lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0012
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2020
45177
Helmut Melzer (1942-2019)
121
2020
Ilektra Bogner
ldm451770127
DOI 10.2357/ ldm-2020-0012 127 In memoriam Ilektra Bogner Helmut Melzer (1942-2019) Im August 2019 musste ich mit großer Trauer und Bestürzung erfahren, dass mein Hochschullehrer, wissenschaftlicher Ratgeber seit Studientagen und während der Promotion, mir nicht mehr von seinem neuesten Projekt zu Traditionen in Frankreich erzählen konnte. Dieser Verlust ist ein großer, für viele Menschen, für seine Familie, Wegbegleiter, seine Schüler, und ihn hoch schätzende wissenschaftliche Kollegen. In den wahrhaft stürmischen Studienzeiten der Nachwendezeit war Dr. Helmut Melzer in vielerlei Hinsicht Stütze, Förderer, Begleiter, moralische Instanz, wissenschaftliche Säule und Garant für Stabilität und Innovation. Der unsanierte Seminarraum am Institut für Romanistik bildete ein Refugium, in dem das Denken und Debattieren über und zur Kultur und Landeskunde Frankreichs zu einem lebendigen Ort des Austausches und interkultureller Kompetenz wurde. Die Universität Leipzig verdankt seinem unermüdlichen Engagement, seiner wissenschaftlichen Expertise, seiner immer aktuellen Lehre und seiner großen Leidenschaft für Frankreich, dass seit den 1970er Jahren Generationen von Französischlehrerinnen und Französischlehrern, Dolmetschern, Sprachmittlern und Studierenden der Romanistik mit einem umfassenden Wissen über die französische Kultur und Landeskunde sowie einem vertieften Verständnis interkultureller Prozesse die Universität verließen und nicht selten zu ihr zurückkehrten - bzw. genauer zu ihm, da er sich auch über das Studium hinaus ihrer Fort- und Weiterbildung verpflichtet fühlte. Die wissenschaftliche Lehrtätigkeit und die Forschungen von Helmut Melzer sind eng mit der Universität Leipzig verbunden und machten ihn zu einem prominenten Vertreter für die kulturwissenschaftliche, landeskundliche und interkulturelle Forschung und Lehre zu und über Frankreich in der DDR und ebenso in den Jahren nach der Wende bis zu seinem Abschied von der Universität. Ab 1971 waren ihm der Aufbau des Lehr- und Wissenschaftsgebietes Landeskunde/ Geschichte Frankreichs für die Ausbildung von Sprachlehrern, Sprachmittlern und Erwachsenenbildnern auf sozialwissenschaftlicher Ebene, die Konzeptionen sowie Lehrprogramme in Kooperation mit anderen Einrichtungen zu verdanken. Seine Seminare und Vorlesungen legten ihren Schwerpunkt auf die Vermittlung von Landeskunde und Geschichte Frankreichs, im Speziellen der Geschichte Frankreichs von 1789 bis zur Gegenwart, der Landeskunde Frankreichs der V. Republik sowie ausgewählter soziokultureller Entwicklungen im gegenwärtigen Frankreich. Anhand der spezifischen Entwicklungen des Pressewesens und später der Massenmedien spann er den historischen, kulturwissenschaftlichen und landeskundlichen Bogen von der III. Republik über die langen Phasen der Weltkriege bis hin in die Gegenwart. Besonderes Augenmerk legte er zudem auf die öffentlichen Debatten französischer Intellektueller und ihr politisches Engagement in der Résistance und während der 128 DOI 10.2357/ ldm-2020-0012 In memoriam Nachkriegszeit, etwa für die Unabhängigkeitsbewegungen in den ehemaligen afrikanischen Kolonien. Seine Lehre war dabei immer tagesaktuell. Sie vereinte die Vermittlung tradierter französischer Denkparadigmen, französischer Erinnerungskultur sowie Traditionen und ihrer kritischen Reflexion u. a. in der Politik, Presse, Literatur, Architektur, Film und Musik. Seine Lehrpraxis fußte auf dem Prinzip der Interdisziplinarität, der Hermeneutik, der Dialektik und der begrifflichen Deutung im interkulturellen Vergleich. Es ging ihm nicht um eine ideologisch prädeterminierte Vermittlungspraxis, sondern um die Darstellung ideologischer Paradigmen, von Denkansätzen und Strömungen in seinem Lehr- und Forschungsfeld. Dabei setzte er dem Prinzip der Diktion das Prinzip des kritischen Diskurses entgegen. Beredtes Zeugnis für seine engagierte wissenschaftliche Arbeit legen auch seine Veröffentlichungen, seine Mitarbeit und Beiträge in Fachzeitschriften in diesem Zeitraum ab. Die Leistungen der landeskundlichen Forschungen der Romanistik in der DDR bis zur Wende 1989 fanden einen gebührenden sowie kritischen Widerhall und Platz in seinem Artikel „Zur Entwicklung der ‚Landeskunde Frankreichs‘ in der ehemaligen DDR - Erfahrungen, Bilanzen, Perspektiven“ in lendemains (60, 1990, 108- 120). In den Nachwendejahren, vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen in Deutschland und den Erfordernissen der weltpolitischen wie wissenschaftlichen Entwicklung, konzipierte er den Fachbereich neu, so unter anderem durch den Ausbau von Spezialisierungseinrichtungen in der Landeskunde bzw. Kulturgeschichte. Er förderte die Zusammenarbeit mit Bezugsdisziplinen und die gezielte Entwicklung von Kooperationsbeziehungen mit Partnern der Frankreichforschung, wie dem Deutsch- Französischen Institut Ludwigsburg, dem Frankreich-Zentrum Freiburg, den Universitäten Berlin, Passau, Kassel sowie mit Fachbereichen innerhalb der Universität Leipzig (z. B. Geschichte, Kultur-, Kommunikations- und Afrikawissenschaften). Diese mühevolle Umgestaltungsphase war wissenschaftlich für ihn mit einem großen Opfer verbunden - weder die Zeit noch seine physische Konstitution erlaubten es ihm, sein angestrebtes Habilitationsprojekt weiter zu verfolgen und zu beenden. Bis zu seinem Abschied von der Universität Leipzig publizierte er weiterhin zu landeskundlichen und kulturwissenschaftlichen Frage- und Problemstellungen, so u. a. zur Rolle Frankreichs im neuen Europa („Bericht von der VII. Frankreichforscher-Konferenz 1991, Ludwigsburg“), zur Entwicklung französischer Medienformate ab den 1990er Jahren (mit Gerhard Piskol, „Loft story - eine Mutation von ‚Big brother‘ im französischen Fernsehen. Zwischen Neugier und medialem Voyeurismus“, in: CIRAC Forum, 52, 2000, 25-28) und zum Leben und Wirken von Franzosen in Leipzig („La France fascinante et détestée“, in: Europa-Haus Leipzig [ed.], Franzosen in Leipzig, damals-heute, 2000, 7-15). Viele von uns erinnern sich, dass es einen Ort gab, an dem man ihn mit Sicherheit immer antreffen und mit ihm ohne Scheu parlieren konnte. Es war nicht sein Büro. Das war zu klein für seine wissenschaftliche Neugier und unermüdliche Forschung. Es waren der Lesesaal der Deutschen Bücherei und später der der sanierten Bibliotheca Albertina. DOI 10.2357/ ldm-2020-0012 129 In memoriam Selbst in den finstersten Zeiten, wenn Phasen der Krankheit ihn aus seinem wissenschaftlichen Rhythmus rissen, kehrte er immer zurück und breitete mit seinem verschmitzten und entschlossenen Blick Unmengen von Literatur, Zeitungsartikeln und Recherchen auf seinem Schreibtisch aus, weitere Forschungen und anstehende Veröffentlichungen im Blick. All sein Wissen, sein Geist und seine Erfahrung mündeten in die Monographie Kleine Kultur-Geschichte Frankreichs - Von der Höhlenmalerei in die multimediale Gesellschaft, die erstmals 2012 beim Romanistischen Verlag in Bonn erschien. Seine Abschiedsvorlesung schloss er mit den Worten: „Ich schließe zwar mein Büro und gebe den Schlüssel ab, aber ich bin nicht aus der Welt, wir werden uns sehen und im Gespräch und in Verbindung bleiben. Ich wünsche Euch und Ihnen allen, dass alle ein guter Geist begleiten möge.“ Er hat Wort gehalten und war selbst doch stets der gute Geist.
