eJournals Vox Romanica 77/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
10.2357/VOX-2018-035
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2018
771 Kristol De Stefani

Carolin Patzelt, Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesellschaften. Romanische Sprachen und romanisch-basierte Kreolsprachen in Französisch-Guayana, Stuttgart (Franz Steiner) 2016, 346 p.

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2018
Sabine  Ehrhart https://orcid.org/0000-0001-9296-8016
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365 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 77 (2018): 365-367 DOI 10.2357/ VOX-2018-035 Romania nova Carolin Patzelt, Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesellschaften. Romanische Sprachen und romanisch-basierte Kreolsprachen in Französisch-Guayana, Stuttgart (Franz Steiner) 2016, 346 p. Mit Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesellschaften leistet C. Patzelt einen wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion in der aktuellen Linguistik. Dieses 2016 erschienene Werk ist die gekürzte Fassung einer Habilitationsschrift, welche im Jahre 2014 an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum verteidigt wurde. Die Bedeutung dieser Schrift geht weit über den im Untertitel gesetzten Rahmen Romanische Sprachen und romanisch-basierte Kreolsprachen in Französisch-Guayana hinaus. Die Arbeit hat auch Relevanz für andere geografische Räume als die untersuchten Gebiete, zunächst einmal innerhalb der Frankophonie in einer globalen Sicht, aber auch in anderen Regionen mit einer stark entwickelten Mehrsprachigkeit und allgemein für die gesellschaftlichen Strukturen der Zukunft. Die dargestellten Untersuchungen und Prozesse sind exemplarisch für den Sprachkontakt in mobilen Umgebungen und absolut richtungsweisend für viele Länder, mit besonderer Aussagekraft für die, welche noch in einem monolingualen oder auch in einem rein binär angelegten bilingualen Habitus gefangen sind und deswegen der Diversität nicht genügend Platz einräumen. Eine besondere Stärke der Autorin ist die prägnante Ausdrucksweise bei der Beschreibung der komplexen Sprachkontaktsituationen und ihrer Dynamik sowie das tiefe Verständnis von Strukturen, die nicht nach genuin europäisch-westlichen Mustern ablaufen. Sie geht in ihrer Darstellung dabei immer vom state of the art aus, beschreibt, inwieweit herkömmliche Modelle in dem von ihr untersuchten Kontext greifen und wo sie an ihre Grenzen stoßen; davon ausgehend entwickelt sie dann neue Wege der Analyse. Dieser fluide Ansatz stellt eine bedeutende Revolution in der bisher bekannten Beschreibungsweise von Sprachkontaktprozessen dar. Für die Autorin ist das Ziel «weniger eine detaillierte Bestandsaufnahme der in Französisch-Guayana gegenwärtig vorhandenen Sprachkonstellationen als vielmehr die - lediglich am Beispiel Französisch-Guayana vorgenommene - Erforschung der einer solchen vielschichtigen und dynamischen Sprachgemeinschaft zugrunde liegenden soziolinguistischen Dynamiken sowie der daraus resultierenden sprachinternen Konvergenz-, Sprachmischungs- und Wandelprozesse. Zu klären gilt es dabei vor allem die Frage, warum sich in vielen außereuropäischen Staaten eine stabile Vielsprachigkeit hält, die mit traditionellen soziolinguistischen Modellen nicht erklärbar scheint und die auch verschiedene Minderheitensprachen mit oftmals geringer Anzahl an L1-Sprechern dauerhaft erhält, wie diese Vielsprachigkeit im Alltag einer multikulturellen und -lingualen Gesellschaft konkret funktioniert und inwiefern auch solch komplexe sprachliche Konstellationen möglicherweise einer gewissen Regelhaftigkeit bzw. Systematik unterliegen» (p. 3, ich zitiere hier ohne Fußnoten). Kürzer gefaßt wird dieses Motto im Verlauf der Ausführungen noch einmal wiederholt: «Stabilität durch Mobilität» (177). Nach einem einleitenden Kapitel, in dem die zentralen Forschungsfragen aufgeworfen werden, macht das 2. Kapitel mit Französisch-Guayana, seiner Besiedlungsgeschichte und der historischen und aktuellen demografischen und sprachlichen Situation vertraut. Kapitel 3 gibt eine hervorragende allgemeine Zusammenfassung des Forschungsstands im Bereich der sprach- 365 367 035 366 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 77 (2018): 365-367 DOI 10.8357/ VOX-2018-035 lichen Mobilität und der Diversitätsmuster für Gesellschaften, in denen Migration eine zentrale Rolle spielt, und Kapitel 4 stellt die vielfachen Bezüge zwischen Sprache und Raum und die Modelle, welche sie zu beschreiben versuchen in den Mittelpunkt. Im methodischen Ansatz von Kapitel 5 ist besonders die Beobachtung bemerkenswert, dass «das Streben nach einer hybriden ethnischen Identität die Ausbildung von Sprachmischungen» bedingt (111). In der Tat ist die Arbeit von C. Patzelt eines der Werke, welches mich in den letzten Monaten am tiefsten beeindruckt und in meiner wissenschaftlichen Sichtweise beeinflusst hat. Ich sehe in ihr eine Fortführung des ebenfalls bahnbrechenden Werkes Acts of Identity von Le Page/ Tabouret-Keller 1985. Die Tatsache, dass Sprecheridentitäten nicht statisch gesehen werden, sondern immer wieder neu ausgehandelt werden und dass dies im Austausch zwischen den rezenter Zugewanderten mit den vorhandenen Sprechergruppen und deren Lebensbedingungen passiert, welche sich durch den Kontakt ebenfalls wieder wandeln, kann in der sprachwissenschaftlichen Forschung nicht stark genug herausgestellt werden. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich mit der Sprachvielfalt im öffentlichen Raum, unter Bezugnahme auf linguistic landscapes, Sprechereinstellungen und Sprachideologien (Kap. 6) und schließlich deren Ausprägung in den «central accent» einzelner Sprecher oder Sprechergruppen (Kap. 7). Das Zwischenfazit von p. 157 ist nicht nur für Kreolisten und Migrationsforscher von besonderem Interesse: «Die Einstellung der Mehrheit der Bevölkerung zur Vielsprachigkeit ist positiv, und auch die Einheimischen sind generell den Sprachen der Migranten gegenüber aufgeschlossen … Folglich existiert keine einseitige Assimilation der Migranten ans Aufnahmeland, sondern auch die autochthone Bevölkerung scheint sich mit der Sprache und Identität der quantitativ signifikanten Migrationsströme auseinanderzusetzen». Dieses Phänomen der gegenseitigen Beeinflussung oder Akkomodation zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, also nicht einer einseitig eingeforderten Assimilation der als letzten eingetroffenen «Migranten» ist z.B. auch in anderen - von Europa aus gesehen - überseeischen Gesellschaften mit Kreol- und Kontaktsprachen im Pazifik (Neukaledonien, Vanuatu, Cookinseln), im Indischen Ozean (La Réunion) oder im Atlantik (Kapverdische Inseln) zu beobachten. Es stellt eine interessante Alternative zu den Sichtweisen in Regionen europäischer oder nordamerikanischer Prägung dar, welche den Einfluss zwischen den Gruppen eher monodirektional definieren, wobei die Gemeinschaften mit längerer Verweildauer im Land die stärkere Position einnehmen und das Monopol auf kulturelle Impulse für sich beanspruchen. Die folgenden Kapitel beschreiben anhand von zahlreichen Beispielen und genauen Analysen aus Französisch-Guayana die pragmatische Sprachselektion im plurilingualen Raum je nach Sprecherprofil und räumlichem Rahmen (Kap. 8) und die intergenerationellen Dynamiken der sprachlichen Integration von Migranten (Kap. 9), ein zentraler Bereich, welcher von der Sprachkontaktforschung bis jetzt noch nicht ausreichend gewürdigt wurde. Kapitel 10 rundet schließlich mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick ab, wobei auch hier wieder präzise Daten zur landesspezifischen Situation in Französisch-Guayana sinnvoll eingesetzt werden, um als Grundlage zu neuen Modellen in der Sprachkontaktforschung zu dienen. Die Darstellung der Fakten, Analysen und Schlussfolgerungen ist sehr dicht und mit Informationen vollgepackt. Die Lektüre verlangt Konzentration: Das sehr umfassende Werk mit 367 Besprechungen - Comptes rendus Vox Romanica 77 (2018): 365-367 DOI 10.2357/ VOX-2018-035 346 Seiten und einem zusätzlichen Anhang sowie 82 Abbildungen mit einem hohen illustrativen Wert kann daher schwerlich in einem Durchgang gelesen werden. Dennoch gelingt es der Autorin, auch sehr komplexe Sachverhalte aus einer Region der Welt, die nicht jedem gut vertraut ist, in einer Weise darzustellen, welche beim Lesen direkt nachvollziehbar ist. Ein einziger Punkt des Bedauerns bleibt beim Lesen dieser Arbeit, nämlich die Tatsache, dass diese interessanten Ausführungen im Augenblick nur Lesern zugänglich sind, welche der deutschen Sprache mächtig sind: Diese Arbeit würde es verdienen, von einem breiteren Leserkreis auf internationaler Ebene rezipiert zu werden. Sabine Ehrhart https: / / orcid.org/ 0000-0001-9296-8016 ★