eJournals Vox Romanica 78/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
10.2357/VOX-2019-005
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2019
781 Kristol De Stefani

Habent sua fata et voces. Zur Geschichte einiger lexikalischer Typen im Bündnerromanischen

121
2019
Ricarda Liver
vox7810125
Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 Habent sua fata et voces. Zur Geschichte einiger lexikalischer Typen im Bündnerromanischen Ricarda-Liver-(Bern/ Lützelflüh)https: / / orcid.org/ 0000-0002-6091-4299 Riassunto: -Lʼarticolo-traccia-la-storia-di-alcuni-tipi-lessicali-del-romancio-grigionese.-Da-evoluzioni-semantiche-particolari-limitate-a-un-dato-territorio-risultano-spesso-nuove-differenziazioni spaziali. Una maggiore omogeneità originaria è documentata in parte da testimonianze dei primi secoli dell’attività letteraria. In altri casi è possibile ricostruire una fase precedente di maggiore estensione di un tipo lessicale ricorrendo a derivati o fraseologismi. Talvolta sfumature-di-significato-sorprendenti-sono-documentate-in-un-periodo-limitato.- Keywords: -Historical-lexicology-of-Rhaeto-Romance,-Individual-development-of-lexical-types,- Greater-uniformity-in-older-times,-later-regional-differentiation,-Derivatives-as-hint-at-previousconditions 1. Einleitung Nicht nur Bücher, auch die Wörter einer Sprache sind unterschiedlichen Schicksalen unterworfen.-Horaz-wusste-es-( Ars poetica V. 60-72) und Dante stimmte ihm zu ( Par . 26: 134-38). Welches jedoch im konkreten Fall, in dem ein Wort aus dem Sprachgebrauchverschwindetoderseine- Bedeutungverändert,die- Ursachendes- Wandelssind, bleibt uns meistens verborgen. Die Betrachtung längerer Zeiträume erlaubt es in-gewissen-Fällen,-Veränderungen-im-Sprachgebrauch-zu-erkennen,-die-zu-neuen- Definitionenvon- Untereinheiteninnerhalbdes- Sprachgebietsbeitragenkönnen.- Allerdingsstehendielexika-lischen- Charakteristikennichtanerster- Stellebeider- Bestimmung von Sprachen oder Dialekten. Im Bündnerromanischen, dem die folgenden Untersuchungen gelten, beobachtet man- (wieanderswo)aufverschiedenensprachlichen- Ebenen- Veränderungen,dievoneinergrösserengeografischen- Ausbreitungeines- Phänomenszudessen- Beschränkung-auf-bestimmte-Gebiete-führen,-was-zu-späterer-regionaler-Differenzierung beiträgt. Als-Beispiel-für-die-Ebene-des-Lautsystems-nennen-wir-die-Resultate-von-lateinisch- Bonu ( m ) und coccinu ( m ), wo-in-gewissen-Gebieten-die-ursprüngliche, umlautbedingte Diphthongierung des- Tonvokalsrückgängiggemachtwurde.- Einanalogischer- Ausgleich innerhalb des Adjektivparadigmas, ausgehend von den nicht diphthon- Ricarda Liver 126 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 gierten Formen des Feminins und des Plurals, führte im Engadin zu m. bun , cotschen gegenüber bien , tgietschen in der Surselva. Dass die Diphthongierung im Maskulin Singular der beiden Adjektive ursprünglich auch im Engadin stattgefunden hatte, zeigen die Reliktformen bön ( cuort e bön -‘kurz-und-gutʼ,chattar per bön ‘gut-findenʼ)- und chötschen (puter mel chötschen ‘Ruhrʼ) 1 . Während im Fall der Resultate von Bonu ( m ) und coccinu ( m ) das Surselvische den älteren-Sprachzustand-bewahrt,-das-Engadin-dagegen-eine-Neuerung-vollzieht,-ist-esin-den-beiden-folgenden-Beispielen-aus-der-Morphosyntax-gerade-umgekehrt.- In den Anfängen der bündnerromanischen Schriftlichkeit entspricht der Gebrauch der Personalpronomen in allen Regionen der in der Gesamtromania üblichen Norm: Eine-Serie-von-voll-betonten-Formen-(nach-dem-Verb)-steht-einer-Serie-von-schwachbetonten Pronomen (vor dem Verb) gegenüber 2 . Die Surselva und ein Teil der Sutselva-haben,-nach-herrschender-Meinung-unter-dem-Einfluss-des-Deutschen,-diese- Unterscheidung aufgegeben zugunsten einer einzigen, postverbalen Serie 3 . Auch-im-Gebrauch-der-reflexiven-Pronomen-weist-das-Surselvische,-abweichendvomüblichenromanischen- Usus,eine- Neuerungauf: - Das- Reflexivumderdritten- Person se -wurde-auf-das-ganze-Paradigma-verallgemeinert 4 . Es-wäre-verfehlt,-aus-solchen-Einzelentwicklungen-Schlüsse-ziehen-zu-wollen-aufeinen mehr konservativen oder eher progressiven Charakter der verschiedenen Sprach-regionen.-Noch-grössere-Vorsicht-ist-in-dieser-Hinsicht-im-Bereich-des-Lexikonsgeboten,wobekanntlich- «jedes- Wortseine- Geschichte»hat.- Diefolgenden- Überlegungen-erheben-denn-auch-nicht-den-Anspruch,-irgendwelche-gesetzmässige- Tendenzen in der Ausgliederung der regionalen Sprachräume innerhalb des Bündnerromanischen auszumachen. Vielmehr soll anhand einiger Fallbeispiele illustriert werden,wievielfältigsichdie- Schicksaleeiniger- Worttypenindiesem- Gebietim- Laufe der Zeit gestaltet haben. 2. Fallstudien 2.1 aura Im heutigen Bündnerromanischen lebt lat. aura vor allem in der Form aura (S), ora (C,-E)-mit-der-Bedeutung-‘Wetterʼ-fort.-Spuren-im-modernen-Surselvischen,-in-festen- 1 Genaueres in DRG 2: 611s. s. bun/ bien , 4: 160s. s. cotschen .-Zur-Entwicklung-von-lat.ŏ allgemein cf. e ichenhoFer 1999 §148-95. 2 Cf. l ausBerg 1972: 104s. § 705, 706. 3 Surs. el salida mei , eng. el am salüda / el salüda a mai . 4 Jeu selavel, ti selavas etc. Das Phänomen tritt sporadisch auch in anderen romanischen Sprachen auf (cf. W underli 1989). Entsprechendes-lässt-sich-gelegentlich-auch-in-schweizerdeutschen-Mundartenbeobachten,-z.-B.-im-Berndeutschen,-jedoch-ohne-dass-es-hier-wie-im-Surselvischen-zu-einer-systematischen-Verallgemeinerung-des-Pronomens-der-3.-Person-gekommen-wäre-(cf.-m arti 1985: 97). 127 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 Habent sua fata et voces Fügungen auch über dieses Gebiet hinaus, und Zeugnisse aus alter Sprache auch im Enga-dinischen-lassen-jedoch-keinen-Zweifel,-dass-Reflexe-von-lat.aura mit der Bedeutung-‘Windʼ-im-Bündnerromanischen-wie-anderswo-eine-nicht-zu-unterschätzende Rolle spielen 5 . Auch verschiedene Ableitungen von dieser Basis gehen von einer Bedeutung-‘Windʼ-aus,-nicht-vom-heute-vorherrschendenaura/ ora -‘Wetterʼ. Reflexe-vonaura mitder- Bedeutung- ‘Windʼ-warenim-Mittelalterinderganzen- Galloromania verbreitet, heute nur noch in einem enger umgrenzten Gebiet, so unter anderem im Frankoprovenzalischen und in norditalienischen Dialekten 6 . Im Surselvischen bezeichnet aurasut oder auradado die-Bise,-den-Nordostwind,-die-adverbiale Wendung davos aura bedeutet-‘windgeschütztʼ.- Belege bei Bifrun und Lüci Papa zeigen, dass ora , oura auch im Altengadinischen inder- Bedeutung- ‘Wind’geläufigwar.- Io.6,18lautetbei- Bifrun: - Et l’g mêr suflant l’oura s’asthcufflêua .-Die-Bedeutung-‘Windʼ-vonoura ist hier eindeutig 7 . Auch in der Ecclesiasticus-Übersetzung ( Sabgienscha ) von Lüci Papa bedeutet ora , ôra ‘Windʼ.-Indrei von acht Belegen 8 steht ora allein,-jeweils-als-Äquivalent-von-lateinischventus 9 . In den übrigen Fällen ist das Substantiv von einem Epitheton begleitet, das ora als Wind aus einer bestimmten Himmelsrichtung oder als eine stürmische Wettersituation-charak-te-risiert.-Im-43.-Kapitel-(Verse-17-18)-wird-der-Südwind-alsl’ora dalg mez di bezeichnet,- ‘der-Windaus-Mittagʼ,-der-Nordwindalsl’ôra d’üngünna hura , ‘der-Wind-aus-Mitternachtʼ 10 : l’oradalgmezdisofflacuraelvoul- …- Laploeffgiadal’ôrad’üngünnahuraelamaelaôraaraesa-la-naiff- (der-Südwind-bläst-wann-er-[scil.-Gott]-will-…-Der-Regen,-den-der-Nordwind-bringt,-und-der- Sturmwind-breiten-den-Schnee-aus). In der Zürcher Bibel von 1544, die Papa als Vorlage diente, steht für ora dalg mez di im-lateinischen-Text Auster (mit Majuskel); für la ploeffgia da l’ôra d’üngünna hura e la maela ôra hat-der-Ausgangstextaquilonaris procella turboque venti . Die zitierten Beispiele zeigen, dass ora -in-alter-Zeit-verbreitet- ‘Windʼ-bedeutete,undzwarvorwiegendden- Wind,derstürmischesundnasses- Wetterbringt.- Von- 5- Unverständlicherweise-liest-man-im- HWR s. aura : «in RB fehlt die Bed. ‘Wind’». Zu dieser Behauptung steht die Aussage unter urager -‘lüften,-durchlüftenʼ-im-Widerspruch: -« ora hat die Nebenbed. ‘Wind’». 6 Cf. die ausführliche Darstellung FEW 25/ 2: 935s. 7 Erasmus: Mare autem vento magno flante intumescebat. Luther: Und das Meer erhob sich von einem grossen Winde. 8 Cf. l iVer 2016: 190 (Glossar). 9 Sabg. 5,11: Nu t’laschaer büttaer via e no iminchia ôra (lass dich nicht von jedem Wind hin und her werfen).-22,21: - Sco las saiffs missas in ün hot loc nun paun staer scunter à l’ora -(wie-die-Zäune-aufeiner Anhöhe dem Wind nicht standhalten können). 34,2: quael chi cuora dsieva l’ora (einer, der dem Wind nachläuft). 10 Ingüna ura ,-wörtlich-‘keine-Zeitʼ,-ist-im-Altengadinischen-als-Bezeichnung-des-Nordens-belegt.-Der- Ausdruck ist lat. nulla hora nachgebildet,womitinlateinischen- Urkundenderselben- Zeitder- Norden-bezeichnet-wird.-Cf.-das-Glossar-des- Bündner Urkundenbuchs von 1955 s. nulla ( h ) ora . Ricarda Liver 128 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 dieser Situation ist auch bei der Erklärung einiger Ausdrücke und Redensarten auszugehen,-die-heute-noch-im- Surselvischen-und-teilweise-in-weiteren-Gebieten-Romanisch-Bündens-geläufig-sind. Dass aura in der präpositionalen Fügung surs. davos aura ‘windgeschütztʼ-die-Bedeutung- ‘Windʼhat,bedarfkeiner- Erläuterung.- Wenigerselbstverständlich,aberdurchaus einleuchtend ist es, dieselbe Basis für den surselvischen Ausdruck cunauras ‘erkältetʼ,haver cunauras - ‘den- Schnupfenhabenʼanzunehmen 11 . Aintanoras ‘erkältetʼ,vagnir aintanoras ‘sich-erkältenʼ-ist-auch-in-der-Sutselva-bezeugt 12 . e Bneter 1981 verzeichnet easser an ora ( s )- ‘erkältetseinʼfür- Vaz,allerdingsnurimromanisch-deutschen Teil s. ora , nicht aber im deutsch-romanischen unter erkältet ,-wasauf eine geringe Vitalität hindeutet 13 . Aufeinemgrösseren- Gebietverbreitetisteine- Redensart,diewörtlichübersetzt- «den-Wind-durch-die-Lärchen-wehen-lassen»-lautet-und-im-übertragenen-Sinn-in-der- Be-deu-tung- ‘sichkeine- Sorgenmachen,sichumnichtskümmernʼverwendetwird.- S schar dar l’aura pils larischs, E laschar dar l’ora pels larschs ist in den entsprechenden lokalen Varianten im ganzen bünderromanischen Gebiet verbreitet 14 . Dass aura hier ‘Windʼ-bedeutet,-geht-ausser-aus-den-Verbendar , trer , ir (für- ‘wehenʼ)-auch-aus-gelegentlich-abweichenden-Varianten-wieschar dar l’aria/ ils lufts pils larischs hervor 15 . Es-stellt-sich-die-Frage,-warum-sich-die-Reflexe-vonaura im Bündnerromanischen von-der-Bedeutung-‘Windʼ-zur-Bezeichnung-des-Wetters-schlechthin-entwickelt-haben.- Aus-gangspunktdürftediehäufige- Verwendungvonaura/ ora als ‘Wind, der nasses/ stür-mi-sches/ schlechtes- Wetterbringtʼsein.- Vondaheristder- Schrittzu- ‘Unwetterʼleichtverständlich.- Die- Verallgemeinerungvonaura ‘Unwetterʼzu- ‘Wetterʼschlechthinistebenfallsnachvollziehbar.- Zumalaura ‘ schlechtes- Wetterʼgesellt-sich-der-Gegenbegriffbialaura ‘ schönes-Wetterʼ.-Zudem-ist-eine-Bedeutung- ‘Wetterʼ-in-Reflexen-vonaura und-Ableitungen-von-dieser-Basis-auch-anderswo-inder Romania gelegentlich bezeugt 16 . Einige Ableitungen von aura gehen ebenfalls von aura/ ora in der Bedeutung ‘Windʼ,-oft-‘Schlechtwetterwindʼ,-aus.- Der verbreitetste Typus im heutigen Bündnerromanischen ist die Ableitung von aura mit-dem-Suffix-itiu , itia : S urezi , E orizi . Im LRC wird-die-Bedeutung-von-surs.urezi als-‘heftiges-Gewitter,-Platzregenʼ-glossiert,-bei-Peer-die-von-eng.orizi als ‘Gewitter,-Sturmʼ.- HWR gibt-‘Gewitterʼ-als-übergreifende-Bedeutung,-für-S-‘Platzregenʼ,für- E- ‘Sturmʼ.- Esistsicherschwierig,diesemeteorologischen- Erscheinungenklar- 11 B aumer 1962: 49 geht von auras -‘Wetterʼ-aus,-wogegen-schon-der-(vorherrschende)-Plural-spricht. 12 Cf. auch AIS 694-«mi-sono-raffreddato»-Punkt-15-Maton. 13- Darauf-verweist-auch-die-Tatsache,-dass-die-von-B aumer 1962: 50 für-zwei-Orte-im-Surmeir-an-geführten-Belege-von-den-Wörterbüchern-nicht-gestützt-werden. 14 Cf. DRG 10: 490 s. larsch I. 15 Ibid. 16 FEW 25/ 2: 935 s. aura nennt für Herve (Wallonien) wêre ‘temps-qu’il-faitʼ.-Ibid.-960s.-* auraticus (daraus fr. orage ), cat. oratge -‘temps-qu’il-faitʼ,-ebenso-aspan. 129 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 voneinander abzugrenzen. Entsprechend unscharf sind auch die Bedeutungsgrenzen zwischenderen- Bezeichnun-geninder- Sprache; deshalbsinddie- Glossierungeninden verschiedenen regionalen Wörterbüchern mit Vorsicht aufzunehmen. In-der-Sutselva-setzen-sich-weitgehend-die-Verhältnisse-fort,-die-in-der-Surselvagelten ( urezi - ‘Gewitter,- Platzegenʼ).- Im- Surmeirbedeutet urezza - ‘Windʼ 17 , ebenso stellenweise-in-der-Sutselva 18 . g risch 1939: 250 n2 hält fest, im unteren Teil des Tales (Sotsés)-sei-für-‘Windʼ-der-Germanismusloft geläufiger.- Für das Engadin gibt Peer orizi ‘ Gewitter,-Sturmʼ-an,-Pallioppiorizi , urizi ‘ finsteres- Wetter,-Sturm,-Gewitterʼ,- HWR für Samnaun und Ftan urizi ‘ Sturmwindʼ.- Vom-hier-dargestellten-Worttypus-ist-auch-eine-Variante-(mit-Suffix-itia statt itiu ) nicht zu trennen, die in der bündnerromanischen Toponomastik gut vertreten ist: Urezza (auch Urezzi ), oft plur. Urezzas 19 . Pallioppi hat dafür einen Eintrag orezza , urezza ‘scharfe, schneidende Luft, bes. 20 -als-Ortsname-üblich,-an-Stellen,-die-Lawinenausgesetztsindʼ.- Die- Urezza- Namen häufen sich besonders im Unterengadin: Piz d’Urezza (Zernez), Fuorcla d’Urezchas (Ardez) etc., sind jedoch im ganzen bündnerromanischen Gebiet (auch C und S) und darüber hinaus im Puschlav vorhanden 21 . Zudiesem- Ableitungstypus,dersowohldem- Appellativumurezi , orizi als auch den zitierten Toponymen zugrunde liegt, gibt es reichlich Parallelen in oberitalienischen Dialekten. Das LSI glossiert die Belege aus dem Tessin und Italienisch Bünden unter orizza und orizzi (3: 652) gleichermassen mit ‘vento violento, tempestoso, uragano,-bufera,-acquazzoneʼ 22 . Eine-weitere-Ableitung-ist-das-heute-nur-in-der-Surselva-(und-Domat)-gebräuchliche uradi .- Das- Suffix- aticu liegt auch fr. orage und zahlreichen formal analogen und bedeutungsgleichen oder -ähnlichen Bildungen in andern romanischen Sprachen zugrunde 23 . Ein Zeugnis aus den Psalmen von Vulpius (1666) 24 zeigt jedoch, dass uradi auch-im-Altengadinischen-geläufig-war. Schliesslich ist eine verbale Ableitung von aura zu-ewähnen: urager ‘lüften, durchlüftenʼ- (<aura + idiare ) wirdvon- HWR nur für das Oberengadin und Bravuogn aus-gewiesen.-Die-praktischen-Wörterbücher-(P eer und B ezzola / t Önjachen ) verzeichnen oragiar -‘lüftenʼ-als-Synonym-vondar ajer , ariar 25 . 17 So HWR und LRC s. urezi . s onder / g risch s. urezi -‘Windʼ,-als-zweite-Bedeutung-‘Gewitterʼ. 18 HWR s. urezi : Maton urizi - ‘Windʼ,- Scharanslurezi - ‘Windstossʼ- (mitagglutiniertem- Artikel).- Die- Wörterbücher (m ani 1977, e ichenhoFer 2002) verzeichnen-nur-‘Gewitter,-Platzregenʼ. 19 Cf. RN 2: 28s. s. aura . 20 «Besonders» ist nicht gerechtfertigt, da der Typus ausschliesslich als Toponym, nie als Appellativum vorkommt. 21 Cf. RN 2: 28s. 22 Cf. auch DEI s. orezza . 23 Cf. REW 788 s. aura , FEW 25/ 2: 960 s. * auraticus . 24 V ulP ., Ps. 84 vradi (drittletzter Vers, p. 36 der 2. Sektion in der Ausgabe 1666). 25 Die Form oragiar entspricht-nur-der-Praxis-der-rätoromanischen-Lexikographie,-wonach-als-Stichwort-stets-die-unterengadinische-Variante-steht,-die-in-diesem-Fall-jedoch-gar-nicht-existiert.-Aus- HWR s. oragiar und urager ist ersichtlich, dass für Bravuogn uridzer , für Champfer, Schlarigna und Brail urager und für Punt und Zuoz orager bezeugt-ist.-In-S-und-C-herrscht-für--̔ ̔lüftenʼ-eine-Ablei- Habent sua fata et voces Ricarda Liver 130 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 Ausunserer- Übersichtüberdie- Reflexevonaura und Ableitungen davon im Bündner-romanischengehtdeutlichhervor,dassdie- Bedeutung- ‘Lufthauch,-Windʼder-lateinischen-Basis-in-diesem-Sprachgebiet-eine-wichtige-Rolle-spielt.-In-den-Anfängen-der-rätoro-ma-ni-schen-Schriftlichkeit-war-sie-noch-auf-einem-grösseren-Gebietlebendig-als-heute.-Die-Ver-lagerung-der-Bedeutung-von-‘Windʼ-zu-‘Wetterʼ,-die-in-dermodernen Sprache vorherrscht, ist aufgrund dieser Sachlage nachvollziehbar. Dass auchingermanischen- Sprachenwahrscheinlicheineursprüngliche- Bedeutung- ‘Wehenʼ-dem-heutigen- Wetter , weather etc.-zugrunde-liegt,-lässt-diese-Entwicklungplausibel erscheinen 26 . 2.2 fortuna Der Artikel furtüna ( DRG 6: 791-801) gehört zu den anspruchsvollsten, die bisher im DRG redigiert-wordensind,jedenfalls,-was-die-Darstellung-derdifferenzierten- Semantik-angeht,-deren-Gliederung-und-innere-Zusammenhänge-nicht-ohne-weiteresauf der Hand liegen. Eine neue Sichtung des Materials, die auch vermehrt die Verhältnisse in benachbarten Sprachen mit einbezieht, ergibt einige Resultate, die bei einer-erneuten-Redaktion-zu-einer-abweichenden-Darstellung-führen-könnten.- Es geht hier nicht darum, diesen Artikel neu zu schreiben. Vielmehr soll hervorgehobenwerden,welche- Bedeutungenvonfurtüna in gesamtromanischer Perspektivebesondere- Beachtungverdienenundwiediesezeitlichundräumlichim- Bünd-nerromanischen-auf-treten.-Dabei-werden-einige-Interpretationen-des-Artikelsin DRG 6 in Frage gestellt und revidiert. Der-gewichtigste-Einwand,-der-gegen-die-an-sich-sorgfältige-Darstellung-des-weitaufgefächerten Belegmaterials zu furtüna im-Artikel-zu-erheben-ist,-betrifft-folgendes: -der-Aspekt-«Heftigkeit,-Tumult,-Gewalt,-Wut»-erhält-darin-nicht-die-Bedeutung,die-ihm-zwei-fellos-zukommt.-Er-hätte-einen-eigenen-Abschnitt-verdient,-parallel-zu- IV.-«Hast,-Über-stürzung,-ängstliche-Eile,-Angst».-Während-hier-passive-Befindlichkeit-des-Men-schen-im-Zentrum-steht,-geht-es-beim-Aspekt-«Gewalt,-Wut»-um-aktives Verhalten. Die- Bedeutung- ‘Wutʼ-kommt-im-Artikelfurtüna eineinziges-Mal-vor,-undzwarneben-‘Launenhaftigkeitʼ-als-deutsche-Wiedergabe-des-rätoromanischen-Syntagmasfortüna da pövel ( DRG 6: 793). Dass die beiden Beispiele aus Travers und Bifrun dem ersten-Kapitel,-das-mit-«Schicksal,-Zufall»-überschrieben-ist,-zugeordnet-werden-(als- Absatz D), beruht auf einer Fehlinterpretation. Das erste Zitat, das aus der Chanzun da Müsch stammt, enthält eine der zahlreichen-auktorialen-Interventionen-von-Travers-in-diesem-zeitgeschichtlich-wichtigen- Werk, das am Anfang der rätoromanischen Literatur steht 27 . Es beschliesst die Epitung vom Germanismus luft vor: surs. luftegiar , suts. luftagear , surm. luftager . Cf. DRG 11: 506 s. luftegiar I. 26 Cf. k luge s. Wetter . 27 Cf. l iVer 2010: 96-102. 131 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 sode von der Gefangennahme und Ermordung des Landammanns Silvester von Chiavenna: Da fortüna d’pöevel sa guarda scodün Chi s’inchiappa, ho fat mel ad inminchün (v. 115-16). Das-Zitat-findet-sich-auch-an-einer-weiteren-Stelle-des- DRG (s. inchapper , 8: 496), und zwar-mit-einer-Übersetzung,-die-von-derjenigen-im-Artikelfurtüna abweicht.-Während der Redaktor hier ( DRG 6: -793)-übersetzt: -«vor-der-(wechselhaften)-Gunst-des- Volkes hüte sich ein jeder», gibt derjenige des Artikels inchapper das Syntagma fortüna d’pöevel mit-«Volkswut»-wieder 28 .-Dass-letzterer-damit-richtig-liegt,-beweisenausser anderen Belegen für furtüna ‘Gewalt,-Wutʼ-aus-dem-Altengadinischen-weitere-Fakten,-auf-die-wir-noch-zurückkommen-werden.- Zunächst-zu-den-weiteren-Belegen-fürfurtüna ‘Gewalt,-Wutʼ.-Das-Zitat-aus-Bifruns- NT im Absatz D. von Kapitel I. im Artikel furtüna ( DRG 6: 793) ist ein klares Beispiel für-diesen-Gebrauch,-wie-auch-aus-dem-anstelle-einer-Übersetzung-angeführten-Vorlagetext-von-Erasmus-hervorgeht: - Et-cura-chel-füt-ariuo-à-la-sckiela,-schi-gratagio-chel-stous-gnir-purtô-par-la-fortüna-dalg-poevel (B iFrun , Apg. 21,35) et cum uenisset ad gradus, contigit ut portaretur à militibus propter uiolentiam turbae (e ras mus , ibid.). Bemerkenswerterweise-hat-auch-Luzi-Gabriel-in-seiner-Übersetzung-des-Neuen-Testaments an dieser Stelle paramur da la furtina d’ilg pievel . Ob das nun ein Beleg für das Vorkommen des entsprechenden Syntagmas auch in der Surselva ist oder ob es sich um einen der nicht seltenen Engadinismen in der frühen Sakralsprache des Bündner Oberlandes handelt, bleibe dahingestellt. Wie Erasmus haben auch alle anderen von uns beigezogenen Bibelübersetzungen hier-einen-Ausdruck,-der-‘Gewaltʼ-bedeutet 29 . Eineweitere- Stelleaus- Bifruns- NT-Übersetzungbelegtdie- Bedeutung- ‘Gewalt,- Wutʼ-vonfurtüna im Altengadinischen. Im Artikel furtüna des DRG wirdcun furtüna als-syntaktische-Verbindung-mit-der-Bedeutung-‘hastig,-eilig,-schnellʼ-zitiert.-Auchhier-hätte-die-Wortwahl-von-Erasmus,-dessen-Text-anstelle-einer-Übersetzung-steht,die richtige Interpretation nahelegen können: & par üna cun fortüna l’g curritten adoes (Apg. 7,56) et impetum fecerunt unanimiter in eum (e rasmus ). Wiederum ist die Version von Luzi Gabriel aufschlussreich: currenan tuts ansemel cun Rabia ancunter el . Die Wendung cun furtünna begegnet auch an einer Stelle der 28 Redaktor des Artikels furtüna ist Hans Stricker, derjenige von inchapper Alexi-Decurtins. 29- Griechisches-NT: -διà-τὴν-βίαν-τοῦ-ὄχλου.-Vulgata: propter vim populi . Luther: vor Gewalt des Volkes . Luzzi: per la violenza della folla . Habent sua fata et voces Ricarda Liver 132 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 schonerwähnten- Episodeder- Chanzun da Müsch von Travers, die im DRG nicht zitiert-wird: - Aʼ-Chiastasegnia-in-glieud-d’la-Chiade-füt-inbatieu Et preist cun furtünna p(er) praschun tgnieu (v. 109-10). Auch-hier-ist-die-Bedeutung,-wie-im-vorigen-Zitat,-nicht-‘eiligʼ,-sondern-‘mit-Gewalt,ge-waltsamʼ 30 .-Diese-Interpretation-scheint-auch-der-etwas-eigenwilligen-Übersetzungvon Flugi, «mit Triumpfgeschrei», zugrunde zu liegen (F lugi 1865: 44). Er meinte wohl-«mit-Wut»,-wie-ein-Zusatz-in-Klammer-(«vgl.-115»)-vermuten-lässt.-In-Vers-115findet-sich-oben-erwähntesfortüna d’pöevel ‘Volkswutʼ.-Flugi-verweist-dort-auf-eine- Stelle in Chiampels Historia Raetica ,diewertvolle- Hinweiseaufaltengadinische- Sprüche zu diesem Thema gibt. Chiampel, der in seinem lateinischen Geschichtswerk-die-Versdichtung-von-Travers-paraphrasiert-und-oft-mit-eigenen-Ergänzungenerläutert,zitiertzuv.- 115zweiladinische- Sprüche,dievorderfoergia/ füoergia da poevel , lateinisch a furore populi ,-warnen 31 . Auf-italienische-Parallelen-zu-diesen-Syntagmen-und-auf-die-begriffliche-Berührung-von-‘Eile,-Hastʼ-und-‘Ungestüm,-Gewaltʼ-wird-noch-zurückzukommen-sein 32 . Die-Bedeutungskomponente-‘Ungestüm,-Gewaltʼ-liegt-auchfurtünus , der adjektivischen Ableitung von furtüna , und dem zugehörigen Adverb furtünusamaing zugrunde ( DRG 6: -800).-Das-engadinische-Adjektiv-mit-der-Bedeutung-‘heftig,-stürmischʼwird-vom- DRG als veraltet bezeichnet. Die Belege machen deutlich, dass hier von der Basis furtüna ‘Un-wetter,-Sturmʼ-auszugehen-ist 33 ,-so-etwa-bei-Bifrun,-Apg.-27,18: - Et gniand cun ün 34 -fortünusa-ora-sthlauazôs-…, cum autem uehementi tempestate iactaremur … (e rasmus ). Bei Luzi Gabriel lautet diese Stelle: Mo cur nus vanginen cun gronda furtinna catschai vi e nou da la malaura … Cun gronda furtinna bedeutet-hier-eindeutig-‘mit-grosser-Wucht-(des-Sturms)ʼ.-Der- Beleg, der den oben zitierten Beispielen für furtüna ‘ Gewaltʼ-im-Altengadinischen- 30 In einer früheren Publikation zu Travers ( VRom. 77: 150) übersetzte auch ich fälschlich «eilig». 31 P lattner 1890: 93. Unmittelbar vor der Wiedergabe der beiden Sprüche kommentiert Chiampel das-grausame-Vorgehen-der-Soldaten-des-Oberen-Bundes-gegen-Landammann-Silvester: -«ira-exagitati-non-satis-scirent,-quid-agerent,-et-affectibus-rapti-transversi-furorem-magis,-quam-rationem- …sequerentur».- Die- Sprücheüberdie- Volkswutzitiert- A.- Decurtinsim- Artikelfüergia I unter «Sprichwörter»- ( DRG 6: 659). Entsprechend die korrekte Übersetzung von fortüna d’pöevel desselben Redaktors in DRG 8: 496. Cf. oben p. 131 mit N28. 32 Cf. it. furia di popolo ‘agitazioneditumultoʼ,fortuna (veraltet)- ‘tumulto,turbolenzadipopoloʼ,ferner-die-geläufige-Doppelungin fretta e furia -‘con-fretta-agitataʼ-(z ingarelli ). 33 Cf. DRG 6: 795s. fortüna d’oras , fortüna d’aua etc. 34 Wohl Fehler für üna . 133 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 hinzuzufügen-ist,-beweist,-dass-diese-Bedeutung-des-Lexems-nicht-nur-im-Altengadinischen,-sondern-auch-im-alten-Surselvischen-geläufig-war 35 . Abschliessendeinige- Bemerkungenzum- Aspektdesweitgefächertensemantischen- Spektrumsder- Reflexe-vonlateinisch- Fortuna im Bündnerromanischen und zum-Aus-druck-verwandter-Inhalte-hier,-im-Italienischen-und-im-klassischen-Latein.- Im-oben-(N-32)-erwähnten-italienischen-Phraseologismusin fretta e furia sind die beiden-Substantive-quasi-synonym.-Währendfretta einzig- ‘Eile,-Hastʼ-bedeutet,-istdas Bedeutungsspektrum von furia weiter.-Die-Hauptbedeutung-ist-zwar-eindeutig- ‘Wut,-Rasereiʼ,-aber-die-Nutzung-für-die-Bezeichnung-des-affinen-Inhalts-‘Eile,-Hastʼistim- Italienischenebenfallsgeläufig,cf.etwaaver/ metter furia ‘darfrettaʼ,tosk.- Cecco Furia ‘uomo-della-frettaʼ-und-weiteres-(z ingarelli s. furia ). Auch br. furia , älter füergia ,-weist-eine-ähnliche-Semantik-auf-( DRG 6: 667 s. füergia I). Neben der Hauptbedeutung- ‘Zorn,- Wutʼistauch- ‘Eile,- Hastʼvertreten.- Dassim- Altengadinischenfüergia mit fortüna in-der-Bedeutung-‘Gewalt,-Wutʼ-kommutiert,-wurde-schon-oben- (p.-132)-erwähnt.-Dazu-passt,-dass-auch-gleichbedeutend-mit-der-Ableitungfortünusamaing ‘mit-Wuchtʼ-in-alter-Sprache-die-Fügungin/ cun fürgia/ furia gebraucht-wird.- Die-semantische-Äquivalenz-dieser-Alter-nativen-geht-klar-aus-der-Wortwahl-Bifrunsan-zwei-Parallelstellen-im-NT-hervor.-In-der-Episode-von-den-bösen-Geistern,-die-ineine-Schweineherde-gefahren-waren,-welche-sich-dann-auf-Befehl-von-Jesus-ins-Meerstürzte, formuliert Bifrun Marc. 5,13: Et l’g troep giaiua infürgia accupichias ilg mêr, et-magno-impetu-grex-praecipitatus-est-in-mare-(Vulgata). In der nahezu identischen Version Matth. 8,32 steht anstelle von infürgia das Adverb fortünusamang : Et-uhè-tuot-aque-troep-d’porgs-giet-fortünusamang-à-pichias-ilg-mêr, Et-ecce-impetu-abiit-totus-grex-per-praeceps-in-mare-(Vulgata) 36 . Die Zusammenhänge und Überlappungen von Bedeutungskreisen, die sich in der beschriebenen Geschichte von Fortuna , Furia und-Verwandtem-im-Bündnerromanischen und Italienischen zeigen, bestanden mutatis mutandis schon im klassischen Latein. Betrachtet man die lateinischen Ausdrucksmöglichkeiten für die Inhalte ‘Aufruhrʼ,-‘Ungestümʼ,-‘Sturmʼ-usw.,-so-gewinnt-auch-die-auf-den-ersten-Blick-über- 35- Entsprechend-wäre-auch-im-Zitat-aus-a lig , Epist. 293, das in DRG 6: 796 unter cun furtina ‘hastig, eilig,-schnellʼ-figuriert,in suffel ca ven cun furtina zu übersetzen: «ein Windstoss, der mit Wucht daherfährt». 36- Bifruns-Version-von-Marc.-5,13-figuriert-unter-den-Zitaten-zuin füergia DRG 6: 658, diejenige von Matth. 8,32 DRG 6: 800 unter den Beispielen für das Adverb furtünusamaing . Im Unterschied zur gängigen-Praxis-des- DRG -wird-hier-an-beiden-Stellen-nicht-der-Text-des-Erasmus,-Hauptvorlagevon Bifruns Version, sondern derjenige der Vulgata zitiert, die Bifrun ebenfalls gelegentlich beizog.-Allerdings-scheint-im-zweiten-Fall-(Matth.-8,32)-eine-Kombinaton-beider-Quellen-vorzuliegen.- Erasmus hat Marc. 5,13 et ferebatur grex per praeceps in mare , Matth. 8,32 et impetu abiit grex per praeceps in stagnum . Habent sua fata et voces Ricarda Liver 134 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 raschende-Entwicklung-von- Fortuna zur-Bedeutung-‘Eile,-Hastʼ,-die-noch-heute-in-S- und C lebendig ist, an Plausibilität. Schon Ascoli hatte vorgeschlagen, die Bedeutung von surs. furtina an die Inhalte ‘Aufruhrʼ,-‘Sturmʼ-anzubinden 37 . DRG 6: -800-schliesst-sich-dieser-Auffassung-an-undzitiert FEW 3: -737,-wo-auf-mittelalterliche-Seefahrtsterminologie-verwiesen-wird 38 . Dass-jedoch-die-spätere-Entwicklung-von-‘Sturmʼ-zu-‘Eileʼ-potentiell-schon-im-antiken-Latein-angelegt-war,-zeigen-die-folgenden-Fakten. - tumultus -‘lärmende-Unruhe,-Aufruhrʼ,-daneben-auch-‘Getöse-in-der-Luft,-Sturm,-Unruhe-des- Meeresʼ. - impetus ‘Drang,-Ungestüm,-Sturmʼ; impetus ventorum -‘Stürmeʼ.-Ferner-‘Angriff,-Überfallʼ.- Besonders aufschlussreich für unsere Fragestellung ist die Semantik von procella. Hier-lassen-sich-die-Voraussetzungen-für-eine-Übertragung-der-Bedeutung-‘Sturmʼauf Fortuna erkennen. - procella ‘heftiger-Sturmʼ,-‘heftiger-Ansturm-(Angriff)-der-Reitereiʼ 39 . FEW 3: - 737weistaufdie- Verbindungprocella fortunae «bei Seneca und anderen» hin,-woprocella -in-übertragener-Bedeutung-verwendet-wird.-Ähnliche-Wendungenbei anderen Autoren zitiert g eorges s. procella 40 . Gemeinsam ist all diesen Ausdrücken-ein-Sem-«heftig»,-das-beim-Begriff-‘Sturmʼ-im-konkret-meteorologischen-wieauch im übertragenen Sinn konstitutiv ist. 2.3 Verben für ‘dauernʼ Die-Geschichte-der-Verben-für-‘dauernʼ-ist-ein-klassisches-Beispiel-für-eine-sekundäre regionale Neuordnung einer ursprünglich vermutlich einheitlicheren Situation in Romanisch Bünden, die sich einzig aufgrund indirekter Argumente hypothetisch rekonstruieren lässt. Heute-wird-‘dauernʼ-im-Engadin-mitdürar , dürer ausgedrückt, in der Surselva mit cuzzar. In Mittelbünden (Surmeir und Sutselva) sind beide Worttypen präsent. Es gibt jedoch Indizien dafür, dass einst cuzzar auch im Engadin, * dirar auch in der Surselva-vorhanden-war.- 37 a scoli 1880-83: 529: «I-concetti-di-‘premura-angosciosaʼ,-‘frettaʼ-si-saranno-sviluppati-da-quello-di-- ̔ ̔tumultoʼ,-‘moto-tempestosoʼ; -cfr.-gl’it.fortuna fortunoso .» Furtina glossiert-er-mit-‘premura,-frettaʼ,fortinussa mit-‘soverchiamente-precipitosa,-frettolosaʼ. 38 Aprov. fortuna de ven , ait. fortuna de tempestate -‘Sturmʼ.-Cf.-für-das-Altokzitanische-auch-l eVy 1973 s. fortuna : f. d’aura , f. de temporal -‘tempête,-gros-tempsʼ. 39 So Liv. 30,18. Die Beispiele und die deutschen Glossierungen stammen aus g eorges . 40 Cic. procellae fortunae saevientis, procellae civiles -‘Unruhenʼ,-Arnob.procella temporis etc. Cf. auch Curt. Rufus impetus fortunae (g eorges s. impetus unter-‘Drang,-Ungestüm,-Sturmʼ). 135 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 Das Rätsel der Herkunft von cuzzar kann-auch-hier-nicht-gelöst-werden.-Keinerder-im-Laufe-der-Zeit-vorgeschlagenen-Ansätze-ist-wirklich-überzeugend; -es-bleibtletztlich bei der lapidaren Formulierung des LRC : «unbekannter Herkunft» 41 . Für eine ältere Präsenz von cuzzar im Engadin und von dirar in der Surselva spricht schon das heutige Nebeneinander der beiden Worttypen in Mittelbünden. Darüber-hinaus-gibt-es-beweiskräftigere-Hinweise-auf-eine-solche-Situation. Der erste, der ein altes Vorkommen von cuzzar auch-im-Engadin-wahrscheinlichmacht,-betrifft-das-von-diesem-Verb-abgeleitete-Faktitivumcuzzantar ‘erhaltenʼ-(inder- Bedeutung- ‘fortdauernlassen,gedeihenlassenʼ).- Das- Verbistlaut- DRG 4: 674 (Ableitungen von cuzzar I) im Engadin, im Surmeir und sporadisch in der Sutselva bezeugt,allerdingsvoralleminformelhaften- Wendungenwie- E- Dieu cuzzainta e guarainta ‘Gott-erhalte-und-schützeʼ.-Der-Wunsch,-der-vornehmlich-beim-Verlasseneines-fremden-Viehstalls-aus-ge-sprochen-wird,-entspricht-inhaltlich-dem-deutschen- Glück im/ in den Stall ( SchwId . 2: 622) 42 . Während das eben besprochene cuzzantar für eine ältere Präsenz des Worttypus cuzzar auch im Engadin spricht, könnte das früher im ganzen bündnerromanischen Gebietgeläufigeindürar/ endirar ‘leiden,ertragen,aushaltenʼein- Hinweisaufden- Typus durare auch-in-der-Surselva-sein.-Es-ist-jedoch-auch-in-Erwägung-zu-ziehen,dassdas- Präfixverbals- Ganzesausdembenachbartenromanischen- Gebietübernommen sein könnte. In neuerer Zeit ist endirar vorallemin- Sund- Cgeläufig,in- Mittelbündenvornehmlich-in-der-Sutselva,-währendindürar , andirar ,-wie- DRG 8: 657 s. indürar I festhält,-«in-E-und-Surm.-heute-praktisch-erloschen»-ist.-Im-Altengadinischen-war-das- Verb-jedoch-noch-eben-so-geläufig-wie-heute-in-der-Surselva,-wie-reichliche-Belegeaus-Bifrun,-Chiampel,-den-biblischen-Dramen-und-andern-religiösen-Texten-sowieden-alten-Rechtsquellen-zeigen.- Alle bündnerromanischen Wörterbücher, die Etymologien angeben 43 , bezeichnen lat. indurare als Basis von indürar . Das ist insofern unpräzis, als indurare im Lateinischen nur in der Bedeutung- ‘hartmachen,härtenʼ,auf- Psychischesübertragen- ‘verhärtenʼ,-belegt-ist,-nicht-jedoch-als-‘dauern,-aushaltenʼ.-Dagegen-kennt-das-Simplexdurare ,-dessen-Grundbedeutung-ebenfalls-‘hart-machenʼ-ist,-im-antiken-Lateinauch-die-Bedeutung-‘ausdauern,-aushaltenʼ,-die indürar und dessen zahlreichen Entsprechungen in andern romanischen Sprachen zugrunde liegt 44 . Welcher semanti- 41 Zu den verschiedenen Vorschlägen, von denen in semantischer Hinsicht der von Ascoli (< lat. co [ n ] stare . a scoli 1880-83: 576) bestens-passen-würde,-aber-lautliche-Probleme-gegen-sich-hat,-cf.- DRG 4: 675 (Schorta) und HWR s. cuzzar . 42 Einen freieren Gebrauch des Verbs attestiert DRG 4: -674-dem-Surmeir.-Allerdings-bewegen-sich-diezitierten Beispiele doch alle im Bereich des an Gott gerichteten Wünschens um Gedeihen und Wohlergehen.- In- S,wocuzzar heutedaseinzigvitale- Verbfür- ‘dauernʼist,fehltdas- Faktitivumganz. 43 DRG , HWR , d ecurtins 2001, LRC. 44 REW 4386 verzeichnet unter indurare ‘hart-machenʼ-rum.indurà -‘ertragenʼ,-it.indurare , fr. endurer , prov., kat., span., port. endurar ‘aushaltenʼ. Habent sua fata et voces Ricarda Liver 136 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 sche-Wert-dem-Präfixin in-diesen-Bildungen-zukommt,-ist-schwierig-zu-bestimmen.- Dasklassische- Lateinkenntanderepräfixale-Ableitungenvondurare , die in ihrer Bedeutung indürar etc. entsprechen: perdurare und obdurare , beide ‘aushalten, ausdauernʼ 45 . Während die Bedeutung von per in perdurare klar-ist-(‘durchʼ-[zeitlich]wie-inperferre , perseverare ), lässt sich diejenige von ob in obdurare nicht-ohne-weiteres-an-die-üblichen-Verwendungen-dieser-Präposition-(‘gegen,-auf-…-zuʼ)-anschliessen. Auch im Falle von in in-den-romanischen-Verben-für-‘erleiden,-aushaltenʼ-ist-eswohlmüssig,dem- Präfixeinenpräzisensemantischen- Wertzuweisenzuwollen.- Vielmehr dürfte es sich um ein semantisch demotiviertes in handeln 46 . Wie in lat. durare findet-sich-auch-in-den-präfixlosen-Nachfolgern-dieses-Verbs-inverschiedenenromanischen- Sprachendie- Bedeutung- ‘aushalten,erleidenʼwieinindürar und dessen Entsprechungen, so in alt- und mittelfranzösisch durer , okz., kat., span., port. durar 47 . It. durare kann noch heute diese Bedeutung haben, so in durarla ‘ perseverare,sostenere,soffrireʼundinder- Fügungdurare fatica ‘ stentare, avere difficoltàʼ-(z ingarelli ). Sozusagen ein mehrspachiger Pleonasmus ist Bifruns Formulierung von Matth. 24,13, die im eher mageren Artikel dürar im DRG (5: 519) zitiert wird: - Mu-aquel-chi-vain-à-la-dürêr-oura-infin-ala-fin,-aquel-vain-ad-esser-salf, qui-autem-perseveraverit-usque-ad-finem,-hic-salvus-erit-(e rasmus ). Während la dürêr italienisch durarla entspricht, lehnt sich die Kombination des Verbs mit der Präposition oura offensichtlichandeutschaushalten , ausharren an. Luzi Gabriel, der erste Übersetzer des Neuen Testaments ins Surselvische, hat an dieser Stelle chica ven a perseverar antroqua la fin . It. durarla ‘aushaltenʼ-findet-sich-auch-im-Sprichwort- Chi la dura la vince , das auch im Oberengadin belegt ist: Chi chi la fo l’aspetta, chi chi l’indü ( g ) ra la vaindscha 48 . Ähnlich-schon-im-bergünischen-Drama- Susanna (16. Jh.): Chi fo la spetza, chi l’andüra, Adinna veindscha, s’soula dzir 49 . In diesen Belegen steht hier jedoch nicht das Simplex,-sondern-das-Präfixverbindürer/ andirer .-Das-Sprichwort-ist-in-verschiedenen-romanischen-Spra-chen-des-Mittelalters-gut-belegt,-allerdings-meist-mit-geläufigeren-Verben-für-‘aushalten,-erleidenʼ-wiesouffrir , patire etc. Endurer heisst es nur gerade bei J. Molinet (15. Jh.) 50 , durare einmal in einer italienischen Tenzone des späten 13. Jahrhunderts 51 . Dieser Befund legt die Vermutung nahe, dass endurer , indurare etc.-im-Mittelalter-nicht-gerade-zu-den-hochfrequenten-Verben-gehört.-In- 45 Die Doppelung der Imperative perfer und obdura scheintimklassischen- Lateinsprichwörtlichgewesen-zu-sein.-Catull,-c.-8,11.-Ovid,-a.a.-2,18,-trist.-5,11,7. 46 Cf. t ekaVčić 1980: iii, 117 § 1096.3. 47 Cf. FEW 3: 189 s. durare. 48 Nach DRG 8: 659 in S-chanf und Punt. 49 Ibid. 50 Mais enfin vaincq qui sagement endure . TPMA 2: 321 s. dulden . 51 Onne cosa si vince per durare. P acenotaro (? ) → tenzoni 254. TPMA 2: 322. 137 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 dieselbe-Richtung-weist,-dassindurare -im-mittelalterlichen-Latein-(wie-schon-in-der- Antike)-nur-in-der-Bedeutung- ‘verhärtenʼ-(konkret-und-übertragen),-nicht-aber-als- ‘aushalten,erleidenʼbelegtist 52 . Während im Altfranzösischen laut t oBler -l om matzsch endurer -‘erleidenʼ-geläufig-ist,-scheint-it.indurare in dieser Bedeutung nur selten vorzukommen 53 .-Bemerkenswert-ist,-dass-das-Verbindüraa (mit phonetischen Varianten)inarchaischen- Dialektenderitalienischen- Schweizbelegtist,wasdie- Vermutungnahelegt,derlexikalische- Typuskönntevondortins- Rätoromanischegelangt sein 54 . Einen-weiteren-Hinweis-auf-ein-altes-Vorkommen-des-Typusdurare in der Surselva liefert vielleicht die Ableitung dirada ‘Dauerʼ,-bezeugt-bei-zwei-Autoren-des-17.- Jahrhunderts (Grass und Nicka, cf. DRG 5: 515), sofern es sich nicht um eine Anpassung von it. durata handelt. Zum-Schluss-noch-eine-Bemerkung-zur-semantischen-Affinität-der-Begriffe-«Härte» und «Dauer», die in lat. durare zum Ausdruck kommt (cf. oben p. 135). Sie spiegeltsichauchinverschiedenen-modernen- Sprachen,-woingewissen-Wendungen- oder Bildungen die beiden Konzepte gleichzeitig präsent sind. Dem-erwähnten-it.durare , durarla -‘aushaltenʼ-entsprechen-bedeutungsmässig-die- Wendungen far dura , stare alla dura -‘resistereʼ.-Zingarelli-führt-sie-unter-dem-Lemmadura ‘durataʼ-an,-einem-Deverbale-des-Verbsdurare 55 . Nach den verbalen Verbindungenwirdallerdingsaufdas- Adjektivduro - ‘hartʼverwiesen.- Unterduro findetsichdann auch tener duro ‘non-cedereʼ.-Diese-Situation,-die-die-ursprügliche-semantische- Affinität-von-«Härte»-und-«Dauer»-wiederspiegelt,-prägt-auch-die-Verhältnisse-im- Bündnerromanischen. Wie ait. dura ‘durataʼ-kennt-auch-das-Altengadinischedüra ‘Dauer,-Bestandʼ-( DRG 5: -514).-Eine-Entlehnung-aus-dem-Italienischen-ist-wahrscheinlich.-Ob-das-auch-fürdie-adverbialen-Verbindungen-mit-der-Bedeutung-‘fest-bleiben,-nicht-locker-lassenʼgilt,-ist-schwer-zu-erweisen.- DRG 5: 513 behandelt die Wendungen, die den zitierten italienischen Phraseologismen ( tener duro etc.) entsprechen, unter dür ‘hartʼ.-Allerdings-weisen-einige-der-dort-angeführten-Formen-durch-ihre-Lautung-nicht-auf-einen- Zusammenhang mit rtr. dür , dir hin, sondern eher auf eine Herkunft aus dem Italienischen. Während eng. tgnair dür , surs. tener la dira zum-Adjektiv-für-‘hartʼ-passen,weicht-die-an-gleicher-Stelle-für-surm.-Lantsch-und-Casti-zitierte-Fügungtignair dura 52 Im d u c ange findet-sich-ein-einziges-Beispiel-fürindurare -‘ferre-patiʼ,-aus-den- Capitula Caroli . Der Verweisauffr . endurer lässt vermuten, dass hier eine Latinisierung der volkssprachlichen Form vorliegt. 53 Der DEI führt-nurdie- Bedeutung- ‘farduroʼan.- Im-Artikelindurare bei B attaglia findetsicheineinziges Beispiel-aus-dem-Mittelalter,-ferner-das-Sprichwort- Chi indura, vale e dura und ein Beleg aus Di Breme. 54 Nach LSI 2: 906 s. indüraa ist-das-Verb-im-Bergell-in-der-Bedeutung-‘sopportare,-sostenere,-soffrireʼbelegt,-im-Verzascatal-in-den-affinen-Bedeutungen-‘essere-costante,-solerte,-diligente; -curare,-accudire,-assistereʼ. 55- Seltsamerweise-wird-nicht-gesagt,-dassdura -‘durataʼ-nur-dem-älteren-Italienischen-angehört.-Cf.- DEI 2: 1403. Habent sua fata et voces Ricarda Liver 138 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 auffällig-von-den-dortigen-Lau-tungendoir , deir - ‘hartʼ-( DRG 5: 510) ab. Die Angabe wirdbestätigtdurchdaszur- Zeitder- Redaktiondes- DRG -Artikels noch nicht erschienene Vocabulari dil rumantsch da Vaz (e Bneter 1981): tignair dura ‘durchhalten, durchstehen,-ausharrenʼ; -auch-in-Vaz-lautet-das-Adjektiv-für-‘hartʼdoir . Die-semantische-Nähe-der-Begriffe-«Härte»-und-«Dauer» 56 kommt auch ausserhalb-der-romanischen-Sprachen-zum-Ausdruck.-So-sind-schwedischuthärda ‘ertragen,aushaltenʼundframhärda ‘beharren,verbleibenʼ- Präfixbildungenmithärda ‘härten,-hart-machenʼ. 2.4 Adverbien für zeitlich ‘langeʼ: surs. ditg, eng. lönch Die Situation lässt sich mit einer Formel beschreiben, die auch für die im vorigen Abschnitt-behandelten-Verben-für- ‘dauernʼ-gilt: -alte-Gemeinsamkeit-im-ganzen-br.- Gebiet,-jüngere-regionale-Differenzierung.-Bemerkenswert-im-Fall-des-Zeitadverbsfür-‘langeʼ-ist,-dass-sich-Reflexe-des-sonst-in-der-ganzen-Romania-verschwundenenlat. diu ausser in Teilen des Bündnerromanischen (S ditg , C dei , di etc.) auch in gewissen-Dialektendes-Dolo-mi-tenladinischen- (grödn.giut , gad. di , dio ) erhalten haben 57 . Innerhalb des Bündnerromanischen teilen sich heute Abkömmlinge von diu und solche mit dem Stamm von longus in den Ausdruck zeitlicher Dauer. Surselva und Mittelbünden-weisen-für-das-Zeitadverb-‘langeʼ-meistens-Resultate-vondiu auf (surs. ditg , gitg , suts. gî , gitg , surm. dei , di mit zahleichen lokalen Varianten) 58 ; im Engadin herrscht lönch < longum 59 . Während die Bedeutung von lat. diu ausschliesslich im temporalen Bereich liegt, sind in longus , longe die lokale und die temporale Dimension im Lateinischen-wieauch in neueren Sprachen- (it.,-fr.-und-in-den-Äquivalenten-in-germanischen- Sprachen, dt. lang , engl. long )-beide-präsent.-So-auch-im-Bündnerromanischen,-wo-in-denverschiedenen Repräsentanten von long sowohl-örtliche-wie-zeitliche-Nutzung-vorkommt, allerdings in jeweils-unterschiedlichen-Konstellationen,-was-die-Gewichtungder einen oder anderen Dimension in den verschiedenen Regionen angeht. Hier eine vereinfachte 60 Übersicht über die br. Resultate von lat. long -: - lönch eng.-adv.-‘lange; -weit; -weitausʼ; -adj.-‘lang; -entferntʼ-<longum . DRG 11: 414-18. Der temporale Gebrauch des Adverbs ist vorherrschend. Beispiele seit dem Altengadinischen-(Tra-vers,-Bifrun,-Rechtsquellen)-bis-heute.- Lönch als Bestandteil von 56 Nach W alde -h oFmann hatsichim- Lateinischendiezeitliche- Bedeutung- ‘ausdauern,aushaltenʼ- «auf-der-Grundlage-des-Harten-als-des-Unveränderlichen,-Dauerhaften»-entwickelt. 57 Cf. EWD -3: -98,-wo-auch-auf-den-Ausdrucka diua a diua -‘tenacementeʼ-(Bormio)-hingewiesen-wird. 58 Cf. DRG 5: 320 s. ditg . 59 Cf. DRG 11: 414-18 s. lönch . 60- Auf-die-uneinheitlichen-phonetischen-Entwicklungen,-die-auf-vielfachen-analogischen-Ausgleichzurückzuführen-sind,-wird-hier-nicht-eingegangen.-Cf.-die-zitierten-Artikel-des- DRG und e ichen hoFer 1999: -150-§192a-mit-weiterer-Literatur. 139 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 durativen Konjunktionen ( tant/ quant/ usche lönch cha -‘solange-[als]ʼ)-ist-ebenfallszu allen Zeiten belegt (p. 415s.) 61 . Die adverbiale Fügung dalönch , temporal ‘seit langemʼ,-lokal-‘weit-wegʼ-ist-verbreitet-(p.-417) 62 . - lung eng., liung surs.-adj.‚-‘langʼ-<longus , um . DRG 11: 530-45. Neben der räumlichen Bedeutung des Adjektivs (531-36) ist auch die zeitliche im ganzen Gebiet geläufig-(536-38).-Die-unflektierte-Form-des-Adjektivs-wird-in-adverbialer-Funktionebenfalls-inallen- Regionensowohllokal-wietemporal-verwendet- (538-39).- Unter den adverbialen Fügungen mit Präposition (539-42) ist der temporale Gebrauch von eng. a la lunga , surs. alla liunga ‘auf-die-Längeʼ-hervor-zu-heben-(539- 40). Zu allen Zeiten gut belegt ist auch die Ableitung eng. lungamaing , surs. lungamein (544). - löntsch eng., lunsch surs.-adv.-‘weit,-fernʼ-<longe . DRG 11: 423-35. Hier liegt der Schwerpunkteindeutigimlokalen- Bereich,im- Unterschiedzumobenbesprochenen lönch. Entsprechend spärlich sind die Belege für temporalen Gebrauch. Sie stammen meistens aus S und C, selten aus dem Engadin. Für lönch ‘lange-Zeitʼ-ingesprochener Sprache steht p. 427 ein einziger dialektaler Beleg aus Guarda, aus der Literatur ein Beispiel aus Chiampel. Die Fügung dalöntsch ‘zeitlich-weit-weg,inweiter- Zukunftʼbegegnetsporadischinder- Literatur,-währenddie-Wendungdalöntsch (d)innan ‘seitlangem,längstʼfür- Sent,- Ftanund- Guardadialektalbezeugtist- (432).- Imsprachhistorischen- Abschnittdes- Artikelswirddiezeitliche- Verwendung-vonlöntsch auf-den-semantischen-Einfluss-vonlönch zurückgeführt (435). Kehren-wir-nach-dieser-Übersicht-über-die-vielfältigen-Resultate-vonlong im Bündnerromanischen zu diu und dessen Nachleben zurück. Der Artikel ditg ‘langeʼdes- DRG (5: 320-22) zeigt in aller Deutlichkeit, dass dieser Worttypus im Anfang der Schriftlichkeit-auch-im-Engadin-heimisch-war. - Im-ersten-Abschnitt,-1.a-‘langeʼ-(320)-sind-die-Beispiele-aus-altengadinischer-Literatur zahlreich, angefangen mit der Chianzun da Müsch von Travers 63 , dann in den geistlichen-Dramen-des-16.-Jahrhunderts-und-bei-Bifrun.-Bifrun-wäre-auch-unter- 1.b-‘wie-langeʼ-zu-zitieren-gewesen,-wo-nur-Belege-aus-S-und-C-stehen.-Marc.-9,19steht bei Luzi Gabriel, dem ersten surselvischen Übersetzer des Neuen Testaments: -«Quont-gig-vus-dei-jou-vartir? -(Vulg.-Quamdiu-vos-patiar? )» 64 An derselben Stelle-hat-Bifrun-«cun-dich-cumport-eau-uus? ».- 61 Weiteres l iVer 1969: 55s. 62 DRG 11: 418 nimmt für den lokalen Gebrauch von lönch Einwirkung-vonlöntsch ‘weit,-fernʼ-an.-Cf.unten zu löntsch . 63 A’ nun s’bsügnaiva ster plü di -(es-war-nicht-nötig,-länger-zu-bleiben),-t raVers , Müsch V. 263. Ms. B hat dich . 64 Zitiert DRG 5: 320. Habent sua fata et voces Ricarda Liver 140 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 - Unter 3., «Verbindungen mit da »-(321),-figurieren-Zitate-aus-Bifrun-sowohl-unterdaditg - ‘seit-langemʼ-wie-unter-gleichbedeutendemdaditg enneu (Marc. 15,44 dadijch , Intr. XIII [g artner p. 10] da dijch innò ). - Schliesslich begegnet dich im Altengadinischen auch als Element von durativen Temporalkonjunktionen 65 . Unter 4.c (322) mit quant ‘solange-(als)ʼ-findet-sich-ausdem NT Bifruns cun dijch ch ( ia ) (Matth. 9,15), unter 4.d (ibid.) mit tant ‘solangeʼtaunt dich sco (1. Cor. 7,39). Hier auch dieselbe Konjunktion aus der Ecclesiasticus-Übersetzung von Bifruns Enkel Lüci Papa (1613): Perche e sun alchüns amichs taunt dijch sco s’addo per els (denn manche sind Freunde, solange es für sie nützlich ist) P aPa , Sabg. 6,8. 66 Diese Stelle aus der Sabgienscha ist unter den Zitaten im Artikel des DRG das späteste Zeugnis für dich im Engadin. Die Gründe für das Erlöschen von dich in-E-sind,-einmal-mehr,-nicht-ohne-weiteres-ersichtlich.-Aus-der-Tatsache,-dass-das-Adverb-nur-in-literarischen-Texten,-nichtaber-in-den-alten-Rechtsquellen-belegt-ist,-möchte-man-vielleicht-schliessen,-dass-esin-der-all-gemeinen-Umgangssprache-nicht-geläufig-war.-Die-Situation-in-den-anderen- Gebieten-von-RB,-wie-sie-noch-heute-besteht,-spricht-jedoch-gegen-diese-Vermutung.- Angesichtsderspärlichen- Reflexevondiu in der Gesamtromania (cf. oben) 67 reiht sichdas- Engadin-mitder-Aufgabedes- Lexemsindieallgemeine- Entwicklungein.- Auch die Spuren von diu in-der-inzwischen-erloschenen-Mundart-von-Samnaun,-diein DRG 5: - 322alsarchaisches- Reliktbezeichnetwerden 68 , ändern nichts an dieser Sicht.-Von-weiteren-Beispielen-für-das-Fortleben-von-lexikalischen-Typen-in-S-und- C,-die-im-Engadin-fehlen-oder-nur-in-älteren-Zeiten-bezeugt-sind,-wird-im-Schlussteilnoch die Rede sein. 2.5 vincere Zum Schluss dieser Beispiele für Wortgeschichten, die Unterschiede in der semantischen-Entwicklung-einzelner-Worttypen-und-damit-in-der-regionalen-Gliederung-des- Bündnerromanischen illustrieren, der Fall des lateinischen Verbs Vincere . Die heutige Situation der Fortsetzer von Vincere ist auf den ersten Blick erstaunlich: nur im Engadin bedeutet vendscher (vall.), vaindscher -(put.)-wie-lat.vincere , it. vincere und fr. vaincre ‘siegenʼ.- Im- Surselvischen- (teilweiseauchim- Surmiran)hatsicheinezwarplausible,-aber-doch-auff-ällige-Bedeutungsveränderung-durchgesetzt.-Surs.ventscher 65 Cf. oben (p. 138s. ) zu entsprechenden Konjunktionen mit dem Element lönch . 66 DRG 5: 322 gibt-als-Übersetzung-den-Text-der-Vulgata,-der-beträchtlich-von-der-Formulierung-bei- Papa-abweicht.-Dies-deshalb,-weil-Papa-nicht-von-der-Vulgata,-sondern-von-der-lateinischen-Zürcher Bibel von 1544 ausgeht. Cf. die kommentierte Ausgabe l iVer 2016. 67 Zu den zitierten Zeugnissen für ein Fortleben von diu in der nördlichen Italoromania ist auch vereinzeltes digo -‘a-lungoʼ-bei-Bonvesin-della-Riva-zu-rechnen-(m onaci / a rese 1955: 447). 68 In der Wendung di pli -‘je-länger-destoʼ,-z.-B.i vain di pli ve, es-wird-je-länger-desto-schöner. 141 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 entspricht-als-transitives-Verb-dt.-‘beenden,-erledigenʼ,-als-Intransitivum-‘verenden,eingehenʼ-(von-Tieren) 69 .-Für-‘siegenʼ-verwenden-S-und-C-den-Latinismusvictorisar . Diesemantische- Veränderungvon- ‘siegen,besiegenʼzu- ‘beendenʼinsurs.ventscher ist-ohne-weiteres-nachvollziehbar.-Sie-läuft-über-eine-Verlagerung-der-Handlung, die im Verb ‘besiegen’ primär auf Menschen zielt, auf eine Aktivität, die Situationen-oder-Tätigkeiten-zum-Objekt-hat: -‘bewältigen,-erledigen,-zu-Ende-führenʼ- ( ventscher ina lavur ).-Ähnlich-kann-auch-italienischvincere als Objekt einen Zustand, eine-Befindlichkeit-haben- ( vincere un dolore, una difficoltà). Auch in Dialekten des Tessins und Italienisch Bündens ist Vergleichbares belegt. LSI 5: 780 nennt unter den Bedeutungen von ving (mit-lautlichen-Varianten)-nebst-‘vincere,-superareʼ-auch-‘concludereconesitofavorevole,portareatermineconsuccessoʼ,wassurs.ventscher genau entspricht. Verschiedene Überlegungen, vor allem Ableitungen von vendscher/ ventscher legen die-Vermutung-nahe,-dass-das-Verb-einst-im-ganzen-Gebiet-sowohl-‘siegenʼ-als-auch- ‘bewä-ltigen,beendenʼbedeutethatte.- Für- ‘siegenʼinälterer- Zeitauchin- Ssprichtventschida ‘Siegʼ,-von- LRC als veraltet bezeichnet 70 .-Die-Bedeutung-‘beendenʼ-andererseitsmussauchim- Engadin- (wieinganz- Romanisch- Bünden)die- Basisfürdie- Bezeichnungen von Aktivitäten, die mit dem Abschluss der Erntearbeiten zusammenhängen, gebildet haben: vintschun , guinchun ‘letzter Tag der Heuernte, letzte Heufuhre; -Ernteschmaus,-Schlussessen-am-Abend-des-letzten-Erntetagesʼ-(P eer ) 71 . Die seltenen Beispiele für ven ( t ) scher ‘besiegenʼ-im-alten-Surselvischen-finden-sichbei- Steffan- Gabrielinseinem- Vêr sulaz da pievel giuvan von 1611: venscher la mort (den Tod besiegen) 72 , vandschieu la velgia serpe (die alte Schlange besiegt) 73 . Da Gabriel aus dem Engadin stammte und Ladinismen in seinen surselvischen Schriften nicht selten sind, könnte man vermuten, er folge an den zitierten Stellen seinem heimischen Sprach-ge-brauch.-Mehr-Gewicht-haben-die-zahlreicheren-Zeugnisse-für-das-Substantivven ( t ) schida ‘ Siegʼ-im-alten-Surselvischen.-Die-Belege,-die-sich-im-noch-unpublizierten- Material des DRG finden,stammenausden- Schriftenkatholischer-wieprotestantischer Autoren der Sur- und Sutselva, die (mit einer Ausnahme) auch in diesen Gebieten-heimisch-waren 74 . Allerdings orientierten sich die Autoren beider Konfessio- 69- Eineintransitive- Verwendungdes- Resultatsvon- Vincere liegt auch in span. vencer mit einer Bedeutung- ‘zu- Endegehenʼineinemfachsprachlichen- Bereichvor: - ‘verfallenʼ- (Wechsel),- ‘fälligwerdenʼ-(Scheck),-‘verjährenʼ-(Vertrag),-‘ablaufenʼ-(Frist). 70- Indensutselvischen- Wörterbüchernwirdvantschida als- ‘Abschluss,- Vollendung- (einer- Arbeit)ʼangegeben, bei e ichenhoFer 2002 findet-sich jedoch auch vantschider , vantschidra -‘Sieger(in)ʼ. 71 Cf. HWR s. vintschun . In C und S lautet die Entsprechung surs. ventschigliun , suts. vantschigliun , surm. vintschigliung . Das von P eer ebenfalls als ‘Ernteschmaus, festliches Essen am Ende der Ernteʼ-verzeichnetevantratsch ist dialektal nur gerade in Ftan belegt (Mat. DRG und HWR s.v.). 72 g aBr ., Sulaz 13. 73 g aBr ., Sulaz 143. 74 Es handelt sich um die Katholiken Balzar Alig aus dem Lugnez und Zacharias da Salò (ursprünglich aus Norditalien, später Kapuzinerpater in Cumbel) und die Protestanten Christian Caminada und Andrea Nicka, beide vom Heinzenberg (Sutselva). s alo , Spiegh. 92 la venshida encunter il naus Spiert (der Sieg über den bösen Geist). c aminada , Praep. 209 ô unfiern nu’ei tia vanshida? -(oh-Hölle,-wo-ist-dein-Sieg? ). Habent sua fata et voces Ricarda Liver 142 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 nen-an-der-Sprache-von-Gabriel-Vater-und-Sohn,-Steffan,-der-mit-seinem- Vêr sulaz die Schrifttradition der Surselva begründete, und Sohn Luzi, dessen Übersetzung des Neuen-Testaments-die-Sprache-des-religiösen-Schrift-tums-in-der-Surselva-wesentlichbeeinflusste 75 .- Ein- Anhaltspunktfürdietatsächliche- Exis-tenzvon- venschida in der Surselva-des-17.-Jahrhunderts-könnte-jedoch-die-Wortwahl-von-Luzi--Gabriel-an-den- Stellesein,woder- Begriff- «Sieg»im- NTvorkommt.- Sowohlim- 15.- Kapiteldes- 1.--Korintherbriefs-als-auch-im-1.-Johannnesbrief-5,4-gibt-er-jeweils-lat.victoria (so die Vulgata) mit vanschida wieder,-während-Bifrun-an-denselben-Stellenvictoria hat: La-mort-ei-laguttid’ent,-enten-la-vanschida.-O-mort,-nu’ei-tieu-Uvelg? -Ô-Uffiern,-nu’ei-tia-vanschida? -1.-Kor.-15,55 Mo-Deus-seig-angraziaus,-ilg-qual-nus-dat-vanschida-1.-Kor.-15,57 Parcheicatutqueich’einaschieuda- Deus,venschailg- Mund; aquest’eilavanschida,c’havanschieu ilg Mund, numnadameng nossa cardienscha 1. Joh. 5,4. Wenn vanschida -den-surselvischen-Lesern-nicht-vertraut-gewesen-wäre,-hätte-Luzi- Gabriel-wohl-wie-Bifrun-den-heute-in-S-wie-in-E-geläufigen-Latinismusvictoria verwendet. Schliesslichsprichteineweitere- Ableitung,die- Präfixbildungsurvendscher , für eine verbreitete Nachfolge von Vincere . Das-Verb-mit-der-Bedeutung- ‘überwinden,über-wältigen,-besiegenʼ-ist-(in-den-jeweiligen-phonetischen-Ausprägungen)-im-ganzen br. Sprachgebiet präsent. Zu der Bedeutungsverschiebung in den bündnerromanischen Resultaten von Vin cere ,-die-von-‘siegen,-besiegenʼ-zu-‘erfolgreich-zu-Ende-führen,-beendenʼ-verläuft,-istzu-ergän-zen,-dass-‘beendenʼ-im-ganzen-Sprachgebiet-ausser-durch-das-überall-vorhandene finir durchverschiedene- Verbenausgedrücktwird,dieeinemumgangssprachlicheren Register angehören als finir 76 . Aus der Legende «eine Arbeit beendigen» zur Karte «lavorare» des AIS (8, 1615) geht hervor, dass folgende Verben im Zusammenhangmitdem- Abschlussder- Erntearbeitenverwendetwerden: inder- Surselva ventscher (Punkt 1 Breil, 3 Pitasch, 11 Surein, 13 Vrin), ebenfalls in Domat (5),-das-der-Sutselva-zugerechnet-wird.-In-ganz-Mittelbündenschinar (mit phonetischen Varianten): sutsilvan (14 Dalin, 15 Maton, 16 Scharans), surmiran (17 Lantsch, 27 Latsch, 35 Beiva). Dieser Worttypus setzt sich im Bergell (45 Soglio, 46 Coltura) und im Chiavennasco (222 Germasio) fort 77 . Nur im Oberhalbstein hat der AIS fittar notiert,-ein-Verb,-das-in-seiner-Hauptbedeutung-‘schmücken,-ausrüstenʼ-in-ganz-RBvorkommt.-Die-Bedeutung-‘beendenʼ-ist-auf-Mittelbünden-bes-chränkt 78 . Schliesslich 75 Cf. Bedeutende Bündner 2: 157-72. 76 Der Autor des Artikels finir im DRG bezeichnet ceder , chalar , fittar , glivrar , rafüdar , schinar , schmetter , tschessar und ventscher als «volkstümlichere Synonyme» von finir ( DRG 6: 347). 77 Zur Herkunft cf. HWR s. schinar . 78 Cf. DRG 6: -366-68.-Hier-auch-ein-Beispiel-aus-der-Sutselva-(Scharans),-wofittar auf die Feldarbeit bezogen ist: la lavur dal fonz fuss fittada ,-die-Feldarbeit-wäre-jetzt-erledigt.-Zur-schwierigen-Etymologie DRG 6: 368. HWR beschränkt sich auf «unerklärt». 143 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 wirdmitzwei- Belegen- (29- Sta.- Maria,- 47- Fex)dernurim- Engadingebräuchliche- Typus glivrar dokumentiert 79 . 3. Schluss Die-fünf-Wortgeschichten,-die-hier-beschrieben-wurden,-sind-eine-viel-zu-schmale- Basis-für-die-Illustration-allgemeiner-Tendenzen.-Immerhin-weisen-sie-gewisse-gemeinsame Merkmale auf, die sich bei der Untersuchung eines reicheren Materials als charakteristisch für die Veränderung des Wortschatzes im Gesamtraum des Bündnerromanischen und für eine Neuordnung von dialektalen Räumen innerhalb dieses-Gebiets-erweisen-könnten. In manchen Fällen ist eine früher einheitliche Situation einer räumlichen Differenzie-runginneuerer- Zeitgewichen.- Dabeiistderältere- Zustandzum- Teildurch Zeugnisse früherer Schriftlichkeit dokumentiert, zum Teil jedoch nur aus Ableitungen erschliessbar. Der erste Fall ist bei ora , aura ‘Windʼ-(cf.-2.1.)-gegeben,-wobei-die-alte-Bedeutungneben-der-neueren,-heute-allgemein-herrschenden-Bedeutung-‘Wetterʼ-in-gewissen- Verwen-dungen-noch-heute-in-C-und-S,-in-der-Redensartlaschar dar l’ora pels larschs sogar im ganzen bündnerromanischen Gebiet erhalten ist. Ein deutliches Beispiel für dieselbe Konstellation liegt im Falle der Zeitadverbien vor, der unter 2.4. dargestellt-wurde.-Während-die-Surselva-und-Mittelbünden-bis-heute-die-in-der-übrigen- Romania-fast-völlig-verschwundenen-Resultate-vondiu ( ditg , dei etc.)-bewahren,-hatdas Engadin diesen Typus, der in den Anfängen des Schrifttums noch durchaus geläufig-war,-durchlönch (< longu ) ersetzt. Die- Erschliessungeineralten- Gemeinsamkeit,dieheuteregionaler- Differenzierunggewichenist,aufgrundvon- Ableitungen,lässtsichim- Fallder- Verbenfür- ‘dauernʼ-(2.3.)-beobachten.-Eng.cuzzantar ‘erhalten,-bewahrenʼ-spricht-für-eine-alte- Präsenz des Typus cuzzar ,-der-heute-nur-in-S-und-C- ‘dauernʼ-bedeutet; -umgekehrtlässt surs. endirar -‘aus-hal-ten,-erleidenʼ-vermuten,-dass-ein-einheimisch-entwickeltes- * dirar ‘ dauernʼ-einst-auch-in-der-Surselva-bestanden-hatte.-Eine-etwas-andere-Situation, aber auch ein Beispiel für die Erschliessung einer alten Gemeinsamkeit aufgrund von Ableitungen, liegt in der Geschichte der Resultate von lat. Vincere (2.5.) vor.-Für-‘siegenʼ-sagt-heute-nur-das-Engadinvendscher/ vaindscher ,-während-C-und-Slatinisierendes victorisar verwenden.- Daseinhei-mische- Resultatvon- Vincere in s, ventscher ,bedeutet- ‘beendenʼ.-Diesemantische-Wei-ter-entwicklung-von- ‘siegenʼzu- ‘bewältigen,-beendenʼ-muss-alt-sein,-wie-die-im-ganzen-br.-Gebiet-geläufigen-Ableitungen nahelegen, die den Abschluss der Erntearbeit und die damit verbundenen 79 Cf. DRG 7: -469-71.-Hier-(p.-471)-Hinweise-auf-Parallelen-in-norditalienischen-Dialekten. Habent sua fata et voces Ricarda Liver 144 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.8357/ VOX-2019-005 Festlichkeiten bezeichnen: S und C ventschigliun (mit Varianten), E vintschun , guintschun . Weitere-Beispiele-für-Situationen,-die-den-hier-beschriebenen-ähnlich-sind,-findensich in der Geschichte des Bündnerromanischen reichlich. Ich nenne nur einige bekannte-und-oftbesprochene- Fälle,-in-denen-diegrössere-geografische-Verbreitungeines-Worttypus-zugunsten-einer-regionalen-Neuordnung-aufgegeben-wurde.-Sehroft ist es die Surselva, manchmal zusammen mit Mittelbünden, die den älteren Zustand-bewahrt,-während-das-Engadin-einen-anderen-Weg-einschlägt. Die Verben encurir ‘suchenʼ 80 und enscheiver ‘beginnenʼ 81 haben ihr Zentrum in S und- C,währendim- Engadintscherchar und cumanzar herrschen. Das Adverb vess ‘mit-Mühe,-kaumʼ,-einziger-Reflex-von-lat.- Vix in der Romania, ist nur in der Sur- und Sutselva lebendig 82 . Die Präposition und Konjunktion entocca , entochen ( che )-‘bisʼ,-für- E nur vereinzelt urkundlich in vorliterarischer Zeit in der Form introekk belegt, lebt in-der-Sur--und-Sutselva-fort.-Im-Surmeir-ist-sie-bis-ins-20.-Jahrhundert-bezeugt,-während im Engadin seit den Anfängen der Schriftlichkeit fin ( cha ) herrscht 83 . Eine -seltenere-Verteilung-liegt-im-Fall-des-Farbadjektivs-‘gelbʼ-vor.-Der-Typusmellan findetsich-ausser-in-S-und-C-auch-im-Oberengadin,-während-der-Germanismusgelg einzig im Unterengadin verbreitet ist. Allerdings gibt es auch vereinzelte Belege für mellan im- Unterengadin,wasfüreineursprüng-liche- Präsenzdes- Worttypusinganz- RBspricht 84 . Unsere Skizze einiger Wortgeschichten hat gezeigt, dass oft eine früher im ganzen Ge-biet-einheitliche-Situation-von-einer-neuen-regionalen-Differenzierung-abgelöstwird.-Ver-schiedentlich-haben-sich-die-Surselva-und-Mittelbünden-als-konservativererwiesenalsdas- Engadin.- Zuweilenzeigtensich- Sonderentwicklungen,diezur- Emanzipation von Spezialbedeutungen führten, so im Fall von furtina ‘Eileʼundventscher ‘ -beendenʼ-in-S-und-C.-Daneben-kann-eine-Bedeutungsnüance,-wie-wir-siein furtüna ‘ Wucht,- Gewaltʼalsinalter- Spracheverbreitetfestgestellthaben,auchwiedervölligausdem- Sprachgebrauchverschwinden.- Die- Schicksaleder- Wörter- und ihrer Bedeutungen sind vielfältig und von zahlreichen Faktoren bestimmt, deren Wirken für uns meistens nicht mehr nachvollziehbar ist. 80 Cf. DRG 5: 603-06. HWR s.v. Liver 2012: 81. 81 Cf. DRG 5: 634s. HWR s.v. Liver 2012: 125, 211. 82 Cf. HWR s.v. l iVer 2012: 148. Surm. aveissas geht auf eine Kreuzung von vess mit dem Resultat von inVitus zurück, das in S als nuidis, in E als invidas weiterlebt. 83 Cf. DRG 5: 627-31. HWR s.v. l iVer 2012: 100 und 213. Der Typus ist auch in konservativen Dialekten des Tessins erhalten. Cf. LSI 5: 629 s. tró . 84 Cf. DRG 14: 130-41. Belege für mellan im Unterengadin für Tschlin, Ardez, Guarda und Zernez p. 130. 145 Vox Romanica 78 (2019): 125-146 DOI 10.2357/ VOX-2019-005 Abkürzungen br. =-bündnerromanisch C =-Mittelbünden-(Grischun-Central),-mittelbündnerisch-(sutsilvan-+-surmiran) E =-Engadin,-engadinisch,-ladinisch-(puter-+-vallader) NT =-Neues-Testament put. =-oberengadinisch,-puter RB =-Romanisch-Bünden S =-Surselva,-surselvisch surm. =-surmeirisch-(oberhalbsteinisch),-surmiran surs. =-surselvisch-(oberländisch),-sursilvan suts. =-sutselvisch,-sutsilvan vall. =-unterengadinisch,-vallader Bibliographie Bündnerromanische- Autorenwerdenmitden- Abkürzungendes- DRG zitiert (cf. 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