lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0046
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2020
45180
Erfolgsmodell Autosoziobiografie?
121
2020
Gregor Schuhen
ldm451800051
DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 51 Dossier Gregor Schuhen Erfolgsmodell Autosoziobiografie? Didier Eribons literarische Erben in Deutschland (Daniela Dröscher und Christian Baron) 1. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Eribon und Ernaux in Deutschland Die Neuübersetzung der Schriften von Annie Ernaux durch den Suhrkamp-Verlag (seit 2017) wäre ohne den Erfolg von Didier Eribons Rückkehr nach Reims (2016) wohl kaum denkbar gewesen. Dieser Befund entbehrt nicht einer gewissen Ironie, gehört doch Ernaux neben Pierre Bourdieu zu den erklärten Vorbildern Eribons (cf. dazu Eribon 2013: 99-165). Annie Ernaux galt hierzulande lange Zeit eher als Insidertipp oder wurde allenfalls sporadisch in literaturwissenschaftlichen Seminaren behandelt. Erst durch die Neuausgabe in der Übersetzung von Sonja Finck avanciert sie neben Eribon und Édouard Louis zum kulturellen Sprachrohr, wann immer die soziale Frage im frankreichspezifischen Kontext verhandelt wird (cf. z. B. ihren Kommentar zur Gilets-Jaunes-Bewegung in der Zeit vom 6. Dezember 2018). Die Chronologie der Veröffentlichungen - Eribon 2016, Ernaux 2017 - mag meine Eingangsthese stützen, sagt aber noch nichts aus über die Gründe für den immensen Erfolg der Ernaux-Neuedition, denn es handelt sich hierbei keineswegs nur um einen Feuilleton-Hype, sondern auch um eine kommerzielle Erfolgsgeschichte. Auch hier muss zunächst ein Blick auf die Rezeption von Rückkehr nach Reims geworfen werden. Das Presse-Dossier des Suhrkamp-Verlages umfasst nicht weniger als 38 Seiten. Die erste Rezension von Gustav Seibt, die am 21. Mai 2016 in der SZ erscheint, stellt die erste hymnische Stimme im Chor der Lobgesänge dar, die bis Ende desselben Jahres nicht verstummen. Trotz der sieben Jahre, die zwischen dem Erscheinen des französischen Originals und der deutschen Übersetzung von Tobias Haberkorn liegen, gilt Rückkehr nach Reims als „überragend aufschlussreich“ (Seibt 2016: 20), als „Buch der Stunde“ (Müller-Lobeck 2016: 15) von „existenzieller Wucht“ (Krause 2016: 2), dessen Autor gleich mehrfach das Prädikat des „Meisterdenkers“ (Rapp 2016: 139, Seibt 2016: 20) zugesprochen wird. Flankiert wird die positive Rezeption durch Interviews mit Eribon, bis schließlich 2017 Thomas Ostermeiers Theater-Adaption auf dem Manchester International Festival Weltpremiere feiert. Eribon war hierzulande bis dato eher als Foucault-Biograf und als intellektueller Schwulenaktivist bekannt. Nach dem Erfolg von Rückkehr nach Reims rückt er gleichsam über Nacht zu der kritischen Stimme aus Frankreich auf, die sich zu Wort meldet, sobald aktuelle Probleme auf der Agenda stehen, seien es der zunehmende Rechtsruck, gesellschaftliche Spaltungen oder das Schicksal der ehemaligen Arbeiterklasse nach der Deindustrialisierung. Immer häufiger jedoch tut er dies nicht allein. In seinem Fahrwasser schwimmen zumeist die beiden deutlich jüngeren Schüler Édouard Louis, seines Zeichens Erfolgsautor autobiografischer Texte, und Geoffroy 52 DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 Dossier de Lagasnerie, Sozialphilosoph. Louis hatte bereits 2015, also ein Jahr vor der Übersetzung von Retour à Reims, im deutschsprachigen Raum einen Achtungserfolg mit seinem Debütroman Das Ende von Eddy; Lagasnerie veröffentlicht 2016 seine Studie zur Kunst der Revolte ebenfalls im Suhrkamp-Verlag. Das Trio inszeniert sich häufig als linker Intellektuellenzirkel, widmet sich gegenseitig seine Texte und tritt gemeinsam auf, so etwa in Harvard (2018) oder beim Literaturfestival in Berlin (2019), und verkörpert damit gewissermaßen das von Bourdieu angestrebte Ideal des „intellectuel collectif“ (cf. Schultheis 2019, Schuhen 2021). Als Frankreich 2017 Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist, nimmt das Interesse an den drei Autoren sowie an Ernaux noch erheblich zu. In vielen Berichterstattungen werden Eribon und Ernaux in einem Atemzug genannt, so etwa von Gerrit Bartels im Tagesspiegel: Überdies sind da solche, die oft aus dem Norden Frankreichs und aus Arbeiterfamilien stammen und im Moment viel von sich reden machen: Annie Ernaux, Édouard Louis oder Didier Eribon. Sie verstehen sich als „Ethnografen ihrer selbst“, versuchen sich in ihren Büchern an einer Selbstanalyse, die sie gleichzeitig als Gesellschaftsanalyse verstehen. Ihre Lebenserzählungen betten sie zudem in die „große“ Geschichte ein. (Bartels 2017) Ernaux’ Die Jahre erscheint zur Eröffnung der Buchmesse und profitiert von der medialen Aufmerksamkeit ihres Nachfolgers Eribon und dessen cercle. Auch der Name Bourdieu taucht als Inspirationsquelle in einigen Berichterstattungen auf (cf. Minkmar 2017), so dass hier die Ahnenfolge klar abgesteckt wird: Das Quintett Bourdieu-Ernaux-Eribon-Louis-Lagasnerie erinnert an eine intellektuelle Familienaufstellung, einen Stammbaum engagierten Schreibens gegen soziale Ungleichheiten. Es kommt auch sporadisch zu gemeinsamen Stellungnahmen, so etwa zu den Gilets Jaunes oder Beiträgen in einem Band, der das Erbe Bourdieus würdigt (cf. Louis 2013). In Frankreich gilt Ernaux längst als politisch linke und literarische Institution, als starke Stimme im Kampf gegen Neoliberalismus und neofeudale Strukturen im Bildungssystem. Eribon, Louis und Lagasnerie sind medial zwar auch präsent, aber es scheint, als sei ihr Stellenwert in Deutschland deutlich höher. Möglicherweise liegt das an den Themen ihrer Werke, die in Frankreich auf eine lange Tradition zurückblicken, die mindestens bis zu den Romanen von Zola zurückreicht. Der Begründer des literarischen Naturalismus hat die soziale Frage schon Ende des 19. Jahrhunderts als Thema in den literarischen Kanon eingeführt und mit seinem gesellschaftspolitischen Engagement die Figur des Intellektuellen maßgeblich geprägt (cf. Jurt 2012). Betrachtet man nun die deutsche Editions- und Rezeptionsgeschichte, fällt auf, dass nicht nur Eribon vor Ernaux erschienen ist, sondern Louis’ Debütroman, also das Werk des Jüngsten, am Anfang dieser Genealogie steht. Kennzeichnend für dieses intergenerationelle ‚Familienunternehmen‘ sind neben der Prägung durch die Soziologie Bourdieus die soziale Herkunft der drei Autoren, mithin ihr Status als transclasses (cf. Jaquet 2014) sowie - in formaler Hinsicht - die Wahl des hybriden Genres der Autosoziobiografie. Dieses Zusammenspiel von autobiografisch vermit- DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 53 Dossier telter Narrativität und gesellschaftsdiagnostischer Faktualität gehört auch für Spoerhase zu den Grundmerkmalen einer jeden Autosoziobiografie: „ein Genre, das das Persönliche mit dem Politischen, die soziologische Theorie mit der literarischen Form, die Selbstmit der Gesellschaftsanalyse verbindet“ (Spoerhase 2018: 232). Ernaux’ Texte gehören ebenso in diese Kategorie wie auch Bourdieus postum erschienene Esquisse pour une auto-analyse (2002/ 05), in der die analytischen Passagen jedoch deutlich mehr Raum einnehmen als in den récits von Ernaux. Man könnte sagen, dass Eribon eher dem Vorbild Bourdieu nacheifert, während sich Louis stärker an Ernaux orientiert. Diese von Klassenflüchtlingen verfasste literarische Form kennt in Deutschland bis Eribon und Ernaux kaum Vorbilder. Sie scheinen mithin einen Nerv getroffen zu haben, da die fokussierten Problemlagen auch hierzulande immer mehr an Relevanz gewinnen, insbesondere der zunehmende Rechtsruck, das Abgleiten der unteren Schichten in die Prekarität sowie die Unwahrscheinlichkeit eines Bildungsaufstiegs. Dass sich seit 2016 auch einiges in der deutschsprachigen Literatur geändert hat, davon soll im Folgenden die Rede sein. Sowohl der kommerzielle Erfolg als auch die Aufmerksamkeit seitens der Feuilletons haben dazu geführt, dass es inzwischen einige deutsche Ableger dieser Gattung gibt, so etwa Daniela Dröschers autobiografischen Essay Zeige deine Klasse (2018), in dem Eribon als ‚Türöffner‘ charakterisiert wird, dann Christian Barons Lebensbericht Ein Mann seiner Klasse (2020). Auch im Bereich der Autofiktion ist eine vermehrte literarische Auseinandersetzung mit der Klassenfrage nicht zu übersehen. Zu nennen sind etwa Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen (2018), der die Geschichte einer transfuge de classe im Berliner Bobo-Milieu schildert, und Deniz Ohdes Debütroman Streulicht (2020). Stellings Roman bescheinigt die SZ einen „Willen zur soziologischen Genauigkeit“ (Bisky 2018), der an Eribon denken lasse. Bevor ich mich mit Daniela Dröscher und Christian Baron zwei sehr unterschiedlichen Texten widme, kann bereits vorab konstatiert werden, dass Eribons Rückkehr nach Reims nicht nur innerhalb der Editionsgeschichte französischer Autosoziobiografien hierzulande eine Katalysatorfunktion zuzusprechen ist, sondern dass Eribon auch in der noch jungen Geschichte deutschsprachiger Ableger dieses Genres eine Initiatorrolle zukommt. 2. Daniela Dröschers Zeige deine Klasse (2018) Mit insgesamt elf namentlichen Erwähnungen ist Eribon neben Bourdieu, der immerhin auf zehn Einträge im nicht vorhandenen Personenregister kommt, mit knappem Vorsprung der am häufigsten aufgerufene Kronzeuge in Daniela Dröschers essayistischem Lebensbericht, der im Untertitel die Geschichte meiner sozialen Herkunft annonciert. Ernaux kommt auf vier Nennungen, darunter eines der drei Mottos des Buchs. Allein diese Auflistung gibt im Zusammenspiel mit dem Titel des Essays ersten Aufschluss über die intellektuelle Marschrichtung von Dröschers Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in der rheinland-pfälzischen Provinz. Auch wenn die 54 DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 Dossier Chronologie größtenteils gewahrt bleibt, schreibt Dröscher eher fragmentarisch-assoziativ, benutzt typographische Hervorhebungen, arbeitet bevorzugt mit Listen und Tabellen und liebt Fußnoten, in denen sie „‚anökonomische‘ weiterführende Gedanken [versammelt], die im Haupttext keinen Platz finden“ (Dröscher 2018: 29). Die Lust am Fragmentarischen und Taxonomischen erinnert teilweise an Ernaux, aber insbesondere das abschließende „ABC der Scham“ gemahnt an Roland Barthes’ alphabetisch angeordnete autobiografische Skizzen in Roland Barthes par Roland Barthes (1975). Der Begriff der Scham dürfte einer der am meisten verwendeten des Textes sein, eng gefolgt von Bourdieus Habitus-Begriff. Man könnte Dröschers Memoiren, wenn man sie in der diskursiven Echokammer des Trios Eribon-Ernaux- Bourdieu liest, etwas zutiefst Epigonenhaftes attestieren, ja, in ihnen den Versuch sehen, auf der Erfolgswelle französischer Autosoziobiografien mitzuschwimmen. Dass dem nicht - oder nur bedingt - so ist, erschließt sich im direkten Vergleich der Lebensgeschichten. Eribon, Ernaux und auch Bourdieu schreiben über ihre soziale Herkunft aus der Arbeiterklasse der Nachkriegszeit, den sog. classes populaires. Der klassenspezifische Abstand zwischen dem einfachen Herkunftsmilieu ihrer Eltern und dem akademisch-intellektuellen Umfeld ihres Erwachsenenalters ist deutlich größer als bei Dröscher. Sie stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus: der Vater Maschinentechniker, die Mutter Fremdsprachenkorrespondentin, beide Eltern Profiteure der Wirtschaftswunderzeit, wenngleich ohne akademischen Abschluss. Die Mutter ist leidenschaftliche Leserin, aber stark übergewichtig, der Vater begeisterter Hörer klassischer Musik, jedoch außer Stande Noten zu lesen. Diesen beiden Einschränkungen, die Dröscher sorgfältig schon im Prolog ihrer Aufzeichnungen auflistet, entspringt das Gefühl der sozialen Scham, das sie erst durch die Lektüre Eribons adäquat zu fassen versteht: Ich las das Buch [Rückkehr nach Reims, G. S.] atemlos, mit heißen Ohren, und entdeckte darin im Nachhall eine Hintertür für mich. Obgleich ich mit liebevollen, wohlhabenden, gebildeten Eltern aufgewachsen bin, habe auch ich gelernt, mich für meine Eltern zu schämen. Die Scham gehörte lange Zeit sogar so untrennbar zu mir wie das Atemholen (Dröscher 2018: 21, Herv. G. S.). Wie bereits angedeutet, arbeitet Dröscher oft mit solchen konzedierenden Konstruktionen, um das eigene Milieu zu analysieren: „Als Wochenzeitung aber gab es bei uns kein Blatt mit Feuilletonteil […]. Mein Vater liebt klassische Musik […], aber Noten lesen kann er nicht“ (Dröscher 2018: 17, Herv. G. S.). Der sich anschließende Hinweis auf Bourdieus Die feinen Unterschiede - im Original: La distinction - liefert gleich die Beschreibung der eigenen Vorgehensweise, nämlich das Aufzeigen von Distinktionsmerkmalen. Distinktion meint im Deutschen zunächst einmal das Sichunterscheiden von anderen, impliziert mithin den modus operandi des Vergleichens. Im Französischen umfasst der Begriff distinction zwei Bedeutungsebenen, nämlich das „Erkennen eines Unterschieds und das positive Abheben von Anderem“ (Rehbein 2014: 76), was eine Wertung einschließt, auf die Bourdieu aufmerksam macht, DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 55 Dossier indem er Geschmack und Lebensstil der Bourgeoisie untersucht und diese als normativ und gesamtgesellschaftlich erstrebenswert klassifiziert. In den beiden Zitaten aus Zeige deine Klasse findet eine doppelte Form der Distinktion statt: Im ersten leitet die Konjunktion „obgleich“ die positive Distinktion im direkten Vergleich zu Eribons Kindheit ein, während im zweiten Zitat mithilfe des doppelten „aber“ das eigene Milieu als defizitär wahrgenommen wird, ohne jedoch explizit auf den Lebensstil der Bourgeoisie als Standard hinzuweisen, der eher stillschweigend als ‚natürlich‘ vorausgesetzt wird: „Die Herrschenden haben die Macht, ihren eigenen Lebensstil als vollkommen geltend durchzusetzen, also als notwendig und natürlich“ (Rehbein 2014: 77). Im Grunde steckt Dröscher mit diesen beiden Vergleichen die klassenspezifische Amplitude ab, auf der sie sich im Folgenden zu verorten versucht: ganz unten (Eribons Herkunftsmilieu) und ganz oben (Milieu der Bourgeoisie). Es geht Dröscher also um den Parcours des Bildungsaufsteigers, der im eigenen Fall deutlich kürzer ausfällt als bei Eribon, nämlich vom gut betuchten und wohlbehüteten Provinz-Elternhaus zum bildungsbürgerlichen Bobo-Lifestyle der deutschen Hauptstadt. Unter Ausblendung eines rein wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses fragt man sich nach der Lektüre von Zeige deine Kasse an manchen Stellen zwangsläufig: Wo ist das Problem? Wenn man die Lebensgeschichten von Ernaux, Bourdieu, Eribon oder auch Louis gelesen hat, die hier ganz offensichtlich Pate gestanden haben, und die uns teils soziologische, teils narrative Einblicke in ein Herkunftsmilieu bieten, das es bis dato nur selten auf den Höhenkamm der Literatur geschafft hat, wirken die Quellen der sozialen Scham bei Dröscher mitunter seltsam bemüht. Diese werden subsumiert unter der Trias von „drei Ds - dicke Mutter, Dorf, Dialekt“ (Dröscher 2018: 23). Es geht also um das Gefühl der Scham angesichts des opulenten mütterlichen Körpers, angesichts der provinziellen Herkunft sowie angesichts des eigenen Dialekts, der hier eher als zu überwindender Soziolekt daherkommt. Die soziale Scham bei Dröscher verliert, wenn man sie mit den Schilderungen von Ernaux oder Eribon vergleicht, an existenzieller Wucht, da sie - trotz des Buchtitels - weniger als Klassenschicksal kategorisiert, sondern sehr viel stärker individualisiert, ja subjektiviert wird. „Anders als Eribon“, so Dröscher, „bin ich keine Soziologin. Alles, was ich habe, ist meine Subjektivität“ (Dröscher 2018: 28). Nähme man die Autorin hier beim Wort, müsste man sich allerdings über die Vielzahl an Fußnoten und Zitaten wundern, die nahezu allesamt soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Provenienz sind. Agnieszka Komorowska schreibt zu Beginn ihrer Studie zur Gattung der „hontofiction“, dass es sich bei der Scham um „einen Modus des Weltbezugs“ handele und dass dem Gefühl der Scham stets die „Verbindung von Subjektivität und sozio-historischer Realität“ (Komorowska 2017: 9) inhärent sei. Die Scham, so Komorowska, wird in autofiktionalen Texten, die um die Brüchigkeit des eigenen Subjektstatus zirkulieren, „als Erkenntnismoment modelliert, in dem diese Brüchigkeit schreibend eingeholt wird“ (Komorowska 2017: 11). So erläutert auch Dröscher, dass sie sich ihrer eigenen Scham erst nach dem „Betreten der Universität“ (Dröscher/ Meyer 2018) bewusst geworden sei und sich ihrer im Modus des Schreibens entledigen konnte. 56 DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 Dossier Bis sie an diesen Punkt des Schreibens gekommen sei, habe sie erst bei Eribon die entsprechende Sprache für diesen Zugang finden müssen. Auch Ernaux fehlt zunächst der Zugang zum Ursprung ihrer eigenen Scham, wovon sie in ihrem gleichnamigen Werk La honte (1997) berichtet. Sie erinnert sich an eine Ur-Szene, als ihr Vater eines Sonntags in einem Akt zügelloser Wut versucht, ihre Mutter zu töten. Mithilfe von Medien - Fotografien, Zeitungsartikeln, Chansons - versucht sie im Folgenden zu rekonstruieren, warum dieses traumatische Erlebnis zur Keimzelle ihrer Scham werden konnte und wann sie sich ihrer bewusst wurde - auch Ernaux nennt den Eintritt in die Privatschule ihre „entrée dans la honte“ (Ernaux 1997: 116). Sowohl bei Dröscher als auch bei Ernaux führt das Kennenlernen eines neuen, privilegierten Milieus zum Vergleich mit dem eigenen Herkunftsmilieu, was wiederum den Prozess der Scham in Gang setzt: „qu’à la honte il faut plus de honte encore“ (Ernaux 1997: 120). Beide Autorinnen versuchen demnach, sich schreibend von diesem zugleich subjektiv empfundenen wie sozial induzierten Schamgefühl zu befreien. Man kann also mit Komorowska festhalten, dass der Scham nicht nur eine biografische Relevanz, sondern auch ein poetologischer Stimulus innewohnt (cf. Komorowska 2017: 222). Eribon widmet sich erst im Nachfolgeband von Retour à Reims, in La société comme verdict (2013), ausführlich dem Gefühl der Scham. Dort schreibt er: „On peut avoir écrit un livre sur la honte et n’avoir pas réussi à la dépasser“ (Eribon 2013: 36). Grund dafür sei der gespaltene Habitus des sich Schämenden, mithin seine innere Zerrissenheit als primordiale Matrix jenes „sentiment complexe“ (ibid.). Dies mag erklären, warum das eigene Bewusstsein der Scham erst einsetzt, wenn sich der gespaltene Habitus im Augenblick des Milieuwechsels herausbildet. Mit Bezug auf Bourdieu stellt Dröscher folgerichtig die Universität als „den Ort meiner sozialen Geburt “ (Dröscher 2018: 24, kursiv i. O.) dar, da an diesem Ort nicht nur das nötige kulturelle Kapital für den Bildungsaufstieg zur Verfügung gestellt wird, sondern ein Dispositiv der Erkenntnis, was das eigene Anderssein angeht. Angehörigen solcher minoritärer Gruppen attestiert Eribon die Scham als „une des dimensions fondamentales de leur rapport au monde“ (Eribon 2013: 47). Dabei spielt es kaum eine Rolle, wie groß die Entfernung zwischen dem Herkunftsmilieu und der neuen, noch fremden Welt des Zielmilieus ist. Ein Blick in die eher zwiespältige Rezeption von Dröschers Memoir zeigt, dass sie sich in allen Kritiken dem Vergleich mit Eribon stellen muss. Die Rezension in der SZ beschäftigt sich im ersten Drittel ausschließlich mit Eribon, der als „Hausgott der autobiografischen Erzählung“ von Daniela Dröscher identifiziert wird (Mayer 2018), bevor auch nur einen Satz über den eigentlichen Gegenstand der Rezension verloren wird. Bettina Schabert von literaturkritik.de und Hannah Bethke von der FAZ kommen beide zum Ergebnis, dass sie Dröschers Erzählung im Vergleich mit Eribon und Bourdieu für zu reduktionistisch halten, da der eigene Lebensweg zu eindimensional vom Standpunkt der sozialen Klasse aus betrachtet wird, wobei andere Faktoren ausgeblendet würden, wie etwa Charakter oder Persönlichkeit (cf. Schabert DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 57 Dossier 2018, Bethke 2018). Gemein ist den Rezensionen auch die Frage nach dem eigentlichen Problem der Autorin. Diese Frage wirft natürlich ein grundsätzliches Problem im Umgang mit der Gattung Autosoziobiografie auf: Dürfen nur die extremen Bildungsaufsteiger über ihre soziale Herkunft schreiben? Wie groß muss der Abstand zwischen Herkunft und Ankunft sein, um soziale Scham plausibel erscheinen zu lassen? Oder überspitzt formuliert: Wer hat das Recht auf Scham? Der meritokratisch geprägte Imperativ des „Stell dich nicht so an! “ scheint an mehreren Stellen der Rezensionen auf und sagt letzten Endes mehr über die Rezensentinnen aus als über die Qualität des Essays. Interessant erscheint mir, dass der ‚Hausgott‘ Eribon nicht nur die Genese von Zeige deine Klasse geprägt hat, sondern auch seine Rezeption. 3. Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (2020) Auf den ersten Blick scheint es eine Reihe von Parallelen zu geben zwischen dem autobiografischen Essay von Daniela Dröscher und dem Lebensbericht Ein Mann seiner Klasse des Journalisten und Autors Christian Baron: Beide stammen aus Rheinland-Pfalz und schreiben über ihre soziale Herkunft; auf dem Buchdeckel beider Werke taucht - wie übrigens auch schon bei Eribon - ein eigenes Kindheitsfoto auf; beide führen den Klassenbegriff schon im Titel ihrer Aufzeichnungen und setzen damit den Fokus auf soziologische Aspekte. Hier enden allerdings schon die offenkundigen Gemeinsamkeiten. Baron schreibt über seine Herkunft aus prekären Verhältnissen in einem sozial benachteiligten Viertel Kaiserslauterns. Der Vater, auf den auch der Buchtitel abzielt, arbeitet als Möbelpacker, ist dem Alkohol verfallen und neigt zu massiven Gewaltausbrüchen gegen sämtliche Familienmitglieder. Die Mutter stirbt früh an Krebs, als der junge Christian zehn Jahre alt ist. Er und seine drei Geschwister wachsen bei der Schwester der Mutter auf, der Vater spielt fortan kaum noch eine Rolle. Mithilfe einer weiteren Tante gelingt Christian der mühsame Aufstieg, zunächst als Sportreporter bei einer Regionalzeitung, dann als Student der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier und schließlich als Politikredakteur der Wochenzeitschrift Der Freitag sowie als freier Mitarbeiter für andere Zeitungen. So gehört Baron 2016 auch zu den Laudatoren von Rückkehr nach Reims, das er für die sozialistische Tageszeitung Neues Deutschland rezensiert (Baron 2016a). Im selben Jahr bringt er unter dem Titel Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten ein Sachbuch in einem Berliner Kleinstverlag heraus (Baron 2016b), das ebenfalls aus eigenen Erfahrungen den Bedeutungsverlust linker Parteien innerhalb der unteren Schichten diskutiert. Diesem Buch kam jedoch kaum Aufmerksamkeit zu, lediglich ein Verriss in der SZ beklagte die simplifizierenden Thesen - insbesondere im Vergleich zu Eribon, dem wiederum der genervte Rezensent „salonlinkes Schlaubergertum“ (Pollmer 2017) attestiert. Mit Ein Mann seiner Klasse ändert sich Anfang 2020 schlagartig die mediale Aufmerksamkeitsökonomie, was möglicherweise an dem renommierteren Verlag Claassen und an der Form des Textes liegt. Barons zweites Werk ist als klassische Autobiografie konzipiert, die sowohl auf sozialanalytische Passagen als auch auf 58 DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 Dossier postmoderne Stilmerkmale und direkte Bezugnahmen auf seine französischen Vorbilder verzichtet. Dass es einen großen Einfluss vor allem durch die Werke von Louis und Ernaux gegeben hat, davon berichtet Baron in zahlreichen Interviews. In einem der ersten Interviews, das Baron dem Spiegel gegeben hat, wird er auf den Einfluss von Eribon und Louis angesprochen und antwortet recht eindeutig: „Louis ist ein Vorbild“ (Baron/ Frank 2020). Vergleicht man nun Barons Text mit den Werken von Louis, so kommt man zum Schluss, dass Ein Mann seiner Klasse gleichsam das Amalgam aus Louis’ En finir avec Eddy Bellegueule (2014) und seinem letzten Text Qui a tué mon père (2018) darstellt. In seinem Erstling hatte Louis bereits mit dem ersten Satz „De mon enfance je n’ai aucun souvenir heureux“ (Louis 2014: 13) den Ton angegeben, den seine schonungslosen Memoiren bis zum Ende beibehalten werden: Gewalt, Angst und Scham bestimmen die Erinnerungen an das eigene Herkunftsmilieu: die Männer allesamt Säufer und Schläger, die Frauen junge Mütter, Hausfrauen oder Kassiererinnen. Der Vater wird als homophober Fabrikarbeiter beschrieben und stellt eine der Hauptzielscheiben der Wut des Erzählers dar. Louis hat mit der düsteren Schilderung seines Heimatdorfes nicht nur Lob, sondern auch Kritik auf sich gezogen - vor allem von den Bewohner/ inne/ n des kleinen Ortes Hallencourt (cf. Keßler 2018: 217-223). Qui a tué mon père liefert den Versuch einer ‚Wiedergutmachung‘ - insbesondere an der Darstellung seines Vaters. Louis macht deutlich, dass sein Vater nicht von Natur aus gewalttätig und ungebildet sei, sondern dass sein schlichter Geist und geschundener Körper als Resultat der französischen Sozial- und Bildungspolitik der letzten zwanzig Jahre zu deuten seien: „L’histoire de ta souffrance porte des noms. L’histoire de ta vie est l’histoire de ces personnes qui se sont succédé pour t’abattre. L’histoire de ton corps accuse l’histoire politique“ (Louis 2018: 84). Baron führt nun in seinem Memoir die widerstrebenden Gefühle des klassenflüchtigen Sohnes zusammen, die Louis penibel getrennt auf zwei Werke verteilt: Wut und Verständnis, Ekel und Vergebung, Scham und Stolz, wie folgendes Zitat zum Ausdruck bringt: „Unser Vater war ein Mann seiner Klasse. Ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war. Das entschuldigt nichts, aber erklärt alles“ (Baron 2020: 19). Die offenkundige Nähe zu den Werken von Louis - sowohl formal-stilistisch als auch inhaltlich - ändert allerdings kaum etwas daran, dass die Literaturkritik immer wieder und vor allem den Namen Eribon ins Spiel bringt, wenn sie eigentlich über Baron schreibt. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang eine Podiumsdiskussion, die im November 2020 in Rostock stattgefunden hat. Es handelt sich um eine Veranstaltung unter dem Motto „Uncanny Valleys. Der schmale Grat zwischen Fakt und Fiktion“. Neben Baron sind die Schriftstellerin Isabelle Lehn sowie der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen zu Gast, um über den „Boom autobiografischen, autofiktionalen und dokumentarischen Erzählens mitsamt all seinen Fallstricken“ zu diskutieren, wie es im Ankündigungstext geschrieben stand. Der Name Eribon taucht gleich prominent zu Beginn der Anmoderation von Christine Watty auf und kehrt DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 59 Dossier mehrfach wieder, insbesondere in den Fragen an und Aussagen von Christian Baron. Zunächst reagiert Baron auf die Stilkritik an seinem Werk, die Ijoma Mangold in der Zeit vorgebracht hatte. Mangold gesteht Baron zwar zu, dass er in seiner Autobiografie einen „reizvolle[n] Stoff“ entfalte, aber dass es bei der „literarischen Durchdringung des Stoffs […] noch Luft nach oben“ (Mangold 2020) gebe. Zu diesem Urteil kommt der Zeit-Literaturchef nicht, ohne zuvor noch an Didier Eribon erinnert und die Schublade der „Unterklassen-Literatur“ (ibid.) aufgemacht zu haben. Tatsächlich erinnert Barons Schreibweise in ihrer Schlichtheit eher an Ernaux oder Louis. Ernaux charakterisiert ihren eigenen Stil in ihrer ‚Auto-Poetologie‘ L’écriture comme un couteau als „écriture plate“, die möglichst keine „complicité avec le lecteur cultivé“ (Ernaux 2003: 34) aufkommen lassen wolle. Baron argumentiert in seiner Replik auf Mangold ganz ähnlich: „Trotzdem war es mein Ehrgeiz […], im Gegensatz etwa zu Didier Eribon, eine Schreibweise zu finden, die auch denen zugänglich ist, deren Leben ich hier mitverarbeite, weil ich es sonst als zusätzlichen […] Klassenverrat empfunden hätte, wenn ich es zumindest nicht versuche“ (Baron/ Watty 2020). Im selben Interview erzählt Baron die Anekdote, dass er seinem Bruder eine erste Fassung des Textes zu lesen gegeben habe, in der noch direkte Zitate von Kafka, Louis und Ernaux eingeflochten waren. Der Bruder habe ihn daraufhin nach dem Grund solcher Zitate gefragt und ihm unterstellt, dadurch besonders schlau erscheinen zu wollen. Baron fühlte sich ertappt und hat die Fremdzitate entfernt - man könnte mithin in Barons Lebensbericht den Anti-Dröscher sehen, aber eben auch den Anti-Eribon, was Baron auch so zum Ausdruck bringt: „Ich bin nicht der deutsche Eribon! “ (Baron/ Watty 2020). Gleichwohl muss er bekennen - „Fluch und Segen zugleich“ (ibid.) -, dass er ohne Eribon wohl niemals seinen Text bei Claassen hätte veröffentlichen können: „Ohne diesen großen Erfolg, den Eribon in Deutschland, den Suhrkamp mit diesem Buch hatte, hätte ich wahrscheinlich mein Buch nicht bei einem renommierten Verlag machen können“ (ibid.). Insofern lässt sich trotz aller Abgrenzungsversuche konstatieren, dass auch im Fall Baron Eribon als ‚Türöffner‘ fungiert hat, allerdings weniger im Hinblick auf die Genese des eigenen Textes als hinsichtlich seiner geglückten Publikation und Rezeption: Abgesehen von dem stilistischen Verriss in der Zeit ist das Feuilleton-Echo zu Ein Mann seiner Klasse eher wohlwollend, Julia Encke spricht gar von einem der „besten literarischen Debüts [der] Saison“ (Encke 2020). 4. Eribon, immer wieder Eribon Die Rezeption der beiden Werke von Daniela Dröscher und Christian Baron zeigt deutlich auf, dass sich der Name Didier Eribon hierzulande längst von seinem Träger gelöst hat und zu einer eigenen Marke geworden ist. Dies gilt insbesondere für die Feuilletons, aber auch teilweise für die Sozialwissenschaften. Um das Branding dieses Labels zu definieren, bedarf es einiger Schlagwörter, die im Zusammenhang mit den Eribon-Verweisen immer wieder auftauchen: Unterschicht, Bildungsaufstieg, 60 DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 Dossier Klassenflucht, Klassenkampf, Sozialdeterminismus und - vor allem - die erste Person Singular. Dass Eribon seinerseits einen Großteil seines analytischen Werkzeugkastens den Theorien und Modellen Bourdieus zu verdanken hat, geht dabei nahezu unter. Das mag daran liegen, dass sich die Lektüre von Rückkehr nach Reims durch die ständigen Bezüge zum eigenen (Er-)Leben weniger mühsam gestaltet als das Studium der teils sperrigen Syntax von Bourdieu. Auch eröffnen die autobiografischen Passagen des Werkes ganz offenkundig eine größere Anschlussfähigkeit für literarische Nachfolger/ innen. Bourdieu selbst hat die erste Person Singular immer vermieden, wenn man von seinem letzten Werk absieht, der bereits genannten Esquisse pour une auto-analyse, in der er mit der Ich-Feindlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses bricht. Eribon bezieht sich mehrfach auf Bourdieus Soziologischen Selbstversuch und wirft seinem Lehrer sogar vor, zu zögerlich mit dem Einbezug der eigenen Lebenserfahrungen umgegangen zu sein (cf. Eribon 2013: 74). Die Mischung aus Sozialanalyse und notorischer Ich-Bezogenheit hat aber nicht nur das literarische Feld im engeren Sinne beflügelt, sondern trägt auch erste Früchte im wissenschaftlichen Bereich. 2020 erscheint ein bemerkenswerter sozialwissenschaftlicher Sammelband mit dem Titel Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft (Reuter et al. 2020). Schon das Motto zum einführenden Kapitel stammt aus Rückkehr nach Reims und auch die ersten Seiten machen keinen Hehl aus ihrer Inspiration durch das Werk des Franzosen (cf. Möller et al. 2020: 9sq.). Das Kernstück des Bandes ist überschrieben mit „Autobiographische Notizen“ (131-376) und versammelt insgesamt 19 Selbstzeugnisse von Professor/ inn/ en aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen jeweils der eigene Bildungsaufstieg erzählt wird. Jeder dieser „Notizen“ ist ein Kinderfoto des bzw. der Verfasser/ in vorangestellt. Ebenfalls im Jahr 2020 veröffentlicht die Journalistin Anna Mayr im Hanser-Verlag den Essay Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht. Darin schreibt sie über ihren eigenen Lebensweg aus einem Haushalt arbeitsloser Eltern. Die erste Eribon- Erwähnung lässt nicht lange auf sich warten: „Deutsche Leser scheinen in den letzten Jahren ganz versessen auf Milieubetrachtungsbücher zu sein. Es begann mit dem Soziologen Didier Eribon, dessen Essay Rückkehr nach Reims in Frankreich bereits 2009 erschien, in Deutschland erst 2016“ (Mayr 2020: 21). Dieser ‚Versessenheit der deutschen Leser‘ kommt Mayr auf den folgenden Seiten entgegen und versucht den Nachweis zu erbringen, dass unsere Gesellschaft die Arbeitslosen einerseits braucht, um sich positiv von ihnen abzugrenzen, und andererseits, um den Billigjob-Sektor immer mehr zu erweitern. Die eigene Lebensgeschichte dient dabei als heuristisches Anschauungsmaterial. Davon ausgehend sei abschließend noch einmal nach den möglichen Gründen gefragt, warum die Deutschen derzeit so versessen sind auf die von Eribon inspirierten ‚Milieubetrachtungsbücher‘. Welchen Nerv hat Eribon getroffen, dass er sowohl auf Seiten der Literaturkritik als auch unter Kunstschaffenden und in den (Sozial-)Wissenschaften innerhalb von nur vier Jahren zur eigenen Marke werden konnte? Rein inhaltlich betrachtet stellt Rückkehr nach Reims eine Zeitdiagnose dar, DOI 10.2357/ ldm-2020-0046 61 Dossier die 2016 schon sieben Jahre alt ist. Vergleicht man jedoch den französischen und den deutschen Kontext, wird deutlich, dass die Transformationsprozesse wie Rechtsruck, Prekarisierung und soziale Spaltungen erst mit einiger Verzögerung in Deutschland virulent werden. Die PEGIDA -Bewegung etwa konstituiert sich im Oktober 2014; die Erfolgsgeschichte der AfD nimmt erst im Jahr danach, konkret im Sommer der sog. ‚Flüchtlingskrise‘, richtig an Fahrt auf. So musste Rückkehr nach Reims im Sommer 2016 als ‚Buch der Stunde‘ aufgefasst werden, als Erklärungsangebot für eine zutiefst verunsicherte Nation. Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass Eribons etwas einseitige These von den Abgehängten als Kernklientel der Rechtspopulisten hierzulande nur bedingt greift, wie u. a. Philip Manow herausgearbeitet hat. Manow stellt fest, dass vor allem „eine Gruppe der eher kulturell Entfremdeten als Wählerschaft der Populisten“ (Manow 2018: 75) identifiziert werden kann - die „wirklich ‚Abgehängten‘, die Marginalisierten, das neue Prekariat und die sonst wie Benachteiligten“ (ibid.: 72) gehen oft gar nicht mehr wählen. Gleichwohl bleibt Eribon präsent im Diskurs, was nicht allein an seinen soziologischen Analysen und Diagnosen liegen dürfte, sondern vor allem an den Einblicken in ein Milieu, das er in den autobiografischen Passagen des Textes offenlegt. Diese Form des narrativ vermittelten Sozialrealismus ist, wie eingangs dargestellt, im deutschen Kontext deutlich weniger verbreitet. Die französische Tradition der Proletarierliteratur setzt sich vom 19. Jahrhundert fort bis zu den Texten von Ernaux, was vielleicht erklärt, warum Eribon in Frankreich nicht dieselbe Innovationskraft zugesprochen wird wie hierzulande, und führt zu dem bereits aufgestellten Befund, dass Eribon auf dem deutschen Literaturmarkt nicht nur zum ‚Türöffner‘ für junge deutsche Autor/ inn/ en wurde, sondern auch für sein eigenes Vorbild Annie Ernaux. Baron, Christian, „Vom aufhaltsamen Aufstieg der Rechten“, in: Neues Deutschland, 09.08. 2016 (2016a), 16. —, Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten, Berlin, Das Neue Berlin, 2016b. —, Ein Mann seiner Klasse, Berlin, Claasen, 2020. Baron, Christian / Frank, Arno „Die ‚einfachen Leute‘ sind eben sehr kompliziert“, Interview vom 04.02.2020, www.spiegel.de/ kultur/ literatur/ christian-baron-es-muessten-mehr-menschenueber-die-einfachen-leute-schreiben-a-50108a2d-f8ca-4877-abee-de15e5b25f39 (letzter Aufruf am 10.07.2021). Baron, Christian / Watty, Christiane, „Uncanny Valleys. 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