lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0048
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2020
45180
‚Arbeiterkinderliteratur‘ nach Eribon
121
2020
Christina Ernst
ldm451800077
DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 77 Dossier Christina Ernst ‚Arbeiterkinderliteratur‘ nach Eribon Autosoziobiographie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Klassenaufstieg erzählen: Das ‚Eribon-Genre‘ Er ging zum Klavier, griff ein Buch und wedelte damit. Ich kannte das Buch. „Um was geht es? “, sagte ich. „Um was geht es? “, sagte Micha. […] Ich sagte: „Arbeiterjunge schafft es auf die Uni. Gehört nicht mehr dahin, wo er herkommt. Gehört nicht dahin, wo er jetzt ist.“ Micha sagte: „Junger Schwuler zieht in die Großstadt. Gehört nicht mehr dahin, wo er herkommt. Gehört nicht dahin, wo er jetzt ist.“ Ich sagte: „Da haben wir zwei verschiedene Bücher gelesen.“ […] Micha sagte: „Ich habe mich nicht getraut, im Laden nach dem Buch zu fragen. Ich wusste nicht, wie man den Namen ausspricht. Oder den Titel. Ich hätte das Buch fast nicht gelesen, weil ich kein Französisch kann. Witzig, oder? “ (Bjerg 2020: 100). Ohne dass Titel oder Autor genannt werden, scheint sofort ersichtlich zu sein, auf welches Buch hier in Bov Bjergs Roman Serpentinen (2020) angespielt wird: es geht um Didier Eribons autosoziobiographisches 1 Werk Retour à Reims (2009), das 2016 in deutschsprachiger Übersetzung als Rückkehr nach Reims im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Naheliegend ist diese Deutung zunächst aufgrund der parallelisierten Themensetzung „Arbeiterjunge schafft es auf die Uni“ / „junger Schwuler zieht in die Großstadt“, die auch Eribon als die zwei Sujet-Stränge seiner Erzählung nennt, wobei er sie einander nicht nur gegenüberstellt, sondern verschränkt betrachtet, wie eines das andere bedingt: „Wer ich heute bin, geht auf die Verflechtung zweier Projekte zurück. Ich war mit der doppelten Hoffnung nach Paris gekommen, ein freies schwules Leben zu führen und ein ‚Intellektueller‘ zu werden“ (Eribon 2016b: 223). Verstärkt wird die intertextuelle Anspielung durch die Emphase auf den „französischen“ Namen und Titel. Damit sie funktioniert und den Leser*innen klar ist, dass hier von Rückkehr nach Reims die Rede ist, braucht es aber mehr als diese textimmanenten Faktoren. Ihre Wirkung ist rückgebunden an den spezifischen historischen Moment, in dem Bjergs Buch erscheint; sie entfaltet sich in diesem im Zusammenspiel von Sujet und Textsorte. Bov Bjerg erzählt in Serpentinen von der ‚Rückkehr‘ eines sozialen Aufsteigers an die Schauplätze seines Aufwachsens in der Provinz, als Reise in die Herkunftsgegend gemeinsam mit dem Sohn, und als Reflexion über die sozialen Determinismen dieses Ortes, in die die eigene Familiengeschichte eingebettet wird. Entlang der Frage: „Um was geht es? “, die sich leitmotivisch durch den Roman zieht, wird der soziale Aufstieg des Protagonisten auch als versuchter Ausstieg aus klassenspezifischen Maskulinitätsvorstellungen und einer Genealogie von Suizid der männlichen Vorfahren erzählt. 2 78 DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 Dossier Bjergs intertextueller Verweis auf Eribon steht stellvertretend für eine ganze Reihe an deutschsprachigen Autor*innen, die Rückkehr nach Reims, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, in ihrem Schreiben aufgegriffen haben. Dieser Form des literarischen Transferts soll im Folgenden nachgegangen werden. Sie wird zunächst eingebettet in das deutschsprachige Diskursfeld der Eribon-Rezeption, in dem sie entsteht und ihre spezifische Ausprägung bekommt. Literarische Texte, in denen die Erzählung der eigenen Arbeiter*innenklassenherkunft 3 an soziologische Analysen rückgebunden wird, sind zwar kein rein (deutsch-)französisches Phänomen - man denke etwa an J. D. Vances Hillbilly Elegy (2016), das auch hierzulande größere Aufmerksamkeit bekommen hat - dennoch scheinen sich gerade die deutschsprachigen Literaturproduktionen hier in eine sichtliche, oft auch explizite Tradition des Autor*innenkreises Eribon-Ernaux-Louis zu stellen. Debatten zur Klassengesellschaft werden im deutschsprachigen Raum zurzeit vermehrt entlang der Kategorien von sozialer Herkunft, ‚Bildungsaufstieg‘ und (habituellen) Klassenunterschieden geführt; sie entstehen häufig im Kontext literarischer Texte bzw. bedienen sich literarischer Verfahren, die Anleihen an den französischen Autosoziobiographien nehmen. Auch fünf Jahre nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung muss Didier Eribon als Referenzname herhalten, wenn im deutschsprachigen Raum über Gegenwartsliteratur, die sich mit Arbeiter*innenklassen-Herkunft auseinandersetzt, berichtet wird: „Fast könnte man vom Eribon-Genre sprechen“ heißt es in einer Rezension von Andrea Heinz über Bov Bjegs Serpentinen (Heinz 2020). Das „Eribon-Genre“, oder genauer, die Textsorte, für die Eribon regelmäßig als Gewährsbeispiel heranzitiert wird, wird im deutschsprachigen Literaturdiskurs meist unter der Bezeichnung ‚Autofiktion‘ verhandelt. Interessant dabei ist der große Stellenwert, der der Autofiktion dabei im Feld der Gegenwartsliteratur beigemessen wird; symptomatisch dafür sei die Ausgabe „Literatur“ der Zeitschrift Texte zur Kunst (2019) genannt, in der sich ein Großteil der Beiträge mit Phänomenen der (im emphatischen Sinne so bezeichneten) Autofiktion auseinandersetzen. 4 „Autofiktion“ meint hier aber nicht eine „fiction d’événements et de faits strictements réels“ (Doubrovsky 1977), wie der Urheber des Begriffs Serge Doubrovsky auf dem Klappentext seinen „Roman“ Fils charakterisiert - also ein Spiel mit dem „pacte autobiographique“ (Lejeune 1975) und der Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen. In der gegenwärtigen (deutschsprachigen) Konzeption unterhält das Subjekt der Autofiktion Schnittmengen zu den Autor*innen, ist also in deren sozialer Position verankert und bürgt dadurch für eine Glaubwürdigkeit des Geschriebenen, ohne sich auf dessen Faktizität berufen zu müssen (cf. Graw/ Weingart 2019: 41-45). Ob die Texte als ‚autobiographisch‘ im engeren Sinne, also als faktuale Wirklichkeitsdarstellung gesetzt sind oder ob sie vielmehr auf Fiktionalisierungsstrategien zurückgreifen, ist dabei zweitrangig. Mit dem Selbstverständnis der (französischsprachigen) Autosoziobiographie teilt die Autofiktion ihre Abwehrhaltung zur Autobiographie als etabliertem Genre (cf. Haas 2019). Hier soll nicht die Authentizität eines personalen Autor*innen-Ichs konstruiert, sondern soziale Wirklichkeit dargestellt werden; so fasst etwa Didier Eribon DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 79 Dossier sein Vorhaben mit folgenden Worten zusammen: „Il ne s’agissait donc pas de ‚moi‘ dans ce livre [Retour à Reims], mais de la réalité sociale“ (Eribon 2013: 10). Die Eribon-Bezüge in den Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur werden aber nicht nur in der Rezeption, sondern auch von den Autor*innen selbst hergestellt. Dabei fällt eine Verschiebung auf: waren es zunächst vor allem Verweise auf Eribon selbst, mit denen die Autor*innen ihre Texte in Kontext setzten, so werden diese in den literarischen Erscheinungen von 2020 ausgeweitet auf Bezugnahmen auf Annie Ernaux. 5 Aus dem ‚Eribon-Genre‘ ist folglich auch im deutschsprachigen Raum das Genre ‚Autosoziobiographie‘ geworden, welches nun etwas weiter gefasst (literarische) Texte meint, die Arbeiter*innnenklassenherkunft als autobiographische Erzählung mit Blick auf die sozialen Gegebenheiten verhandeln und sich dieser Herkunft in einer retrospektiven, schreibenden ‚Rückkehr‘ - wobei die Rückkehr zumeist auch Plot der Erzählung ist - (wieder)annähert. So nimmt, neben dem eingangs erwähnten Roman Bov Bjergs, das Schreiben über Klassenscham, Klassenaufstieg und das Erzählen der Familiengeschichte als Auseinandersetzung mit den sozialen Faktoren, die diese bestimmen, in Daniela Dröschers Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft (2018), Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (2020) und Leander Scholz’ Aufsatz „Arbeiterkinderliteratur“ 6 (2019) deutliche Anleihen an den französischen Vorbildern. Auch bei Anna Mayrs Die Elenden (2020), einer an der eigenen Biographie aufgezogenen Sozialreportage über die Geschichte der Arbeitslosigkeit in Deutschland und das Aufwachsen mit Hartz IV , und bei Jan Brandts Familienchronik Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt (2019), die motivisch als ‚Rückkehr‘ in das Dorf des Heranwachsens und das Haus des Urgroßvaters konstruiert ist, ist Eribon eine der Gewährsreferenzen. Bezugnahmen auf Rückkehr nach Reims, sowohl thematisch als auch formal, finden sich schließlich in vier 2020 erschienenen sozialwissenschaftlichen Sammelbändern, die das Thema ‚Klassenherkunft/ Klassenaufstieg‘ zu einem Gutteil in persönlichen Essays verhandeln. 7 Eribon wird in vielen dieser Aufsätze nicht nur zitiert, sondern dient auch als eine Art Modell der ‚autobiographischen Bekenntnisse‘ über den „soziale[n] Aufstieg in der Wissenschaft“ (cf. Möller et al. 2020). All diese Texte haben gemeinsam, dass sie - in der Terminologie Genettes - hypertextuelle Beziehungen zu Rückkehr nach Reims als Vorgängertext aufweisen, wobei der Grad der Nachbildung oder Transformation unterschiedlich gestaltet, aber jedenfalls mehr als Kommentar oder Zitat ist (cf. Genette 1993: 14, 18sq.). Tatsächlich lässt sich sowohl auf inhaltlicher (Thema, Motive, Handlungsaufbau) als auch auf formaler Ebene ein dichtes Netz an Bezugnahmen auf das Vorbild festhalten, so dass Eribon eine genrebildende Funktion für die deutschsprachige Autosoziobiographie zugesprochen werden kann. Diese Verfahren werden im Folgenden exemplarisch anhand von zwei Aufsätzen aus dem Band Vom Arbeiterkind zur Professur (2020) und anhand des Romans Serpentinen (2020) untersucht, wobei punktuell auch auf andere Beispiele Bezug genommen wird. 80 DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 Dossier Die Rezeption in Deutschland: Autosoziobiographie als Genre in the Making Sieben Jahre nach der französischen Erstausgabe erschien 2016 Rückkehr nach Reims in der deutschsprachigen Übersetzung von Tobias Haberkorn. Der daraufhin einsetzende Erfolg - mehr als 80 000 verkaufte Exemplare innerhalb des ersten Jahres, 8 euphorische Rezensionen in der Presse, 9 zahllose Interviews, Diskussionsrunden und Vorträge mit dem Autor - kann auch daran bemessen werden, dass Didier Eribon seitdem zu einer fixen Referenzgröße geworden ist, wenn in wissenschaftlichen oder feuilletonistischen Texten Fragen zur Arbeiter*innenklasse und zu Klassenverhältnissen erörtert werden. 10 Zu dieser für ein Theorie-Buch ungewöhnlich breiten Rezeption gibt es eine Vielzahl von Erklärungsversuchen, die den Erfolg auf das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren zurückführen. Ein weit verbreiteter Ansatz besteht darin, der Rückkehr nach Reims vorrangig als politisch-soziologisches Sachbuch zu lesen, d.h. Eribons Ausführungen zu den Lebensumständen der sozialen Klasse seiner Herkunftsfamilie sowie die vor allem im (kurzen) dritten Kapitel erläuterten Beobachtungen und Analysen zum Wahlverhalten und politischen Selbstverständnis der Arbeiter*innenklasse hervorzuheben. Worauf der Wandel der sich ehemals selbstverständlich als links verstehenden Arbeiter*innenklasse hin zu den rechtsextremen Parteien zurückzuführen ist und welchen Anteil daran die Sozialdemokratie selbst bzw. ihre (und nicht nur ihre) zunehmende Tendenz zu einem neoliberalen Verständnis von Gesellschaft und der damit einhergehende Sozialabbau haben, dafür scheint Eribon einen schlüssigen Erklärungsansatz zu liefern, der sich scheinbar von Frankreich auch auf die Situation an anderen Orten des Globalen Nordens übertragen lässt. Die Neigung, den Text als Eribonsche Gesellschaftsdiagnose in anderer Form zu lesen, hängt mit den spezifischen Zeitumständen zusammen, in denen die Übersetzung erscheint: 2016 ist ein Jahr einschneidender politischer Wandlungsprozesse, in dem Großbritannien für den Brexit stimmt, Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wird und sich in Deutschland rechte Bürger*innen-Protestbewegungen formieren. Mit den gesellschaftlichen Prozessen, die hinter diesen politischen Ereignissen stehen, haben sich zwar zeitgleich auch andere Autor*innen befasst, 11 die enorme Resonanz auf Didier Eribons Rückkehr nach Reims geht allerdings weit über die der anderen soziologischen Abhandlungen hinaus. Sie ist neben der Thematik und dem Erscheinungsdatum der Übersetzung auch auf die spezifische Textästhetik zurückzuführen: An das hybride Genre des Buches, das in den Worten des Autors „on ne pourrait assigner ni au geste littéraire ni à l’étude sociologique, mais qui, en combinant ces deux registres […], les mobiliserait ensemble et décuplerait leurs forces respectives“ (Eribon 2016a: 58sq.). Im Unterschied zu anderen soziologischen Studien zur Klassengesellschaft verbindet Eribon wissenschaftliches mit literarischem Schreiben und verknüpft seine theoretischen Reflexionen mit autobiographischen Erzählungen. Rückkehr nach Reims ist demnach so sehr Selbstwie Gesellschaftsanalyse und auch die Autobiographie eines ‚sozialen Aufsteigers‘ oder „transfuge de classe“ (Eribon 2009: 25). 12 DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 81 Dossier Dass ‚Klasse‘ als relevante Kategorie herangezogen wird, um gesellschaftliche Herrschafts- und Ausschlussmechanismen beschreibbar zu machen, fand gerade im deutschsprachigen Raum, wo der Klassen-Begriff lange Zeit aus der Analyse sozialer Ungleichheiten verdrängt und durch andere Bezeichnungen wie ‚Schicht‘ oder ‚Milieu‘ ersetzt wurde, großen Anklang. 13 Bei Eribon wird ‚Klasse‘ jedoch nicht nur als ökonomische Kategorie wieder eingeführt; sie wird in seiner Selbstanalyse des „habitus clivé“, des „gespaltenen Habitus“ (Bourdieu 2002: 116) des/ der transfuge de classe, den Eribon als „das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren“ (Eribon 2016b: 12) beschreibt, gerade in ihrem affektiven Gehalt als Klassenscham und als strukturelle soziale Gewalt dargestellt. Sexuelle und soziale Scham, die aus einer inferiorisierten oder devianten Position in Bezug auf Normvorstellungen und die „legitime Kultur“ (Bourdieu) hervorgehen, knüpft Eribon konsequent an die eigene Lebensgeschichte (cf. Kalmbach et al. 2020: 2). Indem sie an die subjektive Erfahrung rückgebunden wird, haftet der Autosoziobiographie ein besonderer epistemologischer Status an. So verfügen die Autor*innen über einen ‚Wissensvorteil‘ aufgrund ihrer sozialen Herkunft, aber auch aufgrund der Distanz zu dieser: weil sie zwei Lebensrealitäten kennen, die der Arbeiter*innenklasse und die der Bildungsbürger*innen, nehmen sie eine Funktion als „Übersetzer des Sozialen“ (Spoerhase 2017: 35) ein, die dem akademisch gebildeten Lesepublikum einen fremden Teil der Gesellschaft erklären (cf. ibid.). Autosoziobiographien übersetzen biographisches ‚Erfahrungswissen‘ über Klassenverhältnisse, sie übersetzen aber auch soziologisches ‚Expert*innenwissen‘, indem sie die Gewalt der Klassengesellschaft mit literarischen Mitteln, die diese personalisieren und konkretisieren, in scheinbarer Unmittelbarkeit darstellen. Das spezifische Wissen über die soziale Wirklichkeit ist dabei an die Person des/ der Autor*in rückgebunden, 14 wobei diese nicht schon als souveränes Autor*innensubjekt über dieses Wissen (etwa in Form von Erinnerungen) verfügt; so charakterisiert etwa Ernaux ihre methodischen Überlegungen zum autosoziobiographischen Schreiben wie folgt: Se pose toujours, en écrivant, la question de la preuve: en dehors de mon journal et de mon agenda de cette période, il me semble disposer d’aucune certitude concernant les sentiments et les pensées, à cause de l’immatérialité et de l’évanescence de ce qui traverse l’esprit (Ernaux 2011a: 297). Als affektives, verkörpertes wie zugleich theoretisches, konzeptualisiertes Wissen wird die Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit - auch für die Autor*innen - erst über den Schreibprozess realisiert (cf. Seier 2020: 67). In der Erzählung wird dies über das Motiv der ‚Rückkehr‘ generiert. Die ‚Rückkehr‘ ist in der Autosoziobiographie eine Tätigkeit des Schreibens und Forschens, welche die Vergangenheit mittels historischer Dokumente - Korrespondenzen, Tagebucheinträge und vor allem Fotografien - greifbar zu machen sucht. In dieser Vorgehensweise werden auch die eigenen Erinnerungen bzw. die dabei vermittelten Affekte zu 82 DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 Dossier einem solchen Archiv-Material: erst indem diese kontextualisiert, in die sie bestimmenden sozialen und historischen Strukturen rückgebunden werden, wird die Autosoziobiographie zu einer „écriture du réel“ (Ernaux 2011b: 35). Gleichzeitig inszeniert sie die ‚Rückkehr‘ zumeist auch auf Plot-Ebene, als ein (temporäres) Zurückkehren an den Ort des Heranwachsens und zur Herkunftsfamilie. Den Gesprächen mit den Familienmitgliedern kommt dabei der Status von Quellenmaterial zu, das die Autor*innen als Wiederholung, Varianz und Ergänzung ihrer eigenen Erinnerungen zur Rekonstruktion bzw. Wiederaneignung der sozialen Wirklichkeit heranziehen. Dieses „auto-ethnologische“ (Ernaux 2011a: 224) Vorgehen, das Eribon schon auf den ersten Seiten von Rückkehr nach Reims in Szene setzt („Den darauffolgenden Nachmittag verbrachte ich bei meiner Mutter. Mehrere Stunden saßen wir im Wohnzimmer und redeten. Sie hatte einen Fotokarton aus dem Schrank geholt […]“, Eribon 2016: 16sq.), wird häufig auch in der deutschsprachigen ‚Arbeiterkinderliteratur‘ aufgegriffen. Sätze wie „Anruf bei meiner Mutter am 10. April 2018, 12 Uhr. Ich: Warum hast du dich eigentlich nicht gewehrt? “ (Dröscher 2018: 115) oder „Wenige Tage vor dem Tod meiner Mutter hatten wir ein Gespräch, auf das ich über 30 Jahre gewartet hatte“ (Scholz 2019: 121) evozieren eine Form der Mehrstimmigkeit, die als Versuch gelesen werden kann, die eigene Sprecher*innenposition im Schreiben der Autosoziobiographie mitzureflektieren. Sie stehen für eine Praktik der Sorge um die Eltern bzw. Familienangehörigen, die an vielen Stellen auch explizit genannt 15 und von den Autor*innen als Rezipient*innen von Rückkehr nach Reims bei Eribon teilweise auch vermisst wird: „Oft hatte ich beim Lesen den beklemmenden Eindruck, dass er die Menschen seiner Kindheit nur noch einmal schreibend in seine Nähe holt, um sich zu vergewissern, dass sie auch weit entfernt bleiben“ (ibid.: 129). 16 Autosoziobiographie als Sammelband „Der Erfolg des Buchs [Rückkehr nach Reims] verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass hier eine Person des öffentlichen Lebens über die Mühen des Aufstiegs als Arbeiterkind erzählt“, schreiben Christina Möller, Markus Gamper, Julia Reuter und Frerk Blome in ihrer Einleitung zum Sammelband Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft (Möller et al. 2020: 10), der neunzehn autosoziobiographische Aufsätze von Hochschulprofessor*innen über ihren Bildungsaufstieg versammelt. Die Konzeption des Bands wie auch einiger der Beiträge ist dabei explizit an Didier Eribons Retour à Reims angelehnt, worauf einleitend programmatisch hingewiesen wird: Angeregt durch die selbstreflexiven Beiträge Bourdieus und Eribons, in denen sie sich bewusst mit ihrer Herkunft aus der Arbeiter*innenklasse und den damit zusammenhängenden Herausforderungen in ihrer Schullaufbahn und später wissenschaftlichen Entwicklung auseinandersetzen, geht es uns darum, durch die Kombination aus autobiographischen Skizzen und soziobiographischen Analysen eine dichte Beschreibung von der Vielfalt der Erfahrung sozialer Mobilität und deren Reflexion im Spiegel sozialwissenschaftlicher Forschungen zur sozialen Ungleichheit zu gewähren (ibid: 42). DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 83 Dossier Im Vergleich mit dem französischen Vorbild tritt eine Verschiebung hervor, die als symptomatisch für die Eribon-Rezeption in deutschsprachigen literarischen und wissenschaftlichen Texten gelten kann: Während Eribon die „autobiographischen Skizzen und soziobiographischen Analysen“ mit Retour à Reims noch zu einem Text verwoben hat, werden im Sammelband die einzelnen Beiträge wieder klar nach Textsorte unterschieden. Denn die autobiographischen Skizzen werden von sozialwissenschaftlichen Aufsätzen zur Thematik ‚Bildungsaufstieg‘ gerahmt, die sie in einen systematischen Diskurs über Ungleichheitsproblematiken einordnen. Wenngleich die „autobiographischen Notizen“ (ibid.: 129) in Differenz zum wissenschaftlichen Kommentar in ihrem epistemischen Gehalt als ‚Erfahrungswissen‘ markiert werden, greifen auch sie nicht ausschließlich auf literarische Darstellungsformen zurück. Autosoziobiographisch sind diese Beiträge insofern, als sie in die bildungsbiographischen Erzählungen Lektüren, Statistiken und an den Fachdisziplinen geschulte Gesellschaftsanalysen einfließen lassen. Dabei unterschieden sie sich stark in Inhalt, Stil und Schwerpunktsetzung in der Erzählung; viele sind sachlich-nüchtern in der Art einer Chronik oder Reportage gehalten, manche legen den Fokus eher auf die Herkunftsfamilie, andere auf den wissenschaftlichen Werdegang. Die Autor*innen sind zwischen 1940 und 1983 geboren, stammen aus proletarischen, bäuerlichen und kleinbürgerlichen Verhältnissen und berichten dementsprechend von unterschiedlichen institutionellen, historischen und sozialen Rahmenbedingungen in ihrem Bildungsaufstieg bis zur Professur. Jedem der Texte ist ein Kindheitsfoto der Autor*innen vorangestellt; mit dieser Bild-Text-Kombinatorik, die das Buchcover der Suhrkamp-Ausgabe von Rückkehr nach Reims zitiert, auf der ein Ausschnitt aus einem privaten Jugendfoto Eribons zu sehen ist, greifen sie ein Imitationsverfahren auf, das etwa auch Daniela Dröscher (2018) und Christian Baron (2020) für ihre Autosoziobiographien gewählt haben. Mit dem Foto setzt Eribon sich auf den gut zwanzig ersten Seiten des Abschnitts „Hontoanalyse“ im Folgewerk La société comme verdict (2013) auseinander. Er bezeichnet seine Abbildung als „pas supplémentaire dans le geste de l’auto-socio-analyse“ (Eribon 2014: 20), der ihn zu folgenden Überlegungen führt: „[Q]u’est-ce qui me relie encore à ce garçon, qu’est-ce qui en moi vient de lui, survit de lui, après tant d’années et tant d’évolutions? “ (Eribon 2014: 21). Damit, wie auch an vielen anderen Stellen, stellt Eribon sein Schreiben in eine Traditionslinie zu Annie Ernaux, in deren Werk die Fotografie eine gewichtige Rolle spielt: oft sind es Bilder aus dem privaten Fotoarchiv, die ihr im Schreiben als Ausgangspunkt dienen. Sie lösen Erinnerungen aus, binden diese an eine „réalité matérielle [et] irréfutable“ (Ernaux 2011a: 8) zurück und stehen zugleich für die Distanz zwischen dem schreibenden Ich der Gegenwart und dem vergangenen, beschriebenen Ich. 17 An Ernaux’ fotografischer Schreibweise nimmt auch unverkennbar einer der Beiträge im Band Vom Arbeiterkind zur Professur Anleihe: Sabine Hark wählt in ihrem Essay „Von wo ich herkomme“ (cf. Hark 2020) einen an Annie Ernaux geschulten, distanzierenden Stil, der in sachlicher Tonlage historische, geographische und soziodemographische Fakten darlegt, die die eigene Bildungsgeschichte rahmen. Das 84 DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 Dossier „Herkommen“ wird wie bei Ernaux im Modus der „unpersönliche Autobiographie“ erzählt, „[…] où il s’agit moins de dire le ‚moi‘ ou de le ‚retrouver‘ que de le perdre dans une réalité plus vaste, une culture, une condition, une douleur, etc.“ (Ernaux 2011b: 23). Die distanzierte Haltung zum vergangenen Ich macht Hark in der Wahl des Personalpronomens „sie“ und in Bezeichnungen wie „das Kind“, „die Tochter“, „die Schülerin, die sie jetzt ist“ (cf. Hark 2020) deutlich, mit denen sie von diesem erzählt. Mit dieser Textstrategie, auf die schon Ernaux in Mémoire de fille (2016) zurückgegriffen hat, wird die eigene Vergangenheit zum Untersuchungsgegenstand einer ‚autoethnologischen‘ („être en somme ethnologue de moi-même“, Ernaux 2011a: 224) Analyse und dabei weitestmöglich objektiviert, d. h. in den Bereich der faktualen historischen Wirklichkeit geschoben. Gleichzeitig ruft die Ich-Distanzierung auf textästhetischer Ebene durch die intertextuelle Anspielung einen gewissen Effekt von Literarizität hervor: das französische Vorbild der Autosoziobiographie klingt in der Verschiebung vom ‚ich‘ zum ‚sie‘/ ‚es‘ immer mit. Dass der Text das literarische Modell anklingen lässt und darüber hinaus weitere Autor*innen (Erving Goffman, Virginia Woolf und Bertolt Brecht) anzitiert, rückt ihn in seiner Textästhetik in die Nähe von Retour à Reims. Dieses (wie auch Eribons andere Bücher) ist auch eine Lektüre-Biographie, die die autobiographischen Erlebnisse mit den Texten anderer literarischer, soziologischer und philosophischer Autor*innen - immer wiederkehrend etwa James Baldwin, Simone de Beauvoir, Pierre Bourdieu, Annie Ernaux, Michel Foucault - in Beziehung setzt und in seinen theoretischen Reflexionen mit diesen bzw. aus diesen heraus argumentiert. Damit schreibt er sich in eine Art „Wahlverwandtschaft“ (cf. Kalmbach et al. 2020: 2) unterschiedlicher emanzipatorischer Stimmen ein, die das eigene Projekt in einem kollektiven politischen Rahmen kontextualisieren. 18 Gleichzeitig verbindet Eribon in seinen Texten verschiedene Stillagen, indem er erzählende, stärker literarisch verfasste Passagen mit soziologischen und gesellschaftspolitischen Analysen alternierend aneinanderreiht. Ein ähnliches Verfahren wendet auch der Sammelband-Beitrag „Das UNTEN spürst du immer“ von Klaus Weber (2020) an, der die fünf Abschnitte seines Textes mit kurzen, vom analytischen Essay-Teil durch Zwischenüberschriften abgesetzten literarischen Passagen einleitet. Diese sind durchgängig in Kleinbuchstaben gehalten und ergänzen den Aufsatz mit einer poetischen, von Wortneuschöpfungen durchzogenen Sprache: was an mir ist das sonderbare, dessentwegen ich mich bis heute von den dünkleklugen [sic! ], den jackettfiguren und selbstverständlichkeitsexperten sondere? was an mir lässt diese mir den rücken zudrehen, die worte überkomplex wählen, das rotweinglas bei der abendsoirée feinfingrig drehen, sodass sich mein herkunftsunten mit einer tiefen scham verbindet? (Weber 2020: 351sq.). Hier wird, um nochmal an die eingangs zitierte Bemerkung Eribons zu erinnern, in der Verbindung der beiden Register (literarisch/ soziologisch) das Potenzial der Autosoziobiographie mobilisiert, Klassenverhältnisse zugleich in ihrer persönlichen als auch in ihrer sozialen Dimension zu vermitteln. Den Effekt, soziale Wirklichkeit DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 85 Dossier unmittelbar darzustellen, konstruiert sie über Affekte wie Wut oder Scham, in denen die Herkunft des/ der transfuge de classe fortwirkt (cf. Spoerhase 2018: 246sq.) und die mittels literarischer Textstrategien evoziert werden. Auch Weber verflicht seine Lektüren, als Zitate kursiv markiert, in seinen Aufsatz und lässt dabei die ‚Theoretiker*innen‘ der Autosoziobiographie Ernaux - Eribon - Louis nicht unerwähnt: „Annie Ernaux und Edouard Louis - beide Gewährsmenschen für Eribons Schriften - gehen davon aus, dass es eine Grenze zwischen der bürgerlichen und der Arbeiter*innenklasse gibt, habituell sowie sprachlich“ (Weber 2020: 354). Anscheinend bleiben die französischen Vorbilder, die das Genre geprägt und popularisiert haben, die Bezugsgröße, wenn die eigene Klassenherkunft thematisiert wird; auch dann, wenn man sich von ihnen abgrenzt. So merkt Weber kritisch an, […] Eribon schreibt so, als gäbe es nur UNTEN und OBEN - und keinen dritten Weg: Der Zugang zur ‚legitimen‘ Kultur markiert den Anfang einer aufsteigenden Bahn und somit auch des ‚Klassenverrats‘, nicht merkend, dass er mit seinen Worten die Klassenverhältnisse reproduziert, anstatt sie in Frage zu stellen (ibid.: 354, Hervorhebung im Original). Bov Bjerg greift in Serpentinen die Eribon-Bezüge ebenfalls nicht rein affirmativ auf. Anders als Eribon, dem es in seinen Werken darum geht, soziale Determinismen und Herrschaftsmechanismen aufzuzeigen und der dafür ein soziologisch und philosophisch geschultes Denken stark macht (cf. Eribon 2016: 9-13), steht Bjergs Protagonist seiner wissenschaftlichen Disziplin und deren Erkenntnispotenzial skeptisch gegenüber: „Ich misstraute der Soziologie. Ich misstraute dieser Larmoyanz. Das Individuelle wurde typisiert, wurde zurechtgebogen, bis es ins Klischee passte und ins Ressentiment und in die stimmige, ad hoc einleuchtende Geschichte. Legenden, Lügen, Bla, Theorie“ (Bjerg 2020: 122). Serpentinen: Autosoziobiographie als Romanstoff Neben der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rückkehr nach Reims ist in der literarischen Rezeption eine gegenläufige Bewegung auszumachen: wie schon Édouard Louis, der das Eribon’sche Motiv des Bildungsaufstiegs des jungen Schwulen aus der Arbeiter*innenklasse zu einer vorrangig literarischen Darstellung verdichtet, greift auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur lieber auf Techniken des Erzählens denn auf solche der Analyse zurück. „Bei ‚Ein Mann seiner Klasse‘ war es mir […] wichtig, allein der Kraft des Erzählens zu vertrauen und keine soziologischen Reflexionen einzuarbeiten […]. Manchmal vermittelt die pure Geschichte mehr klassenpolitische Wahrhaftigkeit als eine wissenschaftliche Abhandlung“, fasst Christian Baron die Unterschiede seines eigenen Buchprojekts zu Rückkehr nach Reims zusammen (Canoglu 2020). Die deutschen Autosoziobiographien scheinen tendenziell wieder klareren Genrezuordnungen zu entsprechen; 19 Herkunft und Klasse werden in ihnen narrativ verhandelt, auch wenn das französische Vorbild als Hypotext Theorie- und Reflexionsgrundlage bleibt. Mit der Feststellung: „[d]er 86 DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 Dossier französische Soziologe Didier Eribon hat hierzulande eine Tür aufgemacht. Man redet wieder über soziale Unterschiede“ macht etwa Daniela Dröscher den Einsatz ihrer eigenen Herkunftserzählung deutlich (Dröscher 2018: 20). Diese Bezüge und Parallelen scheinen auch noch in jenen Rückkehrerzählungen zur sozialen Herkunft der Arbeiter*innenklasse durch, die mit dem pacte autobiographique der Einheit zwischen Autor*in, Erzähler*in und Protagonist*in brechen. Während für Annie Ernaux und Didier Eribon der Bruch mit den literarischen Genres des Romans 20 und der Autofiktion 21 eine notwendige Voraussetzung des autosoziobiographischen Schreibens sind, gilt das für die deutschsprachige ‚Arbeiterkinderliteratur‘ nicht mehr. Dass Autosoziobiographien auch (auto-)fiktional erzählt werden können, macht das Fallbeispiel von Serpentinen deutlich. Bov Bjergs Roman greift auf narrativer und ästhetischer Ebene genretypische Merkmale der Textsorte auf und spinnt diese in Wiederholung und Varianz fort, so dass eine Art Meta-Erzählung des transclasse-Narrativs entsteht, in der die Autosoziobiographie selbst zum Stoff wird. Dies wird insbesondere deutlich an Textstellen wie der eingangs zitierten Anspielung auf Rückkehr nach Reims oder an folgendem Zitat, das als mise en abyme Roman und Genre spiegelt: Und alle beschrieben sie ihren Vater präzise, die Soziologen und die Schriftsteller und die Mitschüler und alle Männer, denen ich begegnete und von denen ich las. […] Der Brief an den Vater. Andere Männer, Bildungsmänner, Hochkulturmänner, ahmten den Brief an den Vater nach. Sie verfassten geistreiche Essays und Reportagen, sie schrieben ganze Bücher über und an ihren Vater. Diese abgeschmackte Pose, den unbekannten direkt anzusprechen. Er hört euch nicht mehr, wisst ihr das denn nicht? (Bjerg 2020: 59-60). Was Bjerg hier mit distanzierter Erzählerhaltung beschreibt, greift er zugleich motivisch affirmierend wieder auf, denn Serpentinen ist eine ebensolche autosoziobiographische Rückkehr-Erzählung eines fiktiven Soziologieprofessors, physisch an den Herkunftsort und reflexiv zur Familienals Sozialgeschichte. Während in Retour à Reims die ‚Rückkehr‘ - der Besuch bei der Mutter in der Provinz - als Eingangs- und Schlussszene des Buchs die soziotheoretischen Reflexionen rahmt, wird sie bei Bjerg zum eigentlichen Handlungsstrang gedehnt und verdichtet. Die Rückkehr von Bjergs namenlos bleibendem Protagonisten wird als road trip durch die Herkunftsgegend erzählt; sie bleibt unabgeschlossen (und wird am Ende abgebrochen) in ihrer Intention als Wiederaneignung der eigenen Geschichte und Annäherung an die Vergangenheit genauso wie an eine mögliche Zukunft, die, verkörpert durch den mitfahrenden jungen Sohn, einen Ausbruch aus der sozialen Reproduktion des Lebensverlaufs der männlichen Vorfahren bedeuten würde. Schon Eribon hält in La société comme verdict fest, „qu’un ‚retour‘ n’est jamais terminé et, sans doute, jamais terminable: ni dans le parcours effectif, ni dans la réflexion qui l’accompagne“ (Eribon 2013: 9). In Serpentinen scheitert sie nun vollends, denn alle Personen, mit denen ein Gesprächs- und damit Wiederbegegnungsprozess einsetzen könnte, sind bereits DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 87 Dossier tot: der Vater hat sich in den Kindheitsjahren des Protagonisten das Leben genommen, „[a]uch der Abschied von der Mutter misslang, natürlich“ (Bjerg 2020: 135), ebenso der des Jugendfreunds. Ebenso wie Retour à Reims ist Serpentinen eine Auseinandersetzung mit klassenspezifischen Maskulinitätsvorstellungen und deren Rolle im Habitus der sozialen Akteure. Bjergs Protagonist reflektiert auf seiner Reise darüber, wie die habituellen Ansprüche an Männlichkeit in der Arbeiter*innenklasse Gewalt, Alkoholismus und Depression reproduzieren. Aber wo Eribon und sein Schüler Louis aus einer marginalisierten Position - jener der Homosexualität - schreiben, die sie aus dem Männlichkeits-Ideal zunächst ausschließt und schließlich dieses überwinden lässt, und an ihrer eigenen Bildungsbiographie zeigen, wie weit die Nicht-Reproduktion der sozialen Herkunftsklasse mit der Nicht-Reproduktion normativer Geschlechterrollen und schwuler Subjektivierung verwoben ist, interessiert sich Bjerg für die Kontinuitäten von Maskulinität, auch nach erfolgtem Klassenwechsel. Denn der Erzähler ist genauso alkoholabhängig, depressiv und von Suizidgedanken geprägt wie sein Vater und Großvater vor ihm; diese psychische Disposition bindet ihn an seine Herkunft und ist allgegenwärtiger Begleiter seiner Rückkehr-Reise. Der habitus clivé des transfuge de classe manifestiert sich in ihm folglich in einer gespaltenen Haltung zu Männlichkeitsansprüchen: „Ich mochte körperliche, handwerkliche Arbeit. Sie machte mich zum Mann und verband mich mit den anderen Männern. Ich verabscheute körperliche Arbeit. Sie machte mich zum Mann und verband mich mit anderen Männern“ (ibid.: 196). Als wiederkehrendes Motiv durchzieht Serpentinen die Angst des Protagonisten, seine eigenen Gewalterfahrungen und seine Suizidgefährdung an den Sohn weiterzugeben. Die Figur des Sohns, der den Protagonisten auf der Reise begleitet, hat auf der Handlungsebene die Funktion einer dialogischen Infragestellung des „Legenden, Lügen, Familienbla“ (ibid.: 27), das sich über den Selbstmord der Väter ausschweigt. Auf Darstellungsebene wird der Sohn gedoppelt in dem biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn, das als zweiter Referenztext neben Rückkehr nach Reims den Roman durchzieht und wiederkehrend zitiert und paraphrasiert wird. Mit dieser Rückbindung an Vorgänger-Texte steht Bov Bjegs Roman in einer Traditionslinie der französischen Autosoziobiographie. Bei Annie Ernaux und Didier Eribon ist es der Soziologe Pierre Bourdieu, dessen gewichtigen Einfluss auf das eigene Schaffen sie immer wieder erwähnen. „À bien des égards, Retour à Reims s’inscrit dans la filiation de La Distinction“, schreibt Eribon, „[i]l me serait difficile de trouver des mots assez forts pour expliquer à quel point […] avait été considérable sur moi l’influence de son [sc. Bourdieus] travail“ (Eribon 2013: 62), Annie Ernaux spricht von ihrer Bourdieu- Lektüre als einem „choc ontologique violent“ (Ernaux 2002). Bourdieus Soziologischer Selbstversuch (2002), seine auto-socioanalyse, die nicht die individuelle Lebensgeschichte, sondern deren historische und soziale Determinanten fokussiert, und sein Konzept des ‚habitus clivé‘ stehen demnach auch auf formaler und konzeptioneller Ebene Modell für die Autosoziobiographien Ernaux’, Eribons und Louis’. 22 Mit diesen Verfahren der gegenseitigen intertextuellen Bezugnahme entsteht, durch 88 DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 Dossier die Chronologie der Werke und die Generationenunterschiede, eine Art neue Genealogie der transfuges de classe, die - auch als Gegenentwurf zu normativen Konzepten von Familie und Herkunft - über die Effekte von Subjektivierung, Politisierung und Identifikation selbst gewählt wird. 23 Auch die deutschsprachige ‚Arbeiterkinderliteratur‘ lässt sich als Einschreibung in eine solche genealogische Literatur-Gemeinschaft verstehen. Conclusio In der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Rezeptionsformen der Eribon’schen Autosoziobiographie in den literarischen Textsorten Roman und Essay wurde der Frage nachgegangen, ob das ‚Eribon-Genre‘ denn ein solches ist. Ein erster Blick lässt vermuten, dass gerade die hybride, Genregrenzen überwindende Form, die Rückkehr nach Reims sowohl zur Autobiographie als auch zur soziologischen Analyse und Zeitdiagnose macht, in den deutschsprachigen Rezeptionen wieder auseinanderfällt: während die Schriftsteller*innen Romane verfassen, geben die Sozialwissenschaftler*innen Sammelbände heraus. 24 Bei genauerer Betrachtung fällt aber auf, dass sowohl die wissenschaftlichen Aufsätze persönliche Erfahrungsberichte aufgreifen (bzw. die Sammelbände autobiographische Essays aufnehmen) als auch die Literatur Individuelles in gesellschaftlichen Kategorien (Klasse, sozialer Aufstieg, Maskulinität) verortet - wenn auch nicht in der selben Konsequenz die Gattungsgrenzen zwischen Literatur und Wissenschaft aufgehoben werden wie bei Eribon. Weniger als von einer Hybridisierung muss für die Texte aus dem deutschsprachigen Raum von einer gegenseitigen Affizierung die Rede sein; ‚Autosoziobiographie‘ ist dann vielleicht nicht primär eine Textsorte, sondern zunächst ein bestimmter Modus der autobiographischen Bezugnahme auf soziale Phänomene. 25 Seine besondere Wirkung, seine extensive Rezeption und Adaption durch Leser*innen und in der Literatur im Besonderen, verdankt die deutschsprachige Übersetzung von Didier Eribons Retour à Reims dem enormen Potenzial seiner Übertragbarkeit. Was Eribon über Herkunft, Klassenverhältnisse, Bildungsaufstieg, soziale und sexuelle Scham geschrieben hat, lässt sich ob der analytischen Schärfe seiner Darstellung, welche die genealogische Familienerzählung mit der Politisierung seiner eigenen Lebensgeschichte engführt, auch auf andere Erfahrungen des Übergangs von einer sozialen Sphäre in die andere transferieren, wie auch sein Übersetzer Tobias Haberkorn anmerkt (cf. Mühlhoff 2017): Als Leser*in kann man sich, gerade weil Eribon unterschiedliche Formen der sozialen Differenz, Beschämung und Diskriminierung verschränkt betrachtet, auf verschiedene Weise von dem Text anregen lassen und sich mit ihm identifizieren. Diesem Transfer-Potenzial trägt auch die Pluralität der Rezeptionsphänomene Rechnung. DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 89 Dossier Altieri, Riccardo / Hüttner, Bernd (ed.), Klassismus in der Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien, Marburg, BdWi-Verlag, 2020. Aumair, Bettina / Theißl, Brigitte (ed.), Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt, Wien, ÖGB Verlag, 2020. Baron, Christian, Ein Mann seiner Klasse, Berlin, Ullstein, 2020. Bergermann, Ulrike / Seier, Andrea, „Klasse. Zur Einleitung in den Schwerpunkt“, in: ZfM - Zeitschrift für Medienwissenschaft, 19, 2018, 10-21. Bjerg, Bov, Serpentinen, Berlin, Ullstein, 2020. Blome, Eva, „Rückkehr zur Herkunft. 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Spoerhase 2017, Jaquet 2018: 25, Blome 2020 bzw. der Workshop „Annäherung an die Autosoziobiographie“ am 22./ 23.10. 2020 an der Universität Konstanz). 2 Möglich wäre auch, die Textstelle bei Bjerg als Anspielung auf Édouard Louis’ Roman En finir avec Eddy Bellegueule (2014, in dt. Übersetzung Das Ende von Eddy, 2015) zu lesen; cf. dazu FN 62 in Blome 2020: 561. 3 Der Klassen-Begriff wird in den Autosoziobiographien unterschiedlich und tendenziell unbestimmt verwendet und zielt funktional auf die Beschreibung struktureller sozialer Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt. Bei Eribon, Ernaux und Louis finden sich „classes populaires“, „classe(s) ouvrière(s)“ und „classe(s) dominante(s)/ dominée(s)“. „Arbeiter*innenklasse“ wird in diesem Sinne hier und im Folgenden als Sammelbegriff verwendet. 4 Cf. etwa auch die Veranstaltungsreihe „Vom Unbehagen in der Fiktion“, einer Kooperation von fünf deutschen Literaturhäusern, bei der Autor*innen, Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen den Boom des autofiktionalen Erzählens in der Gegenwartsliteratur diskutieren: www.literaturhaus.net/ projekte/ vom-unbehagen-in-der-fiktion. 5 Das hängt auch mit den Publikationsstrategien des Suhrkamp-Verlags zusammen, die nach dem Erfolg der deutschsprachigen Übersetzung von Les Années / Die Jahre 2017 und sicher auch im Hinblick auf den Erfolg von Rückkehr nach Reims in schneller Abfolge Ernaux’ frühe autosoziobiographische Texte Der Platz (2019), Eine Frau (2019) und Die Scham (2020) veröffentlicht haben. 6 Dessen Titel hier für den Aufsatz übernommen wurde. 7 Cf. Altieri/ Hüttner 2020, Aumair/ Theißl 2020, Seeck/ Theissl 2020, Möller et al. 2020. DOI 10.2357/ ldm-2020-0048 91 Dossier 8 Cf. www.franceculture.fr/ sociologie/ comment-retour-a-reims-est-devenu-un-best-sellersociologique (letzter Zugriff: 25.06.21). 9 Etwa die Rezensionen zur deutschsprachigen Veröffentlichung aus der NZZ, Tageszeitung, Welt und Süddeutschen Zeitung auf www.perlentaucher.de/ buch/ didier-eribon/ rueckkehrnach-reims.html (letzter Zugriff: 25.06.21). 10 Cf. exemplarisch: Eiden-Offe 2017, Bergermann/ Seier 2018, Friedrich 2018, Altieri/ Hüttner 2020, Aumair/ Theißl 2020, Seeck/ Theißl 2020, Möller et al. 2020. 11 Etwa Oliver Nachtwey in Die Abstiegsgesellschaft (2016). 12 Zur Diskussion um die Begriffe ‚transfuge de classe‘/ ‚transclasse‘ und ihren deutschen Entsprechungen ‚Klassenflüchtige*r‘/ ‚Klassenübergänger‘ cf. Jaquet 2018: 20. 13 In Resonanz auf die, u. a. durch die emphatische Rezeption von Rückkehr nach Reims mitentfachte, Wiederkehr der Klassen-Debatte wird ‚Klasse‘ in Deutschland vermehrt unter dem - ursprünglich aus dem Kontext des US-amerikanischen Feminismus der 1970er- Jahre kommenden - Begriff des ‚Klassismus‘ diskutiert (zu dem Andreas Kemper und Heike Weinbach allerdings bereits 2009 eine Einführung geschrieben haben); cf. Kemper/ Weinbach 2016. 14 Wobei laut Eribon schon die soziale Positionierung des/ der transfuge de classe dieses Wissen zu evozieren scheint: „[…] le transfuge de classe est spontanément sociologue […]“ (Eribon 2016a: 150). 15 Cf. Dröscher 2018: 7, Scholz 2019: 129. 16 Der Problematik ist sich Eribon durchaus bewusst: „Il convient en effet de souligner qu’en décrivant la violence du monde social telle qu’on la perçoit, telle qu’on l’analyse, on exerce, en même temps, une certaine violence sur les autres, qui se retrouvent impliqués dans ce qu’on écrit sans avoir rien demandé […]“, Eribon 2016a: 67. Cf. insbesondere auch Eribon 2016a: 67-89. 17 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Funktion der Fotografie im Schreiben Annie Ernaux’ cf. Sykora 2019. 18 Zum durch Lektüren und Intertextualität evozierten Verfahren der Identifikation mit Vorgängertexten und -autor*innen als Merkmal der transclasse-Erzählungen cf. auch Blome 2020: 560-567. 19 Eine Ausnahme ist hierbei Daniela Dröscher mit Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft (2018), die ihre Herkunftserzählung mit Versatzstücken aus Literatur, Soziologie und Popkultur verwebt und dem Erzähltext mit Fußnoten und typographisch abgehobenen Einschüben beifügt. 20 „Depuis peu, je sais que le roman est impossible. Pour rendre compte d’une vie soumise à la nécessité, je n’ai pas le droit de prendre d’abord le parti de l’art, ni de chercher à faire quelque chose de ‚passionant‘, ou d’‚émouvant‘“, Ernaux 2001a: 422. 21 „[…] l’auto-analyse [d. h. das Verfahren der Autosoziobiographie] se situe à l’opposé de l’autofiction: rien ne doit y être fictionnel, et c’est la vérité, ou en tout cas la véridiction, c’està-dire le souci du dire-vrai, qui y prime“, Eribon 2016a: 17. 22 Cf. dazu auch Spoerhase 2018: 236-243. 23 Eva Blome spricht in diesem Zusammenhang von einer „‚transclasse‘-communio“, cf. Blome 2020: 560. 24 Für diesen Hinweis danke ich Claude Haas. 25 Diese Überlegung geht auch vom ursprünglichen, adjektivischen Gebrauch des Begriffs („auto-socio-biographique“) aus, cf. FN 1.