eJournals lendemains 45/177

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0011
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2020
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Michel Cullin (1944-2020)

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2020
Mechthild Gilzmer
Joachim Umlauf
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124 DOI 10.2357/ ldm-2020-0011 In memoriam Mechthild Gilzmer / Joachim Umlauf Michel Cullin (1944-2020) Michel Cullin bin ich ( MG ) erstmals Anfang der 1990er Jahre in der Romanistik der Freien Universität Berlin begegnet. Die Möglichkeit, mit ihm als Kollegen zu damals noch nicht sehr etablierten Themen zusammenzuarbeiten, erlebte ich als große Bereicherung. Er war nach der Wende als Hochschulattaché für die neuen Bundesländer nach Berlin berufen worden. Aufgrund seiner politischen Sensibilität und Aufgeschlossenheit war er die ideale Besetzung für diese Funktion. Frei von Berührungsängsten begegnete er seinen Gesprächspartnern an den Hochschulen in den neuen Ländern mit Offenheit und Interesse. Selbstdarstellung war ihm fremd. Er nutzte seine Position und seine vielfältigen Kontakte immer im Dienst der Sache, um Menschen und Ideen zusammenzubringen und zu fördern. Viele, die ihm begegnet sind, werden sich daran - ebenso wie wir - mit großer Dankbarkeit erinnern. Dass jemand wie Michel Cullin in dieser Umbruchsphase für die Hochschulbeziehungen zuständig war, kann somit als großes Glück angesehen werden. Seinem Engagement ist es u. a. zu verdanken, dass im Juli 1995 ein bis dahin noch wenig bekannter Aspekt der deutsch-französischen Geschichte, der gemeinsame Kampf deutscher Emigranten und französischer Widerstandskämpfer*innen zur Zeit der deutschen Besatzung, Gegenstand einer Tagung an der TU Berlin wurde. Michel Cullin war es auch, der als erster in Zusammenarbeit mit dem DAAD und mir ( JU ) den Austausch zwischen den französischen Hochschullektor*innen in Deutschland und den DAAD - Lektor*innen in Frankreich initiierte; mit Bedacht wurde Halle an der Saale als Treffpunkt für einen mehrtätigen wissenschaftlichen Austausch gewählt. Als Germanist war er mit der umfänglichen DDR -Forschung von französischen Germanist*innen wie Gilbert Badia und anderen vertraut und konnte an die von diesen engagierten linken Germanist*innen in Frankreich getragene wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ‚anderen‘ Deutschland anknüpfen und den kritischen Dialog fördern. Vorurteilsfrei und offen - wenn auch durchaus nicht unkritisch - pflegte er die Kontakte zu den ‚etablierten‘ Mittlern zwischen Frankreich und der DDR , wie z. B. dem langjährigen Frankreichkorrespondenten des Neuen Deutschland, Gerhard Leo. Als stellvertretender Generalsekretär des Deutsch-Französischen Jugendwerkes lag ihm viel daran, auch Stimmen aus den neuen Bundesländern in Frankreich und Paris zu Gehör zu bringen. Ich ( JU ) erinnere mich sehr gerne an eine Reihe von Veranstaltungen, die wir im Heinrich-Heine-Haus in Paris, das ich zu dieser Zeit leitete, organisierten: einer der Höhepunkte war sicherlich der Besuch von Gregor Gysi, der über 150 meist junge Zuhörer*innen mit seinen Anschauungen über Ost- und Westdeutschland und die deutsch-französischen Beziehungen fesselte. Aber auch Vertreter*innen anderer politischer Lager wurden eingeladen; trotz seines eigenen Engagements lag Michel Cullin immer viel an Ausgewogenheit. ‚Antifaschismus‘ war für ihn weder Kampfbegriff noch Adelstitel. Seine vorurteilsfreie Anerkennung von Lebensleistungen jenseits ideologischer Vereinnahmung öffnete ihm viele Türen und DOI 10.2357/ ldm-2020-0011 125 In memoriam Herzen. Er betonte das Verbindende und nicht das Trennende. Selbst häufig ein Außenseiter, brachte er den Ausgegrenzten besondere Sympathie und Aufmerksamkeit entgegen. Mit dieser Einstellung hat er sich nicht überall Freunde gemacht. Ein Schlüssel für seine Vorliebe für das Unangepasste, Widerständige, für das manchmal auch Volatile seiner Persönlichkeit mag in seiner Familiengeschichte liegen. Umfassend gebildet, aber ohne jeglichen intellektuellen Dünkel teilte er sein Wissen und seine Überzeugung gerne mit anderen, ohne dabei belehrend oder besserwisserisch aufzutreten. Nach einem Besuch der classes préparatoires am renommierten Gymnasium Louis Le Grand studierte Michel Cullin in Paris Politikwissenschaft und Germanistik (1962-1965). Nach dem Studium ging er nach Österreich, das ihm zur zweiten Heimat wurde. Zunächst arbeitete er dort als Fremdsprachenassistent am Theresianum in Wien (1966-1967), bevor er eine Stelle als Französischlektor an der Universität Wien (1967-1969) annahm. Von 1982 bis 1986 leitete er dann das dortige französische Kulturinstitut. In Wien lernte er seine spätere Frau Isolde kennen, mit der er drei Kinder haben sollte. Sein Leben und seine berufliche Laufbahn bewegten sich von nun an zwischen Frankreich und Österreich, einem Land, zu dem er eine besondere Beziehung entwickelte. Um dies wirklich zu verstehen, musste man nur einmal von ihm durch die Arbeiterviertel Wiens geführt werden. Danach war man über die Bedeutung der Sozialdemokratie für Österreich und das ‚Rote Wien‘ gut informiert. Sein großes politisches Vorbild war Bruno Kreisky, mit dem er im Übrigen bekannt war. Unterstützung fand er in Frankreich eher in der kommunistischen Partei oder in kritischen z. T. von ihm selbst initiierten informellen Flügeln der sozialistischen Partei. Durch Michel lernte man das ‚andere‘ Österreich kennen, die Geschichte der Verfolgten und Aufrechten, wie sie z. B. Axel Corti in der Filmtrilogie Wohin und zurück über das Exil und die Rückkehr von Georg Stefan Troller, der heute noch hochbetagt in Paris lebt, zeigt. Dieses Österreich verkörperte für ihn auch der Historiker Felix Kreissler, damals noch Professor für Germanistik in Rouen, der bereits als 17jähriger nach Frankreich emigrierte und sich dort dem Widerstand anschloss. Die Erinnerung an die Beteiligung deutscher und österreichischer Emigranten am französischen Widerstand wurde Michel Cullin zu einer Herzensangelegenheit, für die er sich dann vor allem in seiner Funktion als Stellvertretender Generalsekretär des Deutsch-Französischen Jugendwerks (1999-2003) einsetzte. Danach kehrte er an die Universität Nizza zurück, an der er bereits von 1998-1999 als maître de conférences lehrte. In den letzten Jahren seines Berufslebens nutzte er seine Anbindung als Direktor der Abteilung für die österreichisch-französischen Beziehungen an der Diplomatischen Akademie in Wien zur Entwicklung wissenschaftlicher Kooperationen mit osteuropäischen Ländern. Von seinen Publikationen sei an dieser Stelle das Lexikon Douce France über das Musik-Exil in Frankreich erwähnt, das er 2008 mit der österreichischen Wissenschaftlerin Primavera Driessen Gruber herausgab. Michel Cullin hat durch seine Arbeit wesentlich dazu beigetragen, dass diese und andere verdrängte Aspekte der geteilten deutsch-französischen Geschichte ins öf- 126 DOI 10.2357/ ldm-2020-0011 In memoriam fentliche Bewusstsein drangen. Das gilt vor allem auch für die unrühmliche Behandlung der deutschen und österreichischen Emigranten. So nutzte er den 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags im Jahr 2003, um daran zu erinnern. Mit der Wahl von Sanary-sur-Mer und anderer zentraler Erinnerungsorte des deutschsprachigen Exils in Südfrankreich als Veranstaltungsort zur Feier der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks setzte er ein klares Zeichen. Immer wieder nutzte er Gedenkfeierlichkeiten zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, um auf vergessene Opfergruppen hinzuweisen oder an ‚unterschlagene‘ Aspekte der deutsch-französischen Geschichte zu erinnern. Für ihn war die Erinnerung keine leere Formel, sondern eine gelebte Praxis, mit der die Opfer anerkannt und vor allem der Geschichte der ‚kleinen Leute‘, der Vergessenen, der Unsichtbaren, gedacht werden sollte.