eJournals lendemains 45/177

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0010
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2020
45177

Auch eine Geschichte der Romanistik

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2020
Carola Deutsch
Maren Kroymann
Lieselotte Steinbrügge
Vorbemerkung der Redaktion: Am 17.09.20 ist in der „Süddeutschen Zeitung“ der Artikel „Hat keine was gesagt? Als Nachtrag zum Fall Matzneff: Was seinerzeit passierte, wenn man versuchte, auf kulturbeflissenen Sexismus hinzuweisen. Eine Anekdote aus der Geschichte der Zeitschrift lendemains“ von Maren Kroymann und Lieselotte Steinbrügge erschienen. Da lendemains auf diese Weise Gegenstand öffentlichen Interesses wurde, hat sich die Redaktion dazu entschlossen, in dieser Nummer eine ausführlichere Version des Zeitungsbeitrags zu veröffentlichen, die mehr Hintergrundinformationen enthalten und damit zu einem umfassenderen Verständnis der damaligen Situation beitragen soll. Diese ausführlichere Version wird neben Maren Kroymann und Lieselotte Steinbrügge zusätzlich von Carola Deutsch verantwortet.
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116 DOI 10.2357/ ldm-2020-0010 Discussion Carola Deutsch / Maren Kroymann / Lieselotte Steinbrügge Auch eine Geschichte der Romanistik Vorbemerkung der Redaktion: Am 17.09.20 ist in der „Süddeutschen Zeitung“ der Artikel „Hat keine was gesagt? Als Nachtrag zum Fall Matzneff: Was seinerzeit passierte, wenn man versuchte, auf kulturbeflissenen Sexismus hinzuweisen. Eine Anekdote aus der Geschichte der Zeitschrift lendemains“ von Maren Kroymann und Lieselotte Steinbrügge erschienen. Da lendemains auf diese Weise Gegenstand öffentlichen Interesses wurde, hat sich die Redaktion dazu entschlossen, in dieser Nummer eine ausführlichere Version des Zeitungsbeitrags zu veröffentlichen, die mehr Hintergrundinformationen enthalten und damit zu einem umfassenderen Verständnis der damaligen Situation beitragen soll. Diese ausführlichere Version wird neben Maren Kroymann und Lieselotte Steinbrügge zusätzlich von Carola Deutsch verantwortet. Seit nunmehr 45 Jahren existiert lendemains - Zeit, um einmal an ein eher vergessenes Kapitel seiner Geschichte zu erinnern, das als ein sehr frühes Dokument einer mittlerweile mehr schlecht als recht etablierten Genderforschung in der Romanistik gelten kann. Es erhellt mit einer seltenen Deutlichkeit patriarchalische Strukturen unseres Faches, den Erkenntnisgewinn von Genderforschung, Fehleinschätzungen und Defizite der deutschen Romanistik. Es zeigt, was seitdem erreicht wurde, was mittlerweile Geschichte ist - und was noch aktuell ist. Ein Kapitel, das auf geradezu exemplarische Weise zeigt, wie sehr ‚Geschlecht‘ eben auch eine wissenschaftliche Kategorie der Literatur- und Kulturwissenschaften ist. Werfen wir einen Blick in die Jahre 1980 und 1981. Lendemains war noch nicht das auf dem Markt etablierte und florierende Unternehmen, das es heute ist, sondern ein Start-up, das 1974 in einem Keller in Berlin-Steglitz gegründet worden war. Sein Erfinder, Michael Nerlich, war kein typischer deutscher Romanist, sondern jemand, der (lange bevor es salonfähig wurde und nicht mehr karriereschädigend war) den Mut hatte, einen schonungslosen Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit seines Faches und dessen Kontinuitäten zu werfen, 1 der sich die Mühe machte, nicht immer nur althergebrachten Lehrstoff wiederzukäuen, sondern z. B. auch einmal den verfemten Louis Aragon zum Seminarthema erkor. Außerdem - das war nicht unwichtig - unterschied er sich im Habitus und mit seiner Lederjacke deutlich von den oftmals Baskenmützen tragenden Ordinarien der deutschen Romanistik. Er lehrte an einem kleinen romanistischen Institut, das sich die Technische Universität Berlin damals noch leistete. Die Redaktionsmitglieder waren keine altgedienten Romanisten, sondern junge DoktorandInnen und StudentInnen, denen die traditionellen Inhalte des Fachs nicht mehr genügten und die deshalb (wie viele Berliner Studierende übrigens, vor ‚Bologna‘ war das alles überhaupt kein Problem) in die Seminare und Vorlesungen des coolen TU -Romanisten gingen. Für sie war so ziemlich alles politisch, auch Sprache und Literatur. Nicht ohne eine gewisse Arroganz mokierten sie sich schon mal über DOI 10.2357/ ldm-2020-0010 117 Discussion so manche Kommilitonen und Kommilitoninnen, denen die Lautverschiebungen vom Altzum Neufranzösischen wichtiger waren als die Geschichte der Résistance. Es war aber auch, und das wird gern vergessen, die Zeit der Berufsverbote. Es war die große Zeit einer „Notgemeinschaft für eine Freie Universität“ ( NoFU ) mit einem einflussreichen Romanisten, Prof. Dr. Klaus Hempfer, als meinungsstarkem Mitglied. (Nach unserer Erinnerung war er sogar zeitweilig der Vorsitzende, aber das ist heutzutage im Internet nicht mehr zu verifizieren.) Die NoFU verantwortete den Druck von Namenslisten mit ‚Verfassungsfeinden‘ an der Freien Universität. Diese ‚Broschüre‘ wurde in hoher Auflage gedruckt, kostenlos und ungefragt an sämtliche Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland verteilt, die möglicherweise mal in die Verlegenheit kamen, Absolventen der Freien Universität einstellen oder fördern zu wollen. In diesem Jahr 1980 erschien die 20. Nummer von lendemains. (Es erschienen vier Nummern pro Jahr. Meine Güte, wie fleißig die Redaktion war, ohne Computer…) Diese Ausgabe war Alain Robbe-Grillet gewidmet. Darin veröffentlichte Michael Nerlich einen Aufsatz zu den Fotobänden von David Hamilton, zu denen Alain Robbe-Grillet Texte geschrieben hatte. 2 David Hamilton? Fragt man heute Studierende nach diesem Fotografen, können sie mit dem Namen überhaupt nichts mehr anfangen. Das war in den 1970er und 1980er Jahren ganz anders. Man konnte an kaum einem Postkartenstand, Posterverkauf oder Kino vorbeigehen, ohne auf Fotos, Plakate und Filme von David Hamilton zu stoßen. Hamiltons Markenzeichen war die Technik des Weichzeichners. Er setzte sie hauptsächlich ein, um junge Mädchen zu fotografieren und zu filmen. Sehr junge Mädchen. Die Mädchen sind selten ganz nackt, wenngleich sehr viel von ihren makellosen Körpern zu sehen ist. Sie tragen schöne, oftmals durchsichtige Kleider, verspielte Hüte, meist im Stil des 19. Jahrhunderts, oder sie sind mit schönen Stoffen drapiert. Fast immer sind sie in aufwändig inszenierte Umgebungen platziert. Heile Landschaften, in denen schon mal Schafherden weiden, und Räume mit alten Möbeln und Accessoires evozieren eine friedliche, bukolische Welt. Hamiltons Fotos waren sehr populär, nicht nur bei jungen Mädchen, die ihre Zimmer damit dekorierten, sondern auch bei Erwachsenen. Überhaupt nicht populär waren die Fotos bei Feministinnen. Für sie waren die Idealisierungen der Kindfrauen Ausdruck von Männerphantasien und eine Kampfansage von male chauvinists an ein Frauenbild, das auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung setzte. Wir, Studentin und Doktorandinnen bei Professor Nerlich, schrieben in einer Nacht eine kurze Replik auf seinen Artikel. 3 Wir waren überhaupt nicht einverstanden mit Nerlichs Interpretation. Wir fanden, dass er die Texte von Robbe-Grillet nicht genau gelesen hatte. Sie werden von ihm bezeichnet als „behutsame, bisweilen ironische, insgesamt aber zärtliche Texte, die den absoluten Kontrapunkt zu den männlichen Visionen von der nackten Frau in allen anderen seiner Texte darstellen“. 4 Eine solche Einschätzung ignorierte u. E. vollkommen, dass sie ganz häufig Gewalt- und 118 DOI 10.2357/ ldm-2020-0010 Discussion Sadismusphantasien ausformulieren und evozieren. Sie sind nicht zärtlich-unterstützende Kommentare, sondern stehen oft im Gegensatz zu den sanften, friedlichen Mädchen. Wir vermuteten, dass Robbe-Grillet seinem aus dem Romanwerk bekannten und bewährten literarischen Stilmittel treu geblieben war, mit gesellschaftlichen Frauenklischees textuell zu spielen und damit eben auch ihre ‚Natürlichkeit‘ in Frage zu stellen. 5 Wie richtig wir mit unserer Kritik an Nerlichs Interpretation lagen, wird im Übrigen einige Jahre später indirekt von Robbe-Grillet selbst bestätigt, wenn er in Angélique ou l’enchantement zu eben diesen Fotobänden schreibt: „J’avais […] dans les textes que j’écrivais en parallèle, tiré insidieusement tout cela […] vers le sado-érotisme, la folie et le cauchemar.“ 6 Was uns aber nachdrücklich empörte, waren Nerlichs „klärende Worte zu Hamilton“. 7 Hamiltons Einsatz des Weichzeichners wird als funktional eingesetztes und angemessenes ästhetisches Mittel gelobt, um junge Mädchen zu fotografieren. 8 Die Tatsache, dass die Mädchen nicht in die Kamera schauen, wird als „Fehlen des männlichen Voyeur-Blicks“ gewertet, und die massenhafte Verbreitung der Fotos als „gewaltige Leistung im Bereich der Aufklärung und der Kunst“ 9 gewürdigt. Die vielen anekdotischen Accessoires, all die „halbaufgeknöpften Dessous, die wie zufällig drapierten Stofffetzen, die die Scham notdürftig verhüllen“, 10 waren für uns lediglich Vorwände, um die nackten Mädchenkörper zu inszenieren. Die Fotos waren für uns verlogen, gerade weil wir sie für extrem voyeuristisch hielten. Sie knüpften unserer Meinung nach „an voyeuristische Wünsche im Betrachter an, Tabuisiertes zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden“. 11 Auch mit dieser Einschätzung sollten wir übrigens einige Jahre später indirekt von Robbe-Grillet bestätigt werden, wenn er Hamilton als „voyeur de profession“ 12 bezeichnet. Die heile Puppenstubenwelt, in die der Fotograf seine Modelle gesetzt hatte, war für uns ein „kleines langweiliges Ghetto der Blumen und des modischen Firlefanz“ 13 und nicht die Welt der jungen Mädchen. Der Weichzeichner war für uns nicht Kunst, sondern einfach nur Kitsch. Der Blick Hamiltons auf die Mädchen war für uns mitnichten eine Alternative zu „Altherren-Zoten“, 14 als die Nerlich sie aufwertete, sondern eher deren Fortsetzung mit anderen Mitteln. Schon gar nicht war es für uns eine „weibliche Vision“ 15 , wie Nerlich behauptete. Als Mitglied der Redaktion unterbreitete Lieselotte Steinbrügge auf der nächsten Redaktionssitzung unseren Text als Beitrag zur Veröffentlichung in der Rubrik „Discussion“ - jene Rubrik, der auch der vorliegende Beitrag zugeordnet ist. Die Reaktion war klassisch. Ein bewährtes Totschlagargument gegen neue Paradigmen in der Wissenschaft (wie z. B. in den letzten Jahren gegen das neue Paradigma der Klimaforschung) ist zunächst, sie und ihre AutorInnen schlicht für ‚unwissenschaftlich‘ zu erklären. So war es auch in unserem Fall. Unser Artikel wurde von Michael Nerlich als so niveaulos und unwissenschaftlich erklärt, dass er gar nicht diskussionswürdig sei. An seinen Assistenten Ingo Kolboom schrieb er: „Ich bin überzeugt, dass sich die drei Verfasserinnen binnen kurzem dieses Aufsatzes so schämen werden, wie ich es schon heute für sie tue ...”. 16 DOI 10.2357/ ldm-2020-0010 119 Discussion Zur gleichen Zeit, ebenfalls im Frühjahr 1981, hatte Lieselotte Steinbrügge die Herausgabe eines Schwerpunkts zu „Frauen und Literatur“ in Planung. Michael Nerlich schrieb an die Redaktion: „Frau Steinbrügge hat für diesen Schwerpunkt ausschließlich Frauen eingeladen. […] [N]ach Abfassung des Kollektivaufsatzes von Frau Deutsch, Frau Kroymann und Frau Steinbrügge hege ich allergrößte Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der zu erwartenden Beiträge, zumal auch Frau Steinbrügge und Frau Kroymann selbst zu den Mitarbeitern dieses Schwerpunkts zählen sollen. Wenn ich nicht unverzüglich jetzt Frau Steinbrügge die Herausgabe des Schwerpunkts entziehe, dann allein weil ich hoffe, es handle sich bei dem genannten Kollektivartikel um einen einmaligen Ausrutscher“. 17 Nicht zuletzt dieser Schwerpunkt „Frauen und Literatur“ zeigte dann allerdings, dass unser Aufsatz keineswegs ein ‚Ausrutscher‘ war, sondern eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer literaturwissenschaftlichen Genderforschung. Dass die Arbeit von Herausgeberin und Autorinnen nicht umsonst war, sondern dann doch noch, auch nach dem Ausscheiden der Herausgeberin aus der Redaktion, in der Nummer 25/ 26 von lendemains erschien, 18 wenn auch mit einem auf Büchern sitzenden Mann auf dem Cover und einem Distanz suggerierenden Editorial, war uns wichtig. (Eine weitere Etappe wurde übrigens sehr viel später, unter glücklicheren Umständen, ebenfalls in lendemains zurückgelegt. 19 ) Liest man unseren Aufsatz zu Hamilton/ Robbe-Grillet/ Nerlich heute, ist es geradezu auffällig, wie brav wir uns mit den 24 Fußnoten und der Arbeit, jede unserer Behauptungen mit Zitaten zu belegen, um die Einhaltung wissenschaftlicher Konventionen bemüht haben. Aber viel interessanter ist, auch wenn es unbescheiden klingt: Unser Text ist immer noch aktuell. Aktuell ist er nicht nur wegen der vor einigen Jahren erhobenen harten Anschuldigungen der Journalistin Flavie Flament und weiterer ehemaliger Models gegenüber David Hamilton, sie als Minderjährige missbraucht zu haben. 20 Aktuell ist er auch, weil er und die Umstände seiner Veröffentlichung Strukturen des wissenschaftlichen Feldes und die Funktion von Genderforschung in seltener Deutlichkeit zutage treten lassen. Tatsächlich ist unser Aufsatz dann doch noch veröffentlicht worden! Um nicht in den Verdacht zu geraten, Kritik an seiner Person zu unterbinden, wollte Michael Nerlich sich einer Veröffentlichung unseres Artikels nicht gegen das Votum der Redaktion widersetzen. Denn diese verhielt sich anders, als er offensichtlich wohl erwartet hatte. Als sich nämlich herausstellte, dass fast die Hälfte der neunköpfigen Redaktion trotz seines enormen moralischen Drucks und seiner seitenlangen ‚Argumentationshilfen‘ nicht wirklich bereit war, sich von den Autorinnen und ihrem Text zu distanzieren, erschien der Text in der Nummer 21 von lendemains. 21 Aber - und auch hier ist das Vorgehen klassisch - es wurde gleichzeitig die zweite Stufe der Abwehr gezündet. Jetzt trat die Macht der Institution auf den Plan. Den Mitgliedern der Redaktion wurde ein Statut zur Unterschrift vorgelegt, das Voraussetzung für den weiteren Verbleib in der Redaktion war. Es sollte künftig alle Rechte bei Konzeption und Gestaltung von lendemains in die Hand des Herausgebers legen. Die Redaktion wurde vollkommen entmachtet. 120 DOI 10.2357/ ldm-2020-0010 Discussion Knapp die Hälfte der Redaktionsmitglieder von lendemains war nicht bereit zu unterschreiben und wurde damit aus der Redaktion ausgeschlossen. Darunter auch die beiden Assistenten Nerlichs, Ingo Kolboom und Hans-Joachim Neyer, die sieben Jahre lang maßgeblich an der Gründung, inhaltlichen und formalen Konzeption und praktischen Realisierung von lendemains beteiligt waren. Dabei interessierten sie sich weder für David Hamilton noch für den Feminismus, weder für Weichzeichner noch für die Ästhetik von Aktfotos - und auch nicht so sehr für das Werk von Alain Robbe-Grillet. Damit nicht genug des gender-trouble. Reaktionen auf Texte sind immer ein Indiz für ihre Relevanz. Auf den Artikel von Michael Nerlich und unsere Replik ging die Menge der Reaktionen über den Umfang der Texte, die dazu Anlass gaben, hinaus. In derselben Nummer von lendemains wurde ein Leserinnenbrief von knapp drei Seiten abgedruckt, 22 der wiederum Michael Nerlich zu einer achtseitigen Antwort veranlasste. 23 Evelyne Sinnassamy veröffentlichte in der folgenden Ausgabe von lendemains einen Artikel von fünf Seiten. 24 Diese Geschichte ist sogar in die Weltliteratur eingegangen. In einem seiner Memoirenbände, Angélique ou l’enchantement, beklagt Alain Robbe-Grillet, bevor er sich über die Tendenz amerikanischer Studentinnen „à paraître aussi moche que possible“ 25 ärgert und sich lang und breit über schöne junge Schauspielerinnen lustig macht, die sich am liebsten verunstalten würden zur „punition qu’il fallait infliger au sexe masculin“, 26 dass der militante Feminismus zwar in Paris und New York aus der Mode gekommen sei, aber in Berlin weiterhin sein Unwesen treibe, offenbar mit stalinistischen Terrormethoden, wie seine Begriffe „Berlinoises de choc“ und „bataillons punitifs“ 27 nahelegen. Wohl aufgrund einer tendenziösen Darstellung des Sachverhalts, jedenfalls mit Sicherheit, ohne Nerlichs und unseren Artikel gelesen zu haben, schreibt Robbe-Grillet: „Le professeur Nerlich, de l’université de Berlin, a même subi, il n’y a pas si longtemps et malgré sa haute position dans le système, de graves tracas académiques pour s’être permis d’écrire, dans la revue Lendemains éditée sous le label des études romanistes, un article favorable aux textes que j’avais publiées en regard des photographies du jeune Hamilton.“ 28 Und er fährt fort: „Et cet été encore, à Berlin-Est cette fois, les mots d’ordre répressifs ayant allègrement franchi le mur, on m’a fait rentrer sous terre d’une seule phrase en me jetant à la face une aussi impardonnable collaboration.“ 29 Dabei hatte Lieselotte Steinbrügge lediglich in der anschließenden Diskussion zu seinem Vortrag über avantgardistisches Schreiben, den er im Sommer 1987 am französischen Kulturinstitut in Berlin ( DDR ) hielt, die Frage gestellt, warum er mit seiner écriture eine höchst konventionelle Bildästhetik, nämlich die des Fotografen David Hamilton, nobilitiert habe. Keineswegs benutzte sie „des mots d’ordre répressifs“, sondern war eher eingeschüchtert angesichts des großen Stars, dem ein riesiges Publikum bewundernd an den Lippen hing. Für den Bruchteil einer Sekunde entglitten dem brillant Vortragenden die Gesichtszüge, bevor er in gewohnt routinierter Manier antwortete. DOI 10.2357/ ldm-2020-0010 121 Discussion Natürlich freute sich so mancher Zunftkollege (Kolleginnen gab’s ja damals kaum) klammheimlich darüber, dass der ‚linke Nestbeschmutzer‘ Nerlich nun auch mal Ärger mit aufmüpfigen Studentinnen und Assistenten hatte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sich die deutsche romanistische Community nun gerissen hätte um die innovativen NachwuchswissenschaftlerInnen. Ernsthafte „tracas académiques“, wie Robbe-Grillet schreibt, hatte nicht der Ordinarius Nerlich, sondern wir drei Autorinnen und Nerlichs ‚abtrünnige‘ Assistenten. Nur wenige Angehörige der romanistischen Zunft waren souverän genug, uns zu unterstützen. 30 Wir wurden erstmal ausgeschlossen aus der akademischen Welt - einige für immer. Wie sagte doch der komparatistische Ordinarius, ein Kollege Nerlichs am selben Fachbereich der TU Berlin, in seinem stets jovialen und freundlichen Ton zu Lieselotte Steinbrügge, als er sich weigerte, ein Folgegutachten für die anstehende Verlängerung ihres Promotionsdarlehens (zinslos) zu schreiben: „Was Sie drei Frauen da gemacht haben, liest sich ja ganz amüsant. Aber bei so viel Mut vor Fürstenthron müssen Sie schon wissen, was Sie wollen.“ Wir halten es übrigens für keinen Zufall, dass in derselben Nummer 21 von lendemains ein peinlicher Kotau vor dem denunziatorischen Fachkollegen der NoFu erschien. 31 Was ist eigentlich noch interessant an dieser Geschichte? Spätestens seit dem Umgang der Kritik mit dem Bestseller von Vanessa Springora wurde uns klar, wie aktuell diese Geschichte ist. In Le consentement schreibt Springora über ihre Beziehung als 14Jährige zu dem seinerzeit 50 Jahre alten Schriftsteller Gabriel Matzneff. 32 Gabriel Matzneff ist so etwas wie der Hamilton unter den Schriftstellern − er idealisiert und propagiert die Beziehungen von sehr jungen Mädchen zu älteren Männern 33 und hat selbst ausschließlich sehr junge (männliche und weibliche) SexualpartnerInnen. Ein Teil der Kritik rechtfertigt die Elogen, die seinerzeit auf den Schriftsteller gesungen wurden, mit dem Argument, ‚die Zeiten‘ seien damals eben ‚so‘ gewesen. Schuld seien die 68er mit ihren libertären Ansichten zu sexueller Befreiung. Vollkommen verschwiegen wird dabei, dass das Jahr 1968 auch die Geburtsstunde des ‚neuen‘ Feminismus war. Feministinnen haben schon immer, auch damals im Fall Matzneff, Einspruch erhoben gegen die Propagierung patriarchalischer und sexistischer Frauenbilder. 34 Ein anderer Teil der Kritik verurteilt Matzneff und schweigt, gerade so, als hätte sie nie etwas mit Matzneff zu tun gehabt. Dies betrifft insbesondere die Verlage, die ihn jahrzehntelang gefördert haben. Sie haben die Auslieferung vieler seiner Schriften sofort eingestellt - mit dem Effekt, dass einige Ladenhüter von ihm mittlerweile zu horrenden Preisen im Internet gehandelt werden. Dabei wäre es doch langsam mal an der Zeit, die Strukturen aufzuarbeiten, die es ermöglichten, dass Hamilton, Matzneff u. a. zu Ikonen aufgebaut und alle ihre KritikerInnen mundtot gemacht werden konnten. 122 DOI 10.2357/ ldm-2020-0010 Discussion 1 Michael Nerlich, „Romanistik und Anti-Kommunismus“, in: Das Argument, 72, 1972, 276- 313. 2 „Hermaphrodit und Kindfrau: Arabesken zu Irina Ionesco / David Hamilton und Alain Robbe- Grillet“, in: lendemains, 20, 1980, 45-55 (im Folgenden: Hermaphrodit). 3 Carola Deutsch / Maren Kroymann / Lieselotte Steinbrügge, „Ein Traum von Weiblichkeit. Zu Michael Nerlichs Interpretation der Photobände von David Hamilton und Alain Robbe- Grillet“, in: lendemains, 21, 1981, 107-113, https: / / homepage.ruhr-uni-bochum.de/ lieselotte. steinbruegge/ Texte/ Ein_Traum%20_von_Weiblichkeit.pdf. Für Digitalisierungen dieses und weiterer Texte danken wir Anja Krysmanski. 4 Hermaphrodit, 51. 5 Traum 111sq. - Cf. dazu auch Carola Deutsch / Lieselotte Steinbrügge, „Die Demontage des guten Gewissens. Zur Funktion des Frauenbildes in ‚Projet pour une révolution à New York‘“, in: lendemains, 20, 1980, 21-35, https: / / homepage.ruhr-uni-bochum.de/ lieselotte. steinbruegge/ Texte/ Die%20Demontage%20des%20guten%20Gewissens.pdf. 6 Alain Robbe-Grillet, Angélique ou l’enchantement, Paris, Minuit, 1987, 162 (im Folgenden: Angélique). 7 Hermaphrodit, 49. 8 Ibid., 50. 9 Ibid. 10 Traum, 108. 11 Ibid. 12 Angélique, 161. 13 Traum, 110. 14 Hermaphrodit, 50. 15 Ibid., 49. 16 Brief an Ingo Kolboom vom 18.3.81. - Auch wenn auf dem Cover von lendemains 21 „Februar 1981“ steht, erschien das Heft erst in der zweiten Märzhälfte. 17 Brief von Michael Nerlich an die Redaktion von lendemains vom 4.3.1981. 18 Lieselotte Steinbrügge (ed.), Schwerpunkt: Frauen und Literatur, in: lendemains, 25/ 26, 1982, 125-176. Einleitung unter https: / / homepage.ruhr-uni-bochum.de/ lieselotte.steinbruegge/ Texte/ Schwerpunkt%20Frauen_und_Literatur.pdf. Mit Beiträgen von Brigitte Burmeister (http: / / brigitte-burmeister.de/ literaturwissenschaft), Maren Kroymann (https: / / marenkroymann. de/ bibliografie), Annie Lambert, Waltraud Gölter und Lieselotte Steinbrügge (https: / / homepage.ruhr-uni-bochum.de/ lieselotte.steinbruegge/ Texte/ Vom_Aufstieg_und_Fall_der_ gelehrten_Frau.pdf). 19 Hendrik Schlieper / Lieselotte Steinbrügge (ed.), Dossier „Du genre de la littérature“, in: lendemains, 162/ 163, 2016, 124-202. 20 Flavie Flament, La consolation, Paris, Librairie générale française, 2017. 21 Cf. Anm. 3. 22 Désirée Bethge-Fischer, „Leserbrief an Michael Nerlich“, in: lendemains, 21, 1981, 114- 116. 23 Michael Nerlich, „Antwort an Désirée Bethge-Fischer“, in: lendemains, 21, 1981, 116-124. 24 Evelyne Sinnassamy, „Von der Trobadora Beatriz zu Alice through the looking-glass. Anmerkungen zu einem Mißverständnis über Alain Robbe-Grillet“, in: lendemains, 22, 1981, 109-114. 25 Angélique, 159. 26 Ibid., 160. 27 Ibid., 161. DOI 10.2357/ ldm-2020-0010 123 Discussion 28 Ibid., 159. 29 Ibid. 30 Wir danken Enrico Straub, der es Carola Deutsch ermöglichte, ihr Staatsexamen zu machen (Frauenbilder bei Robbe-Grillet [1970-1976], Rheinfelden 1983), Hans-Ulrich Gumbrecht, der Lieselotte Steinbrügge promovierte (Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Weinheim/ Basel 1987, Stuttgart ²1992, englische Ausgabe: The moral sex. Woman’s nature in the French Enlightenment, New York / Oxford 1995), Wolfgang Asholt und Lothar Knapp, die es Hans-Joachim Neyer ermöglichten, seine Dissertation an der Universität Osnabrück einzureichen (Kunst und Politik bei Aragon. Vom Surrealismus zur Poésie de Circonstances, Frankfurt/ M. 1984), Peter Bürger, der bereit war, Maren Kroymanns Dissertationsprojekt zu Aragon zu betreuen; aber dazu kam es nicht, weil Maren Kroymann vorher zu Maren Kroymann wurde. 31 „Die Nofu, Klaus Hempfer und Lendemains“, in: lendemains, 21, 1981, 136-138. 32 Vanessa Springora, Le consentement, Paris, Grasset, 2020. 33 „Il est dommage […] que je sois interdit de tribune dans les journaux féminins car l’ensemble de mon travail, quelles que soient par ailleurs ses éventuelles qualités littéraires, […] représente une somme de connaissances, d’observations, sur les jeunes filles tombant amoureuses, vivant leurs amours, heureuses, malheureuses, s’éloignant, se désénamourant, rompant ou rompues, qui pourrait se révéler utile. Si j’étais à la tête de ces journaux, j’imposerai la lecture quotidienne de mes livres aux jeunes filles entre quatorze ans et demi et, disons, vingt-sept ans. C’est une saine lecture, qui les aiderait à mieux se comprendre elles-mêmes. Un jour, cette évidence sera reconnue“ (Gabriel Matzneff, „Entretien avec Florent Georgesco“, in: La Revue littéraire, 39, Mai 2009, 1-23, 23). 34 Ein Beispiel von vielen, noch heute auf Youtube zu besichtigen, ist, wie die kanadische Schriftstellerin Denise Bombardier coram publico im französischen Fernsehen und den Medien gnadenlos abgewatscht wurde, weil sie es gewagt hatte, den Schriftsteller Daniel Matzneff wegen seiner autobiografischen Erzählungen über Sex mit Minderjährigen in der Literatursendung Apostrophes zu kritisieren.