutig, betrübt’) ist in der Bedeutung ‘grämlich, traurig, unglücklich’ (als Interjektion ‘wehe! ’) bei Bifrun, Chiampel und im Drama des 16. Jahrhunderts belegt. DRG 7: 682 s. gram II vertritt die Auffassung, das Adjektiv sei an it. gramo anzuknüpfen, die adverbiale Ableitung bei Travers dagegen an dt. gram ‘wütend, grollend, grob’ (SchwId. 2: 731). Ob die affinen Bedeutungsnüancen auf diese Weise voneinander getrennt werden können, scheint mir fraglich 101 . Während die genannten Germanismen zum grössten Teil aus dem heutigen Puter verschwunden sind (auch weil einige der bezeichneten Inhalte nicht mehr aktuell sind), haben sich die Fügungen aus Verb und Adverb, die zwar nicht ausschliesslich, aber doch zu einem beträchtlichen Teil deutschen Ursprungs sind 102 , im Sprachgebrauch fest etabliert. Nach Ausweis der Wörterbücher leben die folgenden Wendungen, die in der Chianzun da Müsch begegnen, immer noch fort: as piglier avaunt ‘sich vornehmen’ (V. 5 und 137), fer adacher ‘zuliebe tun’ (V. 170), clamer sura ‘aufrufen, anrufen’ (V. 293), river avaunt ‘zuvorkommen’ (V. 458), trer giu ‘abziehen (von einem Heer)’. Ein Anklang an verwandte deutsche Redewendungen liegt wohl auch in der folgenden Formulierung vor: A’las Lias daiv’el trost et granda Spraunza, Schia vulaiven ballêr zieva sia danza 103 (den Bünden spendete er Trost und und machte ihnen grosse Hoffnung, wenn sie nach seiner Weise tanzen wollten 104 , V. 165-66) Die Redensart, die ihre Wurzeln in der Antike hat, ist seit dem Mittelalter in mehreren romanischen und germanischen Sprachen in verschiedenen Varianten bezeugt, wobei die Beispiele aus dem germanischen Raum überwiegen. Dort ist vor allem nach jemandes Pfeife/ Geige tanzen geläufig 105 . 4.1.5.2. Italienisch Viel zahlreicher als die Entlehnungen aus dem Deutschen sind in der Chianzun da Müs die Italianismen. Dass viele davon aus dem Bereich des Militärs und der Kriegsführung stammen, erstaunt angesichts des Gegenstands der Dichtung nicht. - larma ‘Alarm’ Gniand suno Larma incunter Clavenna (als Alarm gegen Chiavenna geblasen wurde, V. 127) Im kurzen Artikel alarm DRG 1: 161 fehlt diese Stelle. Er enthält aber weitere Beispiele für diese altengadinische Form. Die dort geäusserte Vermutung, larma vereini- 101 Auch die semantische Bandbreite der Reflexe von gram in der italienischen Schweiz (LSI 2: 757s. s. gram 2 ) spricht dagegen. 102 Cf. Liver 2010: 180 mit Literatur. 103 Ms. B: daunza. 104 Cf. oben p. 155. DRG 5: 61 s. danza, wo diese Stelle das einzige Beispiel ist, übersetzt: «wenn sie nach seiner Geige (wörtl. Tanzweise) tanzen wollten». 105 Cf. TPMA 11: 268s. s. tanzen. 157 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 ge «rom. alarm mit dt. Lärm» wird auch von HWR s. alarm geteilt. Überzeugender ist die Interpretation von LRC s. larma II, wonach es sich um eine (heute veraltete) Lexikalisierung von it. all’arme handelt. - ludschamaint ‘Truppenunterkunft, Quartier’ Alhura ls Grischuns leidamaing turnaun Als ludschamaints («dann kehrten die Bündner froh in ihre Quartiere zurück» 106 , V. 241-42) Auch das Verb aludscher ‘beherbergen, einquartieren’ ist in der Chianzun bezeugt: Siand alchünas banderas aludschedas â plûr (da einige «Fähnlein» [kleine Heereseinheiten] in Plurs einquartiert waren, V. 117) Es besteht kein Zweifel, dass aludscher und ludschamaint in Zusammenhang stehen mit it. loggiare, allogiare (Battaglia 9: 192 und 1: 332). Die Angaben zur Herkunft dieser Formen in den einschlägigen Artikeln des DRG sind jedoch nicht gerade hilfreich. Im Artikel allogiar, surselv. loschar ‘beherbergen, wohnen …’ (DRG 1: 186) wird auf allogi verwiesen, das als junge Entlehnung von it. allogio bezeichnet wird (1: 185). Im Band 11 (442s.) findet sich dann ein Artikel loschar surselv. v. tr. ‘beherbergen …’, v. intr. ‘sich einquartieren …’. Dass unter den Beispielen zahlreiche altengadinische Varianten von ludscher, aludscher figurieren, kommt im Kopf des Artikels nicht zum Ausdruck und wird auch im sprachhistorischen Teil nicht thematisiert. Dort erscheinen dann it. allogiare, fr. loger und dt. logieren unkommentiert als Quellen der Entlehnung (11: 444). Dass all diese Formen der Nachbarsprachen in verschiedenen Regionen und zu verschiedenen Zeiten eine Rolle gespielt haben können, ist durchaus möglich. Für das Altengadinische dürfte die italienische Hypothese im Vordergrund stehen 107 . - ordinanza ‘Streitmacht’ In mez l’g plaun era la grand ordinanza 108 (mitten in der Ebene war die Hauptstreitmacht, V. 223) Ulrich 1883: 237 glossiert: ‘ordnung, hauptmacht’. Entlehnt aus it. ordinanza ‘schiera posta in ordine di battaglia’ (Zingarelli). - presidi ‘Garnison, Truppenunterkunft’ Süsura l’g pöevel dals presidis ʼsalvêt, Et scodün â chiesa sia turnêt (daraufhin wurden di Leute aus den Garnisonen abgezogen und ein jeder kehrte zu sich nach Hause zurück, V. 279-80) 106 Übersetzung nach DRG 11: 441. 107 Ob aludscher an it. alloggiare anzuknüpfen ist oder ob es loggiare mit prothetischem adarstellt, ist kaum zu entscheiden. Zur Problematik des prothetischen a- und der Rolle des Präfixes ad cf. Liver 2016b. 108 Reimt mit spraunza. Die Ms. BCDF haben ordinaunza. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 158 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Schon lat. praesidium hat die Bedeutung ‘jeder Ort, den man mit Soldaten besetzt’. Eine Entlehnung von it. presidio ‘guarnigione’ ist hier jedoch wahrscheinlicher. - salv condüt ‘freies Geleite, Geleitbrief’ cun salf condüt cu’ls Jnimis favlaun (mit einem Geleitbrief ausgestattet verhandelten sie mit dem Feind, V. 119) Nach it. salvocondotto, der älteren Form von heutigem salvacondotto, die fr. saufconduit entspricht 109 . Das Engadinische hat salvcondüt bewahrt, während das Surselvische salvaconduct hat. - schiaramütschia ‘Scharmützel’ Auch diese Entlehnung aus dem Italienischen (it. scaramuccia) wird von den modernen Wörterbüchern noch verzeichnet, als scaramutscha bei Pallioppi und Velleman 110 , in der Lautung s-chalamütscha bei Bezzola/ Tönjachen und Peer. … quater cumpagnu(n)s manchaun. Plü dan in tel schiaramütschia 111 nun haune arfschieu (vier Kameraden fehlten. Grössere Verluste erlitten sie nicht in diesem Scharmützel, V. 242-43) - treg(u)a ‘Waffenstillstand’ Der Italianismus trega, tregua 112 ist in der Chianzun gut bezeugt. Alle 10 Belege für dieses Wort in der RC stammen aus unserem Text 113 . In den Ms. C und D finden sich weitere Varianten, die teils auch im älteren Italienischen belegt sind. Pall. hat trega, Velleman verweist unter trega auf armistizi. Bezzola/ Tönjachen s. Waffenstillstand führen treva, tregua an zweiter Stelle nach armistizi an. Bei Peer fehlt das Wort. Alhura cun l’g Cunt Girard fü trega fat (da wurde mit Herzog G. ein Waffenstillstand geschlossen, V. 275) - manager ‘beordern, befehligen’ Las Lias da quella inpromissa ʼs fidaun, Et lur cumpagnuns â chiesa managiaun («die [Drei] Bünde trauten dieser Zusicherung und erteilten ihrer Mannschaft den Befehl heimzukehren» 114 , V. 175-76) 109 Cf. DEI s. salvacondotto. 110 Auch S (Decurtins 2001, LRC). 111 Ms. C hat scharamutscha, Ms. D sckiaramütsch. 112 Von anfr. *treuwa ‘Vertrag’. Cf. FEW 17: 361. 113 Trega V. 275, 281, 303, tregua V. 320, 322, 361,415, 609, 649, 663. 114 Übersetzung nach DRG 12: 780 s. manisar. 159 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Die Stelle ist im Artikel manisar DRG 12: 778-84 das einzige Beispiel für die spezifisch militärsprachliche Verwendung des Verbs mit weitem semantischem Spektrum (‘handhaben, bewegen, tätigen …’) in der Bedeutung ‘jdn. irgendwohin beordern’ (unter I.5.b p. 780). Im sprachhistorischen Abschnitt (p. 783s.), der das Verb allgemein als Italianismus ausweist, wird auch dieser sondersprachliche Gebrauch an das Italienische angeknüpft 115 . Neben diesen Ausdrücken aus dem Bereich von Krieg und Militär, die mit hoher Wahrscheinlichkeit italienischen Ursprungs sind, enthält die Chianzun zahlreiche weitere Italianismen, die nur der alten Sprache angehören. Im Folgenden werden Nomina, Verben (oder Perfektpartizipien) und feste Fügungen in dieser Reihenfolge besprochen. - chiatalaun ‘übler Geselle’ Pü barchias lo pareten per mauns, plainas da mêl chiatalauns («dort erschienen noch mehr Schiffe voll von üblen Kerlen» 116 , V. 431-32) Die wenig schmeichelhafte Verwendung des Namens der Katalanen als Schimpfwort war nach FEW 2: 488 auch in Südfrankreich, im Piemont und in Albanien gebräuchlich. Aus dem Norditalienischen ist sie nach DRG 3: 463 ins Engadinische gelangt. Dort ist sie ausser an unserer Stelle noch im Drama von den drei Jünglingen im Feuerofen belegt: «Wuo nauschs, chiativs chiatalauns» (DRG loc. cit., nach RC 5: 387). - cuntredi ‘Widerwärtigkeit, Unglück’ La seguonda (scil. bandera) pigliêt vers Vutlina sieu viedi, Atschô ch’luaint nun dvantês quel cuntredi (das zweite «Fähnlein» [Heereseinheit] machte sich in Richtung Veltlin auf den Weg, damit dort nicht irgendein Unglück geschehe, V. 105-06) Das Adjektiv cuntredi, cuntredgia ‘entgegengesetzt, widerwärtig’, auf dem das Substantiv beruht, ist bei Bifrun, Lüci Papa und in den Rechtsquellen bezeugt (DRG 4: 487), ebenso in der Chianzun: Sch’la soart vain ad ün contredgia, Cun quaunt bain, ch’aquel fat hegia, L’g pöevel cumainzʼ a’s ruversêr, Et sias ouvras â condamnêr (wenn das Glück einen verlässt, wieviel Gutes dieser auch getan haben mag, dann beginnt das Volk sich von ihm abzuwenden und seine Taten zu verdammen, V. 633-36) 115 Cf. insbesondere Battaglia 9: 639, wo als 11. Bedeutung von maneggiare ‘comandare, … capeggiare …, capitanare’ angegeben wird. 116 Übersetzung nach DRG 3: 463 s. chatalaun. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 160 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Die folgende Stelle, wo contredi adverbial verwendet wird, ist das einzige Beispiel für diesen Gebrauch im Artikel cuntradi des DRG: A’lo as cumanzet âd ir contredi («dort begann es schief zu gehen» 117 , V. 392) Schorta (DRG 4: 488) nimmt aufgrund der Dissimilation von r - r zu r - d (wie in it. rado < raru) frühe Entlehnung aus dem Italienischen an. Contradio, ebenfalls Adjektiv und Nomen, ist auch im Altitalienischen bezeugt (cf. DEI s.v.). Neben cuntredi verwendet Travers auch contrari, das nach DRG 4: 493 auf eine spätere Entlehnung zurückgeht 118 . - deschdêng ‘Entrüstung’ Las Lias per que, cun deschdêng s’alvaun (deshalb erhoben sich die Bünde mit Entrüstung, V. 509) Ulrich 1883: 225 glossiert: «geringschätzung», was nicht passt. Heute herrscht sdegn vor 119 , wie auch im Italienischen, wo sdegno geläufiger ist als disdegno. Bifrun hat sowohl desthdeng als auch sthdeng (Gloss. Gartner ‘Unwille, Entrüstung, Hohn’). - paiüra ‘Angst’ Brick per schivir ls Jnimis per paiüra (nicht, um den Feinden aus Angst aus dem Weg zu gehen, V. 219) Den Italianismus, der hier in einer im Alpinlombardischen geläufigen Form erscheint, verwendet Travers nur gerade an dieser Stelle; anderwärts braucht er das einheimische temma (so V. 104). Cf. AIS 4: 725 «la paura», LSI 3: 685 s. pagüra 120 . - tramuntauns ‘Transalpine’ Et eira tuot lur fantasia, D’schiatschier tramuntauns our d’Lumbardia (und sie hatten die feste Absicht 121 , die Bündner [wörtlich: die von jenseits der Berge] aus der Lombardei zu verjagen, V. 679-80) Entlehnungen aus dem Italienischen sind auch im verbalen Bereich häufig. Das erste der folgenden Bespiele verdient einen besonderen Kommentar, weil es in DRG 6: 259 s. fidar ‘jmd. trauen, vertrauen’ an einer Stelle erscheint, wo es nicht hingehört. 117 Übersetzung nach DRG 4: 487 s. cuntradi. 118 «La lur furtüna fü contraria» (das Glück war gegen sie, V. 230); «Novellas contrarias» (böse Nachrichten, so Flugi 1865: 47, V. 265). 119 DRG 5: 288 disdegn → sdegn. 120 Dazu ausführlicher Liver 2012b: 117. 121 Flugi 1865: 53 übersetzt: «und es war all ihr Trachten». 161 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 - affido ‘vertrauensvoll’ (von affider) Gniand aquels rüters usche affidôs, Fün da glieud d’las Lias schvalischôs («als diese Reiter so sorglos daherkamen, wurden sie von Leuten aus den Bünden ausgeplündert» 122 , V. 329-30) Die Übersetzung von affidôs durch «sorglos» ist zwar nicht falsch, aber erstens gehört das Zitat nicht in den Absatz 5.b., wo Formen des Partizips Perfekt von fidar in der Bedeutung ‘treu, zuverlässig’ (nicht gleich ‘vertrauensvoll’) stehen, und zweitens legt der Kontext nahe, dass hier nicht von einem Verb fidar, sondern von affidar auszugehen ist 123 . Im Vers 327 heisst es: Ad els salv condüt â buochia füt dô (ihnen wurde mündlich freies Geleit zugesichert). Entsprechend ist affidôs als ‘vertrauensvoll’ zu verstehen, Partizip Perfekt des Verbs affider nach it. affidare ‘dar fiducia, rendere fiducioso, sicuro’ (Zingarelli) 124 . Diese Bedeutung von altengadinisch affider wäre im Artikel affidar DRG 1: 133 zu ergänzen. - sgiudair ‘entgelten’ Dalg quel l’Imperadur prandêt grand displaschair Et las Lias sainza dubbi ho fat sgiudair (das missfiel dem Kaiser sehr, und er liess es die Bünde zweifellos entgelten, V. 335-36) Pallioppi 1895 (gefolgt von Velleman 1929) erklärt die Bedeutung des Verbs, das er als veraltet bezeichnet, als ‘Missvergnügen empfinden’, im Einklang mit der Etymologie, die er ansetzt (exgaudere). Im zitierten Beispiel aus Susanna (V. 1638) bedeutet es aber eindeutig ‘entgelten’, wie auch an unserer Stelle und in zwei weiteren Verwendungen in der RC 5 125 . Es liegt nahe, it. sgodere als Vorbild für das engadinische Verb anzunehmen. Eine Bedeutung ‘entgelten’ ist im Italienischen allerdings nicht belegt. Drei Verben, in der Chianzun da Müsch als Perfektpartizipien verwendet, gehören alle einem bildhaft expressiven Sprachstil an, und allen ist die Bedeutung ‘wegnehmen, berauben’ gemeinsam: smungio, spulvrieu, svalischo. Aquêls fün dals buns Grischuns assaglieus, Smungiôs dalla roba, et p(er) terra starnieus (diese wurden von den tapferen Bündnern angegriffen, ihrer Habe beraubt und zu Boden geworfen, V. 155-56) 122 Übersetzung nach DRG 6: 259 s. fidar. 123 Gravierende Fehler im Artikel affidar DRG 1: 113 werden in DRG 6: 259 korrigiert, nicht jedoch die Zuordnung unserer Stelle zum Artikel fidar. Das Zitat hätte seinen Platz richtigerweise unter affidar, wo zwischen älterem ‘Sicherheit geben’ und jüngerem ‘anvertrauen’ zu unterscheiden wäre. 124 Nach Battaglia 1: 208 s. affidare ist diese Bedeutung des Verbs literarisch und veraltet. 125 RC 5: 125 Travers, Chianzun da Ioseph V. 263. RC 5: Trais Iuvans V. 36 (vallader). Mit ‘entgelten’ übersetzt auch Flugi 1865 an unserer Stelle, ebenso Ulrich 1983 in seinem Glossar. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 162 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Liver 2012b: 114s. befasst sich ausführlich mit dieser Stelle und dem problematischen Umgang der Wörterbücher mit dem Verb schmuonger. Aus heutiger Sicht erscheint mir die Hypothese, dass es sich um eine Entlehnung (mit Konjugationswechsel) von it. smungere ‘cavarne insistentemente’ (Zingarelli) handelt, am wahrscheinlichsten 126 . Auch das Partizip spulvrieu, das in V. 38 ‘beraubt, entblösst’ bedeutet, dürfte ein Italianismus sein. Spolverare, eigentlich ‘abstauben’, hat auch die übertragene Bedeutung ‘rubare, portar via’ (Zingarelli) 127 . L’g Chiaste da Claven(n)a eira mel furnieu, Et da sa famaglia zuond spulvrieu (das Schloss Chiavenna war schlecht versorgt und ganz von seiner Besatzung entblösst, V. 37-38) Auch hier hat ein Konjugationswechsel stattgefunden 128 . Das dritte Partizip mit der Bedeutung ‘beraubt’, svalischo, von it. svaligiare ‘ausrauben, ausplündern’, verwendet Travers mehrmals (V.80, 270, 330). Svalischar, -er ist auch im heutigen Engadinischen geläufig. Gniand aquels rüters usche affidôs, Fün da glieud d’las Lias schvalischôs (V. 329-30. Cf. oben p. 161 und Liver 2012b: 117). Im folgenden Fall ist das ursprüngliche Partizip Perfekt völlig zum Adjektiv geworden: deliberô ‘entschlossen’, wie in it. deliberato ‘deciso’ (Zingarelli s.v., Battaglia 4: 146). Da havair l’g chiastè fü l’deliberô, Schia l h’ves la robba et vitta custô (das Schloss zu erobern war er [scil. Rudolf de Marmels] entschlossen, und sollte es ihn Gut und Leben kosten, V. 589-90) 129 . Eine Anlehnung an das Italienische ist auch bei manchen verbalen Fügungen oder Redewendungen wahrscheinlich. - fer prouva ‘etwas erreichen, ausrichten’ Turnet tiers els cun ünna nova, Nun pudiand el fer üngünna prouva (er kam mit der Botschaft zu ihnen zurück, dass er nichts habe ausrichten können, V. 407-08) 126 Melken in der übertragenen Bedeutung von ‘etwas in unangemessener Weise herausholen, ausbeuten’ ist auch deutsch in famliärem Stil geläufig. 127 Cf. auch die Bedeutung ‘sich etwas auf unlautere Weise aneignen’ von dt. abstauben. 128 Im heutigen Engadinischen lautet das Verb in seiner konkreten Bedeutung spuolvrar, spulvrer. 129 Die Übersetzung in DRG 5: 147 s. deliberar I, wo nur V. 589 zitiert ist, durch «es wurde beschlossen», ist sicher verfehlt. Richtig dagegen diejenige des unmittelbar folgenden Zitats aus dem Drama Filg pertz, ebenfalls von Travers: sun eau dalibro «bin ich entschlossen». 163 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Stampa 1976: 191 übersetzt: «recando la notizia di non aver potuto concludere nulla». Die Wendung entspricht genau it. far prova ‘riuscir bene’ (Zingarelli). Für das alte Puter ist sie ausser an unserer Stelle in gleicher Bedeutung auch in der Guera da Vutlina von Giörin Wietzel belegt 130 . Im Surselvischen, ebenso in Mittelbünden, bedeutet far prova bis heute ‘gedeihen’, far buna prova ‘gut gelingen, vorankommen’ 131 . Dass diese Verwendung auch dem Engadinischen nicht fremd ist, beweist das für Tschlin bezeugte Sprichwort erva favrerola na fa buna prova, «Februargras gedeiht nicht gut» 132 . - maner â mel poart ‘ins Verderben stürzen’ Et cun granda fürgia in qell intraun, Cun armas guaffens d’inminchia soart, Per maner la poura glieud â mel poart (und sie drangen mit grosser Wut in dieses [scil. das Schiff] ein, mit Waffen und Kriegsgerät aller Art, um die armen Leute ins Verderben zu stürzen, V. 434-36) Die Stelle wird DRG 12: 614 s. manar ‘führen’ unter 16. Redewendungen als einziges Beispiel für aoengad. mner (a) qchn. a mel port ‘jdn. übel, schlimm zurichten, zugrunde richten’ (wörtl. jmd. zu einem schlechten Anlegeplatz führen) zitiert. Der Zusatz in Klammer legt nahe, dass die Herkunft der Wendung aus dem Italienischen, wo porto eine geläufige Metapher für ‘Ende’ ist, nicht erkannt wurde. Cf. condurre a porto ‘a compimento, salvezza’, essere a buon porto ‘essere molto innanzi’ (Zingarelli). - Eine Anlehnung ans Italienische liegt auch in der Wendung ster sün la mira ‘auf der Lauer liegen’ vor. Wie das Substantiv mira ‘Ziel’ ein Italianismus ist (cf. HWR s.v.), so auch die Redewendung. Battaglia 10: 506 s. mira verzeichnet unter 10. Locuz. stare alla mira und stare sulla mira ‘osservare attentamente, stare all’erta, tener d’occhio’. Dintaunt staiva l’Cunt Girard sün la mira D’la Vutlina piglaiv’el continua girra («währenddessen lag der Graf G. auf der Lauer; ihn hatte stete Gier nach dem Veltlin gepackt» 133 , V. 123-24 - Eine ganze Reihe von Fügungen oder Redewendungen, für die das Substantiv partieu (vall. parti) den Ausgangspunkt bildet, ist in der Chianzun da Müsch belegt. Im 130 RC 6: 250 V. 763. Die Stelle wird DRG 11: 509 unter den Ableitungen von Luin I ON. ‘Livigno’ zitiert: Els parchiüraiven … / Val Mur … / Fadschand uschi buna prouva, / Chia ls Luvignescks nun rumpes[s]an oura, «sie bewachten das V.M. und gaben so ihr Bestes, damit die Livigner nicht ausbrachen.» Die Übersetzung verkennt den redensartlichen Charakter der Wendung und deren Zusammenhang mit it. far prova. Richtiger wäre: «und es gelang ihnen, die Livigner am Ausbrechen zu hindern». 131 Cf. LRC s. prova, wo auch auf it. far prova ‘riuscir bene’ verwiesen wird. 132 DRG 6: 174 s. favrer ‘Februar’, Ableitungen. 133 Übersetzung nach DRG 14: 246 s. mera I ‘Ziel, … Visier’. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 164 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 heutigen Puter bedeutet partieu ‘(politsche) Partei’. In alter Sprache ist das semantische Spektrum weiter, dies grösstenteils (aber nicht ausschliesslich) in Übereinstimmung mit den Verwendungen von partito im Italienischen. Pallioppi 1895 verzeichnet neben den aktuellen Bedeutungen ‘Partei’ und ‘Partie, Heirat’ drei veraltete: ‘Entschluss’, ‘Verstand’ und ‘Lage’. Sowohl ‘Entschluss’ als auch ‘Lage’, die beide in der Chianzun da Müsch vorkommen, gehören zu den Verwendungen von it. partito. Zingarelli nennt unter anderem ‘alternativa di scelta’ (Wahl), ‘risoluzione, consiglio, determinazione’ (Entschluss), ‘termine, condizione, stato’ (Zustand, Lage), lauter Bedeutungen, die sich auch bei Travers finden 134 . - In der Chianzun da Müsch begegnet wiederholt die verbale Fügung piglier (seltener: prender) 135 partieu ‘einen Entschluss fassen’, wie it. prendere (un) partito. L’g chiapitauni d’Vutlina piglia subit partieu, Da recuparer aque chi eira pardieu (der Landeshauptmann des Veltlins fasste sogleich den Entschluss, das Verlorene zurückzuerobern, V. 87-88) Ebenso V. 553: Ls Grischuns pigletan bod partieu Da nun als spater, â dir â Dieu (die Bündner entschlossen sich gleich, ihren Abschiedsgruss nicht abzuwarten) und V. 602: [l’g Castellan …] Nun savaiva prender oter partieu, Co…, «Dann wusste der Castellan… keinen bessern Rath, als …» 136 . Die Bedeutung ‘Entschluss’ oder ‘Absicht’ hat partieu auch in der Fügung cun tel partieu V. 541: Cur el lsʼ v’zet gnand cun tel partieu (als er sie in dieser Absicht kommen sah). In V. 462 dagegen liegt in der analog konstruierten Wendung â tel partieu die ebenfalls in it. partito vorhandene Bedeutung ‘Lage, Situation’ von partieu vor: sainza radschun füsne â tel partieu (unschuldig seien sie in dieser Lage). 134 Die Bedeutung ‘Verstand’ ist in der Chianzun da Müsch nicht belegt, wohl aber in anderen Werken von Travers (Filg pertz, RC 5: 52, V. 347, 5: 97 V. 1979, Ioseph RC 5: 120 V. 91). Ähnlich auch bei Lüci Papa in der Verbindung poick partieu ‘Unbesonnenheit, Unbesonnener’. Cf. Liver 2016a: 65 N183 und Glossar. Belege für eine entsprechende Verwendung im Italienischen fehlen. 135 Prender ‘nehmen’ ist heute im Engadin vall. tour, put. piglier gewichen, war aber in alter Sprache geläufig. Cf. HWR s. pigliar. 136 Übersetzung nach Flugi 1865: 52. 165 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 In V. 575 steht in gleicher Bedeutung f. partidda: Ma ad el inscuntra tael partidda, Chia cun tuorp turner stôs … (aber ihm widerfuhr ein solches Los, dass er in Schande zurückkehren musste). Auch in der Wendung salder partieu/ partida verwendet Travers m. partieu und f. partida synonym. In it. saldare la partita/ le partite, einem Ausdruck aus der Sprache der Buchhaltung (‘eine Rechnung ausgleichen’, fig. ‘etwas ins Reine bringen, sich verständigen, wiedergutmachen’), ist einzig die feminine Form üblich. Prêst cun el fütt saldô partieu (bald kam man mit ihm überein, V. 255) Me nun s’pous salder partida (nie konnte man zu einer Übereinkunft kommen, V. 653) 4.1.6. Problematisches, Ungeklärtes In einem letzten Abschnitt werden ein paar Fälle besprochen, die nicht einer der bisher behandelten Sektionen zugeordnet werden können, da ihre Interpretation noch ungelöste Probleme aufwirft. Es geht zum Teil um problematische Etymologien, zum Teil um Übersetzungsvorschläge im DRG, die nicht überzeugen. In einigen Fällen stellt sich die Frage nach möglichen Sprachkontaktphänomenen. Lg Seguond di d Favrêr sün la damaun, … Fen la pru glieud dir messa et oratiun (am zweiten Februar am Morgen liessen die guten Leute Messe lesen und beten, V. 205-07) In einem anderen Text von Travers, dem Drama vom Filg pertz, erscheint pruglieud zusammengeschrieben 137 . Das LRC verzeichnet für das Surselvische eine alte Form pruaglieud ‘gute, wohlgesinnte, rechtschaffene, wackere Leute’. Etymologische Probleme gehören nicht zu den Inhalten dieser Untersuchung. Im Fall von pru glieud und dem Adjektiv prus scheint mir ein Abstecher in diese Disziplin jedoch angebracht. Travers verwendet auch das Adjektiv prus ‘rechtschaffen, tüchtig, gut’, das heute noch im Surselvischen geläufig ist: Per che innua güstia nun s’po chiatêr, Nun des üngün prus pudair afdêr (denn wo keine Gerechtigkeit vorhanden ist, soll kein guter Mensch leben können, V. 349-50) Die Wörterbücher des Bündnerromanischen, die sich zur Etymologie äussern (HWR, Decurtins 2001, LRC), sind sich darin einig, das Adjektiv prus auf lat. pro(r)sus ‘geradeaus gerichtet’ zurückzuführen. Das als veraltet markierte surs. pruaglieud ‘gute … wackere Leute’ knüpft A. Decurtins jedoch in beiden Wörterbüchern an lat. 137 RC 5: 85 V. 1491, 5: 99 V. 20534. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 166 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 prode (von prodest) an. Dort wird auch auf altengadinisch pruglieud hingewiesen. Die unterschiedliche etymologische Zuordnung von prus und pruglieud erstaunt und erfordert einen Kommentar. Die Basis pro(r)sus für prus wird schon im REW (Nr. 6785) vorgeschlagen. Auch Johannes Kramer (EWD 5: 400) nimmt sie für das gadertalische Adjektiv pros an, das eine dem surs. prus sehr ähnliche Bedeutung aufweist. Anderer Meinung ist das FEW. Im Artikel prode (9: 417-22) wird die obige Interpretation, die it. prode, piem. prou und rätorom. prus zwei verschiedenen Etyma zuordnen möchte, dezidiert abgelehnt (p. 420 mit N44). Damit rückt ein wenig beachteter, von Pallioppi 1895 s. prus zitierter Vorschlag von Jakob Ulrich in den Blickpunkt: Im «Abriss der altoberengadinischen Laut- und Formenlehre» im Anschluss an seine Susanna-Ausgabe schreibt Ulrich unter «Überreste des Zweikasussystems»: «ein alter Nominativ ist prus (prod + s), wo das s später zum Stamm gerechnet wurde, Fem. prusa» (Ulrich 1888: 114). Diese Sicht hat auch auf dem Hintergrund der Verhältnisse im Altfranzösischen viel für sich (CR prod, CS proz cf. FEW 9: 418). Ferner passt dazu, dass das surs. Adverb pruamein ‘fleissig, tüchtig’ und die Komposita eng. pruglieud, surs. pruaglieud von der (ursprünglichen) Form ohne s abgeleitet sind 138 . Anlass zur Diskusson geben auch einige Übersetzungen von Zitaten aus der Chianzun da Müsch im DRG. Gegen Ende des Gedichts fügt Travers eine längere Passage ein, in der er die Erzählung mit einer auktorialen Intervention unterbricht. Er beklagt sich darin über den Undank, den erfährt, wer sich für das Gemeinwohl einsetzt. Die Gefangenen des Schlossherrn von Musso, so Travers, mussten sich vorwerfen lassen, sie seien selbst an ihrer misslichen Lage schuld. Zudem sei im Bergell ein Schmähgedicht über sie verfasst worden: In que têmp sur la puntaglia, Aint in l’g Cummöen d’Bragaglia, Fat füt ʼna svargugnusa chanzun, Da quels pouvers chi eiran in praschun, Quel maister zuond fick ho fallô, Ch’argumaint d’Bregalia ho pigliô (zu jener Zeit wurde oberhalb von Puntaglia 139 , im Gericht Bergell, ein schändliches Lied gedichtet über jene Unglücklichen, die im Gefängnis waren. Jener Meister hat einen grossen Fehler gemacht, indem er diesen Stoff aus dem Bergell aufgriff, V. 623-28) Die Übersetzung des letzten Verses hat schon Alfons von Flugi Schwierigkeiten bereitet. Seine Übersetzung «der Meister hat sehr gefehlt, dass er vom Bergell seinen Grund nahm» hat er mit einem Fragezeichen versehen (Flugi 1865: 53). Eine ähnliche 138 Meine Bemerkungen zur Semantik von prus und einer etymologischen Basis prorsus in Liver 2012: 143 verlieren nach dieser Sicht ihre Berechtigung. Eine vertiefte Untersuchung des Problems bleibt einer späteren Arbeit vorbehalten (cf. unten, p. 172s.). 139 Stampa 1976: 187 N 14 erklärt: «Punteggia, frazione di Chiavenna.» 167 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 Interpretation dürfte DRG 12: 122 zugrunde liegen, wo die Stelle unter maister I zitiert wird: «der Verfasser hat sehr gefehlt dadurch, dass er (nur) die Bergeller Sicht darstellte». Diese Übersetzung ist sehr frei, wohl zu raffiniert, wenn man sich des doch sehr einfachen Stils von Travers in der Chianzun bewusst ist. Die Interpretation von argumaint als ‘Sichtweise’ ist gewagt und wird auch von den Beispielen für das Wort in der RC nicht gestützt 140 . Dagegen ist die Bedeutung ‘Inhalt, Gegenstand’ (eines Schriftstücks), wie schon in lat. argumentum, it. argomento, belegt (cf. DRG 1: 401 s. argumaint). Im selben Einschub über die Undankbarkeit des Volkes gibt eine weitere Übersetzung des DRG Anlass zu Zweifeln: Sch’la soart vain ad ün contredgia, Cun quaunt bain, ch’aquel fat hegia, L’g pöevel cumainz’ a s’ruversêr, Et sias ouvras â condamner (wenn das Glück einen verlässt, dann beginnt das Volk, wieviel Gutes dieser auch getan habe, sich von ihm abzuwenden und seine Taten zu verurteilen, V. 633-36). Im Artikel cuntradi (4: 487) wird übersetzt: «beginnt das Volk sich aufzulehnen», was weder inhaltlich noch von der (mutmasslichen) Semantik des anderwärts nicht belegten Verbs her einleuchtet. Im noch unveröffentlichten Material des DRG findet sich auf einem Zettel mit unserer Stelle der Übersetzungsvorschlag «anderer Meinung werden» 141 . Unterschiedliche Übersetzungen hat auch V. 520 erfahren, wo das Substantiv rampoargna Probleme aufgibt. Es geht um die folgende Situation: Die Drei Bünde reagieren auf die Provokationen des Schlossherrn von Musso damit, dass sie zwei Kanonen von Mesocco nach Chiavenna überführen lassen, was den Müsser in grosse Sorge versetzt: Zuond grand pisser, cha l’piglaiva, Fantasia, et rampoargna l’g cusümaiva (V. 519-20). 140 Es scheint, dass sich der Redaktor des Artikels maister I von der Interpetation inspirieren liess, die Friedlieb Rausch 1878 (ZRPh. 2: 114) vorgeschlagen hatte: «dass er die in Bergell herrschende üble, ungerechte Meinung als Stoff [für sein Lied] genommen hat», schon dies eine allzu subtile Überinterpretation, die nicht zum Stil von Travers passt. 141 Keine Belege für reverser in der RC, ausser dem Ausdruck alla roversa ‘verkehrt’ (RC 7: 332 vall., 10: 49 surm. als Äquivalent von it. alla riversa). Das Verb ist offensichtlich ein Reflex von lat. reversare ‘wieder umkehren, umdrehen’, das in oit. reversà (gegenüber it. riversare und rovesciare < *reversiare) weiterlebt (cf. LSI 4: 446 s. roversà, wo auch Beispiele für den Anlaut ruverzeichnet sind. Eine Bedeutung ‘sich abwenden’ ist in Battaglia s. riversare nicht verzeichnet, wohl aber «Figur. Mutarsi all’improvviso nel sentimento opposto» (16: 1054 Bedeutung 26). Ähnlich s. rovesciare (17: 167 als Bedeutung 15 ‘mutare, cambiare repentinamente e radicalmente’). Cf. auch engl. to reverse ‘umkehren’. Ulrich 1882 schlägt im Glossar als Übersetzung unserer Stelle «bewegen» vor. Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 168 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Flugi übersetzt: «sehr grosse Sorge kam ihm darüber, Einbildungen und Reue (? ) verzehrten ihn» (Flugi 1865: 51). Im Artikel consümar in DRG 4: 104 wird der Vers ganz anders übersetzt: «Ärger und Unglück rieben ihn auf», und noch einmal anders DRG 6: 88 s. fantaschia: «Kummer und Schmerz kamen über ihn». In den rätoromanischen Wörterbüchern findet sich ramporgna, als veraltet gekennzeichnet, nur bei Pallioppi 1895 (‘Vorwurf, Unglück’, mit Verweis auf Ulrich 1891: 215) und bei Velleman 1929 (‘Vorwurf, Verweis’). Die Glossierung mit ‘Vorwurf, Verweis’ legt es nahe, eine Verbindung von ramporgna mit afr. ramposna, rampoigne ‘reproche, raillerie, insulte’ und it. rampogna gleicher Bedeutung herzustellen (cf. FEW 9: 478s. s. prothyrum). Allerdings weckt die Beleglage, die sich aus dem noch nicht redigierten Material des DRG ergibt, in dieser Hinsicht einige Skepsis. Für die Bedeutung ‘Vorwurf’ gibt es keinen einzigen Beleg. Alle Beispiele, die aus den Dramen von Travers, aus den Psalmen von Vulpius, der Informatiun christiauna von P. S. Schuchiaun und ein paar weiteren Quellen stammen, weisen die von Pallioppi an zweiter Stelle angegebene Bedeutung ‘Unglück’ oder besser ‘Kummer, Sorge’ und ‘missliche Lage, Bedrängnis’ auf. In manchen Fällen steht ramporgna in einer (annähernd) synonymen Doppelung mit einem weiteren Substantiv, so (wie an unserer Stelle) im Drama vom Verlorenen Sohn: plain d’fantaschia et arampoargnia ‘voller Kummer und Schmerz’ (Travers, Filg pertz V. 888, RC 5: 67) oder bei Schuchiaun tumos in taunta misergia & rampoarngia’ ‘in solche Not und Bedrängnis gefallen’ (Schuchiaun, Inform.14). Angesichts dieser Quellenlage erscheint die Übersetzung unserer Stelle durch A. Schorta in DRG 6: 88 angemessen: «Kummer und Schmerz kamen über ihn» 142 . Allerdings ist es kaum zu entscheiden, ob im einzelnen Fall die Bedeutung ‘missliche Lage’ oder der Ausdruck des Gefühls, das eine solche auslöst, im Vordergrund steht, so dass auch der Vorschlag von A. Decurtins (DRG 34: 104) seine Berechtigung haben mag: «Ärger und Unglück rieben ihn auf» 143 . - Zum Schluss noch eine Redewendung, die im älteren Engadinischen gut bezeugt ist: per üna buochia ‘einstimmig, einhellig’. Tuots per na buochia s’acordettan (alle kamen einstimmig überein, V. 383) Nach DRG 2: 409 s. bocca ist dieser Gebrauch vor allem in den alten Rechtstexten geläufig (cf. auch Rq. 4: 49). Weder dt. aus einem Munde, das nur eine gleichzeitige, nicht jedoch eine inhaltlich übereinstimmende Äusserung bezeichnet, noch das semantisch entsprechende it. a una voce können als enge Entsprechungen gelten. 142 Ulrich 1883: 241 glossiert ebenfalls mit ‘Kummer, Schmerz’. 143 Ob die Herkunft von ramporgna, wie die lautliche Ähnlichkeit mit afr. ramposne, rampoigne suggeriert, wirklich dieselbe ist wie bei letzterem (cf. FEW 9: 478s.), oder ob vielleicht an einen Zusammenhang mit Resultaten von germ. rampa ‘Haken’ (FEW 16: 658s,) zu denken ist, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. 169 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.2357/ VOX-2018-005 5. Schluss Trotz der ungünstigen Überlieferungslage ergibt die Untersuchung der Sprache von Travers in der Chianzun da Müsch einige Resultate. Im Bereich des Lautlichen lassen sich Hinweise auf eine frühe Reduktion von [aw] zu [ɛ] (pawn > pɛm) und auf eine Entwicklung von [n] zu [m] nach [u] (cumpagnium, dalumgia) finden. In der Morphologie des Präteritums, wo in der heutigen Schriftsprache (ausser im Verb esser) das Paradigma auf -et, -ettan allein herrscht, weist die Chianzun da Müsch zwar seltener, aber doch nicht nur vereinzelt Formen auf -o, -aun (oder -en) auf. Ausgeprägt ist der Unterschied zwischen alter und neuer Sprache im Bereich der unregelmässigen Verben, wo bei Travers die starken Präteritumsformen klar dominieren. Morphosyntaktisch auffällig sind bei Travers (wie bei andern Autoren in der Frühzeit der Schriftsprache) unflektierte Adjektive in attributiver Funktion (bun Grischuns u. ä.), häufiges Possessivum mit Artikel sowie pleonastische Verwendung der Konjunktion cha (seltener deren Auslassung). Der grösste Teil der Untersuchung ist dem Wortschatz gewidmet. In diesem Bereich sind die Unterschiede zwischen alter und neuer Sprache besonders auffällig und zahlreich. Neben Lexemen, die völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden sind, interessieren die Fälle von Bedeutungsveränderung oder unterschiedlichem Schwerpunkt im Anwendungsbereich. Nicht selten bestätigt sich die Beobachtung, dass gewisse Sprachzüge, die in früheren Zeiten eine weitere geografische Verbreitung hatten, heute nur noch in kleineren Gebieten lebendig sind. Sprachkontaktphänomene sind im Wortschatz besonders augenfällig. Während die Germanismen in der Chianzun da Müsch vor allem der Kanzleisprache und der militärischen Terminologie angehören, decken die zahlreichen Italianismen ein weiteres Feld ab. Krieg und Politik spielen zwar auch bei den Entlehnungen aus dem Nachbargebiet im Süden eine wichtige Rolle, was wesentlich mit der Thematik des Gedichts zusammenhängt, aber die massive Präsenz der Italianismen auch aus andern Bereichen ist zweifellos durch die Biographie des Autors bedingt. Eine eingehende Beschäftigung mit der Sprache von Travers ist nicht nur für die Sprachgeschichte ergiebig. Sie kann auch dazu beitragen, gewisse harte Urteile über die bescheidene Qualität dieser Sprache zu korrigieren 144 . Die Untersuchung des Wortschatzes zeigt, dass Travers in seiner Wortwahl überlegt und angemessen vorgeht, was zu seinem Charakter passt, den uns Durich Chiampel in der Historia Raetica als besonnen und ausgleichend schildert. 144 Renato Stampa, dessen sehr freie Übersetzung der Chianzun ins Italienische vor allem für das Verständnis politischer und geografischer Realien von Nutzen ist, spricht von einem «linguaggio … duro, scabroso e maldestro» (Stampa 1976: 184). Angemessener das Urteil von R. R. Bezzola, der zwar die Verse von Travers «dürs, crappus, melgualivs u dafatta zuppegiants» nennt, dem Gedicht im Ganzen jedoch eine packende Spontaneität zuerkennt (Bezzola 1979: 156s.). Das Lied vom Müsserkrieg von Gian Travers Ricarda Liver 170 Vox Romanica 77 (2018): 129-171 DOI 10.8357/ VOX-2018-005 Bibliographie Arquint, J. C. 1964: Vierv ladin. Grammatica elementara dal rumantsch d’Engiadina bassa, Tusan AIS = Jaberg, K./ Jud, J. 1928-40: Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, 8 vol., Zofingen Battaglia, S. 1961-2004: Grande dizionario della lingua italiana, 21 vol., Torino Bezzola, R. R. 1979: Litteratura dals Rumauntschs e Ladins, Cuira Bezzola, R. R./ Tönjachen, R. O. 1976: Dicziunari tudais-ch - rumantsch ladin, Cuoira Bifrun, NT cf. Gartner 1913 Blaise, A. 1954: Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, Turnhout Chiampel, Psalms cf. Ulrich 1906 Chiampel, Historia Raetica cf. 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