lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0047
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
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Autosoziobiografisches und autofiktionales Schreiben über Klasse in Didier Eribons Retour à Reims, Daniela Dröschers Zeige deine Klasse und Karin Strucks Klassenliebe
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2020
Christoph Schaub
ldm451800064
64 DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 Dossier Christoph Schaub Autosoziobiografisches und autofiktionales Schreiben über Klasse in Didier Eribons Retour à Reims, Daniela Dröschers Zeige deine Klasse und Karin Strucks Klassenliebe Autosoziobiografisches und autofiktionales Schreiben über Klasse In ihrem autosoziobiografischen Text Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft (2018), der in ausdrücklicher Bezugnahme auf die 2016 erschienene deutsche Übersetzung von Retour à Reims (2009) entstanden ist, schreibt Daniela Dröscher: „Der französische Soziologe Didier Eribon hat hierzulande eine Tür aufgemacht. Man redet wieder über soziale Unterschiede“ (Dröscher 2018: 21). Die Annahme der Autorin wird auch im deutschsprachigen Feuilleton geteilt. Anlässlich ihrer Rezension von Zeige deine Klasse argumentiert beispielsweise Verena Mayer, dass Eribon ein „Revival der ‚Klasse‘“ „ausgelöst“ habe, durch das Debatten über die Arbeiterklasse und Klassismus nun (wieder) öffentlich geführt würden (Mayer 2018). Anna Mayr, die der Welle autofiktionaler „Milieubetrachtungsbücher“ kritisch gegenübersteht und sich dennoch Elementen dieses Genres bedient, setzt seinen Beginn ebenfalls mit der Rezeption Eribons seit 2016 an (Mayr 2020: 21; cf. ähnlich Scholz 2019: 127-129). In der Tat ist in Deutschland und international verstärkt eine literarische Produktion formal, inhaltlich und politisch heterogener Texte über vor allem die proletarische Klasse und soziale Herkunft zu beobachten, die sich im Spannungsfeld von Autosoziobiografie und Autofiktion bewegen. Diese teilen bestimmte Merkmale und nehmen entweder direkt auf Retour à Reims Bezug oder sind zumindest zeitlich nach diesem Text entstanden: beispielsweise Édouard Louis’ En finir avec Eddy Bellegueule (2014) in Frankreich, J. D. Vances Hillbilly Elegy (2016) in den USA und Gabriel Krauzes Who they was (2020) in England; in Deutschland neben Zeige deine Klasse etwa Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (2020) und Deniz Ohdes Streulicht (2020). Eine neue Debatte über Klasse und die Bedeutung dieser Kategorie für Fragen nach sozialer Herkunft, mithin ein neues autofiktionales Schreiben über Klasse sei in Deutschland, so die weithin geteilte Grundannahme dieses Diskurses, nicht ohne den Einfluss von Eribons Text zu verstehen. Vor diesem Hintergrund möchte mein Aufsatz erstens zur Diskussion des Einflusses Eribons auf autofiktionales und autosoziobiografisches Schreiben über Klasse in deutscher Sprache beitragen, indem er Retour à Reims und Zeige deine Klasse vergleicht. Im Mittelpunkt dieses Vergleichs stehen zum einen Fragen der Lektüre - also Leseerfahrungen und intertextuelle Bezüge als Produktionsbedingungen und verfahren eines solchen Schreibens über Klasse; zum anderen die Auseinandersetzung mit Scham als einem zentralen Thema beider Texte, das eng mit Fragen einer DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 65 Dossier intersektional verschränkten sozialen Position und von Klassenwechseln verbunden ist. Dabei wird insbesondere gezeigt, dass Dröscher Eribons poetisch-methodisches Vorgehen für einen Klassenkontext adaptiert, der sich von dem für Eribon zentralen Arbeiter*innenmilieu unterscheidet. Dröscher geht es nämlich darum, die „Fiktion der Mittelklassen-Normalität“ des rheinland-pfälzischen, ländlichen Raums und damit ihre eigene Biografie einer Klassenanalyse zu unterziehen (Dröscher 2018: 29). Zweitens möchte ich vorschlagen, dass die Rolle eines ‚Türöffners‘ oder Diskursbegründers, die Eribon in der deutschen Debatte zugesprochen wird, symptomatisch dafür ist, dass ältere Traditionen autofiktionalen Schreibens über Klasse durch den literarischen wie literaturwissenschaftlichen Diskurs geschichtlich verschüttet wurden. Sie scheinen bisher kaum als potenzielle Bezugspunkte einer neuen literarischen Auseinandersetzung mit Klasse sichtbar zu sein und mobilisiert zu werden. Dieses Argument wird entwickelt, indem die Autosoziobiografien Eribons und Dröschers auf den autofiktionalen Roman Klassenliebe (1973) von Karin Struck bezogen werden. Die Rede von autofiktionalem und autosoziobiografischem Schreiben über Klasse bedarf eingangs einer Begriffserklärung. ‚Klasse‘ bezieht sich auf eine sozio-ökonomische Position und fungiert als Kategorie gesellschaftlicher Klassifikation, Stratifikation, Erfahrung, Politik und Identitätsbildung, die den Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen reguliert, mit Diskriminierung verbunden sein kann oder Solidarisierungen ermöglicht. ‚Klasse‘ ist dabei zusammen mit anderen Kategorien, die soziale Positionen betreffen, zu analysieren: bei Eribon sind insbesondere Sexualität und Geschlecht signifikant, bei Dröscher Geschlecht und Nationalität. Wesentlich ist zudem - gerade für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Klasse -, „dass die Klassenfrage unausweichlich zu einer Frage der Poesis, der Herstellung, der Formgebung: der Bildung in einem (entgrenzt) ästhetischen Sinne führt“ (Blome/ Eiden-Offe/ Weinberg 2010: 163), zu der sowohl Institutionen als auch literarische Genres beitragen (cf. Eiden-Offe 2017: 23-24). Autofiktionales und autosoziobiografisches Schreiben über Klasse bezeichnet dann einige von vielen literarischen Praktiken dieser poetischen Formung und Verhandlung von Klasse. Die Begriffe der ‚Autofiktionalität‘ und der ‚Autosoziobiografie‘ bestimmen die in Frage stehenden literarischen Praktiken genauer. 1 Autofiktion wird hier nicht als ein Genre verstanden, sondern als eine Schreibweise, die durch „verschiedene Formen der mehr oder weniger paradoxen Verknüpfung des referentiellen Paktes mit dem Fiktions-Pakt“ charakterisiert ist (Zipfel 2009: 311). Autofiktion umfasst also verschiedene Genres, wie etwa Strucks Roman, in dem sich „Autofiktion als eine besondere Art des fiktionalen Erzählens“ äußert (ibid.: 302). Die Autosoziobiografie verbindet hingegen die Autobiografie mit einer soziologischen (oder zumindest soziologisch beeinflussten) Analyse der eigenen Herkunft. 2 Damit teilt dieses Genre den Bezug auf das Autobiografische mit autofiktionalem Schreiben. Wie bei autofiktionalen Texten wird auch in autosoziobiografischen Texten die biografische Wirklichkeit literarisch mitgeformt, was von Eribon und Dröscher auch reflektiert wird (cf. Eribon 66 DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 Dossier 2018: 13, 242-244; Dröscher 2018: 28-29, 39). Dröscher schreibt gar: „Wie jede Selbsterzählung ist auch diese eine erdichtete“ (ibid.: 28). Dennoch inszenieren sich die Texte Eribons und Dröschers im Gegensatz zum autofiktionalen Roman Strucks so, dass sie lediglich im Sinne des referenziellen Paktes rezipiert werden sollen. Neben dem autobiografischen Element teilen autofiktionales und autosoziobiografisches Schreiben eine weitere strukturelle Gemeinsamkeit. Folgt man Monika Wagner-Egelhaaf, „exponiert [der autofiktionale Text] den Autor“, und es besteht ein „Konnex von Autofiktion und Autorschaft“ (2013: 14). Eine ähnliche Exponierung der Autor*innen lässt sich auch für das Genre der Autosoziobiografie feststellen. In den Texten Eribons, Dröschers und Strucks geht dabei die erzählte und analysierte (Selbst)Bildung zur Autorschaft mit einem Klassenwechsel einher. Autorschaft ist hier durch die Formierung einer neuen Klassenposition geprägt. Der Autorposition von Eribon, Dröscher und Struck ist dabei eine „Übersetzungsleistung“ eingeschrieben, kraft derer über das eigene Herkunftsmilieu für eine von diesem unterschiedene Öffentlichkeit berichtet wird (Spoerhase 2017: 36). Eine solche Autorposition scheint charakteristischer Bestandteil sowohl des autofiktionalen als auch des autosoziobiografischen Schreibens über Klasse zu sein, wenn diesen eine Aufstiegsbiografie als Produktionsbedingung zugrunde liegt. Lektüren Obgleich Eribon und Dröscher eine Autorposition teilen, die durch einen Klassenwechsel und eine Bildung zu großstädtischen Intellektuellen - hier der Journalist, Universitätsprofessor und öffentliche Intellektuelle, dort die freie Schriftstellerin - charakterisiert ist, schreiben sie über unterschiedliche Klassen: Während der 1953 in Reims geborene und aufgewachsene Eribon über „ce milieu ouvrier […] et cette misère ouvrière“ berichtet (Eribon 2018: 19), steht die ländliche Mittelklasse im Mittelpunkt des Klassenwechsels der 1977 geborenen und in einem rheinland-pfälzischen Dorf aufgewachsenen Dröscher. Sowohl bezüglich des Blicks auf die eigene Biografie als auch hinsichtlich der für diesen konstitutiven sozialen Position unterscheiden sich Eribon und Dröscher, wie Letztere hervorhebt: „Anders als Eribon bin ich keine Soziologin. Alles, was ich habe, ist meine Subjektivität. Ich bin nicht nur als ‚Aufsteigerkind‘ sozialisiert, sondern auch als Frau und Tochter meiner ‚fremden‘ [weil von polnischen Eltern abstammenden; C. S.] Mutter“ (Dröscher 2018: 28). 3 Im Gegensatz zu Eribon - „[p]remier de ma famille à m’engager sur la voie d’une trajectoire ascendante“ (Eribon 2018: 86) - erzählt das „Aufsteigerkind“ Dröscher zwei Klassenwechselgeschichten zugleich: einerseits den Aufstieg ihrer Eltern, die „einer Welt der Bergmänner und Bauern [entstammten]“ und kein Abitur haben (Dröscher 2018: 18), in eine wohlhabende Mittelklassenexistenz; anderseits ihren eigenen Bildungsaufstieg, der über das Abitur zu Studium und Promotion und schließlich zu einer Karriere als Schriftstellerin führt. Das proletarische Milieu, das im Zentrum von Retours à Reims steht, ist in Dröschers Biografie um eine Genera- DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 67 Dossier tion distanziert. 4 Als „erste Akademikerin […] meiner Kernfamilie“ bleibt ihr Bildungsaufstieg ambivalent, insofern er „progressiv, was Bildung, und regressiv, was materielle Sicherheit angeht“, ist (ibid.: 14, 24). Trotz dieser unterschiedlichen sozialen Positionen ähneln sich die Metaphorik und Begriffe, durch welche die Klassenwechsel in diesen Autosoziobiografien artikuliert werden. So spricht Eribon davon, „von einem Lager ins andere [zu] wechseln“ (Eribon 2016: 45; cf. Eribon 2018: 51), und Dröscher davon, „die Seiten [zu] wechseln“ (Dröscher 2018: 174); 5 geradezu leitmotivisch wird der Begriff der Verwirrung in Zeige deine Klasse wiederholt, während in Retour à Reims von Verunsicherung die Rede ist (Eribon 2016: 65; Eribon 2018: 72); zudem finden sich in den Texten viele Bilder der Verletzung und des Auseinanderklaffens: So schreibt Eribon beispielsweise von einem „Riss“ (Eribon 2016: 76; 2018: 82), Dröscher zum Beispiel von einer „Lücke“ und einer „Wunde“ (Dröscher 2018: 21, 28). 6 Es lässt sich hier lediglich spekulieren, ob solche Ähnlichkeiten zumindest teilweise einer Überschreibung der Klassenwechselerfahrung Dröschers durch ihre Lektüre von Eribon geschuldet sind, ob sie sich parallel entwickeln oder beide Autor*innen auf ein geteiltes Reservoir an Sprachbildern zurückgreifen. Jedenfalls ist mit Blick auf beide Texte die Verwendung einer ähnlichen metaphorischen Sprache zur Beschreibung einer anders situierten Klassenwechselgeschichte auffällig. Während sich die literarische Form der Autosoziobiografien Retour à Reims und Zeige deine Klasse stark unterscheidet, 7 teilen sie ein wissenschaftliches Objektivierungsverfahren, das sich insbesondere in Verweisen auf Fachliteratur in Fußnoten sowie der Verwendung sozial- und kulturtheoretischer Begriffe äußert. Daneben sind ihnen weitere Produktionsbedingungen und -verfahren gemeinsam: Zu diesen zählen nicht nur der Bildungsaufstieg selbst, sondern auch Fotos, Erzählungen und gezielte Telefonate mit Familienmitgliedern als Mittel zum Verstehen der sozialen Gemachtheit der eigenen Biografie. Außerdem sind Lektürebiografien und bestimmte Leseweisen wesentlich. Dies ist erstens deshalb entscheidend, weil sowohl Eribon als auch Dröscher das Lesen als eine Praktik der Distanzierung vom Herkunftsmilieu deuten (cf. Eribon 2018: 60; Dröscher 2018: 57, 121). Eine Ermöglichungsbedingung der Autorschaft von Subjekten, deren Klassenposition durch einen Klassenwechsel charakterisiert wird, ist dann die Herausbildung einer Lektürebiografie, die sie von ihrem Herkunftsmilieu unterscheidet. Zweitens sind Lektüren wichtig, insofern das Schreiben über die eigene Herkunft durch die Rezeption verwandter Texte mitermöglicht wird, wie Eribon deutlich macht: „Je me mis à lire avec frénésie tout ce qui pouvait se rapporter à ces thèmes. Je savais qu’un tel projet - écrire sur le ‚retour‘ - ne peut se mener à bien qu’à travers la médiation, je devrais dire le filtre, des références culturelles […]“ (Eribon 2018: 246). Dem autosoziobiografischen Schreiben über Klasse geht also in diesen Fällen das Lesen gerade auch von Literatur über Klasse voraus. Trotz Eribons Rede von der ‚Neutralisierung‘ einer „charge émotionelle“ durch die zwischen Lebenserfahrung und deren deutender Darstellung vermittelnde Lektüre herrschen bei Eribon und Dröscher identifikatorische Leseweisen vor (ibid.). Die 68 DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 Dossier Gegenstände dieser Lektüren stellen zugleich poetisch-methodische Modelle für die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft bereit. In Retour à Reims gilt dies für Werke von Annie Ernaux, James Baldwin, John Edgar Wideman und Raymond Williams. 8 Zwei Passagen müssen hier genügen, um mein Argument zu plausibilisieren: Le texte qu’il [Baldwin; C. S.] écrit pour lui [seinem Stiefvater; C. S.] rendre hommage peut donc s’interpréter comme le moyen d’accomplir ou, en tout cas, d’entamer ce ‚retour‘ mental en essayant de comprendre qui était ce personnage qu’il avait tant détesté et qu’il avait tant voulu fuir. Et, peut-être, en s’engagent dans ce processus d‘intellection historique et politique, devenir un jour capable de se réapproprier émotionnellement son propre passé […]. Comme Baldwin à propos du sien, j’en vins à penser que tout ce qu’avait été mon père […] avait été façonné par la violence du monde social. Comme Baldwin, dans un contexte fort différent, je suis certain que mon père portait en lui le poids d’une histoire écrasante […]. Exactement comme la mère de Baldwin, la mienne m’a dit : […]. (ibid.: 34-35) In dieser Passage fällt die Häufung der Konjunktion „comme“ auf, die trotz vieler Differenzen eine grundsätzliche Ähnlichkeit der Erfahrungen Baldwins und Eribons postuliert: Eribon liest Baldwin identifikatorisch als einen Schlüssel zum Verstehen der eigenen biografischen Erfahrung. Zugleich sieht er in Baldwins literarischer Auseinandersetzung mit seinem Stiefvater ein Modell für die literarische, analytische und emotionale Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen Herkunft im Modus der - auch narrativen - Rückkehr. Auf ähnliche Weise liest Eribon auch Ernaux, wobei die identifikatorisch verwendete Konjunktion „comme“ erneut vorkommt: Je citai un passage qui m’avait beaucoup touché dans une interview d’Annie Ernaux […]. Comme elle, je ressentis la nécessité, dans le contexte d’un mouvement politique et de l’effervescence théorique qui l’accompagnait, de ‚plonger‘ dans ma mémoire et d’écrire pour ‚venger ma race‘. (Eribon 2018: 241-242) Die Gemeinsamkeit, die Eribon durch seine Lektüre herstellt, besteht nicht nur in einem geteilten Projekt, einer Erforschung der sozialen Vergangenheit, sondern auch in einer emotionalen Identifikation mit anderen Schreibenden mit einer ähnlichen sozialen Position. Eribons intertextueller Referenzrahmen charakterisiert zudem jene dem autosoziobiografischen und autofiktionalen Schreiben über Klasse zugrunde liegenden Erfahrungen als transnational geteilte, d. h., die erzählten Klassenerfahrungen sind keine national beschränkten und haben einen (potenziell) weltliterarischen Resonanzraum. Dies findet in Dröschers Bezug auf Eribon eine Bestätigung und Fortsetzung. Eribon wird für Dröscher zu einer durch Lesen angeeigneten Identifikationsinstanz; damit nimmt Eribons Text in Zeige deine Klasse eine ähnliche Funktion ein wie Texte Ernaux’ oder Baldwins in Retour à Reims. In Zeige deine Klasse finden sich zwölf über den gesamten Text verteilte direkte Referenzen auf Eribon, darunter längere Zitate. Während Eribon „avec frénésie“ liest und von bestimmten Passagen berührt wird, wird Dröscher körperlich von ihrer Eribon-Lektüre affiziert. Ähnlich wie DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 69 Dossier Eribon lernt sie zudem durch diese identifikatorische, emotional bewegte Leseweise die Konsequenzen ihrer eigenen sozialen Herkunft verstehen. Statt der Konjunktion „comme“ betont nun das Adverb „auch“ die Stiftung einer Ähnlichkeitsbeziehung: „Ich las das Buch atemlos, mit heißen Ohren, und entdeckte darin eine Hintertür für mich. Obgleich ich mit liebevollen, wohlhabenden, gebildeten Eltern aufgewachsen bin, habe auch ich gelernt, mich für meine Eltern zu schämen“ (Dröscher 2018: 21). Und: „Erst aber als ich Eribon las, verstand ich, dass ich auch im Hinblick auf mein Herkunftsmilieu eine Scham zweiter Ordnung gelebt hatte“ (ibid.: 23). Insbesondere durch die collagehafte Einfügung von Eribon-Zitaten, die die erzählten eigenen Erfahrungen spiegeln und dadurch erhellen, bildet Zeige deine Klasse die Lektürepraxis der Autorin als Erkenntnisprozess in ihrer Schreibpraxis ab: Dies wird beispielsweise an ihrer Auseinandersetzung mit dem durch den Wechsel ins akademische Milieu erzeugten „Gefühl des Zu- SPÄT “ deutlich (ibid.: 192). Bei Dröscher führt die Lektüre Eribons so von „Blindheit“ zu Selbsterkenntnis als Einsicht in die soziale Gemachtheit der eigenen Emotionen, Verhaltens- und Denkweisen (ibid.: 15). 9 Allerdings fungieren bei Eribon und Dröscher Lesen und Schreiben nicht nur als Dimensionen intellektueller und emotionaler Bildung. Bücher - wie Eribon formuliert - konstituieren vielmehr „un point d’appui décisif dans le travail qu’il me fallait entreprendre pour me réinventer moi-même et reformuler ce que j’étais“ (Eribon 2018: 227), eine Selbstbildung, die durch einen Klassenwechsel geprägt und insbesondere durch Lektüre und Autorschaft praktiziert wird. Diese Selbstbildung und ‚Neuerfindung‘ Eribons und Dröschers, die wesentlich die Bildung in eine neue Klassenposition hinein ist, ist in ihren Bedingungen und Verfahren also zu einem nicht geringen Teil in einem weiten Sinne literarisch und artikuliert sich in der Autosoziobiografie als einer Form des Schreibens über Klasse. 10 Scham In ihrer Lektüre identifiziert Dröscher Scham als „[e]ine zentrale Kategorie“ von Retour à Reims (Dröscher 2018: 21). In der Tat hat Eribon am Beginn seiner Autosoziobiografie die Analyse von Scham - genauer: des Verhältnisses von sexueller und sozialer Scham - als einen Schlüssel zum Verständnis seiner eigenen Subjektivierung hervorgehoben. Die Frage nach diesem Verhältnis konstituiert eine Ausgangsfrage seines Schreibens über soziale Herkunft: Je devrais même énoncer la question en ces termes: „Pourquoi, moi qui ai tant éprouvé la honte sociale, la honte du milieu d’où je venais quand, une fois installé à Paris, j’ai connu des gens qui venaient de milieux sociaux si différents du mien, à qui souvent je mentais plus ou moins sur mes origines de classe, ou devant lesquels je me sentais profondément gêné d’avouer ces origines, pourquoi donc n’ai-je jamais eu l’idée d’aborder ce problème dans un livre ou un article? “ Formulons-le ainsi: il me fut plus facile d’écrire sur la honte sexuelle que sur la honte sociale. (Eribon 2018: 21) 70 DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 Dossier In Retour à Reims kommt es also zu einer Differenzierung zwischen verschiedenen, miteinander in Verbindung stehenden Arten der Scham im Subjektivierungsprozess. Folgt man nun Bettina Kleiner, scheint die soziale Scham in Rückkehr nach Reims deshalb beharrlicher […], weil sie a) biografisch früher auftaucht als die sexuelle und weil b) soziale Herkunft in Bildungsinstitutionen sowohl in Leistungszuschreibungen als auch in akademische Anerkennungspraktiken eingelassen ist und Referenzen von Beschämungspraktiken aufgrund dieser Interdependenzen schwer ausgemacht werden können. (Kleiner 2020: 57) Dabei führe „[d]as Leiden an sozialer und sexueller Scham […] zur Abwendung von der Familie“, während „Sozialscham“ zugleich „eine Hinwendung zu Bildung und sexuelle Scham die Suche nach einem schwulen sozialen Leben“ ermögliche (ibid.: 62). Für Dröscher liegt in der Thematisierung von Scham eine entscheidende Grundlage ihrer Identifikation mit dem Projekt des französischen Soziologen, denn „[d]ie Scham gehörte lange Zeit sogar so untrennbar zu mir wie das Atemholen“ (ibid.). Die Autorin hebt an ihrer Erfahrung von Scham als einer quasi-naturalisierten Körperlichkeit das hervor, was die Forschung für Eribon gezeigt hat, nämlich dass „Eribons Von-der-Scham-Schreiben […] Scham als körperliches (Er-)Leben, als gezeichnete Subjektposition und soziales Sein“ in den Vordergrund gerückt habe (Kalmbach/ Kleinau/ Völker 2020: 2). Und ähnlich wie für Eribon, für den „Klassenscham […] weniger zugänglich“ gewesen sei als sexuelle Scham (Kleiner 2020: 62), war für Dröscher die soziale, klassenspezifische Gemachtheit der eigenen Scham nur schwierig zu erkennen (cf. Dröscher 2018: 14-15, 23). Die Kategorie der Scham ist dabei für die Autorin so grundlegend, dass sie Zeige deine Klasse geradezu paratextuell einklammert, sind doch der Prolog „Ein Gelächter und eine schmerzliche Scham“ und der letzte Teil „Alphabet der Scham“ betitelt (ibid.: 13, 215). Dröschers Scham ist jedoch nicht Eribons Scham, die Scham einer heterosexuellen Frau aus der Mittelklasse nicht die eines homosexuellen Mannes aus der Arbeiterklasse. Dröscher betont selbst diese soziale Situiertheit der Scham: „Ein Kind großbürgerlicher Eltern oder sozial selbstbewusster Arbeitereltern schämt sich anders für seine dicke Mutter als das Kind einer ‚Fremden‘ und eines verunsicherten Aufsteigers“ (ibid.: 113). Hinsichtlich der Rezeption des Schamdiskures von Retour à Reims in Zeige deine Klasse lässt sich also eine ausdifferenzierende Aneignung dieses Diskurses im Verhältnis insbesondere zur Klasse beobachten. Im Vergleich zu Eribon sind dabei zwei Aspekte hervorzuheben. Zum einen ergibt sich bei Dröscher aufgrund ihres Bildungsaufstiegs aus einer Mittelklassenposition heraus eine Art „Paradox“ der Scham (Dröscher 2018: 24). Hierbei schämt sich das Subjekt in zwei verschiedene soziale Richtungen: Als Kind und Jugendliche habe ich einer privilegierten Minderheit angehört und die Scham nach unten gelernt. Mit dem Eintritt in die Universität […] verlor ich dem Gefühl nach diesen privilegierten Status und lernte Stück für Stück die gegenläufige Scham nach oben. Anders DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 71 Dossier gesagt habe ich der nach oben empfundenen Scham erlaubt, meine Privilegien zu überdecken […]. (ibid.) Diese Spezifik der Scham der Mittelklassen-Milieuwechslerin kann laut Dröscher aufgrund eines „[V]ernebel[ns]“ von Klassenprivilegien eine die gesellschaftliche Stratifikation stabilisierende Funktion haben (ibid.: 26). Scham kann allerdings auch zum Anlass werden, „mir meiner blinden Flecke und ungenutzten Handlungsmöglichkeiten bewusst zu werden“ (ibid.: 25), wenn sie zum Gegenstand kritischer Reflexion wird. 11 Während in Retour à Reims insbesondere das Verhältnis von sozialer und sexueller Scham im Mittelpunkt der Untersuchung steht, artikuliert sich in Zeige deine Klasse zum anderen die Scham eines mit einer Reihe von Ortswechseln verbundenen Bildungsaufstiegs im Verhältnis von (Mittel)Klasse und vergeschlechtlichtem Körper, Stadt-Land-Gegensatz, Sprache und Nation. Dröscher beschreibt in erster Linie eine „dreifaltige“ Herkunftsscham (ibid.: 153), die ihren Klassenwechsel charakterisiert: Zusätzlich zur Körperscham über meine Mutter prägt sich zu Beginn der Pubertät eine zweite Scham aus, die Scham über den Ort, an dem ich lebte. Unser kleines rheinland-pfälzisches Dorf, am Rand der Welt gelegen, schien mir mit einem Mal bevölkert von provinziellen Menschen, die in einem provinziellen Dialekt redeten. […] Zum dritten Pfeiler meiner Scham wurde der Dialekt der ländlichen Nahe-Region. Mein Vater sprach ihn so wie fast alle im Dorf. […] Ich lebte lang in der gefühlten Gefangenschaft dieser drei Ds - dicke Mutter, Dorf, Dialekt. (ibid.: 22-23) Zusätzlich kommt es biografisch später zu einer Transformation der Herkunftsscham im Verhältnis zur Kategorie der Nation. Diese wird darüber hinaus mit einer Erfahrung von race analogisiert: An der Universität trat eine vierte Scham, ein viertes D hinzu; die Scham, deutsch zu sein. Auch das ist eine Herkunftsscham - allerdings keine gemachte. Es ist ein primäre, ähnlich aufrichtig empfundene wie die Scham, die ich in London, genauer gesagt einem schwarzen Viertel lernte: die Scham, weiß zu sein. (ibid.: 23) In Zeige deine Klasse markiert die spezifische Ausformung des Schamdiskurses also die soziale Position (und teils die politische Positionierung) der Autorin. Zugleich wird deutlich, dass sich für Dröscher Scham gerade durch die Lektüre von Retour à Reims als Folie eines Verständnisses der eigenen sozialen Herkunft anbietet, ein Verständnis also, das somit auch durch die Praktik der identifikatorischen literarischen Rezeption mit gemacht ist. Dass es bei Dröscher eine grundsätzliche Anknüpfung an den Schamdiskurs Eribons gibt, legt aber auch nahe, dass Scham eine transnational über verschiedene Klassenpositionen hinweg geteilte Erfahrung von Klassenwechsler*innen ist. Dabei wird im Vergleich von Retour à Reims und Zeige deine Klasse sichtbar, dass der Zusammenhang von Scham und Klassenwechsel 72 DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 Dossier sich in verschiedenen Klassen und ihren Verschränkungen mit anderen Herrschaftsverhältnissen unterschiedlich artikuliert. Die Rezeption Eribons in der deutschsprachigen Öffentlichkeit ermöglicht damit auch eine differenzierte Untersuchung des Zusammenhangs von Scham, sozialer Position und Aufstiegsnarrativen in einem transnationalen literarischen Kontext, der eine der Produktionsbedingungen der hier diskutierten Autosoziobiografien ist. 12 Verschüttete Traditionen In Zeige deine Klasse merkt Dröscher an, dass ein mangelndes Klassenbewusstsein verantwortlich für ihre ‚Verwirrung‘ über die eigene soziale Position gewesen sei. Die Abwesenheit eines solchen Selbstverständnisses hänge wesentlich mit dem Verschwinden der Kategorie der Klasse aus dem „offiziellen Diskurs“ und der Vorherrschaft der Kategorie der Schicht zusammen, die von der Autorin als weniger kollektivierend verstanden wird: Ich war nicht die Einzige, die derart verwirrt über der Realität schwebte. In der Zeit zwischen 1981 und 2000 gab es in Deutschland im offiziellen Diskurs kaum Klassenunterschiede. Aus der Klasse sollte die Schicht geworden sein. (Dröscher 2018: 19). Dröschers Selbstaussage trifft sich - wie eingangs skizziert - mit der im bürgerlichen und linksliberalen Feuilleton weitestgehend geteilten Einschätzung, dass erst seit Eribon wieder über (die proletarische) Klasse gesprochen und literarisch geschrieben sowie das Verhältnis von literarischer Produktion und Klasse thematisiert werde. Der von Dröscher aufgerufene Zeitraum korrespondiert allerdings zugleich ungefähr mit dem Zeitraum, in dem Forschungen zur proletarischen Klasse und ihrer Literatur aus dem literaturwissenschaftlichen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland verschwanden. Waren im Zuge der Studierendenbewegung Interesse am Verhältnis von literarischer Praxis und Klasse durch linke Germanist*innen artikuliert sowie verschüttete Traditionen der Arbeiter*innenliteratur ausgegraben worden, kam diese Wissensproduktion in den frühen 1980er Jahren zumindest in ihrer Breite zu einem raschen Ende. 13 Erst ab etwa Mitte der 2010er Jahre lässt sich wieder ein verstärktes Interesse an diesen Fragen feststellen. 14 Durch die erneute Verschüttung gerieten auch ältere autofiktionale oder zumindest um biografische Erfahrungen kreisende Traditionen des Schreibens über Proletarier*innen eher aus dem Blick, die gerade wiederentdeckt worden oder entstanden waren: So zum Beispiel die Arbeiterkorrespondentenbewegung der Weimarer Republik, das im Malik-Verlag erschiene Ein Prolet erzählt. Lebensschilderung eines deutschen Arbeiters (1930) von Ludwig Turek oder Gerhard Zwerenz’ Kopf und Bauch. Die Geschichte eines Arbeiters, der unter die Intellektuellen gefallen ist (1971). Dadurch, so ließe sich vermuten, wurde es erst möglich und notwendig, dass Retour à Reims als der Text in Teilen der linksliberalen und linken Öffentlichkeit Deutschlands zirkulieren konnte, der einen neuen breiten (autobiografisch markierten) Diskurs über Klasse begründete. Natürlich spielten auch andere Gründe eine Rolle für die starke Rezeption Eribons. DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 73 Dossier Insbesondere seine Auseinandersetzung mit dem Erstarken der Rechten ist hier zu nennen. Es ließe sich vor diesem Hintergrund kontrafaktisch fragen, welche alternativen Anschlüsse und Fortschreibungen von verschütteten Traditionen unter anderen Bedingungen möglich gewesen wären. Ein naheliegendes Beispiel, um eine solche Fragestellung zu plausibilisieren, liefert Karin Strucks 1973 erschienener autofiktionaler Roman Klassenliebe, ein Text, der in erster Linie im Kontext der Neuen Subjektivität und der feministischen Literatur, weniger als Beispiel einer Literatur über Klasse oder der Arbeiter*innenliteratur rezipiert worden ist. 15 Im Mittelpunkt des einem „tagebuchartige[n] Protokoll[]“ (Neuhaus-Koch 2011: 268) ähnelnden Textes steht ein - im Gegensatz zu den retrospektiven Aufstiegsnarrativen Eribons und Dröschers - krisenhafter Klassenwechsel, der sich als Bildungsaufstieg vollziehen soll(te): Die von Bauern und Landarbeitern abstammende Ich-Erzählerin droht an ihrer Dissertation zu scheitern. 16 Laut Eva Blome veranschaulicht der Roman, „dass deutschsprachige autobiografische Texte, die von der Erfahrung des Klassenwechsels berichten, bereits in den 1970er Jahren eine erste Konjunktur erlebten“ (Blome 2020). Ähnlich wie bei Eribon und Dröscher vollzieht sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Klassenposition auch bei Struck über Lektüren (cf. Blome 2020). Der Klassenwechsel geht außerdem auch für Strucks autodiegetische Erzählerin mit Erfahrungen der sozialen Scham einher. So bekennt sie zum Beispiel mit Bezug auf alle Stationen ihres Bildungsaufstiegs: „Wer hält durch: immer geduckt in der Bank sitzen, vor lauter Angst, nichts zu können, auch zuletzt nichts zu können. Abitur ergaunern. Schein ergaunern. Das Gefühl: alles ist ergaunert“ (Struck 2013: 106). Die genannten Gründe plausibilisieren, weshalb Klassenliebe unter anderen literarischen Produktionsbedingungen - nämlich denen nicht abgebrochener Traditionen autofiktionalen Schreibens über Klasse - durchaus statt Retour à Reims als einer von vielen möglichen Anknüpfungspunkten für ein eigenes Schreiben über soziale Herkunft hätte fungieren können. Zudem hätte Klassenliebe eine solche Funktion vielleicht auch deshalb erfüllen können, weil dieser an der als subjektiv kodierten Form des Tagebuchs orientierte Text sich durchaus mit einer zentralen Aussage Dröschers trifft: „Anders als Eribon bin ich keine Soziologin. Alles, was ich habe, ist meine Subjektivität“ (Dröscher 2018: 28). Formal unterscheidet sich Klassenliebe allerdings grundlegend von den Autosoziobiografien Eribons und Dröschers, die sich „ihrem Gegenstand nur im Rückblick annähern“ und durch „eine distanzierte Haltung“ und „zeitliche[] Distanz zur vergangenen Subjektivität“ geprägt sind (Ernst 2020). Obgleich Analepsen Klassenliebe charakterisieren, operiert der Text im Modus eines Jetzt, das durch die Unmittelbarkeit der Krisenerfahrung des Klassenwechsels geprägt ist und diese emotional und intellektuell zu verhandeln versucht. Das vorherrschende Tempus des Romans ist dementsprechend das Präsens, auch weil der Klassenwechsel emotional nur teilweise in der Vergangenheit liegt. Im Gegensatz zu Dröscher und Eribon ist die Sprache aufgewühlt, der Text weniger narrativ geordnet. Der Roman ist nicht im Gestus des souveränen, wissenden, objektivierenden Rückblicks einer mehr oder weniger 74 DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 Dossier erfolgreichen Aufsteigerin geschrieben, wie dies für Retour à Reims und Zeige deine Klasse der Fall ist. Zwar fühlt sich die Ich-Erzählerin von ihrer Klasse „entfernt“ und bekennt: „ich beobachte meine eigene Klasse“ (Struck 2013: 70). Jedoch sieht sie „Arbeiter neben Frauen und Kindern [als] die entscheidende Gruppe der Unterprivilegierten, der ihre ganze Solidarität gilt“ (Neuhaus-Koch 2011: 269), was bereits der vieldeutige Titel evoziert. Damit entzieht sich Klassenliebe, so ließe sich argumentieren, Vorwürfen, die wiederholt an aktuelles autosoziobiografisches Schreiben über deklassierte Gruppen herangetragen wurden, nämlich dass dieses eine andere Klasse adressiere als die, die der Gegenstand des Textes ist; dass die Schreibenden sich tendenziell mit ihren Herkunftsklassen entsolidarisierten, um wahrgenommen zu werden; ja dass es „[t]eilweise […] an Sozialpornographie [grenze], was die Kinder der Armen über ihre Eltern schreiben“ (Mayr 2020: 24). 17 Mit Blick auf den skizzierten Zusammenhang möchte ich dafür plädieren, die ‚Türöffnung‘, die sich durch die Rezeption Eribons in Deutschland ergeben hat, als mindestens zweifache Neuperspektivierung zu nutzen, die über eine ausschließliche Konzentration auf die Rezeption Eribons hinausgeht. Erstens bietet sich die Chance für die Untersuchung verschiedener autofiktionaler Genres und Verfahren des Schreibens über Klasse, in deren Spannungsfeld auch die Autosoziobiografie steht. Dabei ist es insbesondere wichtig, zu diskutieren, welches Sprechen und Schreiben über Klasse diese verschiedenen Genres in unterschiedlichen Kontexten ermöglichen oder verhindern und welche Öffentlichkeiten sie adressieren. Zweitens ergibt sich aus dieser Konstellation die Aufgabe, verschüttete Traditionen autofiktionalen Schreibens über Klasse und soziale Herkunft unter heutigen Bedingungen zu rekonstruieren und die Gründe für diese Verschüttung kritisch zu analysieren. Denn es liegt nahe, das für längere Zeit weitestgehende Fehlen eines literarischen, literaturwissenschaftlichen und öffentlichen Diskurses über Klasse, das durch die Rezeption Eribons erst wieder für Autor*innen wie Dröscher und eine breitere Öffentlichkeit sichtbar oder zumindest adressierbar gemacht wurde, ganz im Sinne Eribons als etwas gesellschaftlich, kulturell und nicht zuletzt politisch Gemachtes zu verstehen. Baron, Christian, „Eine Scham, die bleibt“, in: Der Freitag, 35, 27.08.2020, 19. Blome, Eva, „Institutionalisierung und Innovation. Gender Studies in literatur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive (mit Überlegungen zu Didier Eribons Rückkehr nach Reims)“, in: Manuela Günter / Annette Keck (ed.), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Gender Studies, Berlin, Kadmos, 2018, 37-62. —, „Rückkehr zur Herkunft. Autosoziobiografien erzählen von der Klassengesellschaft“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 2020, DOI: 10.1007/ s41245-020-00118-y (publiziert am 24.11.2020; Aufruf am 1.12.2020). Blome, Eva / Eiden-Offe, Patrick / Weinberg, Manfred, „Klassen-Bildung. Ein Problemaufriss“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 35 (2), 2010, 158-194. Dröscher, Daniela, Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft, Hamburg, Hoffmann und Campe, 2018. DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 75 Dossier Eiden-Offe, Patrick, Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin, Matthes & Seitz, 2017. Eribon, Didier, Rückkehr nach Reims, trad. Tobias Haberkorn, Berlin, Suhrkamp, 2016. —, Retour à Reims. Précédé d’un entretien avec Édouard Louis, Paris, Flammarion, 2018. Ernst, Christina, „Das Leben schreiben. Annie Ernaux’ Tagebücher“, www.zflprojekte.de/ zflblog/ 2020/ 06/ 22/ christina-ernst-das-leben-schreiben-annie-ernaux-tagebuecher (publiziert am 22.06.2020; Aufruf am 26.11.2020). Graw, Isabelle / Weingart, Brigitte, „Entre nous. Ein Briefwechsel über Autofiktion in der Gegenwartsliteratur zwischen Isabelle Graw und Brigitte Weingart“, in: Texte zur Kunst, 115, 2019, 39-63. Hake, Sabine, The Proletarian Dream. Socialism, Culture, and Emotion in Germany, 1863-1933, Berlin/ Boston, De Gruyter, 2017. Kalmbach, Karolin / Kleinau, Elke / Völker, Susanne, „Sexualität, Klasse und Scham schreiben - Des/ Identifikationen ermöglichen? “, in: id. (ed.), Eribon revisited - Perspektiven der Gender und Queer Studies, Wiesbaden, Springer VS, 2020, 1-9. Kleiner, Bettina, „Sexuelle und soziale Scham. Zur unterschiedlichen Bedeutung dieser Affekte in Rückkehr nach Reims“, in: Karolin Kalmbach / Elke Kleinau / Susanne Völker (ed.), Eribon revisited - Perspektiven der Gender und Queer Studies, Wiesbaden, Springer VS, 2020, 49- 64. Mayr, Anna, Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, Berlin, Hanser, 2020. Mayer, Verena, „Aufstieg geschafft, Underdog geblieben“, www.sueddeutsche.de/ kultur/ mittelschicht-west-aufstieg-geschafft-underdog-geblieben-1.4153424 (publiziert am 08.10.2018; Aufruf am 24.11.2020). Neuhaus-Koch, Ariane, „Karin Struck und die Arbeiterliteratur“, in: Getrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande, Schreibwelten - Erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61, Essen, Klartext, 2011, 267-272. Scholz, Leander, „Arbeiterkinderliteratur“, in: Texte zur Kunst, 115, 2019, 121-133. Schulz, Dirk, „Niedentisch. Fluchtbewegungen, Annäherungen, Festschreibungen“, in: Karolin Kalmbach / Elke Kleinau / Susanne Völker (ed.), Eribon revisited - Perspektiven der Gender und Queer Studies, Wiesbaden, Springer VS, 2020, 87-103. Spoerhase, Carlos, „Poetik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse“, in: Merkur, 71 (818), 2017, 27-37. Stieg, Gerald / Witte, Bernd, Abriß einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur, Stuttgart, Klett, 1973. Struck, Karin, Klassenliebe, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2013. Trommler, Frank, Sozialistische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick, Stuttgart, Kröner, 1976. Wagner-Egelhaaf, Martina, „Einleitung. Was ist Auto(r)fiktion? “, in: ead. (ed.), Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld, Aisthesis, 2013, 7-21. Zipfel, Frank, „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? “, in: Simone Winko / Fotis Jannidis / Gerhard Lauer (ed.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin / New York, De Gruyter, 2009, 285-314. 76 DOI 10.2357/ ldm-2020-0047 Dossier 1 Zu Theorie und Begriffsgeschichte der Autofiktion cf. Zipfel 2009, Wagner-Egelhaaf 2013. Ich möchte Manuel Clemens und Florian Kappeler für die kritische Lektüre meines Textes und ihre hilfreichen Kommentare danken. 2 Zur Autosoziobiografie, deren Begriff von Annie Ernaux geprägt wurde, cf. Ernst 2020, Blome 2020. 3 Auch für Eribon spielen seine Mutter und Geschlechterverhältnisse eine entscheidende Rolle, cf. Blome 2018: 55. Dröscher hebt dies nicht an Retour à Reims hervor. 4 Cf. in diesem Zusammenhang Blome 2020, die argumentiert, dass in Autosoziobiografien „Klassenverhältnisse als Generationenverhältnisse erzählt“ werden. 5 Ernaux ist eine weitere Quelle dieser Bildsprache, cf. Dröscher 2018: 5. 6 Es scheint mir methodisch sinnvoll zu sein, hier aus der deutschen Übersetzung von Retour à Reims zu zitieren, da Dröscher mit dieser gearbeitet hat. 7 Gegenüber der geschlossenen Prosaform von Retour à Reims fällt insbesondere der fast collageartige Charakter von Zeige deine Klasse auf, wozu die Autorin Formen wie Steckbrief, Liste oder Fragebogen verwendet. 8 Durch die identifikatorischen intertextuellen Bezüge konstruiert Eribon „Wahlverwandtschaften, die unterschiedliche Akteur*innen feministischer, antirassistischer, Schwarzer, queerer Artikulationen und Kämpfe adressieren“ (Kalmbach/ Kleinau/ Völker 2020: 2). Eribons teils desidentifkatorische Lektüre Bourdieus stellt ein Gegenbeispiel dar, cf. Eribon 2018: 164-170. 9 In Retour à Reims und Zeige deine Klasse ist die Auseinandersetzung mit Texten Anlass zur „Selbstbefragung“ (Blome 2018: 53). 10 Der Begriff der Bildung liegt hier auch deshalb nahe, weil Retour à Reims plausibel mit dem Bildungsroman in Verbindung gebracht worden ist, cf. Schulz 2020. Ähnlich könnte bezüglich Zeige deine Klasse argumentiert werden. 11 Ähnlich sieht Dröscher in der Erkenntnis der sozialen Gemachtheit ihrer Scham die Möglichkeit von Solidarisierungen mit Blick auf die Verschränkung von Klasse und Geschlecht erwachsen (Dröscher 2018: 158). 12 Gleiches gilt auch für die Rezeption Ernaux’, cf. Baron 2020. 13 Für zwei das literaturwissenschaftliche Wissen dieser Forschung synthetisierende Beispiele, die bezeichnenderweise beide aus den 1970er Jahren stammen, cf. Stieg/ Witte 1973, Trommler 1976. 14 Beispiele für dieses neuere germanistische Forschungsinteresse sind Eiden-Offe 2017 und Hake 2017. 15 Cf. allerdings Neuhaus-Koch 2011, die Struck im Kontext der Arbeiter*innenliteratur verortet. Cf. außerdem Blome 2020, die Klassenliebe als autosoziobiografischen Text begreift. 16 Auch Dröscher kämpfte mit ihrer Dissertation, cf. Dröscher 2018: 233-234. 17 Cf. Scholz 2019: 129. Wie Mayr und Brigitte Weingart (im Anschluss an Louis) kritisieren, sind das Aufgestiegensein bzw. die Verpflichtung, über die eigene Herkunftsklasse zu sprechen, die Grundlage eines in der bürgerlichen Öffentlichkeit legitimierten Sprechens über die proletarische Klasse (Mayr 2020: 29-31; Graw/ Weingart 2019: 59). Cf. zudem überblicksartig Blome 2020.