lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0035
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2020
45178-179
Albert Camus’ nach wie vor aktuelle politische Alternative zu den Ideologien des Kalten Krieges
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2020
Rodion Ebbighausen
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210 DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 Arts & Lettres Rodion Ebbighausen Albert Camus’ nach wie vor aktuelle politische Alternative zu den Ideologien des Kalten Krieges Bis in die Gegenwart steht Camus’ Essay Der Mensch in der Revolte in dem Ruf, sowohl philosophisch als auch politisch ein unausgegorener Fehlschlag zu sein. Insbesondere Camus’ Kritik am Marxismus hat ihm die Schelte seiner Kritiker eingetragen. Dabei lässt sich zeigen, dass die ursprüngliche und bis heute nachwirkende Kritik auf einer Verzerrung basiert, die zu großen Teilen dem ideologischen Lagerdenken des Kalten Krieges geschuldet ist. Camus trat weder für das atlantische Bündnis noch für den Ostblock ein (in der Logik des Kalten Kriegs hat 1989 das atlantische über den Ostblock gesiegt), sondern für eine menschlichere Haltung des Maßes und der Bescheidenheit. Camus’ politische Alternative zeichnete sich durch größtmögliche Distanz zu Ideologien und eine Hinwendung zu konkreten Fragen aus, deren Beantwortung Freiheit und Gerechtigkeit (Solidarität) gleichermaßen berücksichtigt. Das macht die ungebrochene Aktualität seines Denkens aus. Ein folgenschwerer Verriss Der Mensch in der Revolte ist Camus’ meistgescholtenes Buch. So es gab zwar unmittelbar nach Erscheinen einige anerkennende Besprechungen (Todd 2001: 600-603, Yadel 2009: 19) und zustimmende Zuschriften - etwa von Hannah Arendt (Todd 2001: 605) -, doch schon bald verfasste Francis Jeanson in Les Temps Modernes eine vernichtende Kritik, in der er Der Mensch in der Revolte als ein „misslungenes großes Buch bezeichnete“ (1952: 82), anders gesagt als einen überambitionierten Fehlschlag. Die Kritik unter der Schlagzeile Albert Camus oder die revoltierende Seele, die in ihrer ersten Fassung noch viel schärfer gewesen sein soll (Lévy 2000: 396), führte schlussendlich zum Bruch zwischen Camus und Sartre bzw. dem Sartre-Kreis. Die Kritik von Jeanson und anderen linken Intellektuellen hatte zwei Stoßrichtungen. Zum ersten eine fachphilosophisch-intellektuelle, zum zweiten eine politische. Auf der philosophischen Ebene wurde Camus vorgeworfen, er habe es in Der Mensch in der Revolte an philosophischer Sorgfalt vermissen lassen und die von ihm kritisierten Denker, insbesondere Hegel und Marx, entweder nicht richtig verstanden oder zumindest so verkürzt wiedergegeben, dass es sich eher um die Kritik einer Karikatur als um eine redliche Auseinandersetzung gehandelt habe. Auch seine eigenen Ideen, die Camus vor allem in der Einleitung und im Schlusskapitel formuliert hatte, seien unklar, naiv, moralisierend und letztlich unbrauchbar (Schlette 1995: 34). Sartre warf Camus in Les Temps Modernes „philosophische Inkompetenz“ vor (1982: 34). DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 211 Arts & Lettres Auf der politischen Ebene lautete der Vorwurf, Camus habe die linke Sache verraten und damit dem bürgerlich-konservativen, wenn nicht gar reaktionären Lager in die Hände gespielt (ibid.: 34sq.). Camus, so Jeanson, sei unfähig, von der metaphysischen zur historischen Revolte und damit zur geschichtlichen Wirksamkeit überzugehen (Todd 2001: 606). Seine Ideen seien, politisch gesehen, eine Totgeburt. Bezüglich der politischen Kritik war Camus gewarnt. Sein Lehrer Jean Grenier, der mit Über den Geist der Orthodoxie ein in vielerlei Hinsicht ähnliches Buch veröffentlicht hatte (Radisch 2013: 239sq., Yadel 2009: 38sqq.), sagte nach der Lektüre des Manuskripts von Der Mensch in der Revolte sogar, dass es auf der reaktionären Linie von Charles Maurras, einem eindeutig rechten politischen Publizisten, läge. Camus soll entgegnet haben: „Macht nichts […] man muss sagen, was man sagen will“ (zitiert nach Todd 2001: 587sq.). Die Heftigkeit der philosophisch-intellektuellen Kritik überraschte Camus jedoch offensichtlich. 1 In seiner Antwort auf Jeanson beklagte er, dass sich dieser mit dem zentralen philosophischen Thema seines Buches gar nicht auseinandergesetzt habe: nämlich der „Definition einer Grenze, die durch die Bewegung der Revolte ans Licht gebracht wird“ (Sartre 1982: 11). Jeansons aggressive Kritik und der darauffolgende persönlich verletzende Schlagabtausch zwischen Camus und Sartre haben die Rezeption von Der Mensch in der Revolte bis heute verzerrt. Noch 2008 veröffentlicht der britisch-amerikanische Historiker Tony Judt einen Essay, der in Ton und Stoßrichtung der Debatte der frühen 1950er Jahre folgt: „Camus’ naive, fast schon dilettantische Betrachtungen trugen ihm eine bissige Abfuhr von Sartre ein, die seine Glaubwürdigkeit unter linken Intellektuellen deutlich beschädigte und sein Selbstvertrauen nachhaltig untergrub“ (2014: 103). Judt lehnt in seinem Text zwar Camus’ theoretisches Hauptwerk als ungenügend ab, lobt aber sein literarisches Schaffen fast schon hymnisch. Ein Muster, das in der Auseinandersetzung mit Camus oft begegnet: großer Schriftsteller, schlechter Philosoph (cf. Sartre 1982: 32, 34). Die Verzerrung basiert darauf, dass das Lagerdenken des Kalten Krieges, der 1951 bereits voll im Gange war, jede Auseinandersetzung über politische Philosophie in kürzester Zeit zu einer ideologischen machte. Die Debatte um Camus’ Der Mensch in der Revolte ist dafür ein Paradebeispiel. Wenige haben das so früh erkannt wie Raymond Aron. Er stellte fest, dass es beim Streit zwischen Camus und Sartre in erster Linie um Politik und erst dann - wenn überhaupt - um Philosophie ging: „Wo ist die Meinungsverschiedenheit? Volkstümlich ausgedrückt, würde die Antwort lauten: In letzter Instanz würde sich Camus eher für den Westen, Sartre eher für den Osten entscheiden“ (1957: 72). Freilich würde Sartre sich aber nur unter der Bedingung für den Osten entscheiden, dass er im Westen lebt, wie Aron ironisch anmerkt. Auch Camus’ Buch ist von dieser politischen Verzerrung über weite Strecken betroffen. Dass er kurzzeitig sogar geplant hatte, gemeinsam mit Orwell, Gide, Silone 212 DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 Arts & Lettres und Koestler ein Buch mit dem Titel The God that failed - gemeint ist der Kommunismus - zu schreiben, deutet an, in welchem Kontext Camus Der Mensch in der Revolte geschrieben hat (cf. Todd 2001: 581). Allerdings argumentiert Camus nicht als Vertreter einer der beiden großen Lager des Kalten Krieges, sondern als Anhänger eines ‚dritten Weges‘. Jeanson und Sartre irren also, wenn sie Camus zum Unterstützer der reaktionären Sache machen. Von diesem dritten Standpunkt aus kritisiert Camus Marxismus und Kommunismus, aber auch Hegel und Kapitalismus. In der weiteren Analyse rückt vor allem Marx in den Fokus, da Camus traditionell dem linken politischen Lager zugeordnet wird und die schärfsten Attacken aus dem Lager der Linken gegen ihn geführt wurden. Camus’ Kritik am Marxismus ist freilich schon lange vor dem Kalten Krieg nachweisbar, denn sein Verhältnis zum Marxismus war immer schon zwiespältig. Camus’ zwiespältiges Verhältnis zu Marx Camus trat als 23-jähriger auf Anraten Jean Greniers der Kommunistischen Partei Algeriens ( PCA ) bei; allerdings mit Skepsis, wie ein Brief an seinen Lehrer belegt: Ich gestehe Ihnen, dass die Partei eine große Anziehungskraft auf mich ausübt und ich entschlossen war, diese Erfahrung zu machen. Es ist besser, meine Vorbehalte gegenüber dem Kommunismus in der Praxis zu durchleben. Die Ziele der Partei werde ich dann besser verstehen und ihre Argumente besser bewerten können. Ich denke viel darüber nach und bin bis jetzt der Meinung, dass die Übertreibungen des Kommunismus auf einer gewissen Anzahl von Missverständnissen beruhen, die ohne Weiteres ausgeräumt werden können. Auch unterscheidet sich der Kommunismus manchmal von den Kommunisten. Das Fehlen eines religiösen Sinnes hielt mich - wie andere übrigens auch - lange Zeit vom Kommunismus ab, ebenso wie die Anmaßung der Marxisten, eine Moral herauszubilden, bei welcher der Mensch sich selbst genug ist (Camus/ Grenier 2013: 34). Bereits 1935 formuliert Camus also zwei grundsätzliche Einwände, die später auch Eingang in Der Mensch in der Revolte finden. Der erste Einwand gegen den Marxismus bzw. Kommunismus: Das Fehlen eines ,religiösen Sinnes‘, was nicht wörtlich verstanden werden darf, sondern einen transzendenten Wert meint. 2 Der zweite Einwand, der mit dem ersten zusammenhängt: Die menschliche Hybris, in einer Welt ohne Transzendenz alle Werte selbst setzen zu wollen. Wie unter diesen Voraussetzungen nicht anders zu erwarten, kommt es keine zwei Jahre später zum Bruch zwischen Camus und der Partei. Camus, der sich für die einheimischen Algerier einsetzt und gegen den Willen der Parteioberen den Kontakt zur anti-kolonialen „Partei des Algerischen Volkes“ ( PPA ) hält, wird aus Sicht der Partei untragbar. Der aufstrebende Intellektuelle weigert sich, sich der Maxime zu beugen, nach der zuerst die kommunistische Bewegung, das heißt die Partei, und dann die Partikularinteressen der Algerier kommen. Die Parteiführung meldet in einem Bericht nach Paris: „Es mussten einige trotzkistische Lockspitzel, wie Camus DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 213 Arts & Lettres […], entfernt werden, die eine systematische Verleumdungskampagne gegen die Führung des PCF und seine politische Linie vorbereiten […]“ (zitiert nach Todd: 2001). Camus, der von den Differenzen wusste, hätte zurücktreten können, ließ sich aber ausschließen. Er notierte im Tagebuch: „Die Menschen, die eine Größe in sich haben, beschäftigen sich nicht mit Politik“ (TB I: 78). In der Auseinandersetzung mit der Kommunistischen Partei tritt neben den beiden oben genannten Einwänden noch eine grundsätzliche Haltung Camus’ zu Politik und Philosophie, ja zum Leben insgesamt zutage. Er weigert sich, zur Erreichung bestimmter Ziele taktisch vorzugehen. „Camus verlangt Kohärenz im Leben eines Menschen, die Übereinstimmung von Denken und Handeln.“ (Todd 2001: 597). An keiner Stelle seines Werkes wird das deutlicher formuliert als in den Eröffnungssätzen von Der Mythos des Sisyphos: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten“ (MS: 15). Camus stellt diesen Anspruch auch an die eigene Philosophie. Das Verlangen nach Kohärenz bedeutet aber nicht nur, dass es eine Übereinstimmung von Denken und Handeln geben soll, sondern auch, dass jeder Denker Verantwortung für seine Gedanken übernehmen muss, und zwar im Hier und Jetzt, nicht erst in der ungewissen Zukunft. Nach der kurzen kommunistischen Episode in Camus’ Jugend findet sich in seinem Werk lange Zeit keine Auseinandersetzung mehr mit Marx oder dem Marxismus. Der gesamte Zyklus des Absurden (Der Mythos von Sisyphos, Der Fremde, Das Missverständnis, Caligula) ist weitgehend frei von politischer Philosophie. 3 Zwischen Revolte und Revolution Erst der Zweite Weltkrieg und insbesondere die Besatzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht zwingen Camus erneut zur Positionierung, wobei seine Wahlheimat die Résistance und nicht die Kommunistische Partei ist. 4 Ein Zitat aus der Résistancezeitung Combat vom 19. September 1944 markiert den für Camus wichtigen Unterschied und benennt zugleich eine wichtige Unterscheidung, die in Der Mensch in der Revolte aufgegriffen wird: Die Revolution ist nicht mit der Revolte gleichzusetzen. Was die Résistance über viele Jahre hinweg getragen hat, ist die Revolte. Das heißt: die vollständige, hartnäckige, zu Beginn fast blinde Verweigerung gegenüber einer Ordnung, welche die Menschen in die Knie zwingen wollte. Die Revolte kommt zuallererst aus dem Herzen. Doch Camus ist nicht naiv. Er weiß, dass der Kampf nicht allein im Herzen entschieden wird. Er fügt im gleichen Artikel hinzu: „Aber es kommt die Zeit, in der sie [die Revolte] auch in den Geist eindringt, in der das Gefühl zur Idee wird, der spontane Elan in die gemeinsame Aktion umschlägt. Das ist der Moment der Revolution“ ( Camus 2014: 147 ). 214 DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 Arts & Lettres Wenn die Revolte notwendig in die Revolution umschlagen muss, wird der revoltierende Mensch früher oder später mit der Frage konfrontiert, welchem revolutionären Lager, welcher Politik oder Partei er sich anschließen will. Für Camus war unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs klar, dass er sich weder dem atlantischen Lager und den USA würde anschließen können noch dem kommunistischen und der UdSSR . Er votierte für einen dritten Weg, der in vielerlei Hinsicht dem anarcho-syndikalistischen Sozialismus nahesteht (cf. Marin 1998, Wernicke 2009). Seine Kritik am Marxismus/ Kommunismus hat Camus bereits unmittelbar nach dem Krieg geäußert. Fünf Jahre vor Erscheinen von Der Mensch in der Revolte veröffentlichte Camus im Combat eine neunteilige Artikelserie (ab dem 19. November 1946), die später unter dem Titel Weder Opfer noch Henker herausgegeben wurde und zentrale Gedanken seines philosophischen Hauptwerks vorwegnimmt. Er kritisiert im Eröffnungstext, dass „der lange Dialog zwischen den Menschen“ abgerissen ist, weil die Zeitgenossen in der Abstraktion leben und sich nur noch als Vertreter einer Ideologie verstehen. Das 20. Jahrhundert „ist das Jahrhundert der Angst“ (Camus 2014: 163). Das Lagerdenken verbietet jede Kritik: „Ihr dürft nicht von den Säuberungsaktionen unter den Künstlern Russlands sprechen, da dies der Reaktion zugute käme“, sagt das eine Lager. „Ihr müsst verschweigen, dass Franco von den Angelsachsen unterstützt wird, weil das dem Kommunismus zugute käme“, sagt das andere (ibid.: 164). Camus weigert sich, bei diesem Spiel mitzumachen. Im letzten Artikel der Serie (30. November 1946) schreibt er: Ja, was man heute bekämpfen muss, ist die Angst und das Schweigen und die damit verbundene Entzweiung der Gemüter und der Herzen. Was man verteidigen muss, sind der Dialog und die weltweite Kommunikation zwischen den Menschen. Abhängigkeit, Ungerechtigkeit und Lüge sind Geißeln, welche diese Kommunikation unterbrechen und diesen Dialog verstummen lassen. Deshalb müssen wir sie ablehnen. Aber diese Geißeln bilden heute den eigentlichen Gegenstand der Geschichte, und mithin betrachten viele Menschen sie als notwendige Übel. Es stimmt zudem, dass wir der Geschichte nicht entkommen können, da wir ja bis zum Hals darin stecken. Aber man kann danach streben, in der Geschichte zu kämpfen, um jene Seite des Menschen zu bewahren, die ihr nicht angehört. Das ist alles, was ich sagen wollte (ibid.: 184, Herv. R. E.). Marx und der Marxismus in Der Mensch in der Revolte Die Artikelserie enthält bereits im Kern, worum es Camus in Der Mensch in der Revolte geht: den dritten Weg, der der Grenze, die die Revolte aufzeigt, treu bleibt. Es geht um eine Antwort auf den Wunsch des Menschen nach Einheit, ohne eine Totalität zu setzen. Es geht darum, das zu bewahren, was am Menschen nicht Geschichte ist, ohne die Geschichte zu verleugnen. Das alles ist nur möglich, wenn der Mensch eine gewisse Spannung aufrechterhält, die die Revolte in ihrem Ursprung setzt. Um seine Position darzulegen, widmet Camus den Großteil seines philosophischen Hauptwerks (Teil II und III) den Abwegen der Revolte oder, wie es Martina DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 215 Arts & Lettres Yadel treffend ausgedrückt hat, der „Pathologie der Revolte“ (2009: 29). In gewissem Sinne erläutert Camus, was er unter der Revolte versteht, indem er darlegt, was sie nicht ist bzw. wo und in welchen Fällen sie ihre natürliche Grenze überschreitet. Das Vorgehen ex negativo liegt nach Camus in der Natur der Sache, denn sein Ausgangspunkt, die evidente Erfahrung des Absurden, bietet zuerst keine Antworten (cf. TB I: 259). Die Antworten formuliert der Mensch und diese sind darauf zu prüfen, ob sie die evidente Erfahrung verleugnen oder nicht. Im Rahmen der Pathologie nimmt die Analyse von Marx bzw. des Marxismus viel Raum ein. Angesichts der Bedeutung, die dem Marxismus bzw. Kommunismus in der bipolaren Welt des Kalten Krieges zukommt, ist das nicht erstaunlich. Zuerst ist festzuhalten, dass Camus der Analyse von Marx grundsätzlich zustimmt. Das gilt auch für die zugrunde liegende ethische Forderung nach der Würde der Arbeit und der Gerechtigkeit (cf. MR: 273sq.). Sodann sollte man die Einschränkungen, die Camus seiner Analyse vorausschickt, ernst nehmen. Zum ersten die leitende Fragestellung bzw. Einschränkung des gesamten Essays: „Es ist das Anliegen dieses Essays, einmal mehr die Realität von heute: das Verbrechen aus logischer Überlegung anzuerkennen und seine Rechtfertigungen zu prüfen; dies ist ein Versuch, meine Zeit zu verstehen“ (MR: 13sq.; Herv. R. E.). 5 Camus interessiert also, wie seine Zeitgenossen Marx’ Philosophie in gesellschaftlichen Debatten und der Politik nutzen, und weniger der historische Marx und sein Werk. Und zum zweiten die speziell auf Marx bezogene Einschränkung: „Der Marxismus und seine Erben werden hier nur unter dem Gesichtspunkt der Prophezeiung untersucht werden.“ (MR: 28; Herv. R. E.) Prophezeiung ist hier säkular zu verstehen und meint das Versprechen des Marxismus, die Menschheit in einer fernen Zukunft zu erlösen (cf. Schlette 1995: 52). Marx’ Prophezeiung steht nach Camus’ Überzeugung am Ende einer langen Entwicklung, die mit der Aufklärungsphilosophie ihren Anfang nimmt (cf. MR: 262). Diese Entwicklung beschreibt Camus im Abschnitt „Die historische Revolte“ als eine sich immer stärker radikalisierende Spiralbewegung, die sich mit jeder Umdrehung weiter vom Ursprung der Revolte entfernt und wie folgt entfaltet: Nachdem die metaphysische Revolte Gott und jede andere vertikale Transzendenz beseitigt hat, etabliert Hegel die „Vision einer Geschichte ohne Transzendenz“ (MR 182). Das bedeutet nach Camus, dass Hegel den Wert an das Ende der Geschichte verlegt und eine totale Dynamisierung etabliert (cf. MR: 191). Marx greift dann Hegel auf und ersetzt den Geist durch die Materie: „Die Dialektik wird unter dem Gesichtspunkt der Produktion und der Arbeit betrachtet, statt unter demjenigen des Geistes“ (MR: 259). Marx ist radikaler als Hegel, insofern er die Transzendenz der Vernunft zerstört und diese allein in die Geschichte verlegt (cf. MR: 262). Die Wirksamkeit in der Geschichte wird damit zum einzigen Maßstab; anders gesagt: Der Zweck heiligt die Mittel (cf. Ebbighausen 2013). Die Rechtfertigung dieser Formel wird von den Nachfolgern Marx’ (Netschajew, Lenin und letztlich Stalin) aus einer Prophezeiung geschöpft: 6 „Das goldene Zeitalter, das ans Ende der 216 DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 Arts & Lettres Geschichte verschoben ist und durch doppelte Anziehungskraft mit einer Apokalypse zusammenfällt, rechtfertigt demnach alles“ (MR: 272). Die doppelte Anziehungskraft meint zum einen die Attraktivität dieser Prophezeiung, zum anderen die von Marx geäußerte Vorstellung, dass die Geschichte naturgesetzlichen Regeln gehorcht - Camus klassifiziert den Marxismus als „historischen Determinismus“ (MR: 260) -, dass der Endzustand einer klassenlosen Gesellschaft also notwendig und unausweichlich kommen wird. Marx hat nach Camus damit den Historismus bis zum Äußersten getrieben. „Historismus nennt Camus eine Vision“, so Maurice Weyembergh, „in der es keine transhistorischen Werte mehr gibt, in der der Erfolg in der Geschichte den Wert einer Handlung bestimmt […]“ (2009: 93). Zwei totalitäre Systeme haben sich, so Camus, im 20. Jahrhundert aus dieser mit der Aufklärung begonnenen Dynamisierung entwickelt: der irrationale Terror des Nationalsozialismus und der rationale Terror des Stalinismus. 7 Im Grunde handelt es sich bei Camus’ Kritik an Hegel und an Marx in Der Mensch in der Revolte um eine Fundamentalkritik. Er lehnt die Methode der Dialektik ab, und zwar sowohl den dialektischen Idealismus Hegels als auch den dialektischen Materialismus von Marx. An erster Stelle der Kritik steht dabei die Dialektik von Herr und Knecht, oder in der Zuspitzung Camus’ die Dialektik von Opfer und Henker: „Die Welt von heute kann scheinbar nur noch eine Welt von Herren und Knechten sein, denn die zeitgenössischen Ideologien, diejenigen, die das Antlitz der Welt verändern, haben von Hegel gelernt, die Geschichte in Funktion der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft zu denken“ (MR: 183). Was Camus kritisiert, ist, dass die Methode der Dialektik sich durch das Fehlen eines festen Ausgangspunkts auszeichnet (cf. Pfeiffer 1969: 72-74). Die Dialektik weigert sich anzuerkennen, dass es fundamentale Evidenzen gibt; insbesondere der dialektische Materialismus verlegt die Evidenz vom Anfang an das Ende, an die Stelle einer ursprünglichen Einsicht tritt das Versprechen der Prophezeiung. Für die Anhänger des historischen Materialismus ist die Geschichte ein dynamischer Prozess, 8 aus dem sich schließlich mit naturgesetzlicher Gewissheit die Herrschaft des Kommunismus und damit das Ende der Klassenkämpfe ergebe. Camus wendet dagegen ein, dass es keinen Grund gibt anzunehmen, dass die Dynamik der Dialektik je zum Erliegen kommt, denn es fehlt ein festes Fundament: „Die richtig angewendete Dialektik kann und darf nicht aufhören“ (MR: 292). 9 Deswegen ist sie als „reine Bewegung, die alles zu verneinen strebt, was nicht sie ist“, nihilistisch (MR: 293). Demgegenüber verteidigt Camus, was er für evident hält, und zwar in einem cartesianischen Sinne (MR: 22): die Erfahrung des Absurden, die sich aus der Sehnsucht der menschlichen Existenz nach Einheit speist und die zur Revolte führt: „Die erste und einzige Gewissheit, die mir so im Innern der absurden Erfahrung gegeben ist, ist die Revolte“ (MR: 22). Aus der Bewegung der Revolte wiederum leitet Camus in Der Mensch in der Revolte Werte ab, „die transhistorisch sind, die menschliche Würde und Solidarität“ ( Weyembergh 2009: 100 ). Anders gesagt ergibt sich aus der Revolte die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit. DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 217 Arts & Lettres Einheit versus Totalität Heinz Robert Schlette hat Camus' Fundamentalkritik an Hegels und Marx’ Historismus anhand des Gegensatzes griechischer Kosmosvorstellung mit dem Akzent auf der „Welt als Natur“ versus jüdisch-christliche Betonung des Menschen bzw. der „Seele“ ausgearbeitet ( Schlette 1995: Kap. II, insbes. 47 ). Im Folgenden wird eine weitere Interpretation vorgeschlagen. Auch in diesem Fall weist Camus die Richtung. Zu Anfang des Abschnitts über die historische Revolte heißt es: „Aber ist die Ganzheit die Einheit? Das ist die Frage, die dieser Essay beantworten will“ (MR: 148). 10 Einheit ist ein Schlüsselbegriff des Camusschen Werks. 11 Im Mythos von Sisyphos heißt es: „Mein Gedankengang möchte der Evidenz, die ihn ausgelöst hat, treu bleiben. Diese Evidenz ist das Absurde. Es ist jene Entzweiung zwischen dem begehrenden Geist und der enttäuschenden Welt, es ist meine Sehnsucht nach Einheit, dieses zersplitterte Universum und der Widerspruch, der beide verbindet“ (MS: 62sq.; Herv. R. E.). Der Begriff der Einheit ist auch noch in Der Mensch in der Revolte zentral, wie die oben zitierte Frage vom Beginn des Abschnitts zur historischen Revolte und das folgende Zitat zeigen: „Es handelt sich [bei der Revolte] zur Hauptsache um eine unaufhörliche Forderung nach Einheit“ (MR: 118); Einheit ist die Sehnsucht oder „die wesentliche Triebkraft des menschlichen Dramas“ (MS: 29sq.). Sie kann sich in Naturerlebnissen und der Liebe (kurzzeitig) einstellen, wie Camus’ frühe Essays, insbesondere Hochzeit in Tipasa, belegen (cf. Camus 2000: 9sqq.) Freilich ist die Einheit jederzeit bedroht, denn ist das Absurde einmal aufgebrochen, lässt sich der Riss nie wieder dauerhaft schließen. Der Gegenbegriff, oder besser: das Surrogat zur Einheit ist die Totalität (cf. Klein 2009: 65). Die begriffliche Nähe zu ‚totalitär‘ und ‚Totalitarismus‘ ist dabei kein Zufall. Die Totalität ist eine künstlich erzwungene Einheit, die Hegel und insbesondere Marx mit ihrer „Prophezeiung“ (MR: 248sqq.) einführen. Der Kommunismus verspricht die menschliche Sehnsucht nach Einheit zu befriedigen, indem er behauptet, die klassenlose kommunistische Gesellschaft sei die Einheit. Um sie herzustellen, ist ihr jedes Mittel recht. „Die pseudorevolutionäre Mystifikation kann nun formuliert werden: man muss jede Freiheit töten, um das Reich zu erobern, und das Reich wird eines Tages die Freiheit sein. Der Weg zur Einheit geht also durch die Totalität“ (MR: 304). Doch Camus meldet Zweifel an: „Die Totalität ist nicht die Einheit“ (MR: 313). Das Wesen der Einheit ist, dass sie zwar in kurzen Momenten erlebt werden kann, aber, sobald die Entdeckung des Absurden den Menschen von seinen Illusionen befreit hat, eine dauerhafte Einkehr in das Gefühl der Einheit unmöglich ist. Die Spannung, die Widersprüchlichkeit des Absurden, die in der Revolte wiederkehrt, lehren nach Camus, dass die Wunde, die die Entdeckung des Absurden schlägt, niemals ganz abheilen kann. „Eine Philosophie des Absurden ist in der Tat in strengem Sinne pessimistisch: sie macht den Mangel - den Mangel an Einheit, Verstehbarkeit, Klarheit, den Mangel an Sinn - zum Prinzip der Weltauslegung, und zwar ohne die Aussicht darauf, dieser Mangel könnte je endgültig behoben werden“, schreibt Anne-Katrin 218 DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 Arts & Lettres Reif in ihrer Dissertation „Die Welt bietet nicht Wahrheiten sondern Liebesmöglichkeiten“. Zur Bedeutung der Liebe im Werk von Albert Camus (1999: 79). Das auszuhalten ist der Anspruch des revoltierenden Menschen, nur so bleibt er sich treu. „Die Redlichkeit besteht darin, sich auf diesem schwindelnden [sic! ] Grat zu halten; alles andere ist Ausflucht“ (MS: 63). Im Grunde vertritt Camus einen philosophisch bescheideneren Standpunkt als Marx (und auch als Hegel, Sartre und alle, die unter den Voraussetzungen der Dialektik an die Möglichkeit eines Endes der Geschichte glauben). Er glaubt nicht an eine endgültige Lösung und ist deswegen nicht bereit, die Gegenwart für die Prophezeiung zu opfern. In diesem Sinn rechtfertigt die Revolte in ihrer ursprünglichen Echtheit kein rein geschichtliches Denken. Die Forderung der Revolte ist die Einheit, die Forderung der geschichtlichen Revolution die Totalität. Die erstere geht von einem Nein aus, das sich auf ein Ja stützt, die letztere von der absoluten Verneinung und verurteilt sich zu jeder Knechtschaft, um ein Ja hervorzubringen, das an die Grenze der Zeiten hinausgeschoben ist. Die eine ist schöpferisch, die andere nihilistisch (MR: 326). In der Folge kennt der revoltierende Mensch nur ein „Denken in relativen Größen“ (MR: 385). Er weist den Totalitätsanspruch im Diesseits in die Schranken und begnügt sich damit, „den Schmerz der Welt mengenmäßig zu vermindern. Aber Leiden und Ungerechtigkeit werden bleiben und, wie begrenzt auch immer, nie aufhören, der Skandal zu sein“ (MR: 395). Der revoltierende Mensch erkennt das Gesetz des Maßes an. Die Kritik an Camus aus heutiger Sicht Der Sartre-Kreis konnte sich mit Camus’ Bescheidenheit nicht anfreunden. Ihrer Ansicht nach zeitigte sie eine „Wirkungslosigkeit des Denkens“ (Sartre 1982: 30). Camus wiederum konnte Merleau-Pontys Rechtfertigung einer „progressiven Gewalt“, die zur Durchsetzung der Revolution notwendig sei, wie dieser sie in seinem Buch Humanismus und Terror von 1947 formuliert hatte, und die Sartre und Jeanson teilten, nicht akzeptieren (Merleau-Ponty 1947: 39; cf. auch Wernicke 2009: 141). War die Kritik an Camus gerechtfertigt? Auf der philosophischen Ebene ist es sicher richtig, dass Camus’ Buch „sachliche und formale Schwächen“ (Schlette 1995: 36) hat, dass er sich im Detail nicht auf Höhe der hegelschen oder marxschen Theorie bewegt. „Dort wie hier erfasste Camus nicht das Ganze der jeweiligen Leistung“, schreibt Wolfgang Klein, der Camus’ Auseinandersetzung mit Hegel und Marx in einem Aufsatz bearbeitet hat (2009: 75). Allerdings stellt sich die Frage, was der ‚ganze Marx‘ sein soll. Marx hat keine einheitliche Theorie hinterlassen. Es gibt zwar Elemente, die eine „relative Eindeutigkeit besitzen“, wie der Soziologe und Marxforscher Bernd Ternes schreibt, DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 219 Arts & Lettres [d]och die meisten Elemente, ja Theoriemodule von Marx’ Werk teilen das Schicksal einer Erbmasse, für die es kein Testament gibt: es beginnt ein Streit der Erben darüber, was wem gehört, was wie viel wert ist und bedeutet, was schließlich vom Vererbenden wie gemeint war - und was auf keinen Fall zu seiner Hinterlassenschaft gehört (2008: 62). Die fehlende Abgeschlossenheit und theoretische Einheitlichkeit des marxschen Werkes machte es möglich, dass sich so unterschiedliche Bewegungen wie der Leninismus, Trotzkismus, Titoismus, Maoismus, Neomarxismus, die Sozialdemokratie und viele andere auf ihn berufen konnten (cf. Ternes 2008: 84sq.). Marx selbst erklärte angesichts der sich auf ihn berufenden unterschiedlichen Strömungen gegenüber Engels schon zu Lebzeiten: „Ich weiß nur dies, daß ich kein Marxist bin“ (Engels 1977: 69). Auffällig ist auch, dass die „eindeutigen Elemente“ der marxschen Philosophie, etwa die grundsätzliche Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit dem Ziel, ebendiese zu überwinden, sowie das klare Bekenntnis zur Industrialisierung, zum Rationalismus von Wissenschaft und Technik (cf. Ternes 2008: 84), um nur einige zu nennen, weder bei Camus noch im Sartre-Kreis eine große Rolle spielten. Zentrale Begriffe der marxschen Theorie wie zum Beispiel ‚Mehrwert‘, ‚Entfremdung‘, ‚Kapital‘ oder ‚Doppelcharakter‘ spielen in der Auseinandersetzung zwischen Camus und Sartre kaum eine Rolle. Im Grunde interessieren sich beide nämlich nicht für die ökonomische Seite der marxschen Philosophie. Todd schreibt bezüglich der Marx- Kenntnisse von Sartre und Camus: „Ein Mann wie Raymond Aron, ein geduldiger Marx-Leser, ist nach wie vor der Ansicht, dass Sartre und Camus in diesem Punkt gleichermaßen inkompetent sind“ ( 2001: 617 ). Weder Sartre noch Camus bemühen sich darum, Marx gerecht zu werden. Sie nehmen sich aus dem gewaltigen Steinbruch des marxschen Denkens, was ihnen in ihrer Gegenwart nützlich und relevant scheint, und ignorieren den Rest. Als écrivains unterwerfen sie sich nicht den Regeln der akademischen Philosophie (cf. Schlette 1995: 35). Jede diesbezügliche Kritik ist zwar zutreffend, läuft aus meiner Sicht aber ins Leere. Stattdessen muss Camus’ Gedankengang, der sich an Marx entzündet, in den Blick genommen werden. Das geschieht nur selten, wie zwei Beispiele der jüngeren Zeit belegen. Wolfgang Klein wirft Camus in seinem Aufsatz vor, mit seiner Philosophie der Einheit einen auf das Griechentum zurückgehenden anachronistischen, ja „naiven Traum von der Einheit“ zu verfolgen, der sich von den naiven Einheitsträumen des Ostblocks nicht wesentlich unterscheide (2009: 88). Klein verweist in seiner Argumentation auf die Postmoderne, die jeder Einheitshoffnung endgültig den Garaus gemacht habe. Doch Camus spricht von einer „Sehnsucht nach Einheit“ (MS: 62), die nicht dauerhaft erfüllt werden kann, und in der Folge von einem „Denken in relativen Größen“ (MR: 385). Mit anderen Worten, Camus vertritt gerade nicht die Ansicht, dass die Einheit möglich ist und endgültige Antworten gefunden werden können. Im Übrigen strebt Camus kein naives „Zurück zu den Griechen! “ an, sondern bringt eine zweite Renaissance ins Spiel (MR: 323). Die erste war ja auch keine schlichte Kopie der Antike, sondern eine Aktualisierung derselben. 220 DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 Arts & Lettres Bernard-Henri Lévy führt in seiner Sartre-Biografie aus dem Jahr 2000 ein anderes Argument gegen Camus ins Feld. Im Kapitel „Weshalb es trotzdem besser ist, mit Sartre zu irren, als mit Camus recht zu haben“, erklärt Lévy, dass Camus aus heutiger Sicht im Grunde einen fast vollständigen Sieg über Sartre davongetragen habe. Allerdings wirft er Camus eine allzu bejahende Grundhaltung vor. Lévy zitiert aus Der Mythos von Sisyphos: „Auch er findet, dass alles gut ist“ (Lévy 2000: 405, cf. MS: 144). Lévy leitet daraus ab, dass Camus letztlich für ein „Gefühl des Ja“ stehe, während Sartre ein „Gefühl des Nein“ repräsentiere (2000: 399; der Ausdruck „Gefühl des Nein“ geht zurück auf den Schriftsteller Julien Gracq). Nach Lévy aber sei nur das „Gefühl des Nein“ und „Sartres Philosophie der Kontingenz“ in der Lage, den „demokratischen Pakt“ zu bewahren, der nur auf einem „Antinaturalismus“ beruhen könne (ibid.: 405sq.). Camus’ „kontemplatives Politikverständnis“ (ibid.: 402) stehe letztlich der Demokratie entgegen. Doch Camus ist weder für ein „Gefühl des Ja“, noch für einen totalen Naturalismus. Der Mensch in der Revolte ist ein unermüdliches Plädoyer für die Spannung zwischen Ja und Nein. Es ist offensichtlich, dass Lévy in seiner Interpretation die Fortentwicklung des camusschen Denkens von Der Mythos des Sisyphos zu Der Mensch in der Revolte ignoriert. Camus, der sagt, dass die Geschichte nicht alles ist, käme niemals auf die Idee zu behaupten, dass die Natur alles ist. 12 Der dritte Weg Die kritische Auseinandersetzung mit Camus in den letzten 70 Jahren zeigt, wie schwierig es ist, sich auf dem schmalen Grat des Absurden zu halten und nicht in das Ja oder in das Nein zu stürzen. Das gilt nicht weniger für die politischen Ebene. Auch Camus’ dritter Weg ist eine wenig wahrscheinliche Option. Der vom anarcho-syndikalistischen Sozialismus inspirierte dritte Weg bezeichnet Camus' Bestreben, in der polarisierten politischen Landschaft des kalten Krieges eine Alternative aufzuzeigen. Diese Alternative formuliert er aber nicht programmatisch, denn jede Programmatik birgt den Keim der Ideologie in sich, sondern indem er Grenzen formuliert, die sich aus seiner Auffassung der Revolte und der Erfahrung des Absurden ergeben. Der Spannungsbogen der Revolte findet seine Grenze an seinen Extremen. Das eine Extrem ist die absolute Freiheit auf Kosten der Gerechtigkeit, das andere die absolute Gerechtigkeit auf Kosten der Freiheit. Wenn man Camus' Auffassung holzschnittartig zusammenfasst, stehen sich mit den politischen Ideologien des Kalten Krieges der Westen, Hegel und die absolute Freiheit bzw. der Osten, Marx und die absolute Gerechtigkeit gegenüber. Während die angebliche Freiheit des Westens die Würde der Arbeit und die Gerechtigkeit zerstört, zerstört die vermeintliche Gerechtigkeit des Ostens die Freiheit. „Die absolute Freiheit ist das Recht des Stärkeren zu herrschen. Die absolute Gerechtigkeit schreitet über die Unterdrückung jedes Widerspruchs: Sie zerstört die Freiheit“ (MR: 376). DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 221 Arts & Lettres Allerdings haben Freiheit und Gerechtigkeit nur dann einen antinomischen Charakter, wenn man sie absolut setzt. „Aber diese Antinomien bestehen nur im Absoluten. Sie setzen eine Welt und ein Denken ohne Mittler voraus" (MR: 376). Der Ausweg liegt nach Camus im Verzicht auf den Absolutheitsanspruch. „Die absolute Freiheit verhöhnt die Gerechtigkeit. Die absolute Gerechtigkeit leugnet die Freiheit. Um fruchtbar zu sein, müssen beide Begriffe sich gegenseitig begrenzen. Niemand hält sein Geschick für frei, wenn es nicht gleichzeitig gerecht ist, und nicht für gerecht, wenn es nicht frei ist“ (MR: 380). Eben das leistet eine Philosophie, die der Revolte treu bleibt und nur relative Antworten gibt. Dem dritten Weg und der damit verbundenen Metapher des „mittelmeerischen Denkens“ fehlt es in Der Mensch in der Revolte an konkreter Ausgestaltung. Aber in zahllosen Zeitschriftenartikeln, Vorträgen und Stellungnahmen hat Camus gezeigt, was dieser dritte Weg für ihn bedeutet. Einige Kernpunkte sollen im Folgenden herausgestellt werden: An erster Stelle wäre die Weigerung zu nennen, Gewalt zu rechtfertigen. Gewalt kann überhaupt nur als letztes Mittel in Betracht kommen, etwa wenn die Alternative ‚Töten oder Getötetwerden‘ lautet. Aber selbst dann bleibt sie zwiespältig, insofern die Gewalt den Wert bestreitet, den sie zu schützen versucht. Wer tötet, um in einer Zwangslage ein Leben zu retten, schützt und verstößt gleichzeitig gegen den Wert des Lebens, den er ja bejaht. Der Widerspruch ist unauflösbar und insofern ist Gewalt niemals zu rechtfertigen (cf. Ebbighausen 2013: 30-37). „Die Logik antwortet, daß Mord und Revolte widerspruchsvoll sind. Wenn ein einziger Mensch tatsächlich getötet wird, verliert der Revoltierende auf gewisse Weise das Recht, von der Gemeinschaft der Menschen zu sprechen, von der er indes seine Rechtfertigung ableitete“ (MR: 367). Zugleich ist Camus nicht so naiv zu glauben, dass eine Welt ohne Gewalt möglich ist: „Ich glaube, dass die Gewalt unvermeidlich ist. Die Jahre der [Nazi-]Besatzung haben mich das gelehrt. […] Ich sage lediglich, dass man sich jeder Legitimierung der Gewalt verweigern muss. Sie ist zugleich notwendig und nicht zu rechtfertigen“ (Camus 2013a: 83). Diese Überzeugung schließt für Camus während des Kalten Kriegs sowohl den Westen als auch den Osten aus. Der Westen rechtfertigt die Gewalt der Franco-Diktatur in Spanien aus realpolitischen Gründen - zur Verteidigung eben dieses Westens (cf. Camus 2013b: 181-186). Der Osten und die Anhänger des Kommunismus rechtfertigen die stalinistischen Lager als notwendiges Übel für den Aufbau einer in der Zukunft liegenden freien und gerechten Gesellschaft. Der letzte Punkt verweist auf eine zweite, wichtige Grenze des dritten Wegs: die Weigerung, die Gegenwart der Zukunft zu opfern, was darauf hinausläuft, die Auffassung abzulehnen, dass der Zweck die Mittel heilige. Denn der Terror ist nur zu rechtfertigen, wenn man den Grundsatz ,Der Zweck heiligt die Mittel‘ anerkennt. Und diesem Grundsatz kann nur beigepflichtet werden, wenn man die Wirksamkeit einer Handlung als absolutes Ziel setzt, wie es in den nihilistischen Ideologien der Fall ist (alles ist erlaubt, was zählt, ist allein der Erfolg) oder in den Philosophien, die die Geschichte zu einem Absolutum erheben [...] (Camus 2006: 129). 222 DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 Arts & Lettres Daraus folgt ganz praktisch, dass jede Politik immer auf ihre Wirkung im Hier und Jetzt hin zu prüfen ist. Die genannten Grundsätze werden lebendig in Camus’ politischem Engagement und seiner journalistischen Arbeit: Er hat sich zeit seines Lebens gegen die Todesstrafe ausgesprochen (Camus 1997a: 103-156), Kriegsdienstverweigerer unterstützt sowie Militarismus und Aufrüstung angeprangert (cf. Marin 2013: 95-106). 13 Er äußerte sich zum Arbeiteraufstand in der DDR 1953 und zum Ungarn-Aufstand 1956 (cf. Camus 1997a: 197-212, Marin 2013: 229-232, 249-254). Camus übte wiederholt scharfe Kritik an der Franco-Diktatur in Spanien und äußerte sich - glücklos - zu Algerien (Camus 1997a: 157-196). Die konkrete Handlung und die Prüfung des je aktuellen Einzelfalls standen für ihn im Vordergrund. Lou Marin hat gezeigt, in wie engem Austausch Camus mit Anarchisten und Libertären seinen dritten Weg diskutiert hat. Allerdings glaube ich im Unterschied zu Lou Marin, dass sich Camus auch den Anarchismus nicht auf die Fahne geschrieben hat. Auch wenn er am Schluss von Der Mensch in der Revolte den dem Anarchismus nahestehenden Syndikalismus explizit erwähnt (vgl. MR: 388), bleibt Camus auch dem Anarchismus gegenüber skeptisch, wie unter anderem seine Kritik an Bakunin zeigt (cf. MR: 205-218, Marin 2018: 149-153). Denn letztlich ist auch der Anarchismus nicht gegen eine ideologische Verhärtung gefeit. Camus ist nach seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Algeriens keiner politischen Partei mehr beigetreten und hat sich explizit keiner politischen Bewegung mehr angeschlossen. Camus politische Heimat ist die der Unentschiedenen, derjenigen, die das Recht aller verteidigen, Nein zu sagen. „Wenn es eine Partei derer gäbe, die sich nicht sicher sind, recht zu haben, dann wäre das die meine“ (zit. nach Marin 2013: 81). Die Wirksamkeit des dritten Weges Zum Schluss stellt sich noch die Frage der Wirksamkeit dieses dritten Weges, die sich Camus im Übrigen selbst stellt (cf. MR: 382). Für ihn ist der dritte Weg der einzig mögliche, denn beide anderen führen seiner Überzeugung nach in die Vernichtung. Auf der politischen Ebene ist der Sartre-Kreis mit dem Untergang des Ostblocks durch die Geschichte widerlegt. Der Westen steht aktuell vor einer enormen Zerreißprobe. Das alles beweist natürlich nicht die Richtigkeit von Camus’ drittem Weg. Vielleicht mangelt es diesem dritten Weg, wie Jeanson und Sartre bemängeln, tatsächlich an Durchsetzungskraft. Es ist nicht sehr attraktiv, den Menschen zu sagen, dass ihr Leid keinen Grund hat, dass nur relative Antworten und nur Teillösungen möglich sind, auch wenn sie dieses Schicksal - immerhin - solidarisch teilen. Camus’ Philosophie und die daraus folgende politische Haltung sind, wie Stefan Weidner schreibt, wahrscheinlich elitär und wenig geeignet, Mehrheiten zu mobilisieren (Weidner 2018: 180). Das Versprechen der klassenlosen Gesellschaft war diesbezüglich über viele Jahrzehnte ‚erfolgreicher‘ - zumindest solange die Herrschenden die solcherart ‚Beglückten‘ einsperren und kontrollieren konnten. DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 223 Arts & Lettres Auch das Freiheitsversprechen des Westens hatte und hat (noch) eine größere Anziehungskraft. Freilich hat sich das Freiheitsversprechen der Französischen Revolution in unserer Gegenwart in seiner neoliberalen Ausprägung längst verselbstständigt und die ursprünglich gleichberechtigten Ideen der Gleichheit und Brüderlichkeit an den Rand gedrängt (cf. ibid.: 40). Es ist bemerkenswert, dass das von Camus scharf kritisierte Schlagwort vom ‚Ende der Geschichte‘ in diesem Zusammenhang erneut Karriere gemacht hat. Anfang der 1990er Jahre verkündete der amerikanische Politologe Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, das mit dem Sieg des sogenannten Westens über den Ostblock gekommen sei. Unter Berufung auf Hegels Geschichtsphilosophie, die bei Fukuyama wie auch bei Sartre und Camus von Alexandre Kojève geprägt wurde, schrieb der Amerikaner (Radisch 2013: 241-242, Weidner 2018: 26): What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of post-war history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government (Fukuyama 1989). Was ist das anderes als die vermeintliche Erfüllung der Prophezeiung des Westens? Doch Fukuyama irrte nicht weniger als Marx. Die liberale Demokratie hat sich weltweit nicht durchgesetzt; stattdessen sind wir in das Zeitalter der neoliberalen Postdemokratien eingetreten (Crouch 2008). Der Nationalismus ist längst zurück und auf dem Vormarsch. Die Argumentation hat sich damit nur scheinbar weit von Camus entfernt. Denn Camus’ Fundamentalkritik greift im Fall Fukuyama ebenso wie im Fall Marx. Sie erinnert an die Grenze und mahnt zur Bescheidenheit. Camus hat ein untrügliches Gespür dafür, wenn Gedanken ihren eigenen Verfasser immer weiter emportragen bis der Kontakt zur Erde, das heißt der Evidenz, dass es eine Grenze gibt und sich der Mensch mit relativen Erfolgen zufrieden geben muss, verloren geht. Das ist oft anspruchsvoller als der vermeintlich große Entwurf, der alle Fragen mit einem Federstrich lösen will. Camus’ Denken ist nach wie vor aktuell, da es ein effektives Gegengift gegen letzte Antworten ist. Aron, Raymond, Opium für Intellektuelle. Oder die Sucht nach Weltanschauung, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1957. Camus, Albert, Essais, ed. 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Die horizontale ist eine Transzendenz innerhalb der Grenzen der Welt, die vertikale eine, die auf eine Instanz außerhalb angewiesen ist, wie zum Beispiel Gott (cf. dazu Yadel 2009: 27, Ebbighausen 2011: 24-25). 3 Zu den Zyklen cf. TB I, 480, TB II, 235sq. und Camus’ Äußerung in Stockholm, die Roger Quilliot mitteilt (Camus 1965, 1610). 4 Die aufgezwungene Rückkehr in die Politik, der Camus nach dem Rauswurf aus der Kommunistischen Partei den Rücken gekehrt hatte, fiel Camus nicht leicht, wie die Briefe an einen deutschen Freund belegen (cf. Camus 1997: 7-32). 5 In der Antwort auf Jeanson wird Camus noch deutlicher: Sein Buch habe „die Revolte und den Terror in unserer Zeit zum ausschließlichen Gegenstand“ (Sartre 1982: 10). 6 Allerdings muss erwähnt werden, dass Camus Stalin und den Stalinismus in Der Mensch in der Revolte nur am Rande behandelt, was erstaunt, da der Stalinismus die Pervertierung der Revolte noch weiter treibt als der Marxismus-Leninismus. Camus war sich durch Arthur Koestlers Buch Sonnenfinsternis (erschienenen 1940) des Terrors unter Stalin klar bewusst. 7 Ähnliche Schlüsse ziehen Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung für den Nationalsozialismus (Horkheimer/ Adorno 1997), Karl R. Popper in Das Elend des Historizismus für den Irrglauben an eine geschichtliche Notwendigkeit (Popper 2003). 8 Der historische Materialismus wie auch der dialektische Materialismus sind im Übrigen keine ursprünglich bei Marx anzutreffenden Theorien, sondern ergeben sich erst aus der Weiterentwicklung des Marxismus zum Marxismus-Leninismus (cf. Ternes 2008: 233). 226 DOI 10.2357/ ldm-2020-0035 Arts & Lettres 9 Cf. auch Schlette 1995, 37-39 und TB I, 260-261. In dem Tagebucheintrag führt Camus die Unterscheidung einer „Evidenzphilosophie“ und einer „Präferenzphilosophie“ ein. Die Evidenzphilosophie ist diejenige, die sich jedem klarsichtigen Menschen aufdrängt; die Präferenzphilosophie ist diejenige, die der einzelne für je wünschenswert hält. 10 Die Übersetzung im Deutschen mit „Ganzheit“ ist nicht glücklich. Im Französischen heißt es: „Mais la totalité est-elle l’unité? “ (Camus 2006: III, 152.) Besser wäre also die Übersetzung: Aber ist die Totalität die Einheit? 11 Zur Bedeutung der Einheit bei Camus cf. Pieper 1984, insbes. 66-88. Zur kritischen Diskussion cf. Reif 1999: 25. 12 Vgl. Schlette 1995: Kap. V. Zur Interpretation der Natur. „Camus spricht von der sich gegenseitig interpretierenden Erfahrung der Natur und der Geschichte“ (ibid.: 90). 13 Camus war Unterzeichner und Mitverfasser mehrerer offener Briefe und Artikel, die das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienst forderten.