eJournals lendemains 45/177

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0015
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
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JULIA PRÖLL / HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK / HENNING MADRY (ED.): MÉDECINSÉCRIVAINS FRANÇAIS ET FRANCOPHONES: IMAGINAIRES – POÉTIQUES – PERSPECTIVES INTERCULTURELLES ET TRANSDISCIPLINAIRES, WÜRZBURG, KÖNIGSHAUSEN & NEUMANN, 2018, 386 S.

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Anna Magdalena Elsner
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136 DOI 10.2357/ ldm-2020-0015 Comptes rendus Vorbilder allein. Er befreit sich durch die fiktionale Inszenierung wieder von der historischen Vorlage, um die Welt des 20. Jahrhunderts als eine plurale, unaufhebbar gespaltene vorführen zu können. Er will gerade nicht, wie Rouaud, Partei ergreifen und zu einer Art geschichtsphilosophischer Moral seiner Geschichte kommen. Im kleinen Ort Waltenberg verdichtet sich, was die zerrissene, krisenhafte Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgemacht hat. Die Ideen und Positionen bleiben unversöhnbar, sind sich aber auf dem engem Seminarraum näher gerückt, als es im historischen Geschehen je der Fall war. Dahlem sieht in dieser Möglichkeit, mittels eines fiktionalen Handlungsrahmens zur Struktur der betrachteten historischen Wirklichkeit vordringen zu können, einen Mehrwert der Fiktion. Das abschließende sechste Kapitel der Studie fragt nach Literatur als Erkenntnisinstrument. Indem die zeitgenössischen Romane sich mit der Vergangenheit und zugleich mit den (überkommenen) Formen ihrer wissenschaftlichen und literarischen Repräsentation befassen, treiben sie die kritische Diskussion über die epistemologischen Grundannahmen der Geschichtswissenschaft mit voran. Dass Quellen historisch-kritisch und im Bewusstsein ihrer Lückenhaftigkeit zu lesen sind, ist allerdings keine Einsicht, für die es der quellenkritischen Position eines Forest oder Rouaud erst bedurft hätte. Als positives Erkenntnisziel wertet Dahlem das Bemühen aller drei Autoren um alternative Geschichtsbilder und neue Deutungsangebote. Forest und Rouaud geht es dabei um die Erzählung von Gegengeschichten, wodurch sie das revisionistische Grundanliegen der nach Rüsen dritten historischen Erzählweise, des kritischen Erzählens, teilen. Kaddour umkreist die ‚blinden Flecken‘ der Geschichte, er interessiert sich vor allem für latentes und verschüttetes Wissen. Es wäre spannend, historische Romane deutscher Gegenwartsautoren vergleichend zu den französischen Beispielen zu lesen. Dass Dahlem sie nicht in die Analyse einbezieht, ist kein Manko seines Buches. Seine sorgfältige und kenntnisreiche Studie steht für sich. Sie böte aber zugleich für komparatistische Fragestellungen einen guten Ausgangspunkt. Barbara Picht (Berlin) ------------------ JULIA PRÖLL / HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK / HENNING MADRY (ED.): MÉDECINS- ÉCRIVAINS FRANÇAIS ET FRANCOPHONES: IMAGINAIRES - POÉTIQUES - PER- SPECTIVES INTERCULTURELLES ET TRANSDISCIPLINAIRES, WÜRZBURG, KÖNIGSHAUSEN & NEUMANN, 2018, 386 S. Dieser aus einer interdisziplinären Tagung 2016 an der Universität Saarbrücken hervorgegangene Band versammelt, inklusive Einleitung und Nachwort, 26 Beiträge zur Thematik der médecins-écrivains in der französischsprachigen Literatur. Es handelt sich hierbei zweifellos um einen Schlüsselbeitrag für die Forschung an der Schnittstelle zwischen Literatur und Medizin, und dies begründet sich primär in der multikulturellen Perspektive des Bandes. DOI 10.2357/ ldm-2020-0015 137 Comptes rendus Der Topos des médecin-écrivain, des schreibenden Arztes, ist kein Neuland und forschungsmäßig weitgehend erschlossen. Es ist jedoch die Gegenüberstellung französischer und frankophoner médecins-écrivains, welche die Besonderheit des Bandes ausmacht; dies vor allem innerhalb der Forschungsgebiete, an welche die Herausgeber methodologisch anknüpfen, nämlich die Literature and Science Studies und die Medical Humanities. In den letzten Jahren hat anglophone Forschung an der Schnittstelle von Literatur und Medizin weitgehend den konzeptuellen Takt vorgegeben. Dadurch bedingt haben monokulturelle und monolinguale Darstellungen einer primär westlich geprägten Medizin Diskurse über schreibende Ärzte weitgehend dominiert. Jedoch wurde in der angelsächsischen Kritik selbst genau diese Schwachstelle auch bemängelt und zuletzt 2016 in einer Art Gegenmanifest, dem Edinburgh Companion for the Critical Medical Humanities, erfasst. 1 Die Critical Medical Humanities plädieren dafür, dass sich das Forschungsfeld sprachlich und kulturell öffnen muss, um kritische und globale Perspektiven zu erlauben. Obwohl nur ansatzweise darauf eingegangen wird, bestärkt genau dies die innovative Grundstruktur des Sammelbandes. Die ausgezeichnete Einleitung positioniert sich daher auch eher in der deutsch- und französischsprachigen Wissenschaft, und macht sich so zum Beispiel Ottmar Ettes fruchtbares Konzept der „Lebenswissens“ für die Schnittstelle Medizin/ Literatur zu eigen (15). Die Aufsatzsammlung ist in vier Teile gegliedert. Die sechs Aufsätze des ersten Teils werden von zeitgenössischen schreibenden Ärzten bestritten, die über die Rolle des Schreibens in und neben ihrem ärztlichen Beruf reflektieren. Der Rest des Bandes wird von Literaturwissenschaftlern ausgerichtet. Auch dieses Gegenüberstellen ist fruchtbar, denn es bringt Argumente aus Theorie und Praxis zusammen und trägt so weiter zur inhaltlichen Kohärenz bei. Verschiedene vielseitige Überscheidungen treten dabei zu Tage, so zum Beispiel, wenn Marc Zaffran alias Martin Winckler, einer der wohl bekanntesten zeitgenössischen médecins-écrivains, in 57 kurzen Betrachtungen Einblicke darüber gibt, wie und wo sich Medizin und Literatur in seinem Leben und seiner Arbeit kreuzen. Zwei Texte im zweiten Teil des Bandes gehen dann ihrerseits zum einen auf Wincklers intermediales œuvre ein (Maximilian Gröne) und hinterfragen andererseits, welche Rolle evolutionäre Theorien in Wincklers Werk spielen (Marc Lapprand). Aber auch Wincklers Text selbst schlägt weitere Bögen, so zum Beispiel, wenn er vehement verneint, dass man Louis-Ferdinand Céline als „un des plus grands écrivains français du vingtième siècle“ betrachten könnte (81). Winckler vertieft dies nicht weiter, aber ein feinsinniger Text von Jutta Weiser im dritten Teil des Bandes belegt sehr aufschlussreich, dass man die Thematik der Medizin in Céline nicht auf Voyage au bout de la nuit reduzieren kann. Im Zentrum der Analyse steht die ouverture von Mort à Crédit und die Frage, wie Céline die Kategorien von ‚médecin‘ und ‚malade‘ destabilisiert. Für Weiser tritt in Mort à 1 Anne Whitehead / Angela Woods et al. (ed.), The Edinburgh Companion to the Critical Medical Humanities, Edinburgh, Edinburgh University Press, 2016. 138 DOI 10.2357/ ldm-2020-0015 Comptes rendus crédit der Autor als „médecin malade“ hervor, dessen Schreiben selbst als Symptomatik zu verstehen ist. In Weisers treffenden Worten, „il en résulte une poétologie médico-littéraire au début du roman qui rompt avec les formes traditionnelles du roman ainsi qu’avec les genres médicaux en subvertissant le langage documentaire“ (265). Die Thematik des „médecin malade“ durchzieht mehrere Aufsätze des Bandes - Danou zitiert René Allendys Journal d’un médecin malade (six mois de lutte contre la mort) und in Julia Prölls Aufsatz kommt auch Georges Canguilhems „dédoublement“, die imaginäre Fähigkeit des Arztes, sich in die Rolle des Patienten zu begeben, zum Tragen (347). Was bei Canguilhem ein theoretisches Attribut des guten Arztes ist, wird beim französischen médecin-écrivain Jean Reverzy Teil seiner realen Vulnerabilität. So hat Reverzy auf eindrückliche Weise die unglaubliche „fatigue“, aber auch die existentielle Einsamkeit des Arztes beschrieben. In Gérard Danous hervorragendem Text über Reverzy widmet er sich jedoch hauptsächlich der Thematik des sterbenden Arztes in Reverzys Place des Angoisses (1956). Wie Danou schreibt, „il y a un mythe du médecin. Un médecin n’est jamais malade. Un médecin ne meurt jamais. […] Alors quand un médecin meurt, le public est soudain frappé de stupeur en réalisant qu’il n’était pas exempté du sort commun“ (184). Es ist nicht unwichtig, dass ich diese Besprechung in Zeiten von Corona schreibe, einer globalen Gesundheitskrise, derer man sich unter anderem auch dann erst bewusst wurde, als die Neuigkeit um die Welt ging, dass der junge chinesische Arzt Li Wenliang, der als erster vor der Lungenkrankheit gewarnt hatte, ihr selbst erlegen war. Das Bild des sterbenden Arztes erschütterte die Welt, weil, wie Danou bemerkt, der Arzt schon immer eine idealisierte, mythische Rolle gespielt hat. Danou zitiert Reverzys treffende Bemerkung hierzu: „la mort des médecins, [dit-elle], é[tait] plus triste que celle des autres hommes“ (184). Natürlich sind Ärzte nicht unsterblich, und doch bleibt es erschütternd, wenn der Arzt, Hoffnungsträger des Kranken, sich als sterblich entpuppt. Um die Entmythifizierung der Medizin im weitesten Sinne geht es auch in Yasmin Temellis Text über Antoine Sénanque. Zum einen verfügt Frankreich über ein weltweit führendes Gesundheitssystem (siehe Rapport sur la santé dans le monde, WHO , 2000, 270). Zum anderen aber ist - und auch das hat die Corona-Krise erneut hervorgehoben - seit längerem klar, dass sich dieses System auf Systemträgern aufbaut, die selbst drohen, an den Folgen der Sparpolitik, der Bürokratie, Überarbeitung und Unterbezahlung zu zerbrechen. Sénanque, ursprünglich Neurologe, erfasst in seinen Texten Blouse (2004) und La grande garde (2007), wie das Praktizieren der Medizin schrittweise seine idealisierte Vorstellung des Arztberufs zerstört hat. Wie Temelli so treffend schreibt, legt uns Sénanque eine „Biopsie“ der Medizin vor (276), in der auch sprachlich ein medizinischer Jargon dominiert, der nie erklärt wird und dadurch schlussendlich den Leser - sowie den Patienten - ausschließt. Temellis Überlegungen zur Rolle der medizinischen Sprache korrespondieren dadurch auch mit Philippe Becks Text über den belgischen médecin-écrivain Max Deauville (1881- DOI 10.2357/ ldm-2020-0015 139 Comptes rendus 1966). Denn anders als Sénanque verzichtet Deauville gänzlich auf das ihm vertraute medizinische Vokabular (229). „On pourrait dire que l’écrivain n’a pas les mêmes préoccupations que le médecin“ (230), schließt Beck daraus für Deauville. Die Frage des Auseinanderhaltens der zwei Sphären Literatur und Medizin tritt auch im Text von Martina Diaz Cornide und Alexandre Wenger über Henri Mondor und die Revue Art et Médecine zu Tage. In Bezug auf die Figur des poète-médecin zeichnet sich ein komplexeres Zusammenspiel ab: „le cas de Mondor semble emblématique d’un être au monde relevant à la fois de la médecine et de la littérature - le et ayant ici une valeur dont le résultat dépasse la simple addition mathématique“ (115). Bei Sénanque ergibt sich ein ähnliches Bild, da es für ihn nur im Schreiben die Möglichkeit zur Reflexivität gibt. Schreiben versteht Sénanque demnach als ein, wenngleich auch nicht katharsis-versprechendes, „outil de résistance“ (281) zur Medizin. Jedoch ist dieses Schreiben, wie Temelli vermerkt, immer in Kontakt mit der medizinischen Perspektive und dadurch in einem „dialogue permanent avec l’angoisse, l’impuissance et les erreurs commises“ (282). Thematisch findet der Sammelband seinen Höhepunkt zweifelsohne in der Sektion IV , welche sich mit interkulturellen Kontakten und Konflikten auseinandersetzt. Von Haiti, Senegal, Benin bis hin zur Türkei geht es hier darum, westliche Perspektiven auf den Topos des schreibenden Arztes aufzubrechen. Dieser Teil des Bandes destabilisiert jedoch weit mehr als geographische, politische und kulturelle Perspektiven. Hans-Jürgen Lüsebrinks Aufsatz über Birago Diops fünfbändige Mémoires (1979-1986) - das umfangreichste autobiographische Werk im subsaharischen Afrika auf französisch - beschäftigt sich im Gegensatz zu allen anderen médecinsécrivains des Bandes mit einem vétérinaire-écrivain. Diops Mémoires sind eine Chronik, die Diops Nähe zu Figuren wie Léopold Sédar Senghor oder Aimé Césaire beschreiben, und auch Einblicke über seine Studienzeiten in Frankreich vor dem zweiten Weltkrieg, aber auch unter der Okkupation geben. Diop hebt sich so zweifellos als ein „témoin de l’histoire africaine coloniale et postcoloniale de tout premier plan“ (301) hervor. Jedoch, so Lüsebrink, und das scheint gerade in einem Band über die médecins-écrivains eine wichtige Anmerkung zu sein, beschränken sich Diops Mémoires weitgehend auf das „niveau de l’événementiel et n’atteignent que très rarement une dimension réflexive“ (302). Diop beschreibt zwar gelegentlich das Praktizieren seines Berufs, aber, so Lüsebrink, nur wenn man den minutiösen Mémoires die weitaus bekannteren Contes und deren 43 Fabeltiere entgegenstellt, kann man die „position de vétérinaire-écrivain africain“ klar erkennen (306). Ausgehend von Réparer les vivants, Maylis de Kerangals Text über eine Herztransplantation, befasst sich Julia Pröll auch damit, welche Bedeutung eng scheinenden medizinischen Topoi im Spannungsfeld der zeitgenössischen frankophonen Literatur zukommt. Dies wird methodologisch vom Konzept der ‚Métaspora‘ begleitet, welches Pröll erlaubt, die Bedeutung der Transplantation bei französischen médecins-écrivains mit der von frankophonen médecins-écrivains zu vergleichen. Im Neologismus ‚Métaspora‘, auch Titel eines gleichnamigen Textes, versucht der quebeco-haitianische médecin-écrivain Joël des Rosiers, durch das Ersetzen des 140 DOI 10.2357/ ldm-2020-0015 Comptes rendus Präfixes ‚dia‘ durch ‚meta‘ den Zustand zu erfassen, in welchem es den fixen Referenzpunkt der Heimat nicht mehr gibt. An seine Stelle tritt die Dispersion von verschiedenen Ursprüngen, die in einander übergehen und sich schlussendlich verwachsen. Dieses Bild beschreibt auch den Bezug von Literatur und Medizin, den Des Rosiers entwirft (329). Die Relevanz dieser sich entwickelnden und sich verwachsenden Beziehung macht Pröll in einer tour de force an verschiedenen Texten von französischen und frankophonen médecins-écrivains fest. Der Topos der Transplantation wird dadurch neu positioniert; seine medizinischen Ursprünge verflüchtigen sich allmählich. Vielmehr, so Pröll, wird die „greffe“ zu einer „figure de pensée“, die signalisiert, wie begrenzend Dichotomien an sich sind (346). ‚Métaspora‘ wird zur ingeniösen Grundlage, die das Ende der Suche nach Ursprüngen in der zeitgenössischen französischsprachigen Literatur andeutet. Das erlaubt einen neuen Blick auf Begriffe wie ‚Heimat‘, ‚Kultur‘, ‚Identität‘, aber auch den Organspender und Organempfänger, sowie den médecin-écrivain selbst, denn all diesen Konzepten haftet die Suche nach Ursprüngen stark an. In seinem Nachwort kehrt Hans-Jürgen Lüsebrink wieder zu den konzeptuellen Fundamenten des Sammelbandes zurück und hinterfragt den binären Begriff des médecin-écrivain vor seinem ideengeschichtlichen und philologischen Hintergrund. Im Zusammenhang mit Foucault, Canguilhem, Deleuze und Guattari, die Lüsebrink nennt, fragt man sich, warum der Begriff des médecin-écrivain nicht auch mit dem des médecin-philosophe verglichen wird, der bis auf Galenos von Pergamon zurückgeht (interessant wäre es auch zu hinterfragen, inwiefern diese Konzepte in anderen Sprachen und Kulturen existieren). Lüsebrink positioniert die „prise de parole de médecins-écrivains“ als Reaktion oder Kompensation „à la parole largement absente (ou lacunaire) du patient et à la communication fortement structurée et codifiée, au sein de la médecine clinique moderne née au début du 19e siècle, entre le médecin et son interlocuteur malade“ (373). Dies ist zweifellos der Fall für viele médecinsécrivains vor dem zweiten Weltkrieg. Jedoch hat der Aufstieg der Bioethik und der Respekt für die Autonomie des Patienten sowie der Fokus auf Erzählungen von Patienten in der narrative medicine dazu geführt, dass Patientenperspektiven - auch literarisch - oft im Vordergrund standen. Die Stimmen der Ärzte jedoch, und das zeigen einige der Aufsätze im Band sehr schön, wurden durch die Ökonomisierung und Bürokratisierung der Gesundheitssysteme zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Der vorliegende Sammelband macht jedoch anschaulich klar, dass die médecins-écrivains alles andere als verstummt sind. Anna Magdalena Elsner (Zürich) ------------------