lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.2357/ldm-2020-0050
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2020
45180
Das Theater als For(u)m der Darstellung soziologischer Erkenntnisse: Didier Eribons Autosozioanalyse als künstlerisches Reenactment?
121
2020
Raffael Hiden
ldm451800105
DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 105 Dossier Raffael Hiden Das Theater als For(u)m der Darstellung soziologischer Erkenntnisse: Didier Eribons Autosozioanalyse als künstlerisches Reenactment? Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen. Friedrich Nietzsche Die soziologische Relevanz von Rückkehr nach Reims erschließt sich nicht nur aus wirkungs- und rezeptionsgeschichtlicher Perspektive, sondern insbesondere aus sozialtheoretischer: Didier Eribon veranschaulicht darin seine Art von „Autosozioanalyse“ (Eribon 2017a: 20), die zugleich immanenter Teil einer als Zyklus konzipierten ‚Theorie des Subjekts‘ ist - während der Lektorats- und Korrekturphase fungierte dieses programmatische Sujet sogar noch als Untertitel von Rückkehr nach Reims. Diese allgemeine Perspektivierung folgt demnach dem Anspruch einer Subjektivierungstheorie, die jegliche Form von „Selbstanalyse […] als Sozioanalyse verstanden wissen will“ (Eribon 2018: 84). Dabei überlagern sich, so die These dieses Beitrags, sozialphilosophische Begründungsanliegen des Soziologischen mit kritischen Eingriffen in gesellschaftliche Konflikt- und Diskursräume, die in der Folge kritisch oder affirmativ anschlussfähig bleiben. Denn erst durch die „Art, mich als schreibendes Subjekt in mein Schreiben zu verwickeln“ (Eribon 2016: 26) entfalte sich das Potenzial einer Verbindung zwischen diskursiven Regeln und deren autosoziologischer Transformation. Diese These stützt sich zunächst auf den irreduziblen Anspruch Eribons, soziologisches Forschen nicht im deskriptiv-analytischen Sinne zu betreiben, sondern stets (auch) als normative Praxis der Neuformierung gegebener Subjektivierungsformen. Die für Eribon exemplarische Verquickung von autofiktionaler Narration und soziologischer Gegenwartsdiagnose verfolgt dabei das Ziel, eine alternative Form soziologischen Schreibens voranzutreiben, der ein „epistemologischer Bruch mit den spontanen Denk- und Selbstwahrnehmungsweisen der Individuen“ (ibid.: 45) als Folie einer Neuerfindung von Subjektivität dient. Sein Projekt sei daher „nicht nur eine Autobiografie und nicht nur ein politischer Essay, sondern beides zusammen“ (Eribon 2017b) - eine Variation auf die selbstreflexive Wirklichkeitsbeziehung im Sinne einer Soziologie als Lebensform; der sowohl auf der Ebene der Beschreibung als auch auf der Darstellung bewusst ist, dass „das Persönliche nicht vom Politischen zu trennen ist“ (Eribon 2016: 16) und insofern in seiner Tendenz als soziologisch-essayistisches Formexperiment anzusehen ist. Der Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst werden die Grundzüge der Eribonschen Theoriebildung herausgearbeitet und besonders am Beispiel von Rückkehr nach Reims als empathische Form soziologischer Praxis ausgewiesen. Dabei 106 DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 Dossier wird auf das Konzept der ‚Gründungsszenen‘ (Farzin/ Laux 2014) zurückgegriffen, um zumindest anhand von drei Dimensionen die narrativen Eigentümlichkeiten dieser Art von ‚Autosoziologie‘ in den Blick zu bekommen. Der zweite Abschnitt diskutiert die ‚Übersetzung‘ von Rückkehr nach Reims in den theatralen Raum anhand der Bühnenfassung von Thomas Ostermeier für die Schaubühne Berlin (2017) und deren wichtigste Inszenierungselemente wie Rezeptionsstränge. Im dritten Teil wird dann dargelegt, dass dieser intermediale Transfer nicht als bloßer Übersetzungsmechanismus zu deuten ist, sondern durchaus als (Re-)Konfiguration der Textgrundlage. Schließlich entfaltet, so die Schlussfolgerung, die theatrale Adaption das Potenzial zur resignifzierenden Auseinandersetzung mit der soziologisch konturierten Textvorlage, wenngleich dieser Bruch mit vielschichtigen Ambivalenzen zu kämpfen hat. I. Autosoziobiografisches Schreiben als soziologische Praxisform Mit Tobias Haberkorns deutscher Erstübersetzung (2016) von Retour à Reims (franz. 2009) erlangt Didier Eribon (wohl endgültig) den Status eines der bedeutendsten Medienintellektuellen (cf. Moebius/ Schroer 2008) des deutsch-französischen Kultur- und Wissenschaftsfeldes. Das Buch avanciert zum öffentlich wie auch innerakademisch breit rezipierten Werk, das sowohl zum Auslöser kontroversieller Debatten im Feuilleton wird als auch mannigfaltige sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurse initiiert. Naheliegend ist dabei, dass sich dieser weitreichende Erfolg (wenn nicht ausschließlich, aber doch) im entscheidenden Maße aus der untraditionellen Form nicht-fiktiver Erzählung begründen lässt, die unauflöslich mit soziologischer Reflexion verwoben wird. Eribons Perspektive begnügt sich eben nicht mit dem gesellschaftstheoretisch beschreibenden Verständlich-Machen sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Transformationsprozesse seit den 1990er Jahren, sondern verknüpft diese mit dem eigenen Lebensweg bzw. arrangiert die persönliche Laufbahn als narrativen Ankerpunkt der zeitdiagnostischen Darstellung. Diese Projektionsfläche arrangiert somit ein Sujet, das die Situation der Aufsteigerintellektuellen und dessen Klassenfluchttendenzen weg vom Herkunftsmilieu geradezu paradigmatisch bespricht, aber zugleich auch aufmerksam ist für die Brüchigkeit dieser Erzählform im Rahmen von herkömmlichen Erfolgsnarrativen. Gerade dadurch verändert sich das gängige Erzählprinzip soziologischer Gesellschaftsbilder, das zumeist strukturelle Zusammenhänge aus einer distanziert-beobachtenden Perspektive nachzeichnet. Demgegenüber gewährt die Eribonsche ‚Politisierung des soziologischen Ichs‘ das Potenzial der rezeptionsästhetischen ‚Teilnahme‘ am Geschehen, was diese ihrer tendenziellen Ausrichtung nach in die Nähe autoethnografischer Zugänge bringt. Diese lassen sich folgendermaßen beschreiben: Davon überzeugt, dass Lebensgeschichten niemals nur von der Person handeln, die sie schreibt, dass in der eigenen Geschichte vielmehr Anschlussmöglichkeiten für die Geschichten vieler anderer verborgen sind, machen AutoethnographInnen sich selbst zu Gegenstand DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 107 Dossier und Medium ihrer Forschung. Im Schildern liminaler Episoden aus ihrem eigenen Leben versuchen sie, in einen Dialog mit sich selbst und den RezipientInnen zu treten, in dem Bedeutung konstituiert und performative Erkenntnis gewonnen werden kann (Ploder 2011: 155). Diese Perspektive bedingt demnach einen epistemologischen Wechsel von der „Zuschauertheorie des Wissens“ (Arno Barmé) zur Narration der persönlichen Involviertheit in diesem Zeitgeschehen. Die Schwerpunktverschiebung setzt damit bei einem gemeinsam geteilten Erfahrungs- und Sinnzusammenhang an, der nicht zuletzt dazu imstande ist, einen Resonanzraum zwischen Leserschaft und Text aufzuspannen. Vom Gesichtspunkt der Narration aus betrachtet, wandeln sich somit auch die Erfahrungsebenen durch die Lektüre: von der Beschreibung gesellschaftlicher Struktur- und Dynamisierungsprozesse hin zu einer diese mitschreibenden und schlussendlich einschreibenden Praxis in ebendiese. Gerade die Teilhabe an dem durch das Erzählen sich konstituierenden Erinnerungszusammenhang, fördert den rezeptionsästhetischen Kontakt zur Leserschaft und schafft insofern eine Dialogebene. „[A] personal text can move writers and readers, subjects and objects, tellers and listeners into [a] space of dialogue, debate, and change“ (Holman 2005: 764). Rückkehr nach Reims lässt sich insofern als Zwischen-Gattung beschreiben, der es um die Friktion von soziologischer Gesellschaftsanalyse und persönlichem Erleben geht. Während das Genre der soziologisch informierten Zeitdiagnose den „Problematisierungshorizont von Zeitdiagnosen immer [an] die Gesellschaft als Ganze und nicht soziale Gebilde und Emergenzebenen unterhalb der Gesellschaft adressiert“ (Lim 2017: 419), öffnet Eribons formalästhetische Variation das Potenzial für singuläre Erfahrungsschichten und Selbstbezeugungsdimensionen. Während sich Autobiografien aus der Narration des Selbst aus den Quellen des Selbst speisen und Biografien als „Schreiben über den Anderen“ (Prager 2018: 3) aufzufassen sind, will Eribon mit seiner ‚Autosoziologie‘ eine entpersonalisierende Perspektive auf das Selbst entfalten, der es weniger um das Verständlich-Machen der individuellen Person als vielmehr um deren generativen Konstitutionsbedingungen geht. Dieser gehe es darum, den „determinierenden Einfluss der sozialen Welt auf die Subjektkonstitution“ (Eribon 2016: 16) herauszuarbeiten. Eine so konturierte „‚soziologisierende‘ Darstellung“ (Eribon 2017: 19) der persönlichen Lebensgeschichte schließt darüber hinaus auch explizit an Pierre Bourdieus habitustheoretische Selbstanalysen (2002) an und reiht sich über den genuin soziologischen Diskussionszusammenhang hinaus ein in eine besonders für die letzten Jahren bedeutsame Art der literarisch grundierten Selbsterkundung. Vergleichbare (französische) Schreibprojekte finden sich ebenso bei Annie Ernaux, die sich selbst als „Ethnologin ihrer selbst“ begreift, sowie bei Édouard Louis, der seine Texte ohnehin mit Eribon in Verbindung bringt. Im deutschsprachigen Raum - um hier nur eine Auswahl anzuführen - wird diese neue Form autobiografischen Schreibens von Christian Baron (2020), Steffen Mau (2019) und unlängst von Deniz Ohde (2020) sowie durchaus auch von Sandra Gugic (2020) praktiziert. Gattungstheoretisch sind diese Perspektivierungen durchaus als Reaktualisierungen von Michel Leiris’ ethnologischer Poetik (cf. Albers 2018) zu deuten. 108 DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 Dossier Mit dem empirisch grundierten Konzept der ‚Gründungsszenen‘ (Farzin/ Laux 2014) jeglichen Theoretisierens soll nun der argumentative Übergang zu einer Auffassung von Soziologie als Lebensform geschaffen werden. Theorien entstehen in dieser Akzentuierung weniger aus abstrakten Überlegungen, sondern vielmehr aus einem konkreten sozialen Problemhorizont, der sozusagen als Initialzündung der soziologischen Theoriebildung aufzufassen ist. Auf der Bühne der Theorieproduktion werden sodann die diese auslösenden Faktoren im Rahmen von Szenen verhandelt; das heißt, Theorien sind stets mehr als Instrumentarien, mit denen neue Perspektiven auf die soziale Welt eröffnet werden, sondern vielmehr deren Applikation, im Sinne eines Zugangs zur sozialen Welt. Theorien, das sind demnach „empirisch prägnante Miniaturen soziologisch virulenter Fragen und Phänomene“ (Farzin/ Laux 2011: 410), sie sind daher keine Sichtweisen auf die Gesellschaft und auch keine Beobachtungen über gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern spätmodernen Lebensformen inhärent. Diese anwendungsbezogene Verdichtung des Theoretisierens als bedeutungsgenerierende Praxis ist daher die ideale Voraussetzung, um das Anliegen des sich neu formierenden Genres der Autosoziobiografie nachzuvollziehen. Eribon unterstreicht diese Perspektivierung in einer Selbstauskunft über die programmatische Ausrichtung von Rückkehr nach Reims: Mein Buch ist nicht als Roman aufgetreten, sondern präsentierte sich vielmehr als ausdrücklich soziologisches und theoretisch-kritisches Werk, das auf einer „autobiographischen Erzählung“ fußt und dessen „Figuren“ nichts Fiktives an sich haben (Eribon 2018: 70). Die Berücksichtigung und Sichtbarmachung der Relevanz biografischer Aspekte für das soziologische Interesse rekurriert insofern auf ein ‚soziologisches Ich‘, ein Selbst, das sich und sein Leben mit soziologisch inspirierten Reflexionsmodi verständlich machen will. Darin ist eine elementare Differenz zu einer vordergründig beobachtenden, d. h. gesellschaftliche Strukturzusammenhänge aufdeckenden Soziologie (Metaperspektive) auszumachen, die vielmehr eine lebensformende Praxis mit dem Soziologischen konstituieren will. Der dadurch eingeleitete Effekt besteht darin, sich von vorgelagerten Sinnattributionen zu befreien, denn „[n]ur ein epistemologischer Bruch […] ermöglicht es, die Systematik der sozialen Reproduktion und freiwilligen Selbstexklusion […] zu verstehen“ (Eribon 2016: 45). Hierbei geht es offensichtlich nicht um die Erfassung von Wirklichkeit auf der Basis repräsentativer Daten, sondern viel eher um die differentielle Wiederholung dieser Formen des Realen. Diese theoretische Neujustierung weiß, dass schon die als Wirklichkeitswissenschaft operierende Soziologie performativ wirkt, das heißt gerade durch die Weise des Abbildens soziale Formationen gleichzeitig konstruiert und perpetuiert. Die daran anknüpfende Kritik wandelt sich dann zu einer expliziten Gesellschaftskritik, deren wesentliches Ziel darin besteht, das Werden neuer, alternativer Lebens- und Subjektivierungsformen einzuleiten. Soziologisches Theoretisieren erfüllt bei Eribon somit auch eine heuristische Funktion, die unmittelbar Übergänge zum Leben herstellt. DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 109 Dossier Von der soziologischen Introspektion zur Inskription des Soziologischen im Leben Um das gemeinsame Wirkungsfeld zwischen soziologischer Selbstbefragung und soziologischer Zeitdiagnostik im Detail darzulegen, wird in diesem Abschnitt ein Dialog zwischen Pierre Bourdieus soziologischem Selbstversuch und Eribons daran anknüpfende Autosoziobiografie angeregt, der von Chantals Jacquets Überlegungen zur Nicht-Reproduktion sozialer Macht flankiert wird. Das von Bourdieu entworfene Habitus-Konzept beschreibt einen generativen Mechanismus, der die Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata von Akteuren prägt und der im Sozialisationsprozess erworben wird. Der Erwerb dieses Schemawissens operiert nicht auf intentionaler, reflexiver und sinnkonstituierender Ebene, sondern ist vielmehr als Praxis aufzufassen, die zuvorderst über den Körper vollzogen wird; der Habitus rekurriert somit auf Akteure, die praktischen Sinn durch implizite Wissensformen - im Sinne eines knowing how - herstellen. Das zum „Körper gewordene Soziale“ (Bourdieu/ Wacquant 1996: 161) verinnerlicht somit die für das jeweilige Feld prägenden objektiven Strukturen und arrangiert dadurch ein relativ stabiles Orientierungsgerüst subjektiver Handlungsdispositionen. Dieses inkorporierte Wissen reproduziert sich weniger auf kognitiver Ebene als vielmehr in den lebensweltlichen Routinen und über inkorporierte Anforderungen der jeweiligen Feldlogik. Allerdings resultieren aus dieser postulierten Verschränkung zwischen Habitus und Feld und der damit einhergehenden Klassifikationsschemata in Form von Homologiebildungen Probleme im Verständlich-Machen von sogenannten ‚Klassenübergängern‘ (Chantal Jacquet). Bourdieu selbst hat diese Diskrepanz bereits in seiner habitustheoretischen Selbstanalyse bedacht und mit der Konzeption eines ‚gespaltenen Habitus‘ aufzulösen versucht. Dieser formiert sich gerade zwischen differenten Feldanforderungen und organisiert das soziale Gefüge damit vertikal, sozusagen als „dynamische Kampffelder“ (Reckwitz 2008: 50). Ihre Besonderheit erlangen diese liminalen Akteure aus ihrem Heraustreten aus den vorstrukturierten Schemawissen und der dadurch ermöglichten Destabilisierung von Inkorporierungsprozessen. Hierbei geht es nicht mehr um klassenspezifische Somatisierungsformen, sondern um eine reflexive und mitunter evaluative Bezugnahme auf die ursprünglich erworbene Habitusformation. Besonders deutlich tritt dabei die fehlende Berücksichtigung widerständiger - das heißt mit dem (erworbenen) Habitus brechender - Praxen hervor. Die Bourdieusche Analyse verbleibt notwendigerweise im Typischen, Präpersonalen und Durchschnittlichen, als ob der homo sociologicus in allem das letzte Wort behalten sollte (Sloterdijk 2019: 286). Im Dialog mit seiner eigenen Soziologie kehrt sich diese Konzeption dann bei Bourdieu zu einer Art von Selbstbezichtigung um, die sich besonders aus der offenen Konfrontation des Intellektuellen mit seinem Herkunftsmilieu ergibt. Um hier wieder auf den Rahmen von Gründungsszenen zurückzukommen: Bourdieus Wille zur 110 DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 Dossier Sichtbarmachung der „gesellschaftlichen Bedingungen“, die „den Akt der Objektivierung ermöglichen“ (Bourdieu 2000: 173), zielt zuvorderst auf die Aufschlüsselung der Konstitutionsbedingungen der akademisch konturierten Selbstanalyse ab. Es gehe ihm daher weniger um die „gelebte Erfahrung des wissenden Subjekts“ (ibid.) als vielmehr um die strukturelle Analyse derjenigen Faktoren, die das Selbst überhaupt erst zu einem (intellektuellen) Subjekt haben werden lassen. Er [Bourdieu] gibt Schlüssel zum Verständnis seiner intellektuellen Geschichte und seiner Hinwendung eher zur Soziologie als zur Philosophie, […] ohne sich mit den Gründen zu befassen, die früher ansetzen und seinen schulischen Erfolg und seinen sozialen Aufstieg erklären (Jacquet 2018: 11sq.). Während Eribon sehr detailreich seine persönlichen Schamerfahrungen schildert, und diese stets soziologisch zu kontextualisieren weiß, thematisiert Bourdieu sich selbst vordergründig aus der Perspektive des Überläufers. Bourdieus Methodik der ‚teilnehmenden Objektivierung‘ vermag es dabei, die subjektive Involvierung als relationalen Bezug gegenüber einem Forschungsgegenstand transparent zu machen, indem sie die prägenden sozialen Bedingungen ihres Entstehens aufschlüsselt. Das Verfahren zielt daher darauf ab, die „Objektivierung des Subjekts der Objektivierung“ (Bourdieu 2004: 172) voranzutreiben, um dadurch die Praxis des Analysierenden relational zum untersuchten Gegenstandsbereich zu denken: das Selbst bei Bourdieu beansprucht insofern eine Kritik der epistemologischen Ermöglichungsbedingungen des homo academicus, 1 während Eribon vielmehr subjektive Erlebnisse und besondere Emotionsstrukturen (besonders Scham 2 ) des Klassenüberläufers mit seinen soziologischen Instrumentarien zum Ausdruck bringt. Gerade darin erkennt Eribon auch das Defizit von Bourdieus Selbstversuch, das unvermeidliche Ambivalenzen im Entwicklungsgang seiner akademischen Laufbahn ausspart: „Er traut sich nicht wirklich, sich selbst zu exponieren, seine Auskünfte weisen unübersehbare, wesentliche Lücken auf. Er verschweigt mehr, als er offenlegt“ (Eribon 2016: 153). Bourdieus Selbstversuch ist demgegenüber eher anti-autobiografisch konzeptualisiert, das heißt, der methodologische Schwerpunkt liegt auf der Objektivierung der im übergelaufenen Milieu tradierten inkorporierten Strukturen. Ebendieser Bereich arrangiert für Bourdieu eine Konflikt- und Machtzone, die im Sinne einer Gründungsszene seines Theoretisierens zu lesen ist: erst durch den objektivierenden Vortrag der akademischen Position wird ein Bezug zum ursprünglichen Habitus hergestellt, wodurch die Basis geschaffen wird für die Skizzierung wechselseitiger Einflussfaktoren beider Milieus. Was Bourdieu hier [im soziologischen Selbstversuch] beschreibt, ist also nichts weniger als die Geburt einer Theorie und einer bestimmten theoretischen Einstellung, mithin einer gesteigerten Reflexivität und Sensibilität aus einem Leiden an einer Welt, die nicht die seine ist, in der er mit seinem Habitus immer wieder aneckt und die ihn immer wieder auszustoßen versucht (Grabau 2020: 93). DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 111 Dossier Eribon hat demnach die bourdieusche Selbstanalyse und die dafür eingesetzten Instrumentarien fortgeführt, erweitert und modifiziert. Chantal Jacquet (2018) wiederum kommt das Verdienst zugute, das „weite Land zwischen den Klassen“ begriffsanalytisch aufzuarbeiten wie theoretisch anzureichern. Ihre heuristische Zusammenführung kulminiert im Mechanismus der Nicht-Reproduktion von Habitusformen und wendet sich somit explizit gegen die reproduzierende Weitergabe der für Bourdieu zentralen vier Kapitalsorten. Demgegenüber führt Jacquet den Begriff der ‚Transclasse‘ ein, um „ein Individuum zu bezeichnen, das den Übergang von einer Klasse zu einer anderen vollzieht“ (Jacquet 2018: 20). Dabei geht es um die Praxis des Hinübergehens, weniger um dessen Resultat - Jacquets Interesse lässt sich vielmehr im „Transit zwischen zwei Klassen“ (ibid.) verorten. Die Praxis der ‚Complexion‘ zielt darauf ab, das transformative, das Herkunftsmilieu hinter sich lassende Handlungspotenzial von Akteuren offenzulegen. Die Nicht-Reproduktion bringt die Möglichkeit der Erfindung einer neuen Existenz innerhalb einer bestehenden Ordnung ins Spiel, ohne daß [sic] sich eine soziale Umwälzung oder eine Revolution ereignet hätte (Jacquet 2018: 14). Nicht-Reproduktion ist das entscheidende Kriterium einer Subjektivierungstheorie, die die Mobilität und Liminalität von Klassenübergängern in den Blick nimmt und Subjekte als Impulsgeber begreift, die dazu imstande sind, die aus der Vergangenheit sich formierenden und schließlich deren Lebenswege vorzeichnenden Mechanismen zu unterwandern. An dieser Schwelle arrangieren sich gerade jene „Sozialfiguren der Gegenwart“ (Moebius/ Schroer 2010), die als ‚Transfuge‘ oder eben ‚Überläufer‘ zu bezeichnen sind und von denen gleichsam ein öffentlichkeitswirksamer wie wissenschaftsdiskursiver Reiz ausgeht. Diese Schwellenfiguren schwimmen daher nicht mehr „wie Fische im Wasser“ (Bourdieu/ Wacquant 2006: 161), sondern treten aus dem Fluss der Routine heraus, halten diesen dadurch gleichsam auf Distanz und spielen damit. II. Rückkehr als Figuration soziologischen Palimpsestierens a) Die Textvorlage Rückkehr nach Reims entzieht sich einer gattungstheoretischen Einverleibungskategorie ebenso wie einem klar umrissenen Rezeptions- und Wirkungsverlauf. Vielmehr überkreuzen sich darin verschiedene Erzählweisen, werden unterschiedliche narrative Stilmittel miteinander kombiniert, sodass es wohl nicht überzogen ist zu konstatieren, dass Eribons Text selbst als eine ‚Zwischen-Gattung‘ begriffen werden kann. Dafür sind zumindest drei relevante Ebenen auszumachen: erzählerische Betroffenheit, soziologisches Referat und rezeptionskritische Polemik gegenüber der Psychoanalyse. Eribon spannt dadurch ein dichtes Netz zwischen diesen Ebenen und verwebt sie zu einem Mosaik soziologischer Gesellschaftsanalyse mit autobio- 112 DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 Dossier grafischen Stilmitteln. Im Zusammenspiel zwischen subjektiver Nähe und analytischer Distanz entpersonalisiert sich somit die Erzählerfigur, wodurch nicht klar bestimmt werden kann, wer denn eigentlich spricht; dieser zu konstatierende Status der Unsicherheit unterstreicht zugleich den essayistischen Charakter des Textes. Indes zeigt diese narrative Liminalität auch generell die polyphone Situation des (zumindest soziologisch gefärbten) Erzählens auf, überlagern sich darin doch verschiedene Perspektiven - Sohn, politisch Engagierter, Soziologe/ Journalist/ Biograf, Homosexueller - in einer Sozialfigur; von daher lässt sich das von Eribon versierte Unternehmen einer Subjektivierungstheorie in seiner Anlage transdisziplinär und in seinem Anliegen intersektional verorten. Diese Neuformierung autosoziologischen Schreibens, verstanden als eine Implementierung soziologischer Praxis im persönlichen Leben, lässt sich demnach in die allgemeine Entwicklungstendenz aktueller Soziologien eingliedern, die wieder Interesse zeigt an (neuen) Formen kritischer Gesellschaftsanalyse (cf. Moebius/ Schäfer 2006). Die wohl für die gesamte Geschichte des soziologischen Denkens virulente Nachfrage nach Gesellschaftsdiagnosen wird hierbei gerade durch die Konstitution der Sozialfigur des Rückkehrers abgedeckt, dessen Zeugenschaft als vielschichtiger Authentifizierungsakt beglaubigt wird. b) Theatrale Adaption In der Regie von Thomas Ostermeier erfährt Rückkehr nach Reims seine erste deutschsprachige Theateradaption an der Schaubühne Berlin (2017). Das Setting dieser theatralen Bearbeitung entspricht den bereits angedeuteten Übergangsfigurationen zwischen soziologischer Gesellschaftsbeschreibung und dem Wirken der darin subjektiv zu besetzenden Positionen: In einem Tonstudio kommen die Schauspielerin (Nina Hoss) und der Filmemacher (Hans-Jochen Wagner) zusammen, um einen Dokumentarfilm zur Entstehungsgeschichte von Eribons Rückkehr aufzunehmen. Ostermeier hat dafür gemeinsam mit Eribon noch einmal die Arbeiterbezirke in Reims aufgesucht und verwendet diese filmischen Rückblenden als Basis für seine Inszenierung. Nina Hoss spricht das Voice-Over zu dem filmischen Essay ein, wodurch die Konzentration ganz auf die darin zum Ausdruck gebrachten Thesen über die frühere sozialistische Arbeiterschicht und dem sich davon entfremdeten Eribon gelegt wird. Desillusionistisch folgt die Stückentwicklung somit den Entfremdungsprozessen einer ganzen Klasse, während zugleich Eribons Übertritt in das akademische Milieu einsichtig wird. Diese Öffnung einer Passage zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und subjektiven Aneignungsprozessen gesellschaftlicher Teilhabe charakterisieren somit sowohl das Stückkonzept und die Figurenkonstellation als auch den zugrundeliegenden Text. Im weiteren Verlauf legt Ostermeier den inszenatorischen Fokus dann klar auf die praxeologische Nachzeichnung der Figur des Klassenübergängers, der zunächst davon überzeugt ist, dass die bewusste Abwendung von seinem Herkunftsmilieu eine schambesetzte Reaktion auf die homophoben Tendenzen des Vaters ist. Erst DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 113 Dossier in der Folge schiebt sich eine neue interpretative Deutungsebene im gängigen Narrativ ein, inauguriert durch die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie - die vordergründige soziale Scham des Klassenübergängers sei in diesem Kontext daher als subversive Praxis zu akzentuieren. Denn nicht so sehr das sexuelle Schamempfinden gegenüber den familiären Normvorstellungen, sondern vielmehr die Angst vor dem gesellschaftlichen Urteil sei es gewesen, die den Entfremdungsprozess wesentlich motiviert hätten. Ostermeier stilisiert diesen als ästhetisches Prinzip seiner Bühnenfassung und öffnet in rezeptionsästhetischer Hinsicht die Figur des Rückkehrers als Projektionsfläche der Gegenwartsverständigung zwischen Bühne und Publikum. Nina Hoss wird zur Figur, die die „Trope der Wendung“ (Butler 2001: 10) vollzieht, indem sie sich ihres habituellen Mantels zu entledigen versucht. Sie schreibt sich (zunächst) als Nina Hoss in Eribons Deutung ein und berichtet von ihrem marxistisch engagierten und später in der Grünen Bewegung wirkenden Vater. Auf elementarer Ebene problematisiert sie somit das autosoziobiografische Narrativ und befragt dieses aus der Sicht ihrer Biografie: ihre Performance folgt insofern einer differentiellen Wiederholungspraxis. Hoss ringt in ihrer Rolle mit sich um Erklärungen, so wie Eribon in seinem Text mit sich ringt. […] Sie fühlt sich in ihrem eigenen Werdegang ertappt, wird nachdenklich (Kühnert 2018). Im Fortgang der Stückentwicklung und besonders im letzten Teil der Inszenierung spitzt sich die Dramaturgie zu und löst sich von der eribonschen Vorlage. Dann wird Hoss bzw. ihr familiäres Herkunftsmilieu zur handlungstragenden Figur, sie ist es dann, die den Text zitierend transformiert; diese sich entfaltende Figur ist nichts anderes als ein weiterer differentieller Modus des Rückkehrens, der dadurch den Möglichkeitsraum für daran anschließende Inskriptionen entfaltet. Das Script erfährt somit eine ‚ästhetische Verlebendigung‘ (Georg W. Bertram), das heißt, eine poetische Intervention am Plot, ein Sich-Einschreiben in die Vorlage, das die Bruchlinien der bloßen Zeitgenossenschaft unterwandert und durch die „verändernde […] Kraft der Wiederholung“ (Waldenfels 2001: 12) fortgeschrieben wird. Diese Konstellation ist dann nicht nur als soziologische Praxis des Wieder-Holens oder Wieder-Schreibens von Wirklichkeit, sondern - im relationalen Sinne - als wieder-setzen zu betrachten - einem Abschaben habitueller Schemata und dem neuen Konfigurieren autosoziologischer Zusammenhänge. Die praxisbezogene Figur des Rückkehrers dient hierfür als paradigmatisches Beispiel soziologischen Palimpsestierens. Ostermeiers dramaturgische Figurenzeichnung lenkt dafür den Fokus weniger auf die sexuelle Scham des Homosexuellen als vielmehr auf die sozialen Mechanismen klassenbedingter Exklusionsprozesse. Im Einklang mit Eribons Anspruch, seine Erfahrungen des Klassenwechsels weniger „über sexuelle Scham […] als über soziale“ (Eribon 2016: 19) offenzulegen, konstituiert Ostermeiers Figurenkonstellation daher einen Resonanzraum, der mit biografischen Episoden am Beispiel der Biografie von Nina Hoss problematisiert wird. 114 DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 Dossier III. Theatrales Einschreiben als Versinnlichen des Sozialen Der hier beschriebene Nexus zwischen Soziologie und Theater sollte einsichtig machen, dass dieser Dialog auf zeitlicher Ebene entlang einer subversiven Zitierpraxis arrangiert ist. Gesellschaft wird dabei als Text (Pierre Legendre) verstanden, die sich durch ständige Wiederholungen aktualisiert, zugleich aber auch offen ist für Bedeutungsverschiebungen. Jede Realitätskonstruktion, darüber hat Alfred Schütz ausführlich berichtet, ist selbst Teil des Wirklichen. Gerade diese Akzentuierung ermöglicht es gleichsam, den theatralen Raum zwar nicht als direkten Übergang zum Leben zu deuten, aber als Möglichkeitsraum, der dieses aus einer gewissen Distanz heraus problematisiert. Das heißt, als einen Rahmen, der den lebensweltlichen Rahmen imaginativ (weiter-)verhandelt und dadurch „neue Sichtweisen auf die Welt durch ästhetische Argumente“ (Bohrer 2015: 348) befördert. Es geht dabei nicht um repräsentative Widerspiegelungen des Realen, sondern um die imaginative Konferenz von Zeichen, Wissensordnungen und Lebens- und Denkformen. Um eine Distanz von der unmittelbaren Lebenswelt zu bewirken, in der „sinnreflexive Gebilde“ (Seel 1993: 38) arrangiert werden. Denn die Bühne ist keineswegs eine unbewegliche Fläche, und es gibt im Theater Weisen des Handelns/ Schauens (acting), die sowohl die Schauspieler*innen als auch das Publikum auf und abseits der Bühne in Bewegung bringen (Butler 2019: 14sq.). Diese Modi arrangieren sich dann „nicht nur als intellektuelle, sondern auch als aisthetische Praxis“ (Böhler 2018: 76). Im Unterschied zur wissenschaftlichen Methodik wird dabei weder die Wahrheit entdeckt noch die Wirklichkeit repräsentiert, sondern Ereignisse versammeln dieses Suchen in einem Resonanzraum der Ko- Präsenz. Noch vor der kulturalisierten Formung und Sedimentierung von Ideen operiert die theatrale Ver-handlung soziologischer Stoffe optativ, das heißt „Möglichkeiten eröffnend“ (Schmid 1998: 10). Jenseits der Repräsentation von Wirklichkeit problematisieren diese ästhetischtheatralen Praxen dann den eingeübten Dualismus zwischen Wissenschaft und Politik auch auf zeitlicher Ebene: „Im Hinblick auf den sozialen Prozess geht es der Wissenschaft (oder allgemeiner, der Erklärung) um die Vergangenheit, der Politik (oder allgemeiner, der Wahlhandlung) aber um die Zukunft (Abbott 2019: 92). Das Versinnlichen sozialer Formen mit künstlerischen Instrumentarien ist ein Ereignis, indem sich diese Temporalitätsstrukturen überkreuzen - woraus sich neue Perspektiven einer „lebensbezogenen Sozialwissenschaft“ (Kruse 1999: 266) entfalten lassen. Das nur der Kunstform des Theaters Vorbehaltene besteht dementsprechend im Versinnlichen eines gegebenen Inhalts (Autosoziobiografie) durch das „subjektive Lebendigmachen“ (Simmel 2008: 118) der Schauspieler*innen. Am Beispiel von Eribons Textgrundlage wird somit besonders deutlich, welche speziellen Reibungsflächen sich zwischen soziologischen mit künstlerischen Wissenskulturen ergeben, die auch Zygmunt Bauman im Auge hat: DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 115 Dossier Soziologie ist ein fortlaufender Kommentar zu den Erfahrungen des Alltags; sie bietet Interpretationen an, die sich von anderen Interpretationen nähren und diese im Gegenzug speisen. Statt mit ihnen zu konkurrieren, teilt sie ihre Mittel mit anderen mit der Interpretation menschlicher Erfahrung befaßten Diskursen (wie Literatur, Kunst, Philosophie) (Bauman 2015: 318). Resümee Didier Eribon hat eine autosoziobiografische Wende im aktuellen Diskurs der Sozial- und Kulturwissenschaften eingeleitet. Er hat die etablierte Gattung mit den Mitteln einer starken Reflexivität aktualisiert und mit den Instrumentarien soziologischer Gegenwartsdiagnostik verwoben - die Praxis der ‚Zeugenschaft‘ fungiert dafür als Ankerpunkt. Indes entwickelt Eribon damit zugleich eine soziologische Theorie, die im Feld der Subjektivierungstheorie zu verorten ist. Der intermediale Transfer in den theatralen Raum bündelt diese Theoriebildung und schreibt diese Akzentuierung mit künstlerischen Ausdrucksformen fort, was insbesondere am Fallbeispiel von Thomas Ostermeiers Adaption deutlich wird. Die dort entwickelte ‚Sozialfigur des Rückkehrers‘ fungiert als autosoziologisch konturierte Diagnosefigur, die im Sinne einer rezeptionsästhetischen Projektionsfläche für weit gestreute und mitunter disparate Einverleibungsgesten genutzt werden kann. Diesen sich darin bündelnden Milieudeskriptionen und mit autobiografischen Rückblenden ausgestatteten Narrativen ist stets ein Transzendierungsstreben inhärent, das auszudrücken scheint: Selbst wenn die sozialen Determinanten der personalen Identität nicht durch den Klassenübergang abgelegt werden können, so zeigen sie doch auf, dass die Transformation stets möglich ist und insofern immer auch als Modell herangezogen werden kann. Zu problematisieren ist dabei jedoch, ob sich die scheinbar intendierten und kollektiv gewünschten Emanzipationsbestrebungen ausschließlich durch den Vorschlag des Sozialaufstiegs herstellen lassen oder ob nicht vielmehr auch andere Praxen alternative Widerstandsgesten befördern können. Denn es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass „im Zentrum der Autosoziobiografie meist Individuen [stehen] und nicht mehr oder weniger anonyme soziale Prozesse ohne individuellen Protagonisten“ (Spoerhase 2017: 36). Generell ist den künstlerischen Fortschreibungsformen, wie auch den realen Vorlagen, inhärent, dass sie ihr Herkunftsmilieu zusehends als Ressource in das kompetitive Spiel der Statutsbehauptung einbringen. Gerade durch diesen performativen Akt der Hervorbringung des eigenen Selbst im Rekurs auf die abgelegten Determinismen der sozialen Herkunft resultiert jedoch mitunter das Dilemma einer affirmativen Fortschreibung individueller Erfolgsgeschichten. Um diesem den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird es zukünftig wohl nötig sein, sich stets zu fragen, ob nicht die anvisierte Authentizitätsstrategie als Selbstimmunisierung gegenüber kritischen Einwänden eingesetzt wird, das heißt zu problematisieren bleibt, ob bei dem aktuell zu beobachtenden Boom autosoziobiografischer bzw. autofiktional konturierter Literatur nicht doch auch das Risiko identitätspolitischer Einverleibung zu konstatieren 116 DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 Dossier ist oder zumindest die als Beglaubigungsgeste eingesetzte Zeugenschaft den kritischen Anschluss vergleichbarer Erlebnisberichte verstellt. In der Folge könnte das bedeuten: viele, in sich geschlossene, authentische ‚Zeugen‘, die disparat und lose nebeneinander auftreten und sich, gerade in ihrer Abgeschlossenheit gegenüber neuen Narrativen der Emanzipation, selbst immunisieren. Gerade eine reflektierte Verquickung von soziologischen und ästhetisch-theatralen Instrumenten der Gegenwartsverständigung, so die These, bietet jedoch das erkenntnisstiftende Potenzial zum Ausweg aus diesem Labyrinth. Abbow, Andrew, Prozessuales Denken. Reflexionen über Marx und Weber, Hamburg, Hamburger Edition, 2019. Albers, Irene, Der diskrete Charme der Anthropologie. Michel Leiris’ ethnologische Poetik, Göttingen, Konstanz University Press, 2018. Arbeitstagung der DGS Sektion Soziologische Theorie, „Gründungsszenen soziologischer Theorie“: Delmenhorst, Hanse-Wissenschafts-Kolleg (HWK) vom 27./ 28.01.2012, in: Zeitschrift für Soziologie, 40, 5, 2012, 410-411. Bauman, Zygmunt, Vom Nutzen der Soziologie, trad. Christian Rochow, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2015 [1990]. Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Berlin, Suhrkamp, 2016 [1986]. Bohrer, Karl Heinz, Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher, Berlin, Suhrkamp, 2015. Bourdieu, Pierre, Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2000. —, „Die biographische Illusion“, in: id., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, trad. Hella Beister, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1998, 75-83. Butler, Judith, Wenn die Geste zum Ereignis wird, trad. Anna Wieder / Sergej Seitz, Wien/ Berlin, Turia + Kant, 2019. —, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, trad. Reiner Ansén, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2001 [1997]. Eribon, Didier, Grundlagen eines kritischen Denkens, trad. Oliver Precht, Wien/ Berlin, Turia + Kant, 2018. —, Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege, trad. Tobias Haberkorn, Berlin, Suhrkamp, 2017 (a). —, „Ich glaube an den Klassenkampf“, interviewed von Matthias Dusin, in: Falter, 3. Oktober 2017 (b), 26-28. —, Rückkehr nach Reims, trad. Tobias Haberkorn, Berlin, Suhrkamp, 2016. Grabau, Christian, „Bourdieu, Eribon und die beschwerliche ‚Odyssee der Wiederaneigung‘. Biografie und Identität in habitustheoretischer Perspektive“, in: Ulrike Deppe (ed.), Die Arbeit am Selbst, Theorie und Empirie zu Bildungsaufstiegen und exklusiven Karriere, Wiesbaden, VS Verlag (Studien zur Schul- und Bildungsforschung, 74), 2020, 85-104. Jacquet, Chantal, Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht, trad. Horst Brühmann, Konstanz, Konstanz University Press, 2018. Junge, Matthias (ed.), Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden, VS Verlag, 2016. Jurt, Joseph, „Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu“, in: LiThes, 10, 2010, 5-17. Kühnert, Kevin, „Kein Automatismus nach rechts“, 2018, https: / / nachtkritik.de/ index.php? option= com_content&view=article&id=15358: das-berliner-theatertreffen-2018-von-aussen-betrachtet- DOI 10.2357/ ldm-2020-0050 117 Dossier gastautor-kevin-kuehnert-ueber-didier-eribons-und-thomas-ostermeiers-rueckkehr-nach-reims& catid=1635&Itemid=100190 (letzter Aufruf: 14.05.21). Lim, Il-Tschung, „Doppelbesprechung. Zeitdiagnose als Heuristik und Wissensform“, in: Soziologische Revue, 40, 3, 2017, 405-414. Louis, Édouard, Wer hat meinen Vater umgebracht, trad. Hinrich Schmidt-Henkel, Frankfurt/ Main, Fischer, 2019. Moebius, Stephan / Schroer, Georg (ed.), Diven, Hacker, Spekulanten: Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2010. Moebius, Stephan / Schäfer, Gerhard (ed.), Soziologie als Gesellschaftskritik, Hamburg, VSA, 2006. Ploder, Andrea, „The Power of Performance. Methodologische Neuorientierungen in den Sozialwissenschaften“, in: Gerda Lechleitner / Christian Liebl (ed.), Jahrbuch des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Göttingen, Cuvillier, 2011, 139- 169. Reckwitz, Andreas, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin, Suhrkamp, 2020. —, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin, Suhrkamp, 2017. Seel, Martin, „Zur ästhetischen Praxis der Kunst“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41, 1, 1993, 31-43. Seyfert, Robert, „Lebenssoziologie - eine intensive Wissenschaft“, in: Heike Delitz / Frithjof Nungesser / Robert Seyfert (ed.), Soziologien des Lebens. Überschreitung - Differenz - Kritik, Bielefeld, transcript, 2018, 373-408. Schmid, Wilhelm, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1998. Simmel, Georg, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1992 [1908]. Sloterdijk, Peter, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2019 [2009]. Spoerhase, Carlos, „Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse“, in: Merkur, 71, 818, 2017, 27-37. Waldenfels, Bernhard, „Die verändernde Kraft der Wiederholung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kulturwissenschaft, 46, 1, 2001, 5-17. 1 Zur dynamischen Lesart des Habituskonzepts schreibt zum Beispiel Joseh Jurt: „Dass Bourdieu selbst, der aus einer einfachen Postbeamtenfamilie bäuerlichen Ursprungs stammte, mit der Professur am Collège de France die höchste akademische Stufe erklomm, widerspricht nicht seiner Habitustheorie, die nun gerade nicht eine mechanische Determination durch das Milieu annimmt, sondern eine flexible Wirkung der frühen Prägung“ (Jurt 2010: 11). 2 Eribon führt zur Analyse der vielschichtigen Schamstrukturen in Gegenwartsgesellschaften die Methode der Hontoanalyse ein, wenngleich er konstatiert, dass die „hontologische Realität der sozialen Welt“ (Eribon 2017: 38) dadurch nicht übergangen werden kann.