eJournals lendemains 45/177

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0013
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2020
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NATHALIE SARRAUTE: LETTRES D’AMÉRIQUE. ÉDITION ÉTABLIE ET ANNOTÉE PAR CARRIE LANDFRIED ET OLIVIER WAGNER, PARIS, GALLIMARD, 2017, 126 S.

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Doris Wendt
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130 DOI 10.2357/ ldm-2020-0013 Comptes rendus NATHALIE SARRAUTE: LETTRES D’AMÉRIQUE. ÉDITION ÉTABLIE ET ANNOTÉE PAR CARRIE LANDFRIED ET OLIVIER WAGNER, PARIS, GALLIMARD, 2017, 126 S. Nathalie Sarraute ist eine der prominentesten Autorinnen des Nouveau Roman und zugleich dessen Vorläuferin. Seit ihrem ersten Text Tropismes, erschienen 1939, hat sie die Analyse und Dekonstruktion kleinster psychischer Vorgänge ein langes Schriftstellerinnenleben lang mit äußerster Konsequenz verfolgt, erweitert und theoretisch vertreten. Von ihren Lebensumständen wissen wir das Äußere (cf. die „Chronologie“ von Arnaud Rykner in Œuvres complètes, Paris, Gallimard, 1996), zu ihren poetologischen und ästhetischen Positionen liegen eine Reihe von dezidierten Selbstaussagen vor, von Privatem im Sinne von emotionalen Verfasstheiten wissen wir hingegen so gut wie nichts - was in der Absicht der Autorin lag. Umso erstaunlicher ist nun die Veröffentlichung von 24 Briefen an ihren Ehemann Raymond Sarraute, geschrieben während ihrer ersten Vortragsreise in Amerika vom 1. Februar 1964 bis zum 14. März 1964, Nathalie Sarraute war 63 Jahre alt. In diesem „roman-fleuve“, wie sie selbst die Briefe nennt (86), berichtet sie ihm, der sie ausnahmsweise nicht begleiten konnte, von dem Außerordentlichen dieser Reise, „par un besoin fou de partager tout avec mon vieux Chien Loup [Kosename für Raymond Sarraute]“ (ibid.). Das Emotionale des Schreibimpulses, das Erlebte mit dem abwesenden Lebenspartner zu teilen, bildet den Grundton dieser Berichte. Mitzuteilen gilt es vor allem den begeisterten Empfang, welcher der Repräsentantin des Nouveau Roman in den USA bereitet wird, und unter diesem Eindruck erscheinen ihr das Land, Menschen, Städte, Universitäten, Museen, Restaurants, Hotels in einem geradezu göttlichen Licht - „divin“ ist eines der von der Briefschreiberin am häufigsten verwendeten Adjektive. Keine geringe Rolle spielen dabei die Einnahmen, die sie mit ihren Vorträgen erzielt, leicht verdientes Geld, wie Sarraute betont, die sie in Balzacscher Manier genau beziffert. Über das Private hinaus geben die Briefe Zeugnis über die Rezeption der Nouveaux Romanciers, die sich in dieser Zeit in den USA vollzog. Das Neudenken des Romans in Frankreich mit seinen ästhetischen Umsturztendenzen wurde Teil des intellektuellen Aufbruchs in Amerika vor dem Hintergrund der Bürgerrechtsbewegung und der einsetzenden Kritik am Vietnamkrieg (cf. die „Introduction“ von Olivier Wagner, 23sq.). Vor Nathalie Sarrautes Amerika-Tournee hatten ähnliche Einladungen an Vertreter der französischen Avantgarde den Weg bereitet, Claude Ollier 1959, Robert Pinget 1960/ 61 und Alain Robbe-Grillet Anfang 1964, wenige Monate vor Sarraute. Um Sarrautes Enthusiasmus zu verstehen und einzuordnen, muss man sich den Stand der französischen Rezeption ihres bis zum Zeitpunkt ihrer USA -Reise erschienenen Werks vor Augen führen. Nach Jahren der isolierenden Nichtbeachtung machte sie erst die Sammlung der literaturtheoretischen ‚Manifeste‘ L’Ère du soupçon (1956) zu einer der - bald auch internationalen - Leitfiguren des nunmehr DOI 10.2357/ ldm-2020-0013 131 Comptes rendus als literarische Strömung der Avantgarde wahrgenommenen, teils polemisch titulierten Nouveau Roman. In der Folge wurden Le Planétarium (1959) und Les fruits d’or (1963) erfolgreich und in zahlreichen Ländern übersetzt. Eine der Personen, die Nathalie Sarraute in New York mit allen Ehren empfängt, ist ihr amerikanischer Verleger, George Braziller, der seit 1958 (Portrait d’un inconnu) alle ihre Romane veröffentlicht hat. Seine Begeisterung zu diesem Zeitpunkt ist verständlich, denn das Time Magazine hatte gerade eine überaus positive Besprechung der Anfang des Jahres in New York erschienenen Fruits d’or (The Golden Fruits, 1964) veröffentlicht: „[…] un article qui a mis Braziller, Maria [Jolas, engl. Übersetzerin von Nathalie Sarraute] et Morot-Sir [Édouard, Kulturattaché an der französischen Botschaft in den USA , Organisator der Reise von Sarraute] dans un état de transe, qui [der Artikel] est exceptionnel paraît-il pour un auteur étranger, et représente, dit Braziller, des milliers de dollars! “ (51sq.) In einer „grande librairie“ an der Fifth Avenue sind Buch und Photo der Autorin mit einem Willkommensgruß ausgestellt: „Welcome to Nathalie Sarraute to the United States“ (Herv. im Orig., 52). Zuvor hat sich Sarraute in das Goldene Buch der Stadt New York eingetragen: „Signé livre d’or fantastique, réservé aux grands. Sur la page énorme, il y avait juste pour l’année dernière (oh! oh! je jure que c’est vrai) Lyndon Johnson, André Malraux, Léger et Nathalie Sarraute! ! ! “ (51). In einem anmutigen kleinen Pastiche der Königin- Stelle aus Le Planétarium ( OC , 399) tituliert sich die Autorin selbstironisch in dritter Person als „Sa Majesté“ (88, 91sq.). Auf dieser ersten Reise in die USA , der noch zahlreiche folgen sollten, hielt Sarraute etwa 20 Vorträge an renommierten Universitäten des Landes (Columbia, Princeton, Yale, Havard u. a. m.) und anderen kulturellen Einrichtungen, wie in New York im Institut français und der Young Men’s and Young Women’s Hebrew Association. Dort wurde ihr Vortrag von Susan Sontag eingeleitet und im Radio übertragen (71, Fn). Sarraute trug zwei literaturtheoretische Texte vor - zum Teil in englischer Sprache, die sie liebte und fließend sprach -, „Roman et réalité“ (veröff. erst 1996 in den Œuvres complètes) und „Flaubert le précurseur“ (veröff. 1965 in Preuves). Flaubert als Vorläufer ist für sie der Autor der Madame Bovary, der Entdecker einer „[…] réalité inconnue […], ce qu’on a nommé depuis l’inauthentique“ ( OC , 1632). Vom Inhalt der Vorträge ist jedoch in den Briefen nicht die Rede, häufig hingegen vom Erfolg der Vortragenden bei einem vorwiegend intellektuell-studentischen Publikum, das durch ihre Art der „conférence, comme exercice de confession“ (Introduction, 25) mitgerissen ist: „Assia [Minor-Gavronsky, in New York lebende Freundin)] […] [m]e dit qu’un engoument fou s’est emparé ici des intellectuels pour ce que je fais“ (44). Jenseits der ihr entgegengebrachten Verehrung, politisch aufmerksam - als Mitunterzeichnerin des „Manifeste des 121“, einer Erklärung gegen den Algerienkrieg, hatte sie 1960 die schon geplante Reise in die USA diplomatisch gefährdet -, be- 132 DOI 10.2357/ ldm-2020-0014 Comptes rendus richtet Nathalie Sarraute verschiedentlich über die Diskussion um die Rassentrennung: „Dans tramways, jeunes Noirs viennent s’assoir courageusement parmi Blancs silencieux. Le contraire très rare […]“ (120; 84). Ästhetische Divergenzen, Konkurrenz und Solidarität mit den Vertretern des „mouvement qu’on appelle le nouveau roman“, wie Sarraute sich ausdrückt (71, Fn), bestimmen das Verhältnis zu den Schriftstellerkollegen. Am häufigsten kommt Sarraute in eben dieser Ambivalenz auf ihren Tourneevorgänger Alain Robbe-Grillet zu sprechen (46, 53, 59, 68, 61, 71, 84). In Chicago wurde Nathalie Sarraute mit dem amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren, „ex-amant de Simone de Beauvoir“ (90), bekannt gemacht, „charmant […], m’adore! ! ! “ (107). Ästhetische und persönliche Differenzen trennten Beauvoir und Sarraute seit Anfang der 1950er Jahre und so zeigt sich Beauvoir in einem Brief an Algren befremdet über dieses Treffen. Dabei enthüllt sie ein kurioses Detail: Nathalie Sarraute hasse sie und habe sie in Le Planétarium „sous les traits d’un ridicule auteur sans talent“ gezeichnet (107, Fn). Gemeint ist die Figur der Germaine Lemaire in dem Roman - ein Beweis dafür steht aus. Die äußerst sorgfältige Edition der Briefe (Département des Manuscrits der Bibliothèque nationale de France), mit einer ausführlichen Einleitung zur Biographie, zur Reise, zu Werk und Rezeption besonders in den USA sowie erhellenden Anmerkungen, wurde von Olivier Wagner, Konservator für moderne und zeitgenössische Literatur an der BnF und der amerikanischen Romanistin Carrie Landfried besorgt. Nathalie Sarraute war in ihrem literarischen Werk eine extrem skrupulöse und langsam schreibende Autorin - in der Verfasserin dieser spontan, eilig, oft nachts nach ausgefüllten Tagen hingeworfenen Zeilen an den abwesenden Partner erhalten wir jetzt das portrait d’une inconnue (cf. a. Introduction, 36). Doris Wendt (Hildesheim) ------------------ JOHANNES DAHLEM: KRITISCHES HISTORISCHES ERZÄHLEN IM FRANZÖSI- SCHEN GEGENWARTSROMAN. FOREST, ROUAUD, KADDOUR. HEIDELBERG, UNIVERSITÄTSVERLAG WINTER, 2017, 337 S. Die Geschichte ist zurück in den Romanen zeitgenössischer französischer Autor*innen, historische Romane herkömmlicher Couleur schreiben sie deswegen allerdings noch lange nicht. Diese Feststellung ist der Ausgangpunkt der 2017 erschienenen Studie von Johannes Dahlem über Kritisches historisches Erzählen im französischen Gegenwartsroman. Welche Möglichkeiten hat ein Roman, der sich mit vergangenen Wirklichkeiten befasst, in ein kritisches Verhältnis zu seinem Gegenstand zu treten? Eine Frage, die sich nicht der Literatur alleine stellt. Spätestens seit Jörn Rüsens Unterscheidung der vier Typen des historischen Erzählens ist das kritische Erzählen als ein Modus der Geschichtsschreibung idealtypisch eingeführt. Auch die professionelle Geschichtswissenschaft problematisiert ihren Gegenstand