lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0036
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2020
45178-179
ALAIN LANCE: RÜCKKEHR DES ECHOS. AUSGEWÄHLTE GEDICHTE, ED. VOLKER BRAUN, LEIPZIG, FABER & FABER, 2020, 92 S., ILL.
121
2020
Annegret von Wietersheim
ldm45178-1790227
DOI 10.2357/ ldm-2020-0036 227 Comptes rendus ALAIN LANCE: RÜCKKEHR DES ECHOS. AUSGEWÄHLTE GEDICHTE, ED. VOLKER BRAUN, LEIPZIG, FABER & FABER, 2020, 92 S., ILL. Mit Rückkehr des Echos liegt eine Auswahl von Gedichten des französischen Lyrikers Alain Lance vor, die sein Freund und Dichterkollege Volker Braun vorgenommen hat. Die frühesten dieser Texte stammen aus den 1960er Jahren, die neuesten sind 2019 erschienen. Diese Zusammenstellung verortet Alain Lance politisch, geografisch und ästhetisch und zeichnet dabei seine Entwicklung als Autor nach. Bereits der Titel verweist auf das Programm der Sammlung: ein Echo im physikalischen Sinn ist definiert als eine durch Reflexion an ihren Ursprungsort zurückkehrende Schallwelle, wahrnehmbar als eigenständiges, wenngleich durch den zeitlichen Abstand modifiziertes (Hör-)Erlebnis, das genutzt wird, um Entfernungen einzuschätzen. Im übertragenen Sinn gilt diese Begriffsbestimmung auch für Alain Lances Gedichte, die aus dem zeitlichen Abstand heraus vielleicht gedämpfter klingen - „Bei der Rückkehr des Echos / Steht kein Rufer mehr da“, sagt Lance im Text August - und die doch neue Perspektiven auf den Bezugsrahmen der Originale zulassen. Manche der Gedichte sind inhaltlich so aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung, könnten auch heute verfasst worden sein. Die Zustände, die beispielsweise in Teheran 68 beschrieben werden, erkennen wir wieder aus heutigen Presse- und Fernsehberichten: Sie gehen sie kommen Man bebrüllt sie man mißhandelt sie man sagt ihnen sich ein wenig zu beeilen Man sagt ihnen morgen wenn Gott will Sie wandeln an erbaulichen Bauten und ertrinken im Wasser der Schaufenster Ihre Kinder verkaufen die Chance und ihr Vater bohnert die Apfelsinen Stück für Stück Sie schreiten wie im Traum wo junge Getriebe jaulen Zufrieden wenn sie eine Fahne breiten können von Kraut und Käse und Tomaten Sie gehen sie kommen von der verschleierten Stadt in die der schamlosen Knie Nordwärts schöne Viertel fußgängerleer Südwärts wo die Flöte stöhnt Sie gehen sie kommen in den langen Gängen Sie werden vorgeladen und eingewiesen Sie warten Sie kommen zurück Sie klopfen an die falschen Türen und entschuldigen sich Gerechtigkeit zu verlangen Wie herrlich leuchtet mir die Montur! Eine Vielzahl der Gedichte des 1939 geborenen Alain Lance geht aus seinen persönlichen Lebenszusammenhängen hervor. Seit seiner Studentenzeit ist er ein Wanderer zwischen Kulturen und Ländern, ein Vermittler insbesondere zwischen den Literaturen Frankreichs und Deutschlands. Gleichberechtigt neben seinen eigenen Texten stehen Nachdichtungen aus dem Persischen und Übersetzungen (ost-)deutscher Literatur; während er Lyrik meistens allein übersetzt, arbeitet er bei der Übersetzung von Prosatexten - beispielsweise von Christa Wolf und Ingo Schulze, auch 228 DOI 10.2357/ ldm-2020-0036 Comptes rendus von Volker Brauns Roman Hinze und Kunze - oft mit seiner Frau Renate Lance- Otterbein zusammen. Die Begegnung mit der DDR -Literatur der 1960 und 70er Jahre ist für Lance ein ganz entscheidender Impuls; er setzt sein in Frankreich begonnenes Germanistikstudium in Leipzig fort, lernt die Literatur- und Literatenszene Ostberlins kennen und steht bald in lebhaftem Gedankenaustausch mit den Autoren der älteren und gleichaltrigen Generation. Stephan Hermlin, Paul Wiens, Christa Wolf, Richard Pietrass gehören dazu; Volker Braun wird zum Freund und geschätzten Dichterkollegen, wechselseitige Übersetzungen von Gedichten der beiden Partner belegen bereits früh ihre emotionale und künstlerische Verbundenheit. (Auch viele der Texte in Rückkehr des Echos sind von Volker Braun übersetzt bzw. nachgedichtet). Lance entdeckt dabei die DDR als ‚sein Deutschland‘, wobei er die Gestaltung des sozialistischen Alltags durchaus mit kritischem Auge sieht. Die Niederschlagung der Reformbewegung des ‚Prager Frühlings‘ durch Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts 1968 bedeutet für ihn dann eine deutliche Zäsur, auch was seine Einstellung zur DDR angeht. Ebenfalls in den 1960er Jahren ist er für zwei Jahre im Iran, um von dort aus die kulturelle Kooperation zwischen Frankreich und Persien als Lehrer zu unterstützen. Die Beschäftigung mit der modernen persischen Lyrik, so befindet er, konturiert sein Bewusstsein für die muttersprachlichen, französischen Traditionen. In Paris wiederum lehrt er Deutsch am beruflichen Gymnasium, ist von 1985 bis 1994 Leiter der Instituts français in Frankfurt am Main und Saarbrücken und anschließend, bis 2004, der Maison des écrivains et de la littérature in Paris. Ein Wanderer zwischen sehr unterschiedlichen Welten, Organisationsformen und Arbeitsbedingungen ist er seit langem, doch immer sorgt der Kompass der Kunst für die nötige Orientierung. Alain Lance - ein politischer Schriftsteller, wie vielfach behauptet wird? Gewiss. Er schreibt aus und über Iran (Ein Baum ein Bajonett ein Baum man sieht / Ihren Schnurrbart selbst unter den Bäumen / Die Brücke ist gesperrt […]) und Irland (Brise alten Hungers / jeder fertig zur Fahrt […] Lange Schreie des Exils über den Mähnen), wendet sich freundlich-ironisch an die „Freunde im Osten“ (Während sich unsere Grüße kreuzen / In den deutsch-französischen Postsäcken […] Während während während / Kaderwelsch oder Warenknechte) und artikuliert seine Erbitterung über die unheilvollen Verflechtungen von Wirtschaft, Krieg und ‚Dichtervolk‘ (Im grauen Dickicht der Allgemeinen / Überflog ich den Horror von heute / Kann die Beilage Börse und Beute / Eine Erklärung fingieren […] Das Jahrhundert hatte viel Blut zu verlieren / Es scheint, das Maß ist nicht voll). Ein philosophischer Lyriker? Auch das. Vor allem das Phänomen der Zeit, der Flüchtigkeit des Erlebens, der Vergänglichkeit menschlichen Daseins ist eine melancholische Konstante in Lances Gedichten. Feststellung Das Leben ging in langen Fluchten hin Der rote Vorhang draußen Blätterwald DOI 10.2357/ ldm-2020-0036 229 Comptes rendus Unglück Untat mechanisch aufgezählt Die Bilder toter Herrscher blicken blind Es hat an Hoffnung nicht an Kampf gefehlt Es steht vor Augen es ist aus dem Sinn In geradezu barocker Formgebung präsentiert sich dabei das Gedicht Die grauen Tage: Die grauen Tage fliehen Die Zeit stürzt sich zu Tal Ich seh vorüberziehen Was früher war einmal Das Ende eines Krieges Der Kinderjahre stahl O Schwalbenseligkeit O Amselrausch im Wind Könnt man doch eines Tages Die Flügel breiten weit Eh alles zerbricht Alles zerrinnt Zugleich ist Alain Lance ein Meister des Sprachspiels; so klingt in der witzig-anarchistischen Söldnerklage die Diktion eines Henri Michaux an: Wir dunken den Ragust von Krabok bis Wagento Von Pulding bis Samanca Wir tüllen unsere Foratteln Vom Bleik zum Klufz Daß uns die Baunzen tackern Achtundfünfzig Fergoniere am Koraber auern Am Bolgern unter Stomm und Lodom In der Spuckzone der Tokapaschoden Und keiner da, der uns kapiert! Auf der poetischen Bildwelt indes beruht letztlich der Zauber der Gedichte von Alain Lance, der ihre politische und philosophische Aussage, ihren zeitgenössischen wie geschichtlichen Kontext überhöht. Es sind keine üppigen, schwer zu entziffernden Metaphern, eher mit leichter Hand eingestreute, funkelnde Kostbarkeiten, eine Überraschung und Freude für die Leserin, den Leser. Hier eine kleine Auswahl: die Hänge führen uns ihre Lavendelherde zu (Renaissance) Erinnern des Alls / Lichtstaub / Und wir / Allem offen / Brüchige Botschaft im Griff der Gewitter (Meteore) Kahle Lampe im leeren Zimmer / Kleiner Igel Besorgnis (Tage des Zorns) Doch du ziehst einen Eimer Angst / Aus dem Kindheitsbrunnen empor (Schwarz) 230 DOI 10.2357/ ldm-2020-0037 Comptes rendus Er setzte also seine Arbeit fort, eingerichtet am Rand der Ruinen, wo der Wortschutt zusammengeglaubt wird. (Noch vor dem Ende eines Jahrhunderts) Alain Lance, in Frankreich mit wichtigen Literaturpreisen bedacht, ist hierzulande immer noch ein fast Unbekannter. Möge Rückkehr des Echos einem weiten Leserpublikum den Zugang zu seinen Gedichten eröffnen. Annegret von Wietersheim (Darmstadt) ------------------ LUC VIGIER (ED.): ARAGON, PARIS, SORBONNE UNIVERSITÉ PRESSES, 2020 (N° 50 DE LA REVUE GENESIS. MANUSCRITS RECHERCHE INVENTION), 207 P. Aux ‚origines‘ de la critique génétique? - La revue Genesis est peu connue en Allemagne, pas même par les romanistes allemands, bien que la plupart des grandes bibliothèques de recherche y soient abonnées. En se présentant comme publication de référence pour la critique génétique, qui étudie la genèse de l’œuvre, elle veut „mettre en évidence l’importance du rapport entre le texte et l’image, entre le verbal et non-verbal, aussi bien dans sa réflexion théorique que dans sa pratique régulière“ (site de la revue: www.item.ens.fr/ genesis). Genesis est éditée par une équipe issue de l’ ITEM (Institut des textes et manuscrits modernes), unité de recherche du CNRS/ ENS dont la revue est la vitrine, mais ses dossiers sont le fruit d’un travail collectif. Fondée en 1992, la revue publie cette année son 50 e numéro. Il y a de bonnes raisons pour consacrer le dossier de ce numéro à Aragon car l’auteur avait légué en mai 1977 ses manuscrits non pas à la Bibliothèque nationale (comme elle s’appelait alors), mais au CNRS pour „mettre à la portée de ceux qu’on appelle les chercheurs, non seulement l’écrit figé par la publication, mais le texte en devenir, saisi pendant le temps de l’écriture, avec ses ratures comme ses repentirs, miroir des hésitations de l’écrivain comme des manières de rêverie que révèlent les achoppements du texte.“ 1 Ce programme d’anoblissement par un des grands écrivains du XX e siècle ne pouvait qu’enorgueillir ces chercheurs du Centre d’analyse des manuscrits modernes ( CAM devenu ITEM ), qui, sous la direction de Louis Hay, puis d’Almuth Grésillon et d’autres, développaient la critique génétique depuis la décennie 1970. C’est peut-être un ‚hasard objectif‘ si dans lendemains, fondé au milieu de la même décennie 70, paraît en 1978 un dossier Aragon coordonné par Hans Joachim Neyer où la plume de Karlheinz Barck cite le discours d’Aragon lors de sa donation au CNRS : 2 Le „Fonds Aragon“ fut le point de départ de l’institutionnalisation des recherches sur l’auteur, suivie plus tard de la création d’une Équipe Aragon à l’ ITEM . 1 Discours d’Aragon en mai 1977. Louis Aragon: „D’un grand art nouveau: la recherche“, in: Essais de critique génétique, Flammarion 1979 (première publication in: L’Humanité, 05/ 05/ 1977). 2 Karlheinz Barck, „Eine Bilanz der historischen Avantgarden. Anmerkungen zu Aragons Essay Introduction à 1930 “, in: lendemains, 9, 1978, 79-94, ici 91.
