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Pilgern – Heil – Heilung

0925
2023
978-3-3811-0132-0
978-3-3811-0131-3
Gunter Narr Verlag 
Klaus Herbers
Peter Rückert
10.24053/9783381101320

Die Beiträge des Bandes nähern sich dem komplexen Thema um Pilgern, Heil und Heilung aus unterschiedlichen Richtungen: Dabei geht es zunächst um die historischen Erfahrungen, von Wundergeschichten um den hl. Jacobus bis hin zu beispielhaften Pilgerspuren, welche die Suche nach Heil und Heilung verbinden. Hier wird die Verbindung von körperlicher Heilung und seelischem Heil konkret, ebenso wie liturgische Formen Heilssuche und Heilsvermittlung in einem festen religiösen Rahmen wiederfinden lassen. Auch die Gnadenmittel der Kirche werden vorgestellt, die "Heiligen Jahre" und die Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, die zu Heil und Heilung führen sollten. Die aktuellen Bezüge des Themas werden aus philosophischer Perspektive lebensnah betont, ebenso wie die therapeutische Wirkung des Pilgerns aus medizinischer Sicht beeindruckt. Die Vielfalt von Heilssuche und Heilserwerb im Spannungsfeld von Realität und Imagination erscheint zeitlos und erhält hier deutliche Konturen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-10131-3 www.narr.de - Klaus Herbers, Peter Rückert (Hrsg.) PILGERN - HEIL - HEILUNG PILGERN - HEIL - HEILUNG Klaus Herbers, Peter Rückert (Hrsg.) Die Beiträge des Bandes nähern sich dem komplexen Thema um Pilgern, Heil und Heilung aus unterschiedlichen Richtungen: Dabei geht es zunächst um die historischen Erfahrungen, von Wundergeschichten um den hl. Jacobus bis hin zu Pilgerspuren, welche die Suche nach Heil und Heilung verbinden. Hier erschließen sich konkrete Bezüge von körperlicher Heilung und seelischem Heil, ebenso wie liturgische Formen Heilssuche und Heilsvermittlung in einem festen religiösen Rahmen wiederfinden lassen. Auch die Gnadenmittel der Kirche werden vorgestellt, die „Heiligen Jahre“ und die Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, die zu Heil und Heilung führen sollten. Die aktuellen Bezüge des Themas werden aus philosophischer Perspektive lebensnah betont, ebenso wie die therapeutische Wirkung des Pilgerns aus medizinischer Sicht beeindruckt. Die Vielfalt von Heilssuche und Heilserwerb im Spannungsfeld von Realität und Imagination erscheint zeitlos und erhält hier deutliche Konturen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven. Klaus Herbers, Peter Rückert (Hrsg.) <?page no="1"?> Pilgern - Heil - Heilung <?page no="2"?> Jakobus-Studien 22 im Auftrag der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft herausgegeben von Klaus Herbers und Robert Plötz im Auftrag der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft herausgegeben von Klaus Herbers und Peter Rückert 25 <?page no="3"?> Klaus Herbers / Peter Rückert (Hrsg.) Pilgern - Heil - Heilung <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381101320 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0934-8611 ISBN 978-3-381-10131-3 (Print) ISBN 978-3-381-10132-0 (ePDF) ISBN 978-3-381-10133-7 (ePub) Umschlagabbildung: Der Ritt des hl. Jacobus mit dem toten und dem lebenden Pilger (Parma, Bibliotheca Palatina, Ms. Misti B 24, fol. 1v) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 15 29 37 57 77 109 149 179 205 213 220 221 Inhalt Klaus Herbers und Peter Rückert Pilgern - Heil - Heilung. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Herbers Heil oder Heilung? Wunder und Übernatürliches beim Pilgern . . . . . . . . . . Wilhelm Schmid Pilgern als Lebenskunst. Wie Menschen auf neue Weise Heimat finden . . . Beate Brieseck Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Bärsch Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie. Liturgiehistorische Beobachtungen zu Wallfahrtsmotiven und -interessen in Mittelalter und Frühneuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christiane Laudage Heilung durch Ablass? Heilige Jahre und Wege zum Himmel . . . . . . . . . . . Berndt Hamm Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Burkhardt Heilung und Genesung. Dimensionen und Wirksamkeit geistigen Pilgerns im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Rückert Heilung für Körper und Seele? Margarethe von Savoyen auf dem Weg nach Santiago de Compostela . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resúmenes / Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 1 Vgl. Robert P L Ö T Z , Santiago-Peregrinatio und Jacobus-Kult mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Frankenlandes, in: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens, Bd.-31, Münster 1984, S.-24-135, S.-62. 2 Zum heiligen Ulrich und Jakobus siehe: Klaus H E R B E R S , Kämpfende Heilige im 10. und 12. Jahrhundert. Der heilige Ulrich, der heilige Jakob, in: Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wirtschaft, Kultur und Pilgerfahrten, hg. von Klaus H E R B E R S / Peter R Ü C K E R T ( Jakobus-Studien 18), Tübingen-2009, S.-215-236. Pilgern - Heil - Heilung Zur Einführung Klaus Herbers und Peter Rückert Stehen Benedikt und Jakobus mit dem Ort der Jahrestagung 2021, welche die Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft vom 23. bis 26. September 2021 in Benediktbeuern unter dem Titel „Pilgern - Heil - Heilung“ abhielt, in einem engen Verhältnis? Ja und Nein. Bekannt und gerühmt sind die Hinweise der Benediktusregel, wie man an einem festen Ort Heil und Heilung erlangen kann. Der Ansatz der hier dokumentierten Tagung ging aber weniger von der ortsgebundenen Heilssuche aus, als vielmehr vom pilgernden Unterwegssein. Und dennoch inspirierte der Ort. Fast 1300 Jahre ist das Benediktinerkloster Benediktbeuern alt; um 739 unter Mitwirkung des hl. Bonifatius mit den Patrozinien Benedikt und Jakobus gegründet, um Missio‐ nierung und Urbarmachung des Loisachtals sicherzustellen. Benediktbeuern bietet eines der frühesten Jakobuspatrozinien in Deutschland überhaupt 1 . Bischof Ulrich von Augsburg - Benediktbeuern liegt im Bistum Augsburg 2 - richtete nach dem Ungarnsturm dann 955 ein Stift für Regularkanoniker ein, und erst 1031 kamen erneut Benediktiner aus Tegernsee ins Kloster. Es ist mithin ein Ort, der Geschichte atmet und der auch durch eine große Klosterbibliothek hervorsticht. Um 1250 sollen es etwa 250 Handschriften gewesen sein, darunter die bekannten „Carmina Burana“. Nach einer Reformorientierung im 15. Jahrhundert gelangte das Kloster nach dem Dreißigjährigem Krieg wieder zu neuer Blüte: wirtschaftlich und kulturell. Zu erwähnen ist das Klostergymnasium, aber auch das commune studium, <?page no="8"?> 3 Bayerische Staatsbibliothek München Clm 4660; online unter https: / / de.wikipedia.or g/ wiki/ Carmina_Burana_%28Orff%29#/ media/ Datei: CarminaBurana_wheel.jpg (Abruf am 13.2.2023). 4 Vgl. die einschlägige Edition: Liber Sancti Jacobi. Codex Calixtinus, hg. von Klaus H E R B E R S / Manuel S A N T O S N O I A , Santiago de Compostela 1998, S.-269 (fol. 222r). 5 Ebd., S.-269. denn das Hochschulstudium der bayerischen Benediktinerkongregation war zeitweilig in Benediktbeuern untergebracht. Ab 1669 wurde die Klosteranlage erneuert, klingende Namen trugen zu der heute noch imposanten Barockanlage bei: Johann Baptist Zimmermann, Johann Michael Fischer, Hans Georg Asam und andere. Nach 1806 spielte Joseph von Fraunhofer eine Rolle, danach hatte das Kloster als Besitz des bayerischen Königreiches verschiedene Funktionen, bis die Salesianer Don Bosco 1930 die Anlage erwarben. Das „Rad der Fortuna“ drehte sich mit diesem Tagungsort zugunsten unserer Ziele. Und dieses Rad kann man deshalb konkret ansprechen, weil Benedikt‐ beuern mit den Beuerner Liedern, den „Carmina Burana“, verbunden ist, die besonders Carl Orff bekannt gemacht hat. Vielleicht wurde die Sammlung - wie der Dialekt der mittelhochdeutschen Teile verrät - teilweise in der Steiermark geschrieben, trotzdem verbindet sie sich eng mit Benediktbeuern. Die heute in München aufbewahrte Handschrift aus dem 13. Jahrhundert 3 bietet eigentlich das, was man vom Mittelalter gemeinhin nicht direkt erwartet: Spottgesänge, Liebes- und Trinklieder, ja auch geistliche Theaterstücke. Und Kirchenkritik gibt es zu Hauf: Ämterkauf und Geldgier von Kirche und Klerus werden angeprangert. Oder es wird das Liebeskonzil in Remiremont besungen. Hier bietet das Gedicht jeder „Frau Kardinal“ oder anderen Frauen ihren Auftritt. Weitere Gedichte zum presbyter cum sua matrona, dem Priester mit seiner Ehefrau, oder Visionen vom utopischen Schlaraffenland oder Vagantenlieder, die im aufkommenden Universitätsleben eine Rolle spielen sollten, eröffnen ein breites Panorama. Das „Rad der Fortuna“, das auch die Handschrift schmückt, verdeutlicht aber, wie schnell man unten oder oben sein kann (Abb.-1). Was bietet das Bild mit dem Rad der Fortuna für den vorliegenden Sammel‐ band „Pilgern - Heil - Heilung“? Ist es so, dass wir unten erdrückt liegen und das Schicksalsrad uns plötzlich nach oben katapultiert - oder auch umgekehrt? Wer dreht denn das Rad? Oder können wir doch selbst etwas dazu beitragen, um nach oben zu kommen? Der Pilgergesang aus dem Codex Calixtinus Dum pater familias  4 vermittelt eine weitere Perspektive (Abb. 2): Hier steht zwischen den Strophen der Satz mit deutschen und lateinischen Worten: Herru Sanctiagu, got Sanctiagu, e ultreia, e suseia, deus aia nos  5 - „Herr Santiago, guter, großer (? ) Santiago, und weiter, und aufwärts. Gott helfe uns“. 8 Klaus Herbers und Peter Rückert <?page no="9"?> Abb. 1: Das Rad der Fortuna in der Handschrift der „Carmina Burana“, 13. Jahrhundert (Bayerische Staatsbibliothek München Clm 4660, fol. 1r) Pilgern - Heil - Heilung 9 <?page no="10"?> Abb. 2: Codex Calixtinus, 12. Jahrhundert (Archiv der Kathedrale von Santiago de Compostela, fol. 222r) 10 Klaus Herbers und Peter Rückert <?page no="11"?> 6 Vgl. dazu: Die Tochter des Papstes: Margarethe von Savoyen. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bearb. von Peter R Ü C K E R T / Anja T H A L L E R / Klaus O S C H E M A , Stuttgart 2020. Aus dieser Perspektive scheinen eher Jakobus und Gott zu helfen, um weiter und aufwärts zu kommen. Bedeutet „Pilgern - Heil - Heilung“, dass wir uns beim Pilgern fallenlassen können oder dass wir uns aufrichten oder aufgerichtet werden? Inwiefern bedarf es bei diesen Prozessen der eigenen Mitwirkung? Ein früher angedachter Titel der Jahrestagung in Benediktbeuern lautete: „Pilgern tut gut“ - aber warum? Wie geschieht das? Welche Gnadenmittel gibt es dazu? Sowohl das Programm der Tagung als auch die Beiträge des Bandes sind verschiedene Näherungsversuche, die das Thema keinesfalls vollständig aus‐ leuchten. Mehrere Aufsätze thematisieren die historischen Erfahrungen, von Wundergeschichten des Jakobsbuches (Klaus Herbers) bis hin zu neuen, bisher unbekannten Pilgerspuren der Margarethe von Savoyen (Peter Rückert). Diese beiden Untersuchungen bieten damit den Rahmen des Bandes. Geht es in den zentralen Wundergeschichten des „Liber Sancti Jacobi“ nur darum, wie körperliche Heilung erreicht wird? Natürlich nicht, aber wie stellte man die Verbindung von körperlichem und seelischem Heil her, wie war beides aufeinander bezogen? Der Aufsatz von Klaus Herbers fragt damit zugleich danach, in welchen Vorstellungswelten mittelalterliche Pilger und die darüber schreibenden Autoren sich bewegten, welche Rolle der Pilger selbst einnahm, um etwas als Wunder, als Heil und Heilung wahrzunehmen. Ob und inwieweit die Reisen der Margarethe von Savoyen von ähnlichen Vorstellungen bestimmt waren, können wir nur vermuten. Die neuen Spuren der Pilgerbewegung, die Peter Rückert aus dem Quellenkorpus zu dieser adeligen Frau erschließt 6 , zeigen jedenfalls, wie verbreitet die Sehnsucht nach Heil und Heilung war, wie sehr vielleicht auch gerade im späten Mittelalter die Kraft‐ quelle Pilgern den Lebensrhythmus der Menschen in allen sozialen Gruppen bestimmte. Hier wird die Verbindung von körperlicher Heilung mit seelischem Heil konkret: in den weiten Reisen der Margarethe von Savoyen, die gezielt Heilbäder, Kuraufenthalte und Wallfahrtsziele verbanden. Bis heute bleibt für viele, die sich auf den Weg machen, bestimmend, wie Pilgern gleichsam zur Therapie werden kann. Wilhelm Schmid stellt in seinem breiten philosophischen Umblick viele Ansatzpunkte zum Problemkreis vor, inwieweit Pilgern in seiner Vielfalt und in seinen Erscheinungsformen menschlichen Sehnsüchten entgegenkommt. Damit greift er aktuelle Fragen der Lebensführung auf, die nicht nur Christen bis heute umtreiben. Therapie kann aber auch sehr konkret medizinisch bzw. psychologisch gefasst werden. Beate Brieseck überschreibt ihren Forschungsbericht mit den Pilgern - Heil - Heilung 11 <?page no="12"?> bezeichnenden Worten „Aus dem Tal“ und lässt uns an ihren spannenden Erfahrungen teilhaben, die sie mit Betroffenen des Marienhospitals Eickel gemacht hat. Der Pilgerweg nach Santiago wurde dabei zum gemeinsamen Erlebnis mit therapeutischer Wirkung. - „Psychiatrie auf dem Jakobsweg“ lautet entsprechend der programmatische Untertitel des Beitrags. Nicht nur die Medizin ist gefragt, um zu erläutern, wie Heil und Heilung unterstützt werden können. Liturgische Formen bringen Heilssuche und Heils‐ vermittlung in einen festen religiösen Rahmen. Jürgen Bärsch stellt dies an speziellen „Liturgien der Wallfahrt“ vor. Dabei sind mittelalterliche Formen deutlich von nachtridentinischen Ordnungen zu unterscheiden, etwa beim Aufbruch zur Pilgerfahrt, dem „Pilgersegen“, oder bei der Pilgerliturgie am Wallfahrtsziel. „Heil“ und „Heilung“ werden so als theologische Kategorien in der Praxis der Pilgerliturgie fassbar. 2021/ 22 war in einmaliger Weise ein doppeltes Heiliges Jahr. Wie stand man früher und wie steht man heute zu den institutionellen Gnadenmitteln? In Santiago wird das Angebot bis heute genutzt. Müssen wir unser Verständnis vom Ablass, das immer noch sehr von den Diskussionen um die Reformation geprägt ist, vielleicht überprüfen? Christiane Laudage zeigt die Entwicklungs‐ wege und Variationen des Ablasses, der als Gnadenmittel in der katholischen Kirche verschiedene Ausprägungen erfahren hat und noch heute ausweist. Der daran anschließende Aufsatz von Berndt Hamm bettet diese verschiedenen Entwicklungen in die Frömmigkeitstheologie der Zeit vor der Reformation ein, indem er die räumliche Mobilität der spätmittelalterlichen Gesellschaft mit dem Konzept der „nahen Gnade“ in Verbindung bringt. Muss man aber dazu in körperlicher Bewegung sein? Vielleicht geht es bis heute auch darum, gerade in Zeiten einer Pandemie, die wir noch immer nicht überwunden haben, das Heil nicht nur an einem ausgewiesenen Gnadenort, wie in Santiago, zu suchen? Die Möglichkeiten, um im Geiste zu pilgern, stellt Julia Burkhardt vor und bietet damit wichtige Einblicke in die Vielfalt von Heilssuche und Heilserwerb im Spannungsfeld von Realität und Imagination. Dabei unterstreicht sie die Heilswirksamkeit geistigen Pilgerns im Mittelalter, das sowohl spirituelle Heiligung wie auch seelisch-körperliche Genesung ver‐ sprechen konnte. Die Vorträge, die in Benediktbeuern gehalten wurden, sind damit bis auf zwei in diesem Band dokumentiert. Für die Drucklegung hinzu kam der Beitrag von Berndt Hamm, der bei der Tagung nicht vorgetragen werden konnte und hier in wünschenswerter Weise die zentrale Problematik um „Heil“ und „Heilung“ in die Frömmigkeitsgeschichte des späten Mittelalters einordnet. Die aktuellen Bezüge des Tagungsthemas wurden in Benediktbeuern durch eine angeregte 12 Klaus Herbers und Peter Rückert <?page no="13"?> 7 Siehe https: / / deutsche-jakobus-gesellschaft.de/ videos/ sowie https: / / www.kath-akade mie-bayern.de/ videos (Abruf jeweils am 8.2.2023). Podiumsdiskussion vertieft, die Barbara Massion moderierte. Dieses Gespräch, Begrüßung und Einführung können mit weiteren Eindrücken von der Tagung auch weiterhin online abgerufen werden 7 . Abschließend danken wir für die vielfältige Hilfe des Präsidiums der Deut‐ schen St. Jakobus-Gesellschaft und der lokalen Institutionen bei der Vorberei‐ tung der Tagung, die wir in instruktiver Kooperation mit der Katholischen Akademie München (Dr. Astrid Schilling) veranstaltet haben. Der Dank geht aber hier vor allem an die Vortragenden, die ihre Beiträge zügig zur Verfügung stellten, sowie an Linus Schreiber, der sie (einschließlich der Abstracts) noch redaktionell bearbeitete und auch das Register fertigte. Die Überarbeitung der spanischen „Resúmenes“ verdanken wir Dr. Manuel Santos Noya. Schließlich ist die bewährte Zusammenarbeit mit dem Narr Francke Attempto Verlag und besonders mit Stefan Selbmann dankend hervorzuheben, die eine gediegene Drucklegung dieses Bandes der Jakobus-Studien sicherstellte. Die Herausgeber Pilgern - Heil - Heilung 13 <?page no="15"?> * Der Beitrag geht auf den Vortrag zurück, der am 24.9.2021 im Rahmen der Tagung „Pilgern-Heil-Heilung“ der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft in Benediktbeuern gehalten wurde. Für Hilfe bei der Einrichtung des Druckes danke ich Linus Schreiber (Erlangen). Heil oder Heilung? Wunder und Übernatürliches beim Pilgern Klaus Herbers 1. Hinführung* Es soll ein kleiner Akt des Widerstandes gewesen sein, wenn man im natio‐ nalsozialistischen Deutschland auf den Gruß „Heil Hitler“ geantwortet haben soll: „Heil Du ihn“. Hört man genauer hin, so wird hier Heil und Heilung unterschieden. Aber sind die beiden Stichwörter unserer Tagung und auch meines Beitrages überhaupt eindeutige Gegensätze? Oder sind sie nicht eher Facetten einer gleichen Medaille? Wenn man den Faden mit dem deutschen Wortfeld weiter fortspinnt, könnte man sogar das Wort Heiligung hinzufügen. Sucht man im Lateinischen und den romanischen Sprachen, dann entspricht salus dem Heil. Da salus auch die Gesundheit bedeutet, rücken Heil und Heilung noch näher zusammen. Die Heilung an Leib und Seele führt zur Gesundheit und zum Heil. Soweit so gut. Dass Pilger zu allen Zeiten einen Zustand von Heil, Glück, Ausgeglichenheit aber auch von körperlichem Wohlbefinden suchten, wie‐ derherstellen oder neu entdecken wollten, scheint zunächst auf der Hand zu liegen. Aber was trieb und treibt sie in ihren Hoffnungen an, diesen Zustand wirklich zu erreichen? Warum finden oder fanden sie das beim Pilgern? Ist da zum Beispiel eine Kur, sind Exerzitien nicht zielgerichteter? Ist es das Laufen, ist es das Ziel? <?page no="16"?> 1 Ludwig S C H M U G G E , Kollektive und individuelle Motivstrukturen im mittelalterlichen Pilgerwesen, in: Migration in der Feudalgesellschaft, hg. von Gerhard J A R I T Z / Albert M Ü L L E R (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 8), Frankfurt a. M. 1988, S. 263- 290; Klaus H E R B E R S , Reisen für das Seelenheil, in: Fernweh - Seelenheil - Erlebnislust. Von Reisemotiven und Freizeitfolgen (Bensberger Protokolle 92), Bensberg 1998, S. 27- 51, im Nachdruck: Warum macht man sich auf den Weg? Pilger- und Reisemotive im Mittelalter, in: Pilgerwege. Zur Geschichte und Spiritualität des Reisens, hg. von Klaus N A G O R N I / Hans R U H (Herrenalber Forum 34), Karlsruhe 2003, S. 9-40. In vergleichender Perspektive in den Weltreligionen: Unterwegs im Namen der Religion. Pilgern als Form von Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung in den Weltreligionen, hg. von Klaus H E R B E R S / Hans-Christian L E H N E R (Beiträge zur Hagiographie 15), Stuttgart 2014. Zum Spannungsfeld von Heil und Heilung vgl. jetzt auch die Beiträge in Tobias Bulang/ Regina Töpfer (Hg.), Heil und Heilung. Die Kultur der Selbstsorge in der Kunst und Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 95), Heidelberg 2020. Pilgermotive sind vielfältig, früher wie heute 1 . Die Teilnehmer der Tagung „Pilgern - Heil - Heilung“ in Benediktbeuern haben fast alle selbst ihre Erfahrungen mit dem Pilgern gemacht, vielleicht oder sicher wurden dabei auch Prozesse angestoßen, die ihrem Leben eine andere Richtung gaben. Ich möchte in diesem Beitrag Pilgern vor allem als Prozess von leiblicher und zugleich seelischer Heilung verstehen. Mit dieser Doppelperspektive, die ich als Historiker stärker aus Beispielen der Vergangenheit entwickeln möchte, soll zugleich eine Brücke zu den beiden folgenden Beiträgen geschlagen werden, die dann Heilung und Therapie aus aktueller Perspektive in den Blick nehmen. Dabei will ich mit drei verschiedenen Schlaglichtern dem Thema ein wenig näherkommen. 2. Gemeinschaft, Liturgie - Aktivität und Wandel Wie geschieht Heilung? Trotz vieler medizinischer Untersuchungen wissen wir vieles nicht, bleibt manches für uns unerklärlich, geschieht zuweilen Unerwar‐ tetes. Was löst Heilungsprozesse aus? Schon in der Bibel werden diejenigen Momente, die etwas Unvorhergesehenes, etwas nicht Erwartbares belegen, als Wunder qualifiziert. Theologisch ist das ein wenig komplizierter, denn man hat lange darüber gestritten, was denn ein Wunder sei. Aber angesichts der jesuanischen Wunder war eine Auseinandersetzung gefordert. Die Theologen wollten vor allen Dingen klären, ob ein Wunder sich gegen oder jenseits der Natur ereigne (und damit war auch eine Abgrenzung gegenüber der Magie ver‐ bunden). Ereignen sich Wunder contra oder praeter naturam fragte sich schon Augustinus. Nicht gegen die Natur war seine Antwort, sondern er verstand es als etwas, was außerhalb natürlicher Vorgänge stattfand. In seinem „Gottesstaat“ 16 Klaus Herbers <?page no="17"?> 2 Vgl. zu diesen spätantiken und frühmittelalterlichen Konzeptionen vor allem: Martin H E I N Z E L M A N N , Die Funktion des Wunders in der spätantiken und frühmittelalterli‐ chen Historiographie, in: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen, hg. von Martin H E I N Z E L M A N N / Klaus H E R B E R S / Dieter R. B A U E R (Beiträge zur Hagiographie 3), Stuttgart 2002, S. 23-61 (mit den entsprechenden Belegen), zu Augustinus besonders S. 41-45. Vgl. zur weiteren Entwicklung in späterer Zeit die weiteren Beiträge dieses Bandes. 3 Maria W I T T M E R -B U T S C H / Constanze R E N D T E L , Wunderheilungen im Mittelalter. Eine historisch-psychologische Annäherung, Köln u.-a. 2003. 4 Que etiam ecclesia a tempore quo fuit incepta usque in hodiernum diem, fulgore mira‐ culorum beati Iacobi vernatur, egris enim in ea salus prestatur, cecis visus refunditur, mutorum lingua solvitur, surdis auditus panditur, claudis sana ambulacio datur, demoni‐ acis liberacio conceditur, et quod maius est populorum fidelium preces exaudiuntur, vota suscipiuntur, delictorum vincula resolvuntur, pulsantibus celum aperitur, mestis consolacio datur, omnesque barbare gentes omnium mundi climatum catervatim ibi occurrunt, munera laudis Domino deferentes, Liber Sancti Jacobi. Codex Calixtinus, hg. von Klaus H E R B E R S / Manuel S A N T O S N O I A , Santiago de Compostela 1998, S. 256; dt. Klaus H E R B E R S , Der Jakobsweg, Stuttgart 2008, S.-142 f. unterstreicht er, dass Wunder vor allem die Allmacht des trinitarischen Gottes und seine Gegenwart im Geschichtsverlauf dokumentieren 2 . Vor knapp 20 Jahren haben Maria Wittmer-Butsch und Constanze Rendtel ein mutiges Buch zu Wunderheiligungen im Mittelalter vorgelegt, die sie im Untertitel als eine historisch-psychologische Annäherung bezeichnet haben. Bei den 454 Fällen, die sie untersuchen, erfassen sie Heilungsverläufe, Alter und Geschlecht und fragen immer wieder explizit, inwieweit Phänomene wie Telepathie, Prophetie, Psychokinese bei den verschiedenen Heilungsverläufen eine Rolle spielten 3 . War dies auch beim Pilgern nach Compostela wichtig? Wenn wir die Doku‐ mentation sichten, so fällt eines sehr auf: Jakobus hilft, aber heilt er auch? Der Pilgerführer des 12. Jahrhunderts kennzeichnet Kirche und Grab nach deren eingehender baulicher Charakterisierung folgendermaßen: Die Kirche leuchtet seit der Zeit, in der sie begonnen wurde, bis zum heutigen Tag durch den Ruhm der Wunder des seligen Jakobus; denn Kranken wird darin Gesund‐ heit geschenkt, Blinden das Augenlicht wiedergegeben, die Zunge der Stummen wird gelöst, Tauben öffnet sich das Ohr, Lahmen wird der rechte Gang zurückgegeben, vom Teufel Besessenen wird Befreiung zuteil, und, was bedeutender ist, die Gebete der Gläubigen werden erhört, Gelübde werden angenommen, die Fesseln der Sünde lösen sich, denen, die anklopfen, öffnet sich der Himmel, Trauernden wird Trost gespendet, und alle fremden Völker aus allen Gegenden der Erde strömen dort in Scharen zusammen und überbringen dem Herrn Geschenke des Lobes 4 . Heil oder Heilung? 17 <?page no="18"?> 5 Zum Liber Sancti Jacobi und dessen Zusammenstellung bis zur Mitte des 12. Jahrhun‐ derts liegt inzwischen eine unübersehbare Literatur vor. Vgl. zusammenfassend die Einleitung bei H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4) sowie Jan V A N H E R W A A R D E N , The Origins of the Cult of St James of Compostela, in D E R S ., Between Saint James and Erasmus. Studies in Late-Medieval Religious Life: Devotion and Pilgrimage in the Netherlands (Studies in Medieval and Reformation Thought 97), Leiden/ Boston 2002, S. 311‒354 (Erstfassung 1980); Klaus H E R B E R S , Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts und der „Liber Sancti Jacobi“. Studien über das Verhältnis zwischen Religion und Ge‐ sellschaft im hohen Mittelalter (Historische Forschungen 7), Wiesbaden 1984; Manuel Cecilio D Í A Z Y D Í A Z / Maria Araceli G A R C Í A P IÑ E I R O Y P I L A R D E L O R O T R I G O , El Liber Sancti Iacobi: situación de los problemas, in: Compostellanum 32 (1987), S. 359-442 sowie Fernando L Ó P E Z A L S I N A , Diego Gelmírez, las raíces del Líber Sancti Jacobi y el Códice Calixtino, in: O século de Xelmírez, hg. von Henrique M O N T E A G U D O / Fernando L Ó P E Z A L S I N A / Ramón V I L L A R E S / Ramón José Y Z Q U I E R D O P E R R Í N , Santiago de Compostela 2013, S.-301-386. 6 Sacra enim virtus apostoli translata a partibus Hierosolimitanis in Gallecie patria refulget divinis miraculis. Ad eius namque basilicam creberrime divina fiunt a Domino per eum miracula: Egri veniunt et sanantur, ceci illuminantur, claudi eriguntur, muti locuntur, demoniaci liberantur, mestis consolacio datur, et, quod maius est, fidelium preces exau‐ diuntur ibique gravia delictorum honera deponuntur, peccatorum vincula resolvuntur, H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4) S. 89; dt. H E R B E R S , Der Jakobsweg (wie Anm.-4), S.-16. Interessanterweise werden im ersten Teil der Sammlung 5 in der Predigt Vene‐ randa dies ganz ähnliche Formulierungen verwendet: Die heilige Tugend des Apostels, die von der Jerusalemer Gegend übertragen wurde, erstrahlt im galicischen Vaterland durch göttliche Wunder. Bei seiner Basilika werden nämlich immer wieder vom Herrn durch ihn göttliche Wunder gewirkt. Kranke kommen und werden geheilt, Blinde sehend gemacht, Lahme aufgerichtet, Stummen wird die Sprache geschenkt, vom Teufel Besessene werden befreit, Traurige werden getröstet, was jedoch noch bedeutender ist: die Gebete der Gläubigen werden erhört, die schweren Lasten der Vergehen genommen und die Fesseln der Sünder gelöst 6 . Es ist offensichtlich, dass die hier genannten Heilungen den biblischen Ge‐ schichten entsprechen: Blinde sehen, Lahme gehen usw. Das gehörte offensicht‐ lich zum Werbeprogramm - so könnten diese Geschichten auch gelesen werden - eines Pilgerzentrums einfach dazu. Die Predigt Veneranda dies schließt aber kurz nach dieser relativ schematischen Auflistung eine längere Passage an, die ein bisschen tiefer blicken lässt: Mit übermäßiger Freude bewundert man die Pilgerscharen, die beim ehrwürdigen Altar des hl. Jakobus Nachtwache halten: […]; sie stehen in Gruppen und halten brennende Kerzen in den Händen, so daß die ganze Kirche wie durch die Sonne an einem hellen Tag erstrahlt. Nur mit seinen Landsleuten vollzieht jeder die Nacht‐ 18 Klaus Herbers <?page no="19"?> 7 H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4), S. 89; dt. H E R B E R S , Der Jakobsweg (wie Anm.-4), S.-16-19. wache. Manche spielen Leier, Lyra, Pauke, Quer- und Blockflöte, Posaune, Harfe, Fiedel, britische oder gallische Rotta, andere spielen Psalterien; manche singen - von verschiedenen Musikinstrumenten begleitet - während der Nachtwache; manche bedauern ihre Sünden, lesen Psalmen oder geben den Blinden Almosen. Man hört dort die verschiedensten Sprachen, verschiedene Stimmen in fremden Sprachen, […]. Die Vigil wird auf diese Art nachdrücklich gefeiert, manche kommen, manche gehen und opfern verschiedene Gaben. Wer traurig herkommt, zieht froh zurück. Dort werden die Feierlichkeiten ununterbrochen begangen, das Fest vorbe‐ reitet, die berühmten Riten Tag und Nacht vollzogen; Lob, Jubel, Freude und Preis beständig gesungen. Alle Tage und Nächte gleichen einem ununterbrochenen Fest in steter Freude zur Ehre des Herrn und des Apostels. Die Türen dieser Basilika bleiben Tag und Nacht unverriegelt, und die Dunkelheit kehrt doch niemals ein, weil sie durch das helle Licht der Kerzen und Fackeln wie am Mittag leuchtet. Dorthin begeben sich Arme, Reiche, Räuber, Reiter, Fußgänger, Fürsten, Blinde, Gelähmte, Wohlhabende, Adlige, Herren, Vornehme, Bischöfe, Äbte, manche barfuß, manche mittellos, andere zur Buße mit Ketten gefesselt. Manche, wie die Griechen, tragen ein Kreuz in ihren Händen, andere geben ihre Habe den Armen, andere bringen Eisen oder Blei zum Bau der Kathedrale des Apostels mit, wieder andere tragen auf den Schultern Ketten oder Handfesseln, von denen sie durch den Apostel aus den Gefängnissen der Tyrannen befreit wurden; so üben sie große Buße und beklagen ihre Missetaten. Dies ist das erwählte Geschlecht, das heilige Volk Gottes […] 7 . Wunder und Nachtwachen gehörten offensichtlich zusammen. Hier wird ein Szenario entworfen, das schon fast an die Apokalypse und das himmlische Jerusalem gemahnt. Die Türen der Basilika schließen nicht; in der Apokalypse (Apk 21,25) heißt es: Und ihre Tore werden tagsüber niemals geschlossen; Nacht wird es ja dort nicht geben. Aber noch einige weitere Aspekte der Nachtwachen sind bemerkenswert: Die Kirche erstrahlt wie am hellen Tag, man beklagt seine Sünden, Gaben werden geopfert, das Fest entsteht, denn die Riten werden Tag und Nacht vollzogen - die Nächte werden zu einem „ununterbrochenen Fest“; mit Kerzen wird die Dunkelheit vertrieben. Es lässt sich fragen, inwieweit hier Heil oder Heilung? 19 <?page no="20"?> 8 Vgl. zum Beispiel in Klaus H E R B E R S , Die heiligen Chrysanthus und Daria und ihre His‐ toria translationis reliquarium (ca. 845-860), in: Mirakelberichte des frühen und hohen Mittelalters, hg. von D E M S ./ Lenka J I R O U Š K O V Á / Bernhard V O G E L (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 43), Darmstadt 2005, S.-91-117, hier 104 f. oder 108 f. 9 Gil H. R E N B E R G : Where Dreams May Come. Incubation Sanctuaries in the Greco-Roman World (Religions in the Graeco-Roman World 184, 1-2), 2 Teilbände, Leiden 2017, bes. S. 782-807, hier 806: „As the vast majority of miracles preserved among the saints’ lives and other hagiographical works show, just the act of sleeping in close proximity to a saint’s body or relics was believed to bring about overnight cures due to the great power centered there - what one scholar has termed ‚dreamless Christian incubation‘“. 10 Creditur vero quod qui digne et munde oracionis causa ad beati Iacobi altare venerandum in Gallecia ierit, si vere penitens fuerit, delictorum suorum absolucionem ab apostolo veniamque a Domino impetrabit […], H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4), S. 89, dt. H E R B E R S , Der Jakobsweg (wie Anm.-4), S.-19. nicht - wie in anderen Mirakelgeschichten auch 8 - antike Formen der incubatio, des Tempelschlafes, aufgegriffen wurden 9 . Die in der Predigt des Jakobsbuches geschilderten semi- oder paraliturgische Feiern bringen offensichtlich die Pilger gemeinschaftlich in einen Zustand, der für Übernatürliches empfänglich macht. Nachtwachen, Halbschlaf, Traum bieten die Voraussetzungen, um Übernatürliches wahrzunehmen. Dabei mi‐ schen sich diejenigen, die schon Wunderbares erfahren haben, mit ihrem Dank, und diejenigen die Heil erfahren möchten, mit ihren Bitten. Bitten und Danken gehören zusammen. Wie aber ist zu bitten, um zum Heil zu gelangen? Der Text fährt fort: Man glaubt nämlich, daß derjenige, der würdig und reinen Herzens zum Gebet an den ehrbaren Altar des hl. Jakobus in Galicien geht und wahrhaftig Buße übt, vom Apostel die Lossprechung von seinen Sünden und vom Herrn Vergebung erhält.[…] 10 . Es geht um Gebet, Buße und Reue, um zum wahren Heil zu gelangen, der Lossprechung der Sünden und göttlichen Vergebung, denn laut dem folgenden Bibelzitat habe der Herr selbst den Aposteln ja die Gewalt gegeben: Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben ( Jo 20,23). Und dann wird dies noch einmal in den gemeinschaftlichen Kontext gestellt: Wie glückselig sind jene, die bei Gott einen solchen Fürsprecher und Gnadenspender haben. Warum zögerst du, Freund des hl. Jakobus, nach diesem Ort aufzubrechen, wo sich nicht nur alle Völker und Sprachen treffen, sondern auch die Engelchöre zusammenkommen und die Sünden der Menschen vergeben werden? Niemand kann 20 Klaus Herbers <?page no="21"?> 11 O quam beati illi, qui talem habent apud Deum intercessorem talemque remissorem. Cur ergo ad locum tardas ire beati Iacobi amator, quo non solum cuncte tribus et lingue, verum etiam angelica agmina convenient, et hominum peccata remittuntur? Nullus enim est qui enarrare queat, quanta beneficia tribuit beatus apostolus petentibus se sincero corde, H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4), S. 90, dt. H E R B E R S , Der Jakobsweg (wie Anm.-4), S.-19. 12 Nostro itaque tempore quidam vir inclitus Burgundie, nomine Guibertus, ab annis quatuordecim suorum passus diminucionem membrorum, ita ut neque gressum movere posset, impositus duobus / equis suis cum uxore sua et servis propriis ad sanctum Iacobum profectus est. Qui cum in hospitale eiusdem apostolic, nolens alibi, hospitaretur, proper ecclesiam, in somno admonitus est, ut quousque beatus Iacobus sua membra constricta duabus noctibus vigilaret, tercia nocte invigilans oratione, veniens beatus Iacobus appre‐ hendensque manum eius erexit eum. Qui cum interrogaret eum quis esset: Ego sum, inquit, Iacobus apostolus Dei. Tunc homo restitutus sanitati per tredecim dies in eius ecclesia vigilavit, et hec proprio ore cunctis revelavit, H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm.-4), S. 176, dt. Libellus Sancti Jacobi: Auszüge aus dem Jakobusbuch des 12. Jahrhunderts, ins Deutsche übertragen und kommentiert von Hans-Wilhelm K L E I N (†) und Klaus H E R B E R S ( Jakobus-Studien 8), Tübingen 1997, 2 2018, S.-104. die Zahl der Wohltaten aufzählen, die der Apostel allen gewährt, die ihn wahren Herzens bitten […] 11 . Jakobus wird Fürsprecher und Gnadenspender, intercessor und remissor, so der lateinische Text. Und den Pilgerscharen entsprechen die Chöre der Engel. Dann folgt erneut eine ganze Auflistung vielfältiger Wunder, die sich dort, aber auch anderswo ereignen. Unterstrichen wird, dass der Mensch sich wandelt. In den 22 einzelnen Jakobswundern wird so etwas kaum beschrieben, aber eine Erzählung gibt es, die aufschlussreich sein könnte. Sie handelt von einem gelähmten Mann. Von dem gelähmten Mann, dem der selige Apostel in seiner Basilika erschien und den er fürsorglich wieder gesund machte […] Zu unserer Zeit litt ein berühmter Mann aus Burgund namens Guibert von seinem vierzehnten Lebensjahr an unter einer solchen Schwäche seiner Gliedmaßen, dass er keinen Schritt tun konnte. Man legte ihn auf zwei Pferde, und mit seiner Frau und seinen Dienern brach er zum hl. Jacobus auf. Dort war er im Spital des Apostels untergebracht, denn er wollte nirgendwo anders wohnen. Im Schlaf wurde er aufge‐ fordert, er solle so lange in der Kirche des seligen Jacobus im Gebete verharren, bis dieser seine gelähmten Glieder gestreckt hätte. Als er nun in der Basilika des Apostels zwei Nächte lang gewacht hatte und auch in der dritten Nacht im Gebete verharrte, kam der selige Jacobus, faßte ihn an der Hand und richtete ihn auf. Der Mann fragte ihn, wer er sei. „Ich bin“, sagte er, „Jacobus, der Apostel Gottes.“ Danach war der Mann geheilt. Er wachte weitere dreizehn Nächte in der Kirche des Heiligen und verkündete allen laut, was geschehen sei […] 12 . Heil oder Heilung? 21 <?page no="22"?> 13 Siehe oben S.-19, Anm.-7. 14 So der Prolog zu diesem Teil des Liber S. Jacobi: H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm.-4), S.-159, dt. K L E I N / H E R B E R S , Libellus (wie Anm.-12), S.-65 f. 15 Die religiösen Vorstellungen dieser Geschichte thematisieren die hier wichtige Frage von äußerlicher und innerlicher Heilung vgl. H E R B E R S , Reisen für das Seelenheil (wie Anm.-1), S.-36. Hier wird sehr deutlich, wie Traum, Nachtwachen, Bittgebet und Dank inein‐ andergreifen. Einige Aspekte scheinen mit Blick auf Heil, Heilung und Heiligung als Zwischenbilanz wichtig. Pilgerfahrten als Bitt- oder Dankpilgerfahren sind eng mit dem Aspekt der Buße verbunden. Zwei Aspekte seien hervorgehoben. • Pilgern führt gerade am Zielort zu Gemeinschaftsakten, zu paraliturgischen Formen, die Personen unterschiedlichster Herkunft in einer dennoch ge‐ meinsamen Haltung zusammenbringen und damit ein Stück Himmel auf Erden aufscheinen lassen. • Theologisch bestimmte Autoren wie diejenigen des Liber Sancti Jacobi stellen die Heilung der Seele und die Vergebung der Sünden in den Vorder‐ grund, die vom Pilger aber wiederum ein aktives Mittun verlangen und zu einem Neuanfang, einem Wandel, führen. 3. Befreiung zu neuem Leben „[…] andere tragen auf den Schultern Ketten oder Handfesseln, von denen sie durch den Apostel aus den Gefängnissen der Tyrannen befreit wurden […]“, so hieß es im Zitat zu den Nachtwachen 13 . Eine Befreiung aus Gefangenschaft ist auch stets metaphorisch zu verstehen und bedeutet einen Schritt zum Heil. Dieser Aspekt wird auch zuweilen in der Sammlung der angeblich schönsten Wunder 14 des Apostels Jakobus unterstrichen. Ich stelle das letzte Wunder dieser Sammlung kurz vor. Von dem Mann, der dreizehn Mal verkauft wurde und ebenso oft durch den Apostel befreit wurde […] 15 Im Jahre des Herrn 1100, so wird erzählt, kam ein Bürger von Barcelona auf einer Pilgerfahrt zu der Basilika des hl. Jacobus nach Galicien. Er erbat von dem Apostel lediglich, er möge ihn von jeder feindlichen Gefangenschaft befreien, in die er geraten könnte. Dann kehrte er nach Hause zurück. Auf einer Handelsfahrt nach Sizilien wurde er dann auf dem Meere von Sarazenen gefangen genommen. Und was geschah? Auf Märkten und Messen wurde er dreizehn Mal zum Verkauf angeboten und gekauft. Die Käufer aber konnten ihn nicht halten, denn jedesmal zerbrach der selige Jacobus 22 Klaus Herbers <?page no="23"?> 16 H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4), S. 177; H E R B E R S / K L E I N , Libellus (wie Anm.-12), S.-105 f. 17 Vgl. zuletzt Nikolas J A S P E R T , Eroberung - Rückeroberung - Glaubenskampf - Gottes‐ krieg. Die Levante und die Iberische Halbinsel im Vergleich, in: Herrschaft über fremde Völker und Reiche. Formen, Ziele und Probleme der Eroberungspolitik im Mittelalter, hg. von Hermann K A M P (Vorträge und Forschungen 93), Ostfildern 2022, S. 249-290 mit weiterer Literatur. 18 Künftig dazu Thomas K I E S L I N G E R , Der Ritterorden von Santiago (ca. 1170-1310). Gemeinschaft und (Selbst-)Darstellung (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 45), Münster 2023. 19 Vgl. hierzu James William Brodman, Ransoming captives in crusader Spain: The Order of Merced on the Christian-Islamic frontier, Philadelphia 1986; Ders., Fable and royal power. The Origins of the Mercedarian Foundation Story, in: Journal of medieval History 25 (1999), S. 229-241; Nikolas J A S P E R T , Gefangenenloskauf in der Krone seine Ketten und Fesseln, […] zum dreizehnten Mal schließlich in der Stadt Almería. Dort wurde er von einem Sarazenen mit doppelten Ketten an den Beinen gefesselt. Als er nun den seligen Jacobus mit lauter Stimme anflehte, erschien dieser und sprach: ‚Weil du damals in meiner Basilika nur um das Heil deines Leibes, nicht aber für das deiner Seele gebeten hast, bist du in all diese Fährnisse geraten. Gott aber hat Erbarmen mit dir, und er hat mich zu dir gesandt, um dich diesem Kerker zu entreißen.‘ Der Apostel brach die Ketten entzwei und entschwand alsbald aus seinen Augen. So machte er sich, von den Fesseln befreit, auf und durchquerte Städte und feste Plätze der Sarazenen, ein Stück der Kette als Zeugnis eines solchen Wunders in den Händen haltend, und wanderte vor den Augen der Sarazenen in den christlichen Teil des Landes. Wenn ihm ein Sarazene begegnete und versuchte, ihn gefangen zu nehmen, zeigte er ihm nur das Stück Kette, und alsbald floh sein Gegner vor ihm. […] Diesen Mann habe ich selbst wirklich zwischen Estella und Logroño getroffen, als er erneut zum Grabe des seligen Jacobus pilgerte. Er wanderte mit bloßen und wunden Füßen, die Kette in der Hand haltend, und hat mir dies alles erzählt. Dieses ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder in unseren Augen 16 . Der Schluss der Geschichte zeigt, wie das Wunder selbst Wandlungen hervor‐ rief, denn nach seinen Fährnissen in der muslimischen Welt pilgerte der ehe‐ malige Kaufmann mit Ketten in der Hand, weil Jakobus als Gefangenenbefreier wirkte. Auch hier wird deutlich, dass Wunder offensichtlich Langzeitwirkungen hatten und zu Dankpilgerfahrten führten. Natürlich spielt diese Geschichte auf die zeitlich wichtige politisch-religiöse Situation der Iberischen Halbinsel an, die sogenannte Reconquista 17 war in vollem Gange, bald sollte ein Ritterorden diese Aufgaben auch im Namen des hl. Jakobus übernehmen 18 . Aber Jakobus ist noch kein Maurentöter, sondern Gefangenenbefreier; später nahmen eigene Orden wie die Mercedarier im Mittelmeerraum diese Aufgaben wahr 19 . Liegt das Heil oder Heilung? 23 <?page no="24"?> Aragón und die Anfänge des Mercedarierordens. Institutionelle Diversität, religiöse Kontexte, mediterrane Verflechtungen, in: Gefangenenloskauf im Mittelmeerraum. Ein interreligiöser Vergleich. Akten der Tagung vom 19. bis 21. September 2013 an der Universität Paderborn, hg. von Heike G R I E S E R / Nicole P R I E S C H I N G (Sklaverei, Knechtschaft, Zwangsarbeit 13), Hildesheim/ Zürich/ New York 2015, S.-99-121. 20 H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4), S. 177; H E R B E R S / K L E I N , Libellus (wie Anm.-12), S.-106. 21 H E R B E R S , Jakobuskult (wie Anm. 5), S. 119; D E R S ., Patronazgo, espiritualidad y religio‐ sidad en las órdenes militares de la península ibérica, in: Jacobus Patronus. X Congreso eigentliche Wunder dann in der Wundergeschichte des Liber S. Jacobi darin, dass der Kaufmann wieder frei wurde und seinen Blick auf anderes als seine Geschäfte richtete? Die anschließende Moral, die der Geschichte noch angefügt wird, scheint dies zu unterstreichen: Dieses Exempel betrifft alle diejenigen, die von Gott und den Heiligen eine Frau, irdisches Glück oder Lehen oder Geld oder den Tod ihrer Feinde oder ähnliche eitle Dinge erbitten, die nur zum Nutzen des Leibes dienen, nicht aber zum Heil der Seele. Wenn schon Dinge für leibliche Bedürfnisse erstrebenswert sind, dann gibt es viel Wichtigeres: Das Heil der Seele, rechte Tugenden, wie Glaube, Hoffnung, Liebe, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Gastlichkeit, Freigiebigkeit, Demut, Gehorsam, Fried‐ fertigkeit, Beharrlichkeit und andere solche Werte, damit die Seele im himmlischen Reich gekrönt werde. Das möge der gewähren, dessen Herrschaft und Reich ohne Ende währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen 20 . Glaube, Hoffnung und Liebe, die Kardinaltugenden stehen als Stichworte für das Heil der Seele. Leibliches Wohlergehen wird nicht gering geachtet oder verdammt, scheint aber allein ungenügend. Und noch etwas: Der Kaufmann erzählt von seinem Wandel, zwischen Estella und Logroño. Von Wundern erzählen: Ereignen sich vielleicht nur Wunder, Heilung, Wandel, wenn wir auch davon erzählen? 4. Versprechen, Barmherzigkeit, Rettung Blicken wir auf die Jakobusmirakel insgesamt, dann unterscheiden sich diese Geschichten merklich von den Sammlungen anderer Pilgerzentren: Kranken‐ heilungen am Ort werden nur generell, kaum als einzelne Geschichten ver‐ zeichnet. Jakobus bewirkt offensichtlich häufiger als andere Heilige Übernatür‐ liches. Er bewahrt zwar vor Krankheit (9,12,21), sogar vor Unfruchtbarkeit (3) und besonders Tod (3,5,17), aber besonders häufig hilft Jakobus gegen verschiedene Gegner in der Schlacht, auf See oder in der Gefangenschaft 21 . Schließlich ist Jakobus aber Pilgerpatron - der Weg ist weit und gefährlich, 24 Klaus Herbers <?page no="25"?> internacional de estudios Jacobeos, hg. von Paolo G. C A U C C I V O N S A U C K E N , Santiago de Compostela 2021, S.-301-313, hier 305 f. 22 H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4), S. 163-164; dt. vollständig: H E R B E R S / K L E I N , Libellus (wie Anm. 12), S. 75-77. - Die Zusammenfassung nach Klaus H E R B E R S , The Miracles of St. James, in: The Codex Calixtinus and the Shrine of St. James, hg. von Alison S T O N E S / John W I L L I A M S ( Jakobus-Studien 3), Tübingen 1992, S. 11-35. Deutsche Übersetzung: Klaus H E R B E R S , Die Mirakel des heiligen Jakobus, in: D E R S ., Pilger, Päpste, Heilige. Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Geschichte des Mittelalters, hg. von Gordon B L E N N E M A N N / Wiebke D E I M A N N / Matthias M A S E R / Christofer Z W A N Z I G , Tübingen-2011, S.-351-377, engl. 11, dt. 351 f. deshalb dürfte das Besondere darin liegen, dass seine Wundererzählungen die Angst vor dem Weg nehmen sollen und schon den Weg zu einem Weg der Wunder werden lassen. Dies verdeutlicht gut das vierte Wunder der Sammlung von einer Pilgergruppe aus Lothringen, das hier kurz zusammengefasst sei: 30 Ritter aus Lothringen planten eine gemeinsame Pilgerfahrt nach Compos‐ tela, und außer einem von ihnen schworen sich alle gegenseitig die Treue. Als sie in die Gascogne kamen, wurde einer der Männer krank. Die Ritter, die den Treueschwur geleistet hatten, trugen ihn mit sich bis zum Cisa-Pass, wodurch ihre Reise 15 anstatt der üblichen fünf Tage dauerte. Dort verließen sie den Gefährten. Derjenige von ihnen jedoch, der keinen Eid geschworen hatte, blieb bei dem Kranken - eine Erzählung, die an das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter denken lässt. Gleichwohl, der kranke Ritter starb in dieser Nacht und wurde vom heiligen Jakobus ins Paradies geleitet. Weil ihn in der Einsamkeit die Angst überkam, erflehte der treue Ritter die Hilfe des heiligen Jakobus. Der Apostel erschien ihm daraufhin im Gewand eines Ritters und brachte beide, den Toten und den loyalen Ritter, im Verlauf der Nacht auf seinem Pferd nach Compostela, damit der Verstorbene dort begraben werden konnte. Nachdem der treue Ritter sein Gebet beendet hatte, trug der Apostel ihm auf, den anderen bis nach León entgegenzugehen und ihnen zu erklären, dass ihre Pilgerfahrt nichts wert sein, wenn sie keine Buße täten. Der Auftrag wurde ausgeführt, und die anderen Reisegefährten leisteten daraufhin eine ihnen vom Leoneser Bischof auferlegte Busse, bevor sie ihren Weg nach Compostela fortsetzten 22 . Auch hier geht es um Unterweisungen, denn schon am Anfang heißt es in einem vorgeschalteten Satz: „In diesem Wunder des hl. Jacobus Zebedaeus, Apostel von Galicien, wird als wahr erwiesen, was die Heilige Schrift bezeugt: ‚Es ist besser, keinen Eid zu leisten, als den gegebenen zu brechen‘“ (Koh 5,4). Heil oder Heilung? 25 <?page no="26"?> 23 H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4), S. 164; dt. H E R B E R S / K L E I N , Libellus (wie Anm.-12), S.-77. 24 Zum Nachleben H E R B E R S , Miracles (wie Anm.-22), engl. S.-21-27, dt. 364-371. 25 Vgl. https: / / www.songtexte.com/ songtext/ katja-ebstein/ wunder-gibt-es-immer-wiede r-43de47c3.html (18.-September 2022). Und am Ende heißt es: Durch dieses Wunder ist bewiesen, dass alles, was wir Gott geloben, freudig zu erfüllen ist, denn der, der ein würdiges Gelübde ablegt, erwirbt Wohlgefallen beim Herrn. Das gewähre Jesus Christus, unser Herr, der mit dem Vater und dem Heiligen Geiste lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen 23 . Neben Eid, Gelübde, Treue, Fürsorge und Vertrauen thematisiert die Geschichte Weiteres: Die Abneigung gegen die Basken, die Mühen der Bergüberquerung, die Länge des Weges und die Buße der Gefährten, denn einfach weiter zu pilgern und so weitermachen wie bisher, erscheint nicht zielführend. Pilgern kann nicht nur mit den Füßen geschehen, sondern muss zugleich Herz, Seele und Verstand einschließen. Aber die Wundererzählung bietet auch eine Geschichte von Leben und Tod, von Hilfe am Weg. Und das Wunder erfährt derjenige, der sein Sinnen auf Gott und Jakobus gerichtet hat. Die Geschichte ist vielfach weiter erzählt worden, fast alle Sammlungen nehmen sie seit dem 13. Jahrhundert in ihr Repertoire auf 24 . Beeindruckend ist vor allem die Darstellung in einer Handschrift aus Parma, die den Apostel mit dem toten und lebenden Pilger auf seinem nächtlichen Ritt zeigt (Abb.-1). 5. Wunder und Wandel - Statt einer Zusammenfassung Was können wir aus den Bemerkungen des 12. Jahrhunderts ableiten und fol‐ gern? Wie werden Wunder heute gesehen? Katja Ebstein sang beim Eurovision Song-Contest 1970 Folgendes: Wunder gibt es immer wieder heute oder morgen können sie geschehn. Wunder gibt es immer wieder wenn sie dir begegnen mußt du sie auch sehn. 25 Wunder geschehen - aber warum beim Pilgern? Die Frage nach Heil und Heilung, danach, warum Pilgern guttut, sollte noch einmal den Blick kurz auf die anfangs vorgestellte Predigt lenken, aus der ich eine kleine Passage weggelassen habe: 26 Klaus Herbers <?page no="27"?> Abb. 1: Der Ritt des hl. Jacobus mit dem toten und dem lebenden Pilger (Parma, Bibliotheca Palatina, Ms. Misti B 24, fol. 1v) Viele nämlich pilgerten zu ihm als Arme, die später wohlhabend geworden sind, viele Hinfällige wurden gesund, viele Zerstrittene später einig, viele Ungerechte fromm, viele Wollüstige keusch, viele Weltmenschen wurden Mönche, viele Geizige freigebig, Heil oder Heilung? 27 <?page no="28"?> 26 H E R B E R S / S A N T O S N O I A , Liber (wie Anm. 4), S. 90; H E R B E R S / K L E I N , Libellus (wie Anm. 12), S.-48f. viele Wucherer verteilten später ihre Habe, viele Hochfahrende wurden leutselig, viele Lügner ehrlich, viele, die andere ausraubten, verteilten danach ihre Kleider an die Armen, viele Meineidige wurden ehrbar, viele, die falsches Zeugnis ablegten, bezeugten später die Wahrheit, viele unfruchtbare Frauen gebaren später Kinder, viele Bösewichter wurden mit Gottes Hilfe zu Gerechten. So wurde die Stadt Compostela durch die Fürsprache des hl. Jacobus zur geheiligten Stätte […]. 26 Sieht man sich diese Aufzählung an, dann scheinen die Wunder im Wandel zu liegen. Um zum Titel dieses Aufsatzes zurückzulenken: Heil und Heilung, Wunder und Wandlung gehören zusammen. Pilgern kann zum Wandel der Person führen, vor allem dann, wenn Pilgern auch etwas mit dem je eigenen Leben zu tun hat. Wie der Wandel ausfallen kann, haben die beiden Wundergeschichten vom aus der Gefangenschaft mehrfach befreiten Pilger und von den Eidesbrechern eindrücklich belegt. Die Vigilien in Compostela und andere Gemeinschaftsakte schufen aber zudem ein affektives Feld. Für den Autor des Liber Sancti Jacobi waren es die Nachtwachen - die halfen, Wunder Wirklichkeit werden zu lassen, Wachen, Träumen, Halbschlaf, Singen, Beten, aber auch zuvor das Gehen, die Gespräche und die Mühen. Barmherzigkeit, Eidestreue, Buße und Beichte und vieles andere kam hinzu. Immer aber bedurfte es der Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Wenn zudem die Quellen des Mittelalters immer wieder Heilung an Leib und Seele in den Vordergrund rücken und die Pilger auf das Seelenheil lenken möchten, dann bleibt doch beides stets in engem Zusammenhang. Wunder gibt es immer wieder-… Der Schlager ist unvollständig, denn schon die biblischen Wunder scheinen zu zeigen: Es gibt keinen Wundertäter, der einen Unbeteiligten heilt: Dein Glaube hat Dir geholfen, werden mehrfach die jesuanischen Wunder der Bibel kommentiert. Wunder bleiben zwei- oder mehrdeutig, denn Wahrnehmungen fallen auseinander. Insofern bedeuten Heil, Heilung, Wunder und Übernatürliches auch stets einen Verlust an Eindeutigkeit. Ähnlich dürfte es sich mit Wundern und Übernatürlichem am Pilgerweg verhalten. Lasse ich Zweideutigkeiten, Ambiguität an mich heran? Ob jemand Heil und Heilung, Wunder und Übernatürliches wahrnimmt, liegt auch und vor allem an jedem selbst, da dürfte Katja Ebstein recht haben. Wenn also Pilgern Heil und Heilung bringt, dann sind nicht nur Gott, Jakobus und Sakramente, sondern sind auch immer die Pilger selbst beteiligt. 28 Klaus Herbers <?page no="29"?> * Vgl. zum Folgenden: Wilhelm S C H M I D , Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt, Berlin 2021. Dazu die homepage www.lebenskunstphilosophie.de (10.01.2023). Pilgern als Lebenskunst Wie Menschen auf neue Weise Heimat finden Wilhelm Schmid Einmal machte ich mich selbst auf den Weg * . Ich fuhr mit dem Zug von Berlin nach München, mit der Regionalbahn weiter ins Land. An einer Haltestelle mitten in der Landschaft stieg ich aus, ein paar Kilometer vom Ziel entfernt. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, aber das musste wohl so sein. An einem einsamen Kiosk an der Bahnstation sagte der Mann, den ich nach dem Weg fragte, mitfühlend: „Sie müssen ja schwer was zu büßen haben! “ Ich erklärte ihm nicht, dass mich ein ganz anderer Grund hierher brachte: Dankbarkeit. In einer schwierigen Lebenssituation hatte ich einst als Junge, 14- oder 15-jährig, stillschweigend versprochen, diese Pilgerreise zu unternehmen. Ich hatte immer mal wieder schlimme Ängste, immer in der Nacht, und da tat ich ein Gelübde und offenbar hat es geholfen. Meine damalige religiöse Haltung war eher wackelig, aber eine Opfergabe für Gott oder eine göttliche Macht kann sicher nicht schaden, dachte ich. Jahrzehnte später, so etwa mit 50, fiel mir ein, dass es an der Zeit wäre, das Versprechen endlich einzulösen. Klaglos wuchtete ich meinen Koffer hoch und trat den Weg an. Es waren Feldwege, die ich nicht kannte, die aber ungefähr in die gewünschte Richtung führen mussten. Der Schweiß strömte aus allen Poren, aber das gehörte zum Programm. Denn ich war nun ein Pilger, jedenfalls hatte ich das so beschlossen. Und wie jeder Pilger (immer auch Pilgerin) erlebte ich nach dem mühseligen Weg das Glück der Ankunft: Eine Dusche für die Erfrischung, ein Bett für die geschundenen Glieder. Dann war ich reif für die „innere Einkehr“, das Innehalten, die Besinnung, die wohl so gründlich ausfällt, wie die vorherige Anstrengung groß war. Sie kam gerade zur rechten Zeit, um in einer neuerlich schwierigen Lebenssituation wieder Klarheit und Festigkeit zu gewinnen und neue Kräfte zu schöpfen. <?page no="30"?> Es war der abendliche Gottesdienst, als mir plötzlich mein Leben so klar vor Augen stand wie nie zuvor, mit allen Wegen, Um- und Abwegen, die ich gegangen war, und sogar mit der Richtung, in die ich gehen sollte. Ich habe es selbst erfahren, dass die Selbstbesinnung, die sich am Pilgerort einstellt, der Blick auf das ganze Leben, die Aufmerksamkeit auf vieles, das fast vergessen war, neue Kräfte freisetzt. Womöglich ist das ein Grund für die „Wundertätigkeit“, die vielfach bezeugt wird. Vielleicht fließen die Kräfte auch wirklich aus einer anderen Dimension zu, zu der ein Pilger in engere Beziehung tritt. Der Zauber des Ortes tut ein Übriges: Dass so viele Schicksale so vieler Menschen sich seit so langer Zeit an diesem Ort kreuzen, vermittelt einen starken Eindruck von der unerschöpflichen Fülle des Lebens. Froh und unbeschwert zog ich danach wieder in die Welt hinaus. Von Altötting aus. Aus dem festen Vorsatz, zurückzukommen, ist nichts geworden. Aber es hat sich etwas Anderes entwickelt. Seit vielen Jahren zieht es mich immer wieder in ein kleines Städtchen in der Mark Brandenburg, genauer in der Prignitz, Bad Wilsnack, auf halber Strecke von Berlin nach Hamburg. Dort kann ich mich regenerieren und konzentrieren, gerade dann, wenn die Denkarbeit schwerfällt. Ich liebe die unvergleichlichen Landschaften, die sich unter dem endlosen Himmel erstrecken. In früherer Zeit war auch Wilsnack ein großes Pilgerziel. Diese Geschichte war gleichwohl schon Vergangenheit, als Theodor Fontane 1887 in seinen Wanderungen (Fünf Schlösser, Quitzöwel, 1. Kapitel) davon erzählte. Vor Ort erinnert ein Stein mit der Jahreszahl 1396 daran, dass damals die Kirche abgebrannt war, in Brand gesteckt von einem Ritter. Nur drei Hostien blieben verschont, und sie wiesen Blutspuren auf, ein Wunder. Als die Nachricht vom „Wunderblut“ die Runde machte, gab es in der religiös nervösen Zeit des Mittelalters kein Halten mehr, voller Hoffnung auf ein ewiges Seelenheil. Im 21. Jahrhundert frönen viele, die von Neuem nach Wilsnack pilgern, einer anderen Religion, auch ich. Ihre Fortbewegungsmittel sind Auto und Zug. Ihr Tempel ist die Kristalltherme mit Solewasser aus tausend Metern Tiefe und eine große Saunalandschaft. Der Ort heißt nun Bad Wilsnack. Ist es angemessen, von einer Religion zu sprechen? Was die Hoffnungen angeht, auf jeden Fall, nur dass die Unsterblichkeit nun weltlich erreicht werden soll. Für die meisten ist der Aufenthalt in Therme und Sauna nicht mit einer körperlichen Tätigkeit wie Gehen verbunden, sondern mit Herumliegen. Was hat das mit Pilgern zu tun? Das Gehen war immer eine wichtige Seite des Pilgerns, und die Gegend um Bad Wilsnack eignet sich eigentlich bestens dafür. Wie zu Fontanes Zeiten lassen sich Wanderungen durch die Mark Brandenburg unternehmen, noch dazu gratis mit digitalem Detox, mangels Internetverbindung. Wanderungen sind en vogue, 30 Wilhelm Schmid <?page no="31"?> viele Menschen finden den Sinn, den sie suchen, in der Sinnlichkeit des Gehens. Es ist kein Wunder, dass mit wachsender Beliebtheit der Jakobs-Pilgerwege überall in Europa das Gehen in fortgeschrittener Moderne eine Renaissance erlebte. Es ist die einfachste Art aufzubrechen, die intensivste Art, Landschaft zu erkunden, und eine gute Methode, auf andere Gedanken zu kommen. Alle Ebenen des Menschseins kommen dabei zur Geltung. Zahllose Muskeln wandeln gespeicherte Energie in Bewegung um und werden durch die Beanspruchung gestärkt. Die bewegten Muskeln sind in der Lage, Stresshormone abzubauen, ein Grund für die seelische Erfahrung der Beruhigung durch das Gehen. Innere Stimmen beginnen in den Gedanken zu sprechen und finden Gehör. Mit dem Gehen wird der Homo viator wieder wach, der Mensch auf dem Weg, der er im Grunde seit seinen Anfängen war, seit seinem Abstieg von den Bäumen. Das Gehen steigert den „neuromuskulären Zugriff “, also die geistige Fähigkeit, auf den Körper einzuwirken, denn die scheinbar simple Aktion erfordert eine äußerst komplexe Koordination zahlreicher Komponenten des Gehirns und des Körpers. Das Denken kann sich zudem mit der kognitiven Sinngebung beschäftigen. Während des Gehens kann ich Projekte entwerfen, teils mit wildem Assoziieren, um überhaupt auf Ideen zu kommen, teils mit gezieltem Nachdenken, um mich auch im übertragenen Sinn „auf den Weg zu machen“. Jeder kleine Schritt findet fortan seinen Sinn in einem größeren Horizont, auch wenn Andere nicht sehen, „dass ich einen Weg eingeschlagen habe, auf dem ich ohne Ende und ohne Mühe immer weiter gehen werde“, wie Michel de Montaigne (Essais, III, 9) das zu einer Zeit formulierte, als der Pilgerstrom in Wilsnack gerade eben nach etwa 150 Jahren abgerissen war. Luther hatte zwischenzeitlich stattgefunden. Der neue protestantische Pfarrer hatte den Wunderglauben zum Aberglauben erklärt und die Bluthostien 1552 kurzerhand verbrannt. In jüngerer Zeit verändert sich nun jedoch das Pilgern. Zwar ziehen weiterhin religiöse Orte zahllose Menschen an, im Westen etwa Santiago de Compostela in Spanien, das traditionelle Ziel der Jakobswege, im Mittleren Osten etwa Mekka, das alle Muslime in ihrem Leben aufsuchen sollen, im Osten etwa Kanyakumari an der Südspitze Indiens, wo die Asche Mahatma Gandhis im Meer verstreut wurde. Aber in nicht geringem Maß scheint sich das Pilgern ganz von religiösen Zielen abzulösen. Auch profane Orte werden vielleicht etwas unbedacht „Pilgerstätten“ genannt, nicht nur beliebte Thermen, sondern auch Kultureinrichtungen, Museen, Fußballstadien oder Orte wie Montreux am Genfer See, wo der Popstar Freddie Mercury mit seinen Aufenthalten zu Lebzeiten dazu beitrug, dass nach seinem Tod eine Pilgerstätte für Fans und Liebende jeder Couleur daraus wurde. Jedes Kunstwerk von Christo und Jeanne Pilgern als Lebenskunst 31 <?page no="32"?> Claude wurde für Millionen von Menschen zu einem Ziel, in Presseberichten als „Pilgerstätte“ tituliert und für die Energie gerühmt, die dort in der Luft lag. Am Reichstag in Berlin und am Iseosee in Italien konnte ich das auch selbst erleben. Aber das Pilgern löst sich auch von feststehenden Zielen ab. Das Unterwegs‐ sein selbst wird in digitaler Zeit zu einer neuen Form des Pilgerns. Digitale Techniken haben es möglich gemacht, global und ständig unterwegs sein zu können. Der entscheidende Dammbruch vollzog sich mit den global verfüg‐ baren Medien, die das Leben und Arbeiten unterwegs ermöglichen und die Reiseorganisation erleichtern. In Weblogbüchern, so genannten Blogs, digitalen Tagebüchern, berichten viele von ihren Erfahrungen unterwegs, wie dies einst nur die wenigen, deren Reiseberichte gedruckt wurden, für ein interessiertes Publikum tun konnten. Den Erdball zu umrunden, ein paar Wochen oder Monate hier und dort zu bleiben: Das ist das Leben digitaler Nomaden. Aber ist es wirklich ein Pilgern? Das Gehen erscheint dabei verzichtbar. Aber die Essenz des Pilgerns war in der Tat immer das Unterwegssein, wie und womit auch immer. Der Pilger ist von alters her einfach nur der, der von anderswo kommt, von der anderen Seite des Ackers (per agrum im Lateinischen, daher peregrinus), wobei mit Acker ursprünglich das eigene, als zivilisiert und kultiviert bewertete Land gemeint war. Das hatte erst einmal keine religiöse Bedeutung. Pilgern hieß, unterwegs zu sein, in der Fremde zu wandern und umherzuschweifen. Nicht immer war das gut beleumundet, auch Vagabunden und Zechpreller pilgerten. Als Unterwegssein bringt das Pilgern zwangsläufig Erfahrungen mit sich, die der Pilgernde fern von zuhause mit der fremden Umgebung, aber auch mit sich selbst macht. Insofern kann er in der Fremde auf dem Weg zu sich selbst sein. Am Horizont nimmt er oder sie das eigene Leben wahr, wie es war, wie es ist, wie es künftig sein kann und sein soll. Nachdenklichkeit wird möglich, vor allem über die Lebensfragen: Was ist der Sinn meines Lebens? Was ist mir wichtig, privat und beruflich? Was ist meine Rolle in diesem Leben? Welchen Weg bin ich bisher gegangen? Wohin will ich noch gehen? Nachdenklichkeit heißt, stets von Neuem solche Fragen zu stellen, um im Denken die Antworten zu finden, mit denen das Leben bewusst geführt werden kann. Das ist gemeint mit Lebenskunst. Die Kunst im Begriff der Lebenskunst steht für die Bewusstheit, mit der das Leben geführt wird. Die alltäglichen Abläufe erlauben sie nicht immer. Aber das Unterwegssein mit seinen Herausforderungen abseits des Alltags bietet reichlich Gelegenheit dafür. Die Gedanken, denen bereitwillig Raum gegeben wird, finden nach anfänglichem Wirrwarr im Laufe der Zeit von selbst die Antworten, die weiterhelfen. In Gedanken kann ich mich auch wie 32 Wilhelm Schmid <?page no="33"?> von außen betrachten, wie das sonst nur ein Freund kann. Der Blick von außen ermöglicht Selfietechniken der anderen Art, die in diesem Fall nicht dazu dienen, sich strahlend vor dem schönsten Hintergrund darzustellen, sondern sich mit Selbstreflexion so zutreffend wie möglich wahrzunehmen und mit wohlwollender Selbstkritik gegebenenfalls zu korrigieren. „Wege zu sich selbst“, Ta eis heauton, hießen die Selbstbetrachtungen des Stoikers Marc Aurel aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., die bis heute Menschen inspirieren, die sich innerlich mehr mit sich befassen wollen und sich zu diesem Zweck äußerlich auf den Weg machen. Viele derer, die den Jakobsweg begehen, tun dies nicht aus religiösen Motiven im engeren Sinne. Das anvisierte Ziel ist ein Mittel zum Zweck der Selbstaufmerksamkeit, um erstmals oder von Neuem zu einer Freundschaft mit sich selbst zu finden. Sich eingehender mit sich zu befassen, bringt die Chance auf mehr Verständnis für sich und mehr Einfühlung, mithin Selbstempathie mit sich. Auf dieser Basis kann die Empathie auch für Andere, das Verständnis für sie und die Fähigkeit zur Einfühlung in sie wachsen. Die Selbstfreundschaft steht für eine Pflege des Selbst, durch die das Leben leichter wird, da sie einem Menschen ermöglicht, besser mit sich umzugehen und damit umgänglicher auch für Andere zu werden. Es sind diese spirituellen Wege, die in digitaler Zeit um den Globus herum‐ führen. Eine immer neue Orientierung in den Fluten der Information und Kommunikation auf allen Kanälen ergibt sich aus den Fragen beim Unterwegs‐ sein: Will ich mich dafür offen- oder lieber davon fernhalten? Ganz oder teilweise, dauerhaft oder zeitweilig? Nicht alles betrifft mich, nicht alles muss ich beantworten, nicht mit allem mich befassen. Nicht alles muss ich meinerseits Medien anvertrauen, nichts davon kann ich jemals zurückholen. Oder ist es mir egal, was Andere damit anstellen können? Die Abweisung von Informationen und die Verweigerung von Kommunikation tun von Zeit zu Zeit not, und sei es nur aus dem Grund, mich nicht zu verlieren. Es bedarf dazu einer digitalen Souveränität, einer kompetenten Ignoranz, einer kalkulierten Abweisung und Verweigerung, mit der Überlegung: Wann, wo, gegenüber wem, aus welchen Gründen und mit welcher Befristung? In Gedanken kann ich auch in digitaler Zeit nach dem Sinn fragen und Antworten finden, die mein Leben tragen können. Die Antworten sind keine letztgültigen Wahrheiten, sondern Versuche, sich einen Reim auf die Zusam‐ menhänge des Lebens zu machen: Folgen die Dinge einer Regel oder dem Zufall, handelt es sich um Zusammenhänge in mir oder außerhalb, stecken Absichten dahinter, sind sie zielgerichtet, kausal, paradox, rätselhaft, tragisch oder auch komisch? Das ist von Bedeutung, da dort, wo etwas sinnvoll erscheint, Energie fließt, erfahrbar als Kraft zur Bewältigung von Schwierigkeiten und zur Pilgern als Lebenskunst 33 <?page no="34"?> Verwirklichung von Vorhaben. Das Wesentliche kommt wieder oder erstmals in den Horizont. Immer deutlicher wird: Nicht das Ich ist das Wesentliche im Leben, sondern die Energie, aus der heraus es lebt und all seine Motivation bezieht. Welche Energie steht mir zur Verfügung? Kann sie frei fließen oder wird sie blockiert? Wo setze ich sie ein? Wie kann ich Energie hinzugewinnen, mit welcher Art von Erlebnis, Begegnung, Kommunikation, Aufmerksamkeit, Meditation, Konzentration, Gebet, Erotik, Romantik, Kunst? Dem Wesentlichen ist auf die Spur zu kommen durch Überlegungen beim Unterwegssein: Etwas muss untergründig wirksam sein, damit ein Mensch sich bewegen, leben und lieben kann. Dieses Etwas kann mit dem alten griechischen Wort enérgeia, „am Werk sein“, benannt werden. Energie ist in etlichen Formen im Menschen am Werk: Biochemisch in Zellen gespeichert, als Elektrizität in Nervenbahnen und Synapsen messbar, und als Wärme mit bloßer Hand auf der Haut zu spüren. In jedem Ding, jedem Wesen, jedem Körper auf der Erde und im Kosmos sind die verschiedensten Formen von Energie am Werk, die ineinander übergehen können und sich alle durch Eines auszeichnen: Ohne sie bewegt sich nichts. Und anders als alles, was ist, ist die Energie, die in allem wirkt, unvergänglich. Das ergibt sich aus dem Energieerhaltungssatz, wonach Ener‐ gieformen ineinander umgewandelt, nicht jedoch vernichtet werden können. In diesen Prozess sind auch biologische Energieformen einbezogen, die aber auf physikalische angewiesen sind. Eine autarke Biologie gibt es nicht. Das ist es wohl auch, was Menschen so magisch, geradezu magnetisch zu Pilgerstätten zieht, unabhängig davon, ob sie aus säkularen oder religiösen Gründen pilgern. Auch wenn ein Ort das Ziel ist, ist das eigentliche Ziel nicht der Ort, sondern die Energie, die mit ihm in Verbindung gebracht wird. Energie ist mit großer Wahrscheinlichkeit der Ursprung von allem und jedem und in diesem Sinne die eigentliche Herkunftsheimat jedes Wesens und jedes Menschen. Die allumfassende Energie, die sein Leben befeuert, ermöglicht ihm, sich an Orten, an denen diese Energie spürbarer ist als anderswo, „wundersam geborgen“ zu fühlen. Das Bewusstsein, nicht eingeschlossen in sich selbst zu sein, sondern eingebettet in ein großes Ganzes, kann dafür sorgen, einer Verlorenheit in der Welt zu entgehen und das Dasein in diesem unendlich weiten Horizont als schön und bejahenswert zu empfinden. Hat das etwas mit Religion zu tun? Was ist überhaupt mit Religion gemeint? Der Spur des Wortes folgend, das auf das lateinische Verb religare, „zurückbinden“, zurückgeführt werden kann, handelt es sich um einen Rückbezug. Seit jeher in der Geschichte haben Men‐ schen sich auf etwas zurückbezogen, das sie für wesentlich, also für grundlegend und unentbehrlich halten. Sie finden Heimat darin, unterhalten eine starke Beziehung dazu und richten ihr Leben darauf aus, voller Vertrauen, auf diese 34 Wilhelm Schmid <?page no="35"?> Weise richtig zu leben, oft nicht erfreut darüber, wenn Andere etwas Anderes für wesentlich halten und anders leben. Auf ihr Wesentliches achten sie sehr, es gibt ihrem Leben Sinn und Bedeutung, in diesem Sinne sind alle Menschen religiös. Wenn sich der Begriff der Religion außerdem vom lateinischen relegere, „sorgsam beachten“, ableiten lässt, dann aus diesem Grund: Auf das, was als wesentlich erscheint, gilt es besonders aufmerksam zu sein, da das Leben davon abhängt, unabhängig von der Ausprägung in Religionsgemeinschaften. Aus dieser Sicht kann es beim Pilgern nun also doch um Religion gehen, auch für die vielen Pilger, die nicht im engeren Sinne religiös sind. Denn es geht dabei um das Wesentliche, das unterschiedlich benannt werden kann, weltlich als alles durchdringende Kraft oder religiös als Gott, aber es handelt sich wohl um ein und dasselbe Phänomen. Eine Beziehung dazu entsteht für viele auch beim nächtlichen Blick in den Sternenhimmel. Mit jedem Blick in die Sterne nehme ich durch meine Augen die Wellen und Teilchen einer Energie in mich auf, die über Millionen und Milliarden von Jahren hinweg durchs Weltall gereist sind. Ursprünglich komme ich von dort und gehe letztlich wieder dorthin. Das könnte der poetische Ausdruck des prosaischen Geschehens sein, das der Romantiker und Geologe Novalis im Sinn hatte, als er einen Pilger fragen ließ: „Wo gehn wir denn hin? “ Ein rätselhaftes Mädchen antwortete ihm: „Immer nachhause“ (Heinrich von Ofterdingen, Zweiter Teil: Die Erfüllung). Immer nachhause zu gehen, das könnte der Sinn des Pilgerns als Lebenskunst sein. Unabhängig davon, wo und auf welche Weise es stattfindet. Pilgern als Lebenskunst 35 <?page no="37"?> 1 Vgl. Peter W. N Y H U I S / Jakov G A T H E R / Georg J U C K E L , Praxisbeispiel offene Psychiatrie: Herne und Bochum - zwei Wege, ein Ziel, in: Ethik in der Psychiatrie. Ein Praxisbuch, hg. von Jochen V O L L M A N N , Köln 2017, S.-153‒159, hier 153‒156. 2 Vgl. Matthias K R I S O R , Der Mensch ist nicht nur krank, wenn er krank ist. Ateliers und Delegierte am St. Marien-Hospital Eickel, in: Vom Kopf auf die Füße - Der Mensch ist nicht nur krank, wenn er krank ist, hg. von Matthias K R I S O R / Kerstin W U N D E R L I C H , Lengerich 2003, S.-96‒103, hier 96‒102. Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg Beate Brieseck Die hier vorgestellte „Jakobusgruppe“ ist ein therapeutisches Angebot des St. Marien Hospitals Eickel, einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Die Klinik leistet seit über 40 Jahren die akutpsychiatrische Pflichtversorgung für Herne mit einem besonderen Behandlungskonzept, das herausragend niedrige Gewalt- und Fixierungsraten gewährleistet und somit überregional renommiert ist. Wesentliche Bausteine der Behandlung in Eickel sind der Verzicht auf eine geschlossene Aufnahmestation und der Fokus auf weitestgehend mögliche Autonomie der Patient*innen. Dementsprechend sind die Türen aller Stationen konsequent durchgehend geöffnet. Diese dogmatisch gelebte Maßnahme erfor‐ dert eine stark menschenzugewandte, respektvolle, deeskalierende Atmosphäre in der gesamten Klinik, die sowohl von strukturellen als auch von milieuspezi‐ fischen Säulen getragen wird 1 . Besonders wichtig sind in dem Zusammenhang Mitarbeitende aller Berufs‐ gruppen, die den Patient*innen mit einer subjektorientierten Haltung auf Augenhöhe begegnen, geprägt von dem Motto: „der Mensch ist nicht nur krank, wenn er krank ist“ 2 . Diese therapeutische Haltung wirkt sowohl auf Mitarbeiterals auch Patientenseite dem klinischen Impuls entgegen, den Menschen und sein Verhalten im Wesentlichen auf Basis seiner Diagnose zu verstehen und versorgt zu wissen. Letzteres würde im Klinikalltag und in der Therapiegestaltung gewiss einiges vereinfachen und daher von allen Beteiligten hier und da sehr begrüßt werden. Leider birgt dieses komfortablere Miteinander eben auch viele Gefahren <?page no="38"?> der ungleichen Machtverteilung in sich, die sich atmosphärisch ungünstig auswirken könnten. Im Umkehrschluss resultiert daraus für Eickel, dass allen Patient*innen schon im sehr frühen Stadium der Therapie so gut es geht Verantwortungsübernahme für sich und für Abläufe der Station zugemutet wird. Alle Nutzenden der Station und der Klinik werden mit ihrer Individualität, Ressourcen- und Rollenvielfalt in die Gestaltung des Gesamten einbezogen. Dieser Fokus auf Subjekt-, Ressourcen- und Autonomieorientierung stärkt die Betroffenen in ihrem positiven Empfinden von Selbstwert, Würde und Mitspracherecht, so dass ein Kampf um Autonomie, persönliches Recht oder ungleiche Machtverhältnisse im Stationsalltag obsolet wird. Auf diesem weitest‐ gehend gelebten Menschenbild fußen weitere Bausteine des Konzeptes, nämlich die Alltags-, Normalitäts- und Außenorientierung, die ebenso auf die Gestaltung der „offenen Station“ Einfluss nehmen. Patient*innen, die im St. Marien Hospital Hilfe suchen, können davon ausgehen, dass sie ihre Therapie nicht auf einer geschlossenen Akutstation beginnen, auf der sich angespanntes und durch Erkrankung geprägtes Verhalten potenziert. Stattdessen werden sie bei ihrer Aufnahme von Menschen, die alltagsorientiert gekleidet sind (sprich keine weißen Kittel oder sonstige Dienst‐ kleidung) am Empfang persönlich abgeholt und zu ihrer Station begleitet. Diese Station stellt eine diagnoseunspezifische Wohnsituation einer thera‐ peutischen Gemeinschaft dar. Orientiert am Abbild einer gesunden Gesellschaft beruht die Zusammensetzung der Patient*innen auf einer gut durchdachten Heterogenität in Bezug auf Geschlecht, Alter, sozialen Status bis hin zu den Diagnosen und der Ausprägung der Erkrankungen. Täglich wird geprüft, ob diese Durchmischung insbesondere hinsichtlich der Akuität und der Häufigkeit von Diagnosen stimmig ist, damit das Span‐ nungsniveau mittig bleibt und sich keine diagnose- oder milieuspezifischen Gruppierungen oder Soziolekte entwickeln. Trotz der gemischten Wohnsituation erhalten alle Patient*innen einen für ihre Erkrankung leitlinienkonform spezialisierten Therapieplan, der stations‐ übergreifend wahrgenommen wird. Dieser Therapieplan ist je nach der aktuellen Situation und den Bedürfnissen der Patient*innen jederzeit verhandelbar. Zudem sollte die Planung alltagsori‐ entiert und am besten auch außenorientiert sein. Dementsprechend finden viele Therapien außerhalb der Klinik statt, um früh wieder an der Normalität und dem Alltag der Menschen anknüpfen zu können. 38 Beate Brieseck <?page no="39"?> In diesem bisher dargestellten therapeutischen Kontext Eickels nimmt die „Jakobusgruppe“ einen hohen Stellenwert ein, da sie das Konzept des Hauses am intensivsten umsetzt. Bereits 1996 wanderten erste Patient*innen und Mitarbeitende der Klinik innerhalb von 14 Tagen rund 200 Kilometer auf dem Jakobsweg. Einst in Herne angefangen, wurde der Jakobsweg dann jedes Jahr dort fortgesetzt, wo er im vergangenen Jahr für die PiIgernden endete. So erreichte die Gruppe im Heiligen Jahr 2010 erstmalig Santiago de Compostela. 2011 war das Interesse am weiteren Bestehen des Therapieangebotes so hoch, dass eine zweite Auflage der Pilgerreisen beschlossen wurde. Diesmal startete die Gruppe in St. Annaberg, in Polen, und würde aktuell durch Frankreich wandern. Jedoch wurde der reguläre Weg im Zuge der Corona-Pandemie während der vergangenen zwei Jahre unterbrochen. Um weiter am Ball zu bleiben, entschied die Gruppe, vorübergehend auf Jakobswege im Sauerland auszuweichen und erwanderte in den letzten zwei Jahren die Strecke von Olsberg bis Meinerzhagen. Jahreszyklus der Aktivitäten Die Organisation und Durchführung der Pilgertouren geschieht überwiegend in Eigenregie der Teilnehmenden. Lediglich in Notlagen oder bei Überfor‐ derung steht der Gruppe ein multiprofessionelles Team beratend zur Seite. Dieses autonomie- und ressourcenorientierte therapeutische Vorgehen stellt die Teilnehmenden täglich vor authentische Anforderungen, denen sie nicht ausweichen können. Dementsprechend bewerten viele Betroffene diese zwei Wanderwochen als „therapeutischen Crashkurs“ mit Erfolgen, die sie selbst bei mehrwöchigen stationären Aufenthalten nicht erreicht hätten. Dabei ist die zweiwöchige Pilgertour nur einer von drei Bausteinen eines gesamten Jahreszyklus’ therapeutischer Aktivitäten der „Jakobusgruppe“. Die Teilnahme an der Therapie beinhaltet die Mitwirkung an den folgenden nachstehenden Phasen: 1. Vorbereitung - Teilnahme an Jakobustreffen - Planung und Durchführung von Trainingswanderungen, auch für vollstationäre Patient*innen - Organisation der Jahresetappe 2. Wanderung auf dem Jakobusweg - Planung und Durchführung von Tagesetappen - Übernahme von Gruppenaufgaben Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 39 <?page no="40"?> - psychophysische Bewältigung der Tagesetappen mit einer Gruppe - Bewältigung sowohl geplanter als auch überraschend auftretender Anforderungen 3. Nachbereitung der Jahresetappe - Teilnahme an Jakobustreffen und Trainingswanderungen - Vorträge über die Jahresetappe halten - Öffentlichkeitsarbeit in der Gemeinde z.-B. Weihnachtsbasar - Jahresabschluss mit Weihnachtsessen Für diesen Jahreszyklus gibt es unterschiedliche Gründe. Die Vorbereitungs‐ phase dient nicht nur dem psychophysischen Training und der Organisation der Jahresetappe. Während dieser Phase stoßen zu einem 30-köpfigen Kern der Gruppe jährlich neue Teilnehmende dazu, indem sie an Trainingswanderungen teilnehmen oder zu den Gruppentreffen kommen, die zweimal im Monat stattfinden. Somit kann man die Zeit von Januar bis Ende August auch als gruppenbildenden Prozess bewerten. Die Jahresetappe auf dem Jakobusweg ist dann der Höhepunkt der Projekt‐ arbeit, auf den monatelang hingearbeitet wurde. Einerseits freuen sich alle auf das Wandern und Reisen an sich, gleichzeitig ist jedem bewusst, dass von nun an täglich sportliche und interpersonelle Anforderungen der Gruppenaktivität bewältigt werden müssen. Auch wenn die Vorfreude auf die Gemeinschaft noch so groß ist, haben die meisten Teilnehmenden wesentlich höheren Respekt vor der Adaptionsleistung persönlicher Bedürfnisse und Interessen an Grup‐ penprozessen als vor der körperlichen Anforderung. Die Nachbereitungsphase ist eine sehr sensible Zeit. Während ein Teil der Gruppe gestärkt und deutlich stimmungsaufgehellt in den Alltag geht, berichten insbesondere alleinstehende Pilgernde zunächst durchaus auch von Erschöpfung und Stimmungstiefs, da sie das tägliche Zusammensein mit der Gruppe sehr gefordert hat, oder weil das plötzliche Wegbrechen der Gruppe die Stimmung vorerst trübt. Demzufolge muss diese dritte Phase therapeutisch sehr engmaschig und hochaufmerksam betreut werden. Die Gruppentreffen und die gemeinsame Projektarbeit haben hier eine stabilisierende Funktion. Auf diesem Weg können die während des Wanderns erfahrene Zugehörigkeit und die Gruppenkohäsion weitergelebt werden. Darüber hinaus fördern Öffentlichkeitsarbeit und Trai‐ ningswanderungen die Nachhaltigkeit der auf der Pilgerreise gewonnenen Therapieerfolge. Das Jakobusjahr endet dann mit einem gemeinsamen Weihnachtsessen, bei dem die Gruppe mit den Spezialitäten der durchwanderten Region ein dreigängiges Menu zubereitet. 40 Beate Brieseck <?page no="41"?> Das Tal einer psychischen Krise Ein sachgemäßes und umfassendes Begreifen der therapeutischen Wirkweise unserer Jakobuswegtherapie mit all ihren Facetten und ihrem Potenzial setzt auch ein entsprechendes Wissen um die Vielschichtigkeit einer psychischen Erkrankung voraus. Unserer Erfahrung nach ist sowohl vielen erstmalig Betroffenen als auch psychisch stabilen Menschen nicht bewusst, wie weitreichend und komplex die Ursachen und die Symptome dieser Erkrankungen tatsächlich sind. Daher nun ein kurzer Exkurs zu ihren wesentlichen Dimensionen, die für diesen Beitrag von Bedeutung sind. Darüber hinaus dienen die nachfolgenden Ausfüh‐ rungen der Einstimmung auf die Ausgangslage der erstmalig teilnehmenden Pilger*innen, die fast alle diese Dimensionen in unterschiedlicher Ausprägung vor Antritt der Jakobuswanderung durchlaufen haben. - 1. Medizinische Dimension Die allen wohl vertrauteste Säule eines multimodalen Behandlungssystems bei psychischen oder somatischen Erkrankungen ist die medizinische und pharmakotherapeutische Säule. Im klassischen psychiatrischen Setting stellen ärztliche Therapeut*innen bei Aufnahme in einer Akutklinik eine Diagnose, verordnen die erforderliche Medikation sowie die notwendigen Therapien, die für einen individuellen Therapieplan benötigt werden. Auch die Jakobuswanderungen werden aus medizinischen und psychothera‐ peutischen Gründen durch erfahrenes ärztliches Personal bis hin zum Chefarzt begleitet. So ist zum Beispiel gewährleistet, dass sobald durch den positiven Einfluss täglicher Bewegung oder täglicher sozialer Kontakte gesundheitliche Fortschritte zu beobachten sind, dann auch die Medikation zeitnah auf den tatsächlichen Bedarf reduziert werden kann. Der interessanteste therapeutische Effekt im Zusammenhang mit dem multiprofessionellen Team ist jedoch der allseitige Rollenwechsel vor dem Hintergrund eines veränderten thematischen und extramuralen Behandlungs‐ kontextes. In dem Moment, in dem sich Patient*innen und Mitarbeitende gemeinsam auf den Jakobsweg begeben, werden sie zu einer Gemeinschaft von Jakobuspilger*innen. Unterwegs in Frankreich rückt dann medizinisches Wissen deutlich in den Hintergrund, und diejenigen werden zu hochgeschätzten Fachleuten, die eine französische Speisekarte übersetzen oder gut mit einer Wanderkarte umgehen können. Der selbstwertstabilisierende Effekt in solchen Fällen versteht sich von selbst. Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 41 <?page no="42"?> 2. Psychologische Dimension Eine psychische Krise beruht auch auf biographisch erworbenen, jahrelang praktizierten Denk-, Verhaltens-, Bewertungs- und Interaktionsmustern, die sich irgendwann als nicht mehr zielführend erweisen und einer Umbewertung bedürfen. Diese Muster aufzudecken und zu behandeln ist vorwiegend Aufgabe von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeut*innen. Im Idealfall ermöglicht die von Kostenträgern genehmigte Verweildauer in einer Klinik, dass Patient*innen nicht nur entlastet, sondern auch stabilisiert, mit einem verhaltenstherapeutischen Notfallkoffer versehen, die stationäre Behandlung abschließen können. Ziel der Jakobuswegtherapie ist die Erprobung und zunehmende Erweiterung dieses Notfallkoffers. Die Erkrankung selbst - insbesondere, wenn sie chronifiziert - wie auch dysfunktionale Denk-, Bewertungs-und Interaktionsmuster, die mit ihr einher‐ gehen, wirken sich immer auch auf das soziale Umfeld aus. Dementsprechend muss zu Beginn einer Therapie überprüft werden, ob existenzielle Säulen wie Arbeit, Wohnsituation, finanzielle Situation, Betreuungssituation Verwandter u. a. gesichert sind oder ob Handlungsbedarf besteht, um den sich der Sozial‐ dienst kümmern muss. Voraussetzung zur Teilnahme an der Pilgerreise ist, dass diese Aspekte, wenn auch nicht immer abgeschlossen, zumindest gebahnt sind. Ansonsten ist kaum Therapie möglich. - 3. Psychosoziale Dimension Im Zuge des stationären Aufenthaltes stellt sich auch die Frage, wie die Patient*innen grundsätzlich sozial verankert sind? Haben sie Familie, Freunde, besteht eine Partnerschaft? Gibt es Hobbies oder andere sinnstiftende Lebens‐ felder, aus denen sie positive Energie für den Alltag schöpfen können? Häufig stellt sich heraus, dass viele dieser Kraftquellen mittlerweile mit Kon‐ flikten belastet sind oder kaum noch bedient wurden, da die letzten Reserven nur noch zum Arbeiten und Funktionieren reichten. Im Zuge der Therapie sind auch psychosoziale Umbrüche wahrscheinlich, die aufgefangen und begleitet werden müssen. Hieraus erschließen sich die eher unbekannten professionellen Handlungs‐ felder der Psychiatrie, deren Bedeutung im gesamten Setting je nach Behand‐ lungskonzept einer Klinik einen unterschiedlichen Stellenwert einnimmt und in Einrichtungen somit auch unterschiedlich ausgebaut ist. Gemeint sind die Spezialtherapien, die sich bei ihrem Einsatz in der Schnitt‐ menge zwischen der psychotherapeutischen, sozialen und somatischen Dimen‐ 42 Beate Brieseck <?page no="43"?> sion bewegen. Wie man später sehen wird, ist genau in dieser Schnittmenge auch die Jakobusgruppe mit ihren Behandlungsmöglichkeiten zu verorten. Die Aufgaben der komplementären Therapien sind vielfältig. Zum einen ermöglichen sie das Entdecken neuer sinnstiftender Aktivitäten. Hierzu bietet das St. Marien Hospital ein sehr umfangreiches Therapieangebot, in dem jeder die Möglichkeit hat, ein neues bedeutendes Lebensfeld oder noch ungeahnte Fertigkeiten für sich zu erschließen. Zur Verfügung stehen Sportangebote, kreative Kurse, Theatergruppen oder tiergestützte Ergotherapien, die zum Teil in der Gemeinde verankert sind, und die nach dem stationären Aufenthalt weiter besucht werden können. Eine weitere wesentliche Funktion der Spezialtherapien ist der Brückenbau zwischen theoretisch Besprochenem und der praktischen Anwendung neuer Erkenntnisse im Alltag. Das erforderliche Selbstvertrauen und die Zuversicht, dass die Theorie auch praktisch tatsächlich funktioniert, bedarf zahlreicher positiver Erfahrungen, die dem noch starken Erleben von Insuffizienz gegen‐ übergestellt werden müssen. Hier setzt beispielsweise die Ergotherapie an, indem sie mit unterschiedli‐ chem Gestaltungsmaterial alltagspraktische, motorische und interpersonelle Fertigkeiten gezielt fördert. Erste selbst hergestellte Werke aus Ton, Holz oder auf Leinwand vermitteln auch erstes Erleben von Freude, Stolz und anderen mo‐ tivierenden Gefühlen, die wiederum zum weiteren Engagement für sich selbst und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben außerhalb der Klinik bewegen. Diese Therapien stehen somit für eine erste Aktivierung und Stabilisierung der Patient*innen auf Handlungsebene. Psychotherapeutisch vertiefend arbeiten dann die sogenannten Kreativthe‐ rapien wie Kunst-, Tanz-, Musik- oder Dramatherapie. Mit Medien, die dem Individuum am besten entgegenkommen, ermöglichen sie den Ausdruck von Erlebtem, für dessen Beschreibung Patient*innen Worte fehlen. Darüber hinaus ermutigen Kreativtherapien innerhalb ihres Settings zum Entwickeln und Aus‐ probieren neuer Lösungsstrategien und Interaktionsmuster, bevor diese in den Alltag übertragen werden. Die Jakobusgruppe möchte insbesondere Menschen, die sich in psychoso‐ zialen Umbruchsituationen befinden, ein neues Lebensfeld mit neuen Kon‐ takten, sinnstiftenden bestärkenden Aktivitäten und Unterstützung bei ihrer persönlichen Weiterentwicklung anbieten. Sie versteht sich zudem als ein sehr flexibler, natürlicher Erfahrungsraum für eine breite Palette an individuellen Therapieprozessen, die ansonsten im klinischen Setting künstlich eingeleitet und gelenkt werden müssten. Die Anforderungen eines Wanderalltages mit einer Gruppe hingegen bringen diese Prozesse im authentischen Kontext ganz Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 43 <?page no="44"?> von selbst mit sich und müssen nur noch professionell in die Psychotherapie eingebaut werden. - 4. Somatische Dimension Oftmals erreichen uns Patient*innen erst nach einer langen Odyssee von soma‐ tischen Untersuchungen und Behandlungen, bis sich endgültig herausstellt, dass Symptome wie tägliche Übelkeit, Bauchschmerzen, Schwindelgefühle, Lähmungserscheinungen, Ganzkörperschmerzen, Schmerzen oder Druck in der Brust, Sehstörungen, Atemnot und andere körperliche Beschwerden keine organischen Ursachen haben, sondern Ausdruck einer psychischen Erkrankung sein könnten. Der in verschiedenen Diagnosen als Symptom beschriebene soziale Rückzug beruht demnach nicht zwingend auf vermindertem Antrieb, Stimmungstief oder Unlust. Ebenso möglich ist, dass zuvor die oben beschriebenen körperlichen Phänomene sehr intensiv und verstörend erlebt wurden. Dabei waren jene Erfahrungen von Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Unfähigkeit zur Selbstregu‐ lation so gravierend, dass sie auf keinen Fall wieder erlebt werden möchten. Leider ist dieser sehr gut nachvollziehbare Impuls jedoch auch der Beginn eines schädigenden Vermeidungsverhaltens. Das Vermeiden von Situationen, die in irgendeiner Form diesen Kontrollverlust evozieren könnten, leitet eine Abwärtsspirale von zunehmender Inaktivität, verstärktem sozialen Rückzug, noch mehr Insuffizienzerleben und sich potenzierender psychophysischer Er‐ schöpfung bis hin zur Erkrankung ein. Menschen, die diese stark somatisch orientierte Dimension einer psychischen Krise erlebt haben, können mit Medikation und Psychoedukation bis zu einem gewissen Grad stabilisiert werden, brauchen jedoch gleichermaßen eine erste sanfte körperliche Aktivierung, die im angemessenen Tempo intensiviert wird und somit eine behutsame Erweiterung des persönlichen Bewegungsradius erwirkt. Möglich werden diese ersten Schritte mit basalen physikalischen Therapien wie Kneipp-Anwendungen, Fußbädern, Sauna usw., über Bewegungstherapien wie Körpertraining, Fahrradergometer, Nordic Walking bis hin zu Sportthera‐ pien, die noch gezielter auf die psychophysische Belastbarkeit abzielen, wie die Fußball-AG, therapeutisches Klettern, therapeutisches Wandern u.a. Diesen Ausführungen entsprechend sollte nachvollziehbar werden, dass für psychiatrische Patient*innen im ungünstigen Fall allein innerhalb der soma‐ tischen Dimension eine Pilgerreise für sich bevorstehen kann, bis sie eine realistische Fitness für eine vierzehntägige Wanderung auf dem Jakobsweg erreichen. Wenn alles gut läuft, haben erstmalig Teilnehmende vor der Jahres‐ 44 Beate Brieseck <?page no="45"?> etappe eine oder mehrere Tageswanderungen von 12-15 Kilometern während ihres Klinikaufenthaltes absolviert. Nichtsdestotrotz kann man bei den meisten Patient*innen nach einem stationären Aufenthalt nicht von einem stabilen somatischen Leistungsniveau sprechen. Während des Wanderns kann es immer wieder zu plötzlichen Einbrüchen kommen, die aufgrund der Enttäuschung über den noch unzureichenden Fitnesszustand schnell sorgenvolle und selbst‐ abwertende Denkkaskaden in Gang setzen können. Diese destruktiven Prozesse müssen zeitnah gestoppt und aufgefangen werden, da ansonsten Abbrüche der Teilnahme zu befürchten sind. An dieser Stelle treten Mototherapeut*innen mit unterschiedlichen Behandlungsansätzen in den Vordergrund. Ihre Qualifi‐ kationen bewegen sich auf einem Kontinuum zwischen Physiotherapie und Körperpsychotherapie. In kritischen Momenten versuchen sie mit hohem Ein‐ satz psychoedukativer Arbeit verunsicherte Pilger*innen zu beruhigen und zur weiteren Teilnahme zu motivieren. Glücklicherweise waren diese Interven‐ tionen in den letzten 26 Jahren bis auf zwei Ausnahmen erfolgreich. Abschließend sei gesagt, dass diese Einblicke in die Komplexität einer psy‐ chischen Erkrankung und deren Behandlungsmöglichkeiten keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben. Sie sollten Nichtbetroffenen lediglich vermitteln, dass Menschen mit psychischen Krisen - in dem Fall unsere Jakobuspilger*innen - auch somatisch auf mindestens genau so vielen Fronten zu kämpfen haben, wie Menschen mit schweren körperlichen Erkrankungen. Im klinischen Alltag zeigt sich immer wieder, dass Angehörige oder Freunde unserer Patient*innen keine Idee davon haben, was für eine umfassende Batterie an Anwendungen für den Genesungsprozess nötig ist. Den beschwerlichen Weg aus dieser Krise belastet zudem die mit einem Stigma behaftete Diagnose, über die man mit seinem Arbeitgeber oder seinem sozialen Umfeld besser nicht spricht, denn ansonsten könnte der Weg möglicherweise noch anstrengender werden. Summa summarum sind die Einflüsse aus allen oben beschriebenen Dimen‐ sionen mit unterschiedlicher Ausprägung immer vorhanden und führen Betrof‐ fene in ein Tal, in dem ihre Zuversicht, dass sie die kommenden Dinge des Lebens verstehen und handhaben werden, deutlich beeinträchtigt ist. Vollstationäre oder teilstationäre Behandlungen ermöglichen nur die ersten Schritte aus diesem Tal. Die eigentliche Therapie beginnt erst im Alltag und erfordert oftmals einen jahrelangen Prozess, bis Denk- und Verhaltensmuster tatsächlich verändert und verinnerlicht werden. Besonders in der Zeit nach dem Klinikaufenthalt besteht ein großer Bedarf nach einem professionellen Wegbegleiter, der bei den ersten Schritten mit der noch sehr wackeligen Zuversicht unterstützend zur Seite steht. Leider haben nur wenige Patient*innen das Glück, sofort ambulante Psychotherapeut*innen Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 45 <?page no="46"?> 3 Vgl. Beate B R I E S E C K , Der Jakobusweg als Therapie? (Unveröffentlichte Dissertation der Universität Dortmund), Dortmund 2006. 4 Vgl. B R I E S E C K , Jakobusweg (wie Anm.-3), S.-102‒107. 5 Vgl. Aaron A N T O N O V S K Y , Unraveling the Mystery of Health. How People manage Stress and stay Well, San Francisco 1987. 6 Vgl. Norbert G R O E B E N / Brigitte S C H E E L E , Produktion und Rezeption von Ironie. Pragma‐ linguistische Beschreibung und psycholinguistische Erklärungshypothesen, Tübingen 1984. zu finden. Und auch diese können als Einzelpersonen nicht alle Behandlungs‐ dimensionen bedienen, die eigentlich noch erforderlich wären. Hier nun stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Jakobuswegtherapie in diesem Spannungsfeld leisten kann? Aus professioneller Sicht müsste das Kon‐ zept unsere Patient*innen sowohl während der sensiblen Übergangszeit vom Krankenhaus bis zum Wiedereinstieg ins Berufsleben als auch bei mehrjährigen Wandlungs- oder Erhaltungsprozessen multimodal fördern. Doch wie sehen das die Teilnehmenden? Zur Beantwortung der Frage werden im nächsten Kapitel ausgewählte Ergebnisse der Untersuchung der Autorin aus dem Jahr 2006 3 herangezogen. Der Jakobusweg als Therapie? Ausgewählte Ergebnisse zu gesundheitlichen Wirkfaktoren In meiner Untersuchung wurden elf stationäre und ehemalige Patient*innen mit unterschiedlichen psychiatrischen Diagnosen und unterschiedlichem so‐ zialen Status Quo befragt 4 . Sie nahmen an der Jahresetappe 2001 von Saint-Alban-sur-Limagnole bis Figeac teil. Es handelte sich dabei um vier Frauen und sieben Männer im Alter von 23-53 Jahren. 27 % der Befragten lebten in einer ehelichen bzw. nichtehelichen Partnerschaft. Die Mehrheit hatte während der Wanderung demnach keine partnerschaftliche Beziehung. 46 % der Gruppe wohnten allein in einer Privatwohnung, 27 % mit ihren Partner*innen zusammen und weitere 27 % lebten in einer Institution oder in einer betreuten Wohnform. Alle Teilnehmenden hatten einen Schulabschluss. Dabei verfügten 64 % über einen Hauptschulabschluss, 9 % hatten die Mittlere Reife erreicht und 27 % die (Fach-) Hochschulreife. Krankheitsbedingt hatten 36 % der Befragten keine abgeschlossene Berufsausbildung, jedoch waren 82 % derzeit oder zuletzt in irgendeiner Form erwerbstätig. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren allerdings nur 36-% berufstätig. Für die Evaluation salutogener Faktoren wurde in Anlehnung an das Saluto‐ genesemodell von Aaron Antonovsky 5 sowie an die Methodik zur Erforschung Subjektiver Theorien nach Groeben & Scheele 6 und Groeben, Wahl, Schlee & 46 Beate Brieseck <?page no="47"?> 7 Vgl. Norbert G R O E B E N / Diethelm W A H L / Jörg S C H L E E / Brigitte S C H E E L E , Das Forschungs‐ programm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts, Tübingen 1988. 8 Vgl. Philipp M A Y R I N G , Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Wein‐ heim 2000. 9 Vgl. B R I E S E C K , Jakobusweg (wie Anm.-3), S.-138‒151. 10 Vgl. Matthias K R I S O R / Harald P F A N N K U C H , Psychiatrie auf dem Jakobusweg: Theorie - Praxis - Empirie, in: Psychiatrie auf dem Weg - Menschenbild, Krankheitsverständnis und therapeutisches Handeln, hg. von Matthias K R I S O R / Harald P F A N N K U C H , Lengerich 1999, S.-123‒161, hier 123‒161. Scheele 7 ein halbstandardisiertes Interview entwickelt. Die Auswertung der Daten erfolgte mit Techniken der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring 8 . Die Untersuchung beinhaltet Ergebnisse zu offenen Fragen und zu hypothe‐ sengerichteten Fragen. Mit den offenen Fragen sollten ungefärbte subjektive Theorien der Teilnehmenden zu therapeutischen Effekten des Projektes und des Jakobusweges ermittelt werden. Die hypothesengerichteten Fragen evaluierten Ergebnisse, die sich auf Antonovskys Salutogenesemodell als wissenschaftliches Paradigma bezogen. Die hier vorliegende Ausarbeitung konzentriert sich auf die Ergebnisse zu den offenen Fragen 9 , da diese nahezu plakativ die klinikinternen Auswertungen der mindestens letzten fünf Jahre widerspiegeln. Als wichtigstes Ergebnis lässt sich zunächst festhalten, dass alle Befragten der Wandergruppe 2001 zustimmen, dass sich die Teilnahme an einer Jakobus‐ wanderung mit unserem Konzept positiv auf die Gesundheit psychisch kranker Menschen auswirken kann. Zwei Personen setzen dabei voraus, dass - wie bei jeder Therapie - eine Bereitschaft dazu bestehen muss, die gegebenen Ressourcen aufzugreifen und für die persönliche Weiterentwicklung zu nutzen. Als Wirkfaktoren stechen sowohl bei dieser Untersuchung als auch bei Krisor und Pfannkuch 10 , bis hin zu unseren aktuellen Erfahrungen die nachfolgenden heraus: - 1. Gruppe bzw. soziale Faktoren Sobald wir unseren Teilnehmenden am Ende einer Jahresetappe in der letzten Reflexionsrunde die Frage stellen: „Was war für Sie in diesem Jahr wichtig? Welche Erfahrungen übertragen Sie in Ihren Alltag? “ lautet die erste Antwort: „Die Gruppe war super! “ oder „Gute Atmosphäre! Ich habe mich in der Gruppe wohlgefühlt.“ Ebenso zügig und bisweilen auch niederschmetternd fällt allerdings auch ein abwertendes generalisierendes Fazit zum gesamten Wandererlebnis, wenn es in der Gruppe Konflikte gab oder einzelne sich in der Gruppe nicht wohlgefühlt haben. Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 47 <?page no="48"?> Auch in der hier vorliegenden Untersuchung wird die Gruppe als stärkster Wirkfaktor mit unterschiedlichen Funktionen benannt. Sie ermöglicht ein Erleben von Gemeinschaftsgefühl und Zugehörigkeit, das viele unserer Pa‐ tient*innen aufgrund ihrer persönlichen Geschichte nicht optimal erlebt haben oder in ihrer aktuellen Lebenssituation vermissen, bedenkt man, dass bei unseren Wandergruppen 50-90% der Teilnehmenden alleine leben. Mit der Gruppe verbinden die Pilgernden viele schöne Momente und Erin‐ nerungen, die nachhaltig, insbesondere in Krisen, stimmungsaufhellend und sinnstiftend wirken. Besonders geschätzt wird in der Wandergemeinschaft die positive Beziehungsgestaltung, die sich durch besondere Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft oder gegenseitige Unterstützung auszeichnet. Dieses koopera‐ tive Miteinander erleben die Teilnehmenden in vielen Bereichen ihres Alltags nicht. Hintergrund für diesen wohlwollenden Umgang ist zum einen der ge‐ meinsame Wunsch, ein Tages-, Jahres- oder Projektziel als Gruppe zu erreichen. Eine weitere Erklärung für die konstruktive verständnisvolle Gesamthaltung ist zudem der altbekannte Wirkfaktor Mitpatient, der ohne viele Worte versteht, wie es anderen Betroffenen gerade geht und was diese situativ brauchen. Diese hochpotente Art der Unterstützung können weder Therapeut*innen noch Familienangehörige oder Freundschaften leisten. Die hier vorliegenden Ergebnisse bestärken darüber hinaus den therapeuti‐ schen Effekt von Heterogenität, wie sie dem Klinikkonzept entspricht. Formu‐ liert wird zu diesem Aspekt, dass die Durchmischung der Krankheitsbilder in der Gruppe ein gegenseitiges Beraten, Ergänzen oder Unterstützen ermöglicht und daher als Wirkfaktor bewertet wird. Zuzüglich dessen belegt die gesamte Studie immer wieder, dass die Gemeinschaft ein starker sicherheitsgebender und ermutigender Faktor ist. Mit ihr im Rücken trauen sich die Patient*innen an Anforderungen heran, die sie im Alltag eher gemieden hätten (z. B. in fremder Sprache nach dem Weg fragen oder eine Tagesetappe planen und durchführen). Auf der Jakobuswanderung strahlt die Gruppe aus, dass man sich bei Anforderungen auf ihre externalen Ressourcen verlassen kann, woraus die allgemeine Zuversicht entsteht, dass sämtliche Herausforderungen gemeinsam zu schaffen sind. Der gemeinsame Wandertag liefert zudem viele Impulse zum Einsatz und zur Weiterentwicklung sozialer wie auch emotionaler Kompetenzen. In der Gruppe verankert trauen sich Einzelne, ihr sicheres Terrain zu verlassen, um neue Verhaltensmuster zu erproben (z. B. rechtzeitig Pausen einfordern oder mit Zimmernachbarn Freiräume für Ruhephasen u. a. vereinbaren). Dabei handelt es sich um psychotherapeutisch entscheidende Prozesse, die ohne Anreize und Sicherheit seitens der Gruppe im Alltag der Alleinlebenden stagnieren würden. 48 Beate Brieseck <?page no="49"?> 11 Vgl. B R I E S E C K , Jakobusweg (wie Anm.-3), S.-140. 12 Vgl. B R I E S E C K , Jakobusweg (wie Anm.-3), S.-246‒253. 13 Vgl. A N T O N O V S K Y , Mystery (wie Anm.-5), S.-109. 2. Stress minimierende Faktoren Wie zuvor bereits herausgearbeitet 11 stellen wir auch mit den Auswertungen der letzten fünf Jahre fest, dass der Aufzählung der salutogenen psychosozialen Faktoren seitens der Befragten zeitnah die Benennung entspannender Aspekte folgt. Dabei sticht überwiegend der heilende Einfluss von Distanz zum Alltag oder zur belastenden Situation daheim in den Vordergrund. In dem Zuge werden von den Befragten extramurale Ressourcen wie Natur, Landschaft und Ortswechsel ins Spiel gebracht, die für euthymes Erleben sorgen. In jeder Auswertung der Jahresetappen wird außerdem wertgeschätzt, dass Ver‐ antwortung abgegeben werden konnte und ein Sich-Treiben-Lassen möglich war. Das überrascht ein wenig, da auf den Wanderungen dem Klinikkonzept entsprechend darauf geachtet wird, dass jeder verantwortungsvolle Aufgaben für die Gruppe übernimmt, um Erfahrungen von Teilhabe und persönlicher Bedeutsamkeit zu ermöglichen. Zu diesen Aufgaben gehört beispielsweise die Beförderung der Gruppe mit Kleinbussen oder die informative Führung der Gruppe durch kulturelle Gegebenheiten einer Tagesetappe - Anforderungen, die schon durchschnittlich gesunde Menschen an Grenzen bringen würden. Nichtsdestotrotz belegen die Angaben der Befragten, dass trotz Übernahme solch anspruchsvoller Aufgaben auch Raum für therapeutisch ebenso relevante Entlastungsmomente möglich ist. Mit Blick auf generelle thematische Inhalte in der Behandlung psychisch erkrankter Menschen ist das ein entscheidend positives Ergebnis, denn bei dem Großteil der Patient*innen nimmt die Arbeit an persönlichen Grenzen und an der adäquaten Einteilung persönlicher Leistungs‐ fähigkeit einen wesentlichen Anteil in der Therapie ein. Unabhängig von dem hier vorliegenden Ergebnisauszug lässt die gesamte Untersuchung den Schluss zu, dass in der Jakobusgruppe durch die Bewältigung des Wanderalltags mit seinen geplanten und ungeplanten Herausforderungen die Mitglieder lernen, wie sie ihre Kräfte einsetzen sollten, um Überforderungen zu vermeiden oder um einen Wandertag erfolgreich abzuschließen 12 . Eben dieses tägliche Training von Belastung und Entlastung ist für eine grundsätzliche Zuversicht entscheidend, dass Anforderungen des Lebens pragmatisch lösbar sind 13 . Erfahrungsgemäß ist diese Überzeugung bei psychisch erkrankten Men‐ schen nicht nur in der akuten Phase, sondern auch grundsätzlich schwächer ausgebildet. Daher muss sie sowohl während der Begleitung aus der Krise als auch danach kontinuierlich gestärkt werden. Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 49 <?page no="50"?> 14 Vgl. B R I E S E C K , Jakobusweg (wie Anm.-3), S.-141‒142. 3. Positive Selbstfürsorge Sehr nah an der entlastenden Wirkung von Distanz zum stressigen Alltag liegt auch die Wahrnehmung persönlicher Bedeutsamkeit. Erst in der Ferne gelingt es den meisten Teilnehmenden, sich Raum für persönliche Bedürfnisse zu nehmen oder diese überhaupt zu spüren. Aussagen wie „sich etwas gönnen“, „sich etwas Gutes tun“ oder „auf sich achten ist heute gelungen“ sind ganz typische Beiträge in den abendlichen Reflexionsrunden. Teilnehmende mehrerer Pilgertouren geben an, dass es ihnen immer besser gelingt, mit ihren Ressourcen die Gruppe oder das Wandern anbetreffend zu haushalten, so dass sie mit vielen persönli‐ chen Erfolgen eine Jahresetappe abschließen können. - 4. Wandern Obwohl es sich bei der Jakobusgruppe um ein Wanderprojekt handelt, wird sowohl in dieser Untersuchung als auch in den meisten anderen Auswertungen das Wandern im Sinne eines Bewegungserlebnisses, das sich positiv auf den Gesundungsprozess auswirkt, eher nachrangig angegeben. Die Erfahrungen mit der Gemeinschaft und die gelungene oder misslungene Integration in diese stehen immer an erster Stelle. Selbstverständlich sind alle stolz auf bewältigte persönlich anspruchsvoll bewertete Etappen und übertragen diese Erfolge auch in ihre Alltagszuversicht. Nichtsdestotrotz haben die meisten unserer Patient*innen wesentlich höheren Respekt vor den Anforderungen des täglichen Zusammenseins mit der Gruppe oder dem Zimmernachbarn als vor den körperlichen Herausforderungen. Wird das Wandern als persönliches Vehikel zu mehr Wohlbefinden erkannt, rückt insbesondere die psychophysische Regulationsfunktion dieser Sportart in den Vordergrund (siehe „Wandern beruhigt“ oder „körperliche Anstrengung be‐ freit“) 14 . Plakativ ist auch die Aussage, dass mit der Bewältigung der körperlichen Anforderung auch die Zuversicht in die Lösbarkeit von Herausforderungen des Alltags steigt. Generalisiert wird zudem die zukünftige Herangehensweise an schwierige Situationen oder Probleme mit Worten wie: „genau wie ich es auf der Wanderung erlebt habe, möchte ich im Alltag schwierige Situationen Schritt für Schritt bewältigen.“ - 5. Gewinn an Widerstandsressourcen Mit Widerstandsressourcen sind individuelle Fertigkeiten und Erfahrungen der Pilgernden gemeint, die sie in ihrer jeweiligen Lebenssituation als neu gewon‐ 50 Beate Brieseck <?page no="51"?> 15 A N T O N O V S K Y , Mystery (wie Anm.-5), S.-36. 16 Vgl. B R I E S E C K , Jakobusweg (wie Anm.-3), S.-313‒321. nene Ressourcen zur persönlichen Stabilisierung benannt haben. Es handelt sich hierbei um eine Vielfalt an Einzelnennungen, die nicht auf jeden Menschen übertragen werden können, denn die Heterogenität der Gruppe bringt auch eine Heterogenität die Therapieziele anbetreffend mit sich. Während es in den hier vorliegenden Ergebnissen beispielsweise für Person A therapeutisch wichtig ist, Verantwortung abzugeben und Vertrauen in Ressourcen anderer aufzubauen, muss Person B mehr „Selbständigkeit im Umgang mit Geld“ lernen und erlebt das „selbständige Einkaufen“ in einem fremden Land als herausragenden Erfolg. An dieser Stelle zeigt sich erneut die Stärke dieser Therapieform, innerhalb derer es tatsächlich gelingt, zwei so gegensätzliche Therapieziele unter einen Hut zu bringen. Unabhängig von diesem Auszug der Ergebnisse stellt sich bei der Gesamt‐ auswertung der Gruppe 2001 heraus, dass die Teilnehmenden Ressourcen auf kognitiver, pragmatischer und sinnstiftender Ebene gewinnen konnten, die nach Antonovskys Modell zur Salutogenese erforderlich sind, um in der Zuversicht bestärkt zu werden, dass Anforderungen des Lebens lösbar sind. Er nennt diese Zuversicht Sense of Coherence oder Kohärenzgefühl und definiert sie als „[…] eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, daß 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; 3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und En‐ gagement lohnen 15 .“ Demnach entscheidet die Ausprägung dieser Zuversicht darüber, wie tief wir ins Tal einer psychischen Krise fallen bzw. wie schnell wir aus den Tälern wieder herausfinden. Ergebnisse meiner Untersuchung 16 deuten ganz stark darauf hin, dass diese Zuversicht nicht nur auf der angeführten Jahresetappe bestärkt wurde, sondern durch die Länge des Jakobusweges von Herne bis Santiago de Compostela und den Jahreszyklus der Aktivitäten über Jahre gestärkt werden kann. Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 51 <?page no="52"?> 17 Vgl. B R I E S E C K , Jakobusweg (wie Anm.-3), S.-129‒135. Stellenwert des Jakobusweges als therapeutischer Wirkfaktor Bedenkt man, dass viele erstmalig Teilnehmende gerade eben die stationäre oder teilstationäre Behandlung beendet haben, ist nachvollziehbar, dass schon alleine alltägliche Abläufe in gewohnter Umgebung zu großen Herausforderungen werden können. Gleichermaßen tendieren chronisch erkrankte Patient*innen aus unterschiedlichen Gründen eher zur Bewegungsabstinenz. Daher stellt sich die Frage, welche Motive im gesamten Projekt sowohl die Ängste der erstmalig Teilnehmenden als auch das niedrige Aktivitätsniveau der chronisch Erkrankten überwinden lassen, um sich täglich im Ausland Tages‐ etappen von 15-25 Kilometern zu stellen? Interessant ist in dem Zusammenhang auch die Ermittlung der Strahlkraft des Jakobusweges als berühmter historischer Pilgerweg. In den Ergebnissen zu den offen formulierten Fragen traten als stärkste Motive zur Teilnahme die folgenden hervor: 1. Wunsch nach Wachstum bzw. nach Gewinn an Widerstandsressourcen (n=7), 2. Wunsch nach Teilnahme an der Jakobusgruppe mit Aktivitäten im Jahr (n=3), 3. Distanz zum Alltag oder zu belastenden Situationen (n=3), 4. Wandern; Freude an Landschaft; Urlaub im geschützten Rahmen, mit Gemeinschaft (n=1) 17 . Bei der Frage: „Was verbinden Sie mit dem Begriff Jakobusweg? “ waren die entscheidenden Antworten: 1. Gemeinschaft von Gleichgesinnten (n=5), 2. Therapie (n=4), 3. Religion, Spiritualität (n=4), 4. Projekt mit besonderem Stellenwert (n=2), 5. Anerkennung durch Teilnahme am Jakobuswegprojekt (n=2). Nach diesen Ergebnissen wurde dem Jakobsweg als motivationalem Faktor noch kaum Bedeutung zugemessen. Wichtiger ist für die Befragten an dieser Stelle die Aussicht auf therapeutisches Fortkommen oder die Aussicht auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Gleichgesinnten, wie sie auch schon in dieser Ausarbeitung bei den Wirkfaktoren beschrieben wurde. 52 Beate Brieseck <?page no="53"?> 18 Vgl. B R I E S E C K , Jakobusweg (wie Anm.-3), S.-272‒288. Die hypothesengerichtete Befragung ergab mehr Erkenntnisse zur Rolle des Jakobusweges im Entscheidungsprozess 18 . Das Hauptergebnis hierzu lautet: Die Bedeutsamkeit des Jakobusweges sowie das berühmte Ziel Santiago de Com‐ postela sind wichtige Motivationsfaktoren bei der Entscheidung zur Teilnahme und bei der Bewältigung von Anforderungen (n=10). Gründe: a. Erfahrung von Bedeutsamkeit durch Teilhabe an einem sozial anerkannten Entscheidungsprozess (n=4), b. (die spürbare) Bedeutsamkeit des geschichtlichen und religiösen Hinter‐ grundes/ Charisma des Pilgerweges (n=5), c. das Ziel Santiago de Compostela (n=4), d. Wahrnehmung jahrhundertelanger Pilgertradition (n=4). Weitere hypothesengerichtete Ergebnisse zum therapeutischen Stellenwert des Jakobusweges lassen folgende Schlussfolgerungen zu: Sowohl der Gang auf dem Jakobusweg als auch die Aussicht, das Ziel Santiago de Compostela zu erreichen, werden als sinnstiftende, im Leben herausragende Ereignisse bewertet, auf die man persönlich stolz sein kann und die Anerkennung versprechen, weil man an einem kulturellen Gut teilgenommen hat, das gesellschaftlich hoch angesiedelt ist. Ein entscheidendes Symptom bei Menschen mit psychischen Erkrankungen (bis auf wenige Diagnosen) ist ein wenig ausgeprägtes oder z. B. durch die mit Stigma behaftete Diagnose stark angegriffenes Selbstwertgefühl. Somit ist auch nachvollziehbar, dass berühmte Wander- oder Pilgerwege erfolgsversprechende Zugpferde aus psychischen Krisen sein können. Die Gruppe 2001 definierte das Ziel Santiago de Compostela zusammenfas‐ send als: • einen berühmten Pilgerort, der grundsätzlich der Anstrengung wert ist, • ein symbolisches Zeichen für die Teilhabe an einem gesellschaftlich hoch‐ rangigen Entscheidungsprozess, der bei Abschluss Aussicht auf Anerken‐ nung verspricht, • überhaupt ein Ziel, das verfolgt werden kann, • das symbolische Ende eines langen Weges. Ein weiteres entscheidendes Ergebnis ist, dass alle Befragten Bedeutsamkeit und Lebenssinn durch den historischen, religiösen und kulturellen Hintergrund des Pilgerweges gespürt haben. Damit leistet der Jakobsweg per se bei unseren Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 53 <?page no="54"?> Patient*innen genau die antriebssteigernde Arbeit, für die wir im klinischen Setting (beispielsweise in den Ergo- oder Bewegungstherapien) sehr viel Energie investieren. Während wir im stationären Rahmen versuchen, mit Freude bereitenden Aktivitäten oder mit Verfahren, die Wohlbefinden vermitteln, erschöpften Men‐ schen, die über innere Leere klagen, wieder Lebenssinn zu stiften, schafft das der Jakobusweg allein schon mit seiner Strahlkraft. Dieses Charisma wiederum entspringt seiner historischen, kulturellen, religiösen Größe und vor allem seiner Beständigkeit. Als mögliche Therapieeffekte von Spiritualität und Religion wurden benannt: • das Wiederentdecken von Religion und Glauben als Hilfe und Kraft in Leidensphasen, • (sinnstiftender) „Zauber“, dem man sich nicht entziehen kann, insbesondere in Kirchen als Orten der Stille mit besonderer Atmosphäre; dementspre‐ chend auch Anregung zum Beten, zur Stille oder zur Introspektion, • in Kirchen sind Erkenntnis und Lösungsideen möglich, • Empfinden von Ehrfurcht und Stolz beim Erwandern eines jahrhunderte‐ alten Pilgerweges. Für 7 Personen lag der Schwerpunkt auf der Wahrnehmung von Kultur, Ge‐ schichte sowie Pilgertradition als sinnstiftendes und damit auch heilsames Erleben. Dabei rückten 5 Personen insbesondere die Wahrnehmung jahrhun‐ dertelanger Pilgertradition in den Vordergrund. Dieses Erleben fördert aus ihrer Sicht: • die Erfahrung von Werten, die heute selten sind oder verloren gegangen sind, • Erfahrung von Beständigkeit und Tradition, • das Erleben von Bedeutsamkeit, • das Bewusstsein für den heutigen Komfort, • die Wahrnehmung der herausragenden Leistung früherer Handwerker und Baumeister. Insgesamt führt die bewusste Wahrnehmung der Würde und Größe dieses Weges zu dem großartigen therapeutischen Effekt, dass alltägliche Widrigkeiten oder auch größere Belastungen des Lebens immens an Raum und Gewicht verlieren. Aus dieser Relativierung des persönlichen Stresses im Vergleich zu der Leistung damaliger Pilgernder, Baumeister, oder insgesamt aus dem Nachempfinden, um wieviel beschwerlicher das Leben damals war, resultiert 54 Beate Brieseck <?page no="55"?> häufig der Schluss, dass das eigene Leben heute trotz Sorgen und Erkrankung doch um vieles komfortabler und gar nicht mehr so aussichtslos ist. Auf dieser Grundlage gaben in der vorliegenden Untersuchung drei Personen an, mehr Gelassenheit zu persönlichen Problemen oder in stressigen Situationen entwickelt zu haben. Für die Entwicklung einer solchen Gelassenheit brauchen viele unserer Patient*innen Jahre. Fazit Abschließend lässt sich festhalten, dass auch nach Aussagen der Befragten die Jakobuswegtherapie eine multimodale Therapieform ist, die mit ihrer Kon‐ zeption sehr gut geeignet ist, um Menschen zu weiteren Schritten aus dem psychischen Tal zu motivieren und dabei ihre Genesung zu fördern. Da die Befragten durch den Gang auf dem Jakobusweg und mit der Aussicht auf Anerkennung bei Ankunft in Santiago de Compostela Sinnerleben und Motivation zum Engagement verspüren, scheint diese Therapieform genug Anziehungskraft zu haben, um Menschen über Jahre hinweg an das Gesund‐ heitsprojekt zu binden und ihnen so eine nachhaltige Weiterentwicklung zu ermöglichen. Das Wandern auf dem Jakobusweg oder einem anderen Pilgerweg mit einer ähnlichen historischen, kulturellen und religiösen Tradition spielt dabei eine entscheidende Rolle, weil eben die Affinität zu diesem kulturell hohen Gut auch genau die gruppenbildende Größe von Gleichgesinnten ist. Bei unbedeutenden Wanderwegen würde dieses kohäsionsstiftende Element fehlen. Das gemeinsame Interesse am Jakobsweg lässt alle Beteiligten zu einer Gemeinschaft verschmelzen, innerhalb derer: • Hierarchien verflachen, • authentische, psychisch stabilisierende Rollenwechsel möglich sind, • ein heilsames konstruktives Miteinander entsteht, um mindestens ein Teil‐ stück via Santiago de Compostela gemeinsam zu schaffen. Ebenso wie eine multimodale stationäre Behandlung - wenn nicht sogar intensiver - berührt auch die Jakobuswegtherapie alle zuvor beschriebenen Dimensionen einer psychischen Erkrankung. Allerdings rückt in diesem Setting mehr die psychosoziale und somatische Dimension in den Vordergrund. Zuzüg‐ lich dessen werden die Behandlungsmöglichkeiten um weitere extramurale, spirituelle und sinnstiftende Einflussgrößen erweitert. Darüber hinaus inten‐ siviert und beschleunigt die authentische Bewältigung realer Anforderungen wichtige psychotherapeutische Prozesse. Aus dem Tal - Psychiatrie auf dem Jakobsweg 55 <?page no="56"?> Abschließend lässt sich resümieren, dass der starke Wunsch unserer Ja‐ kobuspilger*innen nach Aktivität und Erlebnissen mit einer Gemeinschaft womöglich genau den Unterschied in der Motivation zum Aufbruch zwischen durchschnittlichen gesunden Menschen und psychisch chronisch erkrankten Menschen ausmacht. Während der psychisch stabile Mensch eher alleine los‐ zieht, um sich in der Fremde neu zu entdecken, sind unsere Pilger*innen vielmehr am Gemeinschaftserleben und Zugehörigkeit interessiert - und zwar sowohl auf der Jahresetappe als auch davor und danach. Diese Erkenntnis wird für unser therapeutisches Vorgehen weiterhin rich‐ tungsweisend sein. Sie ist außerdem ein wertvolles Ergebnis für andere profes‐ sionell Tätige, die mit (chronisch) psychisch erkranken Menschen langfristige Bewegungsprogramme entwickeln möchten. Bei der Implementierung von kurzfristigen Gesundheitsprojekten wird die Aussicht auf psychophysische Weiterentwicklung anfangs sicherlich ein guter Motivationsfaktor sein, mit dem man diese Klientel zur Teilnahme bewegen kann. Möchte man jedoch eine langfristige Bindung an solch ein Projekt erwirken, ist die Konzentration auf eine gesundungsfördernde Gruppenatmosphäre, in der jede Person als wertvolles Mitglied gesehen und wertgeschätzt wird, erfolgsver‐ sprechender. Die Aussicht auf eine schöne Zeit mit einer Gemeinschaft, in der man gut aufgehoben ist, ist für diese Klientel der hauptsächliche Bedeutungs‐ träger, mit dem Bewegung verbunden werden muss. 56 Beate Brieseck <?page no="57"?> 1 Zur knappen Information vgl. ( Johannes A L L E N D O R F )/ Wolfgang B R Ü C K N E R , Wilsnack, in: LThK 10 (2001), Sp. 1217; Hartmut K Ü H N E , Wilsnack, in: Pilgerspuren. Orte ‒ Wege ‒ Zeichen. Von Lüneburg an das Ende der Welt ‒ Wege in den Himmel. Ausst.-Kat., hg. von den Museen Stade und dem Museum Lüneburg, bearb. von Hartmut K Ü H N E , Petersberg 2020, S. 312 f. (Lit.). ‒ Zu den Hostienwundern vgl. Peter B R O W E , Die eucharistischen Verwandlungswunder des Mittelalters, in: D E R S ., Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht, hg. von Hubertus L U T T E R B A C H / Thomas F L A M M E R (Vergessene Theologen 1), Münster 7 2019, S.-265‒289, hier v.-a. 281‒283. 2 Vgl. Martin S L A D E C Z E K , Reiserechnung Konrads von Weinsberg, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm.-1) S.-75. Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie Liturgiehistorische Beobachtungen zu Wallfahrtsmotiven und -interessen in Mittelalter und Frühneuzeit Jürgen Bärsch Der adlige Konrad von Weinsberg (um 1370‒1448), Reichserbkämmerer unter Kaiser Sigismund und in diplomatischen Diensten zahlreicher politischer Ak‐ teure, unternahm 1426, 1436 und 1441 drei Reisen nach Norddeutschland. Trotz gelegentlicher Umwege zog es die Reisegruppe jedes Mal nach Wilsnack, das sich durch das Wunder der blutenden Hostien großer Beliebtheit erfreute 1 . Aufgrund erhaltener Rechnungsbücher sind nähere Einzelheiten bekannt: Rei‐ sewege, Verpflegungs- und Übernachtungskosten, Markt- und Barbierbesuche, aber auch die Teilnahme an Messfeiern sind dokumentiert. Wir wissen, dass Weinsberg das Privileg hatte, einen Tragaltar mitzuführen und die Beichte bei dem mitreisenden Priester ablegen zu dürfen. Zudem berichten die Rechnungen, dass die Gruppe in Wilsnack sogleich die Wallfahrtskirche besuchte, zum Stück‐ preis von 1 Pfennig Pilgerzeichen erwarb, ausgiebig eine Gans, vier Hühner, Butter, Brot und Bier verköstigte, der ortsansässige Schmied eine Reparatur vornahm und die Pferde Hafer erhielten 2 . Dass man nicht aus touristischer Neugier Wilsnack aufsuchte, zeigt ein auf der letzten Seite einer Rechnung <?page no="58"?> 3 Hier zit. nach Martin S L A D E C Z E K , Gebet zum Heiligen Blut, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm.-1) S.-318 f., hier 318. 4 Vgl. Klaus S C H R E I N E R , „Peregrinatio laudabilis“ und „peregrinatio vituperabilis“. Zur religiösen Ambivalenz des Wallens und Laufens in der Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und Früher Neuzeit. Interna‐ tionales Round-Table-Gespräch, Krems an der Donau, 8. Oktober 1990, hg. von Herwig W O L F R A M (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 14), Wien 1992, S. 133‒163; Bernhard S C H N E I D E R , Wallfahrtskritik im Spätmittelalter und in der „Katholischen Aufklärung“. Beobachtungen zu Kontinuität und Wandel, in: Wallfahrt und Kommunikation. Kommunikation über Wallfahrt, hg. von D E M S . (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 109), Mainz 2004, S.-281‒316, hier 285‒297. 5 So in einer Predigt zum 20. Sonntag nach Pfingsten (Sermo C „De peregrinatione“); hier nach S C H R E I N E R , „Peregrinatio laudabilis“ (wie Anm.-4), S.-155 f. erhaltenes, von Konrad eigenhändig verfasstes Reimgebet zum Heiligen Blut. Darin heißt es unter anderem: Chum heil’ges Blut mir zu trost, Ob ich werden moht herlost, Nach gnaden din von herzenleit, Rat und hilf, daz hin werd geleit  3 . Das ganze Gebet bezeugt Konrads Verehrung des Blutwunders, von dem er sich Trost und Sündenvergebung, Gnade und Hilfe erhoffte. Das persönlich verfasste Gebet erlaubt einen seltenen Einblick in die Hoff‐ nungen und Erwartungen, mit denen Pilger heilige Stätten aufsuchten. Es ging um Hilfe und Schutz in den bedrängenden Lebenslagen und um das Heil der Seele im jenseitigen Leben. Heil und Heilung waren eine zentrale Triebfeder der Pilgerinnen und Pilger, was freilich weniger fromme Motive keineswegs ausschloss, die von kritischen Stimmen zum Wallfahrtswesen aufgespießt wurden 4 . Um falschen Absichten entgegen zu wirken, wies der Osnabrücker Augustiner-Eremit Gottschalk Hollen (um 1411‒1481) auf Formen von Gebet und Gottesdienst hin. Beichte und Kommunionempfang, Pilgersegen und Mess‐ besuch hielten die Pilgerinnen und Pilger bei der recta intentio, richteten die Wallfahrt auf ihren geistlichen Sinn aus und vermittelten die erhofften Wirkungen und Verdienste mit Ewigkeitswert 5 . Davon gibt das Rechnungsbuch des Konrad von Weinsberg Zeugnis. Wenn man in religionsanthropologischer Hinsicht den Zweck von Religion darin sehen darf, lebenssichernd und heilbringend zu wirken, müssen dem auch die religiösen Mittel entsprechen. Sie sollen den Menschen vor Unheil bewahren und ihm Heil herbeischaffen. Dieser Heilssicherung dienen heilige Riten und heilige Gegenstände. Dies gilt auch für das religionsgeschichtliche Breitenphä‐ 58 Jürgen Bärsch <?page no="59"?> 6 Vgl. Franz W I N T E R u. a., Wallfahrt/ Wallfahrtsorte 1‒6, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 8 (2005), Sp. 1279‒1297. 7 Dazu auch Weiteres bei Jürgen B Ä R S C H , Liturgien der Wallfahrt. Gottesdienstliche Aspekte des Wallfahrtsgeschehens in Mittelalter und Neuzeit, in: Liturgisches Jahrbuch 61 (2011), S. 23‒44. Vgl. jetzt auch den Sammelband Liturgies de pèlegrinages. 66e Semaine d´études liturgiques, Paris, Institut Saint-Serge, 1-4 julliet 2019, hg. von Adrian Florentin C R Ă C U I N / André L O S S K Y / Thomas P O T T (Studia oecumenica Friburgensia 104), Münster 2021. 8 Arnold A N G E N E N D T , Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 4 2009, S.-353. Vgl. dazu auch Jürgen B Ä R S C H , Die gelebte Religiosität und die Liturgie des Mittelalters. Beobachtungen zur Geschichte einer komplexen Beziehung, in: Liturgie - „Werk des Volkes“. Gelebte Religiosität als Thema der Liturgiewissenschaft, hg. von Harald B U C H I N G E R / Benedikt K R A N E M A N N / Alexander Z E R F A S S (Quaestiones disputatae 324), Frei‐ burg/ Br. 2023, S.-116‒142. 9 Robert A. W I L K E N , Heiliges Land, in: Theologische Realenzyklopädie 14 (1985), S.-684‒ 694, hier 689. nomen Wallfahrt 6 . In christlicher Perspektive, dies wird am Beispiel Konrads sichtbar, ist das Wallfahrtswesen von verschiedenen liturgisch-rituellen Formen umgeben. Es ist zu erwarten, dass gerade in diesen „Liturgien der Wallfahrt“ die intendierte heilend-heilschaffende Bedeutung des Wallfahrtsgeschehens explizit zum Ausdruck kommt. Dies soll im Folgenden für das Mittelalter und die Frühneuzeit gezeigt werden 7 . Wenn dabei von „Liturgien der Wallfahrt“ die Rede ist, wird bewusst ein weiter Liturgiebegriff gewählt. Denn für die Vormoderne gilt, was der Kirchen‐ historiker Arnold Angenendt (1934‒2021) für das Mittelalter reklamiert hat. Es war ein „ganz in Ritualität getauchtes Zeitalter; und es wäre völlig verfehlt, die kirchlich-priesterlichen Rituale als eigentliche Liturgie daraus ausgrenzen zu wollen. Diese bildete nur den kirchenoffiziell angebotenen und normierten Bereich, nur ein Teil des viel umfänglicheren Bedürfnisses nach heilsschaffender und lebensregulierender Ritualität 8 .“ 1. Auf dem Weg zum Pilgersegen: spätantike und frühmittelalterliche Zeugnisse der Pilgerliturgie Bekanntlich zeigte das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten „nahezu kein Interesse an den Stätten, wo Jesus lebte, oder am Land der Bibel überhaupt 9 .“ Denn nach dem Wort Jesu im Johannesevangelium sei Gott nicht an einem Ort, sondern in Geist und Wahrheit anzubeten (vgl. Joh 4,20‒23). Aber mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zum Christusereignis und gestützt durch kaiserliche Protektion stiegen im 4. Jahrhundert Jesu Lebens- und Wirkorte als Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 59 <?page no="60"?> 10 Vgl. Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.‒7. Jahrhundert), hg. von Herbert D O N N E R , Stuttgart 2 2002, S. 13‒35; Eva-Maria G Ä R T N E R , Heilig-Land-Pilgerinnen des lateinischen Westens im 4. Jahrhundert. Eine prosopographische Studie zu ihren Biographien, Itinerarien und Motiven ( Jerusalemer Theologisches Forum 34), Münster 2019. 11 Vgl. Arnold A N G E N E N D T , Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 2 1997, S.-24‒137; D E R S ., Die Gegenwart von Heiligen und Reliquien, eingel. und hg. von Hubertus L U T T E R B A C H , Münster 2010. 12 Egeria, Itinerarium. Reisebericht, eingel. und übers. von Georg R Ö W E K A M P (Fontes Christiani 20), Neuausgabe Freiburg/ Br. 2017; vgl. dazu G Ä R T N E R , Heilig-Land-Pilge‐ rinnen (wie Anm.-10), S.-91‒123. 13 Ubi cum venissemus, statim iuxta consuetudinem primum facta est oratio, deinde lectus est ipse locus de libro sancti Moysi, dictus est etiam psalmus unus competens loco ipsi, et denuo facta oratione descendimus. R Ö W E K A M P , Egeria (wie Anm. 12), S. 166 f.; vgl. auch Pablo A R G A R Á T E , Pèlegrinage et processions dans l’Itinerarium Aegeriae, in: C R Ă C U I N / L O S S K Y / P O T T , Liturgies de pèlegrinages (wie Anm.-7), S.-163-180. 14 Vgl. A N G E N E N D T , Heilige (wie Anm.-11), S.-134; Albert G E R H A R D S , Wallfahrtsgeschehen ‒ Liturgiewissenschaftliche Aspekte der Wallfahrtsforschung, in: Akten des XII. Inter‐ nationalen Kongresses für Christliche Archäologie, hg. von Ernst D A S S M A N N / Josef E N G E M A N N ( Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 20,1), Münster 1995, S.-820‒824, hier 821 f. 15 Ein schönes Beispiel bietet das bekannte, aus dem irischen Liturgiebereich stammende und wohl Ende des 7. Jahrhunderts verfasste Reisegebet des Gildas. Vgl. die Edition „Oratio Gilde pro itineris et navigii prosperitate“ und den Kommentar bei Bernhard B I S C H O F F , Anecdota novissima. Texte des 4. bis 16. Jahrhunderts (Quellen und Unter‐ suchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 7), Stuttgart 1984, S. 154‒161. Ursprungstopographien des Heils zu christlichen Pilgerzielen auf 10 . Auch die Gräber der Märtyrer, allen voran der Apostelfürsten Petrus und Paulus in Rom, wurden nun als verehrungswürdige Orte aufgefasst, an denen man die göttliche virtus der Heiligen greifbar wusste, um an ihrer Fürbittmacht zu partizipieren 11 . Mit dem Besuch der heiligen Stätten waren stets Formen von Gebet und Gottesdienst verbunden. Egeria, die Ende des 4. Jahrhunderts ins Heilige Land pilgert, schildert in ihrem Reisebericht 12 , dass passend zum jeweiligen Pilgerort Schriftlesung, Psalm und Gebet ausgesucht wurden 13 . Ähnlich fand auch an den Märtyrergräbern Gebet und Gottesdienst statt. Prozessionen, Nachtwachen am Grab und Messfeiern intensivierten den Kontakt mit dem Heiligtum, um die Teilhabe an der Macht des Heiligen zu vermitteln 14 . Aber nicht nur der heilige Ort selbst motivierte zu Gebet und Gottesdienst. Wie jede Reise galt auch eine Pilgerfahrt als äußerst gefahrvolles und unsicheres Unternehmen. Angesichts des Lebens in der Fremde, der Unbill von Wetter und Wegstrecken, der Bedrohung durch wilde Tiere und übel meinende Menschen war die Bitte um göttlichen Schutz und himmlische Hilfe unumgänglich. Neben dem persönlichen Gebet 15 drang die Fürbitte für Reisende und Pilger auch in den 60 Jürgen Bärsch <?page no="61"?> Dieses Gebet ist zusammen mit drei weiteren Reisegebeten in einem handschriftlichen Gebetbuch des späten 9. Jahrhunderts bezeugt. Vgl. Stephan W A L D H O F F , Memoria im privaten Beten des frühen Mittelalters. Anhand der Gebetstexte der Handschrift Paris, Bibl. Mazarine, ms. 512, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 38/ 39 (1996/ 97), S. 173‒250, hier 206 f., 214. 16 Vgl. Teodor P U S Z C Z , Das liturgische Gebet für Reisende und Pilger sowie Seefahrer. Ein Überblick bis zur Tridentinischen Liturgiereform (Ästhetik ‒ Theologie ‒ Liturgik 71), Berlin 2019, S.-33‒48. 17 Als frühestes östliches Zeugnis sind die Apostolischen Konstitutionen (c. 8.10) vom Ende des 4. Jahrhunderts zu nennen. Vgl. Balthasar F I S C H E R , Die Anliegen des Volkes im kirchlichen Stundengebet, in: D E R S ., Frömmigkeit der Kirche. Gesammelte Studien zur christlichen Spiritualität, hg. von Albert G E R H A R D S / Andreas H E I N Z (Hereditas 17), Bonn 2000, S.-216‒224, hier 217, 222 f. 18 Die Bitte für die Reisenden galt wohl als ein durchgängiges Gebetsanliegen der Gemeindeliturgie, wie die „Deprecatio Gelasii“, eine Fürbittlitanei am Anfang der Messe, und die „Orationes sollemnes“ der römischen Karfreitagsliturgie nahelegen. Vgl. Paul D E C L E R C K , La „prière universelle“ dans les liturgies latines anciennes. Témoinages patristiques et textes liturgiques (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 62), Münster 1977, S.-125‒144, 166‒187. 19 Vgl. Arnold A N G E N E N D T , Offertorium. Das mittelalterliche Meßopfer (Liturgiewissen‐ schaftliche Quellen und Forschungen 101), Münster 3 2014, S.-104‒113. 20 Ein frühes Beispiel ist das altgelasianische Sakramentar aus der Mitte des 8. Jahrhun‐ derts. Es enthält „Orationes ad proficiscendum in itinere“ und „Item orationes ad iter agendum“. Vgl. Liber Sacramentorum Romanae Aecclesie Ordinis anni circuli […]. In Verb. mit Leo E I Z E N H Ö F E R und Petrus S I F F R I N , hg. von Leo C. M O H L B E R G (Rerum ecclesiasticarum documenta. Series maior, Fontes 4), Roma 1960, S. 191‒193. ‒ Noch weitere Formulare bietet die auf Theodulf von Orléans (um 760‒820) zurückgehende umfangreiche Ergänzung des Sacramentarium Gregorianum Hadrianum. Vgl. Jean D E S H U S S E S , La Sacramentaire Grégorien. Ses principales formes d´après les plus anciens manuscrits. Édition comparative 1 (Spicilegium Friburgense 16), Fribourg 3 1992, S. 437‒ 439. ‒ Vgl. insgesamt die Analyse der Sakramentare bei P U S Z C Z , Gebet (wie Anm. 16), S.-49‒201. 21 Vgl. dazu ausführlich Jürgen B Ä R S C H , „Accipe et hunc baculum itineris“. Liturgie- und frömmigkeitsgeschichtliche Bemerkungen zur Entwicklung der Pilgersegnung im gemeindlichen Gottesdienst in Ost und West 16 , in das tägliche Stundengebet 17 ebenso wie in die Messliturgie 18 . Im Zuge der frühmittelalterlichen Religiosität, in der die Messe vor allem wegen ihrer einzigartigen Segenswirkung für alle möglichen Anliegen gefeiert wurde („Votivmessen“) 19 , entstanden spezielle Messformulare, in denen um Schutz und Wohlergehen und um eine sichere und rasche Heimkehr der Reisenden gebetet wurde 20 . Eine Fernreise wie eine Pilgerfahrt trat man nicht an, ohne zuvor in der Messe Gottes Schutz erfleht zu haben. So konnte es kaum ausbleiben, dass in einer ganz vom Segensverlangen bestimmten Religionswelt auch ein eigener Segen für die entstand, die aus religiösen Motiven heilige Stätten aufsuchten 21 . Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 61 <?page no="62"?> Mittelalter, in: D E R S , Liturgie im Prozess. Studien zur Geschichte des religiösen Lebens, hg. von Marco B E N I N I / Florian K L U G E R / Benedikt W I N K E L , Münster 2019, S.-187‒209. 22 Liber sacramentorum Gellonensis, hg. von Antoine D U M A S / Jean D E S H U S S E S (Corpus Christianorum. Series Latina 159‒159A), Turnhout 1981 (künftig: GeG). 23 Vgl. GeG 3058‒3059 (CChr. SL 159, S. 518 f.). Man nimmt an, dass die Formeln auf ein altspanisches Pilgerritual aus dem Sakramentar von Vich (11. Jh.) zurückgehen. Vgl. auch P U S Z C Z , Gebet (wie Anm.-16), S.-100‒102. 24 In nomine domini nostri iesu christi accipe hanc sportam ad [h]abitum peregrinacionis tue (GeG 3058). Accipe et [h]unc baculum itineris tui ac laboris [in] uiam peregrinacionis tue (GeG 3059). 25 Vgl. Leonie V O N W I L C K E N S , Die Kleidung der Pilger, in: Wallfahrt kennt keine Grenzen. Themen zu einer Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums, hg. von Lenz K R I S S -R E T T E N B E C K / Gerda M Ö H L E R , München/ Zürich 1984, S.-178‒180. 26 […] ut bene castigatus et bene salvatus adque emen[da]tus pervenire merearis ad limina beatorum Petri et Pauli (GeG 3058). 2. Die Segnung von Pilgerinnen und Pilgern im Mittelalter - 2.1 Die „Benedictiones pro peregrino“ im Sakramentar von Gellone Ein frühes Zeugnis findet sich im gallisch-fränkischen Gebetsgut des um 790/ 800 kompilierten, sogenannten „Sacramentarium Gellonense“ 22 . Unter dem Titel „[Benedictiones] pro peregrino“ finden sich zwei kurze Formeln 23 . Die erste beginnt: „Im Namen unseres Herrn Jesus Christus, empfange diese Tasche für deine Pilgerausrüstung“, die zweite ergänzt: „Empfange diesen Reisestab für die Mühe deines Pilgerweges“ 24 . Es geht also nicht um einen Segen über die Menschen, sondern um ein Begleitwort zur Übergabe der zwei Attribute Tasche und Stab. Dass sie aber keineswegs als reine Ausstattungsgegenstände überreicht werden 25 , sondern mit einer geistlich-symbolischen Bedeutung auf‐ geladen werden, zeigen die sich anschließenden Gebetswünsche. So bittet die erste Formel, der Pilger möge wohlbehalten den heiligen Ort erreichen und wieder unversehrt zurückkehren. Es bleibt aber nicht beim äußeren Schutz, wenn es weiter heißt, der Pilger solle gebessert, geheilt und geläutert zu den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus oder anderer Heiliger gelangen 26 . Die Tasche, man muss sich wohl eine Art Ledersack denken, die alles Nötige für unterwegs aufnahm, steht für den langen Pilgerweg. Dieser wiederum wird als ein spiritueller Weg gesehen, auf dem sich Umkehr und Erneuerung ereignen sollen. Hier sind es nicht die heiligen Orte, an denen gewissermaßen punktuell die geistliche Wandlung des Pilgers erbeten wird, es ist der Pilgerweg selbst, dem nach Aussage der Benediktion eine zentrale Rolle im geistlichen Geschehen der Wallfahrt zukommt. 62 Jürgen Bärsch <?page no="63"?> 27 […] ut deuincere ualeas omnes kateruas inimici et insidias eius […] (GeG 3059). 28 Hier kann auf die bekannte Predigt „Veneranda dies“ im „Liber sancti Jacobi“ verwiesen werden, die ausgehend von den Übergabeformeln Tasche und Pilgerstab weiter aus‐ deutet. Vgl. Der Jakobsweg. Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, übers. und komm. von Klaus H E R B E R S (Reclams Universal-Bibliothek 18580), Stuttgart 2008, S. 9‒46, hier 21‒24. Siehe dazu auch den Beitrag von Klaus H E R B E R S in diesem Band. 29 Vgl. Ildefons H E R W E G E N , Germanische Rechtssymbolik in der römischen Liturgie. Son‐ derausgabe (Libelli 66), Darmstadt 1962, S. 29‒35. Für neuere Studien ist zu verweisen auf: Paul T Ö B E L M A N N , Stäbe der Macht. Stabsymbolik in Ritualen des Mittelalters (Historische Studien 102), Husum 2011; Angelo L A M E R I , La traditio instrumentorum e delle insegne nei riti di ordinazione. Studio storico-liturgico (Ephemerides liturgicae, Bibliotheca, Subsidia 96), Rom 1998. Auch die zweite Formel zur Übergabe des Stabes verbindet den praktischen Gebrauch mit einem geistlichen Motiv, wenn betont wird, der Stab sei eine Hilfe in den Strapazen der Pilgerreise, um den feindlichen Nachstellungen zu widerstehen 27 . Als körperliche Stütze und als Verteidigungsmittel gegen angreifende Tiere steht der Stab für die Entbehrungen und Risiken des Weges. In der Benediktion wird ihm ein symbolischer Bezug zugesprochen als Zeichen für den inneren Kampf des Pilgers mit den nicht ausbleibenden Versuchungen angesichts der körperlichen und seelischen Belastungen unterwegs. Hier soll der im Namen Christi empfangene Stab die Kraft vermitteln, den Versuchungen der Sünde zu widerstehen. Die in den Segnungsformeln liegenden Motive für eine Pilgerfahrt sind demnach vor allem geistlicher Art. Es geht um innere Wandlung des Menschen, um ethische Besserung, um Vervollkommnung in der Nachfolge Christi. Und diese werden mit dem Pilgerweg selbst verknüpft. Die Vorstellung eines wunderbaren Geschehens von körperlicher oder seelischer Heilung am heiligen Ort ist zwar nicht ausgeschlossen, steht aber keineswegs im Zentrum. Umso mehr tritt aber das für die mittelalterliche Pilgerfahrt so bedeutsame Motiv der Umkehr, Buße und Versöhnung zutage. Beachtung verdient schließlich noch eine Beobachtung. Die Benediktionen lassen nicht nur eine Segnung der Pilgerinnen und Pilger vermissen. Ebenso wenig werden die beiden Gegenstände explizit gesegnet. Vielmehr handelt es sich um eine feierliche Überreichung von Tasche und Stab im Namen Christi, mit der sich die Gebetsbitten verbinden und die symbolisch gedeutet werden 28 . Solche Übergaben von Insignien oder Amtsinstrumenten begegnen auch in anderen rituellen Vollzügen. Sie sind aus der germanischen Rechtsvorstellung erwachsen, mit dem Amtsgerät werde auch das Amt übertragen oder erfolge die Investitur in einen Stand 29 . Hier deutet sich bereits an, dass auch die Segnung der Pilgerinnen und Pilger eine für das Mittelalter typische Entwicklung beschreitet, die dazu beitrug, im 10./ 11. Jahrhundert einen kirchlich sanktionierten und Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 63 <?page no="64"?> 30 Vgl. Francis G A R I S S O N , A propos des pèlerins et de leur condition juridique, in: Études d´histoire du droit canonique dédiées à Gabriel de Bras 2, Paris 1965, S. 1165‒1189, hier 1168‒1174; Louis C A R L E N , Wallfahrt und Recht, in: V O N W I L C K E N S , Wallfahrt kennt keine Grenzen (wie Anm.-25), S.-87‒100, hier 89 f. 31 So schon der Untertitel bei Norbert O H L E R , Pilgerleben im Mittelalter. Zwischen Andacht und Abenteuer, Freiburg/ Br. 1994. 32 Vgl. Reinhard M E S S N E R , Feiern der Umkehr und Versöhnung, in: Sakramentliche Feiern 1/ 2, hg. von D E M S ./ Reiner K A C Z Y N S K I (Gottesdienst der Kirche 7,2), Regensburg 1992, S.-9‒240, hier 158‒180. 33 Vgl. Cyrille V O G E L , Le pèlerinage pénitentiel, in: Pellegrinaggi e culto dei sancti in Europa fino alle prima crociata (Convegni del Centro di Studi sulla Spiritualità Medievale 4), Todi 1963, S.-39‒62. 34 Davon sprechen Bischof Gilbert von Limerick in seiner um 1100 verfassten Schrift „De statu ecclesiae“ (PL 159, Sp. 1000D) und Honorius Augustodunensis († 1150/ 60) in seiner Liturgieerklärung „Gemma animae“ 1,181 (PL 172, Sp. 599C-D). Vgl. dazu Georg S C H R E I B E R , Mittelalterliche Segnungen und Abgaben, in: D E R S ., Gemeinschaften des Mittelalters. Recht und Verfassung. Kult und Frömmigkeit (Gesammelte Abhandlungen 1), Münster 1948, S. 213‒282, hier 228, 247, 270, 275, 281 f. ‒ Eine wichtige kirchenrecht‐ liche Rolle spielte zudem der Pilgerbrief, mit dem ein Pfarrer sein Pfarrkind für die Zeit der Wallfahrt aus dem Pfarrbann entlassen musste, damit dieser unterwegs rechtmäßig die Sakramente empfangen konnte. Vgl. Wolfgang P E T K E , Der rechte Pilger. Pilgersegen und Pilgerbrief im späten Mittelalter, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken, hg. von Peter A U F G E B A U E R / Christiane V A N D E N H E U V E L (Veröffentlichungen der Historischen Kom‐ mission für Niedersachsen und Bremen 32), Hannover 2006, S. 361‒390; ein Exemplar von 1520 ist abgebildet und beschrieben in: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, hg. von Hartmut K Ü H N E / Enno B Ü N Z / Thomas T. M Ü L L E R , Petersberg 2013, S.-164-f. durch die „signa peregrinationis“ erkennbaren Pilgerstand auszubilden 30 . Mit ihm verknüpfte sich eine zunehmend formalisierte Pilgerliturgie. - 2.2 Die Pilgersegnung als pfarrliche Liturgie im Hoch- und Spätmittelalter Aus verschiedenen Gründen entwickelte sich seit der Jahrtausendwende die Pilgerfahrt zu einer populären Frömmigkeitspraxis. Neben „Andacht und Aben‐ teuer“ 31 spielte dabei auch die Bußliturgie eine Rolle. Weil nun Sündenbe‐ kenntnis, Bußerteilung und Rekonziliation in einem einzigen Akt erfolgte 32 , konnte sich eine Pilgerfahrt als Bußsatisfaktion anschließen 33 . Dies lag insofern nahe, da Umkehr und Versöhnung dem Wallfahrtsgeschehen schon immer als geistliche Dimensionen zugrunde lagen. Entsprechend traten diese Motive auch in der Pilgerliturgie nun vermehrt hervor. Zudem geriet die Pilgersegnung zu‐ nehmend zu einer regulär pastoral-liturgischen Aufgabe der Pfarrer 34 , weshalb 64 Jürgen Bärsch <?page no="65"?> 35 Vgl. das reichhaltige Material bei Adolph F R A N Z , Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Bd. 2, Freiburg/ Br. 1909 (Nachdruck Bonn 2006), S. 271‒289. ‒ Zum Buchtyp vgl. Martin K L Ö C K E N E R , Liturgische Quellen des Frühmittelalters, in: Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens. Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte und kulturelle Kontexte 1: Von der Antike bis zur Neuzeit, hg. von Jürgen B Ä R S C H / Benedikt K R A N E M A N N , in Verb. mit Winfried H A U N E R L A N D / Martin K L Ö C K E N E R , Münster 2018, S.-293‒328. hier 313-f. 36 Vgl. etwa Johann Geiler von Kaysersberg, Der Pilger, Augsburg (Zeissenmayr) 1499; hier nach V O N W I L C K E N S , Kleidung (wie Anm.-25), S.-174. 37 Vgl. Peter B R O W E , Zum Kommunionempfang des Mittelalters, in: D E R S ., Eucharistie (wie Anm. 1), S. 19‒31, hier 29. ‒ Anselm von Canterbury, Ep. III, n. 66, etwa empfahl, eine Generalbeichte abzulegen. Vgl. Migne, PL 159, Sp. 104; Liturgisch Woordenboek 1, hg. von L. B R I N K H O F F , Roermond 1958‒1962, Sp. 225‒227, hier 226. 38 Vgl. Adolph F R A N Z , Die Messe im deutschen Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der Liturgie und des religiösen Volkslebens, Freiburg/ Br. 1902 (Nachdruck Bonn 2003), S.-216 f. 39 „Benedictio perarum et baculorum“, in: Das Rituale von St. Florian aus dem 12. Jahr‐ hundert. Mit Einleitung und Erläuterungen, hg. von Adolph F R A N Z , Freiburg/ Br. 1904, S. 113‒115, 178 f. ‒ Ausführlicher zu diesem Benediktionsformular vgl. B Ä R S C H , „Ac‐ cipe…“ (wie Anm.-21), S.-203‒205; jetzt auch P U S Z C Z , Gebet (wie Anm.-16), S.-394‒401. 40 Zur Bedeutung der Bußpsalmen für die Pilgerfahrt vgl. Michael S. D R I S C O L L , The Seven Penitential Psalms: Their Designation and Usages from Middle Ages Onwards, in: Ecclesia Orans 17 (2000), S.-153‒201, hier 191‒193. 41 Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm.-39), S.-113. sich in dem zu jener Zeit entstehenden Buchtyp „Rituale“ fast immer eine gottesdienstliche Ordnung für die Pilgerbenediktion findet 35 . Wie muss man sich das Geschehen vorstellen? Bevor sich jemand auf die Pilgerreise begab, war er angehalten, seine Schulden zu bezahlen, sein Testa‐ ment zu machen und durch Stiftungen für sein Seelenheil vorzusorgen. Er sollte sich von seinem Gesinde verabschieden, mit seinen Feinden versöhnen und die entsprechende Ausrüstung besorgen 36 . Ebenso galten die sakramentale Beichte und der Kommunionempfang als unverzichtbare geistliche Vorbereitung 37 . Am Tag der Abreise trat der Pilger in die Pfarrkirche, wo ihn der Pfarrer am Altar empfing. Hier legte er Tasche und Stab nieder. Nach einer Messe zu Ehren der beliebten Reisepatrone, dem Erzengel Raphael oder den Heiligen Drei Königen 38 , erfolgte die Pilgersegnung. Ihre mittelalterliche Form lässt sich exemplarisch im Rituale von St. Florian aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts greifen 39 . Nachdem sich der Pilger auf den Boden geworfen hatte, betete der Pfarrer die sieben Bußpsalmen 40 , ergänzt um den Psalm 91 (Wer im Schutz des Höchsten wohnt), der das Weg- und Schutzmotiv mit dem Gedanken der Buße verbindet 41 . Dann erfolgte die Benediktion von Tasche und Stab. Sie bestand aus einem Eröffnungsgebet, das sich an Christus wendet und ausgehend vom Aussendungsbefehl, wonach die Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 65 <?page no="66"?> 42 Es handelt sich um die Oration Domine Iesu Christe, mundi redemptor. Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm.-39), S.-114. 43 Signaculum dei patris. Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm.-39), S.-114. 44 Deus, qui dispersa congregas. Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm.-39), S.-114. 45 Advenerunt nobis dies penitentiae; Commendemus nosmeipsos. Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm.-39), S.-114. 46 In nomine domini nostri Iesu Christi. Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm. 39), S. 114. 47 Dominus regit me. Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm.-39), S.-114. 48 Es ist davon auszugehen, dass die Pfarrei die Pilgerreise eines Pfarrangehörigen fürbittend-geistlich begleitete und ihn dann bei seiner Rückkehr in einem eigenen Ritual wieder bei sich aufnahm. Vgl. B Ä R S C H , Liturgien (wie Anm.-7), S.-33-f. 49 Omnipotens sempiterne deus, humani generis reformator et auctor. Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm.-39), S.-115. Jünger nur einen Wanderstab mitnehmen sollen (vgl. Mk 6,8), um die Segnung von Tasche und Stab sowie um die Fülle der Gnade und um den himmlischen Schutz für den Aufbrechenden bittet 42 . Das sich anschließende Segensgebet über Tasche und Stab betont, dass diese als Ausweis seines Standes den Pilger gegen jegliche menschliche und dämonische Nachstellungen schützen sollen 43 . Ein weiteres Gebet erfleht die Fürbitte der Gottesmutter Maria und des Heiligen, zu dessen Grab der Pilger aufbricht 44 . Nach weiteren Buß-Antiphonen, die von der Standhaftigkeit in den Mühsalen der Pilgerfahrt sprechen 45 , werden die Pilgerattribute mit den Begleitworten überreicht, die im Wesentlichen auf die bekannten Formeln im Sakramentar von Gellone zurückgehen 46 . Damit endet das Ritual nicht. Ein zweiter Teil richtet sich nun auf den Pilger selbst. Es beginnt mit dem Psalm 23 (Der Herr ist mein Hirt) 47 . Der in der 1. Person Singular formulierte Psalm lässt den Pilger gewissermaßen selbst sprechen. Er ist es, der auf den guten Hirten vertraut, weil er ihn auf den Pfaden der Gerechtigkeit führt und auch im finsteren Tal nicht allein lässt, denn dein Stock und dein Stab, sie trösten mich. Der Psalm, der mit der Heimkehr ins Haus des Herrn endet, blickt in die erwartete Zukunft einer glücklichen Rückkehr von der Pilgerreise, die in der Kirche, dem irdischen Haus des Herrn, rituell ihr Ende findet 48 . Zugleich aber trägt der Psalm eine weitere Deutungsebene ein, wenn er die Heimkehr eschatologisch versteht als Weg, der in die Vollendung Gottes führt. Das dann an Gott gerichtete Gebet stellt den Aufbruch des Pilgers und seinen Weg in den Raum der Heilsgeschichte 49 . Wie Abraham in das Land der Verheißung aufbrach und wie das Volk Israel unter Gottes Führung durch die Wüste zog, um zur Anbetung Gottes zu finden, soll auch der Pilger aus allen Gefahren befreit und aus allen Verstrickungen der Sünde erlöst werden, um am Ziel des Weges Gott anzubeten ‒ am heiligen Ort als Ziel seiner Pilgerfahrt, im Himmel als Ziel seiner irdischen Existenz. Dies drückt sich im Ritual noch 66 Jürgen Bärsch <?page no="67"?> 50 Darauf folgen noch zwei kurze Orationen, mit denen die Benediktion dann endet. Vgl. F R A N Z , Rituale St. Florian (wie Anm.-39), S.-115. 51 Vgl. Peter W E L T E N u. a., Buße II-IV, in: Theologische Realenzyklopädie 7 (1981), S. 433‒ 451. einmal explizit aus, wenn sogleich der Gesang des „Benedictus“ (Lk 1,68‒79) angestimmt wird 50 . Überblickt man die mittelalterliche Pilgersegnung im Blick auf die erkenn‐ baren geistlichen Motive der Wallfahrt, fällt zweierlei auf. Zum einen wird der Gedanke von Buße, Umkehr und Versöhnung weiter profiliert, woran dann auch Buß-, Straf- und Sühnewallfahrten anknüpfen können. Pilgerschaft wird buchstäblich als ein Weg verstanden, der zu einer neuen Ausrichtung auf Gott führen soll. Dabei handelt es sich um das, was die Heilige Schrift „metanoia“ nennt, eine Grundkategorie jüdisch-christlichen Glaubens 51 . Es geht darum, sich mittels der Wanderung einem inneren Wandlungsprozess auszusetzen, der den Menschen anders zurückkehren lässt, als er wegging: geläutert, gebessert und gestärkt, im Alltag der Nachfolge Jesu zu entsprechen. Diese komplexe Transformation, die ihn wieder neu heil werden lässt, gründet letztlich im Wirken Gottes, um das gebetet werden muss. Eine zweite Figur lässt sich in der Pilgersegnung erkennen. Die Gebete und Gesänge stellen den Pilger nämlich in den Raum der Heilsgeschichte. Sein Pilgerweg macht ihn gleichzeitig zum Ursprung. Die erlebte Zeit der Pilgerfahrt ist Heilszeit. Pilgerfahrt ist ‒ theologisch gesprochen ‒ ein anamnetisches Geschehen. Die Benediktionsliturgie verknüpft den aktuell sich auf den Weg machenden Pilger mit den großen Glaubensgestalten wie Abraham, das Volk Israel, die Apostel. Indem er selbst unterwegs ist, nimmt er an ihren Wegen teil. Dass ihm im Ritual die biblischen Worte (Psalmen, Antiphonen, „Benedictus“) in den Mund gelegt werden, er gewissermaßen mit ihnen singt und spricht, unter‐ streicht diese anamnetische Dimension. Die mittelalterliche Pilgerbenediktion richtet ihre Aufmerksamkeit nicht auf den heiligen Ort, die wundertätige Stätte, mit der vor allem irdische Erwartungen und Wirkungen verbunden werden, sondern auf das Geschehen des Pilgerns an sich. Ob und wie die Zeitgenossen diese vielschichtigen Dimensionen der mittel‐ alterlichen Pilgerbenediktion wahrgenommen haben, ist aufgrund der Quellen‐ situation nicht leicht zu beantworten. Man darf aber wohl vermuten, dass sie weniger mit dem Pilgerweg, denn mit dem Pilgerziel durchaus sehr konkrete, auch materiell-körperliche Heilserwartungen verbanden. Vor allem vom Kon‐ takt mit dem Heiligen, visuell oder gar haptisch, etwa bei Heiltumsweisungen oder Segnungen mit den Reliquien, erhoffte man sich geradezu wunderbare Wir‐ kungen. Wie umgekehrt ein Heiliger auch körperlich strafen konnte. So führte Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 67 <?page no="68"?> 52 Vgl. Friedrich L U R Z , Erlebte Liturgie. Autobiografische Schriften als liturgiewissen‐ schaftliche Quellen (Ästhetik ‒ Theologie ‒ Liturgik 28), Münster 2003, S.-127. 53 Vgl. O H L E R , Pilgerleben (wie Anm.-31), S.-184. 54 Regest 1207, 20. Juni, Nr. 75, in: Die Register Innozenz III. 10: 10. Pontifikatsjahr 1207/ 08. Text und Indices bearb. von Andrea S O M M E R L E C H N E R / Rainer M U R A U E R u. a. (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, 2. Abt. Quellen, Reihe 1), Wien 2007. 55 Vgl. A N G E N E N D T , Heilige (wie Anm.-11), S.-155‒158. der Kölner Ratsherr Hermann Weinsberg (1518‒1597) in seinem Gedenkbuch den Krankheitsrückfall eines Mitbürgers auf dessen Spott über eine Wallfahrt zurück 52 . Damit rückt das Wallfahrtsziel in den Blickpunkt. Und es ist zu fragen, wie sich hier die Formen der Pilgerliturgie gestalteten. 3. Formen der Pilgerliturgie am Wallfahrtsziel Zweifellos bildete das Erreichen des heiligen Ortes den Höhepunkt der gefahr‐ vollen und oft ungewissen Pilgerreise. Schon die in der Ferne auftauchende Silhouette der das Heiligtum bergenden Stadt wird auf die Pilgerinnen und Pilger euphorisch gewirkt haben. Man hielt inne, freute sich das Ziel vor Augen zu haben und beugte das Knie, um ein Gebet zu sprechen oder ein Lied anzustimmen 53 . Am Ziel angekommen, eilte man in die Kirche, zum Grab oder Schrein des Heiligen. Nach dem Vorbild der Vigil, der liturgischen Nachtwache, blieb man mit den zahlreichen Pilgerinnen und Pilgern eine ganze Nacht in der Nähe des Heiligen. Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur beteten, sangen Lieder, spielten Musik, hielten Kerzen in Händen, rezitierten Psalmen. Es konnte freilich auch weniger fromm zugehen. Nach wiederholter Entweihung der Jakobskirche durch Totschlag und Körperverletzung bei nächtlichen Strei‐ tigkeiten zwischen Pilgern erlaubte Papst Innozenz III. (1198‒1216) Erzbischof Peter von Compostela die Rekonziliation in einfacher Form durch Weihwasser, Wein und Asche vorzunehmen 54 . Da man die wirkmächtige Kraft der Heiligen, ihre virtus, in ihren irdischen Überresten gespeichert sah, erschien es wesentlich, mit ihnen in Berührung zu kommen, sei es optisch, durch die visuelle Inkorporation, sei es haptisch, durch möglichst unmittelbaren taktilen Kontakt 55 . Damit verknüpften sich verschiedene rituelle Formen, mittels derer die Heilskraft aufgenommen werden konnte: Berühren, Bestreichen, Umarmen, Küssen, auch Durchkriechen unter dem Reliquienschrein oder ein Sich-davor-Niederwerfen, stets verbunden mit 68 Jürgen Bärsch <?page no="69"?> 56 Vgl. Renate K R O O S , Vom Umgang mit Reliquien, in: Ornamenta ecclesiae. Kunst und Künstler in der Romanik in Köln, Bd.-3: Ausst.-Kat., hg. von Anton L E G N E R , Köln 1985, S.-25‒49, hier 30‒32. 57 Vgl. Kroos, Umgang (wie Anm.-56), S.-33 f. 58 Vgl. Hartmut K Ü H N E , Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbrei‐ tung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum (Arbeiten zur Kirchengeschichte 75), Berlin/ New York 2000. 59 Vgl. K R O O S , Umgang (wie Anm.-56), S.-37 f. 60 Vgl. Jürgen B Ä R S C H , Auf den Spuren der Sebaldusverehrung in Liturgie und Frömmigkeits‐ praxis. Bestandsaufnahme historischer Zeugnisse aus Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Sebaldus. Einsiedler und Nürnberger Stadtpatron in Legende, Geschichte und Gegenwart, hg. von Martin B R O N S / Kathrin M Ü L L E R (Klosterwelten 3), Münster 2023 [im Druck]. 61 Man denke etwa nur an die Reliquiensammlungen eines Friedrich des Weisen von Sachsen (1483‒1525) in Wittenberg oder eines Albrechts von Brandenburg (1490‒1545) in Halle. Vgl. A N G E N E N D T , Heilige (wie Anm.-11), S.-161-f. 62 Vgl. Dáihibi Ó C R ÓI N Í N , Patrick, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), Sp. 1791 f., hier 1792; Margit W A G N E R , Tradition der Askese bei Wallfahrten in Irland, in: K R I S S -R E T T E N ‐ B E C K / M ÖH L E R , Wallfahrt kennt keine Grenzen (wie Anm.-25), S.-45‒54, hier 46‒52. einem Stoßgebet, das die Fürbitte des Heiligen erflehte 56 . Wichtig wurden auch materielle Träger, die die Segenskraft gewissermaßen aufsogen: Tücher, die über Nacht auf dem Heiligengrab lagen, Wasser, das über die Reliquien lief und zum Trinken, Waschen oder Versprengen diente 57 . Um dem Verlangen nach visueller Inkorporation entgegen zu kommen, wurden seit dem 14. Jahr‐ hundert Reliquien sichtbar gemacht, in eigenen Heiltumsweisungen öffentlich präsentiert und in einen gottesdienstlichen Rahmen gestellt 58 . In diesen Zusam‐ menhang gehören die unzähligen Reliquienprozessionen 59 . Auch hier suchten die Menschen unkonventionell den Kontakt mit den Heiligen, wenn etwa von der Sebaldusprozession in Nürnberg berichtet wird, dass das Volk während des Zuges immer wieder unter dem Heiligenschrein hin und her schlüpfte 60 . Kurzum, es ging bei all diesen Riten stets darum, die Segensmacht der Hei‐ ligen für sich nutzbar zu machen. Erhoffte man sich doch geradezu wunderbare Wirkungen für Leib und Seele, für das irdische Wohlergehen, in der Verscho‐ nung vor Krankheit und Unglück. Als Heilsträger gerieten die Reliquien damit allerdings in theologische Konkurrenz zu den Sakramenten, weshalb Thomas von Aquin (1225‒1274) mit seiner Kritik die Reliquien im Grunde „entzauberte“. Gleichwohl steigerte sich ihre Verehrung bis in die Reformationszeit hinein und zwar schichtenübergreifend 61 . Aber man suchte nicht nur die Wunderkraft der Heiligen an ihren Gräbern. Auf der Insel Lough Derg im Nordwesten Irlands wusste man sich in finibus mundi. Hier befand sich das sogenannte Purgatorium Sancti Patricii, eine Höhle, die einen Blick ins Jenseits versprach und in der sich nach zahlreichen Berichten wunderbare Erscheinungen abspielten 62 . Was hier die Menschen anzog, war die Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 69 <?page no="70"?> 63 Vgl. Peter D I N Z E L B A C H E R , Himmel, Hölle, Heilige. Visionen im Mittelalter, Darmstadt 2002, S.-86 f., 102 f. 64 Vgl. D I N Z E L B A C H E R , Himmel (wie Anm. 63), S. 102; W A G N E R , Tradition (wie Anm. 62), S. 49; Katherine W A L S H , Pilger, denen Santiago nicht genügte. Spätmittelalterliche Bußfahrten zum Purgatorium Sancti Patricii, in: Stadt und Pilger. Soziale Gemeinschaften und Heili‐ genkult, hg. von Klaus H E R B E R S (Jakobus-Studien 10), Tübingen 1999, S.-69‒108, hier 80. Erwartung, von sämtlichen Sünden gereinigt zu werden, um den erwarteten postmortalen Strafqualen des Fegfeuers zu entgehen 63 . Um überhaupt den gefahrvollen Weg ins Jenseits wagen zu können, mussten sich die Pilger einer umfangreichen liturgischen Vorbereitung unterziehen. Beichte, Ableistung des Bußwerkes, strenges Fasten und Barfüßigkeit waren obligatorisch. An den letzten Tagen vor dem Eintritt in die Höhle lag der Pilger morgens und abends wie ein Toter auf einer Bahre mitten im Mönchschor, der über ihn das Totenoffizium sang und das Requiem für ihn feierte 64 . Diese makaber anmutende Prozedur gründete auf wirkkräftigen Vorstel‐ lungen. Weil dem Menschen der Blick ins Jenseits verwehrt ist und seine Seele erst nach dem Tod diese Schwelle zu überschreiten vermag, versetzten die Riten der Totenliturgie den Pilger symbolisch in den Stand der Toten. Er gehörte eine zeitlang nicht mehr zu den Lebenden. Zugleich schützte ihn die Liturgie, um gefahrlos die Grenze des irdischen Lebens überwinden zu können. Dahinter steht die urreligiöse Überzeugung, dass der unmittelbare Kontakt mit dem Göttlichen den Menschen überwältigt, ihn gefährdet und todbringend sein kann. Deshalb kommt der Liturgie mit ihren Elementen Buße und Fürbitte die Funktion zu, die Begegnung mit dem Heiligen vorzubereiten und den Wandlungs- und Reinigungsprozess im Heiligtum einzuleiten. Zugleich war damit schon symbolisch vorweggenommen, was im Mittelalter jedermann erhoffte: nicht unvorbereitet zu sterben und mit Gebet und Gottesdienst ins Jenseits geleitet zu werden. Noch einmal zeigen sich im Spiegel rituell-liturgischer Vollzüge zwei Motive der mittelalterlichen Pilgerfahrt. Man erwartete das Heil und die Heilung der Seele durch Buße, Umkehr und Versöhnung, aber ebenso hoffte man auf das Heil und die Heilung des leiblich-irdischen Lebens. Wie sich dies im Zuge der frühneuzeitlichen Wallfahrtsgeschichte modelliert, soll im letzten Abschnitt angesprochen werden. 70 Jürgen Bärsch <?page no="71"?> 65 Zur Kritik am Pilgerwesen vgl. oben Anm.-4. 66 Konzil von Trient, 25. Sessio (3.‒4.-Dezember 1563): „Die Feste der Heiligen und Reliqui‐ enwallfahrten sollen die Leute nicht zu Freß- und Saufgelagen verkommen lassen, als seien die Festtage zu Ehren der Heiligen durch Luxus und Ausschweifung zu begehen. Schließlich wird von den Bischöfen auf diesen Bereich so große Sorgfalt und Mühe verwendet, daß nichts Ungeordnetes oder auf Unruhe und Tumult Angelegtes, nichts Profanes und nichts Anstößiges geschieht; denn dem Hause Gottes gebührt Heiligkeit.“ Über Heiligen- und Reliquienverehrung. Heilige Bilder, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien 3: Konzilien der Neuzeit, hg. von Josef W O H L M U T H , Paderborn 2002, S.-776. 67 Zu den sozialen und kulturellen Dimensionen der Wallfahrt im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Peter H E R S C H E , Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Bd. 2, Freiburg/ Br. 2006, S. 794‒845; D E R S ., Die profanen Riten der Wallfahrt, in: Liturgisches Jahrbuch 61 (2011), S.-64‒83. 68 „Benedictio peregrinorum ad loca sancta prodeuntium“ und „Benedictio peregrinorum post reditum“, in: Rituale Romanum. Editio princeps (1614). Edizione anastatica, Introduzione e Appendice a cura di Manilo S O D I / Juan J.F. A R C A S (Monumenta Liturgica Concilii Tridentini 5), Città del Vaticano 2004, S.-155‒157 (Nr.-630‒644); Rituale Romanum (1952) Tit. VIII, n. 11‒12. ‒ Zur Sache vgl. B Ä R S C H , Liturgien (wie Anm.-7), S.-38‒40. 69 Vgl. H E R S C H E , Muße 2 (wie Anm.-67), S.-817‒826. 4. Die Wallfahrt als nachtridentinisch geordnete Liturgie Unter dem Eindruck der fundamentalen Ablehnung des Pilgerns seitens der Reformatoren 65 , aber auch der vom Konzil von Trient (1545‒1563) angeprangerten Missstände 66 wandelte sich im Zeitalter der Konfessionalisierung das Wallfahrts‐ wesen. Einerseits nahm es im Barock einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung an und prägte die katholische Kultur dieser Zeit, andererseits traten an die Stelle der weit entfernt liegenden Pilgerorte nun vermehrt Wallfahrtsziele, die in ein oder zwei Tagen erreichbar waren 67 . Damit veränderten die Wallfahrten ihren Charakter. Sie waren nun in die Reform des kirchlichen Lebens einbezogen und sollten zu einer neuen Prägung der Frömmigkeit des Klerus und der Gläubigen führen. All dies blieb nicht ohne Einfluss auf das rituelle Gefüge der Wallfahrt. So nahmen das nachtridentinische Rituale Romanum 1614 und in seinem Gefolge die Diözesanritualien des 17. bis 19. Jahrhunderts weitgehend das überlieferte Gut der mittelalterlichen Pilgersegnung auf. Allerdings hatte das römische Buch die Segnung und Übergabe der Pilgerinsignien ersatzlos ge‐ strichen und zugleich das so beherrschende Bußmotiv praktisch eliminiert 68 . Möglicherweise reagierte man damit auf die nun propagierten Nahwallfahrten, deren Ziel möglichst nur eine Tagesreise weit entfernt sein sollte, um jegliches profane Treiben zurückzudrängen oder ganz zu unterbinden 69 . Hier musste eine Segnung von Pilgerstab und -tasche obsolet erscheinen, wie auch der Gedanke der Buße weitgehend zurücktrat. Standen doch im Mittelpunkt der nachtri‐ dentinischen Wallfahrt eher Sakramentenempfang, Ablassgewinnung und vor Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 71 <?page no="72"?> 70 Vgl. im Überblick H E R S C H E , Muße 2 (wie Anm. 67), S. 833‒838. - Als Beispiel für ein neu aufgefundenes, eingehend analysiertes Mirakelbuch kann hingewiesen werden auf Fritz W A G N E R , Die Wallfahrt zu Unserer Lieben Frau in den Rosen auf dem Geiersberg in Deggendorf. Untersuchungen zu Geschichte, Brauchtum, Finanzen und Sozialge‐ schichte, Regensburg 2020. Zu den Votiv- und Weihebildern grundlegend vgl. Lenz K R I S S -R E T T E N B E C K , Ex voto. Zeichen, Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum, Zürich/ Freiburg/ Br. 1972; Ex Voto: Votive Giving Across Cultures, hg. von Ittai W E I N R Y B (Cultural Histories of the Material World), New York 2016. 71 Rituale Monaco-Frisingense juxta normam et ritum ecclesiae Romanae […] Monachii (Hübschmann) 1840. ‒ Zu dieser Ausgabe vgl. Bernhard M A T T E S , Die Spendung der Sakramente nach den Freisinger Ritualien (Münchener theologische Studien. Systema‐ tische Abt. 34), München 1967, S.-84‒88. 72 Pars 3: Ritus, certis festis, temporibus, locis et devotionibus assignati. Caput II: De Processionibus et Peregrinationibus, tam ordinariis, quam extraordinariis. Art I befasst sich mit den Oberservationes generales, et regulae de Processionibus et Peregrinationibus. Nach den Abschnitten über die Prozessionen wird in Art. IV De Peregrinationibus angeschlossen. Vgl. Rituale Monaco-Frisingense (wie Anm.-71), S.-671‒764. 73 Vgl. Alois D Ö R I N G , Wallfahrtsleben im 18. Jahrhundert, in: Hirt und Herde. Religiosität und Frömmigkeit im Rheinland des 18. Jahrhunderts, hg. von Frank Günter Z E H N D E R (Der Riss im Himmel 5), Köln 2000, S.-37‒58, hier 42. 74 Vgl. H E R S C H E , Muße 2 (wie Anm. 67), S. 820 f.; Andreas H O L Z E M , Christentum in Deutschland 1550‒1850. Konfessionalisierung ‒ Aufklärung ‒ Pluralisierung, Bd. 1, Paderborn 2015, S.-459‒469. 75 Vgl. Rituale Monaco-Frisingense (wie Anm.-71), S.-760 f. allem die Hoffnung auf Gebetserhörung in den zahlreichen Lebensbedrohungen. Schwere Krankheiten, Geburtsnöte, Sorgen um Kinder und Haustiere, Unfälle und lebensgefährliche Situationen bestimmten die Motive der Pilgerinnen und Pilger, wie Mirakelbücher und Votivbilder an den seit dem 17. Jahrhundert explosionsartig vermehrten Wallfahrtsorten bezeugen 70 . Wie sehr die Wallfahrt ritualisiert und Teil der nun streng geordneten Liturgie wurde, wird exemplarisch am Rituale von München-Freising 1840 sichtbar 71 . Es ist bereits bezeichnend, dass im dritten Teil des Buches unter Caput II Prozessionen und Wallfahrten gleichermaßen behandelt werden 72 . Denn die Wallfahrt sollte nicht nur nach dem Vorbild der Prozessionen gestaltet werden 73 , sie stellte selbst eine spezielle Form der Pfarrprozession dar. Nach dem Willen der Reformer bot die vom Klerus geleitete Prozession am ehesten die Gewähr, dass der Wallfahrtszug andächtig, ehrfürchtig und geordnet von statten ging 74 . Wallfahrt ist nun ein Geschehen, das dem kirchlichen Regelwerk der Liturgie unterworfen und damit dem Handeln der Laien entzogen ist. Der Pfarrer musste die Wallfahrt nicht nur erlauben, er oder ein beauftragter Priester hatte Leitung und Aufsicht zu übernehmen. Das München-Freisinger Rituale weist eigens darauf hin, geeignete Vorbeter und Vorsänger zu bestimmen, Gesänge und Gebete auszuwählen und bei Missbrauch unverzüglich einzuschreiten 75 . 72 Jürgen Bärsch <?page no="73"?> 76 Vgl. Rituale Monaco-Frisingense (wie Anm.-71), S.-761‒763. 77 Vgl. Rituale Monaco-Frisingense (wie Anm.-71), S.-539 f., 674, 761. 78 Vgl. Fritz D O M M A N N , Der Einfluß des Konzils von Trient auf die Reform der Seelsorge und des religiösen Lebens in Zug im 16. und 17.-Jahrhundert, Stans 1966, S.-453 f. 79 „Es war üblich, sich in einem geordneten Kreis zu formieren, wobei die Frauen vorn, die Männer hinten zum Gebet niederknieten.“ Dies schildert das Pilgerbuch „Geistlicher Aufzug“ (1757). Vgl. D Ö R I N G , Wallfahrtsleben (wie Anm.-73), S.-43. 80 Vgl. Rituale Monaco-Frisingense (wie Anm.-71), S.-761‒763. 81 Vgl. H E R S C H E , Die profanen Riten (wie Anm.-67). Welche geistlichen Motive sollten nun ‒ zumindest idealiter ‒ die Wallfahrts‐ liturgie bestimmen? Nach dem Ordo publice et processionaliter peregrinantium  76 versammelte man sich in der Pfarrkirche zur Messe und zum Pilgersegen, der die bekannten biblischen Vorbilder Abraham, Israel und die Sterndeuter aufgreift und darum bittet, die Pilgerschar möge sicher geführt, vor allen Widerwärtigkeiten geschützt und unter Geleit des Engels das Ziel ihrer Reise erreichen und in den Hafen des ewiges Heils gelangen 77 . Spezifische Motive der Pilgerfahrt werden nicht genannt. Nach der Ermahnung, wie die Gläubigen sich auf dem Weg zu verhalten haben, setzt sich der Zug, getrennt nach Männern und Frauen, mit voran getragenem Kreuz, mit Fahnen, Kerzen und Schellen in Bewegung 78 . Beim Auszug erklingt unter dem Geläut der Glocken das Veni Creator Spiritus, um den geistlichen Charakter des folgenden Gesche‐ hens hervorzuheben. Auf dem gesamten Weg wird gesungen und gebetet: Kirchenlieder, Litaneien, Gesätze des Rosenkranzes wechseln einander ab. Wird gerade nicht gemeinsam gesungen und gebetet, ist jeder angehalten, still für sich das Leben Jesu, Mariens oder anderer Heiliger zu betrachten. Kommt man an Wegkreuzen, Bildstöcken oder Kapellen vorbei, hält man wie bei anderen Prozessionen eine Statio 79 . Dass trotz aller Disziplinierungsmaßnahmen diese strenge Ordnung keineswegs von allen eingehalten wurde, zeigt der Hinweis in unserem Rituale, wonach Gelächter, Streitigkeiten, Raufereien und andere Ungeziemtheiten sofort zu unterbinden seien. Zudem habe der Pfarrer die Übeltäter auch öffentlich zu verwarnen 80 . Dies übersah freilich, dass es den Gläubigen keineswegs ausschließlich um den religiösen Aspekt ging. Für sie waren Wallfahrten eben auch Freizeiterlebnisse, Anlässe für soziale Kontakte und Nachrichtenaustausch, für Unterhaltung und Heiratsanbahnung 81 . Gemäß dem barockzeitlichen Sinn für Inszenierungen wurde die Ankunft am Gnadenort gezielt arrangiert. Bei der Kölner Fußwallfahrt nach Walldürn Ende des 18. Jahrhunderts zog man erst nach Einbruch der Dunkelheit mit kleinen Wachslichtern in der Hand in die Kirche. Das zweifellos eindrucks‐ volle Schauspiel intensivierte die geradezu mystische Begegnung mit dem Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 73 <?page no="74"?> 82 Vgl. D Ö R I N G , Wallfahrtsleben (wie Anm.-73), S.-43 f. 83 Mit dem Brauch des „Anrührens“ von Wallfahrtsandenken an Reliquien, Gnadenbildern o.Ä. verband sich der Gedanke, der physische Kontakt mit dem Heiligen vermittle dessen heilend-segnenden Kräfte und mache die Devotionalien zu „geweihten“ Ge‐ genständen. Vgl. Andreas H E I N Z , Gesegnete „Andachtsgegenstände“ ‒ Die kirchliche Benediktion und das „Anrühren“ von Devotionalien, in: Zwischen Andacht und An‐ denken. Kleinodien religiöser Kunst und Wallfahrtsandenken aus Trierer Sammlungen. Ausst.-Kat., hg. von Elisabeth D Ü H R / Markus G R O ẞ -M O R G E N , Trier 1992, S. 31‒38, hier 33‒38. 84 Vgl. H E R S C H E , Muße 2 (wie Anm. 67), S. 879‒886 sowie Elfriede G R A B N E R , Die kleine „Hausapotheke“. Himmlische und irdische „Arzneimittel“ zur Heilung irdischer Leiden, in: Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen und Andachtsbildchen. Ausst.-Kat., hg. von Peter K E L L E R , Salzburg 2010, S. 44‒47 und Christoph K Ü R Z E D E R , Als die Dinge heilig waren. Gelebte Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Regensburg 2005. 85 Heinrich W E B E R , Coesfeld um 1800 ‒ Erinnerungen des Abbé Baston (Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld 3), Coesfeld 1961, S.-77. 86 Vgl. H O L Z E M , Christentum 1 (wie Anm.-74), S.-437‒440. Gnadenbild und verlieh der persönlichen Gebetsbitte eine sakrale Aura 82 . Am Wallfahrtsziel gehörten festliche Messe mit Pauken und Trompeten, emotionale Wallfahrtspredigt und volkssprachliche Segensandacht zum festen Bestand. Zentral für die religiöse Wirkungserwartung der meisten Teilnehmenden war das Anrühren von Devotionalien am Gnadenbild 83 , die als „aufgeladenes“ Mit‐ bringsel die „geistliche Hausapotheke“ daheim bereicherten 84 . Bei der Coesfelder Kreuztracht um 1800 beobachtete der französische Priester Abbé Baston (1741‒ 1825): Eine der am meisten vorkommenden Übungen ist es, es [das Kreuz] von oben bis unten mit Taschentüchern oder anderen linnenen Tüchern zu bestreichen, die man dann auf die von Krankheit befallenen Körperteile legt […]. Das Bestreichen des Kreuzes ist nicht ein einfaches Berühren, sondern ein sehr starkes und oft wiederholtes Reiben, als wenn diese guten Leute der Meinung wären, aus dem Gegenstand ihrer Verehrung um so mehr heilende Eigenschaften zu ziehen, je länger und je stärker sie es reiben 85 . Die Hoffnung auf eine wunderbare Gebetserhörung, das vitale religiöse Inter‐ esse der Gläubigen verband sich in der Wallfahrtspraxis mit den Strategien der nachtridentinischen Pastoral. Denn Beichte (nicht beim eigenen Pfarrer), Kommunionempfang und intensive Frömmigkeit sollten die Wallfahrt für alle Teilnehmenden zu einer individuellen Gnadenerfahrung machen 86 . Mit anderen Worten: Die „zentraldirigierte Wallfahrt“ band äußere Disziplinierung und innere Rationalisierung der Glaubensvorstellungen zusammen, in der „das Wunder an frommes und konformes Handeln, an Gang und Gebet, an Beichte, 74 Jürgen Bärsch <?page no="75"?> 87 H O L Z E M , Christentum 1 (wie Anm. 74), S. 464; vgl. Renate D Ü R R , Confession as an Instrument of Church Discipline: A Study of Catholic and Lutheran Confessional Manuals from the 16th and 17th Century, in: Between Creativity and Norm-Making. Tensions in the Late Middle Ages and the Early Modern Era, hg. von Sigrid M Ü L L E R / Cornelia S C H W E I G E R (Studies in Medieval and Reformations Traditions 165), Leiden/ Boston 2013, S. 215‒240, hier 222‒231. ‒ Zu den Problemen des Bußsakraments an Wallfahrtsorten der Barockzeit vgl. H E R S C H E , Muße 2 (wie Anm. 67), S. 688 f., 803 f., 827. 88 Zu Teilnehmerzahlen und (pfarrlichen) Wallfahrtsterminen vgl. Walter H A R T I N G E R , Religion und Brauch, Darmstadt 1992, S. 106; H E R S C H E , Muße 2 (wie Anm. 67), S. 803 f. 89 Bernhard S C H N E I D E R , Wallfahrt, Ultramontanismus und Politik. Studien zur Vorge‐ schichte und Verlauf der Trierer Hl.-Rock-Wallfahrt von 1844, in: Der heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, hg. von Erich A R E T Z u.-a., Trier 2 1996, S.-237‒280, hier 266. Messfeier und Kommunion gebunden wurde, in der Belehrung und Erbauung ihren Platz fanden neben Rettung und Heilung 87 .“ Es zeigt sich, dass sich mit der frühneuzeitlichen Wallfahrt (zumindest bis zum Beginn der Fernwallfahrten des 19. und 20. Jahrhunderts) verschiedene religiöse, soziale und kulturelle Interessen verbanden. Als „liturgisches Großereignis“ besaß es für das pfarrliche Leben wie für das stets existenzbedrohte Leben der einzelnen Gläubigen gleichermaßen eine hohe Bedeutung 88 . Keine Wallfahrt ohne Klerus, ohne Prozessionsordnung, ohne Einkehren in die am Weg lie‐ genden Kirchen, ohne Gebet und Gesang, ohne Sakramente und volkstümliche Halbmagie. Heil und Heilung modellierten sich nun in gewandelter Form, geordnet, gemeinschaftlich, gestaltet als eine intensive „Sentimentalisierung und Emotionalisierung von Frömmigkeit“ 89 . 5. Resümee Es ging darum, die dezidiert theologischen Kategorien von „Heil“ und „Heilung“ zu erheben, wie sie sich in der Praxis der Pilgerliturgie in Mittelalter und Frühneuzeit spiegeln. Dabei standen zwar vorwiegend normgebende Quellen zur Verfügung. Sie erlaubten aber einen Einblick in die Intentionen der kirch‐ lichen Obrigkeit. Zudem ließen sich davon ausgehend manche die Praxis bestimmenden Verhaltensweisen und Vorstellungen der Pilgerinnen und Pilger erkennen. Überblickt man den Befund für die mittelalterliche Pilgersegnung, zeigt sich, dass der Pilgerweg selbst ins Zentrum rückt. Er gilt als Metapher für den Glaubensweg des Einzelnen wie der Kirche insgesamt, nimmt Maß an den großen pilgernden Glaubensgestalten und sieht in der dabei vermittelten Erfahrung der Umkehr und der Wandlung die zentrale geistliche Dimension. Heil und Heilung in Riten der Pilgerliturgie 75 <?page no="76"?> Wallfahrt wird zu einem Raum der Veränderung („Wandelfahrt“). Dass dabei dem Bußmotiv eine besondere Rolle zukommt, kann nicht überraschen. Ebenso sollte die Begegnung mit dem Heiligen am Ziel der Wallfahrt mittels der rituellen Elemente zur Erfahrung der heilend-segnenden Gottesbegegnung werden, wie umgekehrt davon die wunderbarsten Wirkungen erwartet wurden: das Heil für die Seele und die Heilung im existenzbedrohten Erdenleben. An diese mittelalterlichen Elemente knüpfte man in der Frühen Neuzeit an. Zwar rückten Jerusalem, Rom und Santiago nicht näher, aber Vergebung und Heilung wurden nun regional verfügbar. Dies führte im Zuge der nachtriden‐ tinischen Disziplinierung und Frömmigkeitsformung zu einer Modulation der überkommenden Wallfahrtsmotive von Heil und Heilung. Für die Gläubigen mischten sich religiöse und soziale Interessen: Hoffnung auf Gebetserhörung und Verfügbarkeit von Sachsakramentalien verbanden sich problemlos mit Freizeitvergnügen und den Gelegenheiten zum gemeinschaftlichen Feiern und zur Eheanbahnung. Für den Klerus bot das Erlebnis der Wallfahrt eine besondere pastorale Chance, tridentinische Theologie und Praxis in liturgisch gebundenen Formen durch Wallfahrtsprozession, Beichte und Kommunion, aber auch Glau‐ bensvermittlung durch Predigt und Sachkultur bei den Gläubigen zu verankern. Man kann also festhalten: In der Pilgerliturgie waren die Wallfahrtsmotive von Heil und Heilung stets lebendig, sie trafen aber zu je unterschiedlichen Zeiten auf durchaus verschieden akzentuierte Interessen. 76 Jürgen Bärsch <?page no="77"?> 1 Insgesamt ist gerade in Deutschland zum Ablasswesen sehr viel publiziert worden, deswegen werden hier nur in Auswahl genannt: Nikolaus P A U L U S , Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 3 Bände, 2., um eine Einleitung und eine Bibliographie von Thomas Lentes erweiterte Auflage, Darmstadt 2000, immer noch grundlegend, doch in Teilen überholt. Eine neuere Gesamtdarstellung: Christiane L A U D A G E , Das Geschäft mit der Sünde. Ablass und Ablasswesen im Mittelalter, Freiburg im Breisgau 2016. Ein innovativer Zugang und für diesen Zusammenhang unerlässlich: Berndt H A M M , Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016; sowie Georg H A B E N I C H T , Ablass: Wertpapier der Gnade. Wie es zur Reformation kommen musste, Petersberg 2020. Hingewiesen sei auch auf: Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext, hg. von Andreas R E H B E R G (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 132), Berlin/ Boston 2017. Dieser Sammelband deckt ein breites Spek‐ trum ab. Die beste kurze Zusammenfassung des Ablasswesens im Mittelalter bietet: Hartmut K Ü H N E , Ablassfrömmigkeit und Ablasspraxis um 1500, in: Fundsache Luther: Archäologen auf den Spuren des Reformators. Begleitband zur Landesausstellung „Fundsache Luther - Archäologen auf den Spuren des Reformators“ im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) vom 31. Oktober 2008 bis 26. April 2009, hg. von Harald M E L L E R , Stuttgart 2008, S.-36-47. Heilung durch Ablass? Heilige Jahre und Wege zum Himmel Christiane Laudage Einleitung Das Heil, vor allem das Seelenheil, war im Spätmittelalter in erster Linie mit dem Ablass verbunden. Der Ablass (lat. Indulgentia, deswegen auch In‐ dulgenz genannt), war ein außerordentlich beliebter Teil spätmittelalterlicher Frömmigkeit, zum einen, weil er den Weg zum Seelenheil im wörtlichen Sinne berechenbar machte, und zum anderen, weil er sich gut mit anderen Formen der Frömmigkeit verbinden ließ und daher das schaffte, was heute als Synergieeffekt bezeichnet wird 1 . Der Ablass entstand im 11. Jahrhundert als eigenständiges Element im Bußwesen und stellt eine Sonderform dar, die es nur in der westlichen Kirche <?page no="78"?> 2 Zur Definition des Ablasses siehe Gerhard Ludwig M Ü L L E R , Art. Ablass (I-III), in Lexikon für Theologie und Kirche 3, Teilband 1 (1993), Sp. 51-59 mit Hinweis auf die ältere Literatur, und Apostolische Pönitentiarie. Das Geschenk des Ablasses, in: Der Heilige Stuhl (2000); https: / / www.vatican.va/ roman_curia/ tribunals/ apost_penit/ docu ments/ rc_trib_appen_pro_20000129_indulgence_ge.html (27.-März 2022). 3 Arnold A N G E N E N D T , Die historische Entwicklung des Ablasses und seine bleibende Problematik, in: R E H B E R G , Ablasskampagnen (wie Anm.-1), S.-31-43. 4 Anne B Y S T E D , The Crusade Indulgence: Spiritual Rewards and the Theology of the Crusades, c. 1095-1216 (History of Warfare 3), Leiden 2015. 5 Nicholas V I N C E N T , Some Pardoners’ Tales: The Earliest English Indulgences, in: Trans‐ actions of the Royal Historical Society 12 (2002), S. 23-58 bietet eine sehr gute Aufarbeitung dieser frühen Phase, nicht nur für England. 6 Étienne D O U B L I E R , Die Päpste und der Siegeszug des Ablasses im 13. Jahrhundert, in: Die Päpste. Amt und Herrschaft in Antike, Mittelalter und Renaissance, hg. von Michael M A T H E U S , Bernd S C H N E I D M Ü L L E R und Stefan W E I N F U R T E R (Die Päpste 1), Regensburg 2016, S. 341-355 und ausführlicher: Étienne D O U B L I E R , Ablass, Papsttum und Bettel‐ gibt; die orthodoxe Kirche ist diesen Weg nicht mitgegangen 2 . Mit dem Ablass werden dem reumütigen Sünder nach Beichte und Absolution die auferlegten Bußstrafen erlassen. Der Erlass der Bußstrafe wird aus dem Schatz der Kirche (thesaurus ecclesiae) gewährt, für die Lebenden in Form einer Lossprechung, für die Verstorbenen in Form einer Fürbitte (per modum suffragii). Dabei unter‐ scheidet man zwischen einem partiellen Ablass (auch Tarifablass), mit dem nur ein Teil der auferlegten Bußstrafen erlassen werden, und einem Plenarablass, den nur der Papst gewähren kann, dieser löst die komplette Bußstrafe ab. Die ersten Ablässe waren noch sehr nahe an den Redemptionen und Kom‐ mutationen des Bußwesens, die eine Umwandlung oder Tausch von schweren Bußstrafen vorsahen 3 . Das hat gerade im Zusammenhang mit den ersten Kreuz‐ zügen unter Wissenschaftlern große Diskussionen ausgelöst: Was genau hat der Papst bewilligt? War es schon ein Ablass oder noch eine Umwandlung der Strafen? Jedenfalls kann man festhalten, dass sich der Kreuzzugsablass von den Anfängen im 11. Jahrhundert bis zum 4. Laterankonzil (Dekret Ad liberandam) so weit verändert, dass man nun eindeutig von einem Ablass sprechen kann 4 . Was die partiellen Ablässe betrifft, so waren die nordspanischen und süd‐ französischen Bischöfe die Träger dieser neuen Entwicklung im Bußwesen. Sie ließen den Menschen ein Drittel oder ein Viertel ihrer Bußstrafen nach für ein frommes Werk. Von dieser Peripherie der Christenheit verbreiteten sich die Ablässe nach Südengland und Italien 5 . Nach Deutschland kamen die ersten partiellen Indulgenzen im 13.-Jahrhundert. Mit dem Vierten Laterankonzil endete die erste Phase des Ablasswesens, gleichzeitig begann aber auch eine neue - im 13. Jahrhundert breitete sich das Ablasswesen im ganzen christlichen Europa aus 6 . Hatten die Bischöfe in den 78 Christiane Laudage <?page no="79"?> orden im 13. Jahrhundert (Papsttum im mittelalterlichen Europa 6), Köln u. a. 2017, eine grundlegende Darstellung, die jetzt zu konsultieren ist. 7 Das zeigt am Beispiel Köln: Christiane N E U H A U S E N , Das Ablasswesen in der Stadt Köln vom 13. bis zum 16.-Jahrhundert (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur 21), Köln 1994, S.-21-28, 31-34. 8 Alexander S E I B O L D , Sammelindulgenzen. Ablaßurkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit (Archiv für Diplomatik Beiheft 8), Köln 2001, und L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm. 1), S. 47-52. Eine sehr gute, knappe Zusammenfassung, über das, was man im Wesentlichen über Sammelablässe wissen sollte, bietet: Frömmigkeit in Schrift und Bild. Illuminierte Sammelindulgenzen im mittelalterlichen Mühlhausen, bearb. von Martin S Ü N D E R (Ausstellungen des Stadtarchivs Mühlhausen 3), Petersberg 2014. 9 Absolut grundlegend dazu: Roberto P A C I O C C O , „Tantum sufficit mihi verbum vestrum“. I frati Minori, il Perdono di Assisi e le indulgenze, in: Bausteine zur deutschen und italienischen Geschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Horst Enzensberger, hg. von Maria S T U I B E R und Michele S P A D A C C I N I (Schriften aus der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg 18), Bamberg 2014, S. 279-299. Eine sehr weiterführende Bewertung bei: Martin O H S T , Der erste Jubiläums‐ ablass. Eine kirchengeschichtliche Erinnerung, in: Between Lay Piety and Academic Theology. Studies Presented to Christoph Burger on the Occasion of His 65th Birthday, hg. von Ulrike H A S C H E R -B U R G E R , Wim J A N S E und August den H O L L A N D E R (Brill’s Series in Church History 46), Leiden u. a. 2010, S. 3-32, darin besonders 18-23 sowie D O U B L I E R , Ablass, Papsttum und Bettelorden (wie Anm.-6), S.-162-169. vergangenen rund 150 Jahren Ablässe in der kirchlichen Praxis verankert, so übernahmen im Zusammenhang mit der Pastoralreform des Konzils die Päpste eine überaus wichtige Rolle. Sie setzten die Indulgenzen ganz gezielt ein, um bestimmte neue Orden zu fördern, das waren zuerst die Weißen Frauen, dann im ganz großen Stil die Dominikaner und Franziskaner. Mit jedem neuen Konvent, den sie gründeten, trugen in erster Linie die beiden großen Bettelorden diese neue Ablassfrömmigkeit bis an die Ränder der Christenheit, und so erreichte das Ablasswesen auch Länder und Orte, die vorher weiße Flecken auf der Landkarte darstellten. An diesem Beispiel orientierten sich dann auch die Bischöfe und begannen ebenfalls, mit Hilfe von Indulgenzen den Bau von Kirchen und Klöstern sowie deren Unterhalt zu unterstützen 7 . Um 1280 lässt sich ein deutlicher Mentalitätswandel mit dem Aufkommen der Sammelablässe feststellen: Diese besonderen, großflächigen und oft reich‐ verzierten Indulgenzen dienten nicht mehr dazu, um Spenden für bestimmte Zwecke zu generieren, sondern sie wurden zu einem begehrten Teil des Gna‐ denschatzes, den eine Kirche den Gläubigen anbieten wollte 8 . Zur gleichen Zeit ungefähr wird das erste Mal der Portiuncula-Ablass er‐ wähnt 9 . Vorausgeschickt werden muss, dass die Päpste neben den Dominikanern besonders stark die Franziskaner als Träger der Pastoralreform des IV. Late‐ rankonzils mit Ablässen bedacht hatten und in Folge dessen die Kirche in Heilung durch Ablass? 79 <?page no="80"?> 10 L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm.-1), S.-42. 11 Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Basisdienst 4. 8. 2016: Papst als spontaner Beichtvater in Assisi---Aufruf zu Vergebung. 12 Hartmut K Ü H N E , Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum (Arbeiten zur Kirchengeschichte 75), Berlin 2000, S. 617-625, geht zu Recht davon aus, dass das römische Jubiläum zu einer Sogwirkung in der Herausbildung von Ablässen basierend auf frommen Legenden geführt hat. Ich würde allerdings den Portiuncula-Ablass noch dazu nehmen. 13 O H S T , Der erste Jubiläumsablass (wie Anm. 9), S. 24-27. Siehe auch: D O U B L I E R , Ablass, Papsttum und Bettelorden (wie Anm.-6), S.-193-197. 14 Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Basisdienst 13.12.2019: Italienische Ab‐ lass-Wallfahrt wird Kulturerbe. Assisi mit dem Grab des Ordensgründers über weitaus mehr und großzügigere Indulgenzen verfügte als beispielsweise die Kirchen in Rom 10 . Assisi war also ein bedeutendes Wallfahrtszentrum geworden. Der Ablass aber, der erst in Europa und dann in der Neuzeit in der ganzen Welt unverhandelbarer Teil der franziskanischen Ordensidentität wurde, war der Grande Perdono d’Assisi, der Portiuncula-Ablass. Namensgebend für die Indulgenz war die kleine Kirche Santa Maria degli Angeli, auch Portiuncula genannt, die außerhalb von Assisi liegt. Das Besondere an dem Perdono war, dass hier zum ersten Mal eine Plenarindulgenz von den Kreuzzügen losgelöst und für den Besuch einer Kirche vergeben wurde. Wer nach reuiger Beichte die Portiuncula-Kirche zwischen dem Abend des 1. und des 2. August besuchte, erhielt jedes Mal, wenn er oder sie die Kirche aufsuchte, einen vollkommenen Ablass der Sünden. Erstmals soll der Grande Perdono d’Assisi im Jahr 1216 wirksam gewesen sein, daher suchte auch Papst Franziskus 2016 zu diesem Jubiläum die Kirche in Assisi auf 11 . Es hat große Diskussionen um die Echtheit gegeben, mit einem sehr hohen Maß an Wahrscheinlichkeit ist diese Indulgenz erfunden - aber gut erfunden, wie so viele andere Ablässe auch 12 . Der erste unzweifelhaft echte Plenarablass geht auf Papst Cölestin V. zurück 13 . Bei seiner Krönung am 29. August 1294 in der Kirche Santa Maria di Collemaggio in L’Aquila verfügte er, dass künftig alle Gläubigen den vollständigen Nachlass der Bußstrafen am Jahrestag seiner Krönung erhalten könnten. Sein Nachfolger Bonifaz VIII. hat zwar das großzügige Privileg wieder einkassiert, doch trotz des Verbots erfreute sich die Indulgenz eines langen Nachlebens. Seit Dezember 2019 gehört die „Perdonanza Celestiniana“ zusammen mit dem Volksfest zum immateriellen Kulturerbe 14 . „Die Pilgerschaft, ein Zeichen der Jünger Christi in dieser Welt, hat immer einen wichtigen Platz im Leben des Christen eingenommen. Im Laufe der 80 Christiane Laudage <?page no="81"?> 15 Die Pilgerfahrt zum großen Jubiläum, in: Der Heilige Stuhl (1998); https: / / www.vatica n.va/ roman_curia/ pontifical_councils/ migrants/ documents/ rc_pc_migrants_doc_1998 0425_pilgrimage_ge.htm#Einfuhrung (31.-März 2022). 16 Diana W E B B , Pardons and Pilgrims, in: Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe, hg. von Robert N. S W A N S O N (Brill’s Companions to the Christian Traditions 5), Leiden/ Boston 2006, S.-241-275. 17 Hartmut K Ü H N E / Jörn V O I G T , Ablässe, in: Pilgerspuren. Wege in den Himmel. Von Lüneburg bis an das Ende der Welt, hg. von Hartmut K Ü H N E , Petersberg 2020, S. 60-62, Zitat S.-60. 18 Zur Geschichte des Jubiläumsablasses ist gerade im Zusammenhang mit den Heiligen Jahren sehr viel erschienen. Paolo Brezzi hat zum Heiligen Jahr 1950 erstmals „Storia degli Anni Santi“ publiziert, das zum Jubiläum 1975 neu aufgelegt und dann fortgeführt wurde: Paolo B R E Z Z I , Storia degli anni santi. Da Bonifacio VIII al giubileo del 2000, Biblioteca Proposte di lettura sul medioevo, a cura di Raffaele L I C I N I O (GUM Storia e documenti), Mailand 1997. Ein Überblick in deutscher Sprache: Desmond O ’ G R A D Y , Alle Jubeljahre. Die ‚Heiligen Jahre‘ in Rom von 1300 bis 2000, aus dem Englischen von Radbert K O H L H A A S , Freiburg im Br. 1999. Für das Jubiläum 2000 wurde „La Storia dei Giubilei“ aufgelegt. In vier großformatigen, reich bebilderten Sammelbänden geben Geschichte hat der Christ sich auf den Weg gemacht, um seinen Glauben an den Orten zu feiern, die auf das Gedächtnis des Herrn hinweisen oder wichtige Zeitpunkte in der Geschichte der Kirche darstellen. Er hat sich zu den Wallfahrtsorten begeben, die in besonderer Weise die Mutter Gottes ehren und an die Orte, die das Beispiel der Heiligen lebendig halten. Sein Pilgern war ein Voranschreiten auf dem Weg der Bekehrung, eine Sehnsucht nach der innigen Vereinigung mit Gott und ein vertrauensvolles Vortragen seiner materiellen Bedürfnisse“ 15 , sagte der päpstliche Migrantenrat in einem grundlegenden Dokument zur Vorbereitung des Heiligen Jahres 2000. Das Pilger- und das Ablasswesen fanden schnell zusammen 16 . Spätestens ab dem 13. Jahrhundert waren es nicht mehr allein Reliquien, die Gnaden verhießen, sondern die Ablässe setzten diese eigentlich undefinierten Gnaden in berechenbare um. „So entwickelte sich der Ablass im Laufe des Spätmittelalters zur mächtigsten Triebfeder des Wallfahrtswesens“ 17 . Assisi war nach dem Tod des sehr schnell heiliggesprochenen Franziskus von den Päpsten über die Ablässe zu einem neuen bedeutenden Wallfahrtsort gemacht geworden. Mit dem Heiligen Jahr 1300 setzte dann Rom neue Maßstäbe. Der Jubiläumsablass als Weg zum Heil - Die ersten beiden Jubiläen, 1300 und 1350 Seit 1300 hat das Heilige Jahr in regelmäßigen Abständen stattgefunden, nur die Heiligen Jahre 1800 und 1850 entfielen aus politischen Gegebenheiten 18 . Heilung durch Ablass? 81 <?page no="82"?> die zu dem Thema einschlägigen Autoren einen Überblick über die Jubiläen und ihr kulturelles Umfeld. Band 1: 1300 bis 1423, Florenz 1997, Band 2: 1450 bis 1575, Florenz 1998, Band 3: 1600 bis 1775, Florenz 1999, Band 4: 1800 bis 2000, Florenz 2000. Diese vier Bände dürfen durchaus als Standardwerk gelten. Ebenso ist der Tagungsband: I giubilei nella storia della Chiesa. Atti del congresso internazionale in collaborazione con l’Ecole Française de Rome sotto il patrocinio del Comitato Centrale per il Giubileo del 2000 (Roma, Istituto Patristico Augustinianum, 23-26 giugno 1999) (Atti e documenti. Pontificio Comitato di Scienze Storiche 10), Città del Vaticano 2001, heranzuziehen. Siehe aber auch: Stuart J E N K S , Päpstliche Plenarablässe (1300-1517), in: Ad laudem et gloriam. Festschrift für Rudolf Holbach, hg. von Sarah N E U M A N N , Ines W E B E R und David W E I S S , Trier 2016, S.-283-311. 19 Papst Franziskus, Misericordiae Vultus. Verkündigungsbulle des außerordentlichen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit, in: Der Heilige Stuhl (2015); https: / / www.vati can.va/ content/ francesco/ de/ apost_letters/ documents/ papa-francesco_bolla_20150411 _misericordiae-vultus.html (31.-März 2022). 20 Das ist die Grundthese seines Buches: H A M M , Ablass und Reformation (wie Anm.-1). 21 Paul Gerhard S C H M I D T , Das römische Jubeljahr 1300. Mit einer Übersetzung von Jacopo Gaetani Stefaneschis De anno iubileo (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main 38, Nr. 4), Stuttgart 2000, S. 391-424; Enno B Ü N Z , Das Jahr 1300. Papst Bonifaz VIII., die Chris‐ tenheit und das erste Jubeljahr, in: Der Tag X in der Geschichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren, hg. von Enno B Ü N Z / Rainer G R I E S / Frank M Ö L L E R , Stuttgart 1997, S. 50-78 und 341-346 (Anmerkungen); O H S T , Der erste Jubiläumsablass Sicher ist, dass diese besondere Tradition der Kirche auch weiter bestehen wird, inklusive der damit verbundenen Rituale: eine Verkündigungsbulle, die Öffnung der Heiligen Pforten und der Ablass für den Besuch vorgeschriebener römischer Kirchen. Neben dem Jubeljahr, das seit 1475 alle 25 Jahre gefeiert wird, kennt die katholische Kirche auch die außerordentlichen Heiligen Jahre. Das von Papst Franziskus ausgerufene außerordentliche „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“ (8. Dezember 2015 bis zum 20. November 2016) war das erste im dritten Jahrtausend und steht ebenso wie die regelmäßigen Jubeljahre in einer langen, lebendigen Tradition 19 . Das Jubeljahr und der dazugehörige Ablass mit dem Nachlass aller Bußstrafen sind ein Prerogativ des Papstes. Er allein kann ein Jubeljahr verkünden und den Ablass gewähren. Im Mittelalter ist das Jubiläumsjahr in seiner Form flexibel, weil es immer wieder Veränderungen unterworfen war, die sich aus den jeweiligen Bedürfnissen der Päpste und der Gläubigen ergeben haben. Das, was zu einem Zeitpunkt noch unmöglich erschien, ist dann später auf einmal möglich. Berndt Hamm spricht von einer fortschreitenden „Entschränkung von Ablassgnade“ - die Menschen konnten immer größere Gnaden zu immer einfacheren Bedingungen erhalten 20 . Begonnen hat es zur Wende des Jahres 1300, als viele Menschen in Erwartung großer Gnaden nach Rom strömten 21 . Papst Bonifaz VIII. wurde nervös, denn er 82 Christiane Laudage <?page no="83"?> (wie Anm. 9) und L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm. 1), S. 168-174. Das Jubiläum bei den zeitgenössischen Autoren: Étienne A N H E I M / Isabelle H E U L L A N T -D O N A T / Emmanuelle L O P E Z / Odile R E D O N , Rome et les jubilés du XIVe siècle: histoires immé‐ diates, in: Médiévales 40 (2001), S.-53-82. 22 Druck der Bulle in: Bullarium Anni Sancti, hg. von Hermanus S C H M I D T (Pontificia Universitas Gregoriana, Textus et Documenta. Series Theologica), Rom 1949, S. 33-34. Lateinischer Text mit deutscher Übersetzung: Der Ablassstreit, Band 1/ 1: Vorgeschichte des Ablassstreits 1095-1517. Kirchliche Verlautbarungen, Recht, Theologie, Liturgie, Predigten, Ablassbriefe, hg. von Theodor D I E T E R und Wolfgang T H Ö N I S S E N , Leipzig 2021, S.-38-39. sah sich mit Erwartungen konfrontiert, von denen er nicht genau wusste, wie er sie erfüllen konnte. Weil die Pilger behaupteten, es habe schon immer zur Jahrhundertwende große Gnaden in der Stadt am Tiber gegeben, ließ der Papst - allerdings ergebnislos - Nachforschungen im Archiv anstellen und beriet sich mit den Kardinälen. Gleichzeitig heizte das Domkapitel von St. Peter die bereits aufgeladene Stimmung weiter an. Am 17.-Januar 1300, als eine Prozession mit der vera ikon, dem Schweißtuch der Veronika, durch Rom zog, erzählte ein angeblich 107 Jahre alter Mann dem anwesenden Papst, schon sein Vater habe anlässlich der Jahrhundertwende eine Pilgerreise nach Rom unternommen. Zusätzlich tauchten weitere Berichte auf. Am Festtag Petri Stuhlfeier (22. Februar), einem wichtigen Festtag im römischen Kalender, verkündete dann Papst Bonifaz das Jubiläumsjahr und gewährte einen vollständigen Ablass. In der Bulle Antiquorum habet fasst er die Ereignisse zusammen: Ein glaubwürdiger Bericht der Alten besagt, dass denen, die zu der ehrwürdigen Basilika des Apostelfürsten in der Stadt kamen, reiche Nachlässe und Ablässe der Sünden gewährt wurden. Im Vertrauen auf die Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes und die Verdienste und die Autorität ebendieser seiner Apostel, auf den Rat Unserer Mitbrüder hin und kraft der Fülle Apostolischer Vollmacht werden Wir gewähren, und gewähren Wir allen, die […] in diesem gegenwärtigen und in jedem folgenden hundertsten Jahr ehrfürchtig zu diesen Basiliken kommen, wahrhaft Buße tun und gebeichtet haben […], nicht nur volle und reichliche, sondern sogar vollste Vergebung aller ihrer Sünden 22 . Die Pilger sollten an 15 Tagen den Petersdom und St. Paul vor den Mauern besuchen, die Römer an 30 Tagen. In der Bulle Antiquorum habet findet man keinen Hinweis auf einen Geldbetrag, doch war es üblich, ein Almosen zu spenden, und das haben die Pilger offensichtlich gerne getan. Der Chronist Guilelmus Ventura berichtete, dass in Sankt Paul vor den Mauern zwei Geistliche Heilung durch Ablass? 83 <?page no="84"?> 23 B Ü N Z , Das Jahr 1300 (wie Anm.-21), S.-76. 24 L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm.-1), S.-172. 25 K Ü H N E und V O I G T , Ablässe (wie Anm.-17), S.-60. 26 K Ü H N E , Ostensio reliquiarum (wie Anm.-12), S.-617-625. die Münzen vor dem Altar Tag und Nacht mit einem Rechen eingesammelt hätten 23 . Wichtig ist festzuhalten, dass 1. die Erwartungen der Gläubigen in Verbin‐ dung mit dem Druck, den die Menschen durch ihre hoffnungsvolle Anwesenheit auf den Papst und die Kardinäle ausübten, zur Einsetzung des römischen Jubiläumsjahres mit dem dazugehörigen Ablass führten. Es ist ein Kennzeichen des Ablasswesens im Mittelalter, dass die Bedürfnisse der Menschen und die religiöse Praxis formbildend wirkten. 2. Hier wird zum ersten Mal die eigentlich diffuse Vorstellung von großen Gnaden in das pastoral-juristische Konzept des Plenarablasses umgesetzt. Ein vollständiger Nachlass aller Bußstrafen war damals ein außergewöhnlich großes Zugeständnis, das erklärungsbedürftig war. Hier musste auf eine, wie man heute weiß, nicht vorhandene Tradition rekurriert werden und dennoch gab es damals Unbehagen oder sogar Widerspruch im Kardinalskollegium 24 . Aber woran sich die Kritik entzündete, ist nicht nach außen gedrungen. Lag es daran, dass es keine entsprechenden Unterlagen über diese vorgebliche Tradition gab? War es das Sträuben, eine Neuerung einzuführen, noch dazu mit einem besonderen Ablass? Gab es Streit darum, ob und welche Kirche neben der Peterskirche mit diesem besonderen Ablass verbunden werden sollte? Jedenfalls war das erste römische Jubiläum ein großer Erfolg. Papst Bonifaz VIII. konnte sein Ansehen in der Christenheit stärken, die Pilger bekamen das, was sie erhofft hatten, und schlussendlich profitierte die Stadt Rom enorm von den Pilgern; es war also in der heutigen Sprache eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. „Durch die ersten Heiligen Jahre wird deutlich, welche Bedeutung der Ablass inzwischen für die religiöse Mobilität gewonnen hatte; strömten doch 1300 und mehr noch zum zweiten Jubiläum 1350 große Pilgerscharen aus ganz Europa nach Rom und trugen mittelbar dazu bei, dass der ‚Hunger‘ auf diese Gnaden allenthalben wuchs“ 25 . Der Portiuncula-Ablass und besonders das römische Jubiläum führten dazu, dass man sich auch an anderen Wallfahrtsorten Gedanken machte und die legendären Traditionen von großen Gnaden in Ablässe umsetzte 26 . Von daher darf es nicht wundern, dass die Bestimmung, alle hundert Jahre ein Jubiläum zu feiern, schon bald hinfällig war. 84 Christiane Laudage <?page no="85"?> 27 L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm. 1), S. 175-182; Agostino P A R A V I C I N I B A G L I A N O , Clemente VI e il giubileo del 1350, in: Storia dei giubilei (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 270-277 und A N H E I M (u. a.), Rome et les jubilés du XIVe siècle (wie Anm. 21), besonders S.-69-81 zum Jubiläum 1350. 28 Druck der Bulle: S C H M I D T , Bullarium Anni Sancti (wie Anm. 22), S. 36-39. Latei‐ nisch-deutscher Text in: Der Ablassstreit (wie Anm. 22), S. 42-49. Zum Inhalt: Jacques V E R G E R , Annus Centesimus vel quinquagesimus. Le Pape Clément VI et la Bulle d’Indiction du second Jubilé (27 Janvier 1343), in: I Giubilei nella Storia della Chiesa (wie Anm.-18), S.-281-289. 29 Philippe C O R D E Z , Schatz, Gedächtnis, Wunder. Die Objekte der Kirchen im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim 10), Regensburg 2015, S. 41-48, sowie D E R S ., Il ‚tesoro delle grazie‘: indulgenze ed elemosine (secoli XI-XVI), in: R E H B E R G , Ablasskampagnen des Spätmittelalters (wie Anm. 1), S. 45-62; Diego Q U A G L I O N I , „Thesaurus tam totius Ecclesiae quam perfectorum“. Alle origini della controversia sull'indulgenza, in: R E H B E R G , Ablasskampagnen des Spätmittelalters (wie Anm. 1), S. 105-125, sowie jetzt auch: Ethan L E O N G Y E E , Lest the Keys be scorned. The Implications of Indulgences for the Church Hierarchy and the thirteenth century Canonists’ Resistance to the Treasury of Merit, in: Traditio 76 (2021), S.-247-287. Das Jubiläum 1350 Das Jubiläum 1350 ist das einzige in der Geschichte des Heiligen Jahres, das ohne den Papst gefeiert wurde 27 . Seit 1309 residierten die Päpste in Avignon, was unerfreuliche Auswirkungen auf die Stadt Rom hatte, sowohl auf ihr Ansehen wie auf ihre wirtschaftliche Prosperität. Nach der Wahl von Papst Clemens-VI. (7.5.1342) machte sich daher eine stadtrömische Gesandtschaft zu ihm nach Avignon auf, um ihn zu bewegen, wieder nach Rom zurückzukehren oder wenigstens ein Jubiläumsjahr zu gewähren. Die Gesandtschaft war nur in dem zweiten Punkt erfolgreich. In seiner Bulle Unigenitus mit dem Datum vom 27. Januar 1343 gewährte der Papst unter Rückgriff auf die jüdische Tradition des Jubeljahres ein Jubiläum für das Jahr 1350, das künftig alle 50 Jahre stattfinden sollte 28 . Die Pilger sollten wie bei dem ersten Jubiläumsjahr je nach Herkunft 15 oder 30 Tage die Kirchen St. Peter und St. Paul besuchen, doch trug Clemens VI. den Pilgern auf, zusätzlich den Lateran aufzusuchen, die Bischofskirche des Papstes. Das, was die Bulle Unigenitus so besonders macht, ist, dass es nicht nur die bis dahin erste lehramtliche Äußerung eines Papstes zum Ablasswesen war, außerdem wird in Unigenitus die Lehre vom Schatz der Kirche (thesaurus ecclesiae) als Grundlage des Ablasswesens definiert 29 : Das Erlösungswerk Jesu Christi stellt zusammen mit den Verdiensten der Gottesmutter Maria, der Heiligen und Märtyrer einen niemals endenden Schatz dar, den der Papst kraft seiner Schlüsselgewalt „aus gottgefälligen und vernünftigen Gründen, bald zum vollständigen, bald zum teilweisen Erlass der für die Sünden geschuldeten Heilung durch Ablass? 85 <?page no="86"?> 30 Alberici D E R O S A T E , Bergomensis iurisconsulti celeberrimi Dictionarium iuris tam ci‐ vilis, quam canonici, Venedig 1572. Ich habe diese Ausgabe benutzt: http: / / reader.digita le-sammlungen.de/ en/ fs1/ object/ display/ bsb10147186_00005.html (keine Seitenzahlen, die Einträge sind alphabetisch geordnet). Siehe dort den Eintrag „Iubileus“ (31. März 2022). 31 D E R O S A T E , Dictionarium iuris (wie Anm. 30), q.v. Iubileus. Mir ist kein zweiter Abdruck bekannt, aber vielleicht existieren noch Abschriften in italienischen Archiven. 32 D E R O S A T E Dictionarium iuris (wie Anm. 30), q.v. Iubileus. Druck der Bulle auch bei: Eusebius A M O R T , De origine, progressu, valore ac fructu indulgentiarum, Augsburg 1735, S. 82-84. Kurzfassung in: Codex documentorum sacratissimarum indulgentiarum Neerlandicarum. Verzameling van stukken betreffende de pauselijke aflaten in de Nederlanden (1300-1600), hg. von Paul F R É D É R I C Q (Rijks Geschiedkundige Publicatiën 21), Den Haag 1922, darin: S.-8-10 (unverzichtbare Quellensammlung, besonders auch zu den Ablasskampagnen). Zu dieser Bulle siehe P A U L U S , Geschichte des Ablasses (wie Anm. 1), Band 2, S. 88-91; W E B B , Pardons and Pilgrims (wie Anm. 16), S. 250-252; Diana W O O D , Clement VI: The Pontificate and Ideas of an Avignon Pope, Cambridge 1989, zeitlichen Strafe […] denjenigen barmherzig zuwenden kann, die wahrhaft Buße tun und gebeichtet haben.“ Da 1347 die Pest in Europa ausbrach, die ungefähr einem Drittel der Bevöl‐ kerung das Leben kostete, sowie zwei Erdbeben (1348 in Kärnten, 1349 in Rom), waren die Menschen umso offener und dankbarer für den Jubiläumsablass. Zu diesen gehörte der Jurist Alberico da Rosate (um 1290-1360), der zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern nach Rom pilgerte. In seinem Dictionarium iuris präsentierte er unter dem Stichwort Iubileus zum Jahr 1350 zwei Bullen Militantis ecclesiae und Ad memoriam reducendo, weil er sie so hübsch fand 30 . Allerdings stammte keine der beiden von Clemens VI. Zum zweiten Jubiläums‐ jahr gab es also insgesamt drei päpstliche Verlautbarungen, die Bulle Unigenitus, die unzweifelhaft echt ist, und die beiden anderen, gerade erwähnten, die un‐ zweifelhaft falsch sind. Nur zu diesem einen Jubiläum kursierten Fälschungen, von denen besonders Ad memoriam reducendo tatsächlich bis zum Ende des Mittelalters erheblich einflussreicher war als Unigenitus. Militantis ecclesiae: Diese gefälschte Jubiläumsbulle ist nur bei Albericus de Rosate überliefert 31 . Eine Art Pastiche aus Antiquorum und Unigenitus gibt sie sowohl die Lehre vom thesaurus ecclesie sowie die relevanten Bestimmungen des Jubiläums korrekt wieder. Jedoch erweitert diese Fälschung den Kreis der zu besuchenden Kirchen um Santa Maria Maggiore und Sankt Laurentius vor den Mauern. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Der unbekannt gebliebene Autor der Bulle wollte dafür sorgen, dass auch diese Kirchen in den Genuss der Spenden kamen, die offensichtlich zur Zeit des Jubiläums so reichlich flossen. Ad memoriam reducendo: Diese angeblich päpstliche Verlautbarung ist an Wichtigkeit nicht zu überschätzen, warum soll im Folgenden gezeigt werden 32 . 86 Christiane Laudage <?page no="87"?> S. 32, Anm. 69 zur Verbreitung bis ins 17. Jahrhundert; Q U A G L I O N I , „Thesaurus […]“ (wie Anm. 29), S. 107-113 sowie L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm. 1), S. 176-181. 33 A M O R T , De origine (wie Anm. 32), S. 82 Erlösungswerk Jesu Christ, Loblied auf die heilige Stadt Rom S.-82 beginnend mit dem letzten Absatz linke Spalte, Erzählung von der Gesandtschaft und der Vision S. 82 beginnend letzter Absatz rechte Spalte bis S. 83 erster Absatz linke Spalte. 34 A M O R T , De origine (wie Anm.-32), S.-83. 35 A M O R T , De origine (wie Anm.-32), S.-83 f. 36 A M O R T , De origine (wie Anm.-32), Zitat S.-83. 37 A M O R T , De origine (wie Anm. 32), Zitat S. 83. Dieser Passus fehlt bei D E R O S A T E , Dictionarium iuris (wie Anm.-30). Auch in diesem Fall ist der Autor unbekannt, man kann sowohl aus gleich guten Gründen eine römische wie auch avignonesische Herkunft annehmen. Diese gefälschte Jubiläumsbulle kursierte in zwei Fassungen, einer Langfassung mit dem Inicipt Ad memoriam reducendo sowie einer Kurzfassung mit dem Incipit Cum natura humana. Zunächst soll der Inhalt der Fälschung vorgestellt werden. Ad memoriam reducendo beginnt einleitend mit drei etwas unvermittelt neben einander stehenden Versatzstücken, zuerst ein Hinweis auf das Erlösungswerk Jesu Christi, dann ein Loblied auf die heilige Stadt Rom, von der alles Heil kommt, um dann in eine Erzählung umzuschlagen 33 . Der angebliche Papst Clemens spricht die Menschen direkt an und erzählt von der Gesandtschaft der Stadt Rom. In der Nacht vor dem geplanten Konsistorium, so der Papst, habe er eine Vision erlebt, eine Person sei ihm erschienen, die zwei Schlüssel in der Hand hielt und ihm sagte: „Öffne deinen Mund und schicke ein Feuer daraus hervor, das die ganze Welt wärmen und erleuchten soll“ 34 . Nachdem sich diese Vision wiederholte und damit der angebliche Papst die göttliche Herkunft bestätigt sah, fiel er im Konsistorium auf die Knie, hob die gefalteten Hände zum Himmel und öffnete den Sündern die Pforte zum Paradies. Damit war die Bühne bereitet, und der angebliche Clemens war als derjenige eingeführt, der den Menschen den Weg zum Heil bahnen konnte. Anschließend folgt die Bulle Cum natura humana mit der Ankündigung eines Jubiläums für jedes fünfzigste Jahr, um dann zu den Bestimmungen überzugehen 35 . Die Pilger dürfen sich einen Beichtvater auswählen, der sie von allen Sünden absolvieren darf, auch denen, die eigentlich dem Papst vorbehalten waren ac si propria persona nostra ibi praesentialiter esset  36 . Sollten sie nach reuiger Beichte und Absolution unterwegs sterben, mandamus Angelis paradisi, quod animam illius a purgatorio penitus absolutam ad paradisi gloriam introducant  37 . Diese Aufforderung an die Engel, die Seele des Verstorbenen aus dem Fegefeuer ins Paradies zu führen, stellte eine Bestätigung dessen dar, was die Menschen fest glaubten, nämlich, dass die Macht des Papstes bis ins Heilung durch Ablass? 87 <?page no="88"?> 38 B O N A V E N T U R A , Commentaria in quattor libros sententiarum magistri Petri Lombardi (Sent. IV, d. 20, p. 2, a. un., q. 1-6), in: Der Ablassstreit (wie Anm. 22), S. 128-173, zu den Ablässen für die Verstorbenen ebd. S. 162 f.; Thomas von A Q U I N , Summa theologiae (III Suppl., q. 25-27), abgedruckt lateinisch-deutsch in: Der Ablassstreit (wie Anm. 22), S.-174-209, zu den Ablässen für die Verstorbenen S.-206 f. Fegefeuer reichte. Zwar hatten schon Bonaventura und Thomas von Aquin festgestellt, dass auch Ablässe den Verstorbenen zugewandt werden konnten, doch gab es zu diesem Zeitpunkt keine „offiziellen“ päpstliche Ablässe für die Verstorbenen 38 . Hier reichte, wenn auch nur in einer nicht authentischen päpst‐ lichen Verlautbarung, zum ersten Mal die päpstliche Macht bis ins Fegefeuer. Wichtig ist festzuhalten, dass die Menschen erwarteten, mit Hilfe des Ablasses aus dem Fegefeuer gerettet zu werden, denn diese Bulle bündelt die Hoffnungen der Menschen auf den Ablass. Anschließend wird der Weg freigemacht, um möglichst vielen Menschen die Pilgerfahrt nach Rom zu ermöglichen, um den Ablass zu gewinnen. Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, Priester, Rektoren und Kuraten dürfen ihre Pfründe für die Pil‐ gerfahrt verlassen ohne irgendwelche Einschränkungen hinnehmen zu müssen. Weißen und schwarzen Mönchen, also den Zisterziensern und Benediktinern, soll die Reise nach Rom trotz der stabilitas loci keinesfalls verboten sein. Wenn ihnen der Abt die Erlaubnis verweigert, dann können sie sich an die drei ältesten Mönche wenden, die ihnen neben der Erlaubnis zu reisen, auch eine Ausrüstung zur Verfügung stellen sollen. Wer sich diesem Wunsch verweigert, soll seines Amtes enthoben werden und den Zorn der Apostel Petrus und Paulus spüren. Vorsichtiger wird der angebliche Papst im Hinblick auf Nonnen. Zwar soll auch ihnen die Möglichkeit offenstehen, nach Rom zu pilgern, doch kann ihnen ihr Geistlicher bei guten Gründen die Reise verweigern. Stattdessen steht den Nonnen die Möglichkeit offen, pro Wochen einen Psalter für den Erwerb des Ablasses zu beten. Ähnliche Bestimmungen sind für alte und kranke Menschen vorgesehen, auch sie können für den Ablass pro Woche einen Psalter beten oder wenigstens drei Vaterunser pro Tag. Wenn die Pilger in Rom ankamen, sollten sie dort an 30 Tagen, die Stadtrömer an 15 Tagen, folgende Kirchen besuchen: die Kirchen der Apostelfürsten Petrus und Paulus, Sankt Laurentius vor den Mauern, den Lateran, Santa Maria Maggiore, Santa Croce in Gerusalemme, Sankt Sebastian vor den Mauern sowie verschiedene Katakomben. Hier fordert der angebliche Clemens die Pilger auf, deutlich mehr Kirchen zu besuchen als in der offiziellen Bulle vorgesehen. Der Grund ist darin zu finden, dass der Autor dieser Verlautbarung die Pilgerströme zu einer größeren Zahl von Kirchen lenken will, damit diese auch von den Almosen profitieren. Haben die Pilger diese Aufgaben erfüllt, soll ihnen zum 88 Christiane Laudage <?page no="89"?> 39 A M O R T , De origine (wie Anm.-32), S.-84. 40 Jean D E L M A S , Une traduction en langue d’oc de la bulle de Clément VI instituant le Jubilé de Rome de 1350, in: Jubilé et culte marial (Moyen Age - Époque contemporaine). Actes du colloque international, Puy-en-Velay, 8 juin-10 juin 2005, hg. von Bruno M A E S / Daniel M O U L I N E T / Catherine V I N C E N T (Publications de l’Université de Saint-Étienne), Saint-Étienne 2009, S. 131-142, Edition der erfundenen Bulle in der langue d’oc S. 138- 142. Luca D I S A B A T I N O , Fortuna di un (probabile) falso: un volgarizzamento della bolla giubilare „Ad memoriam reducendo“, in: Carte Romanze 6 (2018), S. 13-37, Übersetzung ins Toskanische S.-26-31. 41 Petrus H E R E N T A L S , Quinta vita Clementis VI, in: Vitae Paparum Avenionensium. Hoc est Historia Pontificum Romanorum qui in Gallia sederunt ab anno Christi MCCCV usque ad annum MCCXCIV, hg. von Étienne B A L U Z E / Guillaume M O L L A T , Paris 1693, Bd. 1, S. 311-316. Er beginnt zwar mit Ad memoriam reducendo, lässt aber den Vorspann aus und druckt nur Cum natura humana in Gänze ab. Abschluss das Schweißtuch der Veronika gezeigt werden, reducimus eos ad statum, quo erant die illo, quo baptismum receperunt  39 . Offensichtlich bestand das Bedürfnis, einen Schlusspunkt für die Pilgerfahrt und den Gewinn des Ablasses zu spüren, was dann mit der Schau des Schweißtuches gegeben war. Es wäre falsch, Ad memoriam reducendo/ Cum natura humana nur als eine Fälschung abzutun. Vergleicht man die offizielle Jubiläumsbulle Unigenitus mit der erfundenen - gleich in welcher Fassung - sind die Unterschiede ganz offensichtlich: Unigenitus ist ein Ausdruck des päpstlichen Lehramtes, Ad memoriam reducendo/ Cum natura humana ein Wunschzettel der Menschen, der ihre Erwartungen an das Jubiläum spiegelt. Die erfundene Jubiläumsbulle gibt eine Antwort auf ganz praktische Fragen: Wer darf nach Rom reisen, wer nicht? Und wie kommt man sonst an den Ablass? Was ist, wenn man unterwegs vor der Vollendung der Pilgerreise stirbt? Ersichtlich sind zwei Dinge: erstens, so viele Menschen wie möglich sollen an dem Ablass partizipieren können, und zweitens, auch die römischen Kirchen mögen profitieren. Warum war diese gefälschte Jubiläumsbulle so einflussreich? Sie traf die Befindlichkeit der Menschen auf den Punkt. Dafür spricht, dass es bereits vor dem Jubiläum 1350 eine Übersetzung in die langue d’oc gegeben hat, auch eine spätere ins Toskanische ist bekannt 40 . Viele Menschen hielten sie für eine authentische päpstliche Verlautbarung, sogar Peter von Herental (1322-1391), Prior des Prämonstratenserstifts Floreffe bei Namur. Er stellt das Jubiläum von 1350 in den Mittelpunkt seiner Lebensbeschreibung Clemens VI., doch präsentiert er nicht die authentische Bulle Unigenitus sondern Ad memoriam reducendo  41 . Gestützt auf die Autorität der erfundenen Bulle machten sich Mönche auf den Weg nach Rom, mit dem Ergebnis, dass sie anschließend bei Heilung durch Ablass? 89 <?page no="90"?> 42 W E B B , Pardons and Pilgrims (wie Anm.-16), S.-251 f. 43 Zitat: W E B B , Pardons and Pilgrims (wie Anm.-16), S.-250. 44 Bernhard S C H I M M E L P F E N N I G , Römische Ablaßfälschungen aus der Mitte des 14. Jahr‐ hunderts, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.-19. September 1986, Band 5: Fingierte Briefe, Frömmigkeit und Fälschung, Realienfälschungen. Fingierte Briefe, Hannover 1988, S.-637-658. 45 L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm. 1), S. 84 f. In diesen Zusammenhang gehört eigentlich auch die Gregoriusmesse mit der sie umgebenden Legende, die sich mit einem sehr hohen Maß an Wahrscheinlichkeit auch auf die gefälschte Jubiläumsbulle bezieht, siehe dazu L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm.-1), S.-108-113. 46 Karlheinz F R A N K L , Papstschisma und Frömmigkeit. Die „Ad instar-Ablässe“, in: Römi‐ sche Quartalschrift 72 (1977), S.-57-142 und 184-247. ihrer Rückkehr auf Probleme im Kloster stießen und zwar nicht nur 1350, noch zum Jubiläum 1450 sind Fälle belegt 42 . Das Nebeneinander zweier Jubiläumsablassbullen zeigt auch brennspiegel‐ artig ein wenig beachtetes Phänomen auf: Vom 14. Jahrhundert bis zur Refor‐ mation gab es zwei völlig verschiedene Wirklichkeiten im Ablasswesen, die dazu führten, dass zwei Ablasslandschaften neben- und miteinander existierten. Was ist damit gemeint? In Rom verlieh der Papst in der Regel auf Anfrage Ablässe für die Kirchen in ganz Europa, für ihn produzierte eine ungemein leistungsfähige Kanzlei eine hohe Zahl an authentischen Urkunden - die Stadt war the indulgence capital of Latin Christendom  43 . Das war die offizielle Wirk‐ lichkeit, daneben gab es eine zweite, wie an der frei erfundenen Bulle für das zweite Jubiläum offenbar wurde. Ein um 1360 entstandener Rotulus verzeichnet, wie Bernhard Schimmelpfennig zeigt, Ablasslisten römischer Kirchen, die auf lokalen Traditionen oder vielleicht genauer, Wunschdenken, beruhten 44 . Für den Besuch der Kirchen erhält man Ablässe in einer Höhe, wie sie von der Kurie keinesfalls vergeben wurden. Das heißt in Konsequenz, in Rom existiert eine parallele, imaginierte Ablasslandschaft, die sich an den Wünschen, der Hoffnung oder den Erwartungen der Menschen orientierte. Meines Wissens ging die Kurie niemals dagegen vor - interessanterweise auch nicht gegen das bis heute gefeierte Heilige Jahr in Santiago de Compostela, eine lokale Erfindung aus dem 15. Jahrhundert, oder die von den Franziskanern erfundenen Ablässe für das Heilige Land 45 . Daneben gab es auch verschiedene Fälle, wie eigentlich erfundene Indul‐ genzen dann über eine päpstliche Bestätigung authentisiert wurden. Als Beispiel kann hier der Portiuncula-Ablass erwähnt werden oder andere legendäre Indulgenzen, die dann unter Papst Bonifaz IX. als Ad instar-Ablässe vergeben wurden 46 . Ähnliches ist bei der erfundenen Bulle Ad memoriam reducendo/ Cum natura humana passiert. Als der Domdekan von Saintes, Raimund Peraudi, 90 Christiane Laudage <?page no="91"?> 47 Siehe dazu: P A U L U S , Geschichte des Ablasses (wie Anm.-1), Band-2, S.-90. 48 Johannes D E F A B R I C A , De indulgentiis pro animabus in purgatorio, in: Gesamtkatalog der Wiegendrucke M13517; https: / / gesamtkatalogderwiegendrucke.de/ docs/ JOHAFAB .htm#M13517. Bei dem von mir eingesehen Digitalisat der Digitalen Bibliothek (urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00082033-6) gibt es keine Paginierung, es sind die Bildseiten 15-18. (beides abgerufen am 31.-März 2022). 49 Hier sei in Auswahl genannt: Rolf D E C O T , Geschichte der Reformation in Deutschland, Freiburg im Br. 2015, S.-78-82. 50 Die Schmalkaldischen Artikel, bearbeitet von Klaus B R E U E R / Hans-Otto S C H N E I D E R , in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedi‐ tion, hg. von Irene D I N G E L , im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014, S. 713-786, darin 744 mit Anm. 239. In dieser Anmerkung beziehen sich die Bearbeiter auf die von ihnen als „wahrscheinlich unecht“ bezeichnete Clemens-Bulle Ad reducendo, also die Langfassung von Cum natura humana. 51 Anne H U D S O N , Dangerous Fictions: Indulgences in the Thought of Wyclif and his Followers, in: S W A N S O N , Promissory Notes (wie Anm.-16), S.-197-214. die Verkündigung des Ablasses für die Kathedrale vorbereitete, die auch einen Ablass für die Verstorbenen vorsah, gab er Gutachten in Auftrag im Wissen darum, dass das Aufsehen groß sein würde 47 . Der Pariser Franziskanertheologe Johannes de Fabrica († 1487) übernahm in seinem Gutachten De indulgentiis pro animabus in purgatorio zum Schluss die gefälschte Jubiläumsbulle in der Lang‐ fassung 48 . Es ist jedenfalls als bemerkenswert festzuhalten, dass eine erfundene päpstliche Verlautbarung eine authentische stützen sollte. Offensichtlich hatten weder Johannes de Fabrica noch Raimund Peraudi Zweifel an der Authentizität gehabt. Sowohl die authentische wie auch die gefälschte Bulle für das Jubiläum 1350 haben den Reformator Martin Luther erzürnt. Unigenitus wurde zum Dreh- und Angelpunkt im Augsburger Verhör (Oktober 1518), als Kardinal Thomas de Vio, genannt Cajetan, Martin Luther zu zwei Punkten befragte, die ihm in den Schriften des Augustinermönchs als kritisch auffielen 49 . Einer der beiden Punkte war die Ablehnung der Lehre vom thesaurus ecclesiae (Kirchenschatz), wie ihn Papst Clemens VI. in seiner Bulle definiert hatte. Da Luther sich weigerte, diese lehramtliche Äußerung anzuerkennen, scheiterten die Gespräche in Augsburg. Und seine Kenntnis der nicht authentischen Bulle Ad memoriam reducendo/ Cum natura humana führte der Reformator an, als er in den Schmalkaldischen Artikeln (1537) gegen den Papst argumentierte. Luther kritisierte, dass dieser selbst ins Jenseits eingriff: „Bis er auch den Engeln im Himelreich sich zu gebieten unterstund“ 50 . Seine Kenntnis dieses Passus wird wahrscheinlich über die Rezeption der als Häretiker verurteilten Theologen John Wyclif und Jan Hus gelaufen sein 51 . Es ist anzunehmen, dass erst im Zusammenhang mit der Leipziger Disputation 1519, als Luther eine Annäherung an den tschechischen Heilung durch Ablass? 91 <?page no="92"?> 52 Zu den Päpsten im Großen Schisma siehe die einschlägigen Aufsätze in: Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, hg. von Harald M Ü L L E R / Brigitte H O T Z (Papsttum im mittelalterlichen Europa 1), Wien etc. 2012 und Christiane L A U D A G E , Kampf um den Stuhl Petri. Die Geschichte der Gegenpäpste, Freiburg im Br. 2012, S.-138-171. 53 Teilweiser Abdruck der Bulle in S C H M I D T S. J., Bullarium Anni Sancti (wie Anm. 22), S. 41 f. Gregor XI., der Papst, der Avignon für Rom aufgab, erließ bereits am 29. April 1373 eine Bulle Salvator noster Dominus, mit der er den 50 Jahre Abstand zwischen den Jubiläen bestätigte und die Kirche Santa Maria Maggiore in den Kreis der zu besuchenden Kirchen aufnahm. Druck der Bulle: S C H M I D T , Bullarium Anni Sancti (wie Anm. 22), S. 39-41. Zu dem Jubiläum siehe L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm. 1), S. 182-185, und ganz wichtig: Arnold E S C H , Papst Bonifaz IX. und der Kirchenstaat (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 29), Tübingen 1969, S. 55-58. Er hat auch in dem Band: La Storia dei Giubilei (wie Anm. 18), Bd. 1: 1300-1423, den einschlägigen Aufsatz zu den Jubiläen von 1390 und 1400 geschrieben, S. 278-293, sowie Hélène M I L L E T , Le Grand Pardon du Pape (1390) et celui de l’Année Sainte (1400), in: I Giubileo nella Storia della Chiesa (wie Anm.-18), S.-290-304. 54 Zu Bonifaz IX. immer noch grundlegend: E S C H , Papst Bonifaz IX. (wie Anm.-53). 55 E S C H , Papst Bonifaz IX. (wie Anm.-53), S.-58. Theologen und Reformator vollzog, ihm diese nicht authentische Bulle in Gänze oder Auszügen bekannt wurde und er sie dann in Folge ablehnte. - Das Jubiläum und das Schisma 1378 war die Einheit der Kirche zerbrochen. Die Christenheit teilte sich in zwei Lager, je nachdem, ob man zur römischen Obödienz unter Papst Urban VI. ge‐ hörte oder zur avignonesischen unter Papst Clemens VII. 52 . Wenig überraschend hatte das Große Abendländische Schisma auch Auswirkungen auf die Feier des Jubiläums. Zur Heilung des Schismas kündigte Papst Urban VI. 1389 mit der Bulle Salvator noster ein Jubiläum für das kommende Jahr an und verkürzte den Abstand zwischen den Jubiläen auf 33 Jahre mit dem Hinweis auf die Zahl der Jahre, die Jesus Christus auf der Erde lebte und der Erinnerung daran, dass so mehr Menschen die Chance hätten, ein Jubiläum zu erleben und des Ablasses teilhaftig zu werden 53 . Die Früchte erntete sein Nachfolger Bonifaz IX., weil Urban noch vor Beginn des Jubiläums starb 54 . War es Urban noch ein wichtiges Anliegen, seine Position im Schisma zu stärken, so sah sein Nachfolger weniger die spirituelle Seite der Feier und konzentrierte sich auf die für ihn ungleich wichtigere Aufgabe, die leeren Kassen zu füllen. Dafür instrumentalisierte er das Ablasswesen auf eine bis dahin nicht gekannte Art sowohl zum Wohl der Menschen wie auch zum Vorteil der päpstlichen Kammer 55 . Beides ließ sich hier trefflich verbinden. 92 Christiane Laudage <?page no="93"?> 56 F R A N K L , Papstschisma und Frömmigkeit (wie Anm. 46), zu den Ad instar-Ablässen; Hartmut K Ü H N E , Raimund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass. Zwei unbekannte Drucke, in: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutsch‐ land. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, hg. von Enno B Ü N Z / Hartmut K Ü H N E (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 50), Leipzig 2015, S.-429-470, 434-436 zur Einordnung. 57 Hartmut K Ü H N E , Raimund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass (wie Anm. 56), S.-434. 58 Johannes V I N C K E , Der Jubiläumsablass von 1350 auf Mallorca, in: Römische Quartal‐ schrift 41 (1933), S.-301-306; D E R S ., Zum Jubiläumsablass des Jahres 1350, in: Römische Quartalschrift 49 (1954), S. 251-255, sowie D E R S ., Espanya i l'any sant al segle XIV, in: Analecta Sacra Tarraconensia 10 (1934), S.-61-73. 59 Max J A N S E N , Papst Bonifatius IX. (1389-1404) und seine Beziehungen zur Deutschen Kirche, Freiburg im Br. 1904. 60 Siehe hier vor allem: M I L L E T , Le Grand Pardon du Pape (wie Anm.-53), S.-296-304. Auf Bonifaz IX. gehen zwei bedeutende Neuerungen zurück: Mit den Ad instar-Ablässen (nach Art von) reichte der Papst die Indulgenzen berühmter Wallfahrtskirchen an andere Orte der Christenheit weiter und er vergab das römische Jubiläum zur Nachfeier in die Regionen 56 . Hartmut Kühne spricht daher vom Ablassexport 57 , in dem Berndt Hamm eine weitere Station auf dem Weg zur Entschränkung der Ablassgnade sieht. Bereits 1350 erreichten Papst Clemens VI. verschiedene Anfragen, ob er das Jubiläum nicht in verschiedene Regionen vergeben könne, doch schlug er sie ab. Eine Ausnahme machte er nur für die Insel Mallorca 58 . Bonifaz IX. zeigte sich wesentlich entgegenkommender, schließlich floss ein Teil des Erlöses an die päpstliche Kammer. Und so kam dann Rom in die Regionen: In Mailand und München, Meißen, Prag, Magdeburg und Köln, um nur einige Orte zu nennen, konnte das römische Jubiläum vor Ort gefeiert werden 59 . Dafür wurden vor Ort jeweils bestimmte Kirchen ausgewählt, die die Rolle der römischen Kirchen übernahmen. Die Menschen mussten das spenden, was sie in etwa für die Reise nach Rom ausgegeben hätten. Nach den Bestimmungen Urbans VI. wäre erst wieder 1423 ein Jubiläum zu feiern gewesen, aber das hinderte die Menschen nicht daran, sich im Jahr 1400 auf den Weg in die Stadt am Tiber zu machen, in der Erwartung dort eines Ablasses teilhaftig zu werden 60 . Auch die Menschen in der avignonesischen Obödienz begaben sich auf die Reise, denn sie waren von dem großen Angebot an Gnade bislang völlig abgeschnitten, da es in den Ländern dieser Obödienz weder eine ähnlich inflationäre Vergabe von Ad instar-Ablässen gab und das Jubiläum von 1390 wegen des Schismas ohne sie stattfand. Zwar hatte der zweite Papst der avignonesischen Linie, Benedikt XIII., den Menschen verboten, zur Heilung durch Ablass? 93 <?page no="94"?> 61 F R A N K L , Papstschisma und Frömmigkeit (wie Anm.-46), S.-71. 62 Œuvres complètes d’Eustache D E S C H A M P S . Librairie de Firmin-Didot et Cie. Pub‐ liées d’après le manuscrit de la Bibliothèque Nationale par le marquis de Au‐ guste-Henry-Édouard Q U E U X D E S A I N T H I L A I R E (tomes I à VI) et Gaston R A Y N A U D (tomes VII à XI) (Société des Anciens Textes Français), Paris 1878-1903, hier Bd. 8, S.-203-f. 63 D I S A B A T I N O , Fortuna di un (probabile) falso (wie Anm.-40). 64 E S C H , Papst Bonifaz IX. (wie Anm.-53), S.-338 f. 65 Amedeo D E V I N C E N T I I S , Religiosità, politica e memoria agli inizi del Quattrocento. Il giubileo di Martino V, in: La Storia dei giubilei (wie Anm. 18), Bd. 1 (1300-1423), S.-294-311. 66 Das Jubiläum von 1450 inklusive Kunst und Kultur ist in: La Storia dei giubilei (wie Anm. 18), Bd. 2: 1450-1575, mit mehreren Aufsätzen gut aufgearbeitet. Zum Jubiläum selbst: Massimo M I G L I O , Il giubileo di Nicolò V (1450), in: La Storia dei giubilei (wie Anm. 18), S. 56-73. Druck der Bulle in: S C H M I D T , Bullarium Anni Sancti (wie Anm. 22), S.-42-44. Jahrhundertwende nach Rom zu reisen, doch setzten sie sich schlicht darüber hinweg 61 . Zwar gab es keine offizielle Ankündigung eines Jubiläums, aber immer noch kursierte Ad memoriam reducendo/ Cum natura humana. In dieser Pseudo-Ver‐ lautbarung war schließlich für alle 50 Jahre ein Jubiläum in Rom angekündigt. Der französische Dichter Eustache Deschamps (um 1340-1404) hatte den Text der Langfassung in seine Balade du Grant pardon de Romme umgesetzt, das für ihn 1399 begann und Weihnachten 1400 endete 62 . Um diese Zeit kursierte eine Übersetzung der Langfassung ins Toskanische 63 . Vielleicht kann man das als Hinweis sehen, dass diese Bulle auch auf der italienischen Halbinsel in der römischen Obödienz als Aufruf diente, nach Rom zu ziehen, um den Ablass zu gewinnen? Bonifaz IX. ging sehr geschickt mit der Situation um. Er handelte wie im Jubeljahr, ohne es als solches zu bestimmen; es war sozusagen ein Ad instar-Jubiläum, womit allen geholfen war 64 . Ein ähnlich inoffizielles Jubiläum gab es 1423 65 . Damals war das Schisma vorbei, das auch die Feier der Jubiläen betroffen hatte. In der ehemaligen französischen Obödienz blieb man bei der Feier alle 50 Jahre, in Rom hatte man sich für den 33-jährigen Rhythmus entschieden. Martin V., Papst der wieder geeinten Kirche, wollte wegen der Ablehnung der Kardinäle 1423 kein Jubeljahr begehen, doch als die ersten Pilger nach Rom kamen, und die Römer ihrem Wunsch nach einem Jubiläum Ausdruck gaben, wurde es informell Ad instar gefeiert. Endgültig vorbei waren die Verwerfungen durch das Schisma, als Papst Niko‐ laus V. für 1450 ein Jubiläum ankündigte 66 . Er machte damit allen Unsicherheiten ein Ende und kehrte zu den Bestimmungen vor dem Großen Abendländischen 94 Christiane Laudage <?page no="95"?> 67 Erich M E U T H E N , Die deutsche Legationsreise des Nikolaus von Kues 1451/ 1452, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik, Bildung, Naturkunde, Theologie. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erfor‐ schung der Kultur des Spätmittelalters 1983 bis 1987, hg. von Hartmut B O O C K M A N N / Bernd M O E L L E R / Karl S T A C K M A N N (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse, Dritte Folge 179), Göttingen 1989, S.-421-499. 68 Druck der Bulle: S C H M I D T , Bullarium Anni Sancti (wie Anm. 22), S. 45-50. Bestätigung durch Sixtus IV. Quemadmodum operosi ebd. S.-50-52 mit der Aufhebung aller anderen Plenarindulgenzen zum Heiligen Jahr. Zum Jubiläum 1475 siehe: Arnold E S C H , Il Giubileo di Sisto IV (1475), in: La Storia dei giubilei (wie Anm. 18), Bd. 2: 1450-1575, S.-106-123. 69 Bernd M O E L L E R , Die letzten Ablaßkampagnen. Der Widerspruch Luthers gegen den Ablaß in seinem geschichtlichen Zusammenhang, in: B O O C K M A N N (u.-a.), Lebenslehren und Weltentwürfe (wie Anm. 67), S. 539-567. Zu den Ablasskampagnen vor der Reformation siehe auch im Überblick: L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm. 1), S. 199-232, sowie unter einem anderen Aspekt: Wilhelm Ernst W I N T E R H A G E R , Die Schisma zurück. Es sollte ein Jubiläum der Einigung werden, schließlich war die Kirche in den Jahren zuvor durch das Konzil von Basel (1431-1449) mit einem eigenen Schisma (1439-1449) wieder durch Schwierigkeiten gegangen. Erst wurde das Jubiläum in Anwesenheit vieler Pilger in Rom gefeiert, dann zur Nachfeier in die Regionen vergeben. Nikolaus V. schickte Nikolaus von Kues als Legatus de latere nach Deutschland, um dort das Jubiläum zu verkünden und die deutsche Kirche nach den Verwerfungen der 1440er Jahre wieder in die Einheit der Kirche zurückführen 67 . Wie Erich Meuthen darlegte, war diese Legation einmalig wegen der Verbindung von Kirchenreform und Jubiläum. Wenig überraschend war das Jubiläum erheblich begehrter als die Kirchenreform. Eine grundsätzliche Neuerung aus der Zeit des Schismas, nämlich zuerst das Jubiläum in Rom zu begehen und dann vor Ort in der Christenheit nachzufeiern, ist ein bis heute geübter Brauch, allerdings nicht mehr im Abstand von 50 Jahren, sondern alle 25 Jahre. Papst Paul II. verkürzte 1470 die Zeit zwischen den Jubiläen unter Hinweis auf die Kürze und die Gefahren des menschlichen Lebens, denen nur durch das Heilsangebot der Kirche und des Jubiläumsablasses im Besonderen zu begegnen wäre 68 . Dieses Jubiläum wurde noch ganz in üblicher Form erst in Rom, dann in den Regionen begangen. Zu dieser Zeit aber arbeitete man schon im Südwesten Frankreichs an etwas ganz Neuem und Außergewöhnlichem. - Die Ablasskampagnen vor der Reformation Der Reformationshistoriker Bernd Moeller hat den Begriff der Ablasskam‐ pagnen für die großen flächendeckenden Ablassverkündigungen in den knapp 50 Jahren vor der Reformation in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt 69 . Heilung durch Ablass? 95 <?page no="96"?> erste Werbekampagne am Anbruch der Neuzeit. Zur Ausprägung frühmoderner Wer‐ bemethoden in den großen Ablaßaktionen um 1500. Eine historische Skizze, in: Ein gefüllter Willkomm. Festschrift für Knut Schulz zum 65. Geburtstag, hg. von Franz J. F E L T E N / Stephanie I R R G A N G / Kurt W E S O L Y , Aachen 2002, S.-517-532. 70 Biographische Einführung und Überblick über den Forschungsstand: Hartmut K Ü H N E , Raimund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass (wie Anm. 56), darin besonders: S.-429-433. 71 Zu Peraudis Informationskampagne mit der Summaria declaratio siehe K Ü H N E , Rai‐ mund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass (wie Anm. 56), S. 438 f. Druck der Bulle mit Übersetzung in: Der Ablassstreit (wie Anm.-22), S.-58-75. 72 Zu dem Ablass für die Verstorbenen siehe: P A U L U S , Geschichte des Ablasses (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 316-343 sowie Robert S H A F F E R N , Learned Discussions of Indulgences for the Dead in the Middle Ages, in: Church History 61 (1992), S.-367-381. Als Schlüsselfigur für diese Entwicklung bestimmte er den hier bereits er‐ wähnten Domdekan von Saintes, Raimund Peraudi (französisch Raymond Peraudi oder Pérault) (1435-1505) 70 . Der französische Theologe entwarf als Ab‐ lasskommissar für die ursprünglich auf Frankreich beschränkte Verkündigung der Indulgenz für Saintes ein neues Gnadenkonzept und eine dazu passende Liturgie, beides wurde beispielsetzend für alle weiteren Ablasskampagnen vor der Reformation. Was hat das mit dem Jubiläumsablass zu tun? Der Ablasskommissar Peraudi setzte die päpstliche Bulle Salvator noster in eine Informations- und Werbeschrift Summaria declaratio bullae indulgentiarum um, in der er das Konzept der vier Gnaden erläuterte 71 . Der Jubiläumsablass fungierte als erste Gnade. Da dieser Ablass bekannt war, brauchte er nicht weiter erläutert zu werden, da die üblichen Gewinnungsmöglichkeiten bestanden: Reue, Beichte, Besuch der vorgeschriebenen Kirchen und eine nach Einkommen festgelegte Spende. In die Zukunft wirkte der Beichtbrief (Confessionale), mit dem man sich einen Beichtvater der Wahl aussuchen konnte, der einem jedes Mal, wenn man sich im Angesicht des Todes wähnte, einen vollkommenen Ablass spenden durfte, Reue und Beichte vorausgesetzt. Von Peraudi heftig in seiner Schrift beworben, waren nun breitere Schichten als zuvor in der Lage, dieses Privileg zu erwerben, das den Menschen die gefürchtete Zeit im Fegefeuer ersparen sollte - schließlich mussten sie nicht mehr nach Rom reisen, um an der Kurie dieses begehrte Privileg zu erhalten, wo es teurer war und weniger Vergünstigungen aufwies. Um den Wert dieses Ablasses zu betonen, ließ Peraudi ihn auf Pergament drucken, ein teures, aber haltbares Material. Der Ablass für die Verstorbenen zählte ebenfalls zu diesen Gnaden 72 . Dieses Angebot richtete sich an alle, die ihre bereits verstorbenen Verwandten aus dem Fegefeuer befreien wollten. Voraussetzung war, dass die verstorbenen Menschen im Stande der Gnade gestorben waren, das heißt, sie sollten voller Reue über 96 Christiane Laudage <?page no="97"?> 73 Druck der Bulle mit Übersetzung: Der Ablassstreit (wie Anm. 22), S. 78-83, besonders S.-78-f. zu Fehlern. Tatsächlich sind diese Vorgänge nur über die Bulle bekannt. 74 Darauf macht aufmerksam: K Ü H N E , Ablassfrömmigkeit (wie Anm.-1), S.-51. 75 Charles du P L E S S I S D ’A R G E N T R É , Collectio Judiciorum de novis erroribus qui ab initio saec. XII in Ecclesia proscripti stint atque notati; Censoria etiam judicia academiarum, Paris 1755, hier Bd. I, 2, 306 f., sowie Nikolaus P A U L U S , Raimund Peraudi als Ablaßkom‐ missar, in: Historisches Jahrbuch 21 (1900), S.-645-682, hier 651 f., 655 f. 76 Zitat: M O E L L E R , Die letzten Ablaßkampagnen (wie Anm.-69), S.-550. ihre Sünden möglichst ein letztes Mal gebeichtet haben. Wer diese Indulgenz für eine Person erwerben wollte, brauchte jedoch umgekehrt nicht im Stand der Gnade zu sein, sondern lediglich einen bestimmten Betrag zu bezahlen. Tatsächlich löste gerade der Ablass für die Verstorbenen Wirbel aus, und zwar so sehr, dass Papst Sixtus IV. darauf reagierte. Im November 1477 sagte er in der Bulle Romani Pontificis Provida, ihm wäre berichtet worden, dass Ärgernisse und Fehler vorgekommen wären, und die Prediger bei der Verkündigung Irrtümer von sich gegeben hätten 73 . Daher erklärte er definitiv, dass der Ablass für die Verstorben per modum suffragii wirke, also in Art einer Fürbitte, und damit nicht alle Gebete oder anderen guten Werke für die Verstorbenen hinfällig würden. Der bekannte Spruch: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt! bezog sich nicht, wie verbreitet angenommen, auf den Ablass im Allgemeinen, sondern auf den Ablass für die Verstorbenen 74 . Schon 1482 sah sich die Pariser Sorbonne genötigt, sich mit diesem Spruch auseinanderzusetzen 75 . Nach intensiven Beratungen beschloss sie, dass man das so nicht aus der ursprünglichen Bulle für die Kathedrale von Saintes ableiten könne, noch wäre diese Verkürzung theologisch richtig, und noch viel weniger dürfte der Ablass für die Verstorbenen so verkündet werden. Zu den vier Gnaden zählte auch die Teilhabe an den Suffragien der Kirche. Alle Gebete, Fasten oder andere guten Werke sollten jedem zugutekommen. „Es war ein enormes, ein gewissermaßen perfektes Programm der religiösen Zu‐ kunftssicherung, das da aus dem Ablasswesen abgeleitet wurde, ein Programm, das geeignet sein konnte, die sonst von der Kirche angebotenen Heilswege belanglos, ja überflüssig erscheinen zu lassen; so etwas wie eine Konkurrenz der Heilssysteme trat ein. Wer sich diesem Programm anvertraute, für den konnte sich die ganze Lebensperspektive verändern“ 76 , so Bernd Moeller. Der Domdekan Peraudi, der bis Ende 1480er Jahre den Ablass erst für Saintes, dann als Kreuzzugsablass verkündigte, bot den Menschen mit dem Gnadenkonzept die Möglichkeit, sich umfassend gegen die Schrecken des Fegefeuers abzusi‐ chern. Heilung durch Ablass? 97 <?page no="98"?> 77 Grundlegend: Falk E I S E R M A N N , Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert, in: Media salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Berndt H A M M / Volker L E P P I N / Gury S C H N E I D E R -L U D O R F F (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58), Tübingen 2011, S. 121-143. Siehe auch Andrew P E T T E G R E E , Brand Luther: 1517, Printing and the making of the Reformation, New York 2015, S. 53-60 mit der Bewertung: „Peraudi was the great impresario of the indulgence trade, bringing to the economy of salvation both logistical brilliance and a real sense of theatre“ (ebd. S.-56). 78 Siehe dazu: Berndt H A M M , Die Reformation als Medienereignis, in: Jahrbuch für biblische Theologie 11 (1996), S.-137-166. Zur Marke Martin Luther: P E T T E G R E E , Brand Luther (wie Anm.-77). 79 Siehe dazu Hans V O L Z , Die Liturgie bei der Ablaßverkündigung, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 11 (1966), S.-114-125, besonders 114-118 zu Peraudi mit der Anweisung in lateinischer Sprache. Der Ablasskommissar nutzte effizient alle ihm zur Verfügung stehenden medialen Möglichkeiten 77 . Peraudi setzte konsequent auf das damals noch relativ neue Medium Druck. Mit Ein- und Mehrblattdrucken konnte er Öffent‐ lichkeit schaffen und den Ablass bewerben. Sowohl die Summaria Declaratio, die Avisamenta confessorum (Anleitung für die Beichtväter) wie auch die Bulle des Papstes und die Gutachten zum Ablass für die Verstorbenen wurden zielgruppengerecht in lateinischer und deutscher Sprache gedruckt - nicht zu vergessen die Beichtbriefe. Beim Erwerb des Confessionale mussten nur noch der Name eingetragen und das Siegel angehängt werden. Der Einsatz des Druckmediums bedeutete eine enorme Arbeitserleichterung für eine groß angelegte Ablasskampagne. Mit dem durchgehenden Einsatz von Druckmedien schuf Peraudi eine Öffentlichkeit, die er besonders im Zusammenhang mit dem Jubiläumsablass und seiner Verkündigung in Deutschland nutzte. Damit waren Strukturen geschaffen, die dann aus der Reformation ein Medienereignis und den bis dahin unbekannten Augustinermönch Martin Luther zu der überall bekannten „Marke Martin Luther“ (Andrew Pettegree) machten 78 . Neben den vier Gnaden und dem kontinuierlichen Einsatz der Druckmedien war es die liturgische Ausgestaltung, die die Ablasskampagnen kennzeichnete und die an allen Verkündigungsorten gleich ablief 79 . Die Liturgie der Ablass‐ verkündigung bestand aus drei Teilen: der Einführung des Ablasses mit der Errichtung des Kreuzes, dann den täglichen Vespern sowie der Abnahme des Kreuzes. Die Ablasskampagne wurde zu einem interaktiven Multimedia Event. Die Gesänge, die um das Kreuz, den Tod Jesu Christi und seine Auferstehung als Erlösung für die Menschen kreisten, hatten ihren visuellen Gegenpunkt in dem Kreuz in der Kirche. Die Umsetzung der Ablasspredigt in ein liturgisches 98 Christiane Laudage <?page no="99"?> 80 Wilhelm Ernst W I N T E R H A G E R , Johann Tetzel und der Petersablass. Zur Personalrekru‐ tierung als Problem der späten Ablasskampagnen, in: Johann Tetzel und der Ablass. Begleitband zur Ausstellung „Tetzel - Ablass - Fegefeuer“ im Mönchkloster und Nikolaikirche Jüterbog vom 8. September bis 26. November 2017, hg. von Hartmut K Ü H N E / Enno B Ü N Z / Peter W I E G A N D , Berlin 2017, S.-215-230. 81 L A U D A G E , Geschäft mit der Sünde (wie Anm.-1), S.-209-212. 82 Zu diesem Jubeljahr siehe Nikolaus P A U L U S , Die Geschichte des Jubiläums vom Jahre 1500, in: Zeitschrift für katholische Theologie 24 (1900), S. 173-180; Helga R O B I N S O N -H A M M E R S T E I N , 1500 - Prognostik, Jubeljahr und habsburgisch-burgundische Propaganda, in: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Manfred J A K U B O W S K I -T I E S S E N (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 155), Göttingen 1999, S. 53-71. In dem Sammel‐ werk La Storia dei giubilei (wie Anm. 18) fehlt in Band 2 eine Darstellung des Jubiläums von 1500. Aus welchem Grund auch immer wurde es ausgelassen. In dem anderen Ritual verdichtete den Inhalt, so dass mit der Ablasskampagne Rom und das Heilsangebot der Kirche vor Ort erlebbar wurden. In der Regel stand außerdem eine große Zahl von Beichtvätern aus dem Welt- und Ordensklerus bereit, ausgestattet mit weitreichenden Fakultäten, die eine Lossprechung von allen möglichen Sünden möglich machte. Tatsächlich machte die Qualität der Geistlichen, die Predigten hielten oder die Beichte abnahmen, einen großen Teil am Erfolg einer Ablasskampagne vor Ort aus 80 . Ablasskampagnen waren überhaupt zeitaufwändig sowie personal- und kostenintensiv 81 . Konnte der mit der Verkündigung beauftragte Kommissar organisieren? War er in der Lage, gutes Personal zu rekrutieren, das dann die Verkündigung in die einzelnen Orte trug? War das Personal fähig und ehrlich? Ein weiteres strukturelles Problem einer jeden Ablasskampagne waren die Kosten, wie am Beispiel der Verkündigung des Jubiläumsablasses 1500 in Deutschland durch den dann schon zum Kardinal ernannten Raimund Peraudi offensichtlich wird. Ungefähr ein Drittel bis zu einem Viertel des Erlöses musste für die Organisation aufgewendet werden, denn jeder, der beteiligt war, wollte auch bezahlt werden. Raimund Peraudi verstand die Ablasskampagne als Aufforderung an die Menschen, ein gottesfürchtiges Leben zu führen und bot ihnen Hilfe auf dem Weg zum ewigen Heil durch die Gnadenmittel der Kirche wie die Buße und den Ablass. Bis zur Reformation wurden im Wesentlichen alle überregionalen Ablässe nach diesem Schema verkündet. - Das Jubiläum 1500 1500 konnte die Kirche wieder ein Jubeljahr begehen, es war nach 1300 erst das zweite - offizielle - Jubiläum zur Jahrhundertwende 82 . Papst Alexander VI. Heilung durch Ablass? 99 <?page no="100"?> Sammelband I giubilei nella Storia della Chiesa (wie Anm. 18) wird das Jubiläum nicht als Ganzes vorgestellt, dafür aber die wichtigste Neuerung, nämlich die Öffnung der Heiligen Pforte, siehe dazu: Eva Maria J U N G -I N G L E S S I S , Die Heilige Pforte, in: I giubilei nella Storia della Chiesa (wie Anm. 18), S. 58-70. Zu Alexander VI. siehe: Volker R E I N H A R D T , Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia 1431-1503, München 2005. Allerdings findet bei Reinhardt das Jubiläum von 1500 nur als Nebenereignis statt. Siehe auch Laudage, Geschäft mit der Sünde (wie Anm.-1), S.-192-194, 219-226. 83 Bulle Inter multiplices, in: S C H M I D T , Bullarium Anni Sancti (wie Anm.-22), S.-55-58. 84 RI XIV,3,2 Nr. 13886, in: Regesta Imperii Online, http: / / www.regesta-imperii.de/ id/ 14 99-12-20_2_0_14_3_2_1126_13886 (31. März 2022). Wiedergabe der Bulle Inter curas multiplices. 85 J U N G -I N G L E S S I S , Die Heilige Pforte (wie Anm. 80). Zum Beginn des Heiligen Jahres und der Öffnung der Pforte siehe Johannes B U R C K A R D , Liber Notarum ab anno 1483 usque ad annum 1506, 2 Bde., hg. von Enrico C E L A N I (Rerum Italicarum Scriptores 32), Città di Castello-Bologna 1906-1911, hier Bd. 2, S. 179-192. Siehe auch den Eintrag zum 18. Dezember 1499 in: RI XIV,3,2 Nr. 13883, in: Regesta Imperii Online,: http: / / www.re gesta-imperii.de/ id/ 1499-12-18_2_0_14_3_2_1123_13883 (31.-März 2022). verkündete, nachdem am 28. März 1499 im Konsistorium die Jubiläumsbulle des Papstes approbiert worden war, ein Jubiläum für die Jahrhundertwende und suspendierte gleichzeitig alle großen Indulgenzen, damit nichts vom Jubi‐ läum ablenken würde und keine unnötige Konkurrenz zum Ablass in Rom bestand 83 . Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest 1499, das den Beginn des Jubeljahres markierte, wandte sich Papst Alexander noch einmal mit der Bulle Inter curas multiplices an alle Gläubigen und wiederholte die Bedingungen 84 : Das Jubiläumsjahr solle am Vorabend des Weihnachtsfestes mit der Öffnung der Goldenen Pforte von St. Peter beginnen. Zur gleichen Zeit würden auch die Pforten der anderen Hauptkirchen Roms geöffnet werden. Neben den bereits bekannten Ablassbedingungen wies der Papst auf den Ablass für die Verstorbenen hin. Diese Indulgenz war zwar bislang Teil der Gnaden, wie sie in den Ablasskampagnen angeboten wurden, doch bislang noch nicht bei einem Jubeljahr in Rom. Die Idee einer Heiligen Pforte, die man zur Vergebung der Sünden und zum Gewinn des Ablasses durchschreiten müsse, war in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Allgemeingut, so dass Johannes Burckard, der Zeremonien‐ meister von Papst Alexander VI., wie selbstverständlich davon ausging, dass der Papst diese zum Beginn des Jubiläumsjahres öffnen müsste 85 . Die Überraschung war groß, als an den angegebenen Orten keine solchen Pforten zu finden waren. Doch mit dem Heiligen Jahr 1500 wurden sie eingerichtet und fanden ihren Platz in der kirchlichen Tradition. Ein Heiliges Jahr beginnt mit der Öffnung der Heiligen Pforte und endet mit der Schließung derselben. Tatsächlich hat nach Angaben von Erzbischof Piero Marini, päpstlicher Zeremonienmeister von 100 Christiane Laudage <?page no="101"?> 86 Piero M A R I N I , L’Ouverture de la Porte Sainte du Grand Jubilé de l’an 2.000. Indications Rituelles, in: Der Heilige Stuhl (1999); http: / / www.vatican.va/ news_services/ liturgy/ d ocuments/ ns_lit_doc_14121999_porta-santa_fr.html (27. März 2022). 87 Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Basisdienst 29.11.2015: Papst eröffnet Heiliges Jahr in Zentralafrikanischer Republik. 88 Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Basisdienst 18.12.2015: Papst öffnet Heilige Pforte in Obdachlosenunterkunft. 89 Papst F R A N Z I S K U S , Misericordiae Vultus. Verkündigungsbulle des Außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit, in: Der Heilige Stuhl (2015); https: / / w2.vatican.va/ conte nt/ francesco/ de/ apost_letters/ documents/ papa-francesco_bolla_20150411_misericordi ae-vultus.html (27.-März 2022). 90 Valentinelli, Regesta Nr. 583, in Regesta Imperii Online, http: / / f3.regesta-imperii.de/ su che.php? flagbit=0&textsuche=raimund+peraudi&offset=0&limit=20&typen%5b1%5d= 1&typen%5b2%5d=2&typen%5b3%5d=3&typen%5b4%5d=4&typen%5b5%5d=5&b1=Suc he, aus der unveröffentlichten Sammlung (27. März 2022): Linz Original: Kaiser Friedrich III. erinnert Papst Innozenz VIII. an seine schon im Vorjahr brieflich an ihn gerichtete Bitte, Raimund Peraudi, Elekt von Gurk, in das Kardinalskollegium aufzunehmen. 1987-2007, das von Burckard entwickelte Ritual bis heute Gültigkeit, abgesehen von einigen Modifikationen für das Jubeljahr 1525 86 . Papst Franziskus, bekannt für seinen unverkrampften Umgang mit der Tradition, hat das Ritual um die Öffnung der Heiligen Pforte erweitert. Er hat erstmals vor Beginn des außerordentlichen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit eine Heilige Pforte geöffnet, nämlich am 29. November 2015 in Bangui, der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik 87 . Die Eröffnung des Heiligen Jahres in einem der ärmsten und unsichersten Staaten der Welt war wohl die symbolträchtigste Geste der ersten Afrika-Reise von Franziskus. In der Sozialstation am Hauptbahnhof Termini in Rom, getragen von der Caritas, hat er am 18. Dezember 2015 ebenfalls eine Heilige Pforte geöffnet, sie ist die einzige in Rom, die nicht zu einer Kirche gehört 88 . Für Papst Franziskus ist die Heilige Pforte Trost und Aufgabe zugleich: „Wenn wir die Heilige Pforte durchschreiten, lassen wir uns umarmen von der Barmherzigkeit Gottes und verpflichten uns, barmherzig zu unseren Mitmenschen zu sein, so wie der Vater es zu uns ist“ 89 . Nach dem Ende des Jubiläums schickte Papst Alexander VI. Raimund Pe‐ raudi nach Deutschland, um dort den Ablass zu verkündigen. Peraudi hatte seine Aufträge als Ablasskommissar für verschiedene Indulgenzen (Saintes, Kreuzzug) erfolgreich zu Ende geführt und einen guten Eindruck allerseits hinterlassen. Weil Peraudi sowohl bei Kaiser Friedrich III. und dessen Sohn Maximilian I. in hohem Ansehen stand, setzte sich Kaiser Friedrich III. zu Beginn der 1490er Jahre bei Papst Innozenz VIII. dafür ein, dass Peraudi zum Kardinal erhoben werden solle 90 , doch erst dessen Nachfolger Alexander VI. nahm den französischen Ablasskommissar am 20. September 1493 ins Kardinalskollegium Heilung durch Ablass? 101 <?page no="102"?> 91 RI XIV,1 Nr.-3205, in: Regesta Imperii Online, http: / / www.regesta-imperii.de/ id/ 1494-1 2-19_1_0_14_1_0_3212_3205 (28.-März 2022). 92 Übernommen von: RI XIV,3,2 Nr.-14471, in: Regesta Imperii Online, http: / / www.regest a-imperii.de/ id/ 1500-10-05_6_0_14_3_2_1736_14471 (28.-März 2022). 93 Siehe dazu: Peter S C H M I D , Der päpstliche Legat Raimund Peraudi und die Reichsver‐ sammlungen der Jahre 1501-1503. Zum Prozeß der Entfremdung zwischen Reich und Rom in der Regierungszeit Kaiser Maximilians I., in: Reichstage und Kirche. Kolloquium der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, 9. März 1990, hg. von Erich M E U T H E N (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 42), Göttingen 1991, S. 65-88. Schmid rollt die politische Dreiecksbeziehung zwischen dem Legaten, König Maximilian und dem Reichsregiment auf. Dabei setzt er gelegentlich andere Akzente als: Gebhard M E H R I N G , Kardinal Raimund Peraudi als Ablasskommissar in Deutschland 1500-1504 und sein Verhältnis zu Maximilian I. Mit 9 Textbeilagen, in: Forschungen und Versuche zur Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Festschrift Dietrich Schäfer zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von seinen Schülern, Jena 1915, S. 334-409. Das Thema Peraudi und die Verkündigung des Kreuzzugsablasses im Rahmen der Nachfeier im Reich behandelt auch Norman H O U S L E Y , Crusading and the Ottoman Threat: 1453-1505, Oxford 2012, darin das Kapitel: Indulgences and the crusade against the Turks. Housley untersucht in diesem Kapitel an den Ablasskampagnen Peraudis, ob und wie erfolgreich sie im Hinblick auf die Kreuzzüge noch waren. Für den Aufenthalt Peraudis in Deutschland sind auch zwei Aufsätze von Hartmut K Ü H N E grundlegend: D E R S ., Raimund Peraudis Reise durch Mitteldeutschland, in: Thüringische und Rheini‐ sche Forschungen. Bonn - Koblenz - Weimar - Meiningen. Festschrift für Johannes Mötsch zum 65. Geburtstag, hg. von Norbert M O C Z A R S K I / Katharina W I T T E R , Leipzig 2014, S. 109-124 sowie K Ü H N E , Raimund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass (wie Anm.-56). auf. Der Kardinal ließ voller Dankbarkeit über seine Erhebung wissen: Er werde nie vergessen, dass er seine Kardinalswürde der Fürbitte Kaiser Friedrichs und König Maximilians zu verdanken habe 91 . Daher und wegen seiner mehrfachen Aufenthalte in Deutschland galt er als der „deutsche Kardinal“. Das Jubiläum stand ganz im Zeichen eines geplanten Kreuzzugs, der dann nicht stattgefunden hat 92 . Für diese Aufgabe bestellte der Papst Kardinal Rai‐ mund Peraudi zu seinem Legaten a latere, der die Streitigkeiten unter den christlichen Fürsten ausgleichen und den Türkenzug bei König Maximilian, bei den Kurfürsten, im Heiligen Römischen Reich, in Dänemark, Schweden, Norwegen, Friesland und Preußen predigen sollte. Dann folgten die üblichen Bestimmungen zum Ablass, für die Bestellung der Beichtväter und die Aufbe‐ wahrung des Geldes. Der Ablass sollte vom kommenden Weihnachten an für zwei Jahre Gültigkeit haben, also bis Weihnachten 1502. Die Legation des Kardinals zur Verkündigung des Jubiläumsablasses für die Finanzierung eines Kreuzzuges verlief sehr schwierig, besonders wegen des Widerstandes, den König Maximilian im Vorfeld aufgebaut hatte 93 . Zunächst 102 Christiane Laudage <?page no="103"?> 94 RI XIV,3,2 Nr. 15605, in: Regesta Imperii Online, http: / / www.regesta-imperii.de/ id/ 1 501-09-11_2_0_14_3_2_2877_15605 (31. März 2022). Ich zitiere die einzelnen Bestim‐ mungen aus diesem Regest. 95 Werner M A L E C Z E K , Die päpstlichen Legaten im 14. und 15. Jahrhundert, in: Gesandt‐ schafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, hg. von Rainer Christoph S C H W I N G E S / Klaus W R I E D T (Vorträge und Forschungen 60), Ostfildern 2003, S. 33-86, besonders S.-52-54 zur finanziellen Situation des Kardinals Peraudi. 96 RI XIV,4,2 Nr. 20594, in: Regesta Imperii Online, http: / / www.regesta-imperii.de/ id/ 15 03-07-00_4_0_14_4_1_1089_20594 (31. März 2022). 1503 Jul. ( Juli-August), (sine loco/ Nürnberg? ) Der Legat Raimund Peraudi berichtet über die Gründe, warum König Maximilian und das Reich dem Legaten ein Drittel der Jubelablass- und Beichtgelder verordnet haben. ließen ihn König Maximilian und das Reichsregiment gar nicht ins Reich ein‐ reisen, der Kardinal saß über Monate vor der Grenze in Rovereto fest. Warum? Maximilian trieb die große Angst, von Alexander VI. bei einem Kreuzzug zu Gunsten des französischen Königs zurückgesetzt zu werden, und noch größer war seine Sorge, dass der Papst an einer Koalition seiner Feinde arbeitete, um ihn um die Kaiserkrone und seine Erblande zu bringen. Das Reichsregiment war wenig erfreut über die Verkündigung des Ablasses, weil damit wieder Geld aus Deutschland abgeführt würde, das nachher in dunklen Löchern an der Kurie verschwinden könnte. Nach langen Verhandlungen schlossen am 11. September 1501 der Kardinallegat mit dem Reichsregiment sowie der Nürnberger Reichs‐ versammlung einen Vertrag, in dem die Verkündigung des Ablasses zugelassen wurde 94 . Ihm wurden „Aufpasser“ zur Seite gestellt, genaue Vorschriften über die Verkündigung, die Kosten der vier Gnaden und die Aufbewahrung des Geldes gemacht. In der ganzen Zeit der Verkündigung spielte das Thema Geld eine große Rolle. Der Kardinallegat war ständig in großen Geldnöten. Von dem Moment an, als er Rom verließ, verlor er seinen Anteil an den Einkünften des Kardinals‐ kollegiums 95 . Zwar war er vor Antritt der Legation mit einem Betrag versorgt worden, aber den hatte er bereits in den Monaten verbraucht, als er in Rovereto auf Einlass in die habsburgischen Erblande wartete. Außerdem war eine Ab‐ lasskampagne sehr kostenintensiv und der Legat musste dafür einstehen, denn jeder wollte bezahlt werden, vom Drucker, der die Beichtbriefe herstellte, bis zu der Person, die das Kreuz für die Ablasspredigt vor Ort zimmerte. Dazu kam noch der Unterhalt für seine Entourage, die Kanzlei, die er mitführte, und dem, was er für sich brauchte. Daher war ihm ein Drittel des Erlöses aus den Beichtbriefen zugesagt worden. Um diesen Anteil zu erhalten, musste er sich ständig rechtfertigen 96 . Außerdem litt der Kardinal unter Gicht. Zusammen Heilung durch Ablass? 103 <?page no="104"?> 97 K Ü H N E , Raimund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass (wie Anm. 56), bes. S. 451- 455. 98 K Ü H N E , Raimund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass (wie Anm.-56), S.-451. mit den ständig drückenden Geldsorgen machte dies seinen Aufenthalt in Deutschland manchmal nur schwer erträglich. Das Reichsregiment und König Maximilian waren sich eigentlich nur in einem Punkt einig - nämlich den Legat an die kurze Leine zu legen und dafür zu sorgen, dass möglichst wenig Geld Deutschland verließ. König Maximilian begann 1502 mit großem Druck, die alleinige Kontrolle über den Erlös aus der Ablassverkündigung zu bekommen, und genau das wollte der Legat verhin‐ dern 97 . Dafür suchte er nach der Auflösung des Reichsregiments die Nähe der kurfürstlichen Opposition und setzte gezielt auf Ein- oder Mehrblattdrucke, um seine Position darzustellen, mit dem Ziel, über die öffentliche Meinung den König vom Zugriff auf die Ablasskisten fernzuhalten. Das gelang ihm nicht. Neben der Verkündigung des Ablasses und den politischen Pflichten widmete sich der Legat noch weiteren Aufgaben, die an ihn herangetragen worden waren: Er ordnete Klosterreformen an, vollzog Kirchweihen und Doktorpromo‐ tionen, vermittelte in städtischen Konflikten und bei Friedensverhandlungen, verschenkte Reliquien, bestätigte Privilegien und erteilte vor allem Ablässe für Kirchenbesuch und andere fromme Werke 98 . Das Jubiläum 1500 war das letzte, das in Form einer Ablasskampagne in Deutschland verkündigt wurde. Mit der Reformation ging der gesellschaftliche Konsensus verloren, geistliche Gnaden zur Finanzierung gleich welchen Zwe‐ ckes auch immer anzubieten. Ablässe dienten vom 13. Jahrhundert an zur Schwarmfinanzierung oder zum Crowdfunding, ob es nun der Bau von Brücken, Straßen oder Kirchen war, der Unterstützung von Menschen in Not oder der Hilfe bei Naturkatastrophen. Die Menschen erhielten als Belohnung einen Ablass, so wie man heute für Spenden einen Beleg für die Steuererklärung bekommt. Bei den Ablasskampagnen ging es um die Totalversicherung für das Jenseits. Epilog: Heilige Jahre außerhalb Roms - Heilige Jahre in Canterbury Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury, ist einer der populärsten Heiligen Englands, dessen Mord im Dom am 29.12.1170 bis in die heutige Zeit in Kunst 104 Christiane Laudage <?page no="105"?> 99 Zu Thomas Becket sei hier nur genannt: Hanna V O L L R A T H , Thomas Becket: Höfling und Heiliger (Persönlichkeit und Geschichte 164), Göttingen 2004, sowie Anne D U G G A N , Thomas Becket, London 2004. 100 Kay B R A I N E R D S L O C U M , The Cult of Thomas Becket. History and Historiography through Eight Centuries, London 2018. 101 Brenda B O L T O N , The Jubilee of Canterbury, in: I Giubilei nella Storia della Chiesa (wie Anm.-18), S.-148-163. 102 Jürgen P E T E R S O H N , Jubiläumsfrömmigkeit vor dem Jubelablaß. Jubeljahr, Reliquien‐ translation und „remissio“ in Bamberg (1189) und Canterbury (1220), in: DA 45 (1989), S.-31-53, darin 35-38 zu Canterbury. 103 Zitat: B O L T O N , The Jubilee of Canterbury (wie Anm. 101), S. 153. Zu Stephan Langton siehe Daniel B A U M A N N , Stephen Langton. Erzbischof von Canterbury im England der Magna Carta (1207-1228) (Studies in Medieval and Reformation Traditions 144), Leiden 2009, darin S.-258-267 zur Translation Beckets. 104 S.o. S. 85. 105 B O L T O N , The Jubilee of Canterbury (wie Anm.-101), S.-143 f. und Kultur nachlebt 99 . 2020 sollte in England ein großes Jubiläum, wenn auch eher säkularer Art, stattfinden, um daran zu erinnern. Denn es waren nicht nur 850 Jahre seit dem Mord vergangen, am 7. Juli 1220, also dann vor 800 Jahren, wurden seine Gebeine erhoben (translatio), um diese in einen kostbaren Schrein zu betten. Das Jubiläumsjahr zu Ehren des Heiligen, dessen Ermordung sich tief in das kulturelle Gedächtnis des Landes eingeprägt hat, musste wegen der Pandemie verschoben werden, es begann dann an dem Tag, an dem es hätte enden sollen - dem 850. Todestag. Im Mittelalter war Canterbury eben wegen Thomas Becket in England einer der beliebtesten Wallfahrtsorte, der auch Besucher vom Kontinent anzog 100 . Mit diesem Ort war ein Jubiläum verbunden, das alle 50 Jahre stattfand 101 . Ein Jubiläum außerhalb Roms vor dem ersten Heiligen Jahr 102 ? Tatsächlich feierte man in Canterbury ein Jubiläum, das allerdings nichts mit dem römischen Heiligen Jahr zu tun hatte, sondern eine ganz eigene Geschichte hatte. Dieses Jubiläum ist mit der Translation der Gebeine Beckets verbunden. Stephan Langton, sein vierter Nachfolger auf dem Stuhl von Canterbury, suchte dieses Ereignis gewinnbringend für die Kirche und die Nation zu nutzen „to weld together a political and religious settlement, both to unite and improve the position of the English church within the kingdom and bind it more closely into a genuine partnership with Rom“ 103 . Stephan Langton griff dabei auf die Idee des alttestamentarischen Jubeljahres zurück, wie es auch Papst Clemens VI. in seiner Bulle Unigenitus für das Jubiläum 1350 tat 104 . Doch Langtons Zielrichtung war eine andere. Er wollte in diesem 50. Jahr den Glauben stärken und das Königreich erneuern, in dem er eine Feier ähnlich des alttestamentarischen Jubiläums initiierte 105 . Papst Heilung durch Ablass? 105 <?page no="106"?> 106 B O L T O N , The Jubilee of Canterbury (wie Anm.-101), S.-155; P E T E R S O H N , Jubiläumsfröm‐ migkeit (wie Anm.-102), S.-37. 107 Kanon 62, lateinisch-deutsch in: Der Ablasstreit (wie Anm.-22), S.-12 f. 108 Die Vorgänge sind schwer zu eruieren, siehe dazu Robert N. S W A N S O N , Indulgences in Late Medieval England: Passports to Paradise? , Cambridge 2007, S. 95 und Eveleigh W O O D R U F F , The financial Aspects of the Cult of St Thomas, in: Archaeologia Cantiana 44 (1932), S.-13-32, besonders 22 f. 109 B O L T O N , The Jubilee of Canterbury (wie Anm.-101), S.-163. 110 B O L T O N , The Jubilee of Canterbury (wie Anm. 101), S. 163; W O O D R U F F , The financial Aspects (wie Anm.-108), S.-24. 111 Robert E. S C U L L Y , The Unmaking of a Saint: Thomas Becket and the English Reforma‐ tion, in: The Catholic Historical Review 86 (2000), S. 579-602 sowie Sarah J. Biggs, Erasing Becket, in: Medieval Manuscript Blog der British Library (9.9.2011); https: / / blogs.bl.uk/ digitisedmanuscripts/ 2011/ 09/ erasing-becket.html (abgerufen am 30. März 2022). Sie fügt die Bilder bei, wo man sehen kann, wie das Andenken an den Heiligen buchstäblich ausradiert wurde. Honorius III. gewährte den Teilnehmern der Translation einen Ablass - von 40 Tagen und dann einem Jahr und 40 Tagen für den Jahrestag der Translation 106 . Das entsprach den Vorgaben des IV. Laterankonzils für Kirchweihen, die hier umgesetzt wurden 107 . Die Überführung der Gebeine des Heiligen in den kostbaren Schrein in die Kapelle zur Heiligen Dreifaltigkeit in der Kathedrale einte die kirchliche und weltliche Elite des Landes, sie zog auch zahlreiche Pilger an. Fortan sollte also alle 50 Jahre ein Jubiläum in Canterbury stattfinden, jedoch ohne Plenarablass wie in Rom. Zum Jubiläum 1420 müssen offenbar der damalige Erzbischof Henry Chicheley zusammen mit dem Domprior John of Wodensburg große Gnaden verkündet haben und zahlreiche Beichtväter angestellt haben 108 . Das kam Papst Martin V. zu Ohren, der eine Untersuchung anordnete. Das Jubiläum zog zahlreiche Pilger an, die viel Geld spendeten - der Erzbischof musste aber nichts davon als Strafe nach Rom abführen. Nachgewiesen ist das Jubiläum in Canterbury für die Jahre 1320, 1370, 1420, 1470 109 . Ob es 1520 ein Jubiläum gegeben hat und wenn nicht, warum nicht, ist nicht ganz klar 110 . Das Ende des Thomas-Kults in Canterbury kam 1538 und glich einer damnatio memoriae  111 . König Heinrich VIII., der ebenso wie sein Vorfahr Heinrich II. wenig Geduld mit meinungsstarken Klerikern hatte, suchte den Kult um Thomas Becket zu vernichten, denn ein Erzbischof, der seinem König widersprochen hatte und als Heiliger verehrt wurde, war in der Zeit des religiösen Umbruchs ein gefährliches Vorbild. Im September 1538 wurde der Schrein zerstört, und die Knochen wurden wahrscheinlich verbrannt. Das war das Ende der mittelalterlichen Thomas-Verehrung in Canterbury. 106 Christiane Laudage <?page no="107"?> 112 Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Basisdienst 11.3.2020: Thomas Beckets Ge‐ wand kommt zum 850. Todestag nach England. 113 Hape K E R K E L I N G , Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, München 2006. 114 Klaus H E R B E R S , Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, München 3 2011, sei hier nur in Auswahl genannt. 115 Zu dem Heiligen Jahr und dem Ablass siehe: Bernhard S C H I M M E L P F E N N I G , Die Anfänge des Heiligen Jahres von Santiago de Compostela im Mittelalter, in: Journal of Medieval History 4 (1978), S.-285-303; K Ü H N E , Ostensio (wie Anm.-12), S.-622-625. Die katholische und die anglikanische Kirche erkennen Thomas Becket als Heiligen und Märtyrer an. Als Zeichen des guten Willens und der Ökumene wurde im Sommer 2020 um die Zeit des ursprünglichen Translationsfestes vom Vatikan die blutbefleckte Tunika des Erzbischofs für eine kurze Zeit nach Canterbury ausgeliehen 112 . Das Gefäß mit der Tuchreliquie wird seit 500 Jahren in der päpstlichen Basilika Santa Maria Maggiore in Rom aufbewahrt. - Heilige Jahre in Santiago de Compostela Der Entertainer Hape Kerkeling ging im Jahr 2001 den „Jakobsweg“ nach San‐ tiago de Compostela, was er für sich als bereichernde Erfahrung mitnahm. Seit er 2006 einen Reisebericht mit dem Titel: „Ich bin dann mal weg“ veröffentlichte, nimmt gerade in Deutschland das Bedürfnis nach einer Pilgerreise zu Fuß spürbar zu 113 . Der Weg ist das Ziel, mit dieser Einstellung sind in der Gegenwart viele Wanderer nach Galicien unterwegs, andere sehen in der Fußwallfahrt eine grundsätzliche spirituelle Erfahrung. Im Mittelalter war es, wie bereits eingangs erklärt, neben der Reise- und Abenteuerlust das Bedürfnis am Ende des Weges große Gnaden zu erlangen. In Santiago de Compostela feiert man immer dann ein Heiliges Jahr mit einem Plenarablass, wenn das Fest des heiligen Jakobus am 25. Juli auf einen Sonntag fällt 114 . Nur in diesem Wallfahrtsort findet ein weiteres Heiliges Jahr statt, dessen Grundlage allerdings faktisch anfechtbar ist - die Tradition ist schlicht erfunden, aber bemerkenswert insofern, als von römischer Seite weder im Mittelalter noch in der Neuzeit ein - wie man heute sagen würde - „Markenschutz“ für das römische Heilige Jahr durchgesetzt worden wäre 115 . Man hat das, was in Santiago passierte, so stehen lassen. Traditionell war es die Hoffnung, am Grab der Heiligen durch die physische Nähe Trost, Hoffnung, ein Wunder und/ oder die Vergebung der Sünden zu erfahren. Dann kamen die Ablässe dazu, die zu erwerben ein wichtiger Grund wurden, auf Wallfahrt zu gehen. In Santiago de Compostela zeigte man sich bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts auf der Höhe der Zeit, was Ablässe anging, Heilung durch Ablass? 107 <?page no="108"?> 116 Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Basisdienst 9.11.2010: Vom Ziel her gedacht. Der Papst als Pilger auf dem Jakobsweg, und 14.6.2021: Papst erhält offizielle Einladung nach Santiago de Compostela. doch dann zogen andere Wallfahrtsorte an Santiago vorbei, vor allem Assisi, das reich mit Indulgenzen bedacht wurde und natürlich den Portiuncula-Ablass vorweisen konnte, dessen Echtheit wenigstens fraglich ist. Schließlich setzte Papst Bonifaz VIII. mit dem Jubiläum und dem dazugehörigen Ablass in Rom einen Meilenstein, womit die zuvor ebenfalls abgeschlagene Stadt wieder an der Spitze der Wallfahrtsziele stand. Tatsächlich muss man davon ausgehen, dass ein gewisser Konkurrenzdruck vorhanden war, denn je größer die Gnaden, desto lieber kamen die Pilger, die dann Geld vor Ort ließen. In Santiago de Compostela orientierte man sich an dem Vorbild anderer Kirchen, die lokale Traditionen oder Erzählungen von Gnaden in einen Ple‐ narablass umwandelten. In den 1420er Jahren kam es hier nach Bernhard Schimmelpfennig zur Entstehung des Heiligen Jahres, dessen Legitimität durch eine noch im 15. Jahrhundert Papst Alexander III. zugeschriebene Urkunde bewiesen werden sollte. Außergewöhnlich ist an diesen Vorgängen besonders, dass das Heilige Jahr von Santiago de Compostela tatsächlich noch in der Gegenwart gefeiert wird, in friedlicher Koexistenz mit dem römischen Heiligen Jahr. Spätestens seit Papst Leo XIII. 1884 sowohl die Authentizität der Gebeine des Apostels wie auch der Urkunde Alexanders III. bestätigte, findet das Heilige Jahr dort mit päpstlicher Zustimmung statt. Johannes Paul II. war 1982 als erster Papst überhaupt in Santiago, sein Nachfolger Benedikt XVI. besuchte den Wallfahrtsort 2010 und Papst Franziskus ist bereits eingeladen 116 . 108 Christiane Laudage <?page no="109"?> * Für wertvolle Hilfe bei der Fertigstellung des Aufsatzes danke ich Kerstin Kristen, Hartmut Kühne, Gudrun Litz und Christine Wulf. Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ Berndt Hamm 1. Pilgern und Wallfahrt im Zusammenhang der religiösen Dynamik zwischen 1350 und 1520 * Die religiöse Mobilität des Pilgerns, des Wallfahrens und der Prozessionen gehört bekanntlich zu den auffallendsten Frömmigkeitsphänomenen des aus‐ gehenden Mittelalters. Ihnen sollen meine folgenden Ausführungen gewidmet sein. Reizvoll an dieser Thematik ist besonders, dass sie Beobachtungen zu verschiedenen Dimensionen der Religiosität zusammenführt: zur Lebenspraxis aller sozialen Schichten, zu ihrer Glaubenshaltung und Mentalität, zu Seel‐ sorgeinitiativen des Klerus, zu diversen theologischen Reflexionen über das religiöse „Laufen“ und Reisen sowie zu konkreten Reformbemühungen in einem Zeitalter der Kirchenreform. Dabei kommen nicht nur die Formen und Typen der Mobilität selbst in den Blick, sondern zugleich auch Devotionsweisen wie Reliquien- und Bilderverehrung, Marien- und Heiligenkult, Wundergläubigkeit, Ablasswesen und die Bindung von Sakralität an bestimmte Orte von großer Anziehungskraft bzw. die Auflösung solcher topographischen Bindungen. Reiz‐ voll an der Beschäftigung mit dem spätmittelalterlichen Pilgern ist auch, in welche Spannungsfelder man dabei gerät: etwa in die zwischen Ferne und Nähe, zwischen Zentrierungs- und Dezentralisierungstendenzen, zwischen äußerlich-sinnlichen und innerlich-geistigen Devotionsformen, zwischen leis‐ tungsbezogener und gnadenorientierter Frömmigkeit, zwischen Orientierung am Klerus und sich verselbständigendem Laienchristentum oder zwischen kirchlich korrekter und aus den genormten Bahnen der Hierarchie ausbre‐ chender Wallfahrtsbewegung. Es erscheint mir sinnvoll, den Untersuchungszeitraum auf die Spanne zwi‐ schen etwa 1350 und 1520 zu begrenzen, also auf die anderthalb Jahrhunderte <?page no="110"?> 1 Zitat von Kurt Köster im Vorwort zur Ausgabe: Johan H U I Z I N G A , Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hg. von Kurt K Ö S T E R , Stuttgart 11 1975, S.-VII. nach der großen Pest-Pandemie (1347-1352), der weitere Pestwellen folgten, und vor dem Beginn der Reformationsbewegung. Es ist die Zeitspanne einer neuartigen, die Menschen tief aufwühlenden Dynamik des Pilgerwesens mit bisher nicht bekannten Erscheinungsformen von Plötzlichkeit, Vielfältigkeit, sozialer Diffusion, Massenhaftigkeit und seelischer Erschütterung. Ohne einem monokausalen Erklärungsmuster zu folgen, darf man einen Zusammenhang zwischen den neuen Dimensionen des Peststerbens, einem extremen demogra‐ phischen Einbruch, und einer tiefgreifenden Transformation der Religiosität mit einer entsprechenden Veränderung des Pilgerverhaltens sehen. Offensicht‐ lich war das verbreitete Gefühl, in einer eskalierenden Krisenzeit zu leben, mit gesteigerten Zuständen angstvoller Panik und einer forcierten Mentalität der Verunsicherung verbunden; und dieser mentale Wandel löste ein - sich auch in Wallfahrtsmobilität umsetzendes - Drängen nach neuen schützenden Sicherheiten aus, sowohl nach neuen Verheißungen leiblicher Gesundheit und Heilung als auch nach neuen Garantien des ewigen Seelenheils. Auf diese Zu‐ sammenhänge zwischen religiöser Erregung und forcierter Wallfahrtsaktivität wird später noch einzugehen sein. Die auffallende Dynamik des Pilgerwesens zwischen 1350 und 1520 zeigt exemplarisch, wie irreführend das Epochenetikett „Spätmittelalter“ ist. Lässt dieser unglückliche Begriff doch allzu leicht die abwertenden Deutungen frü‐ herer Forschergenerationen anklingen: das ausgehende Mittelalter als eine Spätzeit von Kirche, Frömmigkeit und Theologie, in der eben „alles zu spät“ war, ein Zeitalter von Niedergang, Verfall, dahinsiechender Kraftlosigkeit, stagnierendem Traditionalismus, Formalismus und Erstarrung, eine Herbstzeit, deren Wesen der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga um 1907 mit der Dekadenzformel zu erfassen meinte: „Das späte Mittelalter ist nicht Ankün‐ digung eines Kommenden, sondern ein Absterben dessen, was dahingeht“ 1 . Der Blick auf das kraftvoll aufblühende Pilgerwesen, seine neuartigen Di‐ mensionen und die damit verbundenen Herausforderungen an Kirchenautorität, Theologie und Seelsorge ist nur ein Beispiel dafür, dass man das sogenannte „Spätmittelalter“ auch als „Neu-Zeit“ wahrnehmen kann: als Ära erstaunlicher Innovationen und größter geistiger wie körperlicher Beweglichkeit. Die Dy‐ namik des Wallfahrens sieht man dann eingebettet in ein ganzes Netz vergleich‐ barer religiöser Dynamiken während des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts. Man denke nur an weitere Beispiele wie die Transformation des Ablasswesens, die gesteigerte Passionsfrömmigkeit, das Dominantwerden der „Ars moriendi“, 110 Berndt Hamm <?page no="111"?> die Aufwertung und Verbreitung der deutschsprachigen Pfarrpredigt, die Er‐ folgsgeschichte der lebenspraktisch-seelsorgerlichen „Frömmigkeitstheologie“ oder, damit verbunden, eine frappierende Expansion, Entgrenzung und Laisie‐ rung der Theologie über die Universitäten und Klöster hinaus. Überall, insbe‐ sondere auch in der Verknüpfung religiöser Phänomene mit dem Druckwesen, dem Einsatz der Volkssprachen und den Künsten, ist eine Veränderungsdynamik zu beobachten, die eng mit einem Weiterlaufen von Traditionellem verbunden ist. Dieses Miteinander von religiösem Neuaufbruch und Festhalten an bishe‐ rigen Frömmigkeitsformen, Autoritäten und Strukturen ist gerade auch für das Pilgerwesen des ausgehenden Mittelalters charakteristisch. 2. Die Existenzweise des Pilgerns im Spannungsfeld von Bewegung zum Heil und Kommen der Gnade Anknüpfend an das zuletzt Gesagte kann man die Kontinuität des mittelalter‐ lichen Pilgerns vor allem in den großen Fernwallfahrten sehen, die Pilger und Pilgerinnen nach Jerusalem, Rom und Santiago di Compostela führten. Diese drei Ziele erfreuten sich bis in die letzten Jahre vor der Reformation einer ungebrochenen Popularität, auch wenn die Pilgerzahlen vielleicht etwas rückläufig waren. Andere Wallfahrtsorte, die ebenfalls eine größere Reichweite hatten und Menschen aus mehreren Regionen anzogen, gewannen im 14. und 15. Jahrhundert große Beliebtheit: besonders die rheinischen Zentren Aachen, Maastricht, Köln, Mainz und Trier und darüber hinaus Wilsnack in der Mark Brandenburg, Einsiedeln im Schweizer Kanton Schwyz, der normannische Mont St. Michel, das südfranzösische Rocamadour und Loreto bei Ancona. Die größte Veränderungsdynamik des spätmittelalterlichen Wallfahrtswesens zeigte sich aber in der rapid zunehmenden Anziehungskraft von Nahwallfahrten, die eine nur regionale Reichweite hatten und weniger als eine Woche, oft nur ein oder zwei Tage beanspruchten. Sie konnten große Menschenmengen in Bewegung und in eine derartige religiöse Hektik versetzen, dass irritierte Zeitgenossen um 1500 pathologische Zustände eines „Wallfahrtsfiebers“ diagnostizierten. Wie diese auffallenden Innovationen nach der „Großen Pest“ in das mentale, devotionale und theologische Gesamtgefüge ihrer Zeit einzuordnen sind, wird später zu fragen sein. Gemeinsam ist allen Wallfahrtsbewegungen des ausgehenden Mittelalters, ob nach Jerusalem oder Santiago, nach Wilsnack oder etwa Dettelbach in Unterfranken, dass die Menschen dort einen wirkungskräftigen Gnadenort aufsuchen wollten, der ihnen Heilung von körperlichen Gebrechen, Rettung aus anderen diesseitigen Nöten und/ oder eine Verbesserung ihrer Aussichten Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 111 <?page no="112"?> auf das ewige Seelenheil versprach. Solche Gnadenorte von verdichteter Hei‐ ligkeit konnten Heiligengräber sein, Heiligenreliquien, Reliquien des Blutes Christi (Bluthostien), wundertätige Bildwerke, besonders Marienstatuen, oder auch Orte visionärer Erscheinungen wie das fränkische Vierzehnheiligen. Die wallfahrtsfrommen Menschen verließen ihr heimisches Zuhause und machten sich auf den Weg, um in der - ferneren oder näheren - Fremde einen Zielort zu erreichen, an dem ihnen der Zustrom der göttlichen Gnade widerfuhr, und dann wieder in ihren Heimatort zurückzukehren. Entscheidend für diese körperliche Mobilität war, dass man auch wirklich zum Zielort gelangte, weil die erstrebte Gnadenwirkung an die besondere Heiligkeit der gnadenvermittelnden Realien des Wallfahrtsorts und an die körperliche Anwesenheit der gnadenbedürftigen Menschen geknüpft war, zugleich aber auch an deren verehrungsvolle Andacht. Nach der normativen Vorgabe der Kirche musste ihr physisches Aufsuchen der Gnadenorte, um wirklich heilsam zu sein, in Einklang mit der Herzensbewegung der Liebe zu Gott, Christus, Maria und den Heiligen stehen. Die Wallfahrt konnte auch erst im Nachhinein geschehen, wenn man vorher zuhause das Gelübde abgelegt hatte, bei eingetretener Gnadenwirkung zum Gnadenort zu pilgern und dort seinen Dank abzustatten. Auch für diese „Dankwallfahrten“, die seit dem 14. Jahrhundert stark zunahmen, war die Verknüpfung mit dem heiligen Ort konstitutiv. In diesem Lokalbezug des Wallfahrens erschöpft sich aber nicht das christ‐ liche Pilgerverständnis. Das gesamte mittelalterliche Wallfahrtswesen mit seinen heiligen Gnadenorten und dem Unterwegssein der Wallfahrer und Wall‐ fahrerinnen war von der Warte der zeitgenössischen Theologie und Spiritualität aus eingebettet in die Vorstellung von der Lebenspilgerschaft des Menschen zum Zielort seiner himmlischen Heimat, wo ihn die Seligkeit, die vollkommene Fülle der Gnade, erwartet. Die irdische Existenz war, so gesehen, ein permanentes Leben in der Fremde und in diesem Sinne Pilgerschaft als peregrinatio. War doch der peregrinus im eigentlichen Sinn des Wortes derjenige, der in der Fremde, fern von der Heimat, als viator (Wanderer, Reisender) unterwegs ist. So mussten die Christen von Anfang an ihr Dasein als eine pilgernde Existenzbewegung auf das himmlische Jerusalem hin verstehen, als ein suchendes Sich-Ausstrecken und Verlangen nach dem Künftigen, wie es ihnen der Hebräerbrief (13,14) auftrug: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Gegenüber diesem Pilgerverständnis mit seinem eschatologischen Gehalt verlagert der Wallfahrtsbegriff den Sinn des Pilgerns auf das Unterwegssein zu irdischen Zielen, ohne jedoch den Bezug zur Lebenspilgerschaft aufzugeben. Denn auch das Wallfahren zu einem Gnadenort ist im Deutungshorizont christ‐ licher Spiritualität und Frömmigkeitstheologie nichts anderes als eine Etappe 112 Berndt Hamm <?page no="113"?> 2 Volker H O N E M A N N , Pilgerfahrt des träumenden Mönchs, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 7 (1989), Sp. 683‒687. 3 Vgl. Christoph B U R G E R , Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris (Beiträge zur historischen Theologie 70), Tübingen 1986. 4 Vgl. Sven G R O S S E , Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit (Beiträge zur historischen Theologie 85), Tübingen 1994, S.-149 und 192. auf dem Lebensweg zum Himmel. Das gilt für alle Formen der religiösen Mobi‐ lität des ausgehenden Mittelalters, die zur Jenseitsvorsorge gehörten, also auch für die vielen feierlichen Prozessionen und ebenso für die Kreuzwegstationen, mit deren Hilfe man in der Nachfolge Christi die via dolorosa des Gottessohnes abschreiten und sich so den Weg seines Erlösungsleidens meditativ vergegen‐ wärtigen konnte. Jeder noch so kurze Weg, der mit Andacht gegangen wurde, hatte seinen geistlichen Sinn darin, dass er in das christliche Unterwegssein zur ewigen Herrlichkeit einbezogen war. Auch wer eine Wallfahrt unternahm, um körperliche Heilung zu erlangen, musste - den Anweisungen seines Seelsorgers folgend - den Weg mit jener andächtigen Bußgesinnung gehen, die ihn zugleich seinem Seelenheil näherbrachte. Wege zur Heilung waren, so gesehen, immer auch Wege zum Heil: Nur wer als frommer Pilger zur himmlischen Heimat unterwegs war, konnte an einem Gnadenort den Segen körperlicher Genesung empfangen. Die Existenzbewegung der Lebenspilgerschaft wurde als Weg, Straße oder Pfad zum Himmel in der religiösen Literatur des 14. und 15. Jahrhunderts, die zu einem Leben der Jenseitsvorsorge anleiten wollte, häufig thematisiert. Paradigmatisch war die große Verbreitung, die das umfangreiche, zwischen 1330 und 1355 entstandene und erweiterte Gedicht ‚Pèlerinage de la vie humaine‘ des Zisterziensers Guillaume de Digulleville (auch Deguileville) auf Französisch, Deutsch und Niederländisch erfuhr 2 . Durch seine Illustrationen hat es die spätmittelalterlichen Pilgerallegorien auch ikonographisch stark beeinflusst. Theologisch hat vor allem der Kanzler der Pariser Sorbonne Johannes ( Jean) Gerson (1363-1429) das Bild vom geistlichen Wanderer (viator) und von der Lebensbewegung der Pilgerschaft aus der irdischen Fremde in die himmlische Heimat populär gemacht. Als Reformtheologe vollzog er eine programmatische Umgestaltung der traditionellen scholastischen, mystischen und monastischen Traditionen in eine seelsorgerliche Frömmigkeitstheologie für die alltägliche fromme Lebensgestaltung aller Christenmenschen, gerade auch der ungelehrten Laien und Laienfrauen 3 . Im Zentrum dieser entgrenzenden Dynamisierung der Theologie steht insbesondere die weit gespannte viator-Anthropologie Gersons 4 . Sie will dem angefochtenen Gewissen des Lebenspilgers den Weg Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 113 <?page no="114"?> 5 Vgl. aus dem 15. Jahrhundert exemplarisch zwei deutschsprachige Werke, die im Einflussbereich Gersons stehen: Die ‚Himmelsstraße‘ Stephans von Landskron und die anonyme Schrift ‚Der schlichte [= einfache] Weg zum Himmelreich’ und dazu die Literatur: Uwe B O C H , Katechetische Literatur im fünfzehnten Jahrhundert. Stephan von Landskron († 1477): ‚Die Hymelstrasz‘, Diss. theol. [masch.], Tübingen 1992 (im Artikel des Verfasserlexikons 9 [1995], Sp. 295‒301 nicht berücksichtigt); „der slecht weg zuo dem himelrich“. Ein oberrheinisches Erbauungsbuch. Edition und Kommentar, hg. von Arnold O T T O (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 42), Berlin 2005. 6 Vgl. Rita V O L T M E R , Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510) und Straßburg (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 4), Trier 2005, S. 989 f.: Peregrinus […], lat. Erstdruck, Straßburg 1513; S. 990: Der Pilger, dt. Erstdruck, Augsburg 1494; S. 991: 18 Eigenschaften eines guten Christenpilgers, dt. Erstdruck: Augsburg 1508; S. 991‒995: Christliche Pilgerschaft zum ewigen Vaterland, dt. Erstdruck: Basel 1512 (mit ausführlichem Kommentar Voltmers zu den „zwischen 1488 und 1500 entstandenen sowohl handschriftlich wie auch gedruckt erhaltenen Versionen“ der Pilgerpredigten Geilers, über die sie sagt: „Der Pilger mit seinen Eigenschaften gehört sicher zu den meistgepredigten Themen Geilers.“ Zur Überlieferung der Pilgerpredigten Geilers und zu ihrem theologischen Verständnis vgl. E. Jane D E M P S E Y D O U G L A S S , Justification in Late Medieval Preaching. A Study of John Geiler of Keisersberg (Studies in Medieval and Reformation Thought 1), Leiden 1966. Vgl. auch Volker H O N E M A N N , Geiler von Kaysersberg und das Pilgern, in: Pilger‐ heilige und ihre Memoria, hg. von Klaus H E R B E R S / Peter R Ü C K E R T ( Jakobus-Studien 19), Tübingen 2011, S. 165‒203. Dazu auch der Beitrag von Julia B U R K H A R D T in diesem Band. einer Balance von Furcht und Hoffnung bis hin zur Stufe einer getrösteten Heilsgewissheit weisen. Mit diesem katechismusartigen Anleitungsprogramm hat der Pariser Theologe die erbauliche Frömmigkeitstheologie des folgenden Jahrhunderts und ihre große Affinität zu Pilgerallegorien und Wege-Metaphern nachhaltig geprägt 5 . So verstand sich z. B. der berühmte Straßburger Prediger Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510) als Schüler Gersons; und getreu seinem Vorbild hielt er in Augsburg und Straßburg Predigtzyklen über die Themen ‚Der bilger‘ (‚Peregrinus‘), ‚Achtzehen aigenschafften, die ain guotter Christenbilger an sich nemen soll‘ und ‚Christenlich bilgerschafft zum ewigen vatterland‘ - allesamt Predigten, die sich inhaltlich eng an Gersons Schriften anlehnten. Sie wurden schon zu Geilers Lebzeiten (seit 1494) und dann vor allem kurz nach seinem Tod in deutschen und lateinischen Drucken verbreitet 6 . Gerson selbst, der eigentlich Jean le Charlier hieß, hat seinen - von seinem Geburtsort Gerson lès Barby abgeleiteten - Beinamen in Anlehnung an die alttestamentliche Etymologie des Mose-Sohnes Gershom (Ex. 2,22 und 18,3) als „Vertriebener“, „Fremdling“ und „Pilger“ auf Erden gedeutet. Damit verband sich seine Exilserfahrung: seine Flucht aus Paris vor den Nachstellungen des Herzogs Jean von Burgund, seine Aufenthalte in Rattenberg am Inn und Melk und die Notwendigkeit, danach fern von Paris im südfranzösischen Lyon leben 114 Berndt Hamm <?page no="115"?> 7 Vgl. V O L T M E R , Wie der Wächter (wie Anm. 6), S. 990 f.: Geiler bezieht sich in seinen Pilgerpredigten auf Gersons Deutung seines Namens in den Schriften ‚Dispose ton mesnage‘ und ‚Epistola ad sorores de quo quis per singulos dies cogitare debeat‘. zu müssen. Diese Selbstdeutung als des in der Fremde zur jenseitigen Heimat emporstrebenden Pilgers hat Gerson zum theologischen Programm gemacht; und entsprechend war die Ikonographie der Folgezeit auf die Darstellung Ge‐ rsons mit den Insignien des Pilgers festgelegt (Abb. 1). Er galt dem ausgehenden Mittelalter als der Pilgertheologe schlechthin. Damit sind wir wieder bei Jo‐ hannes Geiler von Kaysersberg; denn er hat seinen Predigten über die christliche Pilgerschaft ausdrücklich jene emblematische und programmatische Ausdeu‐ tung zugrunde gelegt, die Gerson in Lyon seinem Namen gegeben hat 7 . In der Pilgertheologie des 14. und 15. Jahrhunderts, wie sie Gerson spirituell vertieft und zugleich für breite Leserkreise erschlossen hat, war bis hin zu Geilers Predigten der Grundgedanke zentral, dass der Christenmensch nach Gottes Willen eine Person in Bewegung ist: Als geistig und körperlich tätiges Subjekt bewegt er sich in einem spirituellen Lebensprozess seiner himmlischen Zielbestimmung entgegen, immer wieder durch die Sünde zurückgeworfen, aber als Büßer wieder aufstehend, den begonnenen Weg erneut unter die Füße nehmend und beharrlich voranschreitend. Theologisch gesprochen heißt das, dass der Mensch als religiöses Subjekt an seiner Erlösung selbstbestimmt, aktiv und auto-mobil beteiligt ist. Die theologischen Begriffe des zurückzulegenden Weges (iter, via), des homo viator und des pilgerhaften Vorwärtsgehens artiku‐ lieren daher, genau genommen, nicht nur Metaphern, sondern sie sollen eine geistliche Realität abbilden, d. h. einen wirklichen seelischen Prozess (processus) als zielgerichtetes Voranschreiten (progreͤdi), wie es den Vorstellungen der mittelalterlichen Rechtfertigungs- und Heilslehre entspricht. Diese Doktrin formuliert folgendes Grundmodell des Lebensweges in den Himmel: Der Mensch, der in Erbsünde geboren ist, wird durch die Taufgnade von ihr befreit und in den Zustand der ursprünglichen Gerechtigkeit zurück‐ versetzt. Sobald er aber mündig geworden ist, fällt er in Todsünde und verlässt damit das Gravitationsfeld der Liebe zu Gott. Nun liegt der Wegabschnitt der Buße bis zur Rechtfertigung vor ihm - ein Weg, der darin besteht, dass er Reue empfindet und die Absolution Gottes, in der Regel nach vorausge‐ gangener Beichte durch Vermittlung des Priesters, empfängt. Die Theologen bezeichnen diesen Wegabschnitt auch als Vorbereitung (dispositio, praeparatio) des sündigen Menschen auf die rechtfertigende Gnade. Sie versetzt ihn wieder in den Zustand der Gottesliebe, die zu einer wahren Reue gehört und das Wesen der Gerechtigkeit vor Gott ausmacht. Jetzt kann der wiedergeborene und geheiligte Mensch den zweiten Wegabschnitt seines Christenlebens in Angriff Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 115 <?page no="116"?> Abb.-1: Gerson als Pilger. Holzschnitt aus: Johannes Gerson, Opera, Ausgabe von Peter Schott und Johannes Geiler von Kaysersberg, Straßburg: bei Johann Grüninger, 1488, GW 10714, Prima pars, Bl. 1b; Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf M. Th u. Sch. 100: Ink. 1 116 Berndt Hamm <?page no="117"?> 8 Zum Begriff ‚Frömmigkeitsbild‘, der den problematischen Begriff des ‚Andachtsbildes‘ erweitern und ersetzen soll, vgl. Berndt H A M M , ‚Frömmigkeitsbilder‘ und Partikular‐ gericht vom 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Kunst-Kontexte. Festschrift für Heidrun Stein-Kecks, hg. von Hans-Christoph D I T T S C H E I D / Doris G E R S T L / Simone H E S ‐ P E R S , Petersberg 2016, S.-130‒152. 9 Zu meiner Konzeption des mittelalterlichen „Gradualismus“ vgl. Berndt H A M M , Refor‐ mation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 7 (1992), S.-241‒279, hier 251‒253. nehmen, der ihn von der Rechtfertigung zur ewigen Seligkeit führt. Es ist die Wegstrecke einer voranschreitenden Heiligung, einer Steigerung seiner Gottes- und Nächstenliebe und damit zugleich ein Prozess der guten Werke, die man Gott und den Mitmenschen erweist. Diese Liebeswerke haben einerseits einen genugtuenden Wert, der zu Lebzeiten die Sündenstrafen tilgen muss, damit der Lebenspilger nicht nach dem Tod seinen Bußweg im Fegefeuer fortzusetzen hat; andererseits sind die guten Werke verdienstlich und vermehren so den himm‐ lischen Lohn, d.-h. die Intensität der Gottesschau. Aus dieser Skizzierung des theologischen Grundmodells eines prozesshaften Voranschreitens vom Befangensein in der Todsünde bis zur himmlischen Herrlichkeit geht bereits hervor, dass die Vorstellungen spätmittelalterlicher Theologen von der Lebenspilgerschaft, ihre entsprechenden seelsorgerlichen Unterweisungen und ebenso ein breites Spektrum von Frömmigkeitsbildern 8 mit ihren Inschriften gradualistisch bestimmt sind 9 : Sie stellen den Weg des Menschen zum Himmel als Aufstiegsbewegung über Stufen, Treppen, Leitern und oft als Bergbesteigung dar. Das gesamte mittelalterliche Verständnis der Beziehung zwischen Gott und der kreatürlichen Welt, einschließlich der Engels- und Priesterhierarchien und der kirchlichen Liturgien und Architekturen, ist von einer gradualistischen, neuplatonisch beeinflussten Ontologie durch‐ drungen. Jede Art von Heiligkeit, sowohl des göttlichen Geistwirkens in der Welt als auch der menschlichen Annäherung an Gott, ist als gestufte Wirklich‐ keit gedacht. Die theologische Konzeption der Lebenspilgerschaft des homo viator über Stufen (gradus) und Leitern (scalae) bietet also die spezielle, existen‐ zialisierende Anwendung eines umfassenden Gott-Welt-Verständnisses, in das auch Teufel und Dämonen einbezogen sind; sie wollen die emporstrebenden Menschen permanent in die Abgründe der Sünde und Verdammnis reißen, so wie umgekehrt die Engel, besonders die persönlichen Schutzengel, den gefährdeten Himmelsaspiranten beschirmend und stärkend zu Hilfe kommen. Wird doch der Aufstieg der Jenseitspilger stereotyp als Emporklimmen auf einem steilen, beschwerlichen und gefährlichen Pfad bzw. auf einer ebenso anstrengenden und riskanten Leiter veranschaulicht - gemäß dem Jesuswort Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 117 <?page no="118"?> 10 Vgl. Barbara S T E I N K E , Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinen‐ kloster zwischen Klosterreform und Reformation (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 30), Tübingen 2006, S. 87 f. mit Anm. 65 und S. 114. Zur Metaphorik der von Matth. 7,14: „Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der ins Leben führt! “ Die mittelalterlichen Lebensideale stehen in der Spannung zwischen dem Drang nach religiöser Mobilität und der Mahnung zur Stabilität, der stabilitas loci in Zurückgezogenheit, möglichst in klösterlicher Klausur oder eremitischer Einsamkeit. Die geistlichen Lehrer und besonders zahlreiche mystische Theo‐ logen von der christlichen Spätantike bis in die letzten Jahre vor der Reformation betonen aber immer neu, dass Mobilität und Stabilität keinen Gegensatz bilden, sondern nach Gottes Willen zusammengehören: Gerade das Verweilen an einem geheiligten Ort ermöglicht es der Gott liebenden Seele, über geistige Stufen der Meditation und Kontemplation bis zur Vereinigung mit Gott emporzusteigen. Prägend für die Leitermetaphorik der Texte und Bilder des Mittelalters wurde besonders das gegen Ende des 6. Jahrhunderts entstandene Werk ‚Scala paradisi‘ des Johannes Klimakos/ Climacus. Von ihm spannt sich der Bogen bis ins Spätmittelalter, etwa zum einflussreichen mystischen Anleitungstext des englischen Theologen Walter Hilton ‚The Scale of Perfection‘ von 1380/ 90. Noch grundlegender wurde für die Mystik und Frömmigkeitstheologie des ausgehenden Mittelalters das 1259 am Monte Alverna enstandene und ganz von der Franciscus-Memoria durchdrungene ‚Itinerarium mentis in deum‘ (‚Pilgerweg des Geistes zu Gott‘) des Franziskaners Bonaventura. Es ist das Musterbuch des spirituellen ‚Gradualismus‘ für die Folgezeit; beschreibt es doch den Pilgerweg der Seele über sechs Stufen der Erleuchtung vom Haften an der Sinnenwelt bis zur mystischen Schau des Allerhöchsten, wie sie Franciscus erreicht habe. Die Bildlichkeit der Bergbesteigung hat im Bereich der Mystik besonders eindrucks- und wirkungsvoll Gregor von Nyssa (335/ 40-394/ 5) mit seinem Paradigma des auf den Berg Sinai zu Gott emporsteigenden Mose (‚De vita Moysis‘) hervorgehoben und später vor allem Richard von St. Viktor († 1173) in seinem Werk ‚Benjamin minor‘. Beeindruckend für die Ordensleute des ausgehenden Mittelalters wurde auch die um 357 von Athanasius verfasste legendenhafte ‚Vita‘ des Wüstenvaters Antonius, die seine asketische Welten‐ tsagung als kraftzehrende Besteigung eines hohen Berges beschreibt. Barbara Steinke konnte in ihrer Dissertation über das Nürnberger Katharinenkloster zeigen, dass die für die Dominikanerinnen im 15. Jahrhundert geschriebenen Anleitungstexte ihrer Seelsorger das Streben nach geistlicher Vollkommenheit und den Tugendfortschritt der Nonnen als Bergbesteigung verbildlichten 10 . Ein 118 Berndt Hamm <?page no="119"?> geistlichen Bergbesteigung vgl. auch Berndt H A M M , Der Weg zum Himmel und die nahe Gnade. Neue Formen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit am Beispiel Ulms und des Mediums Einblattdruck, in: Between Lay Piety and Academic Theology. Festschrift für Christoph Burger, hg. von Ulrike H A S C H E R -B U R G E R / August D E N H O L L A N D E R / Wim J A N S E (Brill’s Series in Church History 46), S. 453‒496, hier S. 459 mit Anm. 24; hier auch nähere bibliographische Angaben zu Gregor von Nyssa, Richard von St. Viktor und Francesco Petrarca. Dieser hat seine (auf den 26. April 1336 datierte) Besteigung des Mont Ventoux in einem wohl erst 1353 geschriebenen Brief an seinen Beichtvater metaphorisch als geistlichen Aufstieg in einem Bekehrungsprozess stilisiert. 11 Betracht auch, das das lebenn hye inn dißem jamertal so sorgklichen ist vnd so vnstaͤt vnd das wir myessen über ainen hochen, schlipfferigen hellensteg diß yamertals vnnd ob vnns ist die ewig frewd vnnd vnder vnnß die ewig verdamnuß. In das ain myessen mir. Da wiß dich darnach zů richten! Das bringet ye billich ayn forcht in dich. Ulrich K R A F F T : Predigtzyklus ‚Das ist der geistlich streit‘ von 1503, Straßburg 1517, VD 16 K 2191, fol. h2r (S. 75). Zu dieser Ausgabe vgl. Berndt H A M M , Spielräume eines Pfarrers vor der Reformation: Ulrich Krafft in Ulm (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Ulm 27), Ulm 2020, S. 75 f., Anm. 375. Zum gesamten Predigtzyklus ‚Der geistlich streit‘ vgl. K R A F F T , Prediktzyklus (wie Anm. 11), S. 78 f. und 93‒111 mit Abb. des Titelblatts auf S.-95 (Abb.-19). genau dazu passender kolorierter Einblattholzschnitt (Abb. 2), der wohl am Oberrhein um 1480-1490 entstand, zeigt eine kniend betende Nonne vor einem steilen, mit Dornen und Disteln bewachsenen Felsen, zu dessen Gipfel zwölf - durch Spruchbänder bezeichnete - Tugendstufen emporführen. Der Aufstieg beginnt mit globen, miltikait und beschaidenhait und endet mit gehorsamkait, demůtikait und getliche [göttliche] lieb. Über dem Felsengipfel thront Gottvater und hält für diejenigen, die diesen Aufstieg vollendet haben, die Krone des ewigen Lebens bereit. Auf weiteren Spruchbändern fordert Christus die betende Nonne zum Verzicht auf irdische Freuden und zu bereitwilligem Leiden auf, damit sie mit Frieden bei ihm auf dem Berge stehen kann. Zur spätmittelalterlichen Konzeption der Lebenspilgerschaft gehört, eng verbunden mit der Diktion vom mühseligen und leidvollen Aufstieg, auch die Betonung der Gefährlichkeit des Weges, die dem Pilger höchste Vorsicht und besorgte Furcht vor der Möglichkeit des Absturzes abverlangt. Der Ulmer Pfarrer Ulrich Krafft verwendet dafür das Bild eines schlüpfrigen, d. h. zum Ausgleiten verleitenden, Höllenstegs. In einer Münsterpredigt von 1503 mahnt er: Betrachte auch, dass das Leben hier in diesem Jammertal so sorgenerfüllt und unstetig ist und dass wir über einen hohen, schlüpfrigen Höllensteg dieses Jammertals [gehen] müssen, über uns die ewige Freude und unter uns die ewige Verdammnis. In eine [von beiden] müssen wir [kommen]. Da wisse dich danach zu richten! Das bringt gewiss und mit Recht eine Furcht in dich 11 . Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 119 <?page no="120"?> Abb.-2: Heilsweg. National Gallery of Art, Washington, Rosenwald Collection 1943.3.60, um 1480/ 90 (Vorlage: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, hg. von Peter P A R S H A L L / Rainer S C H O C H u. a., Nürnberg 2005, S.-290-292, Nr.-91, beschrieben und interpretiert durch Sabine G R I E S E ) 120 Berndt Hamm <?page no="121"?> 12 Vgl. H A M M , Spielräume (wie Anm.-11), S.-340 (mit Literatur). Krafft greift hier zurück auf das im Mittelalter gebräuchliche Bild der schmalen und glatten Jenseitsbrücke, die nach dem Tod die Qualität der Seelen prüft: die bösen stürzen in den Abgrund, die guten gelangen über sie in den Himmel 12 . Bemerkenswert ist aber, dass Krafft das Bild des Brückenstegs ins Diesseits ver‐ lagert und damit bedrängend existenzialisiert. Es wird bei ihm zur Angstmeta‐ pher für das gesamte Leben, indem es das permanente Bedrohtsein des Pilgers durch die Todsünde und durch die Verführungsmächte des Teufels, der eigenen Sinnlichkeit und der weltlichen Freuden veranschaulicht. Krafft ist darin typisch für die spätmittelalterliche Seelsorge, dass er in seinen Predigten den Weg des frommen Menschen zum Himmel als vorsichtigen Balanceakt seines Gewissens beschreibt, der zwei Tugenden kombiniert: eine Furcht, die vor Überheblichkeit, und eine Hoffnung, die vor Verzweiflung bewahrt. Soweit das von der christlichen Spätantike bis in die letzten Jahre vor der Reformation reichende - und auch später noch beliebte - Wegemodell des sich auf seine himmlische Heimat zubewegenden Lebenspilgers. Dieses Modell der prozesshaften Rechtfertigung, Heiligung und Vollendung ist aber stets ein „Zweiseitigkeitsmodell“: Die aktive Eigenbewegung des menschlichen Subjekts ist nur die eine Seite des Erlösungsgeschehens, die eine intensive kommunikative Einheit mit der anderen Seite, der befreienden und stärkenden Kraft des göttlichen Gnadenwirkens, bildet. „Weg“ und „Gnade“ gehören als Leitbegriffe der Pilgertheologie unlösbar zusammen: Während der „Weg“ die Entfernung anvisiert, die durch menschliche Bewegung und Anstrengung zu überwinden ist, meint „Gnade“ (gratia) grundsätzlich die schenkende Bewegung Gottes auf den Menschen zu. Sie ist Güte, Huld, Barmherzigkeit und Segen, mit der Gott den Menschen stets umgibt, all seiner gottesfürchtigen Eigentätigkeit hilfreich zuvorkommt und sie stärkt; sie wirkt in ihm als heiligende, d. h. alle Seelenregungen mit Gottes- und Nächstenliebe durchdringende, Gnadengabe; sie führt ihn zum Ziel der ewigen Seligkeit und unterstützt ihn unterwegs auch mit leiblichen Linderungen und Heilungen. Einerseits hat der Pilger selbst der himmlischen Heimat entgegenzustreben, andererseits wird er auf diesem Pfad von Gottvater, Jesus Christus und dem Heiligen Geist, von Maria, den Heiligen und Engeln gnadenreich heimgesucht, getragen, geleitet und gestärkt. Ursprungsquelle jeder Gnade ist immer die göttliche Trinität; einbezogen in ihre Gnadenwirkungen sind aber als Vermittler auch Maria, die Heiligen und alle himmlischen Mächte, die selbst von Gott begnadet und geheiligt worden sind. So ist auch die Gnadentheologie Teil des mittelalterlichen Gradualisnus, Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 121 <?page no="122"?> 13 In der Spätscholastik und Frömmigkeitstheologie des ausgehenden Mittelalters sind die beiden bedeutungsgleichen Formeln (mit vielerlei Varianten) fest verankert: Facientibus quod in se est deus non denegat gratiam (Denen, die ihr Bestmögliches tun, verweigert Gott nicht die Gnade); Facientibus quod in se est deus infallibiliter dat gratiam (Denen, die ihr Bestmögliches tun, gibt Gott unfehlbar/ zweifellos/ unweigerlich seine Gnade). Offen lässt dieses Axiom die von den Theologen unterschiedlich beantwortete Frage, ob und in welcher Weise dieses „Tun“ (facere) des Menschen bereits eine vorauslaufende und mitwirkende Gnade Gottes voraussetzt. Es ist dabei stets zu bedenken, dass „Gnade“ (gratia) ein äquivoker Begriff ist, der alle möglichen Arten und Intensitätsstufen des göttlichen Schenkens umfasst. Schon, dass ein Mensch seinen Arm zu bewegen vermag, kann als Gnade bezeichnet werden. 14 Vgl. oben Anm.-2. 15 Vgl. Erik L. S A A K , High way to Heaven. The Augustinian Platform between Reform and Reformation, 1292-1524 (Studies in Medieval and Reformation Thought 89), Leiden/ Boston/ Köln 2002. indem sie sehr variabel eine Skala abgestufter Vermittlungen, Intensitäten und Wirkungsebenen entfaltet. Die zwei Seiten des Erlösungs- und Heilungsprozesses, aktives Kommen, mit dem der Pilger sich bemüht und sein Bestmögliches gibt (facit quod in se est) 13 , und passives Bekommen, das die himmlischen Gnadenhilfen empfängt, sind nach mittelalterlichem Verständnis immer zusammenzudenken. Das oben erwähnte Pilgerbuch des Guillaume de Digulleville 14 ist in dieser Hinsicht exemplarisch: An den wichtigsten Stationen seines Weges zum himmlischen Jerusalem erhält der Pilger die Hilfe von „Frau Gnade“: Sie händigt ihm den Gürtel des Glaubens und den Stab der Hoffnung aus, sie wappnet ihn mit der Ritterrüstung der vier Kardinaltugenden, sie führt ihn zu den Tränen der wahren Reue und zeigt ihm nach einem schweren Rückfall den direkten Weg in den Himmel. Die Verteilung der Gewichte zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Aktivität auf dem Heilsweg des Pilgers ist in der spätmittelalterlichen Theologie sehr unterschiedlich und wird höchst kontrovers diskutiert. Aber auch wenn manche Theologen, insbesondere aus dem Orden der Augustinereremiten von Gregor von Rimini († 1358) bis Johannes von Staupitz († 1524) 15 , den absoluten Primat und die Dominanz der Gnade betonen - dass es allein das „Ziehen“ Gottes sei, das den sündigen Menschen aus seinem Elend herausholt und den Weg zum Himmel finden und gehen lässt ( Joh. 6,44) -, so haben sie doch zugleich vor Augen, dass ohne das eigene Gehen des Menschen das Heil für ihn nicht zu erreichen ist. Das gnadenhafte Ziehen des Heiligen Geistes wird im menschlichen Subjekt zur Kraft der Eigenbewegung seines Wollens und Handelns. Die Gnade macht ihn gehfähig. Zueignung Gottes und Aneignung 122 Berndt Hamm <?page no="123"?> 16 Zum Begriff der „nahen Gnade“ vgl. Berndt H A M M , Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold F R I E D R I C H / Wolfgang S I M O N (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54), Tübingen 2011, S. 285‒290 (erstmals 2002) und 544‒560 (erstmals 2004). des Menschen müssen zusammenkommen, damit der Sünder und die Sünderin ihr Ziel erreichen. 3. Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Zusammenhang einer allgemeinen Dynamisierung der „nahen Gnade“ So sehr das Prinzip der Zweiseitigkeit des göttlich-menschlichen Kooperierens für das gesamte Mittelalter bis zur Schwelle der Reformation gilt, so deutlich zeigt sich doch im Laufe des 14. Jahrhunderts und dann besonders im 15. Jahr‐ hundert eine Veränderung, die man als Dynamik oder - wenn der Akzent auf der Steigerung liegen soll - als Dynamisierung der „nahen Gnade“ beschreiben kann. Den Begriff der „nahen Gnade“ versuche ich seit zwanzig Jahren abbre‐ viaturhaft als eine Art Innovationsnarrativ einzusetzen 16 . Die „Nähe“, die damit im Blick ist, kann persönliche und innige Vertrautheit bedeuten, Unmittelbar‐ keit des geistlichen Erfahren-Könnens, mühelose Zugänglichkeit und leichte Erreichbarkeit, reale Präsenz geistiger und körperlicher Art, räumliche und zeit‐ liche Vergegenwärtigung, sinnliche Anschaulichkeit, Berührbarkeit, Hörbarkeit und sprachliche Verstehbarkeit, sichere Verfügbarkeit und Abrufbarkeit zu jeder Zeit oder auch preisgünstige Erwerbbarkeit - um nur die wichtigsten Facetten zu nennen. Will man den Vorgang der innovativen Veränderung, das immer stärkere Hervortreten der Gnadennähe bis in die Frühreformation hinein beschreiben, dann wird man sagen können: Innerhalb der Zweiseitigkeit von menschlichem Weg und göttlicher Gnade verschiebt sich im Spätmittelalter die Proportion auf die Seite der Gnade. In einer Fülle von Texten, auf zahlreichen Bildern und bei der Untersuchung vieler multimedialer Vorgänge wie der Steigerung des Ablass- und Wallfahrtswesens kann man die Beobachtung machen, dass ein möglichst großes Maß an Erbarmen, seelischer Entlastung und Stärkung, Schutz, Trost und Heilung möglichst nahe an möglichst viele hilfsbedürftige Menschen herangerückt wird, sozusagen in ihre unmittelbare Reichweite. Die Wege, die sie selbst zu Heil und Heilung zu gehen haben, werden kürzer und weniger anstrengend. Wo die Gnade in allernächster Nähe zu haben ist - wie in Gestalt eines päpstlichen Jubiläumsablasses in der eigenen Stadt oder eines nur wenige Kilometer entfernten Gnadenortes -, entfällt die Notwendigkeit eines mühseligen Unterwegsseins. Das gilt für den innerseelischen Aufstieg auf Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 123 <?page no="124"?> 17 H A M M , Spielräume (wie Anm. 11), S. 331‒334, etwa in der Fassung: „so doch der weg in hymel vil leichter ist dann die helle,“ oder in der Formulierung: „so ist vil leichter in hymel zů kommen dann in die hoͤll.“ der Tugendleiter der Heiligung bis zu den höchsten Graden des Strafnachlasses und der Verdienstlichkeit ebenso wie für die körperlich zu bewältigenden, kräftezehrenden, gefahrvollen und kostspieligen Routen der Fernwallfahrten. Wege werden minimiert, Barrieren abgebaut. Dynamisierung der „nahen Gnade“ im ausgehenden Mittelalter heißt also: Der Mensch mit seiner angstvollen Sorge um körperliche Heilung, Befreiung von Jenseitsstrafen, Gewissensruhe und wahre Andacht wird in einem bisher nicht bekannten Maße mit einem breit gefächerten und kumulativen Angebot des himmlischen Beistands „begnadet“: eines Erbarmens, das auf das Tiefenni‐ veau seiner Nöte herabkommt und hier für ihn leicht zu erreichen ist. Diese Gnadendynamik verbindet sich daher oft mit einer verheißungsvollen Rhetorik des „Leichten“ und „Sicheren“. Typisch ist etwa, wie der schon erwähnte Ulmer Pfarrer Ulrich Krafft 1503 seine Münstergemeinde von der Kanzel herab wiederholt mit der gewagten Formulierung ermutigt: Der Weg in den Himmel ist viel leichter als der in die Hölle  17 Soweit ich sehe, hat sich damals niemand so pointiert wie Krafft ausgedrückt, doch war es nicht rhetorischer Überschwang, von dem er sich zu solchen Predigtworten hinreißen ließ. Hinter ihnen stand die theologisch reflektierte Überzeugung von der erleichternden göttlichen Gnadennähe. Der Mensch in seiner Sündenschwäche, sagt der Münsterprediger immer wieder, ist in solchem Maße getragen, umgeben, ja geradezu umstellt von den Gnadenzuwendungen Gottes und seiner einladenden Hilfsangebote, dass viel Energie an hartnäckiger Bosheit dazugehört, um sich lebenslang dem Ruf Gottes gegenüber zu verweigern. Kraffts Formulierung war zwar ungewöhnlich, lag aber um 1500 in der Luft. Die Betonung der Leichtigkeit des Heilsweges entsprach, wie gesagt, ganz dem Trend der Zeit. Für das zunehmende Hervortreten der „nahen Gnade“ war charakteristisch, dass den Gläubigen in vielfältiger Weise die leichte Zugänglichkeit der Gnade vor Augen gestellt wurde und dass ihnen eine breite Seelsorge-Offensive die „Erleichterung“ der Wege zu Heilung und Heil anbot. Das Wort „leicht“ (facilis) wurde so zu einem Schlüsselwort der spätmittelalterlichen Transformation des Gnadenverständnisses. Zu den Zeitgenossen Kraffts, die sich seinen pointierten Worten mit Nach‐ druck hätten anschließen können, gehörte der aus Pfalzel bei Trier stammende Augustinereremit, Ordensreformer, Erbauungsschriftsteller und Ablasstheologe 124 Berndt Hamm <?page no="125"?> 18 Vgl. Berndt H A M M , Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis (Beiträge zur historischen Theologie 65), Tübingen 1982. 19 Johannes von P A L T Z , Die himmlische Fundgrube, hg. und bearb. von Horst L A U B N E R / Walter S I M O N u. a., in: Johannes V O N P A L T Z , Werke 3: Opuscula, hg. von Christoph B U R G E R u.a. (Spätmittelalter und Reformation 4), Berlin/ New York 1989, S. 155‒284. Das Werk (Edition des frühneuhochdeutschen Textes: 53 S.) erschien zuerst mehrfach in Leipzig, dann 1492/ 93 in Nürnberg und dann mehrfach in Augsburg, Erfurt und Straßburg, auf Niederdeutsch in Magdeburg 1491/ 92 (? ), Leipzig 1503 und Köln 1512. 20 Johannes von P A L T Z , Werke 1: Coelifodina, hg. und bearb. von Christoph B U R G E R / Friedhelm S T A S C H unter Mitarbeit von Berndt H A M M / Venicio M A R C O L I N O , Berlin/ New York 1983. Das Werk (Edition: 527 S.) erschien in vier Drucken: Erfurt 1502, Leipzig 1504, 1511 und 1515. 21 Johannes von P A L T Z , Werke 2: Supplementum Coelifodinae, hg. und bearb. von Berndt H A M M unter Mitarbeit von Christoph B U R G E R / Venicio M A R C O L I N O , Berlin/ New York 1983. Das Werk (Edition: 504 S.) erschien in drei Drucken: Erfurt 1504, Leipzig 1510 und 1516. 22 Johannes von P A L T Z , De septem foribus seu festis beatae virginis Mariae/ Die siben porten oder feste der muter gottes, hg. und bearb. von J. Marius J. L A N G E V A N R A V E N S W A A Y / Christof W I N D H O R S T , in: P A L T Z , Opuscula (wie Anm. 19), S. 285‒354. Paltz verfasste die Schrift auf Latein, doch erschien zuerst die deutsche Übersetzung in Leipzig (zweimal) und Nürnberg 1491 (1509 noch in Augsburg); erst dann publizierte Paltz die lateinische Originalfassung in Leipzig und Nürnberg 1492/ 93 (? ), der vier weitere Ausgaben in Köln 1494 und 1501, Augsburg 1508 und Nürnberg 1514 folgten. Johannes von Paltz (ca. 1445-1511) 18 . Von Herbst 1483 bis Herbst 1505 lehrte er als Professor an der theologischen Fakultät Erfurts. Am erfolgreichsten war Paltz mit seinem deutschsprachigen Traktat ‚Die himlische funtgrub [= Bergwerk]‘, der es von 1490 bis 1521 zu 18 frühneuhochdeutschen und drei niederdeutschen Drucken brachte 19 . Aus diesem Bestseller einer lebensprakti‐ schen und alltagsnahen Frömmigkeitstheologie, der vor allem an ungelehrte, aber lesefähige Laien und Laienfrauen adressiert war, ging Paltz’ lateinisches Hauptwerk in zwei umfangreichen Druckbänden hervor: die ‚Coelifodina‘ (‚Himmlisches Bergwerk‘) von 1502 20 und das ‚Supplementum Coelifodinae‘ von 1504 21 . Man kann diese beiden, bis 1516 dreibzw. zweimal nachgedruckten Werke als Handbücher für die priesterliche Seelsorge bezeichnen und zugleich als Kompendium einer Theologie der nahen Gnade, die darüber belehrt, auf welche Weise die himmlischen Gnadenmächte allen Menschen, sogar den „größten Sündern“ (maximi peccatores), hilfreich nahekommen und ihnen den Weg in den Himmel erleichtern. Die Angebote der Gnadennähe, die Paltz hier wie auch bereits in der deutschen ‚Himmlischen Fundgrube‘ und in einem lateinischen, sogleich ins Deutsche übersetzten Marientraktat hervorhebt 22 , sind: die Schätze der Passion Christi, die sich der Passionsmeditation erschließen, die hilfreiche Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 125 <?page no="126"?> 23 P A L T Z , Coelifodina (wie Anm. 20), S. 419, 11 f.: In der Gegenwart findet sich eine sanctorum omnium accumulatio, quos venerantur [homines] multifaria invocatione, devota oblatione, eleemosynarum largitione. 24 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 387, 29‒388, 1: In der Gegenwart christianitas sit plena ecclesiis et monasteriis, in quibus gloriosius dei cultus agitur, quam prius umquam agebatur. 25 P A L T Z , Coelifodina (wie Anm.-20), S.-419, 5‒420, 32. 26 P A L T Z , Coelifodina (wie Anm. 20), S. 420, 24-26: Iam enim sacra scriptura clarius exponitur, quam prius umquam exposita fuerat, saltem quoad intelligentiam popularem, et frequentius praedicatur quam prius et gratius exauditur […]. 27 Zitiert bei H A M M , Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 18), S. 84. Zu Raimund Peraudi vgl. auch den Beitrag von Christiane L A U D A G E in diesem Band. Präsenz Marias und der Heiligen, die Gnadenmitteilung durch die Sakramente, besonders das Bußsakrament, die Eucharistie und die „heilige Ölung“, und durch die Ablassverkündigung, vor allem durch das Angebot der zeitgenössischen Ju‐ biläumsablässe, in deren Gnadenpaket besondere Vergünstigungen für Beichte und Absolution, vollkommener Ablass aller zeitlichen Sündenstrafen und der Ablass für Verstorbene enthalten sind. Paltz ist sich der innovativen Züge der angewachsenen, kumulativen und sich an repräsentativer Feierlichkeit überbietenden Gnadenvergegenwärtigungen seines Zeitalters bewusst. So hebt er z. B. an der Jetztzeit die „Akkumulation aller Heiligen“ (accumulatio omnium sanctorum) hervor 23 und registriert, dass „die Christenheit voll von Kirchen und Klöstern ist, in denen der Gottesdienst herrlicher gefeiert wird als jemals zuvor“ 24 . Die Gegenwart, sagt er mit trium‐ phalem Ton, überbiete mit ihren Gnadenangeboten alle früheren Zeiten der Kirchengeschichte. Keine Generation habe jemals einen so leichten Zugang zu den Gnadenschätzen der Passion Christi, der Sakramente, Ablässe und der Heiligen Schrift gehabt wie die gegenwärtige Generation 25 . Auch das aufblühende Predigtwesen trägt, wie er unterstreicht, seinen Teil zu dieser forcierten Gnadenvergegenwärtigung bei: „Jetzt wird die Heilige Schrift klarer ausgelegt als jemals vorher, zumindest was ihr Verständnis durch das Volk betrifft, und sie wird häufiger gepredigt als früher und dankbarer angehört“ 26 . Die höchste Steigerung der Gnadenpräsenz findet Paltz aber in der zeitgenös‐ sischen Jubiläumsablass-Verkündigung, die er selbst als Ablasskommissar und Prediger unter der Ägide des päpstlichen Kardinallegaten Raimund Peraudi unterstützte. Ihn preist er als Initiator einer neuen Ära, der „glücklichen Zeiten der vollständigsten Ablässe“ (felicia tempora plenissimarum indulgentiarum). Habe doch Peraudi mehr Sünder bekehrt als sonst jemand seit der Zeit der Apostel 27 . Während der Verkündigung des Jubiläums, erklärt Paltz, wenn das Jubiläumskreuz mit dem päpstlichen Banner errichtet ist, steigt eine singularis 126 Berndt Hamm <?page no="127"?> 28 Zitiert bei H A M M , Frömmigkeitstheologie (wie Anm.-18), S.-289 f. 29 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 385‒441: De sexta porta coeli, quae est christinae fidelitatis. 30 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 385, 9-13: […] dicam specialiter de quattuor decipulis, quibus [exercitus infernalis recidivationis] non solum communem populum, sed et utriusque status maiores nostris decipit saeculis: Prima dicitur vanae peregrinationis, secunda magicalis sive superstitiosae divinationis, tertia astrologicalis illusionis, quarta alchimicalis deceptionis. 31 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 385, 14‒413, 19: De prima decipula diaboli, quae dicitur vanae peregrinationis (Über das erste Täuschungsmanöver des Teufels, welches das fatale Pilgern genannt wird). Paltz gliedert diesen Wallfahrtstraktat durch folgende Zwischenüberschriften: De pereginatio laudabili (Über das lobenswerte Pilgern, S. 385, 19), De peregrinatione vituperabili (Über das abzulehende Pilgern, S. 387, 20), De peregrinatione comulsoria vel impetuosa (Über das zwanghafte oder hektische Pilgern, S. 390, 6), Prima quaestio: Unde sit iste cursus, an a spiritu sancto (1. Frage: Woher kommt dieses [zwanghafte oder hektische] Wallfahren? Vom Heiligen Geist? [mit verneinender Antwort], S. 390, 18), De variis intentionibus currentium (Über die verschienenen [guten und schlechten] Intentionen der Wallfahrenden, S. 393, 6), De excusatione currentium (Über die rechtfertigende Argumentation der [hektisch influentia, eine einzigartige Gnadenkraft, vom Himmel in die Kirche herab. Nun werde auch den größten Sündern die wirksamste Hilfeleistung (efficacissima auxiliatio) zuteil 28 . Die Superlative, mit der Paltz die nahe Gnade feiert, hätte er ebenso auf die neu entstandenen Nahwallfahrten seines Zeitalters anwenden können. Sie waren wie die expandierenden Jubiläumskampagnen spektakuläre Ereignisse einer Popularreligiosität, die große Menschenmengen in Bewegung zur nahen Gnade versetzte. Und die Gnadenorte dieser Wallfahrten rückten genau die Gnadenkräfte in den Mittelpunkt der Verehrung, die Paltz in seinen Schriften dem Heilungs- und Heilsverlangen der Gläubigen außer den Sakramenten und Ablässen besonders empfahl: die Wirkungen der Passion Christi, wie sie an den Wallfahrtsorten im wundersam präsenten Blut Christi hervortraten, sowie das Gnadenwirken Marias und der Heiligen, die durch ihre Gnadenbilder bzw. ihre Reliquien die Pilgerströme anlockten. Es ist aber auffallend, dass Paltz das Wallfahren zur nahen Gnade keineswegs propagierte, sondern ihm insgesamt eher reserviert und kritisch gegenüberstand. Einen Hauptteil seines ‚Supplementum Coelifodinae‘ widmete er der „Him‐ melspforte“ des christlichen Glaubens 29 und thematisierte hier vier Täuschungs‐ manöver, mit denen Satan heutzutage nicht nur „das allgemeine Volk“ (com‐ munis populus), sondern auch geistliche und weltliche Würdenträger in Versuchung führe: „fatales Pilgern“ (vana peregrinatio), Magie, Astrologie und Alchimie 30 . Am ausführlichsten beschäftigte sich der Erfurter Theologiepro‐ fessor mit der Problematik des Pilgerns 31 , indem er über weite Strecken Texte Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 127 <?page no="128"?> oder zwanghaft] Wallfahrenden, S. 395, 1), Secunda quaestio: Quid possit huiusmodi impetuosus seu impulsivus cursus significare (2. Frage: Was kann dieses hektische oder zwanghafte Wallfahren bedeuten? , S. 396, 21), Tertia quaestio: Quid sit consulendum in hoc prodigioso cursu (3. Frage: Was ist bei diesem unheilvollen Wallfahren zu raten? , S. 398, 28), Quarta quaestio: Quomodo possit quis praeservari vel curari a tali cursu (4. Frage: Wie kann jemand vor derartigem Wallfahren bewahrt oder von ihm geheilt werden? , S. 401, 11), Tres quaestiones utiles de cursibus (Drei nützliche Fragen über Wallfahrten, S. 403, 24), Prima quaestio: Per quae cognoscatur aliqua peregrinatio esse vera et laudabilis (1. Frage: Woran erkennt man, dass eine Pilgerfahrt wahr und lobenswert ist? , S. 403, 30), Secunda quaestio: Cur miracula de sanquine Christi magis inveniantur multiplicata quam alia miracula (2. Frage: Warum werden Wunder mit dem Blut Christi in größerer Menge gefunden als andere Wunder? , S. 405, 6), Tertia quaestio: Quomodo cruor miraculosus sive reliquiae cruoris sint venerandae (Auf welche Weise sind das Wunderblut oder die Reliquien des Bluts zu verehren? , S. 408, 1), Determinatio doctoris Dorsten de cruore miraculoso (Die Problemlösung von Doktor Dorsten zum Wunderblut [d. h. zu der im Gothaer Augustinereremiten-Kloster aufbewahrten Bluthostie], S. 408, 14). 32 Vgl. die genauen Nachweise der wörtlichen Zitate und Paraphrasen aus Dorstens Schriften oder inhaltlicher Anlehnungen an sie im Quellenapparat zum Wallfahrtstraktat von P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21). Zu diesem Wallfahrts‐ text des ‚Supplementum‘ vgl. Klaus S C H R E I N E R , ‚Peregrinatio laudabilis‘ und ‚peregri‐ natio vituperabilis‘. Zur religiösen Ambivalenz des Wallens und Laufens in der Fröm‐ migkeitstheologie des späten Mittelalters, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau 8. Oktober 1990, hg. von Herwig W O L F R A M (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 14), Wien 1992, S. 133‒163. Zu Paltz bietet Schreiner wie auch zu Wallfahrtstexten anderer spätmittelalterlicher Theologen nur ein selektives Inhaltsreferat mit eingestreuten Zitaten ohne jede Quellenanalyse. Dabei übergeht er, dass Paltz Dorstens Vorlagen in seinen Pilgertraktat eingearbeitet hat, und macht sich nicht die Mühe, zwischen den Dorsten-Passagen und Paltz’ eigenen Formulierungen und besonderen Zuspitzungen zu unterscheiden - obwohl ihm die kritische Paltz-Edition die Vorarbeit dazu abgenommen hat. An keiner Stelle seines Aufsatzes erwähnt Schreiner den in der Überschrift seines Aufsatzes verwendeten Be‐ griff „Frömmigkeitstheologie“. Er hat ihn aus meiner 1982 erschienenen Untersuchung über Paltz: H A M M , Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 18) übernommen, ohne das Buch zu erwähnen. Schreiner zeigt exemplarisch, wohin es führt, wenn man Aufsätze schnell und oberflächlich zusammenschreibt. 33 Zu Leben und Schriften des Johannes von Dorsten vgl. Adolar Z U M K E L L E R , Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst nach der Lehre der Erfurter Augustinertheologen des Spätmittelalters (Cassiciacum 35), Würzburg 1984, S. 307‒389; zum Verhältnis von Dorsten und Paltz vgl. H A M M , Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 18), Personenregister S.-361, s. v. „Dorsten, Johannes Bauer von“. seines verehrten Lehrers Johannes Bauer von Dorsten († 1481) einarbeitete 32 . Dorsten war ebenfalls Augustinereremit und als Professor an der Erfurter theologischen Fakultät Paltz’ Vorgänger 33 . 128 Berndt Hamm <?page no="129"?> 34 […] novi cursus raro sunt a deo, etiamsi intitulentur beatae virgini. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-404, 12 f. 35 Ebd., S.-401,7: ne ordinem sanctum in ecclesia confundat. 36 Item ordo bonus in ecclesia catholica est maximum bonum post Christum, quem Christus instituit per spiritum sanctum. Ebd., S. 391, 15 f. (wörtlich, aber ohne Nennung der Quelle, aus Johannes von D O R S T E N , De cursu simplicium ad sacrum cruorem, in Wilsnack asservatum, Berlin Staatsbibliothek, Cod. Lat. 844 (Lat. Fol. 171), fol. 280r‒281v.; ebenso S.-398, 14. 37 „Quarto consideratur, ut“ currunt impetuose sine deliberatione, turbantes ordinem sanctae ecclesiae, currentes „contra oboedientiam maiorum. Et hoc modo significare videtur ali‐ quam“ subitam „turbationem“ venturam non modicum perturbantem „ordinem“ sanctae „ecclesiae“. Ebd., 398, 8-11 (die in Anführungszeichen eingeschlossenen Wörter sind aus Dorstens Wallfahrtstraktat [wie Anm.-36] übernommen). 38 Quod autem significet turbationem in hoc ordine, ex hoc etiam verisimile est, quod obloquuntur suis superioribus, rectoribus et sacerdotibus, qui pie eos informare cupiunt. Ebd., S.-398, 17-19 (nicht aus Dorsten übernommen). 39 Vgl. D O R S T E N , De cursu (wie Anm.-36). Von Dorsten übernahm Paltz die Grundrichtung in seiner Beurteilung des zeitgenössischen Pilgerwesens, wobei er die kritische Haltung seines Lehrers noch zuspitzte und bilanzieren konnte: „Die neuen Wallfahrten sind selten von Gott, selbst dann nicht, wenn sie die selige Jungfrau zum Ziel haben“ 34 . Sie führen, wie Paltz argumentiert, oft zu kirchlich nicht approbierten und geweihten Orten. Doch auch dann, wenn die Wallfahrer sich zu Gnadenorten auf den Weg machen, die von den Kirchenautoritäten anerkannt wurden, sei ihr Pilgern in der Regel zu tadeln, da es meist ohne die gebotene Vorüberlegung, ohne Beratung durch einen Seelsorger und ohne Lizenz des Ortspfarrers ge‐ schehe, sondern wider alle Vernunft in spontaner und zwanghafter Hektik. Das könne nicht vom Heiligen Geist kommen, der nie Vernunft und freien Willen ausschalte, und widerspreche der heiligen kirchlichen Ordnung 35 , die, wie Paltz in Anlehnung an Dorsten betont, „das größte Gut in der Kirche nach Christus ist“ 36 . Solches Wallfahren sei daher wohl Vorbote von Schlimmem: „Es scheint eine plötzliche Verwirrung zu bedeuten, die über die Ordnung der heiligen Kirche hereinbrechen und sie in nicht geringem Maße erschüttern wird“ 37 . Diese künftige große Störung des kirchlichen Ordnungsgefüges wird, wie es bei Paltz weiter heißt, dadurch wahrscheinlich gemacht, dass sich die so massenhaft und panisch aufbrechenden Pilger und Pilgerinnen „ihren Vorgesetzten, Leitern und Priestern, die sie unterrichten wollen, widersetzen“ 38 . Paltz schrieb diese Sätze im Laufe des Jahres 1503 nieder. Die Kritik Dorstens am „Wallfahrtsfieber“ stand vor allem unter dem Eindruck der Pilgerströme, die zum Wunderblut von Wilsnack im Nordosten der Mark Brandenburg führten 39 und auch noch nach seinem Tod anhielten. Nachrichten über Massenwallfahrten Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 129 <?page no="130"?> 40 Vgl. Hartmut K Ü H N E , Wilsnack, in: Ausstellungskatalog: Pilgerspuren. Wege in den Himmel von Lüneburg an das Ende der Welt, hg. von den Museen Stade und dem Museum Lüneburg, bearb. von Hartmut K Ü H N E , Petersberg 2020, S. 312‒319, hier S. 313. 41 Zur Wallfahrt nach Grimmenthal vgl. die grundlegende Edition von Johannes M Ö T S C H , Die Wallfahrt zu Grimmenthal. Urkunden, Rechnungen, Mirakelbuch (Veröffentli‐ chungen der Historischen Kommission Thüringen. Große Reihe 10), Köln u. a. 2004; Ausstellungskatalog: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mittel‐ deutschland, hg. von Hartmut K Ü H N E / Enno B Ü N Z / Thomas T. M Ü L L E R , Petersberg 2013, S.-196‒200. 42 Vgl. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 390,7-13 (mit Kommentie‐ rung): Alia est peregrinatio vituperabilis, quae dicitur cursus compulsorius sive peregri‐ natio compulsoria sive impetuosa, quando videtur hominibus, quod compellantur ad peregrinandum et quod oporteat eos currere, sicut factum est isto anno 1503 per Misnam et Thuringiam, quando homines cucurrerunt ad quendam novum cursum in Franconia, scilicet Grymmental, sicut etiam quondam cucurrerunt ad Wiltzenach et ante tempora in partibus Rheni iuvenes masculi cucurrerunt in maximo cumulo ad Sanctum Michaelem. („Eine andere Art des Pilgerns, die abzulehnen ist, nennt man ‚zwanghaftes‘ und ‚hektisches‘ Wallfahren oder Pilgern, wenn die Menschen den Eindruck haben, dass sie zum Pilgern genötigt werden und wallfahren müssen, wie es in diesem Jahr 1503 in Meißen und Thüringen geschehen ist, als sich die Menschen einer neuen Wallfahrt nach Franken, d. h. nach Grimmenthal, anschlossen, so wie sie auch früher nach Wilsnack strömten und wie vor Zeiten im Rheingebiet junge Männer massenhaft zum Heiligen Michael [Mont St. Michel] liefen.“). nach Wilsnack liegen besonders für die Jahre 1475, 1486 und 1516 vor 40 . Also auch für Paltz blieb das Ärgernis von Wilsnack aktuell. Noch stärker aber wurde er zur Zeit der Abfassung seines ‚Supplementum Coelifodinae‘ (1503) durch die Vorgänge in Grimmenthal bei Meiningen, das in der Grafschaft Henneberg-Schleusingen lag, alarmiert 41 . Erst 1498 war dorthin eine neue Wallfahrt entstanden. Große Pilgerscharen, vor allem aus Thüringen, Sachsen und Franken, machten sich zu dem wundertätigen Marienbild auf den Weg, das erst in einer kleinen Kapelle, dann seit 1499 in einer größeren und seit 1507 in einer prachtvoll ausgestatteten Kirche stand. Im Jahr 1502 sollen 44.000 Menschen nach Grimmenthal gepilgert sein; und 1503 scheint, wenn man Paltz glaubt, der Pilgerstrom nicht abgeebbt zu sein 42 . Typisch für solche erfolgrei‐ chen Nahwallfahrten war es, dass sie - als ertragreiche Wirtschaftsfaktoren, aber oft zugleich auch aus Frömmigkeitsmotiven - schnell die Förderung der jeweiligen Landesherren fanden, im Fall Grimmenthals durch Graf Wilhelm IV. von Henneberg-Schleusingen. Ihm gelang es, Einfluss auf die Verwaltung der Wallfahrtskasse zu nehmen und entsprechende Versuche des zuständigen Diözesanbischofs von Würzburg zurückzuweisen. Für Paltz war die Pilgerfahrt nach Grimmenthal das Musterbeispiel für jene neu aufgekommenen Massenwallfahrten, die vor allem deshalb abzulehnen seien, weil sie die Menschen in zwanghaft-hysterische Erregungszustände 130 Berndt Hamm <?page no="131"?> 43 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-392, 30‒393, 1. 44 Unde accidit ante haec tempora in impetuoso cursu ad Wiltzenach, quod quidam socii videntes aliquas currere sociaverunt se eis et omnes impraegnaverunt et duplici numero reversae sunt. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 393, 1-3 (mit dem Hinweis im Apparat auf eine ähnliche Passage in Dorstens ‚Sermones‘). 45 Vgl. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-388, 4-21 und 398, 17-19. 46 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-404, 1-11. 47 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-404, 12-19. versetzen und zugleich die Schleusen zu disziplinlosen Ausschweifungen, auch sexueller Art, öffnen. Durch solches „Laufen“ werden, wie Paltz erläutert, junge Leute seelischen und körperlichen Gefährdungen ausgesetzt, wenn sich Männer und Frauen beim Tanz, auf Wiesen und auf dem Felde zusammenfinden und dann bei anbrechender Nacht durch waldreiche Gegenden laufen und sich dort paaren 43 . „Daher geschah es vorzeiten bei der hektischen Wallfahrt nach Wilsnack, dass einige Männer, als sie wallende Frauen sahen, sich ihnen anschlossen, alle schwängerten und in doppelter Zahl heimkehrten“ 44 . Solche Vorkommnisse waren aber für Paltz wie schon für Dorsten nur ein unerfreulicher, von ihnen nur kurz angesprochener Seitenaspekt des neuen, massenhaften und tumultuösen „Laufens“. Was sie als Theologen prinzipiell beklagten, war das dabei aufbrechende, tiefer sitzende und generelle Seelsorge- und Gehorsamsproblem: dass die Menschen in ihrem Drang zur nahen Gnade nicht auf den klugen Rat ihrer Seelsorger hören und sich den Verboten ihrer heimischen kirchlichen und weltlichen Oberen widersetzen - obwohl sie doch für ihre körperlichen Gebrechen und Jenseitsängste eine immense Gnadenfülle am eigenen Ort, ja unmittelbar vor der Haustüre haben 45 . Paltz betont, wie viele Orte, Kirchen und Klöster in nächster Reichweite lägen, wo die hilfreiche Gnadenwirkung echter Reliquien, Schutzheiliger (sancti patroni) und vor allem der Gottesmutter abgerufen werden könne und in Zeiten der Jubiläumsverkün‐ digung oder an besonderen Festtagen des Kirchenjahres die indulgentiarum copiositas, die reiche Fülle der Ablassgnaden, zu haben sei 46 . Warum soll man die häuslichen Pflichten vernachlässigen und sich in Scharen auf die sittlich gefährdende Wallfahrt zu einem Marienbild in Grimmenthal oder andernorts begeben, wo man doch die Gottesmutter andächtiger und wirksamer in einem der vielen Marienheiligtümer am eigenen Ort oder nur wenige Kilometer entfernt um seelische und körperliche Hilfe anrufen kann? Es ist der Teufel, erklärt Paltz, der solche heimischen Gnadenstätten hasst, von ihnen abrät und neue Wallfahrtsorte erfindet, um die Menschen in Sünden zu stürzen und die gute kirchliche Ordnung zu zerstören 47 . Aus dieser Perspektive des Jahres 1503, unter dem Eindruck der Grim‐ menthaler Wallfahrt, formulierte Paltz jene oben zitierten Worte über die Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 131 <?page no="132"?> 48 Siehe oben Anm.-37. 49 P A L T Z , Coelifodina (wie Anm. 20), S. 419, 19-25. Zu Paltz’ Beschäftigung mit der Thematik des Antichrists vgl. H A M M , Frömmigkeitstheologie (wie Anm.-18), S.-97 f. 50 Vgl. Paltz, Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 398, 1 f.: „Die große Menge, die auf Wallfahrt geht, besteht aus ungebildeten und einfachen Menschen von niedrigem Stand, die oft sehr jung sind“ (multitudinis rudis et simplicis, hoc est puerorum et plebeorum indoctorum). 51 Vgl. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 388, 29 f.: Die Wallfahrten zu neuen, noch nicht kirchlich approbierten Gnadenorten geschehen „gegen den Rat aller Doktoren und Experten“ (contra consilium omnium doctorum et expertorum). Vgl. etwa die Stimmen zweier gelehrter Theologen, des Windesheimer Regularkanonikers Frederik van Heilo aus Haarlem († 1455) und des Osnabrücker Augustinereremiten Gottschalk Hollen († 1481), die S C H R E I N E R , Peregrinatio (wie Anm. 32), S. 152 f. bzw. 154‒157 referiert. Heilo betont, dass man wahren Ablass nicht durch Ortswechsel und Wallfahren erreichen kann, sondern durch den Gesinnungswechsel der Bußumkehr und die Festigkeit eines frommen Besserungswillens. Von Wallfahrten sei deshalb abzuraten, weil sie den Geist von sich wegführen, zerstreuen und korrumpieren. Maria, die zu Hause blieb, sich mit sich selber beschäftigte und sich ganz auf die Süße des göttlichen Wortes konzentrierte, sei von Jesus selig gepriesen worden, nicht die geschäftige Martha. Hollen hingegen teilt nicht die generelle Wallfahrtskritik Heilos, sondern differenziert wie Paltz zwischen löblichem und verwerflichem Pilgern. Er stellt strenge Regeln für ein frommes Wallfahren auf. So sei Grundbedingung für eine gute Pilgerfahrt die richtige, auf Heilsvorsorge zielende Absicht (recta intentio). Als bevorstehende plötzliche Verwirrung (subita turbatio), die das kirchliche Ord‐ nungs- und Gehorsamsgefüge in eine tiefe Krise stürzen werde 48 . Paltz griff damit, wie wir sahen, auf eine Prognose Dorstens zurück und spitzte sie zu, offensichtlich in Erwartung der bevorstehenden „Zeiten des Antichrists“ (tempora Antichristi), in denen es zu einem Einbruch der jetzt noch verbreiteten gläubig-ehrfurchtsvollen Kirchenfrömmigkeit kommen werde 49 . Gut zwanzig Jahre später mussten seine Befürchtungen aus der Sicht der Altgläubigen und der Reformationsanhänger wie eine prophetische Vorahnung der durch Luther „angestifteten“ Auflehnung gegen Grundpfeiler des traditionellen Kirchenwe‐ sens klingen. Aus heutiger wissenschaftlicher Perspektive sind solche Worte alarmierter Zukunftssorge immerhin ein Beleg dafür, dass es bereits im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert ein Drängen nach Heilung und Heil gab, das große Menschenmengen, vor allem aus unteren, wirtschaftlich schwachen und weniger gebildeten Bevölkerungsschichten 50 , aufwühlte und sie in Konflikt mit den Regulierungsversuchen und dem Gehorsamsanspruch der Kirchenhierar‐ chie und weltlicher Obrigkeiten brachte. Die Massenphänomene der Nahwallfahrten zeigen, wie schwer die Dynamik der nahen Gnade zu kanalisieren war. Die ablehnende Haltung von Dorsten und Paltz gegenüber dieser kumulativen Wallfahrtsdynamik war keine Ausnahme. Sie dürfte der Regelfall in Kreisen der gelehrten Theologie gewesen sein 51 , 132 Berndt Hamm <?page no="133"?> normgemäß könne daher eine Wallfahrt nur dann gelten, wenn sie auf den Erwerb von Ablässen oder auf Sühne und Vergebung von Sünden gerichtet sei. Dabei hat Hollen die traditionsreichen Fernwallfahrten zu kirchlich approbierten Orten im Blick. Er nimmt sie gegen die Hektik der zeitgenössischen Nahwallfahrten in Schutz. Gegenüber der neuen Wallfahrtsdynamik empfiehlt er ein nicht zu schnelles, geduldiges, andächtiges, bußfertiges und zuchtvolles Pilgern in die Ferne mit Einwilligung des Ortspfarrers. So sucht Hollen, wie Schreiner resümiert, „in einer Zeit religiöser Unrast“ das alte Pilgern „als ehrwürdige Institution vor zunehmender Destabilisierung zu retten“ (S.-157). 52 Vgl. exemplarisch Berndt H A M M , Faszination der Ordnung. Martin Bucer und der refor‐ matorische Umbruch in der Reichsstadt Ulm 1531, in: Ulm und Oberschwaben 62 (2021), S. 59‒78, und generell Walther K Ö H L E R , Zürcher Ehegericht und Genfer Konsistorium, Bd. 1: Das Zürcher Ehegericht und seine Auswirkung in der deutschen Schweiz zur Zeit Zwinglis, Bd. 2: Das Ehe- und Sittengericht in den süddeutschen Reichsstädten, dem Herzogtum Württemberg und in Genf (Quellen und Abhandlungen zur schweizerischen Reformationsgeschichte 7 und 10), Leipzig 1932 und 1942. Zum Konzept der - im ausgehenden Mittelalter verankerten - frühneuzeitlichen „Sozialdisziplinierung“ vgl. die grundlegenden Arbeiten von Gerhard O E S T R E I C H und dazu Winfried S C H U L Z E , Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), S.-265‒302. 53 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 397, 29 f.: Et ut sic [iste cursus] significat mobilitatem seu mutabilitatem animorum et inconstantiam mentis nunc in hominibus. Vgl. auch ebd., S.-400, 30: propter facilitatem populi ad mutabilitatem. 54 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 397, 30-34: Et in quantum ex paucis currere incipientibus tanta multitudo commota est, significat, quod morbus mentium non minus contagiosus est quam corporum et quod non minus necessarium da die Theologen und vor allem die Seelsorger unter ihnen quer durch die Schulen und Ordensrichtungen stets ein vernünftiges, „diskretes“, moderates, besonnenes und normgerechtes Verhalten anmahnten und jeder hektischen Aufgeregtheit abwehrend gegenüberstanden. Die soziale Kluft und das starke Bildungsgefälle beeinflussten ihre mentale Distanz zum „Wallfahrtsfieber“. Die lebenspraktisch und seelsorgerlich orientierte Frömmigkeitstheologie wurde so mit ihren Mahnungen und Warnungen zu einem Medium religiöser Sozialdis‐ ziplinierung, die unter veränderten Vorzeichen ihre Fortsetzung in den Kirchen- und Zuchtordnungen der Reformation fand 52 . Typisch für die distanzierte Einstellung und domestizierende Intention der Gelehrten gegenüber dem zeitgenössischen Wallfahrtsverhalten sind Bemer‐ kungen, mit denen Paltz die Mentalität, wie sie in der Wallfahrts-„Hysterie“ zum Vorschein komme, diagnostiziert. Er spricht, teilweise Dorsten zitierend, von der „gegenwärtigen seelischen Mobilität oder Veränderlichkeit und der geistigen Unbeständigkeit der Menschen“ 53 und deutet das Anwachsen der Wallfahrtsgruppen zu Massenbewegungen als „mentale Krankheit, die nicht weniger ansteckend als körperliche Krankheiten“ sei und daher eine nicht ge‐ ringere Wachsamkeit als bei Seuchen erfordere 54 . Es sei vor allem die Aufgabe Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 133 <?page no="134"?> est evigilare pro antidotis spiritualibus quam corporalibus, quando morbus corporis incipit. 55 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), der gesamte Abschnitt S. 400, 16‒33 (über die Aufgabe der praesides et rectores) mit der Mentalitäts-Diagnose: natura his temporibus sic disposita est, quod facile movetur in compassionem et ex hoc in periculosam passionem. 56 Vgl. Bernd M O E L L E R , Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. von D E M S ./ Johannes S C H I L L I N G , Göttingen 1991, S. 73‒85, mit der Formulierung (S. 81), dass „das späte 15. Jahrhundert in Deutschland eine der kirchenfrömmsten Zeiten des Mittelalters“ gewesen sei. Hartmut B O O C K M A N N , Kirche und Frömmigkeit vor der Reformation, in: Ausstellungskatalog (Germanisches Nationalmuseum): Martin Luther und die Reformation in Deutschland, hg. von Gerhard B O T T , Frankfurt a. M. 1983, S. 41‒72, mit der Formulierung (S. 63, linke Spalte): „Der offensichtliche Kontrast zwischen der Fülle an Zeugnissen vorreformato‐ rischer Frömmigkeit und Kirchentreue auf der einen und dem so gewaltigen und so schnellen Echo, welches Martin Luther fand, auf der anderen Seite […].“ 57 Vgl. Ernst Wilhelm W I N T E R H A G E R , Ablasskritik als Indikator historischen Wandels vor 1517. Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 90 (1999), S.-6-71. 58 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 15‒82: De quattuor exercitibus infernalibus a Lucifer missis adversus sacratissimas indulgentias (Über die vier Heere, die von Lucifer gegen die allerheiligsten Ablässe ausgesandt werden). der Oberen in verantwortlicher Stellung, solchem wilden Wallfahren entge‐ genzuwirken und zu verhindern, dass die Wallfahrer in großen Zügen und lautstark durch Städte und Dörfer ziehen; sei doch „die Natur [der Menschen] in diesen Zeiten so beschaffen, dass sie leicht zum Mitleid und daher auch zu gefährlichem Leiden bewegt wird“, also anfällig für emotionale Labilität sei, die, wie die Vergangenheit zeige, durch aufrührerische Verführer ausgenutzt werde 55 . Die „kirchliche Frömmigkeit“ und „Kirchentreue“, die Forscher wie Bernd Moeller oder Hartmut Boockmann dem ausgehenden Mittelalter nach den großen Reformkonzilien bescheinigten 56 , war offensichtlich doch fragil und leicht zu erschüttern. Das zeigt auch die vielstimmige Kritik an den Jubiläums‐ ablässen, die vor allem gegen Ende des 15. Jahrhunderts Fahrt aufnahm 57 und von Paltz, ebenfalls im ‚Supplementum Coelifodinae‘ von 1504, als Angriffe satanischer Heere auf die kirchliche Ordnung gedeutet wurde 58 . Das breite Echo, das Luther in kürzester Zeit fand, und die in den Reformationsströmungen aufbrechende Gehorsamskrise kamen doch nicht so unvorbereitet, wie es im Blick auf weite Bereiche eines sehr kirchenfrommen Verhaltens der Gläubigen, etwa ihres Stiftungsverhaltens oder ihrer Messfrömmigkeit, scheinen könnte. Die Massenwallfahrten des ausgehenden Mittelalters geben Aufschluss über eine breite religiöse Mobilität, die sich den kirchlichen Normierungsansprüchen 134 Berndt Hamm <?page no="135"?> 59 Vgl. die Deutung der neuen, nicht approbierten bzw. zwar prinzipiell erlaubten, aber „hektisch und hysterisch“ verlaufenden Massenwallfahrten bei Paltz durch Formulie‐ rungen wie: tu honoras diabolum ex tua praesumptione, superbia et rebellione, quod vadis ad locum nondum approbatum per ecclesiam vel episcopum contra consilium omnium doctorum et expertorum (du verehrst den Teufel aus Anmaßung, Hochmut und Aufruhr, indem du zu einem Ort pilgerst, der noch nicht durch die Kirche oder den Bischof approbiert wurde, gegen den Rat aller Doktoren und Experten); insultus seditiosos, tumultus et conventicula (aufrührerisches Aufbegehren, Tumulte und Zusammenrottungen); ebd., S. 388, 27‒30 und S. 400, 29 f. Ein Menetekel in dieser Hinsicht war für Paltz insbesondere das massenhafte „Laufen“ nach Niklashausen im Taubertal, wo der junge Hirte und „Pfeifer“ Hans Behem unter Berufung auf eine Marienerscheinung 1476 drohende Bußpredigten mit sozialrevolutionärem Unterton hielt. Der Würzburger Bischof Rudolf von Schwerenberg ließ ihn am 19. Juli als Ketzer am Würzburger Jakobskloster verbrennen. Dazu P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 388, 31-33 (im Anschluss an das Zitat oben S. 388, 27‒30): Tales cursus communiter suscitant pessimi nequam, sicut quondam fuit in Nickelshusen per quendam, quem episcopus Herbipolensis fecit comburi, similiter in Froborii et aliis pluribus locis. (Zu solchen Wallfahrten stiften in der Regel nichtsnutzige Bösewichter an, wie es einst in Nickelshusen durch einen geschah, den der Bischof von Würzburg verbrennen ließ, und ähnlich in Froborii [? ] und an mehreren andren Orten.) Vgl. Klaus A R N O L D , Niklashausen 1476. Quellen und Untersuchungen zur sozialreligiösen Bewegung des Hans Behem und zur Agrarstruktur eines spätmittelalterlichen Dorfes (Saecula Spiritalia 3), Baden-Baden 1980. 60 Vgl. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-404, 1-8. entzog und von vielen Verantwortlichen mit Vorstellungen von aufrührerischer Unruhe und desaströser Unordnung in Verbindung gebracht wurde 59 . 4. Wallfahrten, Ablässe und die nahe Gnade der Passion Christi Warum reagierte Johannes Paltz zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf die großen Massenphänomene einer dynamisierten nahen Gnade so unterschiedlich? Die Innovationen im Bereich der Jubiläumsablässe fanden seine begeisterte Zustim‐ mung und tatkräftige Förderung, während er die Dynamik der Nahwallfahrten ablehnte. Traditionsreiche, von der Kirchenhierarchie geförderte und an be‐ deutende Kathedralen oder Klöster angebundene Wallfahrten wie Jerusalem, Rom, Santiago, Einsiedeln, Aachen, Köln, Mainz und Trier ließ er gelten 60 , gegen die Wallfahrtsinnovationen des 14. und 15. Jahrhunderts aber erhob er in Übereinstimmung mit dem Tenor der zeitgenössischen gelehrten Theologie seine warnende Stimme. Der Grund für diese unterschiedliche Einstellung des Erfurter Augustiner‐ professors zu den religiösen Massenphänomenen und zu einer multiplizierten Frömmigkeit des 15. Jahrhunderts lag offensichtlich in seiner stark kirchenhie‐ rarchisch und sakralinstitutionell ausgerichteten Haltung. Wo die kirchliche Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 135 <?page no="136"?> 61 Vgl. H A M M , Frömmigkeitstheologie (wie Anm.-18), S.-40 f. 62 Vgl. oben bei Anm.-41 und 42. Hierarchie, sei es in Gestalt hochrangiger Weltkleriker oder leitender Ordens‐ leute und am besten im guten Einvernehmen mit weltlichen Obrigkeiten, ihre schützende und begünstigende Hand über altehrwürdige Sakralorte oder innovative Frömmigkeitsweisen der Gläubigen hielt, die Übereinstimmung der Neuerungen mit den geltenden kirchlichen Normen feststellte und sie so legitimierte, fand sie Paltz’ Unterstützung; und da konnte er auch neue und große Menschenmengen anziehende Vorgänge der nahen Gnade wie den Jubiläumsablass in höchsten Tönen preisen. Geschah doch die Verkündigung der „vollkommensten Ablässe“ mit dem Segen der päpstlichen Autorität, hoher kirchlicher Würdenträger, vieler angesehener Ordensleute und auch mit Un‐ terstützung zahlreicher Fürsten und städtischer Magistrate. Die spätmittelalter‐ liche Dynamik des Ablasswesens geriet zwar nicht selten in den Sog lokaler oder regionaler, klerikaler und politischer Rivalitäten, doch war sie prinzipiell ein Macht- und Seelsorgeinstrument der Kirchenhierarchie und stellte ihre Autori‐ täts- und Gehorsamsansprüche nicht in Frage. Oft diente die breite Diffusion der Plenarablässe der Finanzierung örtlicher Kirchenbaumaßnahmen und anderer gemeinnütziger Aufgaben der Kommunen. Sie war keine Konkurrenz zur sakramentalen Frömmigkeit und Marien-, Heiligen- und Reliquienverehrung vor Ort, sondern konnte sie eher stärken. Anders stand es um die Veränderungen des Wallfahrtswesens mit dem Trend, dass immer mehr neu entstehende Gnadenorte sehr schnell große Pilgerströme aus der eigenen Region oder angrenzenden Landschaften anzogen und vor allem für sozial und wirtschaftlich Unterprivilegierte, aber nicht nur für sie, sondern nicht selten auch für ranghohe Personen, anziehend waren. Solche Gnadenorte standen generell unter größtem Legitimationsdruck. Besonders von Seiten der Kirchenhierarchie, der gelehrten Theologie und der politisch Verantwortlichen wurde die Echtheit ihrer Reliquien und Wunder in Zweifel gezogen und von Be‐ trug gesprochen; und bei den Wallfahrern und Wallfahrerinnen diagnostizierte man Leichtgläubigkeit, Aberglaube, krankhaftes Zwangsverhalten und Zucht‐ losigkeit. Paltz bot, wie wir sahen, in dieser Hinsicht die gängigen Argumenta‐ tionsmuster eines Vertreters der Kirchenhierarchie, eines gebildeten Theologen und eines sozial wohl situierten Professors; sein Vater war Geschützmeister, sehr wahrscheinlich im Dienste des Trierer Erzbischofs 61 . Dass eine Wallfahrt wie Grimmenthal die - in solchen Fällen zu erwartende - Förderung des zuständigen Landesherrn fand 62 , konnte Paltz nicht beeindrucken. Die Gründe für derartige 136 Berndt Hamm <?page no="137"?> 63 Siehe oben Anm.-51 und 59. 64 Siehe oben Anm.-34. 65 Zu Sternberg vgl. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 405, 19‒406, 6 mit älterer Literatur in Anm. 17. Vgl. jetzt Kristin S K O T T K I , Sternberg: Einblattdruck zum vermeintlichen Sternberger Hostienfrevel. Flugschrift über die Sternberger Ereignisse, in Ausstellungskatalog: Pilgerspuren (wie Anm. 40), S. 326‒334; Volker H O N E M A N N , Die Sternberger Hostienschändung und ihre Quellen, in D E R S ., Literaturlandschaften. Schriften zur deutschsprachigen Literatur im Osten des Reiches, hg. von Rudolf S U N T R U P u.a. (Medieval to Early Modern Culture/ Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 11), Frankfurt a. M. 2008, S. 167‒216; Hartmut K Ü H N E , Zur Konjunktur von Heilig-Blut-Wallfahrten im spätmittelalterlichen Mecklenburg, in: Mecklenburgia sacra 12 (2009), S.-76‒115. 66 Zu Gotha vgl. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 408, 5-7 (de cruore miraculoso in conventu Gotensi/ über das wunderhafte Blut im Gothaer Konvent [der Augustinereremiten]) mit Anm.-15 und 19. 67 Johannes von D O R S T E N , Determinatio de cruore miraculoso, in: P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 408, 14-413, 14. Da für den Text von Dorsten keine handschriftlichen Zeugen bekannt sind, ist Paltz’ ‚Supplementum Coelifodinae‘ die einzige Überlieferungsquelle. Paltz leitet seine Wiedergabe des Dorsten-Textes mit den lokale Begünstigungen waren zu durchsichtig, um die prinzipiellen Zweifel an Glaubwürdigkeit und Sakralität solcher umstrittenen Gnadenorte zu entkräften. Für Theologen wie Paltz - ja, wie er sagt, für „alle Doktoren und Experten“ 63 - lag das zentrale Problem der neuen Wallfahrten und ihrer tumultuösen, Ordnung und Sittsamkeit bedrohenden Umstände darin, dass sie zu angebli‐ chen Wunderorten führten, die nicht kirchlich approbiert und geweiht und nicht in die klerikale Sakralität einer Kirche oder eines Klosters eingebettet waren. Wo diese sakrale Anbindung aber bestand, konnte er gemäß seinem Grundsatz „Neue Wallfahrten sind selten von Gott“ 64 den seltenen Ausnahmefall annehmen, die gnadenreiche Wirkung solcher Wallfahrtsziele und die Echtheit ihrer Wunder anerkennen und sie der andachtsvollen Verehrung der Gläubigen empfehlen. Die konkreten glaubwürdigen Gnadenorte, die Paltz in diesem Zusammen‐ hang nennt, sind ausnahmslos Sakralstätten, an denen wundertätiges Hosti‐ enblut aufbewahrt und verehrt wurde. Besonders hebt er zwei Fälle hervor: das heilige Wunderblut von Sternberg in Mecklenburg 65 und das von Gotha in Thüringen 66 . Die Gründe, warum er gerade diesen Beispielen besondere Aufmerksamkeit schenkt, liegen auf der Hand. In Sternberg und in Gotha wurde die Heilig-Blut-Reliquie in Konventen der Augustinereremiten aufbewahrt, deren Orden Paltz ebenso wie sein Lehrer Dorsten angehörte. Über die Echtheit des Gothaer Blutes und seine Verehrungswürdigkeit hat Dorsten 1480, ein Jahr vor seinem Tod, eine gelehrte Abhandlung verfasst, die Paltz in sein ‚Supplementum Coelidofinae‘ aufgenommen hat 67 . Paltz selbst war Herzog Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 137 <?page no="138"?> Worten ein, dass der profundissimus sacrae theologiae professor, magister Ioannes de Dorsten ordinis fratrum Eremitarum sancti Augustini diese Abhandlung „in unserem Erfurter Konvent“ 1480 vorgetragen und selbst aufgezeichnet habe - zum Nutzen nicht nur dieses Konvents, sondern auch zur Unterweisung aller in anderen Gegenden, die Zweifel über ein ähnliches Wunderblut hegen. Er, Paltz, habe daher diese Problemlö‐ sung Dorstens hier Wort für Wort in sein Buch eingefügt (ebd., S.-408, 2-13). 68 Zu den Einzelheiten dieser Gründung des observanten Konvents von Sternberg vgl. H A M M , Frömmigkeitstheologie (wie Anm.-18), S.-75‒77. 69 Das gilt gerade auch für die Ablässe. Ihre große Mehrzahl war unentgeltlich zu erhalten - in der Art des unten erwähnten Ablasses, der in der Nürnberger Dominika‐ nerinnen-Kirche St. Katharina vor dem Schürstab-Epitaph zu gewinnen war. Bei den Jubiläumskampagnen gab es für den Ablasserwerb sozial gestaffelte Tarife bis hinab zur völligen Befreiung von den Kosten, die Armen gewährt wurde; vgl. Berndt H A M M , Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016, S.-129‒132. Magnus von Mecklenburg bei der Gründung des Sternberger Augustinerklosters im Jahre 1500 und bei dessen weiterer Einrichtung behilflich 68 . Eine derartige Förderung neuer Gnadenorte und Pilgerziele durch gelehrte Theologen wie Paltz war aber die Ausnahme. Die generell ablehnende Haltung der beiden sakralinstitutionell orientierten Augustinerprofessoren Dorsten und Paltz gegenüber den neu aufgekommenen Massenwallfahrten des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts und ihre gleichzeitige hohe Wertschätzung des Ablasswesens darf freilich nicht den Blick dafür verdecken, dass die Nahwallfahrten mit ihren großen Pilgerzügen und die Anziehungskraft der Plenarablässe, vor allem der Jubiläumsangebote, eine gemeinsame religiöse Wurzel haben: Die Popularität der expandierenden Nahwallfahrten und die Attraktivität des ins Unermessliche und Totale angewachsenen Ablasses sind beide Massenphänomene des Drängens nach der nahen Gnade. Was ich unter „Dynamisierung der nahen Gnade“ im ausgehenden Mittelalter verstehe, tritt hier mit größter Anschaulichkeit vor Augen. Sollte man auch von „inflationärer Gnade“ sprechen? Wenn man diesen Begriff nicht abwertend verwendet, sondern deskriptiv, um eine für sehr viele Menschen leicht zugängliche Gnade der Heilung und Sündenvergebung zu bezeichnen, wäre diese Bezeichnung angebracht. Doch ist das Wort „inflationär“ so negativ konnotiert, dass ich doch lieber neutral von der „entschränkten“ oder „entgrenzten“ Gnade sprechen möchte: Die große Gnadenzuwendung Gottes, Christi, Marias und der Heiligen durchbricht nach dem Verständnis der Zeitgenossen räumliche, soziale, wirtschaftliche und sakrale Barrieren. Sie erreicht auch die nicht Begüterten 69 , die sich keine langen, zeitraubenden Wege und keine kostenaufwändigen Stiftungen leisten können; und sie erreicht auch die weniger Frommen, die keine religiösen Leistungen von hoher Sühnekraft und hohem Verdienstwert erbringen können, aber in ihren Alltagssorgen und 138 Berndt Hamm <?page no="139"?> 70 Zu diesen bayerischen Heiligenkulten der Jahrzehnte vor der Reformation vgl. die Belege bei Berndt H A M M , Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: D E R S ., Religiosität (wie Anm.-16), S.-244‒298, hier S.-274. Jenseitsängsten durch das Verlangen nach Heilung und möglichst sicheren Gnaden- und Heilsgarantien angetrieben werden. So wurde das Jahrhundert vor der Reformation zur Ära einer vielfältig und kumulativ dynamisierten nahen Gnade. Eine religiöse Besonderheit des 15. Jahrhunderts, die mit dieser Gnadendy‐ namik und besonders mit der ansteigenden Pilgermobilität zu nahen Gnaden‐ orten unmittelbar zusammenhängt, ist auf dem Gebiet der Heiligenverehrung zu beobachten. Sozusagen als Gegenpol zu den europäischen Heiligen mit Fern‐ wallfahrten - wie dem hl. Jakobus d. Ä. von Compostela - tauchen Spezialheilige auf, deren Name sich an besondere Regionen, Gemeinden und Gnadenstätten knüpft und deren Verehrung dort Reliquienkult, Mirakelverkündigungen, Nah‐ wallfahrten und Prozessionen ins Leben ruft. So wird eine lokale Sakraliden‐ tität gestiftet, die Identifizierung der örtlichen Gemeinde mit „unserer“ oder „unserem“ Heiligen ermöglicht und die Erwartung einer besonderen lokalen Schutzbeziehung begründet. Richtet man den Blick exemplarisch auf das Gebiet des heutigen Bayern, so sind Ortsheilige wie der hl. Sebald für Nürnberg oder das Heiligenpaar St. Afra und St. Ulrich für Augsburg bekannt, d. h. traditionsreiche Heilige, die jetzt eine wachsende Verehrung erfahren. Zu den eher unbekannten, neu aufkommenden Spezialkulten des ausgehenden Mittelalters gehören z. B. der des hl. Deocarus in Herrieden (bei Ansbach) und Nürnberg, des hl. Simpert (Sintpert) in Augsburg, des hl. Castulus in Moosburg (bei Freising), der hl. Richildis im Benediktinerinnenkloster Hohenwart (bei Pfaffenhofen/ Ilm), der hl. Achahildis in Wendelstein (bei Nürnberg), der hl. Stilla von Abenberg (bei Roth) im Augustiner-Chorfrauenkloster Marienburg, der hl. Gunthild in Suffersheim (bei Weißenburg) oder der hl. Radegundis von Wellenburg (bei Augsburg) 70 . Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang einer lokalen Ausdifferenzie‐ rung des Sakralen und eines immer dichter werdenden Netzes von Gnaden‐ stätten in Bayern wie in anderen Regionen Deutschlands auch die zahlreichen eucharistischen Nahwallfahrten. Ihren Ausgangspunkt bilden seit dem 14. Jahr‐ hundert meist Hostien-Blutwunder, Frevellegenden und Judenprogrome wie auf bayerischem Boden etwa in Rothenburg, Iphofen, Röttingen an der Tauber, Deggendorf und Passau. Hinzukommen, wie schon die erwähnten Beispiele von Dettelbach und Grimmenthal im Bistum Würzburg zeigten, die vor und nach 1500 aufblühenden Gnadenbild-Wallfahrten zu wundertätigen Marienplastiken (besonders in Gestalt der Pietà). Große Pilgerzahlen erreichten die Marienwall‐ Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 139 <?page no="140"?> 71 Zu den eucharistischen und Marien-Nahwallfahrten auf dem Gebiet des heutigen Bayern vgl. die Nachweise ebd., S.-275. 72 Zu diesen Zahlen vgl. den Beleg ebd., S. 272. Zur spätmittelalterlichen Anziehungskraft von wundersam „handelnden Bildwerken“ vgl. (im Anschluss an die Arbeiten von Johannes Tripps) den Ausstellungskatalog: Bildersturm: Wahnsinn oder Gottes Wille? , hg. von Cécile D U P E U X / Peter J E Z L E R / Jean W I R T H , Zürich 2000, S. 218‒243: Handelnde Bilder im Kirchenjahr. 73 In der spätmittelalterlichen Ikonographie des individuellen Partikulargerichts unmit‐ telbar nach dem Tod wird Christus nicht wie in den Darstellungen des universalen Weltgerichts am Ende der Zeiten als thronender Richter dargestellt, sondern zusammen mit Maria in einer kombinierten Interzession vor dem richtenden Gottvater. Dieser wird durch die Fürsprache Marias und seines Sohnes zu einem gnädigen Gericht bewegt. Vgl. H A M M , Frömmigkeitsbilder (wie Anm. 8), S. 135‒145: Verbildlichungen des Partikulargerichts. 74 Vgl. exemplarisch (mit Literatur): The Broken Body. Passion Devotion in Late Medieval Culture, hg. von Alasdair A. M A C D O N A L D / H. N. Bernhard R I D D E R B O S / Rita M. S C H L U S E ‐ M A N N (Mediaevalia Groningana 21), Groningen 1998; Petra S E E G E T S , Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin (gest. 1498) zwischen Kloster und Stadt (Spätmittelalter und Reforma‐ tion, Neue Reihe 10), Tübingen 1998. fahrten zu den Kultbildern von Volkach und Altötting 71 und vor allem zur „Schönen Madonna“ in Regensburg; dort wurden allein im Jahre 1520 109.198 bleierne und 9.763 silberne Pilgerabzeichen verkauft 72 . Bis an die Schwelle zur Reformation haben die Angebote der nahen Gnade Hochkonjunktur. In der Wundertätigkeit von Marienbildern, Heiligenreliquien und Hostienblut, in der straftilgenden Kraft der Ablässe und durch viele anderen Medien wird die Gnade heilend und heilsvermittelnd gegenwärtig. Die wesentlichen Grundlagen für diese Dynamisierung der göttlichen Gnade und für die Möglichkeit ihrer Nah-Vergegenwärtigung wurden durch die chris‐ tologische Wende seit dem 12. Jahrhundert gelegt. Es ist der oft beschriebene Wandel des Christusbildes vom triumphalen göttlichen Weltenherrscher hin zum menschlichen Erlöser, der dem armen, elenden Menschen als Kind in der Krippe und Passionsheiland gleich wird, ihn als minnevoller Bräutigam liebevoll umfängt und ihm als Advokat im persönlichen Gericht unmittelbar nach dem Tod beisteht 73 . Die Grundbewegung in dieser Barmherzigkeitswende des Mittelalters ist die condescensio, das Sich-Herablassen des barmherzigen Erlösers in die größte Niedrigkeit und Armseligkeit der Kreatur. Er kommt herab und hinein in meine Not, um mir schützend nahe zu sein. In die Nahpräsenz des Schmerzensmanns wird die hilfreiche Nähe der mitleidenden Maria und der ebenfalls passionsförmigen Heiligen einbezogen. Die Passion wird insofern zum zentralen, omnipräsenten und unendlich variationsreichen Herzstück aller Gnadennähe im Mittelalter 74 . Sie steht im Mittelpunkt einer neuen Kultur der 140 Berndt Hamm <?page no="141"?> 75 Cur miracula de sanguine Christi magis inveniantur multiplicata quam alia miracula. P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-405, 6 f. 76 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 21), S. 405, 10‒407, 3. Ein großer Teil dieses Textes stammt vermutlich aus einem verschollenen Traktat des Johannes von Dorsten über das Blut Christi; vgl. ebd., S.-405, Anm.-14. 77 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-407, 4-20. 78 P A L T Z , Supplementum Coelifodinae (wie Anm.-21), S.-406, 1-6: […] Sed esset miraculosus, de novo a deo creatus vel factus, quia ex nihilo potest facere aliquid, ubi vult et quando vult. emotionalen Nähe, einer neuen Gefühlskultur der Liebe, der erlösenden Liebe Gottes und antwortenden Liebe des Menschen, der Christus- und Menschenliebe Marias, der Heiligen und Engel. Die Passion Christi bildet so auch den gemeinsamen Mittelpunkt der dyna‐ misierten nahen Gnade im Wallfahrts- und Ablasswesen zwischen 1350 und 1520. Unter den Wundern, die neue Wallfahrtsstätten begründen, rückt das wundersame Hostienblut an die erste Stelle der Häufigkeit. Paltz stellt daher im Wallfahrtskapitel seines ‚Supplementum Coelifodinae‘ von 1504 die Frage, weshalb Wunder des Blutes Christi in größerer Zahl vorkommen als andere Wunder 75 . Unter den Gründen nennt er die Absicht Gottes, den Glauben an die Realpräsenz des Leibes Christi in der Hostie zu stärken und dem Unglauben der Juden zu begegnen, die Häresie der Waldenser in der Mark Brandenburg und Mecklenburg abzuwehren und den Irrtum der hussitischen Utraquisten in Böhmen zu widerlegen 76 . Vor allem aber, betont Paltz, geschähen die zahlreichen Hostienblut-Wunder, um zur häufigen Erinnerung an die Passion Jesu Christi und die durch sie geschehene Erlösung anzuspornen; denn durch das Blut werde Christi Passion besonders klar vergegenwärtigt 77 . Theologisch stellt Paltz mit Berufung auf Dorsten klar: Wenn die konsekrierte Hostie von Juden mit Nadeln durchbohrt wird und Blut austritt, dann stammt dieses Blut nicht vom Körper Christi, der in der Hostie enthalten ist. Denn dieser Leib Christi ist nicht berührbar und verletzbar, und man kann ihm keine Leiden zufügen. „Vielmehr ist [dieses Blut] auf wunderhafte Weise aufs Neue von Gott geschaffen und gemacht worden; denn Gott kann etwas aus dem Nichts schaffen, wo und wann er will“ 78 . In hohem Maße passionsbezogen war auch das Ablasswesen. Besagte doch die Ablasstheorie seit dem 13. Jahrhundert, dass der - durch das Sühneleiden Christi und die über das erforderliche Maß geleisteten guten Werke Marias und der Heiligen gebildete - Schatz der Kirche die Ablasspraxis der Päpste und Bischöfe ermögliche. Sie können aus diesem unermesslichen theasaurus ecclesiae schöpfen, um den bußfertigen Gläubigen die Ablassgnade zu gewähren. Charakteristisch für die Ablassdynamik des 14. und 15. Jahrhunderts war nicht nur, dass die Ablässe immer häufiger und großzügiger bewilligt wurden und räumlich immer näher an die Gläubigen heranrückten, sondern auch, dass die Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 141 <?page no="142"?> 79 Vgl. H A M M , Ablass (wie Anm.-69), S.-184‒197. 80 Vgl. Folker R E I C H E R T , Reisen am Limit. Der Blick über die Grenzen der Erfahrung hinaus, in: Reichweiten. Dynamiken und Grenzen kultureller Transferprozesse in Europa, 1400-1520, Bd. 2: Grenzüberschreitung und Partikularisierung, hg. von Berndt H A M M / Frank R E X R O T H / Christine W U L F (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse NF 49/ 2), Göttingen 2021, S.-235‒254. Ablassverkündigung in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation zu einer Monozentrierung auf den Opfertod Jesu Christi und eine theologia crucis hin tendierte 79 . Die nahe Gnade war also beim Ablass wie bei der Pilgermobilität grundlegend passionsbezogen, zumal auch die spätmittelalterliche Verehrung der Marienbilder und der Heiligenreliquien im Gravitationsfeld der Passion, von compassio und imitatio passionis Christi, stand. Zugleich spiegelt aber die Multiplikationsdynamik der Pilger- und Ablassfrömmigkeit zusammen mit der Vervielfältigung und Differenzierung der Hei‐ ligenverehrung das bereits erwähnte Anwachsen gravierender Diesseits- und Jenseitsängste im Zeitalter nach der Großen Pest. So gesehen ist das Verlangen nach der nahen Gnade die Antwort auf die Erfahrung „naher Ungnade“ - was theologisch heißt: Die gesteigerte Erleichterungsbotschaft der Theologen von der mühelos abrufbaren Gnade bildet die Rückseite ihrer eigenen mahnenden Deutung von Seuchen, plötzlichem und unvorbereitetem Sterben, Erntekatastrophen, Kriegen und Teuerung als Diesseitsstrafen („Pfeile“) Gottes für sün‐ diges Verhalten und ihres eigenen Drohens mit dem furchtbaren Jenseitsgericht und den schrecklichen Strafen des Fegefeuers und der Hölle. So schaukeln sich Ängste, Panik, Schmerzen, Sorge, Verunsicherung und Gewissensqualen einerseits und Sehnsucht nach schneller Heilung, tragfähiger Jenseitsvorsorge, Ars moriendi („Kunst des heilsamen Sterbens“), Trost, Beruhigung, Sicherheit und Gewissheit andererseits wechselseitig hoch; und dieses Miteinander von bedrängend naher Ungnade und Aussicht auf nahe Gnade treibt die Menschen in Scharen zu Gnadenorten, zum nahen Wunderblut Christi, zur nahen Maria oder zu den nahen Heiligen und zu leicht erreichbaren Ablassgnaden. 5. Ausblick: Die Minimierung frommer Mobilität bis zur Stabilität der Gnadenpräsenz Bekanntlich war das ausgehende Mittelalter eine Ära der Intensivierung des säkularen Reisens und seiner entdeckenden Ausweitung in neue Erfahrungs‐ räume hinein. Der Radius der Reiserouten weitete sich aus 80 . Zugleich ging der spätmittelalterliche Trend im Pilgerwesen, wie die Pilgerforschung, gerade auch der letzten zwanzig Jahre, vielfältig belegt, in Richtung einer Verkürzung der 142 Berndt Hamm <?page no="143"?> 81 Zum Schürstab-Epitaph vgl. H A M M , Ablass (wie Anm.-69), S.-123‒127 (mit Abbildung). Wallfahrtsdauer, von der fernen zur nahen Gnade. Pilgerwege, die etwa eine Woche oder noch mehr Zeit beanspruchten, verloren an Attraktivität gegenüber der großen Anzahl neu entstehender Gnadenorte, die nur einen Fußweg von ein bis zwei Tagen verlangten. Das entsprach genau dem Trend des Ablasswesens, insbesondere der spektakulären Innovation der sogenannten Ad-instar-Ablässe. Wörtlich übersetzt heißt Ad-instar-Ablass: „Ablass nach Art von“, „Ablass von gleicher Gültigkeit wie“. So übertrugen Päpste und Bischöfe beispielsweise einen sehr hohen Ablass, den man durch den Besuch einer bestimmten römischen Kirche vor ihrem Gnadenbild erwerben konnte, auf irgendeine andere Kirche Europas. Dort konnten die Gläubigen nun binnen kürzester Zeit denselben Ablass wie in Rom gewinnen. Seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts öffneten die Päpste die Schleusen dafür, dass die Ablassgnade potenziell von jedem Ort an jeden anderen Ort transferiert werden konnte und für möglichst alle Gläubigen möglichst immer erreichbar war. Es kündigte sich, wie die Zukunft zeigte, die totale räumliche und zeitliche Entgrenzung des päpstlichen Strafnachlasses, insbesondere der Plenar- und Jubiläumsablässe, an. Ein typisches Beispiel für einen solchen Ablasstransfer aus der Ferne in die Nähe war das um 1475 entstandene Bildepitaph der Dominikanerin Dorothea Schürstab, das an einer Säule der Kirche ihres Nürnberger Konvents St. Katha‐ rina hing und eine sogenannte „Gregorsmesse“ zeigt 81 . Die Ablassinschrift des Epitaphs spricht jeder Person, die vor dem Epitaph die auf dem Bild dargestellte Schmerzensmann-Gestalt kniend mit einem Pater noster und Ave Maria ehrt, denselben Ablass von 30.000 Jahren zu, der in der römischen Kirche Santa Croce in Gerusalemme vor der Original-Ikone dieser Schmerzensmann-Darstellung, der Imago pietatis, zu erlangen war, sowie weitere Ablassbewilligungen von 32 Päpsten und 43 Bischöfen. Insgesamt konnte man vor dem Schürstab-Epitaph 30.061 Jahre und 57 Tage Nachlass der im Fegefeuer abzubüßenden Strafzeit gewinnen. Dem oben erwähnten mittelalterlichen Zweiseitigkeitsprinzip ent‐ sprach es, dass es keinen Ablass völlig umsonst gab. Doch war die hier zu erbringende Leistung minimal und nicht mit einer Geldzahlung verbunden. Man musste nur in die Klosterkirche gehen und dort andächtig vor dem Gnadenbild die zwei kurzen Gebete sprechen; und dies konnte man beliebig oft wiederholen und jedes Mal das volle Ablassquantum empfangen. So veranschaulicht das Schürstab-Epitaph mit seiner Kombination von Bild und Inschrift exemplarisch, wie die Dynamisierung der nahen Gnade im 15. Jahrhundert zu einer Minimierung der frommen Mobilität oder, allgemeiner formuliert, der für den Empfang der Gnade erforderlichen Frömmigkeitsakti‐ Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 143 <?page no="144"?> 82 Zur Innovation der Einblattdrucke, insbesondere religiöser Drucke mit der Kombina‐ tion von Bild, Text und Ablasszusage, darunter zahlreiche Gregorsmessen-Drucke, vgl. Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fall‐ studien, hg. von Volker H O N E M A N N / Sabine G R I E S E / Falk E I S E R M A N N / Marcus O S T E R M A N N , Tübingen 2000; Falk E I S E R M A N N , Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation: VE 15, 3 Bde., Wies‐ baden 2004; Sabine G R I E S E , Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von Einblatt-Holz- und -Metallschnitten des 15. Jahrhunderts (Medienwandel - Medi‐ enwechsel - Medienwissen 7), Zürich 2011; Ausstellungskatalog: Einblattholzschnitte des 15. Jahrhunderts. Bestand der Staatlichen Graphischen Sammlung München, hg. von Achim R I E T H E R , München 2019; vgl. auch P A R S H A L L / S C H O C H , Ausstellungkatalog: Die Anfänge (wie Abb.-2). 83 Vgl. Häuslich - Persönlich - Innerlich. Bild und Frömmigkeitspraxis im Umfeld der Reformation, hg. von Maria D E I T E R S / Ruth S L E N C Z K A , Berlin/ Boston 2020. 84 Zum hier verwendeten Transformationsbegriff (historische Veränderung in einem Kontinuitätszusammenhang) vgl. Reformation als Transformation, hg. von Volker L E P P I N / Stefan M I C H E L S (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 126), Tübingen 2022; Transformation, so verstanden, schließt - wie im Fall der Reformationsbewe‐ gungen des 16. Jahrhunderts - Umbrüche und starke Zäsuren nicht aus, behält aber immer den Aspekt der Kontinuität zu Vorausgehendem im Blick. 85 Vgl. Enno B Ü N Z , Pfarreien - Vikarien - Prädikaturen. Zur Entwicklung der Seelsor‐ gestrukturen im Spätmittelalter, in: D E R S ., Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.-16. Jahrhundert (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 96), Tübingen 2017, S. 77‒118. Zur volkssprachigen Predigttätigkeit spätmittelalterlicher Pfarrer, besonders nach der Mitte des 15.-Jahrhunderts, vgl. auch ebd., S.-324‒327. vität führte. Diese Minimierung des frommen Gehens und Tuns konnte noch fortgesetzt werden. Bei Ablassbildern in Kirchenräumen war immerhin noch der Gang zur Kirche notwendig. Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts konnte man aber in zunehmendem Maße auch in den Besitz eines Einblattdrucks kommen, der ein Frömmigkeitsbild mit einem Mustergebet und einer Abblasszusage kombinierte 82 . Wer das Blatt zuhause aufhing und vor ihm andächtig das Gebet sprach, empfing, sooft er das tat, das versprochene, oft immens große Ablassquantum. So fiel der räumliche Weg vollends weg, und die nahe Gnade wurde verhäuslicht 83 . Diese religiöse Transformation des ausgehenden Mittelalters 84 - aus der Ferne in die Nähe - war eingebettet in eine bemerkenswerte Intensivierung und Expansion der Seelsorge, wie sie vor allem von den Bettelorden ins 15. Jahrhun‐ dert hineingetragen wurde, aber zunehmend auch in der Pfarrseelsorge und ihrer gesteigerten Predigttätigkeit zu beobachten ist 85 . Der Augustinereremit Johannes von Paltz war ein typischer Vertreter dieses verstärkten Seelsorge‐ bemühens, das im frühen 15. Jahrhundert vor allem Johannes Gerson als zentrale Aufgabe der Theologe proklamiert hatte. Paltz kommentierte, wie wir sahen, mit seiner seelsorgerlichen Frömmigkeitstheologie das aktuelle 144 Berndt Hamm <?page no="145"?> 86 P A L T Z , Die himmlische Fundgrube (wie Anm.-19), S.-204, 12‒206, 3. 87 Zu diesen Auflagen von 1490 bis 1521 vgl. oben Anm.-19. 88 Vgl. Thomas K A U F M A N N , Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Me‐ dienrevolution entfesselte, München 2022; Zum Massenphänomen der Ablass-Druck‐ produktionen vgl. Falk E I S E R M A N N , The Indulgence as a Media Event: Developments in Communication through Broadsides in the Fifteenth Century, in: Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe, hg. von Robert N. S W A N S O N Drängen nach der nahen Gnade, sowohl die hektische Wallfahrtsmobilität als auch die Anziehungskraft der von Raimund Peraudi europaweit organisierten Jubiläumsablässe um 1500. In beiden Fällen plädierte der Erfurter Professor für eine Intensivierung der zuhause geübten Frömmigkeit. Er warnte vor den Gefahren des Pilgerns und vor den Versuchungen Satans, der einen von den heimischen Aufgaben weglockt und die kirchlichen Gnaden‐ angebote vor der eigenen Haustüre, in den eigenen Kirchen und Klöstern, verächtlich macht. Zu diesen Angeboten großer Gnaden in allernächster Reich‐ weite, die er den Gläubigen wärmstens empfiehlt, gehört auch das Jubiläum mit seiner Kombination von Bußsakrament, Plenarablass für Lebende wie für Verstorbene und Ablassvorsorge für die Sterbestunde. Generell gilt für Paltz die Devise: Warum von zuhause weglaufen, wenn du den leichtesten und sichersten Weg zu Gnade und Heil in unmittelbarer Nähe hast? Als besonders wertvollen Zugang zu Gnade und Heil, der nicht einmal das Verlassen der eigenen Wohnung notwendig macht, empfiehlt er in seiner deutschsprachigen ‚Himmlischen Fundgrube‘ die tägliche Passionsmeditation. Es genüge, dass der Mensch, der Gottes Hilfe begehrt, oft ein gut gemachtes Kruzifix ansieht und lernt, es sich in sein Herz einzuprägen und mit seinen Gedanken in die heiligen fünf Wunden des Gekreuzigten, besonders in seine Seitenwunde, zu fliehen und sich so die große Liebe des Erlösers, mit der er am Kreuz sein Herz durchbohren (aufbrechen) ließ, zu vergegenwärtigen. So werde auch sein eigenes Herz von der Liebe zu Christus aufgebrochen und entzündet  86 . Paltz dürfte mit seiner Begeisterung für die Jubiläumsablässe Peraudis und seiner Kommissare auf den Widerspruch vieler zeitgenössischer Seelsorger gestoßen sein, nicht aber mit seiner Warnung vor dem „Wallfahrtsfieber“ und seiner Mahnung zu einem vertieften kirchlichen und häuslichen Andachtsleben am eigenen Ort, d.-h. zur Pflege sakramentaler Frömmigkeit und einer persön‐ lichen Passionsmeditation, die sich täglich in die Heilskraft der Wunden Christi versenkt. Seine ‚Himmlische Fundgrube‘, die dazu anleitete, wurde, wie gesagt, ein Seelsorge-Bestseller mit 21 Auflagen 87 - eines der vielen Beispiele dafür, dass die „Medienrevolution“ des ins Massenhafte anwachsenden Buchdrucks schon in den achtziger Jahren des 15.-Jahrhunderts begann 88 . Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 145 <?page no="146"?> (Brill’s Companions to the Christian Tradition 5), Leiden/ Boston 2006, S.-309‒330; vgl. auch E I S E R M A N N , Verzeichnis (wie Anm.-82). 89 Zu Ulrich Krafft († 1516) und seinen Predigtzyklen über den ‚Geistlichen Streit‘ von 1503 und die ‚Arche Noe‘ von 1514 vgl. H A M M , Spielräume (wie Anm.-11). 90 Vgl. H A M M , Spielräume (wie Anm.-11), S.-224 91 Vgl. H A M M , Spielräume (wie Anm.-11), S.-299. 92 Felix F A B R I , Die Sionpilger, hg. von Wieland C A R L S (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 39), Berlin 1999. Der Text der Handschrift, den Carls ediert, bietet nicht den oft genannten Buchtitel ‚Sionpilgrin [= Sionpilger]‘, sondern folgende Formulierung (S. 86,1): „Hie hebt sich an die gaistlich bilgerfart gen Iherusalem […]“. Die Handschrift hat das Incipit (S. 77,5-8): „Wie ain gaistlich Junckfrow Oder ain anderi Dass Paltz mit seiner Vorliebe für eine nahe Gnade, die nirgendwo besser als zuhause, am eigenen Ort und in dessen nächster Umgebung zu finden ist, den Nerv vieler Seelsorger seiner Zeit traf, zeigen beispielsweise auch die Predigten des schon erwähnten Ulmer Pfarrers Ulrich Krafft von 1503 und 1514 89 . Sehr wahrscheinlich waren sie die ersten gedruckten Predigten eines Pfarrers überhaupt. Sie wollen zu einer Frömmigkeitspraxis anleiten, deren räumlicher Radius nicht über den eigenen Wohnraum, die Arbeitsstätte und die nächstgelegene Kirche hinausgeht, wo man fleißig die Gottesdienste besuchen und vor allem aufmerksam den Predigten lauschen soll. Alle unnötigen Wege, auch Besuche in anderen Häusern, vor allem aber Spaziergänge seien zu meiden. Auf Wallfahrten kommt Krafft nicht zu sprechen. Dagegen setzte er sich offensichtlich für Schutz und Pflege städtischer Prozessionen („Kreuzgänge“) ein 90 und erlebte die große Osterprozession ins Ulmer Münster als liturgischen Höhepunkt des Jahres 91 . Für das ausgehende Mittelalter war offensichtlich eine dominierende Ten‐ denz der Seelsorge charakteristisch, die jede Art von räumlicher religiöser Mobilität zu minimieren versuchte und eine vielfältige lokale Stabilität der Frömmigkeit bevorzugte. Zugespitzt kann man sagen: Diese Seelsorge erstrebte die Ausweitung der monastischen stabilitas loci auf die Laienwelt, und zugleich schärfte sie im Zuge des Reformideals klösterlicher Observanz den Ordensleuten ihre Verpflichtung auf das klausurierte Leben und auf möglichst seltenes Verlassen des Klosters ein. Verbunden war mit dieser Bevorzugung religiöser Ortsbezogenheit die Erwartung, dass mit dem Verzicht auf räumlich-leibliches Pilgern und der Ortsstabilität der Frömmigkeit eine Steigerung der seelischen Mobilität, einer Pilgerschaft im Geiste, verbunden ist, der mehr Gnade zuteil wird, als sie je durch äußere Mobilität erreicht werden kann. Diesem geistlichen Ideal gab 1492 ein anderer Ulmer Ausdruck: der aus Zürich stammende Dominikaner Felix Fabri (1438-1502, seit 1468 in Ulm) in seinem Buch ‚Die gaistlich bilgerfart gen Iherusalem‘ 92 . Er bietet darin für geistliche 146 Berndt Hamm <?page no="147"?> gaistliche person soͤll vß irem closter Oder vß ir sammlung [= Konvent], cluß [= Klause] oder huß In bilgers wiß gan gen Iherusalem zů den hailigen stetten aun uß schwaifung durch die welt [gemeint: ohne ihren Ort zu verlassen] mit gaistlicher tugetsamer stiller yebung“. Dazu auch der Beitrag von Julia B U R K H A R D T in diesem Band. 93 F A B R I , Sionpilger (wie Anm.-92), S.-77, 13 f. 94 Vgl. Folker R E I C H E R T , Mit Felix Fabri im Heiligen Land und auf dem Sinai: Maximin von Rappoltstein, in: Die Welt des Frater Felix Fabri, hg. von D E M S ./ Alexander R O S E N S T O C K (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Ulm 25), Weißenhorn 2018, S.-201‒217. 95 Vgl. Jacob K L I N G N E R , Felix Fabri und Heinrich Seuse, in: R E I C H E R T / R O S E N S T O C K , Die Welt (wie Anm.-94), S.-113‒147. 96 Ulrich K R A F F T , Arche Noe, S.-10; zitiert bei H A M M , Spielräume (wie Anm.-11). Personen, insbesondere für in Klausur lebende Nonnen, die von gantzem hertzen das hailig land ze sehen begehren 93 , eine Anleitung, wie sie kraft geistiger Imagination zu den heiligen Stätten wallfahren können und dort durch intensive Andacht sogar mehr Ablassgnade empfangen als die Pilger, die leiblich nach Jerusalem reisen. Fabri selbst pilgerte zwar zweimal ins Heilige Land, getrieben vom geistlichen Verlangen und zugleich von weltlicher Neugier, die heiligen Stätten zu sehen 94 ; er war sich aber als observanter Dominikaner und Verehrer des Mystikers Heinrich Seuse, der seine letzten Lebensjahre im Ulmer Konvent verbracht hatte 95 , dessen bewusst, dass der Verzicht auf leibliches Reisen und eine rein seelische Pilgerschaft der Seele weit mehr dem Streben nach geistlicher Vollkommenheit gedient hätte. Diese Art des verinnerlichten Pilgerns, wie sie auch von anderen spätmittelalterlichen Autoren propagiert wurde, bildete eine Variante des allgemeineren Trends zu einer räumlich entmobilisierten Religiosität. Die Fernwallfahrten - nach Jerusalem, Rom, Santiago, Einsiedeln oder Loreto - lebten weiter; was die Frommen am Ende des Mittelalters aber vor allem fas‐ zinierte, war die mühelos zu erreichende nahe Gnade, der leichte und schnelle, aber gleichwohl andachtsvolle Weg zu Gnade und Heil. Die Dynamisierung der nahen Gnade führte zu einer Minimierung der Wege bei größtmöglicher Aussicht auf Heilung und Heilssicherheit. Die Botschaft vieler Seelsorger - wie Johannes von Paltz oder Ulrich Krafft - lautete: Die Gnade Gottes liegt in unmittelbarer Reichweite vor deiner Haustüre und in deinen eigenen vier Wänden. Sie kommt auf dich zu. Du musst nur dein Herz für sie öffnen und diesen minimalen Schritt der eigenen Willensbewegung zu Gott hin tun, dann fallen ihre Strahlen in dein Inneres. Ulrich Krafft verwendet dafür das Bild des Fensterladens: Die genad gottes stat vor der thür. Wann du den laden vffhůst in deiner seel, so scheint die gnad gotes darein  96 . Mit Luther und der Reformation kam dann der Quantensprung vom Mi‐ nimum zum Nichts: Nicht einmal ein Minimum des eigenen Gehens auf Gott Das spätmittelalterliche Pilgern im Kraftfeld von Mobilität und „naher Gnade“ 147 <?page no="148"?> 97 Zum Kollaps des Ablasswesens vgl. jetzt die beiden Bücher von Georg H A B E N I C H T , Ablass - Wertpapier der Gnade. Wie es zur Reformation kommen musste, Petersberg 2020; D E R S ., 1521: Europas erster Wertpapierkollaps, Petersberg 2022. Zum Ende des Wallfahrtswesens im Einflussbereich der Reformation vgl. Hartmut K Ü H N E , Zwischen Bankrott und Zerstörung - vom Ende der Wallfahrten in protestantischen Territorien, in: Wallfahrt und Reformation - Pout’ a reformace. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit, hg. von Jan H R D I N A / Hartmut K Ü H N E / Thomas T. M Ü L L E R (Europäische Wallfahrtsstudien 3), Frankfurt a. M. u.-a. 2007, S.-201‒220. zu ist notwendig. Es gibt keine heilsnotwendige Eigenbewegung des Menschen, kein Minimum an erforderlicher Eigenleistung, und sei es auch nur ein Vater unser oder Ave Maria. Damit fällt die Zweiseitigkeitsstruktur des „gut katholi‐ schen“ Kooperationsmodells weg, und damit kommt auf protestantischer Seite sowohl das Ablasswesen als auch das Wallfahrtswesen zu einem plötzlichen Ende 97 . Dies war, rückblickend betrachtet, eine - nicht notwendige, aber fakti‐ sche - letzte, radikale Konsequenz der spätmittelalterlichen Dynamisierung der nahen Gnade und der entsprechenden Verkürzung der Pilgerwege. 148 Berndt Hamm <?page no="149"?> * Mein herzlicher Dank gilt Sandra Schieweck-Heringer (München), die in zahlreichen gemeinsamen Diskussionen dieses Thema kritisch beleuchtet und in einem gemeinsamen Vortrag an der LMU München zum Thema „Heilung und Genesung auf Pilgerfahrten im Spätmittelalter“ (03.02.2022) vertieft hat. Heilung und Genesung Dimensionen und Wirksamkeit geistigen Pilgerns im Mittelalter * Julia Burkhardt In seinem 2022 erschienenen Roman „Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“ erzählt Jakob Hein die Geschichte des Studenten Micha, der in den letzten Jahren der DDR mittels Hypnose junge Leute auf imaginäre Reisen schickt. Zu ihnen gehört auch die Krankenschwester Peggy, die mit ihrem Leben im Berlin des Jahres 1989 hadert. Die Hypnose‐ sitzungen ermöglichen es Peggy, die politisch gesetzten Mobilitätsbeschrän‐ kungen zu überwinden: „Ich konnte mich zwar nicht nach außen befreien, aber der Weg nach innen stand mir offen.“ Ähnlich geht es Anika, die schon lange von Paris und Alain Delon träumt und mit Michas Hilfe endlich die ersehnte Reise antritt. Allerdings verläuft diese nicht so, wie Anika es sich vorstellt: in der ersten Hypnosesitzung kommt sie nur bis ins Flugzeug in Berlin-Schönefeld. „Warum bin ich nur bis ins Flugzeug gekommen? “, fragt Anika Micha im Anschluss enttäuscht - immerhin habe sie doch die Champs-Élysées entlangspazieren wollen. Micha erteilt diesem Anspruch mit einer einfachen Begründung eine Absage: Man kann das alles nicht auf einmal schaffen. Schau mal, eine Reise verläuft nun mal über einige Tage, manchmal Wochen. Es ist völlig falsch, die ganzen Erlebnisse einer <?page no="150"?> 1 Jakob H E I N , Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken, Köln 2022, Zitate S. 137 (Peggy) und 56-57 (Anika). Von dieser literarischen Lesart unter‐ scheiden sich freilich aktuelle Diskussionen um sogenannte „Mikropilgerfahrten“, die in Zeiten pandemiebedingter Restriktionen entwickelt wurden und den Teilnehmenden Pilgerfahrten innerhalb kürzester Zeit ermöglichen sollten. S. dazu Anne E. B A I L E Y , Micro Pilgrimages: A New Post-Secular Trend? , in: Religions 13 (2022), S. 665, https: / / doi.org/ 10.3390/ rel13070665 (30.-August 2022). 2 Dass Hein mit dieser Lesart gerade in der von Covid-19 und entsprechenden Restriktionen geprägten Gegenwart einen Nerv der Zeit traf, betonen wenig überraschend gleich mehrere Besprechungen des Buches: Etwa Andrea G E R K , Besprechung für WDR Online, https: / / www1.wdr.de/ kultur/ buecher/ hein-der-hypnotiseur-100.html oder Irene B I N A L für den Deutschlandfunk, https: / / www.deutschlandfunk.de/ hypnosereisen-in-den-we sten-100.html (beide 27.-August 2022). 3 Claude Debussy an André Messager (Brief aus Bichain vom 02.09.1903): Quand on n’a pas le moyen de se payer des voyages, il faut y suppléer par l’imagination. Claude D E B U S S Y , L’enfance de Pelléas. Lettres de Claude Debussy à André Messager, recueillies et annot. par Jean A N D R É -M E S S A G E R , Paris 1938, S.-69-71, Zitat 70. Reise in eine Sitzung stopfen zu wollen. [….] Du hast dann nicht das Empfinden und die Erinnerungen an eine Reise […]: Wunderschön, aber nicht wirklich 1 . Reisen im Geiste, wie Jakob Hein sie hier beschreibt, sind zwar aus Beschrän‐ kungszwängen geboren, entwickeln aber zugleich neue Spielräume 2 : Unab‐ hängig von finanziellen, politischen oder räumlichen Bedingungen führen sie in eine Welt, die jeweils individuell imaginiert und gestaltet werden kann. Die Faszination dieser Art des Reisens wusste - begründet in wunderbarem Pragmatismus - schon der französische Komponist Claude Debussy (1862-1918) zu würdigen. Aufbauend auf seinen Besuchen der Pariser Weltausstellungen vollendete er 1903 seine „Estampes“, eine dreiteilige Klavierkomposition, die fernöstliche, andalusische und französische Musikstile miteinander verbindet. Die so entstandene Weltreise erklärte der finanziell knapp gestellte Musiker gegenüber seinem Kollegen André Messager (1853-1929) folgendermaßen: „Wenn man nicht das Geld hat, sich Reisen leisten zu können, muss man sie im Geist [eig.: der Imagination] machen“ 3 . Debussys musikalische Reise nach Asien, Spanien und Frankreich erscheint also als adäquate Ersatzhandlung für eine physische Reise: Die Musik erlaubt es den Klavierspielern oder Zuhörern, auf performativem Wege zum ersehnten Reiseziel zu gelangen - beispielsweise, wenn die dafür notwendigen Ressourcen (Geld oder auch Zeit) nicht zur Verfügung stehen. In Jakob Heins Roman dagegen sind die Bedingungen der geistigen Reise nicht musikalisch, sondern meditativ abgesteckt: Grundvoraussetzung ist zunächst die Kontemplationsfähigkeit des bzw. der Einzelnen; das Wesens‐ merkmal einer erfolgreichen geistigen Reise ist sodann ihre (annähernd) reale 150 Julia Burkhardt <?page no="151"?> 4 Zur Einführung in die Thematik s. Kathryn M. R U D Y , Virtual pilgrimages in the convent: imagining Jerusalem in the late Middle Ages (Disciplina monastica 8), Turnhout 2011; Nine Robijntje M I E D E M A , Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit: Die „Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae“ (deutsch/ niederländisch). Edition und Kommentar (Frühe Neuzeit 72), Tübingen 2003, besonders Kapitel 6, S. 398-462; Francis R A P P , Neue Formen der Spiritualität im Spätmittelalter, in: Spiritualität des Pilgerns. Kontinuität und Wandel, hg. von Klaus H E R B E R S / Robert P L Ö T Z ( Jakobus-Studien, Bd. 5), Tübingen 1993, S.-39-58. 5 Gesine M I E R K E , Die Stadt im Kopf. Rom als Erinnerungsort in Ablassverzeichnissen und Pilgerfahrten im Geiste, in: Stadtgeschichte(n). Erinnerungskulturen der vormo‐ dernen Stadt, hg. von Jörg O B E R S T E / Sabine R E I C H E R T (Forum Mittelalter-Studien 14), Regensburg 2017, S. 137‒157. S. zudem Susanna E. F I S C H E R , Erzählte Bewegung. Narrationsstrategien und Funktionsweisen lateinischer Pilgertexte (4.-15. Jahrhundert) zeitliche Dimension und das damit verbundene emotionale Empfinden der Reise - auf diese Weise entwickelt sich die Imagination der Reise für die Beteiligten zur Realität. Limitierend können indes externe Faktoren sein: Kritik an der Praxis des geistigen Reisens, die sich aus der Furcht vor der Kraft der Imagination oder der Angst um Konformität mit gesellschaftlichen Begebenheiten speist. Auch im Mittelalter gab es Debatten über sowie Handlungsanleitungen für geistige Reisen - insbesondere dann, wenn diese Reisen spiritualiter (und nicht corporaliter) zu großen Pilgerstätten wie Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela führten. Je nach Person und Kontext konnte es sich bei einer geistigen Pilgerfahrt um eine Imagination von Reisen zu Wallfahrtsorten han‐ deln, um allegorische Ausdeutungen des menschlichen Lebens als beständige Pilgerschaft oder um eine Meditationsübung mit spezifischen performativen Akten. Vielfach differenziert lässt sich diese Frömmigkeitspraxis besonders seit dem 13. Jahrhundert nachweisen. Sie gründete auf der Verinnerlichung des Glaubens und diente der Transzendierung der eigenen Gegenwart, in letzter Instanz schließlich einer Teilhabe am göttlichen Heil 4 . Allerdings ergaben sich daraus verschiedene Fragen. Zunächst waren or‐ ganisatorische Aspekte zu bedenken: Wie, wo, von wem und mit welchen Mitteln waren „Pilgerfahrten im Geiste“ zu realisieren und in welchem Zeitraum hatten sie zu erfolgen? Dass es auf diese Fragen zahlreiche und inhaltlich ganz vielfältige Antworten gab, belegen etliche textliche, bildliche oder auch archi‐ tektonische Quellen, die sich seit einigen Jahren in der stärker kulturwissen‐ schaftlich ausgerichteten Geschichtsforschung sowie Germanistik wachsender Aufmerksamkeit erfreuen. Gesine Mierke hat jüngst auf die unterschiedliche Ausrichtung dieser Zeugnisse hingewiesen: So finden sich Beschreibungen der Bedingungen, unter denen geistige Pilgerfahrten stattfinden konnten, ebenso wie konkrete Anleitungen zur Reise oder aber Beschreibungen der Orte, an die die geistige Reise führen sollte. 5 In engem Zusammenhang damit stehen ar‐ Heilung und Genesung 151 <?page no="152"?> (Mittellateinische Studien und Texte 52), Leiden/ Boston 2019, besonders S. 66-85; Su‐ sanne L E H M A N N -B R A U N S , Jerusalem sehen. Reiseberichte des 12. bis 15. Jahrhunderts als empirische Anleitung zur geistigen Pilgerfahrt, Freiburg/ Berlin/ Wien 2010; sowie den jüngsten Überblick über Pilgerberichte von: Arnold E S C H , Von Venedig ins Heilige Land und nach Ägypten. Pilgerberichte als historische Quelle, in: Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 114 (2019), S.-56-79. 6 S. aus der Fülle der Literatur einführend Kathryn Blair M O O R E , The Architecture of the Christian Holy Land. Reception from Late Antiquity through the Renaissance, Cambridge 2017, S. 186-187, sowie die Beiträge in: Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt, hg. von Bruno R E U D E N B A C H (Vestigia bibliae 28), Bern u. a. 2008 und in: Jerusalem as narrative space - Erzählraum Jerusalem, hg. von Annette H O F F M A N N (Visualising the Middle Ages 6), Leiden 2012. 7 Erste Überlegungen dazu bereits in Julia B U R K H A R D T , Die Wallfahrt im Kopf ? Imagi‐ nierte Pilgerreisen im Spätmittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 103,1 (2021), S.-37-63. chitektonische Nachbildungen berühmter Heiltümer, die als Stellvertreter-Wall‐ fahrtsorte fungieren sollten 6 . Neben derartigen praktischen Faktoren waren jedoch auch theologische Fragen zur Gleichwertigkeit geistiger und „realer“ Wallfahrten zu erörtern 7 : Konnte die Wirkmacht des realen Reiseziels auf einen Stellvertreterort übertragen werden? Konnten Gebete und Segenssprüche ersatzweise an anderen Orten vorgenommen werden? Ließ sich die Grundidee einer Pilgerfahrt, die mit Buße und Reue, aber eben auch mit einer bestimmten Erwartung an Heil und Genesung verbunden war, translozieren? Kurz gesagt: Konnte auch geistiges Pilgern zu spirituellem Heil oder seelisch-körperlicher Genesung beitragen? Mit dieser übergeordneten Fragestellung sind verschiedene Themenkom‐ plexe verbunden. Zunächst ist (und das ist nur scheinbar banal) zu erläutern, was man im Mittelalter unter geistigem (Pilger-)Reisen verstand und wie diese funktionieren konnten. Die nächste Frage ist noch komplexer und steht deshalb zu Recht im Mittelpunkt dieses Bandes: Worin bestand das aus einer (physischen oder geistigen) Pilgerreise erwachsene Heil bzw. die Heilung oder Genesung? Führt man diese Aspekte zusammen, kommt man zur Kernfrage dieses Beitrags, den Dimensionen und der Wirksamkeit geistigen Pilgerns. Der vorliegende Beitrag tastet sich also gleichsam exegetisch an das Thema heran und sieht sich dabei vor allem Beispielen aus der Zeit zwischen ca. 1300 und 1500 verpflichtet. 1. Zwischen Imagination und Wirklichkeit: Geistige (Pilger-)Reisen im Mittelalter Blicken wir zur Einführung auf ein Beispiel, das in der einschlägigen Forschung zu Pilgerfahrten bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: 152 Julia Burkhardt <?page no="153"?> 8 S. etwa die programmatische Titel-Formulierung bei Maria Elisabeth D O R N I N G E R , Francesco Petrarca's Itinerarium ad sepulcrum Domini nostri Iesu Christi. A Medieval Bestseller without Modern Reception, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Ge‐ sellschaft 16 (2006/ 2007), S.-377-393. 9 Zur Beziehung von Petrarca und Mandelli s. Paolo R I G O , I motivi dell’Itinerarium di Francesco Petraca e il destinatario della fam. XXIII 11, in: Le Tre Corone 3 (2016), S. 75-92 sowie die umfassende Darlegung in Petrarch’s guide to the Holy Land: itinerary to the Sepulcher of Our Lord Jesus Christ. Facsimile edition of Cremona, Biblioteca Statale, Deposito Libreria Civica, manuscript BB.1.2.5, hg. von Theodore C A C H E Y Jr., Notre Dame 2002. 10 S. zum Werk L E H M A N N -B R A U N S , Jerusalem sehen (wie Anm. 5), S. 257-262; Jacques V E R G E R , L’Itinerarium de Pétrarque: voyage ou pèlerinage? , in: Pèlerinages et lieux saints dans l’Antiquite et le Moyen Âge: melanges offerts e Pierre Maraval, hg. von Béatrice C H E V A L L I E R -C A S E A U / Jean-Claude C H E Y N E T / Vincent D É R O C H E (Monographies. Centre de Recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance 23), Paris 2006, S. 457-465; Franziska M E I E R , Francesco Petrarcas Orient und die Idee Europas: Überlegungen zum „Canzoniere“ (Nr. 27,28), dem „Itinerarium“ und den „Triumphi“, in: Romanische Forschungen 119,1 (2007), S. 38-72; Michael S T O L Z , Petrarcas Itinerarium ad sepulcrum domini nostri Yehsu Christi im Spannungsfeld der Zeiten, in: Deutsche Vierteljahrs‐ schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 93,4 (2019), S.-371-391. 11 Christian K I E N I N G , Erfahrung der Zeit 1350-1600, Göttingen 2022, besonders S. 53-60, Zitat 55. Die 1358 verfasste „Reisebeschreibung zum Grab unseres Herrn Jesu Christi“ (Itinerarium ad sepulcrum domini nostri Yhesu Christi) des Humanisten Fran‐ cesco Petrarca 8 . Es handelt sich um einen Brief an Petrarcas Freund Giovanni Mandelli, den podestà von Bergamo. Mandelli hatte den Gelehrten eingeladen, ihn auf eine Wallfahrt zum Heiligen Grab in Jerusalem zu begleiten (ob er diese Reise je gemacht hat, ist übrigens nicht gesichert) 9 . Petrarca konnte bzw. wollte dieser Einladung nicht folgen und verfasste stattdessen zur Begleitung des Freundes ein Reisebuch 10 . Das Itinerarium vollzieht die Reise zum Heiligen Grab nach - allerdings nicht basierend auf Petrarcas eigenen Erfahrungen, sondern in Form einer imaginären Reise. Zu Recht hat Christian Kiening jüngst auf den besonderen Charakter des Textes verwiesen, der nicht unbedingt als direkte Anleitung zu einer Pilgerfahrt zu verstehen sei: Aufgrund der Form (Brief an einen Adressaten), der Trennung von Schreiber und potentiell Reisendem und dem inhaltlichen Schwerpunkt, der weniger auf dem Heiligen Land und dortigen Pilgerstätten als vielmehr auf der Reiseroute durch das Mediterraneum liegt, handele es sich eher um eine „Fernreise im Geiste“, die dem Adressaten und den Lesenden umfassendes Wissen über Wege und Reiseorte vermittle 11 . Gerade wegen dieser spezifischen Form jedoch vermittelt Petrarcas Text wichtige Funktionsaspekte einer imagi‐ nierten Reise, die sowohl das Verhältnis von persönlicher Teilhabe und der Heilung und Genesung 153 <?page no="154"?> 12 Zitiert wird nach der deutschen Ausgabe: Francesco Petrarca, Reisebuch zum Heiligen Grab. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Jens R E U F S T E C K , Stuttgart 1999, hier S. 6-7: Cum multae igitur me teneant causae, nulla potentior quam pelagi metus. Non quod aut vitae cupidior aut timidior mortis sim quam ceteri mortales aut terrestrem mortem maritimae praeferendam rear: non enim in loco, sed in animo est, quod felices facit et miseros [Hervorhebung J.B.]. Es gibt überdies englische und italienische Ausgaben des Textes. Die Standardausgabe ist: Francesco Petrarca, Itinerarium breve de Ianua usque ad Ierusalem et Terram Sanctam: volgarizzamento meridionale anonimo, ed. critica a cura di Alfonso P A O L E L L A (Scelta di curiosità letterarie inedite o rare dal secolo XIII al XIX 284), Bologna 1993. S. zudem: C A C H E Y , Petrarch’s guide (wie Anm. 9); Petrarca il viaggiatore: guida ad un viaggio in Terra Santa con testo latino a fronte, hg. von Raffaella C A V A L I E R I , Roma 2007; Francesco Petrarca, Guida al viaggio da Genova alla Terra Santa: Itinerarium Syriacum, a cura di Ugo D O T T I (Universale economica Feltrinelli 293), Milano 2018. 13 S T O L Z , Petrarcas Itinerarium (wie Anm.-10), S.-388. 14 Petrarca, Reisebuch (wie Anm. 12), S. 70: Sed iam satis itum, satis est scriptum: hactenus tu remis ac pedibus maria et terras, ego hanc papyrum calamo properante sulcaverim, et an adhuc tu fessus sis eundo, certe ego iam scribendo fatigatus sum, eoque magis, quo celerius incessi. Quod enim iter tu tribus firte vix mensibus, hoc ego triduo consummavi. Kraft der Imagination als auch den analogen Nachvollzug des Reisens durch das Schreiben (oder Lesen) des Textes betreffen. Das zeigt sich schon in Petrarcas Rechtfertigung, für die er pragmatisch die Ursachen seines Fernbleibens von Mandellis Jerusalemfahrt anführt: Selbstironisch begründet er es nämlich mit seiner Angst vor dem Meer, macht aber zugleich deutlich, dass die Grundlagen des menschlichen Befindens nicht im Ort, sondern im Geist liegen: Obwohl viele Gründe mich also halten, so ist doch keiner gewichtiger als die Angst vor dem Meer. Nicht, daß ich mehr als andere Sterbliche zu leben begehrte oder den Tod fürchtete oder auch meinte, der Tod zu Lande wäre dem im Meer vorzuziehen. Denn das, was Menschen zu Glücklichen oder Elenden macht, liegt nicht an einem Ort, sondern im Geist 12 . Während Mandelli sich nach Jerusalem begibt, will Petrarca die Reise des Freundes gleichsam auf schreibendem Weg begleiten und so Mandellis Reise parallel nachvollziehen: Die Reise mit Papier und Schreibfeder erscheint hier als Analogon zur Reise mit Schiffen oder zu Fuß 13 . Damit sind jedoch zwei Probleme verbunden: Eine Reise nach Jerusalem ist lang und beschwerlich - ein Umstand, den Petrarca textlich weder abbilden kann noch will. Dezidiert stellt er der Länge der Reise stattdessen einen Text in knappem Stil gegenüber. Mehr noch: Er verweist im Epilog des Textes sogar darauf, dass die echte Pilgerreise drei Monate dauert, die Niederschrift seines Textes dagegen nur drei Tage. Obgleich das fraglich scheint, ist die Anspielung auf die heilige Dreizahl bezeichnend 14 . Noch erstaunlicher ist aber die zweite Ungereimtheit: Petrarca hat die Orte 154 Julia Burkhardt <?page no="155"?> 15 Ebd., S. 10-11: mirum dictu, nisi quia passim multa, quae non vidimus, scimus, multa, quae vidimus, ignoramus. 16 K I E N I N G , Erfahrung der Zeit (wie Anm. 11), S. 57. S. zudem Petrarca, Reisebuch (wie Anm. 12), S. 54: Itaque tametsi multa tibi in medio quaerenda et visenda monstraverim, quae poteras improvisus forte solumque viae finem cogitans praeterirem hic, quid te moneam, non habeo, Omnia enim iam, hinc antequam pedem domo moveas, praeconcepta animo et diu agitatata sunt tibi, quoniam finis rerum, ut philosophis placet, sicut in executione ultimus sic in intentione primus est. 17 Für eine aktuelle Textausgabe s. Guillaume de Déguileville, Le pèlerinage de vie humaine. Faksimile und Edition des altfranzösischen Textes mit deutscher Übersetzung. 2 Bände, ed., übers. und kommentiert von Stephen D Ö R R / Frankwalt M Ö H R E N / Thomas S T Ä D T L E R / Sabine T I T T E L , Darmstadt 2013. Zu aktuellen Interpretationen s. zudem die Beiträge in: Mittelalterliche Literatur als Retextualisierung: Das ,Pèlerinage‘-Corpus des Guillaume de Déguileville im europäischen Mittelalter, hg. von Andreas K A B L I T Z / Ursula P E T E R S (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 52), Heidelberg 2014. Dazu auch der Beitrag von Berndt H A M M in diesem Band. und heiligen Stätten, die Mandelli besuchen wird, selbst noch nie gesehen; dennoch beschreibt er den Reiseweg und die geographischen und kulturellen Gegebenheiten vor Ort detailliert. Diesen scheinbaren Widerspruch gleicht Petrarca mit einem feinsinnigen Kommentar aus: „Vieles, was wir nicht gesehen haben, kennen wir, andererseits können wir vieles, was wir gesehen haben, nicht verstehen“ 15 . Ausgehend von dieser Beobachtung begründet Petrarca dann, worin der Wert seines Textes besteht: Er will nicht nur die intellektuelle Zierde des Freundes mehren, sondern dessen Geist durch Erinnerungen anregen und nicht zuletzt zu dessen Seelenheil beitragen. Kaum ist Petrarca schriftstellerisch im Heiligen Land angekommen, überlässt er den Freund allerdings seinem Schicksal: Er, Petrarca, könne wegen Unkenntnis des Ziels nicht mehr weiter‐ helfen; Mandelli aber werde sich problemlos in Jerusalem zurechtfinden, habe er doch alle Heiligen Stätten vor Reiseantritt schon einmal gedanklich besucht. „Wird die Linearität der Zeit in der Imagination aufgehoben“, so bilanziert Christian Kiening, „muss auch die Nähe zu Christus nicht erst dort erlebt werden, wo man sich (im Geiste) an den Orten seines Lebens befindet“ 16 . Diese Vorstellung von der memorialen und imaginativen Wirkmacht findet sich auch in zahlreichen anderen zeitgenössischen Texten - so beispielsweise in der „Pilgerfahrt des menschlichen Lebens“ (Pèlerinage de la vie humaine) des französischen Zisterziensers Guillaume de Déguileville (ca. 1295-1358) 17 . Im Mittelpunkt des Werks, einer allegorischen Ausdeutung der Pilgerfahrt, steht ein Mönch, der im Traum den Weg zum himmlischen Jerusalem als Pilgerfahrt durch die Wirrungen des Lebens absolviert - das menschliche Leben wird allegorisch als Wallfahrt ausgedeutet. Eine entscheidende Figur in dieser Erzählung ist die memoria, die den Pilger beständig begleitet und, so Heilung und Genesung 155 <?page no="156"?> 18 Marco N I E V E R G E L T , Allegorical quests from Déguileville to Spenser, Cambridge 2013, besonders S.-23-44. 19 Si ques, s’ell’a (les) iex derriere, Par ce saches, (que) tresoriere Et gardienne de science Ell’est et de (grant) sapience. Guillaume de Déguileville, Le pelerinage 4905-8, hier zitiert nach Sara V. T O R R E S , Remembered Pèlerinage: Deguileville’s Pilgrim in Philippe de Mézières’s Songe du Vieil Pelerin, in: The „pèlerinage“ allegories of Guillaume de Deguileville: tradition, authority and influence, hg. von Marco N I E V E R G E L T / Stephanie A. V I E R E C K / Gibbs K A M A T H (Gallica 32), Cambridge 2013, S.-153-170, Zitat 158. 20 S T O L Z , Petrarcas Itinerarium (wie Anm. 10), S. 384. Zur memorialen Funktion von Pilgertexten s. auch F I S C H E R , Erzählte Bewegung (wie Anm. 5), S. 66-73, bes. 70: „Zu‐ sammenfassend lässt sich sagen, dass der Pilgertext also grundsätzlich eine Bewegung und ein Sehen beschreibt. Die Lektüre ist zunächst Nachvollzug dieser Bewegung und dieses Sehens - ungeachtet der Disposition des Rezipienten. Gegenüber dem realen Pilgerreisenden ist von dem Rezipienten des Textes eine weitaus größere Memorierungs- und Imaginationsleistung gefordert. Während der reale Pilger „nur“ das Heilsereignis memoriert und imaginiert, ist von dem Rezipienten des Textes Heilsort, sichtbares Zeugnis des Heilsgeschehens und das Heilsereignis selbst zu imaginieren.“ 21 Petrarca, Reisebuch (wie Anm. 12), S. 70-71: His spectaculis et hoc duce doctior ac sanctior remeabis. Deguileville, „bewaffnet“ 18 . Die memoria wird dem Pilger von einer weiteren allegorischen Figur, der Gnade Gottes (Grace Dieu), zugewiesen, und bei ihr beklagt sich der Pilger auch über die vermeintliche physische Indisposition seiner neuen Begleiterin: Sie figuriert als zarte Frauengestalt und hat ihre Augen am Hinterkopf, so dass sie nicht sehen kann. Sogleich wird er jedoch aufgeklärt, dass genau darin der Reiz liegt: Die memoria trägt alle Erinnerungen des Pilgers wie Gepäck bei sich, und die rückwärtsgewandten Augen sind Ausdruck ihrer zentralen Funktion als Hüterin seines Wissens 19 . Diese Interpretation unter‐ streicht die Bedeutung einer meditativen Verinnerlichung und Selbstreflexion, ohne die eine geistige Reise nicht angetreten werden oder funktionieren kann. Doch zurück zu Petrarca und seiner Vorstellung vom Zusammenhang von geistiger und physischer Pilgerfahrt. Michael Stolz interpretierte sie überzeu‐ gend als Verweis auf die Allgegenwart der „legendären Topographie […] des Heiligen Landes“ im memorialen Bewusstsein der Gläubigen 20 - was den Adressaten Mandelli übrigens ebenso einschließt wie spätere Rezipienten und Rezipientinnen des Itinerarium. Mandelli erfüllt dabei eine Doppelfunktion: Er ist ein physischer Pilger und wird nach seiner Rückkehr die gesamte Reise noch einmal durch die Lektüre von Petrarcas Text nachempfinden. Das wird an den Schlussworten des Textes deutlich, die Mandelli den Wert der geistigen Reise verdeutlichen: „Nach allem, was Du gesehen hast, und mit diesem Führer wirst Du gebildeter und frommer zu uns zurückkehren“ 21 . Am Ende von Petrarcas geistiger Reise steht also ein konkretes Ergebnis: Die Heiligung oder Heilung des geistig Reisenden, der nach vollzogener Reise 156 Julia Burkhardt <?page no="157"?> 22 Umso wichtiger deshalb einmal mehr der Hinweis Kienings, dass es sich nicht „um einen gewöhnlichen Pilgertext“ handelt: Christian K I E N I N G , Die Erschaffung literarischer Welten im späten Mittelalter, in: Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter, hg. von Volker L E P P I N unter Mitarbeit von Samuel J. R A I S E R (Das Mittelalter. Beihefte 16), Berlin/ Boston 2021, S.-107-124, Zitat S.-111. 23 Vgl. hierzu R U D Y , Virtual Pilgrimages (wie Anm. 4); Ursula G A N Z -B L Ä T T L E R , Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320-1520) ( Jakobus-Studien, Bd.-4), Tübingen 1990, S.-221-247. 24 Andreas N E H R I N G , Auf dem Weg zum „Heiligen“? Pilgern aus religionswissenschaftli‐ cher Perspektive, in: Unterwegs im Namen der Religion/ On the Road in the Name of Religion. Pilgern als Form von Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung in den Weltreligionen/ Pilgrimage as a Means of Coping with Contingency and Fixing the Future in the World, hg. von Klaus H E R B E R S / Hans Christian L E H N E R (Beiträge zur Hagiographie 15), Stuttgart 2014, S. 13-24. Zur Bedeutung von Heiligen s. die jüngste Studie von Benjamin M Ü S E G A D E S , Heilige in der mittelalterlichen Bischofsstadt: Speyer und Lincoln im Vergleich (11. bis frühes 16. Jahrhundert) (Beihefte zum Archiv für Kul‐ turgeschichte 93), Wien/ Köln/ Weimar 2021; zu zeitgenössischer Kritik im Mittelalter s. Klaus S C H R E I N E R , „Discrimen veri ac falsi“. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966), S.-1-53. doctior und sanctior ist. Wie genau er dieses Ergebnis erreicht, bleibt übrigens unerwähnt. 22 Petrarca benennt keinerlei anwendungsorientierte Praktiken oder Frömmigkeitsrituale. Stattdessen nähern sich die geistig Reisenden ihrem Ziel über die Erfahrbarkeit des Pilgerwegs über dessen Beschreibung und geistigen Nachvollzug - ein itinerarium im doppelten Sinne also. Und obgleich Petrarcas Pilgerreise somit eher einem intellektuellen Ausflug als einer konkreten spiritu‐ ellen Meditationsübung gleicht, endet sie mit einer substantiellen Veränderung und vor allem qualitativen Verbesserung des Reisenden, in diesem Fall: des Pil‐ gers. Das lenkt zunächst den Blick auf Motive und Erwartungen der Teilnahme an Pilgerfahrten (unabhängig davon, ob sie real oder imaginiert war) und sodann auf mögliche Heilswirkungen dieser Reisen 23 . 2. Erwartungshorizonte (geistigen) Pilgerns Zu den zentralen theologisch-frömmigkeitsgeschichtlichen Prämissen des Pil‐ gerns gehörte einerseits die Vorstellung, dass das unsichtbare Göttliche etwa in Reliquien und an bestimmten Gnadenorten präsent ist und diese mithin Nähe und hilfesuchende Kontaktaufnahme zu Gott oder den Heiligen als seinen Mitt‐ lerfiguren ermöglichen 24 . Im Rekurs sowohl auf altals auch neutestamentliche Autoritäten besaß andererseits die Vorstellung des homo viator, des auf der Lebensreise befindlichen Menschen auf dem Weg ins himmlische Reich Gottes, Heilung und Genesung 157 <?page no="158"?> 25 S. dazu neuerdings Franco C A R D I N I / Luigi R U S S O , Homo viator: il pellegrinaggio me‐ dieval, Viareggio 2019. 26 Grundlegend dazu die Beiträge in Pilgerheilige und ihre Memoria, hg. von Klaus H E R B E R S / Peter R Ü C K E R T ( Jakobus-Studien 19), Tübingen 2012. 27 Carolin R I N N , Zwischen Erinnerung und Heilsvermittlung: Visualität und Medialität der mittelalterlichen Pilgerzeichen aus Aachen und Canterbury (Europäische Wallfahrts‐ studien 12), Frankfurt 2020; Hartmut K Ü H N E , Mittelalterliche Pilgerzeichen: Heiligung von Zeichen und Heiligung durch Zeichen, in: Heilige und geheiligte Dinge: Formen und Funktionen, hg. von Andrea B E C K / Klaus H E R B E R S / Andrea N E H R I N G (Beiträge zur Hagiographie 20), Stuttgart 2017, S. 235-250; Pilgerzeichen - „Pilgerstraßen“, hg. von Klaus H E R B E R S / Hartmut K Ü H N E ( Jakobus-Studien 20), Tübingen 2013; Carina B R U M M E , Pilgerzeichen - Erhaltungsbedingungen und Verbreitungsräume, in: Das Zeichen am Hut im Mittelalter. Europäische Reisemarkierungen, hg. von Hartmut K Ü H N E / Lothar L A M B A C H E R / Konrad V A N J A (Europäische Wallfahrtsstudien 4/ Schriftenreihe Museum Europäischer Kulturen 5), Frankfurt 2008, S.-127-142. 28 S. dazu die Beiträge in H E R B E R S / P L Ö T Z , Spiritualität des Pilgerns (wie Anm.-4). 29 Klaus H E R B E R S , Pilgerformen und -motive im Mittelalter, in: Pilgern gestern und heute: soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg, hg. von Patrick H E I S E R / Christian K U R R A T (Soziologie 77), Berlin 2012 S. 75-90; Ludwig S C H M U G G E , Kollektive und individuelle Motivstrukturen im mittelalterlichen Pilgerwesen, in: Migration in der Feudalgesellschaft, hg. von Gerhard J A R I T Z / Albert M Ü L L E R (Studien zur historischen Sozialwissenschaft 8), Frankfurt/ New York 1988, S. 263-289. Die Überlegungen dieses Absatzes wurden bereits entwickelt in B U R K H A R D T , Die Wallfahrt (wie Anm.-7), S.-43. von frühchristlicher Zeit an große Prägekraft 25 . Jahrhunderte hinweg galt das Pilgern als sinnvolle Form christlicher Frömmigkeit - die zeitlich kondensiert in Pilgerfahrten Umsetzung finden sollte. Für die Unternehmung einer Pilgerfahrt zu einem Wallfahrtsort gab es mithin ganz unterschiedliche Gründe. Wesentlich hatte das mit der Bedeutung sowie Funktion von Heiligen und ihren Reliquien im zeitgenössischen Frömmigkeits‐ verständnis zu tun. So wurden Heilige nicht einfach nur verehrt; vielmehr schrieb man ihnen aufgrund ihrer Verbindung zu Gott eine Wundertätigkeit auch auf der Erde zu 26 . Um an dieser Wundertätigkeit Anteil zu erhalten, gab es mehrere Möglichkeiten: So konnten Gläubige versuchen, in den Besitz von Überresten Heiliger zu kommen, oder aber sie ließen Bildnisse von Heiligen an‐ fertigen, um ihnen nahe zu sein. Eine ganz direkte Form der „Kontaktaufnahme“ boten Wallfahrten zu den Gräbern von Heiligen, von denen Gläubige häufig kleine Gegenstände wie beispielsweise Amulette oder Abzeichen mitbrachten 27 . Durch Gebete und Anrufungen versuchten Pilger an der Wallfahrtsstätte, die Vermittlung der Heiligen bei Gott zu erwirken: Kranke erhofften sich hier Heilung, Ausweglose Rat und Inspiration, Trauernde Trost 28 . Neben solchen spirituellen Anreizen oder vielleicht auch schlichter Neugier spielten zweifellos auch soziale Motivationen eine bedeutende Rolle, sicherte eine erfolgreiche Pilgerfahrt in der Heimat doch gesellschaftliches Prestige 29 ; 158 Julia Burkhardt <?page no="159"?> 30 S. dazu (freilich mit Fokus auf Jakobus-Pilger) die Beiträge in Stadt und Pilger. Soziale Gemeinschaften und Heiligenkult, hg. von Klaus H E R B E R S ( Jakobus-Studien 10), Tübingen 1999. 31 Sinnhaft dazu der Name dieses Sammelbandes: Wege zum Heil: Pilger und heilige Orte an Mosel und Rhein, hg. von Thomas F R A N K / Michael M A T H E U S / Sabine R E I C H E R T (Geschichtliche Landeskunde 67), Stuttgart 2009. 32 Klaus S C H R E I N E R , ‚Peregrinatio laudabilis‘ und ‚peregrinatio vituperabilis‘. Zur reli‐ giösen Ambivalenz des Wallens und Laufens in der Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit. Internatio‐ nales Round-Table-Gespräch, Krems an der Donau, 8. Oktober 1990, hg. von Herwig W O L F R A M (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 14; Sitzungsberichte. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 592), Wien 1992, S.-133-163. 33 Zu Caesarius und seinem Werk s. neuerdings Julia B U R K H A R D T / Isabel K I M P E L , Tugend, Laster, Strafe. Die „Wunderbücher“ des Caesarius von Heisterbach als anwendungsori‐ entierte Theologie, in: Analecta Cisterciensia 71 (2021), S. 83-118 sowie die Beiträge in The art of Cistercian persuasion in the Middle Ages and beyond: Caesarius of Heister‐ bach’s Dialogue on miracles and its reception, hg. von Victoria S M I R N O V A / Marie-Anne P O L O D E B E A U L I E U / Jacques B E R L I O Z (Studies in medieval and reformation traditions 196), Leiden/ Boston 2015. gleichzeitig entstand durch die mit anderen Pilgern geteilten Erfahrungen ein neuer sozialer Zusammenhang - Pilgern verband individuelle Motivationen mit gemeinschaftlichen Erlebnissen 30 . Entsprechend bestand der Sinn einer Pilgerreise nicht nur darin, das anvisierte Ziel zu erreichen, um dort den eigenen Glauben mit Gesten der Frömmigkeit performativ zu zelebrieren. Auch die Reise selbst, die Überwindung der geographischen Distanz, galt als Analogon zu einer inneren Bewegung hin zur göttlichen Verheißung, die Ankunft entsprechend als Vorwegnahme des göttlichen Lohns 31 . Freilich wurde diese Annahme nicht von allen geteilt: Kritiker bemängelten durchaus grundsätzlich, dass Pilger ein unstetes Leben führten und sich zu vielen weltlichen Ablenkungen ausgesetzt sähen 32 . So berichtete beispielsweise der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach (c. 1180-1240) in seinem „Dialog über die Wunder“ (Dialogus miraculorum), der in zwölf Büchern (sog. distinc‐ tiones) ein unterweisendes Gespräch zwischen einem Novizen und einem Mönch zu verschiedenen theologischen Fragen beinhaltet, von einem Kanoniker in Lüttich 33 . Dieser habe nach einer Kreuzzugspredigt des großen Bernhard von Clairvaux das Kreuz genommen - allerdings nicht das eines pilgernden Kreuzfahrers ins Heilige Land, sondern das Kreuz der zisterziensischen Ordens‐ gemeinschaft. Denn er hielt es für heilsamer [so Caesarius], dem Geist ein langwährendes Kreuz aufzudrücken, als eine Zeitlang ein kleines Stoffkreuz an das Gewand anzunähen. Er Heilung und Genesung 159 <?page no="160"?> 34 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum. Dialog über die Wunder, 5 Bde., übers. und kommentiert von Nikolaus N Ö S G E S / Horst S C H N E I D E R (Fontes Christiani 86, 1-5), Turnhout 2009, hier Band 1, I.6., S. 224-235, Zitat S. 226-227: […] salubrius iudicans longam crucem imprimere menti, quam brevem zonam ad tempus assuere vesti. 35 Zur Bedeutung Mariens in Exempeln und ihrer Verehrung im Zisterzienserorden s. Fritz W A G N E R , Zum Marienkult der Zisterzienser, in: Fritz W A G N E R , Mente caelum inhabitans. Kleine Schriften zur Philologie und Geistesgeschichte des Mittelalters, hg. von Thomas K L E I N (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 743), Göppingen/ Lorch 2009, S. 193-196 sowie Gabriela S I G N O R I , Totius ordinis nostri patrona et advocata. Maria als Haus- und Ordensheilige der Zisterzienser, in: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.-18. Jahrhundert, hg. von Claudia O P I T Z / Hedwig R Ö C K E L E I N (Clio Lucernensis 2), Zürich 1993, S.-253-277. 36 Dialogus miraculorum (wie Anm. 34), hier Band 3, VII.56, S. 1490-1491: et sicut verus peregrinus in coelesti patria laboris sui praemium suscepit. 37 Zur Heilserwartung s. Jan A S S M A N N , Das Heil: Religiöse Zukunftsvorstellungen im kulturellen Gedächtnis, in: Gegenwart des lebendigen Christus, hg. von Thomas G. S C H Ü L E , Leipzig 2007, S. 463-478. Online unter https: / / archiv.ub.uni-heidelberg.de/ pro pylaeumdok/ 1776/ (30.-August 2022). hatte nämlich die Worte des Erlösers gelesen: Wer nicht täglich das Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert (Mt 10, 38). Er (sc. Jesus) sagte nicht: für ein Jahr oder für zwei Jahre, sondern täglich. In dieser Lesart schien das Leben in einem Kloster größere Chancen und größere Gewissheit auf Heilspartizipation zu verheißen 34 . Trotz solcher Zweifel: Dem theologischen Grundverständnis nach ver‐ suchten Pilger in der Regel, durch die Teilnahme an einer Wallfahrt Anteil am Heil der Schöpfung zu erhalten. Auch diesen Zusammenhang beschreibt Caesarius von Heisterbach in seinem „Dialog der Wunder“. In der siebten Dis‐ tinktion, die der heiligen Maria und ihren Wundertaten gewidmet ist, erzählt der unterweisende Mönch seinem Novizen vom Schicksal des Kreuzfahrers Kuno 35 . Dieser sei noch auf der Reise schwer erkrankt und, während er im Sterben lag, plötzlich von einer wundersamen Fröhlichkeit ergriffen worden. Nach den Gründen befragt, offenbarte er seinen Mitpilgern, dass er bereits Marias Gegenwart spüre und den Himmel schaue. Schließlich starb er und empfing in den Worten des Caesarius „wie ein wahrer Pilger […] in der himmlischen Heimat den Lohn für seine Mühsal“ 36 . Deutlich wird hier der Zusammenhang zwischen dem aktiven Pilgern, der Heilserwartung bzw. -gewissheit des Pilgers und dem heiligenden Lohn in der coelestis patria proklamiert 37 . Worin aber bestand die Heiligung des Pilgers genau? Wie wurde sie vermittelt und wie ließ sie sich erreichen? Zu diesen Fragen rund um Medialität und Vermittelbarkeit des Heils konstatierte Christian Kiening zuletzt, dass „den Kern der christlichen oder näherhin christologischen Idee einer Medialität des 160 Julia Burkhardt <?page no="161"?> 38 Christian K I E N I N G , Einleitung, in: Medialität des Heils im späten Mittelalter, hg. von Carla D A U V E N - V A N K N I P P E N B E R G / Cornelia H E R B E R I C H S / Christian K I E N I N G (Medien‐ wandel - Medienwechsel - Medienwissen 10), Zürich 2009, S.-7-20, hier 8. 39 Ebd., S.-9. 40 Umfassend dazu informieren die Beiträge in Media salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Berndt H A M M / Volker L E P P I N / Gury S C H N E I D E R -L U D O R F F (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58), Tübingen 2011. 41 Zum Zusammenhang von Heil und Heilung s. neuerdings die Beiträge in Heil und Heilung: Die Kultur der Selbstsorge in der Kunst und Literatur des Mittelalters und Heils […] somit eine Paradoxie“ bildet: „Das Heilswerk als geschichtliches gründet sich auf Vermittlung, doch diese Vermittlung ist eine, die ihre eigene Medialität sowohl ausstellt wie aufhebt. Sie ist ebenso notwendig wie vorläufig - notwendig hinsichtlich der Bedingungen einer weltlichen Immanenz, vorläufig hinsichtlich einer Aufhebung dieser Bedingungen am Ende der Zeiten.“ 38 „Wie aber“, so Kiening, „ist die für sich genommen nicht mittelbare Vermitt‐ lung ihrerseits den Menschen, den Christen, den Gläubigen, vermittelbar? Wie ist sie von denen zu konzipieren und zu praktizieren, die sich nicht im Unmit‐ telbaren zu bewegen vermögen und an die Anschauungs- und Verlaufsformen von Raum und Zeit gebunden sind? Die Antwort kann nur heißen: durch konkrete Medien, die aktuell verfügbar sind, während das absolute Medium nur virtuell gegeben ist, Medien, die verfügbar machen, was als Ereignis entzogen ist. Sie ermöglichen es, eine absolute Fülle von Sein, Sinn oder Zeit im Diesseits punktuell und augenblickshaft mit solcher Macht und Intensität aufscheinen zu lassen, dass überhaupt erst wahrnehmbar wird, was es verheißt, wenn ein noch ausstehendes Ganzes im Jenseits erfahrbar werden soll.“ 39 Heil (zumeist als salus, salvatio, gratia oder sanctio bezeichnet) muss diesem Ansatz zufolge als Bezeichnung für ein Set an Kommunikationsmedien ver‐ standen werden, mittels derer Transzendentes vermittelt und präsent gemacht wird. Dazu gehören einerseits die durch Christus eingesetzten „Heils- oder Gna‐ denmittel“, also die Verkündigung des Wortes, die Taufe und das Abendmahl, die dem Einzelnen das Heilsgeschehen zugänglich machen. Sodann sind insti‐ tutionelle Zusammenhänge zu benennen, verstand sich die Kirche doch mittels ihrer Lehre und ihren Sakramenten als zentrales Vermittlungsorgan; schließlich sind unter den heilsvermittelnden Medien die Heilige Schrift, Predigt, Liturgie, Heilige mit ihren Orten, Kulten und Objekten zu nennen 40 . Heil konnte bei Pilgerfahrten also auf unterschiedliche Weise erfahren und erreicht werden: Pilger konnten seelisch oder physisch Heil (hier verstanden im Sinne von Genesung) erlangen 41 oder aber spirituell Anteil am göttlichen Heil erhalten. Während die institutionelle Bestätigung dieser Zusammenhänge Heilung und Genesung 161 <?page no="162"?> der frühen Neuzeit, hg. von Tobias B U L A N G / Regina T O E P F E R (Germanisch-romanische Monatsschrift. Beiheft 95), Heidelberg 2020. 42 S. dazu die jüngsten Interpretationen und Diskussionen bei Georg H A B E N I C H T , Ablass: Wertpapier der Gnade: wie es zur Reformation kommen musste, Petersberg 2020; Étienne D O U B L I E R , Ablass, Papsttum und Bettelorden im 13. Jahrhundert (Papsttum im mittelalterlichen Europa 6), Köln/ Weimar/ Wien 2017; Berndt H A M M , Ablass und Reformation - erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016; Christiane L A U D A G E , Das Geschäft mit der Sünde: Ablass und Ablasswesen im Mittelalter, Freiburg/ Basel/ Wien 2016. Vgl. dazu die Beiträge von Christiane L A U D A G E und Berndt H A M M in diesem Band. 43 Für einen Überblick sowie Verweise auf die umfangreiche Literatur zu mittelalterlichen Exempeln s. Julia B U R K H A R D T , Die Welt in Geschichten erfassen. Exemplarisches Erzählen im 13. Jahrhundert, in: Die Wirkmacht klösterlichen Lebens. Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte, hg. von Mirko B R E I T E N S T E I N / Gert M E L V I L L E (Klöster als Innovationslabore 6), Regensburg 2020, S.-209-221. beispielsweise in Form von Ablässen nachzuweisen ist 42 , künden verschiedene Quellen auch von sehr konkreten individuellen Heilsbzw. Genesungserwar‐ tungen der pilgernden Zeitgenossen. Spirituelle Heil(ig)ung in Form der Teilhabe am göttlichen Heil war jedoch nicht nur am Gnadenort selbst bzw. im Zuge des Aufenthaltes des Pilgers vor Ort zu erlangen: Entsprechende Wunder ereigneten sich ebenso in vielfäl‐ tiger Weise auf Hin- und Rückreise. Besonders aufschlussreich ist für diesen Zusammenhang die Überlieferung in zeitgenössischen Exempeln, also kurzen Geschichten, die mittels eines verständlichen und einprägsamen Beispiels eine abstrakte moralische oder normative Aussage bzw. ein bestimmtes Anliegen übermitteln und damit zugleich einen Handlungsimpuls für die Zukunft geben wollten 43 . Ein häufiges Szenario in der Exempelüberlieferung stellt die Errettung aus einem Seesturm dar, der in der Regel auf die Sündenlast eines Pilgernden zurückgeführt wurde. So erklärte Caesarius von Heisterbach einen heftigen Seesturm bei der Reise von Pilgern ins Heilige Land mit den Sünden eines einzigen Mannes. „Den Tod vor Augen“ sah sich dieser Pilger schließlich dazu veranlasst, ein Sündenbekenntnis abzulegen - mit einer heilenden Wirkung für die gesamte Gruppe: „Sobald er die Masse der Schlechtigkeit durch das Bekenntnis ausgeworfen hatte, beruhigte sich das tobende Meer und es trat große Stille ein […]“. Um die Mitreisenden des Sünders zu schützen, schiebt Gott noch ein zweites Wunder hinterher und tilgt die Erinnerung an den schockierenden Inhalt der Beichte. Das „Heilmittel der Beichte“ (medicina 162 Julia Burkhardt <?page no="163"?> 44 Dialogus miraculorum (wie Anm. 34), hier Band 2, III.21, S. 574-577, Zitat S. 576: Mox, ut massam iniquitatis per confessionem eiecit, mare furens siluit, et facta est tranquillitas magna, ita ut omnes mirarentur. […] Quibus nota est medicina confessionis, nec una die morari debent in peccatis, neque differe confessionem, nisi necessitas excludat confessorem. Zu Caesarius’ Beichtverständnis s. auch B U R K H A R D T / K I M P E L , Tugend, Laster, Strafe (wie Anm.-33). 45 Dialogus miraculorum (wie Anm. 34), hier Band 4, X.2, S. 1896-1899. Eine vergleichbare Erzählung, bei der eine Reise ins Heilige Land mittels göttlicher Hilfe in unrealistisch kurzer Zeit erfolgte, findet sich im „Bienenbuch“ des Dominikaners Thomas von Cantimpré: Julia B U R K H A R D T , Von Bienen lernen. Das Bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf (Analyse, Edition, Übersetzung Kommentar). 2 Bände (Klöster als Innovationslabore Bd. 7), Regensburg 2020, hier Band-2: Thom. Cantimpr. BUA II,40,4, S.-756-759. 46 In diesem Zusammenhang ist auch auf Erkrankungen zu verweisen, die man psychi‐ schen Indispositionen zuschrieb. S. hierzu Harry K Ü H N E L , „… beraubt … seiner synne und vernunfft.“ Geisteskrankheit und Wallfahrt, in: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum 70 (1990), S.-117-133. Online unter https: / / www.zoboda t.at/ pdf/ VeroeffFerd_70_0117-0133.pdf (29.-August 2022). So verzeichnet beispielsweise das Mirakelbuch des Wallfahrtsortes Marienthal im Westerwald aus dem Jahr 1487 confessionis) sollte deshalb grundsätzlich regelmäßig eingenommen und wenn möglich unbedingt vor dem Aufbruch zu einer Pilgerfahrt 44 . Gleichsam komplementär erscheinen die Wunder, die sich nach der Rück‐ reise von erfolgreich absolvierten Pilgerfahrten ereigneten - erinnert sei noch einmal an das bereits beschriebene Schicksal des Pilgers Kuno im Dialogus miraculorum. Pilgernde, die sich, so die Botschaft, gottgefällig verhielten und beispielsweise freiwillig an zusätzlichen Gottesdiensten teilnahmen, wurden belohnt. Entsprechend ist etwa bei Caesarius von Heisterbach zu lesen, dass ein Pilger im Gegensatz zu seinen Reisegefährten noch länger im Heiligen Land verweilte, um einer Messe zu lauschen. Auf der folglich alleine angetretenen Heimreise begegnete ihm eine Person zu Pferd und fragte, weshalb er alleine unterwegs sei. Nachdem der Mann berichtet hatte, nahm der Reiter diesen zu sich aufs Pferd und brachte ihn in Rekordzeit nach Hause: Weil Du Christus geehrt hast, deshalb wurde ich beauftragt, Dich heimzuführen; siehe, da ist Dein Haus; nun geh und erzähle die Wunder, die an Dir geschehen sind! Motiviert durch den Spott seiner ungläubigen Gefährten pilgerte der Mann spontan zusätzlich - und wiederum blitzgeschwind - zum Grab des Apostels Jakobus und bewies dadurch schließlich das Wunder, das an ihm gewirkt worden war 45 . Darüber hinaus ist auf etliche Wundergeschichten zu verweisen, die zeit‐ genössische Heilungserwartungen, also die Hoffnung auf seelische oder kör‐ perliche Genesung, dokumentieren 46 . Eine dieser Geschichten findet sich in Heilung und Genesung 163 <?page no="164"?> verschiedene Fälle der psychischen Gesundung, darunter das Beispiel einer Katharina: Jtem ist her kommen Katherine von Bruens […], de mit dem boeßen geist besessen vnd ire synne berauwet was, vnd ist dar vor vnsrer leben frauwen erloist worden. Karl M E I S E N , Ein Mirakelbüchlein des 15. Jahrhunderts aus der Wallfahrtskirche Marienthal bei Hamm an der Sieg. Ein quellenkundlicher Beitrag zur religiösen Volkskunde und zur Volksmedizin, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 129 (1936), S. 88-115, hier 100. S. zu mentalen Erkrankungen die Beiträge in Mental (Dis)Order in Later Medieval Europe, hg. von Sari K A T A J A L A -P E L T O M A A / Susanna N I I R A N E N (Later Medieval Europe 12), Leiden/ Boston 2014. Online unter https: / / www.jstor.org/ stable/ 10.1163/ j.ctv2gjw wmc (30. August 2022); zur therapeutischen Wirkung von Religion s. zuletzt aus psychologischer Sicht Beata P A S T W A -W O J C I E C H O W S K A / Iwona G R Z E G O R Z E W S K A / Mirella W O J C I E C H O W S K A , The Role of Religious Values and Beliefs in Shaping Mental Health and Disorders, in: Religions 12, 840 (2021), https: / / doi.org/ 10.3390/ rel12100840 (30. August 2022). 47 Vita beatae Hedwigis, ed. Peter M O R A W , in: Der Hedwigs-Codex von 1353. Sammlung Ludwig. 2. Band: Texte und Kommentare, hg. von Wolfgang B R A U N F E L S , Berlin 1972, S. 71-155. Für einen knappen Überblick zur Biographie und Wirkmacht Hedwigs (mit ausführlicher Bibliographie) s. Winfried I R G A N G , Hedwig (von Schlesien), in: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationalen- und epochenübergreifenden Zugriff, hg. von Joachim B A H L C K E / Thomas W Ü N S C H , Berlin 2013, S. 599-608. Vergleichbare Wunder sind auch für andere prominente Graborte belegt, so etwa für das Grab von Hedwigs Nichte Elisabeth von Thüringen. S. dazu Sieg‐ fried B E C K E R , Krankheit und Wunderheilung im Mittelalter: Pilger aus der Marburger Landschaft 1232-1234 am Elisabethgrab, in: Büdinger Geschichtsblätter 19 (2006), S.-199-214. 48 Zum Verhältnis der Zisterzienserklöster Leubus und Trebnitz s. Waldemar K Ö N I G H A U S , Die Zisterzienserabtei Leubus in Schlesien von ihrer Gründung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts (Quellen und Studien. Deutsches Historisches Institut Warschau 15), Wiesbaden 2004. der Lebensbeschreibung der heiligen Hedwig von Schlesien (1174-1243) 47 . Dabei bekommt der Zisterzienser Hermann aus Leubus (Lubiąż) während einer schweren Krankheit in einer Vision die Pilgerfahrt zu Hedwigs Grab in Trebnitz (Trzebnica) gewiesen 48 . „In Begleitung zweier Mönche“, so berichtet der Text, „wurde er im Wagen dorthin gebracht. Ganz erschöpft kam er an, musste sich, weil er so schwach war, auf [Hedwigs] Grab legen und flehte inständig zum Herrn, um durch die Verdienste der heiligen Hedwig die Gesundheit wiederzuerlangen.“ Hermanns Heilung erfolgt zwar nicht sofort, aber zumindest zeitnah: Sobald er „gebetet hatte, verfiel er in gesunden Schweiß [also das Gegenteil zum vorherigen Gesundheitszustand] und wurde ins Krankenhaus überführt, wo er noch in derselben Nacht von der Krankheit gesundete.“ 164 Julia Burkhardt <?page no="165"?> 49 M O R A W , Vita beatae Hedwigis (wie Anm. 47), S. 121-122: Nam protinus cum orasset, sudorem incurrit salvificum deductusque ad hospicium eadem nocte convaluit ab ea egri‐ tudine, quam passus fuerat a vigilia sumpcionis gloriose virginis usque prope festivitatem beati archangeli Mychaelis. Et sic per intercessionem beate Hedwigis sanitate pristine redditus ad suum conventum breviter est reversus. De iam dicto Lubensi monasterio multi fratres alii fuerung curati a Deo per sancta Hedwigis suffragia […]. 50 S. etwa die folgende Fallstudie zu parentaler Heilsfürsorge in Krakau: Beata W O J C I E ‐ C H O W S K A , Pilgrimages in search of healing for children in late medieval Cracow, in: Wallfahrten in der europäischen Kultur/ Pilgrimage in European Culture. Tagungsband Příbram, 26.-29. Mai 2004/ Proceedings of the Symposium Příbram, May 26th-29th 2004. Unter Mitarbeit von Eva Doležalová, Marketa Holubová, Jan Hrdina und Hana Pátková hg. von Daniel D O L E Ž A L / Hartmut K Ü H N E (Europäische Wallfahrtsstudien 1), Frankfurt 2006, S.-335-346. 51 Grundlegend zu den Predigten Jakobs von Vitry: Carolyn A. M U E S S I G , Audience and Sources in Jacques de Vitry’s „Sermones feriales et communes“, in: Medieval Sermons and Society: Cloister, City, University. Proceedings of International Symposia at Kala‐ mazoo and New York, hg. von Jacqueline H A M E S S E / Beverly Mayne K I E N Z L E / Debra L. S T O U D T / Anne T. T H A Y E R (Textes et Études du Moyen Âge 9), Louvain-la-Neuve 1998, S. 182-202, sowie Carolyn A. M U E S S I G , The Sermones feriales of Jacques de Vitry. A critical edition, Phil. Diss., Montréal 1993. Hermann bleibt mit seinem Schicksal aber nicht allein - auch weitere Brüder seines Klosters, die gesundheitliche Probleme haben, folgen seinem Beispiel und werden in Trebnitz geheilt 49 . Die konkrete Erwartung oder zumindest inständige Hoffnung auf eine physische oder auch psychische Genesung, mit der auch eine theologische Heilspartizipation verbunden war, kommt in zahlreichen Zeugnissen, insbeson‐ dere aber solchen Wundergeschichten zum Ausdruck 50 . Berichte über frühere Pilgerfahrten und ihre positiven Auswirkungen dienten natürlich nicht nur Dokumentationszwecken, sondern nährten auch Hoffnungen für künftige Unternehmungen - diese zeitliche Mehrdimensionalität zeigt sich im Falle Hermanns von Leubus und seiner Mitbrüder, ist aber auch am Beispiel von Petrarcas Itinerarium schon deutlich geworden. Interessanterweise wird die wundersame Genesung von Versehrten bei „physischen“ Pilgerfahrten häufig als ad hoc-Ereignis beschrieben, ohne näher auf spezifische Gebetspraktiken einzugehen - so etwa, wenn im 13. Jahrhundert Jakob von Vitry (ca. 1160/ 70-1240) in seinen Sermones vulgares Folgendes berichtet 51 : Zwei Lahme pilgerten zum Grab eines Heiligen, um dort geheilt zu werden. Als sie jedoch dort standen und keine Heilung erfuhren, wollten sie sich wegen eines Geistlichen zurückziehen, aber sie störten damit die Kirche und den Gottesdienst sehr. Der Priester sagte zu ihnen: ‚Wollt ihr geheilt werden, damit ihr selbst gehen und Heilung und Genesung 165 <?page no="166"?> 52 Pedibus timor addidit alas. Die gesamte Geschichte [Übersetzung: JB] findet sich in: The Exempla or illustrative stores from the sermones vulgares of Jacques de Vitry, edited with introduction, analysis, and notes by Thomas Frederick C R A N E , London 1890, No. 254, S. 107. S. zudem zum Pilgerverständnis Jakobs von Vitry in dessen Predigten Debra J. B I R C H , Jacques de Vitry and the Ideology of Pilgrimage, in: Pilgrimage Explored, hg. von J. S T O P F O R D , York 1999, S.-79-93. 53 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Darlegungen in B U R K H A R D T , Die Wall‐ fahrt (wie Anm.-7), S.-39-40. 54 Zur Legenda aurea vgl. Jacques L E G O F F , In search of sacred time: Jacobus de Voragine and the Golden legend. Transl. by Lydia G. Cochrane, Princeton, NJ 2014; Reglinde R H E I N , Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Die Entfaltung von Heiligkeit in „Historia“ und „Doctrina“ (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 40), Köln/ Weimar/ Wien 1995; De la sainteté à l’hagiographie. Genèse et usage de la „Légende dorée“, hg. von Barbara F L E I T H / Franco M O R E N Z O N I (Publications romanes et françaises 229), Genf 2001; Alain B O U R E A U , La légende dorée: le système narratif de Jacques de Voragine (†-1298) (Histoire), Paris 1984. 55 Zur Geschichte des Klosters Oetenbach vgl. die Beiträge von Sabine V O N H E U S I N G E R , Regine A B E G G , Hans-Jochen S C H I E W E R , Wolfram S C H N E I D E R -L A S T I N und Johanna T H A L I , laufen könnt? ‘ Sie antworteten: ‚Das wollen wir, Herr.‘ Daraufhin sagte der Priester: ‚Werft eure Krücken hin.‘ Als sie das getan hatten, sagte er: ‚Wartet ein bisschen, bis ein Feuer entfacht ist; dann werden wir denjenigen von euch, der stärker gelähmt ist, verbrennen, und mit seiner Asche den Körper der anderen zur Heilung bedecken.‘ Jeder von ihnen aber fürchtete sich so, dass er - wenn er stärker gelähmt war als die anderen - verbrannt würde; und alle ergriffen gleichzeitig die Flucht, und nicht ein einziger von ihnen blieb zurück, der ohne seine Krücke nicht von dem Ort hätte weggehen können. „Den Füßen aber,“ so bilanziert Jakob von Vitry spöttisch, „verleiht die Furcht Flügel“ 52 . Die von den Pilgern ersehnte Gesundung erfolgt also nicht als Lohn für eine intensive innere Hinwendung; stattdessen gibt Jakob von Vitry seinen Lesern und Zuhörern eine andere Botschaft mit auf den Weg: Heilung als Schockerlebnis infolge göttlicher Gnade. Ganz anders dagegen das Beispiel einer geistigen Pilgerfahrt, welches un‐ gefähr zeitgleich der Dominikaner Jakob von Voragine (ca. 1228/ 29-1298) in seiner berühmten Legenda aurea, einer Sammlung von Heiligengeschichten, niederschrieb 53 . Auch bei Jakob geht es um die Heilung einer versehrten Person, konkret: einer mobilitätseingeschränkten Nonne aus dem Zürcher Dominika‐ nerinnenkloster Oetenbach 54 . Die religiöse Frau litt an einer so schweren Gicht im Knie, dass daran ihr Vorhaben, zum Grab des heiligen Petrus Martyr OP (Petrus von Verona/ Mailand, gest. 1252) in Mailand zu pilgern, zu scheitern drohte 55 . Erschwerend kam hinzu, dass das Gehorsamsgelübde ihr jegliche 166 Julia Burkhardt <?page no="167"?> in: Bettelorden, Bruderschaften und Beginen in Zürich: Stadtkultur und Seelenheil im Mittelalter, hg. von Barbara H E L B L I N G / Magdalen B L E S S -G R A B H E R / Ines B U H O F E R (Beiträge zur Hagiographie 3), Zürich 2002. S. außerdem Martina W E H R L I -J O H N S , Art. „Oetenbach“ in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) (2012), online unter: https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 012993/ 2012-10-25/ (30. August 2022); sowie Annemarie H A L T E R , Geschichte des Dominikanerinnen-Klosters Oetenbach in Zürich 1234-1525, Winterthur 1956. Zum Kult des Petrus Martyr s. Donald P R U D L O , The Martyred Inquisitor. The Life and Cult of Peter of Verona († 1252) (Church, faith and culture in the medieval West), Aldershot 2008, bes. S.-71-168. 56 Jacobus de Voragine, Legenda aurea. Goldene Legende. Iacopo da Varazze, Legendae sanctorum. Legenden der Heiligen. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. H Ä U P T L I (Fontes Christiani, Sonderband, Teil 1), Freiburg/ Basel/ Wien 2014, S. 864-899, hier 892: Cum istas mentales diaetas taliter coepit facere, successive semper et paulatim coepit melius se habere. At ubi ultimam diaetam perfecit et ad tumbam mentali gressu pervenit, flexis genibus, ac si praesentaliter coram tumba astaret, psalterium cum devotione maxima totum legit. Quo expleto ab illa infirmitate adeo liberatam se sensit, ut iam inde modicum quid sentiret. Rediens vero eodem modo, quo iverat, antequam omnes diaetas explevisset, penitus est sanata. Reisen untersagte. Pragmatisch fand sie deshalb eine Alternativlösung: Sie kalkulierte die Reisezeit von Oetenbach nach Mailand - eine Strecke von etwas mehr als 300 km - mit 14 Tagesreisen. Da sie aufgrund ihrer Erkrankung ja nicht gehen konnte, mithin immobil war, beschloss sie, für jeden Reisetag 100 Vaterunser zu sprechen: anstelle der 14 von ihr berechneten Reisetage ergaben sich so also insgesamt 1.400 Gebete zu Ehren von Petrus Martyr. Diese „fromme Reise“ wird im Text treffend als mentales dietae, als „geistige Tagereisen“ gewürdigt: Als sie diese geistigen Tagereisen so zurückzulegen begann, fühlte sie sich allmählich immer besser und besser. Doch als sie die letzte Tagereise hinter sich hatte, geistig zum Grabmal [von Petrus Martyr] schritt, niederkniete und, wie wenn sie persönlich vor dem Grabmal wäre, in tiefster Andacht den ganzen Psalter las, fühlte sie sich, als sie zu Ende war, von jenem Leiden so erlöst, daß sie es von da an nur noch schwach spürte. Doch als sie auf dieselbe Weise heimkehrte, wie sie gekommen war, wurde sie, bevor sie alle Tagereisen hinter sich hatte, völlig geheilt 56 . Dieser Zusammenhang ist bemerkenswert und weist interessante Parallelen zu einem Krankheitsverlauf auf: Die imaginierte Wallfahrt treibt die Beschwerden erst auf einen krisenhaften Höhepunkt, der die Pilgerin an den Rand der Belast‐ barkeit bringt; dann aber erfolgt die Heilung vorzeitig, also noch vor dem Ende der ursprünglich geplanten Gesamtreise. Der „Gebetsweg“ selbst wird von der „innigen Andacht“ (devotio sedula) der Nonne geschaffen. Mit fortschreitender Reise bessert sich sowohl ihr seelischer als auch ihr körperlicher Zustand - auf Heilung und Genesung 167 <?page no="168"?> 57 S. zur Biographie Geilers von Kaysersberg Rita V O L T M E R , Wie der Wächter auf dem Turm: ein Prediger und seine Stadt. Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510) und Straßburg (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 4), Trier 2005, besonders S. 132- 156, sowie Uwe I S R A E L , Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510): der Straßburger Münsterprediger als Rechtsreformer (Berliner historische Studien 27), Berlin 1997, besonders S. 38-177. Zu Geilers von Kaysersberg Pilgerverständnis s. zudem Volker H O N E M A N N , Geiler von Kaysersberg und das Pilgern, in: H E R B E R S / R Ü C K E R T , Pilgerheilige (wie Anm.-26), S.-165-203. 58 Kritische Edition: Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke. Erster Teil: Die deutschen Schriften. Erste Abteilung: Die zu Geilers Lebzeiten erschienen Schriften. Erster Band, hg. von Gerhard B A U E R (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), Berlin/ New York 1989, S. 141-152, Zitat 147; s. zur unikalen Überliefe‐ rung des Textes ebd., S. 512-517. Offenbar verfasste Geiler von Kaysersberg den Text auf Grundlage der Jean Gerson zugeschriebenen Schrift „Le Pèlerinage spirituel“ (um 1400? ) (vgl. dazu ebd., S. 148: und gezogen uß der lere Johannis Gerson etwan cantzler zů Paryß. der diß also gesetzt hot in dem Jubel jar. das do was als ich meyn do man zalt mehreren Ebenen führt die geistige Pilgerfahrt also zum Heil im Sinne einer vollkommenen spirituellen und körperlichen Heilung. 3. Innere Wertigkeit und äußerer Wert: Stimmen zur Wirksamkeit geistigen Pilgerns Die Geschichte der Oetenbacher Nonne, die freilich mit explizitem Beispielcha‐ rakter für die geistige Unterweisung formuliert ist, gehört zum raren Bestand früher Quellen, die über die individuelle Heilsteilhabe bei einer geistigen Pilgerfahrt und somit die unmittelbare Wirksamkeit dieser Reise informieren. Es scheint also, als ob auch durch geistiges Pilgern Heil sowie Genesung erwirkt werden konnten. Beinahe unweigerlich lenkt diese Beobachtung den Blick auf weitere Beispiele für geistige Pilgerfahrten ebenso wie auf zeitgenössische Umgangsformen damit: Welchen Stellenwert hatten geistige Pilgerfahrten? Inwieweit wurden sie als alternative Frömmigkeitsform wahrgenommen und akzeptiert? Eine Annäherung an diese Fragen ermöglicht die Ausgestaltung eines bislang wenig beachteten Beispiels für geistige Pilgerfahrten: der „Geistlichen Rom‐ fahrt“ des berühmten Straßburger Theologen Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510) 57 . Bei dem 1500 anlässlich des Heiligen Jahres veröffentlichten, deutschsprachigen Text (Originaltitel: Eyn geistlich romfart jübel jor so ein Christner mönsch mag thůn) handelt es sich um eine Predigt, mit der Geiler von Kaysersberg seine Zuhörer oder Leser, die nicht nach Rom kommen konnten (der ursach halben nit gen Rom kummen kann), zu einer geistigen Pilgerreise anleiten wollte 58 (Abb. 1). Mithilfe seiner Anweisungen sollten sich Rezipienten 168 Julia Burkhardt <?page no="169"?> xiii.-c.). S. zum Text E. V A N S T E E N B E R G H E , Quelques écrits de Jean Gerson (textes inédits et études), in: Revue des sciences religieuses 14,3 (1934), S. 370-395, besonders 387-391. S. zudem die Interpretation bei M I E D E M A , Rompilgerführer (wie Anm. 4), S. 452-453, sowie M I E R K E , Stadt im Kopf (wie Anm. 5), S. 155-156. Dazu auch der Beitrag von Berndt H A M M in diesem Band. 59 Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke I (wie Anm. 58), S. 147: Er zalet wie vil myle gen Rom sindt. und in wie vil tagen er dar und dannen go˂n˃ mocht. und so findt er das hinnen von Straßburg biß gen Rom sindt C.xlvij. myl/ die mag man hin ein gon in .xxj. tagen wen er all tag get .vij. frantzosischer myle oder unser mylen. Und bleibt dynnen .vij. tag die heiligen kirchen zů besehen. Und her ußzegan aber .xxj tag das wurden zů samen funfftzig tag/ die zal des Jubeljor. S. jedoch auch ebd., S. 151, den selbstkritischen Einwand des Autors, dass er die genaue Meilenzahl zwischen Straßburg und Rom nicht kenne und sie deshalb lediglich gemutmaßt habe. 60 Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke I (wie Anm. 58), S. 148: Zum andren das er .vij. wochen oder .l tag ˂f˃ur sich nem und alle tag bett fur yetliche myl. ein pater noster das sind siben pater noster all tag und die zů unterscheidnen und bestimten zyten oder stunden. noch dem ym das allerfuglichest ist. und ouch zů merer andacht gedienen mag/ und zů dickerer bedenkcunge syner bilgerfart Der er sich underwunden hat. 61 Ebd., S.-149. und Rezipientinnen in Straßburg auf geistige Weise zu den heiligen Stätten Roms begeben. Praktisch ging Geiler von Kaysersberg übrigens ähnlich wie die Oetenbacher Nonne in der Legenda aurea vor: Er riet dazu, die Wegstrecke von Straßburg nach Rom zu kalkulieren (147 Meilen in seiner Rechnung) und in Hin- und Rückreise (jeweils à ca. 21 Tage bei sieben Meilen pro Tag) sowie eine Ver‐ weildauer in Rom (sieben Tage) aufzuteilen 59 . Die geistigen Pilger hatten folglich eine großzügig mit 50 Tagen veranschlagte Gesamtdauer einzuplanen. Diese Gesamtdauer rechnete Geiler von Kaysersberg pragmatisch um, so dass die geistigen Pilger an jedem Tag sieben Vaterunser zu festgelegten, ihnen persön‐ lich genehmen Zeiten (empfohlen wurden die Zeiten der Stundengebete) zu sprechen hatten 60 . Deutlich ist im Text der Seelsorger Geiler von Kaysersberg zu erkennen, der sich um das Wohlbefinden der ihm anvertrauten Gläubigen und den möglichst exakten seelisch-sensorischen Nachvollzug der Reise kümmert: So könnten die geistigen Pilger nach jedem Vaterunser zu Gott aufseufzen und beten und sollten sich nicht mit Gebeten überladen; die Kommunikation mit Gott sei auch mit kurzen Worten oder gar on wort möglich, sofern die erforderliche Grundmenge an Gebeten geleistet würde. 61 Wo genau in Straßburg die Gebetsleistungen der Hin- und Rückfahrt zu erbringen waren, erfährt man nicht; wohl aber, dass die geistigen Pilger nach Absolvieren der ersten 21 Tage, also der Hinreise, sieben Tage Zeit für den Besuch der sieben römischen Hauptkirchen hatten, für die ersatzweise Kirchen in Straßburg genannt werden: Der städtische Raum Straßburgs wurde so zum Ersatzhorizont für das ersehnte Pilgerziel Rom, Heilung und Genesung 169 <?page no="170"?> Abb. 1: Pilger auf der geistigen Romfahrt. Johannes Geiler von Kaysersberg, Eyn geistlich romfart … (HAB Wolfenbüttel A: 1282.17 Theol.(2), S.-1) 170 Julia Burkhardt <?page no="171"?> 62 Ebd., S. 150. S. dazu auch Leonie V O N W I L C K E N S , Die Kleidung der Pilger, in: Wallfahrt kennt keine Grenzen. Themen zu einer Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums und des Adalbert Stifter Vereins, München, hg. von Lenz K R I S S -R E T T E N B E C K / Gerda M Ö H L E R , München/ Zürich 1984, S.-174-180. 63 Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke I (wie Anm.-58), S.-151. 64 Johannes Geiler von Kaysersberg, Eyn geistlich romfart jübel jor …, Strassburg: Hupfuff, nicht vor 18.V.1500, S. 1. HAB Wolfenbüttel <A: 1282.17 Theol. (2)> Online unter: htt ps: / / diglib.hab.de/ drucke/ 1282-17-theol-2s/ start.htm (30.-August 2022). Bauer verweist (unter Bezug auf die Befunde Wilhelm Schreibers) darauf, dass dieser Holzschnitt offenbar auch zur Illustration anderer Pilgertexte verwendet wurde, was die mangelnde Spezifizierung erklären würde: Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke I (wie Anm. 58), S. 513, Anm. 4. Zu bildlichen Pilger-Darstellungen s. erneut V O N W I L C K E N S , Die Kleidung (wie Anm.-62). 65 Vgl. für die folgenden Überlegungen B U R K H A R D T , Die Wallfahrt (wie Anm. 7), S. 45-46. und ähnlich wie „reale“ (also physische) Rompilger sollten folglich auch die geistigen Pilger in Straßburg während des siebentägigen Aufenthalts Messen besuchen und Andacht halten. Geiler von Kaysersberg beließ es aber nicht bei einer eigenen Chronologie und Choreographie der geistigen Wallfahrt, er be‐ dachte auch körperliche Aspekte: Neben dem erwähnten sensorischen Emp‐ finden der Gebete sollten die Straßburger Pilger wie „echte“ Wallfahrer fasten, sich in Enthaltsamkeit üben und ihre Kleidungssowie Waschgewohnheiten einschränken 62 . Der Text endet mit einem problembewussten Blick auf die Wirksamkeit der Pilgerfahrt: Geiler von Kaysersberg bittet Gott, dass jeder Mensch, der seine geistliche Romfahrt recht und gar vollenbringt einen großen abloß siner sunden erhält 63 . Obgleich er vom Nutzen der geistigen Romfahrt überzeugt ist, ist sich der Prediger offenbar nicht sicher, dass die geistigen Pilger denselben Lohn erhalten wie die Pilger, die Rom persönlich besucht haben: eine in Form des Ablasses institutionalisierte Anerkennung ihrer Teilnahme. Erkennbar wird im Text also zwischen physischer und geistiger Pilgerfahrt und der damit verbundenen Chance auf Heilspartizipation differenziert. Interessanterweise spiegelt sich dieser Unterschied in dem Titelbild des Werkes bildlich nicht wider: Der Holzschnitt zeigt vor einem Kirchengebäude einen Pilger mit zeittypischen Attributen: Stock, Hut, Rosenkranz, und zeigt damit keinen markanten Unter‐ schied zu üblichen Ikonographien „physischer“ Pilger auf (Abb.-1) 64 . Ein Grund könnte daran bestehen, dass sich geistige Pilgerfahrten im Laufe des 15. Jahrhunderts längst in weiten Teilen Europas als alternative Frömmig‐ keitspraxis etabliert hatten 65 : Sie boten eine individuelle Andachtsform, die durch das proaktive Nachempfinden einer physischen Pilgerreise (beispiels‐ weise mittels Gebeten, Gesten, sensorischer Nachempfindung oder bestimmten Medien und Orten) durchaus dieselbe Gültigkeit wie eine reale Pilgerfahrt Heilung und Genesung 171 <?page no="172"?> 66 M I E D E M A , Rompilgerführer (wie Anm. 4); R U D Y , Virtual pilgrimages (wie Anm. 4); Kathryn M. R U D Y , Cloistered Women’s Strategies for Taking Mental Pilgrimages in Northern Europe, in: Pilgrimage and faith: Buddhism, Christianity and Islam, hg. von Virginia R A G U I N / Dina B A N G D E L , Chicago 2010, S. 191-192; Kathryne B E E B E , The Jerusalem of the Mind’s Eye: Imagined Pilgrimage in the Late Fifteenth Century, in: Visual Constructs of Jerusalem, hg. von Bianca K Ü H N E L / Galit N O G A -B A N A I / Hanna V O R H O L T (Cultural encounters in late antiquity and the Middle Ages 18), Turnhout 2014, S.-409-420. 67 Für einen Überblick über religiöse Reformen im 15. Jahrhundert vgl. die kritische Bibliographie bei James D. M I X S O N , Religious Life and Observant Reform in the Fifteenth Century, in: History Compass 11 (2013), S. 201-214, online unter: http: / / onlinelibrary. wiley.com/ doi/ 10.1111/ hic3.12041/ abstract (30.-August 2022). S. zudem die Beiträge in: A companion to observant reform in the late Middle Ages and beyond, hg. von James D. M I X S O N / Bert R O E S T (Brill’s companions to the Christian tradition 59), Leiden 2015. 68 Gabriela S I G N O R I , Cell or Dormitory? Monastic Visions of Space amidst the Conflict of Ideals, in: The Journal of Medieval Monastic Studies 3 (2014), S. 21-49; Annette K E R N -S T Ä H L E R , Zur Klausur von Nonnen in englischen Frauenklöstern des späten Mittelalters: die Lincolner Visitation Returns 1429-1449, in: Studien und Texte zur literarischen und materiellen Kultur der Frauenklöster im Mittelalter: Ergebnisse eines Arbeitsgesprächs in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 24.-26. Febr. 1999, hg. von Falk E I S E R M A N N / Eva S C H L O T H E U B E R / Volker H O N E M A N N (Studies in Medieval and Reformation Thought 99), Leiden 2004, S. 103-118; Jürgen S Y D O W , Sichtbare Auswirkungen der Klosterreform des 15. Jahrhunderts: Beobachtungen an historischen Quellen südwestdeutscher Klöster: Das Beispiel Blaubeuren, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 11 (1992), S.-209-221. beanspruchte. Wie die eingehenden Studien von Nine Miedema, Kathryn Rudy oder Kathryne Beebe gezeigt haben, betreffen die meisten Beispiele virtuelle Reisen nach Rom oder Jerusalem und stammen aus klösterlichen Kontexten in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden 66 . Häufig ist zudem ein Zusammenhang mit Reformbewegungen zu konstatieren, die eine moralische, physische und emotionale Imitation Christi und mithin eine dezidierte Verin‐ nerlichung des Glaubens eingefordert hatten 67 . Besondere Relevanz konnte das bei Gemeinschaften gewinnen, die nach dem Prinzip der Weltabgewandtheit organisiert waren: Der baulichen Abgrenzung ihrer Klöster nach außen entspra‐ chen auch im Innern sichtbare Begrenzungen für vollkommene Kontemplation, innere Hingabe und geistige Askese 68 . Wie das Beispiel der „Geistlichen Romfahrt“ Geilers von Kaysersberg gezeigt hat, wurden geistige Reisen aber durchaus nicht nur in Klöstern durchgeführt: Sie konnten ebenso im Kontext von Bruderschaften oder in urbanen Räumen stattfinden. Hier fungierten häufig Erfahrungsberichte physischer Pilger als Orientierung oder Anleitung, die dann freilich auf die spezifischen Handlungs‐ 172 Julia Burkhardt <?page no="173"?> 69 S. für ausgewählte Beispiele die Studien von: Hanneke V A N A S P E R E N , ‚As if they had physically visited the holy places’. Two Sixteenth-century Manuscripts Guide a Mental Journey through Jerusalem (Radboud University Library, Mss 205 and 233), in: The Imagined and Real Jerusalem in Art and Architecture, hg. von Jeroen G O U D E A U / Mariëtte V E R H O E V E N / Wouter W E I J E R S (Radboud studies in humanities 2), Leiden/ Boston 2014, S. 192-214; Kathryn Blair M O O R E , The Disappearance of an Author and the Emergence of a Genre: Niccolò da Poggibonsi and Pilgrimage Guidebooks between Manuscript and Print, in: Renaissance Quarterly 66,2 (2013), S. 357-411; Marianne P. R I T S E M A V A N E C K , The Holy Land in Observant Franciscan Texts (c. 1480-1650). Theology, Travel, and Territoriality (The Medieval Franciscans 17), Leiden/ Boston 2019, bes. S.-54-62. 70 S. dazu bereits ausführlicher B U R K H A R D T , Die Wallfahrt (wie Anm. 7), S. 53-57, sowie die in den folgenden Anmerkungen angegebene Literatur. 71 Grundlegend dazu: Kathryne B E E B E , Pilgrim & Preacher: The Audiences and Obser‐ vant Spirituality of Friar Felix Fabri (1437/ 8-1502), Oxford 2014. S. zudem Kathryne B E E B E , Journey, Geography, and Time in Felix Fabri’s Sionpilger, in: Deutsche Viertel‐ jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 93,4 (2019), S. 431-448; Kathryne B E E B E , Reading Mental Pilgrimage in Context: The Imaginary Pilgrims and Real Travels of Felix Fabri’s „Die Sionpilger“, in: Essays in Medieval Studies 25 (2008), S. 39-70; Jacob K L I N G N E R , Reisen zum Heil. Zwei Ulmer „Pilgerfahrten im Geiste“ vom Ende des 15. Jahrhunderts, in: Literarische Räume. Architekturen - Ordnungen - Medien, hg. von Martin H U B E R / Christine L U B K O L L / Steffen M A R T U S / Yvonne W Ü B B E N , Berlin 2012, S. 59-73; Jacob K L I N G N E R , ,Just say happily: „Felix said so“, and you’ll be in the clear! ‘ Felix Fabri OP (c. 1440-1502) Preaching Monastic Reform to Nuns, in: Medieval Sermon Studies 46 (2002), S. 42-56; Klaus H E R B E R S , Felix Fabris „Sionpilgrin“ - Reiseschilderung und ältester Kirchenführer Ulms. Ein Beitrag der Reichsstadt Ulm zur Pilgerliteratur des 15. Jahrhunderts, in: Die oberdeutschen Reichsstädte und ihre Heiligenkulte, hg. von Klaus H E R B E R S , Tübingen 2005, S. 195-215. Textedition: Felix Fabri, Die Sionpilger. hg. von Wieland C A R L S (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 39), Berlin 1999, hier S. 77: Das ze vlm in dem brediger closter ain bruder sy der ain priester prediger vnd in der hailigen geschrift vol vnderricht ist der ennet dem mer das hailig land vnd die hailigen stett durch sehen hab So wirt er angelanget von denen closterlúten vnd von andren gaistlichen personen vnd andechtigen kindern Das er yna geb die hailig bilgerfahrt von ainer tagraiß zu der andren […] so wellin sy ab der lyblichen bilgerfart ain form nehmen der gaistlichen bilgerfart das sy múgent in iren clostern clusen samnungen vnd húsern in ir gehorsame beliben aun vß schwaiffung vnd die räume und Bedürfnisse geistiger Pilger abgestimmt wurden 69 . Nur knapp sei an dieser Stelle auf das wohl berühmteste Beispiel eines erfahrenen Jerusalem‐ pilgers verwiesen, der seine Reiseeindrücke zunächst detailliert aufschrieb und dann dezidiert für virtuelle Wallfahrten adaptierte und nutzbar machte 70 : Der Ulmer Dominikaner Felix Fabri (1437/ 38-1502) verfasste um 1490 mit den sogenannten „Sionpilgern“ eine deutschsprachige Anleitung für eine virtuelle Pilgerreise zu den Wallfahrtsorten in Jerusalem, Rom und Santiago de Compos‐ tela - die Nutzerinnen und Nutzer des Fabri’schen Konzepts konnten also gleich mehrere spirituell attraktive Ziele erreichen 71 . Heilung und Genesung 173 <?page no="174"?> fricht der bilgerfart empfachen vnd der andacht der hailigen stetten aun lyblich besuchung enpfinden. 72 S. dazu S C H R E I N E R , ‚Peregrinatio laudabilis‘ (wie Anm. 32) sowie M I E D E M A , Rompilger‐ führer (wie Anm.-4), bes. S.-462. 73 Zur Bursfelder Kongregation seien aus der Fülle der Literatur auf jüngere Publika‐ tionen verwiesen: Pius E N G E L B E R T , Die Bursfelder Kongregation: Werden und Unter‐ gang einer benediktinischen Reformbewegung, in: 925 Jahre Kloster Bursfelde - 40 Jahre Geistliches Zentrum Kloster Bursfelde, hg. von Thomas K A U F M A N N N / Rüdiger K R A U S E , Göttingen 2020 S. 83-101; Andreas R Ü T H E R , Alternative - Option - Votum? Verbandsbildung, Statutengebung und Visitationsverfahren in Benediktinerkonventen der Bursfelder Kongregation, in: Entscheidungsfindung in spätmittelalterlichen Ge‐ meinschaften, hg. von Wolfgang Eric W A G N E R , Göttingen 2022, S. 38-61; künftig auch Julia B U R K H A R D T / Iryna K L Y M E N K O , Zwischen Eigenverantwortung, Normierung und Kontrolle: Vigilanz als soziale Praxis in Klöstern der Bursfelder Kongregation (ca. 1440-1540), in: Sprachen der Wachsamkeit, hg. von Magdalena B U T Z / Felix G R O L L M A N N / Florian M E H L T R E T T E R (im Druck). 74 S. zum Kontext Hartmut K Ü H N E , Raimund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass in Deutschland. Zwei unbekannte Drucke, in: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, hg. von Enno B Ü N Z / Hartmut K Ü H N E , Leipzig 2015, S. 429-470 sowie Nikolaus P A U L U S , Das Erfurter Jubiläum vom Jahre 1451, in: Zeitschrift für katholische Theologie 23,1 (1899), S.-181-185. 75 Chronicon ecclesiasticum Nicolai de Siegen, hg. von Franz X. W E G E L E (Thüringische Geschichtsquellen 2), Jena 1855, S. 479: Si vero quis contradixisset, sentenciam excom‐ municacionis vis evasisset. S. zum Werk auch Paul Gerhard S C H M I D T , Das Chronicon Ecclesiasticum des Nikolaus von Siegen. Monastische Geschichtsschreibung um 1500, in: Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung in der Renaissance, hg. von August B U C K / Tibór K L A N I C Z A Y / Katalin S. N É M E T H , Budapest 1989, S. 77-84. S. zudem M I E D E M A , Rompilgerführer (wie Anm.-4), S.-442. Die zunehmende Popularität der geistigen Pilgerfahrten im 15. Jahrhundert lässt sich aber nicht nur an der wachsenden Quellenbasis ablesen, sondern auch an der zeitgenössischen Kritik und institutionellen Auseinandersetzung damit 72 . Einigen Geistlichen wie beispielsweise dem Benediktiner Nicolaus von Siegen, einem der profiliertesten Vertreter der Bursfelder Reform-Kongregation, missfiel der Trend zu „Ersatz-Pilgerfahrten“ 73 . Gleich zweimal, 1451 und 1488 nämlich, wurde Erfurt, wo sich auch Nicolaus‘ heimisches Kloster befand, zu einer päpstlich approbierten Stellvertreterstätte für eine Pilgerfahrt nach Rom 74 . Das bedeutete, dass die Einwohner an genau definierten Orten in der Stadt beichten sowie beten und dafür einen Ablass erhalten konnten. In seinem Chronicon Ecclesiasticum beschrieb Nicolaus von Siegen die im Kontext der Romfahrt von 1488 praktizierten öffentlichen Rituale kritisch und notierte, wo die Gläubigen Geld spenden konnten bzw. sollten. „Hätte irgendjemand widersprochen, bemerkte er konsterniert, hätte er dem Urteil der Exkommu‐ nikation kaum entkommen können“ 75 . In der Praxis, frei einen Beichtvater 174 Julia Burkhardt <?page no="175"?> 76 W E G E L E , Chronicon ecclesiasticum (wie Anm. 75), S. 479: Quilibet potuit et potest sibi eligere confessorem ad placitum quemcunque elegisset, et tunc et in futurum. Audivi a quodam prelato, quod ista confessionalia multis in periculum et in multarum animarum pericula cederent. Dixit quidam notabilis predicator: Iam dicunt seculares et clerici concubinarii: iam volumus audacter et libere peccare, quia de facile absolví possumus. Eigene Übersetzung. 77 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die ausführlicheren Darlegungen in B U R K H A R D T , Die Wallfahrt (wie Anm.-7), S.-59-61. 78 Zu Ursula Haider vgl. Bert R O E S T , Female Preaching in the Late Medieval Franciscan Tradition, in: Franciscan Studies 62 (2004), S. 119-154, bes. 143-145; Monika G E I S S E R , Von der Turteltaube und dem Fisch, der auf der Glut lag: Eine Annäherung an die Mystikerin Ursula Haider, in: Schwierige Frauen - schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters, hg. von Alois H A A S / Ingrid K A S T E N , Bern 1999, S. 249-266, sowie in B U R K H A R D T , Die Wallfahrt (wie Anm.-7), genannte weitere Literatur. 79 Chronik des Bickenklosters zu Villingen 1238-1614, hg. von Karl Jordan G L A T Z (Biblio‐ thek des literarischen Vereins in Stuttgart 151), Tübingen 1881, Kapitel 16, S. 38-41, hier 41: Durch alle sachen war sie zum maisten beladen, und dis darumb, damit der junge convent könde desto bösser gott dienen mit versamleten und abgeschaitnen herzen, und auch den gottsdienst desto leichter in sich fassen und erlernen, damit der selbig hinfüran in kain abgang mer keme, sonder alle zeit von ainer zue der anderen gefürtert, gelehrt und gemehret werde. wählen und sich dann überall offenbaren zu können, erkannte Nicolaus gar eine konkrete Gefahr für die Gläubigen: „Schon sagen die weltlichen und geistlichen Ehebrecher: ‚Nun wollen wir furchtlos und frei sündigen, weil es so leicht ist, von unseren Sünden freigesprochen zu werden“ 76 . Die Kritik des Nicolaus von Siegen richtete sich auch gegen die päpstliche Approbation der Stellvertreterwallfahrten, die sich in der Ausgabe von Ablässen und der Präsenz entsprechend befugter Legaten offenbarte. Was dem rigiden Reformer zu nachlässig war (nämlich die Anerkennung von dazu ausgewiesenen Stellvertreter-Orten als legitimer, durch einen Ablass institutionell belegter Ersatz für den Besuch anderer Wallfahrtsorte), sorgte andernorts allerdings für Stabilität und Verlässlichkeit - gerade was die Heils‐ erwartung an eine geistige Pilgerfahrt betraf. Das ist besonders gut am Beispiel des Villinger Klarissenklosters zu erkennen, das abschließend kurz vorgestellt werden soll 77 . Hier verantwortete in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert die Äbtissin Ursula Haider (1413-1498) eine umfassende Reform des Konvents 78 , der fortan einer strengen Klausur und einer rigorosen Regelauslegung unterworfen war. Wie der Chronik des Klosters zu entnehmen ist, galten die neu etablierte Abschottung und bedingungslose Disziplin als Voraussetzungen für das geistige Funktionieren der Gemeinschaft 79 . In diesem Kontext schuf Ursula Haider auch eine allegorische Ausdeutung des Klostergebäudes, um mittels eines asketischen und kontemplativen Glaubens die Nonnen vor den Verlockungen der Welt Heilung und Genesung 175 <?page no="176"?> 80 Ebd., Kapitel 16, S. 38-41, hier 39: […] damit sie nimer ursach hetten, an was ort sie waren, an die welt oder weltliche sachen zue gedenken, sondern zue allen zeiten ein guete betrachtung könden im herzen dragen. S. dazu auch Marie-Luise E H R E N S C H W E N D T N E R , Jerusalem behind Walls: Enclosure, Substitute Pilgrimage, and Imagined Space in the Poor Clares’ Convent at Villingen, in: The Medieval Journal 3 (2013), S.-1-38. 81 M I E D E M A , Rompilgerführer (wie Anm. 4), S. 433; vgl. auch die Beschreibung in der G L A T Z , Chronik des Bickenklosters (wie Anm. 79), Kapitel 23, S. 66-68, hier 66 f.: In dem jar Christe 1489 war ein gar großes jubileum ußgangen von dem päpstlichen stuel zue Rom, dergleichen in vil jaren nie geschehen. Und disse große gnadt war auch der statt Villingen verkindt […]. Zu den Jubiläumsablässen s. die zu Erfurt genannten Titel sowie Nikolaus P A U L U S , Geschichte des Ablasses im Mittelalter. Band 3: Geschichte des Ablasses am Ausgange des Mittelalters, Paderborn 1932, S.-180-194. 82 M I E D E M A , Rompilgerführer (wie Anm.-4), S.-427-428. 83 G L A T Z , Chronik des Bickenklosters (wie Anm. 79), Kapitel 25-30, S. 71-87, hier S. 78: Als nun unser allerheiligster vatter, papst Innocentio der achtet, die demüetig suplication las, war ir heiligkeit in so großer miltigkeit gleich uf die selbige stund gegen uns armen kindern geneigt, dass er gleich im selbigen puncten us überflüssiger gnadt und lauter güetigkeit seiner heiligkeit guetwilligklich verlihe und gab alle die gnadt und ablas der süben gefreüten kirchen, welche man nent die 7 hauptkirchen, mit allen andern römischen kirchen an allen dagen, so zue Rom station ist, und darzue uf den selben dag alle die gnadt und ablas, so zue Jerusalem im heiligen erterich und ganzen geloptem landt ist. Vgl. auch ebd., Kap. 33, S. 92-97 sowie das Regest bei Karl Jordan G L A T Z , Auszüge aus den Urkunden des Bickenklosters in Villingen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 32 (1880), S.-274-308, hier 298-299. zu schützen. Mit diesem Verständnis korrespondierte auch das von Ursula Haider entwickelte Konzept für eine geistige Pilgerfahrt, die im Klosterareal zu absolvieren war 80 . Um die Heilswirksamkeit dieses Konzepts sicherzustellen, bemühte sich Ursula Haider bei Papst Innozenz VIII. (1432-1492, Papst seit 1484) um das Vorrecht, die Ablässe, die im Zusammenhang mit dem Besuch der heiligen Stätten in Rom und Palästina erworben werden konnten, auch im Villinger Konvent erhalten zu können. Die Grundlage dafür bildete ein Beschluss aus dem Jahr 1489, welcher die Stadt Villingen mit dem Privileg ausstattete, „für eine kurze Zeit die Ablässe Roms in ihrer Heimatstadt erwerben zu können“; in vergleichbarer Weise war das auch in Erfurt geschehen 81 . Ursula Haider erreichte zunächst, dass die Klarissen von Villingen genau wie die Stadtgemein‐ schaft für einen bestimmten Zeitraum die Ablässe der sieben Hauptkirchen Roms erhalten könnten 82 . 1491 schließlich gewährte Papst Innozenz VIII. den Villinger Schwestern einen Ablass zu folgenden Bedingungen: Würden sie geistig eine Pilgerreise nach Rom oder Jerusalem nachvollziehen, sollten sie einen vollständigen Ablass erhalten: Die Analogie zur physischen Pilgerfahrt war offiziell hergestellt 83 . 176 Julia Burkhardt <?page no="177"?> 84 Später übertrug man diese Benennungen auf steinerne Tafeln, von denen sich einige erhalten haben, s. dazu Renate S T E G M A I E R -B R E I N L I N G E R , „Die hailigen Stett Rom und Jerusalem.“ Reste einer Ablaßsammlung im Bickenkloster in Villingen, in: Freiburger Diözesan-Archiv 91 (1971), S. 176-201. Vgl. außerdem die Beschreibung in der G L A T Z , Chronik des Bickenklosters (wie Anm. 79), Kapitel 31-32, S. 87-92, sowie R U D Y , Virtual Pilgrimages (wie Anm. 4), S. 235-238, und E H R E N S C H W E N D T N E R , Jerusalem (wie Anm. 80). Ursula Haider und ihre Schwestern begannen sodann, mittels eines Pilger‐ führers eine Liste mit potentiellen Zielorten zusammenzustellen. Sie definierten insgesamt 210 Orte rund um das Leben und die Passion Christi, zu Themen aus dem Alten Testament, dem Leben Marias oder aber bestimmten Kirchen in Rom und Jerusalem. Diese Orte wurden auf kleinen Zetteln notiert, mit Gebetsanwei‐ sungen versehen und im Klosterareal verteilt. Mit der feierlichen Weihe im Jahr 1491 waren schließlich alle Rahmenbedingungen für die geistige Romfahrt in Villingen geschaffen 84 . Fortan konnten die Teilnehmerinnen hier durch Rom und Jerusalem pilgern, wobei (vergleichbar zur „Geistlichen Romfahrt“ Geilers von Kaysersberg) stets bestimmte Gebete zu sprechen oder auch rituelle Handlungen zu vollziehen waren. Neben dem hochkomplexen Arrangement mit exakter räumlicher Zuordnung und performativer Ausgestaltung ist das Beispiel der geistlichen Pilgerfahrt in Villingen auch wegen des päpstlichen Ablassprivi‐ legs bemerkenswert: Hier fanden innere Wertigkeit und äußerer Wert ihre Entsprechung. Institutionell verbrieft konnten die geistigen Pilgerinnen nun zur Heilsteilhabe gelangen - eine Gewissheit, die für virtuelle Wallfahrten in dieser Zeit zwar nicht unüblich, keineswegs aber immer selbstverständlich war. Während sich die praktischen Vorgaben geistiger Pilgerreisen je nach Kontext unterschiedlich gestalteten, garantierten die bewusste Kontemplation und das emotionale sowie sensorische Einlassen auf das Unterfangen in der Regel einen erfolgreichen Verlauf, der sowohl spirituelle Heiligung als auch seelisch-körperliche Genesung verheißen konnte. Für die geistigen Pilger schuf die imaginierte Reise nicht nur eine eigene Realität, sondern erwies sich in gleich mehrfacher Hinsicht auch als heilswirksam. Heilung und Genesung 177 <?page no="179"?> 1 Vgl. ausführlich zum Thema dieses Bandes und zur Konzeption der hier zu Grunde liegenden Tagung die Einführung von Klaus H E R B E R S und Peter R Ü C K E R T in diesen Band. 2 Siehe dazu den Ausstellungskatalog Die Tochter des Papstes: Margarethe von Savoyen. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bearb. von Peter R Ü C K E R T / Anja T H A L L E R / Klaus O S C H E M A , Stuttgart 2020. 3 Zu dem beeindruckenden Briefcorpus, das von Margarethe von Savoyen überliefert ist, vgl. zuletzt Anja T H A L L E R , Zur Buchkultur am spätmittelalterlichen württembergischen Hof. Buchbesitz und literarische Interessen der Margarethe von Savoyen (1420-1479) im Spiegel ihrer Briefe, in: Württemberg als Kulturlandschaft. Literatur und Buchkultur an Klöstern und Höfen im späteren Mittelalter, hg. von Nigel F. P A L M E R / Peter R Ü C K E R T / Sigrid H I R B O D I A N (Kulturtopographie des alemannischen Raums 12), Berlin/ Boston 2022, S. 67‒110. Siehe demnächst auch die erweiterte spanische Fassung dieses Beitrags: Peter R Ü C K E R T , La hija del Papa. Margarita de Saboya en camino a Santiago, in: Santiago Heilung für Körper und Seele? Margarethe von Savoyen auf dem Weg nach Santiago de Compostela Peter Rückert 1. Einführung „Heilung für Körper und Seele“ war und ist bekanntlich eines der zentralen Motive für eine Pilgerfahrt 1 . Gerade aus dem späten Mittelalter sind zahlreiche Pilgerinnen und Pilger bekannt, die sich zur Heilung ihrer Gebrechen auf den Weg zu einem „heiligen Ort“ gemacht haben. Die Verknüpfung von Pilgern mit Heil und Heilung soll im Folgenden an einer prominenten Persönlichkeit vorgeführt werden, die allerdings als Pilgerin kaum bekannt ist: Wir wollen Margarethe von Savoyen auf ihrem Weg begleiten, die „Tochter des Papstes“. Sie wurde gerade in einer internationalen Ausstellung pointiert ins Licht der Öffentlichkeit geführt 2 . Diese noch weitgehend unbekannte Pilgerin bietet mit ihrem Lebensweg und vor allem mit den Selbstzeugnissen, die sie hinterlassen hat, die außergewöhnliche Möglichkeit einer persönlichen Annäherung an ihre bewegte Geschichte 3 . <?page no="180"?> de Compostela: caminos del saber, del andar y del creer, hg. von Maria del C A R M E N I G L E S I A S D I A Z / Manuel C A S T I N E I R A S / Francisco S I N G U L (im Druck). 4 Ausführlicher zu diesem Kontext Peter R Ü C K E R T , Grenzerfahrungen im späten Mittel‐ alter. Fürstliche Bräute beim Übergang in eine neue Welt, in: Siedlungsforschung. Archäologie - Geschichte - Geographie 38 (2021), S.-131-152. 5 Zur Biographie der Margarethe von Savoyen siehe neben dem zitierten Ausstellungs‐ katalog R Ü C K E R T (u. a.), Die Tochter des Papstes (wie Anm. 2) jetzt auch die weiterfüh‐ renden Beiträge zu einzelnen biographischen Aspekten in dem Tagungsband Starke Frauen? Adelige Damen im Südwesten des spätmittelalterlichen Reiches, hg. von Klaus O S C H E M A / Peter R Ü C K E R T / Anja T H A L L E R , Stuttgart 2022. 6 Margarethes Geburtstag konnte jetzt von Eva Pibiri festgestellt werden: Eva P I B I R I , Margarethe von Savoyen - eine zentrale Figur auf dem Schachbrett der politischen Allianzen des Hauses Savoyen, in: Starke Frauen (wie Anm.-5), S.-75‒93, hier 85. 7 Vgl. auch Henrike L Ä H N E M A N N , Margarethe von Savoyen in ihren literarischen Bezie‐ hungen, in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S.-158‒173, hier 160 f. Die Biographie der Margarethe von Savoyen ist geprägt von ständigen Umbrüchen, weiten Reisen, intensiven Grenzerfahrungen 4 . Damit verbunden waren ihr andauerndes Bemühen um Gesundheit und körperliches Wohlbe‐ finden ebenso wie die Sorge um ihr seelisches Heil; kurz: die Suche nach „Heilung für Körper und Seele“, die Margarethe immer wieder zu Pilgerfahrten veranlasste, kulminierend mit ihrer Reise nach Santiago de Compostela im Jahr 1466. Eingeordnet in die Biographie der Margarethe von Savoyen sollen ihre Erfahrungen auf ihren weiten Reisewegen beobachtet werden, wobei ihr kör‐ perlicher und seelischer Zustand von besonderem Interesse sind. Dabei stehen ihre zahlreichen Pilgerfahrten im Mittelpunkt und vor allem ihre weiteste und bedeutendste, zum hl. Jakobus nach Santiago de Compostela. Ihren Weg dorthin wollen wir detailliert verfolgen, um ihre Motivation differenziert zu begreifen und ihre Erfahrungen nachzuvollziehen. Wie verband sich schließlich diese Pilgerfahrt mit der erhofften „Heilung für Körper und Seele“? 2. Zur Biographie der Margarethe von Savoyen Blicken wir zunächst kurz auf ihr Leben zurück 5 : Margarethe wurde am 7. Au‐ gust 1420 in Morges am Genfer See als jüngste Tochter von Herzog Amadeus VIII. von Savoyen und seiner Frau Maria von Burgund geboren 6 . Sie wuchs hier im Kreis einer großen Familie in einem gediegenen höfischen Umfeld auf, wo Musik, Kunst und Literatur höchste Qualität erreichten. Man sprach und las vor allem in französischer Sprache, aber Grundkenntnisse in Latein und Italienisch gehörten sicher dazu 7 . 180 Peter Rückert <?page no="181"?> 8 Dazu ausführlich P I B I R I , Margarethe von Savoyen (wie Anm. 6). Vgl. dazu auch wei‐ terhin die grundlegende Arbeit von Ernest C O R N A Z , Le mariage palatine de Marguerite de Savoie (1445-1449) (Mémoires et documents publiés par la Société d’histoire de la Suisse Romande 2/ 15), Lausanne 1932. 9 Dazu auch Eva P I B I R I , Von der Königin von Sizilien zur Herzogin von Bayern: Die beiden ersten Ehen der Margarethe von Savoyen, in: R Ü C K E R T (u. a.), Die Tochter des Papstes (wie Anm.-2), S.-56‒64; hier vor allem die Karte des Reiseweges S.-59. 10 Ausführlicher zuletzt P I B I R I , Margarethe von Savoyen (wie Anm.-6), S.-78 f. 11 Vgl. auch Francesco C O G N A S S O , Amadeo VIII, 2 Bde., Turin 1930, hier Bd.-2, S.-158. 12 Nachweis bei P I B I R I , Margarethe von Savoyen (wie Anm.-6), S.-89. Mit elf Jahren wurde Margarethe mit Ludwig III. von Anjou, Graf der Pro‐ vence und Titularkönig von Sizilien, Neapel und Jerusalem, verlobt - eine überaus lukrative Partie, zumal mit einem französischen König in Italien 8 . Die Ehe wurde im Jahr darauf auch formell geschlossen, und kaum drei Jahre später war Margarethe bereits zu ihrem Mann nach Kalabrien unterwegs. Die Fahrt über das Meer gestaltete sich allerdings besonders gefahrvoll, weil die Schiffe in der Bucht von Neapel von einem wütenden Sturm überrascht wurden, der sie bei Sorrent zum Stranden brachte 9 . Nur um Haaresbreite ent‐ kamen die junge Königin und ihre Mannschaft dem Tod in den Fluten: Dies zeigt ein wunderbares Tafelbild, das Margarethe der Madonna von Montevergine offenbar als Votivgabe für die glückliche Errettung vor dem Ertrinken stiftete (Abb. 1). Das Bild zeigt Margarethe selbst kniend vor der Jungfrau Maria, die zur Rettung ihre Hand ergreift, während die Mannschaft des Schiffes mit seinen zerrissenen Segeln und einem gebrochenen Mast betet oder vom Meer verschlungen wird. Wir dürfen davon ausgehen, dass die junge Königin ihre Vo‐ tivgabe später wohl persönlich der Madonna von Montevergine überbrachte 10 . Margarethe sollte dann im Juli 1434 wohlbehalten Cosenza erreichen, doch schon wenige Monate nach ihrem ersten Treffen starb ihr Mann Ludwig von Anjou. Margarethe hatte sich nun mit ihren wenigen Begleitern in dieser fremden, süditalienischen Umgebung, die zumal von ständigen Auseinanderset‐ zungen und Kriegen gebeutelt war, durchzusetzen und ihre Ansprüche auf die Herrschaft zu behaupten - sie konnte es nicht 11 . Nach langer, drängender Wartezeit holte sie ihr Vater endlich als „Königin von Sizilien“ zurück an den Genfer See. Auch die Rückreise im Winter 1435/ 36 war, wie wir wissen, sehr anstrengend für die junge Königin; ihr Apotheker musste ihr während der Reise immer wieder Heiltränke verabreichen 12 . Aber schon gleich nach ihrer Rückkehr machte sich ihr Vater, Herzog Amadeus, daran, weitere lukrative Heiratskandidaten für die junge Witwe auszuloten. Amadeus, der sich nach dem Tod seiner Frau Maria von Burgund für ein klösterliches Dasein in sein Schloss Ripaille am Genfer See zurückgezogen hatte, Heilung für Körper und Seele? 181 <?page no="182"?> Abb. 1: Die Jungfrau Maria rettet Margarethe von Savoyen bei einem Schiffbruch. Votivtafel, um 1434 (Museo Abbaziale di Montevergine, Mercogliano) 182 Peter Rückert <?page no="183"?> 13 Zu Amadeus VIII. von Savoyen vgl. die grundlegende Arbeit von Ursula G I E S S M A N N , Der letzte Gegenpapst: Felix V. Studien zu Herrschaftspraxis und Legitimationsstrategien (1434-1451) (Papsttum im mittelalterlichen Europa 3), Köln/ Weimar/ Wien 2014. 14 Dazu zuletzt Elisa M O N G I A N O , Amadeus VIII. von Savoyen: Graf, Herzog, Papst (1383-1451). Eine biographische Skizze, in: Starke Frauen (wie Anm.-5), S.-68‒74. Abb. 2: Herzog Amadeus VIII. von Savoyen. Miniatur in Albertanus von Brescia, De doctrina dicendi et tacendi, um 1430‒1435 (Königliche Bibliothek Brüssel, Ms. 10317-18, Bl. 1 r) sollte allerdings bald selbst außerordentliches Aufsehen verursachen 13 (Abb.-2): Nachdem Papst Eugen IV. das Konzil in Basel im Streit verlassen hatte, wählten die Konzilsväter den vorbildlich erscheinenden Herzog von Savoyen 1439 zum neuen Papst Felix V., der nun von der Konzilsstadt Basel aus mit dem römischen Papst um die Einheit der Christenheit streiten sollte 14 . Freilich bemühte sich Felix V. auch nach seiner Wahl zum Papst um die Belange seines Hauses und die standesgemäße Verheiratung seiner Tochter Margarethe. Jetzt kamen natürlich nur die Spitzenkandidaten in Betracht, darunter sogar der deutsche König Friedrich III.: Im Oktober 1442 verbrachte er fünf gemeinsame Tage mit Margarethe am Genfer See, woraufhin er zum Heilung für Körper und Seele? 183 <?page no="184"?> 15 Ausführlich dazu Peter R Ü C K E R T , Margarethe von Savoyen in Basel 1445. Herrschaftsre‐ präsentation und ihre Medien im städtischen Kontext, in: Raum und Medium. Literatur und Kultur in Basel in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Johanna T H A L I / Nigel F. P A L M E R (Kulturtopographie des alemannischen Raums 9), Berlin/ New York 2020, S.-201‒218. 16 Vgl. C O R N A Z , Le mariage palatine (wie Anm. 8), sowie zuletzt Anja T H A L L E R , Margarethe von Savoyen im deutschen Südwesten, in: Die Tochter des Papstes (wie Anm. 2), S.-65‒74. 17 Das Bruderschaftsbuch von Zell wird unter der Signatur Clm 1056 in der Bayerischen Staatsbibliothek München verwahrt; der im Folgenden zitierte und zum Teil übersetzte Eintrag findet sich auf Blatt 6 v. Vgl. dazu den Katalogeintrag in: R Ü C K E R T (u. a.), Die Tochter des Papstes (wie Anm. 2), S. 164 f. (Anja T H A L L E R ), sowie die Übersetzung nach Anja T H A L L E R unter der Website zur Ausstellung: https: / / www.landesarchiv-b w.de/ sixcms/ detail.php? id=71117&template_id=0&version_id=&backend_call=true&p review_call=true (Abruf: 25.1.2023). 18 13.-September 1447. päpstlichen Vater nach Basel eilte 15 . Die mögliche Heirat scheiterte dann aber an den politischen Konstellationen um diesen Papst, der von seinem Schwieger‐ sohn natürlich die Obödienz verlangte. Margarethe war also noch frei für ein weiteres lukratives Heiratsprojekt, das nun mit dem zweiten Mann im Reich, dem Kurfürsten von der Pfalz, Ludwig IV. verhandelt wurde 16 . 1445 wurde in Heidelberg geheiratet, der Hochzeitszug der Braut von Genf über Basel den Rhein abwärts wurde wiederum von großartigen Festlichkeiten begleitet. Margarethe war jetzt nicht mehr die „reine de Sicile“, sondern eine Herzogin in Bayern. Trotz des anhaltenden Streits um ihre Mitgift, die von Margarethes Familie nur teilweise erbracht wurde, und ihre Witwengüter aus der ersten Ehe mit Ludwig von Anjou, konnte sich Margarethe nun als Kurfürstin von der Pfalz in Heidelberg gediegen einrichten. Zum ehelichen Glück fehlte nur der Nachwuchs, der sich zunächst nicht einstellen wollte. Eine Pilgerfahrt zum heiligen Philipp nach Zell (bei Worms) sollte helfen, um den Kinderwunsch zu erfüllen. Ein Eintrag im Bruderschaftsbuch der Zeller Chorherrenbruderschaft ver‐ meldet dazu 17 : Im Jahre des Herrn 1447, vier Tage vor der Erhöhung des Hl. Kreuzes 18 , haben der hervorragende Herr, Herzog Ludwig von der Pfalz […], und die illustrissima domina Margareta di Subaudia, seine Ehefrau, mit ungefähr 60 oder mehr ihrer Diener und Dienerinnen causa peregrinationis diesen Ort zu Ehren des hl. Philipp besucht. Sie haben angeordnet, einige Fuhren zum Kirchenbau zu leisten und dem Kirchenbau sofort und in Gold 20 Gulden gegeben. Deshalb sind sie zur Bruderschaft des heiligen Gottesbekenners Philipp zugelassen und eingeschrieben worden. Ebenso gaben sie eine dunkle Kasel und einen roten Mantel mit einem vergoldeten Knäblein (cum puero deaurato). 184 Peter Rückert <?page no="185"?> Abb. 3: Die drei Ehefrauen des Grafen Ulrich V. von Württemberg, rechts Margarethe von Savoyen. Altarflügel, um 1470 (Landesmuseum Württemberg, WLM 13722) Heilung für Körper und Seele? 185 <?page no="186"?> 19 Vgl. dazu wiederum ausführlicher T H A L L E R , Margarethe (wie Anm.-16), hier S.-68 f. 20 Dazu Peter R Ü C K E R T , Margarethe von Savoyen und das Haus Württemberg, in: R Ü C K E R T (u. a.), Die Tochter des Papstes (wie Anm. 2), S. 75‒83, sowie zuletzt Anja T H A L L E R , Zwischen fürstlichem Prunk und finanziellen Nöten: Margarethe von Savoyen als Gräfin von Württemberg, in: Starke Frauen (wie Anm.-5), S.-108‒129. 21 Vgl. für den weiteren Kontext auch Peter R Ü C K E R T , Internationale Fürstinnen des späten Mittelalters in Württemberg, in: Starke Frauen (wie Anm.-5), S.-130‒157; hier 140 ff. Mit diesen großartigen Stiftungen sind Margarethe und ihr Mann Ludwig also der Bruderschaft des hl. Philipp beigetreten. Ihr Kinderwunsch, dem sie mit der vergoldeten Kinderfigur als Votivgabe teuren Ausdruck verliehen, wurde alsbald erhört und dem Kurfürstenpaar bereits im Folgejahr ein Sohn geschenkt, der offenbar aus Dankbarkeit den Namen des Heiligen, Philipp, erhielt. Als kurz nach der Geburt ihres Sohnes Philipp auch Margarethes zweiter Mann, der Kurfürst, starb († 1449), hatte sie den Heidelberger Hof nach kaum fünf Jahren allerdings schon wieder zu verlassen und ihren Witwensitz im abgelegenen Städtchen Möckmühl zu beziehen 19 . Von hier sollte sie dann in eine dritte Ehe mit Graf Ulrich V. von Württemberg nach Stuttgart entfliehen. Ihren kleinen Philipp musste sie indes bei seinem Onkel Friedrich in Heidelberg zurücklassen, der auch die Regentschaft für ihn übernahm. Nach ihrer Heirat mit Graf Ulrich V., der bereits auch zum zweiten Mal verwitwet war, bezog Margarethe 1453 ihre neue Residenz im Stuttgarter Schloss (Abb. 3) 20 . Der württembergische Hof Ulrichs besaß damals einen guten Ruf, doch bildete Stuttgart seit etwa einem Jahrzehnt nurmehr das Zentrum einer Teilgrafschaft: Mit der Teilung des Landes 1442 hatte Ulrichs gerade verstorbener Bruder Ludwig († 1450) Urach zur Residenz seines abgetrennten Territoriums gemacht. Margarethe konnte in Stuttgart immerhin einen Neuan‐ fang wagen: Erstmals hatte sie damit einer Eheverbindung selbst zugestimmt und sich damit der Einsamkeit ihres Witwenstandes entzogen. Andererseits hatte Graf Ulrich die prominente Herkunft Margarethes bei dieser Heirat sicher im Blick; seine Ehe mit der Papsttochter, der Witwe seines kurpfälzischen Nachbarn und Verwandten, konnte das Prestige des Hauses Württemberg deutlich steigern. Man war nun mit den feinen Häusern Savoyen und Burgund liiert, dazu mit dem französischen Königshaus - den bewunderten Vorbildern höfischer Adelskultur 21 . 3. Die Pilgerfahrten der Margarethe von Savoyen Dem württembergischen Grafenpaar Margarethe und Ulrich wurden auch bald drei Töchter geschenkt: Philippa, Margarethe und Helene, die bereits in ihren 186 Peter Rückert <?page no="187"?> 22 Dazu wiederum ausführlicher Anja T H A L L E R , Zwischen fürstlichem Prunk (wie Anm.-20), S.-110 f. 23 Der Briefwechsel der Margarethe von Savoyen ist als weitgehend geschlossenes Konvolut überliefert in HStA Stuttgart A 602 Nr. 260. Siehe dazu die überlieferungsge‐ schichtlichen Informationen bei Peter R Ü C K E R T , Herrschaftliche Korrespondenz und ihre Überlieferung im deutschen Südwesten, in: Briefe aus dem Spätmittelalter. Herr‐ schaftliche Korrespondenz im deutschen Südwesten, hg. von Peter R Ü C K E R T / Nicole B I C K H O F F / Mark M E R S I O W S K Y , Stuttgart 2015, S.-32‒52. 24 HStA Stuttgart A 602 Nr. 260, Bl. 39. Siehe dazu den Katalogeintrag in: R Ü C K E R T (u.-a.), Die Tochter des Papstes (wie Anm. 2), S. 198 f. (Anja T H A L L E R ) sowie die Transkription des Briefes im Booklet der beigelegten CD, Nr.-10, S.-13. 25 Vgl. Klaus H E R B E R S / Robert P L ÖT Z (Hg.), Die Straß zu Sankt Jakob: der älteste deutsche Pilgerführer nach Compostela, Ostfildern 2004. 26 Vgl. T H A L L E R , Zwischen fürstlichem Prunk (wie Anm.-20), S.-117. 27 Vgl. zum Folgenden bereits R Ü C K E R T , Margarethe von Savoyen (wie Anm.-20), S.-78 ff. Namen den bestimmenden Einfluss der Mutter erkennen lassen 22 . Vor allem aus ihrem intensiven Briefwechsel, den Margarethe mit ihrer Familie in Savoyen führte, wird deutlich, dass sie ihren Verwandten eng verbunden blieb 23 . Besuche in der Heimat lagen ihr sehr am Herzen, zumal sie diese mit Pilgerfahrten nach Einsiedeln verbinden konnte. So freute sich ihr Bruder, Herzog Ludwig I. von Savoyen, in einem Brief um 1460 sehr über die Aussicht eines Besuchs von Margarethe in seiner Residenz Chambéry, die sie mit einer Pilgerfahrt zur Muttergottes nach Einsiedeln verbinden wollte 24 : Anderweitig berichtet Ihr mir in Eurem Brief von der Reise, die Ihr plant, um Unsere Liebe Frau von Einsiedeln zu besuchen und dass ihr auch wünscht, hierher zu kommen. Es ist mir, meine teuerste und liebste Schwester, eine große Freude, an meinen Bruder in Württemberg zu schreiben, für den ich viel Liebe und Gedenken habe, damit er Euch die freie Erlaubnis gibt, uns besuchen zu kommen ([…] de rendre votre vouaige a Notre Dame des Heremites et dilec venir veoir de par de ça, de quoy, tres chiere et tres amee suer, j’ay tres grant plaisir et parfaitt joye). Freilich - ohne formelle Erlaubnis ihres Gatten, Graf Ulrich, durfte Margarethe nicht einmal ihre Familie besuchen. Wir kennen spätestens aus der zeitgenössischen Wegbeschreibung des Her‐ mann Künig von Vach diese sogenannte „Oberstraße“ genau, die von Einsiedeln aus über Bern, Lausanne und Genf durch Savoyen nach Chambéry führte und von hier aus weiter bis nach Santiago de Compostela 25 . Ob Margarethe diese geplante Pilgerfahrt nach Einsiedeln und den Besuch bei ihrer Familie dann auch gleich durchführte, wissen wir allerdings nicht 26 . Von anderen Reisen nach Einsiedeln sind wir besser unterrichtet 27 : Im Jahr 1470 begleiteten sie ihr Mann Ulrich und dessen Kanzler Niklas von Wyle, der Heilung für Körper und Seele? 187 <?page no="188"?> 28 Zu Niklas von Wyle vgl. zuletzt Gudrun B A M B E R G E R / Jörg R O B E R T , Mechthilds „Mu‐ senhof “ - Renaissance und Ritterromantik im deutschen Südwesten, in: Mechthild (1419-1482) im Spiegel der Zeit. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesar‐ chivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, hg. von Erwin F R A U E N K N E C H T / Peter R Ü C K E R T , Stuttgart 2019, S.-39‒47. 29 Vgl. dazu den Hinweis bei Christoph Friedrich V O N S T Ä L I N , Württembergische Ge‐ schichte, Bd. 3, Stuttgart 1856, S. 785, wonach sich Margarethe für diese Reise nach Baden ein Reisepferd besorgte. 30 Vgl. die Nachweise in der Korrespondenz des Einsiedler Dekans Albrecht von Bonstetten mit Niklas von Wyle bei Albert B Ü C H I (Hg.), Albrecht von Bonstetten. Briefe und ausgewählte Schriften (Quellen zur Schweizer Geschichte 13), Basel 1893, Nr. 6-8, S.-17-ff. 31 Ebd., Nr. 37, S. 51 f.; zur Pilgerfahrt nach Einsiedeln vgl. allgemeiner Peter R Ü C K E R T , Pilgerfahrten auf dem Oberrhein im späteren Mittelalter, in: Jakobuskult im Rheinland, hg. von Robert P L Ö T Z / Peter R Ü C K E R T ( Jakobus-Studien 13), Tübingen 2004, S.-33‒54. 32 UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 111. Ausführlich dazu T H A L L E R , Zur Buchkultur (wie Anm.-3), S.-84 f. 33 Vgl. dazu die Untersuchung von Thomas F R I T Z , Ulrich der Vielgeliebte (1441-1480). Ein Württemberger im Herbst des Mittelalters. Zur Geschichte der württembergischen Politik im Spannungsfeld zwischen Hausmacht, Region und Reich (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 25), Leinfelden-Echterdingen 1999, hier S.-359. berühmte Humanist 28 . Während Margarethe und Ulrich mit ihrer Pilgerfahrt zur „schwarzen Madonna“ in Einsiedeln offenbar auch einen Besuch im nahe gele‐ genen Heilbad von Baden im Aargau verbanden 29 , sollte Wyle als Vertreter des Grafen die dortige Versammlung der Eidgenossen besuchen 30 . Hier traten für Margarethe die „Heilung von Körper und Seele“ zusammen; hier konnte sie ihre Marienverehrung mit der Erholung ihres Körpers verbinden. Margarethes häufige Pilgerfahrten nach Einsiedeln am Zürichsee, wo sie auch 1474 noch einmal beglückende Aufnahme fand 31 , brachten sie, wie wir hörten, stets auch ihrer alten Heimat sehr nahe. Dabei wurden ihre Pilgerfahrten auch in der Öffentlichkeit aufmerksam wahrgenommen: So erhielt Margarethe von fünf Zürcher Damen zur Erinnerung an ihren Besuch eine wertvolle Handschrift geschenkt, mit den Legenden der Stadtheiligen Felix und Regula sowie der Legende des hl. Meinrad, des Gründers von Einsiedeln 32 . Die Handschrift war kostbar ausgestattet und ihr persönlich mit ihrem Wappen zugeeignet (Abb. 4). Die Gräfin hatte, wie wir wissen, an schönen Büchern und gerade Heiligenlegenden große Freude und wird das wertvolle Geschenk dankbar angenommen haben. Für Graf Ulrich, der damals den engen politischen Zusammenschluss mit den Eidgenossen suchte, kamen Margarethes vielfältige Beziehungen auch politisch sehr gelegen 33 . Besonders der Schultheiß von Luzern, Heinrich von Hunwil, mit dem Margarethe in regem Briefkontakt stand, diente hier als 188 Peter Rückert <?page no="189"?> Abb.-4: Allianzwappen Württemberg und Savoyen in einer Handschrift der Margarethe von Savoyen mit den Legenden der heiligen Felix und Regula sowie des heiligen Meinrad, um 1470‒1475 (UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 111, Bl. 2 r) Heilung für Körper und Seele? 189 <?page no="190"?> 34 HStA Stuttgart A 602 Nr. 260, Bl. 44. Zitiert nach F R I T Z , Ulrich der Vielgeliebte (wie Anm.-33), S.-359 f. 35 Ebd., S.-360. 36 Vgl. ausführlich dazu R Ü C K E R T , Herrschaftliche Korrespondenz (wie Anm.-23), S.-45 ff. 37 Dazu Peter R Ü C K E R T , Die Grafen von Württemberg im Wildbad. Erholung und Politik im spätmittelalterlichen Schwarzwald, in: Siedlungsforschung. Archäologie - Geschichte - Geographie 35 (2018), S.-73‒90, hier 84 f. 38 Vgl. die Einträge zu Savoyen in: Dictionnaire de Saint Jacques et Compostelle, hg. von Denise P È R I C A R D -M É A / Louis M O L L A R E T , Paris 2006. Mittelsmann: Vnd wel vwer gnaden gedenk sin, daz ich ein allt trev diener des edlen hoch gebornen huss von savoy gewesen, vnd ein guot savoyer vnd wirtenberger byss an min end sin will […] 34 , betont er in einem Brief an Margarethe 1469. Hunwil und seine Frau treffen sich noch zwei Jahre später mit Graf Ulrich und Marga‐ rethe gemeinsam im Kurbad von Baden; ein geselliger Austausch, der die jah‐ relange Verbundenheit der Paare anzeigt 35 . Soziale Unterschiede zwischen dem Fürstenpaar und den Luzerner Patriziern spielten zumindest im Bad keine we‐ sentliche Rolle; hier ging es ebenso um Kurzweil wie um Entspannung. Weitere Badereisen Margarethes zur Erholung und Unterhaltung sind be‐ kannt: So erwartete sie 1474 im Bad Liebenzell den berühmten Ulmer Arzt und Literaten Heinrich Steinhöwel, der sie auch medizinisch betreute 36 . Und zwei Jahre später genoss Margarethe die Kurfreuden in Wildbad gemeinsam mit ihren Hofdamen und Herzog Wilhelm von Sachsen, der sich sehr über den fürstlichen Umgang mit ihr im württembergischen Heilbad freute 37 . Margarethe befand sich dabei jeweils in Begleitung ihrer Schwiegertochter Elisabeth; auch deren Mann Eberhard d. J. und dessen Schwester Margarethe, Nonne im Kloster Liebenau bei Worms, kamen ins Wildbad dazu. 4. Die Pilgerreise nach Santiago de Compostela Margarethes gesuchte Verbindung von Reisen für Körper und Seele, ins Heilbad und zum Gnadenort, erscheint als ihr lange anhaltendes persönliches Anliegen und stellte jedenfalls für die Zeitgenossen offenbar auch keinerlei Widerspruch dar. Wenden wir uns damit ihrer größten und bedeutendsten Pilgerreise zu und begleiten Margarethe im Spätjahr 1466 auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela. Bei dieser Pilgerfahrt ins ferne Santiago bewegte sich Margarethe ganz in der Tradition ihrer savoyischen Familie 38 . Die Verehrung des Apostels Jakobus und die Pilgerfahrt ins ferne Santiago wurde von den Grafen von Savoyen seit vielen Generationen gepflegt, und vor allem Margarethes Vater Amadeus, der erste Herzog von Savoyen und spätere Papst Felix V., tat sich dabei hervor. So schickte 190 Peter Rückert <?page no="191"?> 39 Ausführlich dazu Denise P É R I C A R D -M É A , Compostelle et cultes de saint Jacques au Moyen Âge, Paris 2000, hier S.-272. 40 Vgl. dazu den Katalogeintrag in: R Ü C K E R T (u. a.), Die Tochter des Papstes (wie Anm. 2), S. 134 f. (Edoardo G A R I S ), sowie auch zum Folgenden Elisa M O N G I A N O , Amadeus VIII. von Savoyen: Graf, Herzog, Papst, ebd., S.-30‒38, hier 32 f. 41 M O N G I A N O , Amadeus VIII. (wie Anm.-40), S.-36. 42 Das Folgende nach der einschlägigen Edition von Volker H O N E M A N N , Sebastian Ilsung als Spanienreisender und Santiagopilger, in: Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte, hg. von Klaus H E R B E R S ( Jakobus-Studien 1), Tübingen 1988, S. 61‒95. Dazu auch Volker H O N E M A N N , Ein Augsburger Patrizier auf dem Weg nach Santiago: Sebastian Ilsung und seine Reise nach Santiago de Compostela im Jahre 1446, in: Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wirtschaft, Kultur und Pilgerfahrt, hg. von Klaus H E R B E R S und Peter R Ü C K E R T ( Jakobus-Studien 18), Tübingen 2008, S.-147‒178. er in den 1430er Jahren gleich mehrfach hochrangige Stellvertreter seiner Herr‐ schaft an seiner Stelle auf den Weg zum hl. Jakobus 39 . Damals ließ er auch die berühmten „Statuta Sabaudiae“ zusammenstellen und in repräsentativen Ma‐ nuskripten gestalten; ein vorbildliches Gesetzeswerk in fünf Büchern, das mit der Jakobsmuschel an zentraler Stelle die Heiligenverehrung des Herzogs noch in späteren Abschriften zum Ausdruck bringt (Abb.-5) 40 . Nach seiner Wahl zum Papst durch das Basler Konzil 1439 sollte Amadeus VIII. / Felix V. dann einige Jahre in Basel residieren, aber schon 1442 im offenen Dissens mit den Konzilsvätern nach Savoyen zurückkehren. Das Heiratsprojekt für seine Tochter Margarethe mit dem deutschen König Friedrich III. war gerade gescheitert, und Felix widmete sich nun wieder verstärkt der Regierung seines Herzogtums, nicht ohne weiterhin intensiv für die Unterstützung seiner päpstlichen Gewalt zu werben 41 . Dies gelang ihm jedenfalls mit der prominenten Verheiratung seiner Tochter Margarethe in die Kurpfalz, die ihm auch die Unterstützung der benachbarten süddeutschen Fürsten sicherte. Bleiben wir nach Margarethes Abreise noch kurz am päpstlichen Hof in Genf, wo im Frühjahr 1446 der junge Augsburger Patrizier Sebastian Ilsung auf seiner Pilgerfahrt nach Santiago beim Papst um Audienz bittet. Hören wir Ilsung in seinem Reisebericht 42 : […] Hie ist zu wissen, das ich zoch den nechsten zuch gen Bern unnd gen Fryburg in Yechtlannd unnd darnach in Sofey gen Genefa, da helt der bapst Felix hoff unnd sein sun der hertzog vonn Sonon. Da ward mir gross er erbotten bei aim tanntz, da vil vonn zu sagen were […] Ilsung bewundert den prächtigen Hof beim Papst und dessen Sohn, dem Herzog von Savoyen, in Genf und wird hier mit allen Ehren empfangen: Heilung für Körper und Seele? 191 <?page no="192"?> Abb.-5: Das savoyische Wappen, umgeben von Jakobsmuscheln in einer Handschrift der „Statuta Sabaudiae“ von 1486 (Archives Départementales de la Savoie, Chambéry, C 654) […] Also kam ich vir den Babst, unnd ward vor unnderweysset, wie ich referentz unnd er erbietten solt. Unnd zoch mich der Babst Felix mit der hannd auff den obergesten staffel, da er sein fies auf hett. Das was ain groß er, so nacht lat bey im kniegen. Unnd fraget mich mencherley von unserm bischoff hie unnd von der statt Augspurg wes sy were. Das 192 Peter Rückert <?page no="193"?> 43 H O N E M A N N , Sebastian Ilsung (wie Anm. 42), S. 63 f., Edition S. 82 f. Sehr herzlich danke ich an dieser Stelle Dr. Gunhild Roth, Berlin, für ihre anregende Unterstützung mit Bildmaterial aus der Materialsammlung von Volker Honemann zu Sebastian Ilsung. 44 H O N E M A N N , Sebastian Ilsung (wie Anm.-42), S.-71, Edition S.-95. 45 Vgl. zur damaligen Krisensituation am Stuttgarter Hof jetzt auch Erwin F R A U E N K N E C H T , Vier Jahre Ehe - Streit für eine Generation. Margarethe von Savoyen zwischen Pfalz und Württemberg, in: Starke Frauen (wie Anm.-5), S.-94‒107. 46 HStA Stuttgart A 602 Nr.-253, 254. 47 Vgl. dazu wiederum das Briefkonvolut unter HStA Stuttgart A 602 Nr. 260. Es wird von Anja Thaller im Rahmen ihres Habilitationsprojekts eingehend ausgewertet. sagt ich im unnd er gab mir sein bebschlichen segen unnd den frieden; es war lanng zu sagen […] 43 . Als Ilsung anschließend dem Herzog vorgeführt wurde, stellte ihm dieser gleich einen berittenen Boten als Diener für seine Weiterreise zur Verfügung und dazu zwei Ritter, die ihn bis zum Dauphin von Frankreich, dem späteren König Ludwig XI., begleiten sollten. Wie Volker Honemann gezeigt hat, ist Ilsung auf seiner Reise nach Santiago de Compostela ab jetzt auch als eine Art Botschafter des Herzogs von Savoyen unterwegs. Als Ilsung bei seinem Rückweg nach einem knappen halben Jahr wieder nach Genf kommt, berichtet er dem Herzog ausführlich über seine Mission und Reiseerlebnisse, was diesen sehr zufrieden stellt; Ilsung hätte gerne weiter sein Diener bleiben können 44 . Wir wissen nicht, ob auch die Schwester des Herzogs, Margarethe, die ja in‐ zwischen am kurpfälzischen Hof in Heidelberg herrschte, von dem Augsburger Santiagopilger und Botschafter ihres Bruders etwas erfahren hat, jedenfalls wollte sie bald auch selbst die Pilgerfahrt zum hl. Jakobus antreten. Und selbstverständlich wollte sie damit womöglich auch wieder Besuche bei ihren Verwandten verbinden. Denn noch einige Jahre später, jetzt am Hof in Stuttgart, verfolgt sie ein konkretes Ziel: Da ihre Witwenrente aus ihrer ersten Ehe mit Ludwig III. von Anjou noch immer weitgehend aussteht, will Margarethe ihren Schwager und Nachfolger ihres Mannes, René d’Anjou, persönlich aufsuchen, um ihre Ansprüche einzufordern 45 . Dafür hatte sie sich im August 1466 diese Ansprüche auf ihre Witwenrente von ihrem Mann Ulrich vertraglich zurückerstatten lassen und auch gleich neue Bevollmächtigte für die Verhandlungen mit dem König benannt 46 . Margarethe und René d’Anjou standen in Briefkontakt, ebenso wie Marga‐ rethe ihre Reise durch Briefe an den französischen König Ludwig XI., ihren angeheirateten Neffen, oder auch dessen Schwester Yolande vorbereiten konnte, die ihrerseits Margarethes Neffen Amadeus IX. von Savoyen geheiratet hatte 47 . Heilung für Körper und Seele? 193 <?page no="194"?> 48 Zu René d’Anjou vgl. die einschlägigen Beiträge in Marc-Édouard G A U T I E R / François A V R I L (Hg.), Splendeur de l'enluminure. Le Roi René et les livres, Angers 2009. 49 Zum damaligen familiären und höfischen Umfeld König Ludwigs XI. vgl. Christine Juliane H E N Z L E R , Die Frauen Karls VII. und Ludwigs XI. Rolle und Position der Köni‐ ginnen und Mätressen am französischen Hof (1422-1483), Köln/ Weimar/ Wien 2012. Zu Königin Charlotte siehe Anne-Marie L E G A R É , Charlotte de Savoie (v. 1442‒1483). Aimoit fort la lecture et les livres…, in: Hofkultur in Frankreich und Europa im Spätmittelalter. La culture de cour en France et en Europe à la fin du Moyen Age, hg. von Christian F R E I G A N G / Jean-Claude S C H M I T T , Berlin 2005, S.-101-121. René d’Anjou residierte, auch als Titularkönig von Neapel und Sizilien, damals im heimischen Angers und erwartete also seine Schwägerin bei ihrer Durchreise zum fernen St. Jakob 48 . Der französische König Ludwig XI., den wir schon als Dauphin bei Sebastian Ilsungs Botschaft kennengelernt haben, hielt sich damals vor allem in seinen Schlössern an der Loire auf, in Amboise und Montargis, seine Frau Charlotte von Savoyen, Margarethes Nichte, bevorzugt in Amboise 49 . Margarethe weiß also, was sie erwartet; jedenfalls die Pracht französischer Hofkultur, und entsprechend will auch sie dort auftreten: Neben ihren Hof‐ damen als persönlicher Entourage sollten sie fast 60 Ritter begleiten, darunter sicher auch die neuen Bevollmächtigten für die Verhandlungen mit René d’Anjou. - Kaum vorstellbar, dass man diese 60 Ritter am württembergischen Hof in Stuttgart für sie abstellen konnte. Immerhin sollte die Reise der Gräfin ja etwa ein halbes Jahr dauern, und diese Mannschaft hatte Graf Ulrich keineswegs zur Verfügung. Auch wenn wir es nicht genauer wissen, wird Margarethe ihr Gefolge wohl mit Unterstützung ihrer Familie in Savoyen deutlich erweitert haben; schließlich lag es ganz in deren Sinne, die ausstehenden Ansprüche der Tante zu erfüllen und deren Pilgerfahrt nach Santiago zu begleiten. Wir erwarten also eigentlich, dass sich Margarethe im August 1466 zunächst auf der bekannten Route über die Oberstraße nach Savoyen begab, um von hier aus gestärkt mit Mannschaft und Botschaft den Weg nach Santiago nicht nach Südwesten, sondern nach Nordwesten, zunächst ins zentrale Frankreich fortzusetzen. Vielleicht aber stieß die savoyische Mannschaft auch erst auf dem Weg zur Reisegruppe der Fürstin, denn wir treffen diese dann erstmals im September in Troyes, von Stuttgart aus also auf dem direkten Weg zu den Schlössern des französischen Königs (Abb.-6). Am 1. September 1466 fordert Ludwig XI. die Einwohner seiner Stadt Troyes auf, seiner Tante Margarethe einen möglichst ehrenhaften Empfang zu be‐ 194 Peter Rückert <?page no="195"?> 50 Siehe die einschlägige Edition der Briefe König Ludwigs XI. von Frankreich bei Joseph V A E S E N / Etienne C H A R A V A Y (Hg.), Lettres de Louis XI, Roi de France, 11 Bde., Paris 1893‒1909; hier Bd.-3, Nr.-268, S.-81-f. 51 Lettres de Louis XI (wie Anm. 50), Bd. 3, Nr. 275, S. 93 f. Vgl. dazu auch P É R I C A R D -M É A , Compostelle et cultes (wie Anm.-39), S.-205. 52 Dazu wiederum P É R I C A R D -M É A , Compostelle et cultes (wie Anm.-39). reiten 50 . Zur Vorbereitung schickt er seinen Hausmeister (maistre d’ostel) Pierre Aubert, einen prominenten adeligen Vertreter der Herrschaft, nach Troyes, der alles entsprechend vorbereiten soll zum Empfang und zur weiteren Begleitung seiner trés chere et trés amée tante, la comtesse de Witembergk. Die Bürger von Troyes la vueillez bien recueillier et lui faire tout l’onneur, plaisir et service à vous possible. Der angekündigte Besuch seiner Tante Margarethe wirft also bereits einen langen Schatten voraus, der uns einen entsprechend prächtigen Empfang von Margarethe und ihrem Tross in Troyes wenige Tage später erwarten lässt. Genaueres erfahren wir dann aus der nächsten Anweisung des Königs, jetzt an die Einwohner seiner Residenzstadt Amboise: Dieses Schreiben ließ Ludwig XI. am 16. September in seinem Schloss Montargis ausfertigen, als Margarethe nach ihrem Aufenthalt in Troyes bereits bei ihm eingetroffen war 51 : Laquelle est puis naguerre venue devers nous pour aucunes ses affaires, heißt es hier - es ging also um Margarethes Angelegenheiten, die mit dem französischen König zu besprechen waren, und weiter; s’en va presentement devers notre très cher et très amé oncle, le roy de Sicile. Nicht nur Margarethes Weg vom französischen König, ihrem Neffen, zum König von Sizilien, René d’Anjou, dem Onkel des Königs und Schwager Margarethes, wird hier vorgezeichnet; es wird auch deutlich, dass sich Margarethe die persönliche Unterstützung von Ludwig XI. bei ihren schwierigen Verhandlungen erwartete (Abb.-7). Dabei betonen die Zeilen des Königs jetzt die eigentliche Motivation seiner Tante für diese weite Reise: […] et da là a l’intencion de s’en aller en pelerinage à monseigner saint Jacques de Galice. - Margarethe war mir der Absicht einer Pilgerfahrt zum hl. Jakobus nach Galicien unterwegs, die sie an den Besuch bei René d’Anjou in Angers anschließen wollte. Der französische König selbst war ein bekannter Verehrer des hl. Jakobus; seine Mutter, Marie d’Anjou, die Schwester von René, war erst wenige Jahre zuvor (1463) auf dem Pilgerweg gestorben 52 . Die Absicht seiner Tante Margarethe, diesen langen Weg nach Santiago auf sich zu nehmen, wird ihn sicher gefreut und beeindruckt haben; er konnte in seiner Tante eine Stellvertreterin für sich und seine Familie sehen, seine Unterstützung war Margarethe gewiss. Heilung für Körper und Seele? 195 <?page no="196"?> Abb. 6: Residenzen und Reiseorte der Margarethe von Savoyen (Ausschnitt; Vorlage: Anja Thaller/ Peter Rückert) 196 Peter Rückert <?page no="197"?> Heilung für Körper und Seele? 197 <?page no="198"?> Abb.-7: König Ludwig XI. von Frankreich mit der Kette des Michaelsordens. Ölgemälde, Jacob de Litemant zugeschrieben, um 1470 198 Peter Rückert <?page no="199"?> 53 Vgl. L E G A R É , Charlotte de Savoie (wie Anm.-49). 54 V A E S E N / C H A R A V A Y , Lettres de Louis XI (wie Anm.-50), Bd.-3, Nr.-275, S.-94 f. 55 Ebd., S.-95. 56 Ebd. 57 HStA Stuttgart A 602 Nr. 255; vgl. daneben die ausführlichen Belege bei P I B I R I , Margarethe von Savoyen (wie Anm.-6), S.-89. Es ist davon auszugehen, dass Margarethe mit ihrem Besuch bei Ludwig XI. auch ein Treffen mit der Königin, ihrer Nichte Charlotte, verband, auch wenn wir nicht genau wissen, ob sie sich damals bei ihrem Mann in Montargis oder wie üblich in Amboise aufhielt. Auch Charlotte stand mit ihrer savoyischen Familientradition dem hl. Jakobus nahe und schätzte die Pilgerfahrt nach Santiago sehr 53 . Wie auch immer: Entsprechend wie für Troyes fordert König Ludwig XI. in dem angesprochenen Schreiben die Einwohner von Amboise auf, seine Tante Margarethe mit allen Ehren zu empfangen, so wie diese ihm selbst zu Teil würden. Diese königlichen Ehren beim Empfang der Margarethe sind uns durch die örtlichen Abrechnungen gut bekannt 54 : Margarethe traf am 22. September 1466, also eine knappe Woche nach dem Brief des Königs in Amboise ein. An diesem Tag hatten sich zuvor die Stadtoberen unter dem Vorsitz der örtlichen Regierung versammelt, um die Choreographie des Empfangs vorzubereiten: Die Gräfin sollte im Hotel von Perrenelle la Royere und ihre Damen sollten bei Pierre Pellé logieren, während die Ritter, Diener und Pferde in der Rue de Boucherie untergebracht wurden. Der Empfang sollte als eine feierliche Prozession gestaltet werden, angeführt von der Geistlichkeit der Kirchen St. Florentin und St. Denis, gefolgt von den Bürgern. Die Gräfin sollte von diesen gleich mit Geschenken begrüßt und bis zu ihrem Hotel geleitet werden, dabei wurden Früchte wie raisins, poires et pommes gereicht 55 . Die Abrechnungen der Stadt listen den konkreten Aufwand hierfür auf: Perrenelle la Royere, die Hotelière de l’Image Notre-Dame über den Brücken von Amboise, erhielt die stolze Summe von über 18 Livres für die Unterkunft und Verpflegung der Gräfin Margarethe, ihrer 57 Ritter, der Diener und Pferde. Die Gesellschaft blieb einen Tag und eine Nacht in Amboise, bevor sie ihre Reise in Richtung Angers fortsetzte, allant à Saint Jacques en voyage, wie die Stadtrechner betonen 56 . Erst gute zwei Wochen später begegnen wir Margarethe dann in Angers wieder. Hier steht sie offenbar über mehrere Tage in Verhandlungen mit ihrem Schwager René d’Anjou über ihre Witwenrente - und hat Erfolg: René gesteht ihr am 11. Oktober vertraglich zu, seine Schulden aus den ausstehenden Zah‐ lungen, insgesamt 33.000 Scudi, ab jetzt durch jährliche Zahlungen abzulösen 57 Heilung für Körper und Seele? 199 <?page no="200"?> 58 Den bislang frühesten bekannten Beleg für Margarethes neuerliche Präsenz in Stuttgart stellt der im Folgenden zitierte Brief von Graf Johann von Werdenberg vom 30.3.1467 dar, der ihre Rückkunft etliche Tage früher, spätestens in der Karwoche 1467, voraus‐ setzen lässt; HStA Stuttgart A 602 Nr.-260, Bl. 67. 59 Vgl. den Katalogeintrag in: R Ü C K E R T (u. a.), Die Tochter des Papstes (wie Anm. 2), S. 206 f. (Ingrid-Sibylle H O F F M A N N ); zur württembergischen Kunstkammer: Die Kunstkammer der Herzöge von Württemberg. Bestand, Geschichte, Kontext, 3 Bde., hg. vom Landes‐ museum Württemberg, Ulm 2017. 60 Das ergibt eine Durchsicht der einschlägigen biographischen Artikel in: Das Haus Württemberg. Ein biographisches Lexikon, hg. von Sönke L O R E N Z / Dieter M E R T E N S / Volker P R E S S , Stuttgart 1997. (Abb. 8). Margarethe ist zufrieden; die aufwändige Reise, die Unterstützung ihrer Familie und des französischen Königs haben sich gelohnt. Jetzt geht es weiter zum hl. Jakobus. Wie hat Margarethe ihre Reise nach Santiago fortgesetzt? Leider brechen unsere Quellen an dieser Stelle ab. Wir können Margarethe und ihre Entourage nur auf dem üblichen Pilgerweg erwarten, der von Angers über Bordeaux zu den Pyrenäen und dann auf der Via Sancti Jacobi durch Nordspanien nach Santiago führte. Hat sie vielleicht einen Teil ihrer stolzen Mannschaft entlassen und zurück in die Heimat geschickt, nachdem der geschäftliche Teil der Reise erledigt war? Ihr persönlicher Antrieb, Santiago zu besuchen, ist jedenfalls deutlich, und dass sie ihr Ziel auch tatsächlich erreicht hat, wird zumindest durch zwei Indizien auch wahrscheinlich gemacht: Margarethe findet sich nach Ausweis ihrer Korrespondenz und Urkunden erst um Ostern 1467 wieder am württembergischen Hof in Stuttgart 58 , ein knappes halbes Jahr, nachdem sich ihre Spur in Angers verliert - genau die benötigte Zeitspanne, um ihre Pilgerfahrt nach Santiago durchzuführen. Noch stärker wiegt das zweite Argument: In der Kunstkammer der Herzöge von Württemberg hat sich eine großartige Azabache erhalten, eine charak‐ teristische Figur des hl. Jakobus aus Erdpech bzw. Gagat, die aus Santiago de Compostela stammt und in die Zeit der Pilgerfahrt Margarethes datiert 59 (Abb. 9). Bekanntlich konnten sich nur überaus wohlhabende Pilger diese teuren Andenken leisten, üblicherweise tat es die Jakobsmuschel als Zeichen der Pilgerschaft. Wenn man zudem bedenkt, dass außer Margarethe kein anderes Mitglied des Hauses Württemberg die Pilgerfahrt nach Santiago je unternommen hat 60 , dann dürfen wir den Erwerb dieser Figur mit guten Gründen Margarethe zuschreiben. Folglich hätte Margarethe von Savoyen ihre Pilgerfahrt zum hl. Jakobus also tatsächlich vollendet und diese Figur zum Zeichen ihrer Pilgerschaft und zur Erinnerung mit sich geführt. Dass dem Gagat 200 Peter Rückert <?page no="201"?> Abb. 8: René d’Anjou, Titularkönig von Neapel und Sizilien. Ölgemälde von Nicolas Froment, 1474 (Paris, Louvre, RF 665) Heilung für Körper und Seele? 201 <?page no="202"?> heilende und apotropäische Eigenschaften zugesprochen wurden und diese für Margarethe von besonderer Bedeutung waren, wissen wir bereits. Abb. 9: Azabache des hl. Jakobus, wohl aus dem Besitz der Margarethe von Savoyen. Gagat, 2. Hälfte 15.-Jahrhundert (Landesmuseum Württemberg, KK blau 74) 202 Peter Rückert <?page no="203"?> 61 HStA Stuttgart A 602 Nr. 260, Bl. 67. Nach der Transkription im Booklet der beigelegten CD im Ausstellungskatalog R Ü C K E R T (u. a.), Die Tochter des Papstes (wie Anm. 2), Nr. 14, S.-15. 62 Ebd. 63 Vgl. R Ü C K E R T , Margarethe von Savoyen (wie Anm.-20), S.-78 ff. 5. Heilung für Körper und Seele? Ausblick und Fazit Nach Margarethes Rückkehr an den Stuttgarter Hof geht es ihr gesundheitlich nicht gut. Ob daran die Anstrengungen der langen Reise oder ihre üblichen Gebrechen schuld waren, wissen wir nicht. Margarethe korrespondiert jetzt in‐ tensiv mit dem Grafen Johann von Werdenberg, dem Coadjutor des Augsburger Bischofs, der sie in medizinischen Fragen berät und ihrer schwachen Gesundheit dienen will. So schreibt Johann von Werdenberg an 30.-März 1467: […] Und uff sollich uwer genaden begern schik ich uwern genad mer pomeneranzen. Das die uwern genaden zu gesuntlichait diente, were mir ain gar grosß fröd. Ich han ains wiessen arczet rat gehebt, der rat, uwer genad soll sich gebruchen senffter spieß, die doch krafft haben, als bruw von capon und allten hünnren und gestosses darvon, madelmilch, grune krut von spinet mit rossin, und uch umb die schultren morgeß mit warmen tüchren lassen riben bis zu den elenbogen und uff die nacht von den knien an bis uff die ffüß. Von gebrates sol uwer genad essen von jungen kiczin und lemlin und die capres darzu essen. Die macht man also: Man legt sy in ain warm wasser, so gend sy uff und werden frisch; darnach sol man es mit essich und öl anmach als andern salat: Das ist gar gut zu sterkung der leber […] 61 . Graf Johann lässt sich auch den Urin der Gräfin schicken, um ihn zu untersuchen und seine Bücher entsprechend zu studieren, und bemerkt: Doch hoff ich zu got, es bedürfft des alles nit, uwer genad sy ganz gesund worden, wann ich hab uwer genad getruwlich under den kelch gestürz  62 . Tatsächlich sollte sich Margarethe auch bald wieder von ihrer Krankheit er‐ holen, und die eingangs beschriebenen Fahrten in die nahen Kurbäder halfen dazu, ihre Gesundheit zu stärken. Ständig umgab sie sich nun mit berühmten Ärzten wie Heinrich Steinhöwel oder Johann Kettner, beschäftigte Therapeuten und Apotheker 63 . Die Heilung für ihren schwachen Körper tat Not, und auch das Heil für ihre Seele galt es gerade durch Pilgerfahrten und großzügige Stiftungen weiter zu befördern. Kommen wir zum Schluss und blicken zurück: Das wechselhafte Leben der Margarethe von Savoyen war stets an ihrer intensiven Frömmigkeit aus‐ Heilung für Körper und Seele? 203 <?page no="204"?> 64 Ausführlicher dazu ebd., S.-81. 65 Ebd., S.-82. gerichtet. Margarethes Marienverehrung tritt dabei mit ihrer Verehrung der Madonna von Montevergine, ihren Pilgerfahrten nach Einsiedeln oder ihrer besonderen Nähe zum Dominikanerorden auch äußerlich hervor 64 . Wir erinnern auch an die Pilgerfahrt zum hl. Philipp nach Zell in der Pfalz und natürlich besonders an ihre Fahrt zum hl. Jakobus nach Santiago de Compostela. Auch wenn diese Pilgerreise mit geschäftlichen Anliegen verbunden war, stand doch auch hier die Devotion im Zentrum. Margarethe mag krank von ihrer Pilgerreise nach Santiago zurückgekehrt sein, doch ihr Seelenheil wusste sie durch die Pilgerfahrt offenbar befördert. Margarethes Verbundenheit mit dem hl. Jakobus hielt jedenfalls an und sollte dann auch in der schwäbischen Heimat repräsentativen Ausdruck finden: Hier trägt Margarethe bald zum Ausbau und der Ausstattung der Schlosskirche St. Jacobus in Winnenden bei, die zu ihrem württembergischen Wittum gehörte. Kurz vor ihrem Lebensende machte Margarethe gemeinsam mit ihrem Mann noch eine reiche Almosenstiftung für die Bedürftigen in ihrer Residenzstadt Stuttgart. So sollte sie auch nach ihrem Tod 1479 hier als Wohltäterin nachhaltig im Gedächtnis bleiben 65 . Wir halten fest: Der Pilgerweg nach Santiago de Compostela kann sinnbild‐ lich für den Lebensweg der Margarethe von Savoyen stehen. Mit ihren Brüchen, Ungewissheiten und ganz weltlichen Problemen war die Erfahrung des Weges von zentraler Bedeutung für die „Tochter des Papstes“ auf der Suche nach Heilung für Körper und Seele. Sie ging diesen Weg nicht allein, sondern wusste sich in der Tradition ihrer Familie aufgehoben - einer europäischen Familie, deren Pilgerschaft sie stellvertretend übernahm. 204 Peter Rückert <?page no="205"?> Resúmenes / Abstracts Klaus Herbers: ¿Salvación o curación? Milagros y lo sobrenatural en la peregrinación El ensayo trata de la conexión entre salvación y curación y de las diversas formas de abordar esta cuestión. Además de los resultados psicológicos, la atención se centra en los textos del Liber S. Jacobi, que revelan repetidamente el entrecruzamiento de salvación y curación. Las descripciones de las vigilias nocturnas, así como algunos relatos de milagros, dejan claro hasta qué punto se consideraba necesaria para ello la cooperación de los respectivos peregrinos. Esta consistía en buena parte en la disposición a entender los acontecimientos como milagros y a transmitir estas experiencias mediante narraciones o de otro modo. Para el autor del Liber S. Jacobi, eran las vigilias nocturnas -que ayudaban a hacer realidad los milagrosvelar, soñar, dormitar, cantar, rezar, pero también de antemano el caminar, las conversaciones y el esfuerzo. Se añadieron la misericordia, la fidelidad a los juramentos, la penitencia y la confesión y muchas otras cosas. Pero siempre se requería la voluntad de implicarse. Si, además, las fuentes de la Edad Media ponían repetidamente en primer plano la curación del cuerpo y del alma y querían orientar a los peregrinos hacia la salvación del alma, entonces salvación y curación permanecieron siempre estrechamente unidas. Healing or Cure? Miracles and the supernatural in pilgrimage The essay asks about the connection between healing and salvation and the various ways of approaching this question. In addition to psychological results, the focus is on the texts of the Liber S. Jacobi, which repeatedly reveal the intertwining of healing and salvation. Descriptions of the night vigils as well as some miracle stories make it clear how much the cooperation of the respective pilgrims was considered necessary for this. This concerned not least the willingness to understand events as miracles and to pass on these experiences through narration or otherwise. For the author of the Liber S. Jacobi, it was the night watches - which helped to make miracles a reality, waking, dreaming, half-sleeping, singing, praying, but also walking, talking and toiling beforehand. Mercy, oath-taking, penance and confession and many other things were added. However, it always required the willingness to get involved. If, in addition, the sources of the Middle Ages repeatedly put healing of body and soul in the <?page no="206"?> foreground and wanted to direct pilgrims towards the salvation of the soul, then both always remained closely connected. Wilhelm Schmid: La peregrinación como arte de vivir. Cómo la gente encuentra su tierra patria de una forma nueva Con la creciente popularidad de las rutas jacobeas por toda Europa hacia San‐ tiago de Compostela en España, el caminar ha experimentado un renacimiento en los tiempos modernos recientes. Con el caminar renace el homo viator, el hombre en camino, lo que básicamente ha sido desde sus orígenes. El cuerpo está ocupado, la mente puede ocuparse en la búsqueda de un sentido de la vida. Más recientemente, sin embargo, la peregrinación está cambiando y parece desvincularse de los objetivos religiosos, de toda clase de objetivos en general. Pero la esencia de la peregrinación siempre ha sido estar en camino, como sea y con lo que sea. Desde tiempos antiguos, el peregrino es simplemente el que viene de otra parte, del otro lado del campo (per agrum en latín, de ahí peregrinus), por lo que el campo significaba originalmente la propia tierra, considerada civilizada y cultivada. En la era digital el mismo estar en camino se está convirtiendo en una nueva forma de peregrinación. Pero, ¿es realmente peregrinación? A menudo se asocia con estar en camino hacia si mismo. Son nuevos caminos espirituales que conducen alrededor del mundo. Esta peregrinación también amplía el horizonte. Una reflexión profunda también se hace posible en estos caminos. Pero tiene que haber algo más que atrae a la gente de forma tan mágica, casi magnética, a los lugares de peregrinación, independientemente de que se trate de una peregrinación laica o religiosa. Es la búsqueda de „lo esencial“. ¿Es eso religión? ¿Qué se entiende por religión? Esto hay que rastrearlo a través de las reflexiones que pueden hacerse en la peregrinación de cualquier tipo. Este podría ser el significado de la peregrinación como arte de vivir. Independientemente de dónde y cómo tenga lugar. Pilgrimage as an art of living. How people find home in a new way With the growing popularity of the St. James pilgrimage routes all over Europe towards Santiago de Compostela in Spain, walking has experienced a renaissance in advanced modern times. Walking reawakens the homo viator, the man on the move, which he has basically been since his beginnings. The body is occupied, the mind can engage in cognitive sense-making. More recently, however, pilgrimage is changing and seems to be detaching itself from religious goals, from goals altogether. But the essence of pilgrimage has indeed always been to be on the way, however and with whatever. From former times on, the 206 Resúmenes / Abstracts <?page no="207"?> pilgrim has simply been the one who comes from somewhere else, from the other side of the field (per agrum in Latin, hence peregrinus), whereby the field originally meant one’s own land, considered civilised and cultivated. Being on the road itself is becoming a new form of pilgrimage in digital times. But is it really pilgrimage? It is often associated with being on the way to oneself. They are new spiritual paths that lead around the globe. This pilgrimage also broadens the horizon. Thoughtfulness also becomes possible on these paths. However, there must be something else that draws people so magically, almost magnetically, to pilgrimage sites, regardless of whether it is a secular or religious pilgrimage. It is the search for „the essential“. Is that religion? What is meant by religion at all? This is to be traced through reflections that can be made in pilgrimage of any kind. This could be the meaning of pilgrimage as an art of living. Regardless of where and in what way it takes place. Beate Brieseck: Desde el Valle---Psiquiatría en el Camino de Santiago Las enfermedades mentales son el resultado de procesos de desarrollo indi‐ viduales multifactoriales. En consecuencia, las instituciones psiquiátricas mo‐ dernas ofrecen un tratamiento multimodal amplio y orientado al sujeto, incluso en la fase aguda de una enfermedad, con el fin de lograr una regulación inicial y la estabilización de los pacientes en tantos niveles como sea posible. Sin embargo, la estabilización tras una estancia hospitalaria no significa una recuperación completa. Un cambio duradero en los patrones disfuncionales de pensamiento, evaluación y comportamiento aprendidos a lo largo de muchos años requiere tanto una psicoterapia ambulatoria a largo plazo como auténticos campos de entrenamiento, apoyados por una comunidad fiable y benévola, dentro de la cual se puedan poner a prueba y consolidar las reflexiones terapéuticas. El Hospital St. Marien de Eickel, una clínica de casos agudos para psiquiatría, psicoterapia y psicosomática, ha reconocido que caminar por el Camino de Santiago puede proporcionar precisamente este campo de formación e impulso vital necesario. Integrada en un concepto de terapia profesional y evaluada, cada etapa anual ofrece un espacio para todas las experiencias salutogénicas importantes que los enfermos mentales necesitan para su proceso de recuperación individual en todos los diagnósticos. Con resultados seleccionados, el artículo presenta estos factores eficaces. Tras una visión general de la relevancia de la terapia del Camino de Santiago para la dimensión médica, psicológica, social, psicosocial y somática de una enfermedad mental, el artículo profundiza en las principales influencias sobre la salud. Para ello, se asignan los factores efectivos a tres fases terapéuticas en torno a las peregrinaciones. El artículo también diferencia Resúmenes / Abstracts 207 <?page no="208"?> entre los factores condicionados conceptualmente y los recursos del Camino de Santiago, que por sí solo, con su atractivo histórico y espiritual y su estatus social altamente reconocido como Patrimonio de la Humanidad, puede tener un efecto positivo en la recuperación. From the Valley---Psychiatry on the Way of St. James Mental illnesses result from individual multifactorial developmental processes. Accordingly, modern psychiatric institutions offer a broad, subject-oriented multimodal treatment even in the acute stage of an illness in order to achieve an initial regulation and stabilisation of the patients on as many levels as possible. However, stabilisation after an inpatient stay does not mean complete recovery. A lasting change in dysfunctional patterns of thinking, evaluation and behaviour learned over many years requires both long-term outpatient psychotherapy and authentic training fields, supported by a reliable, benevolent community, within which therapeutically reflected can be tested and consolidated. The St. Marien Hospital Eickel, an acute clinic for psychiatry, psychotherapy and psychosomatics, has recognized that walking on the Way of St. James can provide precisely this necessary lifelike training and impulse field. Embedded in a professional, evaluated therapy concept, each annual stage offers a space for all the important salutogenic experiences that mentally ill people need for their individual recovery process across all diagnoses. With selected results, the article presents these effective factors. After an overview of the relevance of the St. James Way therapy to the medical, psychological, social, psychosocial and somatic dimensions of a mental illness, the article goes into more depth on the main influences on health. In doing so, the factors of effect are assigned to three therapy phases around the pilgrimages. The article also differentiates between conceptually determined factors and the resources of the Way of St. James, which alone, with its historical and spiritual appeal and its highly recognised social status as a World Heritage Site, can per se have a positive effect on recovery. Jürgen Bärsch: Salvación y curación en los ritos de la liturgia de peregrinación El artículo rastrea la evolución litúrgico-histórica de las liturgias de peregrina‐ ción y pregunta cómo los aspectos de curación y salvación se hacen notar en los ritos y oraciones. En la Edad Media surge la bendición de los peregrinos, que sobre todo interpretaba la larga y peligrosa peregrinación como un proceso de transformación espiritual vinculado a los motivos de penitencia, reconciliación y purificación. Mientras que las normas para la liturgia de la peregrinación se 208 Resúmenes / Abstracts <?page no="209"?> centran sobre todo en la salvación del alma, los peregrinos esperaban no menos la salvación y curación de la vida corporal y terrenal. Bajo las circunstancias modificadas de la confesionalización, la peregrinación se convirtió en una procesión comunitaria, ordenada eclesiastico-litúrgicamente bajo el clero, a destinos de peregrinación cercanos de sólo un día de viaje. La salvación y la curación se acentúan de forma diferente, pues ahora las intenciones pastorales, orientadas a la práctica de los sacramentos y a los ejercicios piadosos más extendidos, interfieren con los deseos de los fieles, para quienes la experiencia comunitaria es tan importante como la religiosa. En este sentido, las dimensiones de la salvación y la curación pueden observarse en toda la liturgia de la peregrinación, aunque con intereses acentuados de forma diferente. Healing in the rites of the pilgrimage liturgy The article traces the liturgical-historical developments of pilgrimage liturgies and asks how the aspects of healing and salvation are brought to bear in rites and prayers. In the Middle Ages, the blessing of pilgrims emerges, which above all presents the long and perilous pilgrimage as a process of spiritual transfor‐ mation linked to the motifs of penance, reconciliation and purification. While the orders for the pilgrimage liturgy focus primarily on the salvation of the soul, the pilgrims hoped no less for salvation and healing of the bodily-earthly life. Under the changed circumstances of confessionalisation, pilgrimage changed into a communal, church-liturgically ordered procession under the clergy to nearby pilgrimage destinations of only a day’s journey. Salvation and healing are accentuated differently, for now pastoral intentions, oriented towards the reception of sacraments and propagated styles of piety, overlap with the wishes of the faithful, for whom the communal experience is just as important as the religious experience. In this respect, the dimensions of salvation and healing can be observed throughout the pilgrimage liturgy, although with different accentuated interests. Christiane Laudage: ¿Salvación mediante indulgencias? Años santos y caminos al cielo Las indulgencias fueron una de las formas de piedad más populares de la Baja Edad Media, porque en cierto modo hacían predecible el camino de la salvación eterna. Además, podían combinarse bien con otras prácticas de la vida religiosa, como la peregrinación. Con el Año Santo romano, que se celebra a intervalos regulares hasta nuestros días, la Iglesia Católica ofrece a lo fieles desde el año 1300 una indulgencia plenaria al final de una peregrinación. Este artículo muestra cómo la gente tenía interés en conseguir la salvación que la Iglesia les Resúmenes / Abstracts 209 <?page no="210"?> ofrecía. La indulgencia plenaria en relación con el Año Santo pasó por diversas transformaciones debido a la presión de los fieles y a las exigencias a los papas desde distintos frentes. Tanto los fieles como el pueblo tenían en cuenta su salvación y sus intereses. El punto culminante se alcanzó en las últimas décadas antes de la Reforma, cuando las indulgencias plenarias para el Año Santo fueron absorbidas por las campañas de indulgencias, que ofrecían a la gente un seguro completo para la otra vida. Healing through indulgences? Holy years and paths to heaven Indulgences were among the most popular forms of piety in the late Middle Ages because they made the path to eternal salvation calculable. Moreover, it could be combined well with other practices of religious life, such as pilgrimage. With the roman Holy Year, which is celebrated at regular intervals up to the present day, the Catholic Church has offered people a plenary indulgence at the end of a pilgrimage since the year 1300. This paper shows how people claimed the salvation the Church offered them. The plenary indulgence in connection with the Holy Year went through various transformations due to pressure from the faithful and demands on the popes from different sides. Both the faithful and the people had their salvation and interests at heart. In the last decades before the Reformation a peak was reached, when the plenary indulgence for the Holy Year was absorbed into the indulgence campaigns, which offered people comprehensive insurance for the afterlife. Bernd Hamm: La peregrinación bajomedieval en el campo de fuerza de movilidad y „gracia cercana“ El artículo aborda el sorprendente aumento de las peregrinaciones cercanas en el periodo comprendido entre 1350 y 1520. Las peregrinaciones de larga distancia conservan su atractivo, pero la dinámica innovadora de esta época queda patente en el hecho de que el énfasis principal de la peregrinación y el „caminar“ se desplaza hacia lugares de gracia o santuarios cercanos a los que se puede llegar en uno o dos días. Teológicamente, existe una conexión directa con la idea de „gracia cercana“, característica de la Baja Edad Media en su conjunto. También es evidente, por ejemplo, en la institución de las indulgencias y especialmente en la oferta de indulgencias jubilares, que son transferidas de Roma a santuarios próximos fácilmente accesibles. Las nuevas peregrinaciones cercanas, que atraían a grandes multitudes, no estuvieron exentas de polémica. Se puede observar que la „fiebre de las peregrinaciones“ fue criticada sobre todo por teólogos eruditos, que destacan sus peligros morales y pueden argumentar: 210 Resúmenes / Abstracts <?page no="211"?> No necesitas peregrinar en absoluto. Encontrarás la plenitud de la gracia en las iglesias y capillas de tu propio lugar y sus alrededores. Late Medieval Pilgrimage in the Force Field of Mobility and „Near Grace“ This article deals with the striking increase in near pilgrimages in the period between 1350 and 1520. Long-distance pilgrimages retain their attractiveness, but the innovative dynamic of this era is evident in the fact that the main emphasis of pilgrimage and „walking“ shifts to nearby places of grace that can be reached in one or two days. Theologically, there is a direct connection to the idea of „near grace“, which is characteristic of the late Middle Ages as a whole. It is also evident, for example, in the system of indulgences and especially in the offer of Jubilee indulgences, which are transferred from Rome into easily accessible proximity. The new near pilgrimages, which attracted large crowds, were not without controversy. One can observe that the „pilgrimage fever“ was criticised mainly by learned theologians. They highlight its moral dangers and may argue: You do not need to go on pilgrimage at all. You will find the fullness of grace in the churches and chapels of your own place and its surroundings. Julia Burkhardt: Curación y recuperación. Dimensiones y eficacia de la peregrinación espiritual en la Edad Media A partir del siglo XIII, se estableció en muchas partes de Europa el fenómeno de la peregrinación espiritual, que se fundaba en la contemplación consciente y la realización espiritual, emocional o sensorial de una peregrinación. Las normas y condiciones de tales viajes varían según el contexto específico. Pero, ¿se podía lograr curación y recuperacíon también por las peregrinaciones espirituales? Partiendo de esta pregunta, la conferencia examina mediante el análisis de ejemplos seleccionados las dimensiones y la eficacia de la peregrinación espiri‐ tual en la Edad Media. Healing and Recovery. Dimensions and Effectiveness of Spiritual Pilgr‐ image in the Middle Ages Since the 13th century, the devotional practice of spiritual pilgrimages can be found in most parts of Europe. This practice on the one hand was based on conscious contemplation and on the other hand on the spiritual, emotional or even sensory performance of a pilgrimage. Depending on the context, the guidelines and conditions of such voyages varied. However, could spiritual pil‐ grimages nonetheless lead to healing and recovery? Focusing on this question, Resúmenes / Abstracts 211 <?page no="212"?> the article examines the dimensions and effectiveness of spiritual pilgrimage in the Middle Ages by analyzing selected examples. Peter Rückert: Curación para el cuerpo y el alma. Margarita de Saboya en el Camino de Santiago de Compostela El vínculo biográfico de peregrinación con salvación y curación queda ejempla‐ rizado en la destacada personalidad de Margarita de Saboya: Margarita (1420- 1479) era hija del (anti-)papa Félix V. Su agitada vida, que la llevó por toda Europa, y sobre todo sus propios testimonios ofrecen una mirada instructiva sobre su preocupación personal por la salud física y la salvación espiritual. En el centro de la vida de Margarita se encuentran numerosas peregrinaciones, que a menudo combinaba con visitas a balnearios y centros de salud. El sensacional viaje de Margarita a Santiago en 1466 la llevó en un espectacular recorrido vía la corte real francesa hacia España, aprovechando al mismo tiempo el viaje para arreglar también asuntos familiares. Esta agitada vida de Margarita de Saboya estuvo siempre marcada por su profunda espiritualidad; sus peregrinaciones muestran con especial claridad su devoción personal. La peregrinación a Santiago de Compostela, con sus fracturas e incertidumbres, puede ser un símbolo de la vida de Margarita, que sabía que con esto estaba en la línea de su tradición familiar. Healing for body and soul. Margaret of Savoy on the Way to Santiago de Compostela The biographical link between pilgrimage and salvation and healing is exemp‐ lified by the prominent personality of Margaret of Savoy: Margaret (1420-1479) was the daughter of the (counter-)pope Felix V. Her eventful life, which took her everywhere across Europe, and especially her self-testimonies offer instructive insights into her personal endeavours for physical health and spiritual healing. At the centre of Margaret’s life story are numerous pilgrimages, which she often combined with visits to spas and health resorts. Her sensational journey to Santiago in 1466 took Margarethe in a spectacular train via the French royal court towards Spain, thereby also settling her family affairs. This eventful life of Margaret of Savoy was always guided by her intense piety; her pilgrimages show her personal devotion particularly clearly. The pilgrimage to Santiago de Compostela, with its fractures and uncertainties, can be symbolic of Margaret’s life, who knew that she was in good hands with her family tradition. 212 Resúmenes / Abstracts <?page no="213"?> Register der Orts- und Personennamen Bearbeitet von Linus Schreiber Das Register erfasst die Orts- und Personennamen. Neben dem Haupttext werden auch alle Namen aus den Anmerkungen erfasst, sofern sie nicht in bibliographischen Angaben enthalten sind. Bei Personen wird in der Regel die Amtszeit bzw. das Sterbedatum vermerkt. Nicht aufgenommen wurden Jakobus und Jesus Christus. Aachen 111, 135 Abenberg 139 - Kl. Marienburg 139 Abraham, bibl. Gestalt 66, 67, 72 Achahildis, hl. († ca. 970) 139 Afra von Augsburg, hl. († 304) 139 Alberico da Rosate, Jurist († 1354) 86 Albrecht IV., Mgf. von Brandenburg (1499-1513) 69 Alexander III., Papst (1159-1181) 108 Alexander VI., Papst (1492-1503) 99-101, 103 Almería (Spanien) 23 Altötting 30, 139 Amadeus VIII., Hzg. von Savoyen (1391-1439) (siehe auch Felix V.) 180, 181, 183, 190-193, 204 Amadeus IX. Hzg. von Savoyen (1465-1472) 193 Amboise (Frankreich), Stadt und Schloss 194, 195, 199 Ancona (Italien) 111 Angenendt, Arnold († 2021) 59 Angers (Frankreich) 195, 199, 200 Anjou (Frankreich) 181, 184, 193-195, 199, 201 Aquino (Italien) 69 Asam, Hans Georg, Kirchenmaler († 1711) 8 Assisi (Italien) 79-81, 107 - San Francesco (St. Franziskus), Kirche 79 - Santa Maria degli Angeli (Portiuncula), Kapelle 79, 80, 84, 90, 107 Athanasius der Große, Patriarch von Alexandria (328-373) 118 Augsburg, Stadt und Bistum 7, 91, 114, 139, 191-193, 203 - Schloss Wellenburg 139 Augustinus, Bf. von Hippo Regius (396-430) 16, 138 Avignon 85, 87, 92, 93 Bad Liebenzell 190 Bad Urach 186 Bad Wildbad 190 Bad Wilsnack 30, 31, 57, 111, 129-131 - Wunderblutkirche 57 Baden 188, 190 Bangui (Zentralafrikanische Republik) 101 Barcelona 22 Basel 94, 183, 184, 191 <?page no="214"?> Baston, Guillaume André René, Bf. von Sées (1813-1815) 74 Bayern 8, 139, 140, 184 Benedikt von Nursia, Ordensgründer († 547) 7 Benedikt XIII., Papst (1394-1423) 93 Benedikt XVI., Papst (2005-2013) 108 Benediktbeuern 7, 8, 11, 12, 15 - Kl. 7, 8 Bergamo 153 Berlin 29, 30, 32, 149, 193 - Reichstag 32 - Schöneberg 149 Bern 187 Bernhard, Abt von Clairvaux (1115-1153) 159 Böhmen 141 Bonaventura, Theologe († 1274) 88, 118 Bonifatius, Missionar und Bf. von Mainz (745-754) 7 Bonifaz VIII., Papst (1294-1303) 80, 82, 84, 107 Bonifaz IX., Papst (1389-1404) 90, 92, 93, 94 Bordeaux 200 Brandenburg, Land 30, 111, 129, 141 Brescia (Italien) 183 Burgund 21, 114, 180, 181, 186 Caesarius von Heisterbach, Zisterzienser († nach 1240) 159, 160, 162, 163 Canterbury, Stadt und Erzbistum 104-107 Chambéry (Frankreich) 187, 192 Charlotte von Savoyen, frz. Kgn. (1461-1483) 194, 199 Christo, Claude, Künstler († 2020) 31 Cisa-Pass (Pyrenäen) 25 Coelestin V., Papst (1294) 80 Clemens VI., Papst (1342-1352) 85-89, 91, 93, 105 Clemens VII., Papst (1378-1394) 92 Coesfeld 74 Cosenza (Italien) 181 Dänemark 102 Debussy, Claude, Komponist († 1918) 150 Dedoin, Alain, Schauspieler (1935-) 149 Deggendorf 139 Deocar, hl. († vor 826) 139 Dettelbach 111, 139 Deutschland 15, 57, 77, 78, 95, 98, 99, 101-104, 107, 139, 172 Dorothea Schürstab, Dominikanerin († 1475) 143 Eberhard II., Gf./ Hzg. von Württemberg (1480-1504) 190 Ebstein, Katja, Sängerin (1945-) 26, 28 Egeria, Pilgerin (belegt 381-384) 60 Einsiedeln (Schweiz), Kl. 111, 135, 147, 187, 188, 204 Elisabeth von Brandenburg, Hzgn. von Württemberg (1496-1504) 190 Elisabeth von Thüringen, hl. († 1231) 164 England 78, 104, 105 Erfurt 124, 128, 135, 138 174, 176 - Kl. der Augustinereremiten 138, 174 Estella (Spanien) 23, 24 Eugen IV., Papst (1431-1447) 183 Eustache Deschamps, Dichter († 1404) 94 Felix, hl. († 286) 188, 189 Felix V., Papst (1439-1449) (siehe auch Amadeus VIII. von Savoyen) 183, 184, 190-193 Felix Fabri, Dominikaner († 1502) 146, 147, 173 Figeac (Frankreich) 46 Fischer, Johann Michael, Baumeister († 1766) 8 Floreffe (Belgien), Kl. 89, 90 Florian, hl. († 304) 65 214 Register der Orts- und Personennamen <?page no="215"?> Fontane, Theodor, Schriftsteller († 1898) 30 Francesco Petrarca, Dichter († 1374) 119, 153-157, 165 Franken 111, 130 Frankreich 39, 41, 78, 95, 96, 150, 172, 193, 194, 198 Franz von Assisi, Ordensgründer († 1226) 79, 81, 118 Franziskus, Papst (2013-) 80, 82, 101, 108 Fraunhofer, Joseph von, Physiker († 1826) 8 Frederik van Heilo, Mönch († 1455) 132 Freiburg (Schweiz) 191 Freising 139 Friedrich der Weise, Kf. von Sachsen (1486-1525) 69 Friedrich III., röm. Kg. und Ks. (1440-1493) 101, 102, 183, 191 Friesland 102 Galicien (Gallicia, Spanien) 17, 18, 20, 22, 25, 107, 195 Gandhi, Mahatma († 1948) 31 Gascogne (Frankreich) 25 Gelasius I., Papst (492-496) 61 Genf 187, 191, 193 Genfer See 31, 180, 181, 183 Gershom, bibl. Gestalt 114 Gilbert, Bf. von Limerick (1106-1140) 64 Gildas, hl. († 570) 60 Giovanni Mandelli 153-156 Gotha 137 - Kl. der Augustinereremiten 128, 137 Gottschalk Hollen, Augustinermönch († 1481) 58, 132, 133 Gregor von Rimini, Ordensgeneral der Augustineremeriten († 1358) 122 Gregor XI., Papst (1370-1378) 92 Gregor, Bf. von Nyssa (372-376; 378- nach 394) 118, 119 Grimmenthal 130, 131, 136, 139 Guibert aus Burgund 21 Guilelmus Ventura, Chronist († ca. 1322) 83 Guillaume de Digulleville, Zisterzienser († 1358) 113, 122, 155, 156 Gunthild, hl. († ca. 1057) 139 Halle (Saale) 69 Hamburg 30 Hans Behem († 1476) 135 Hedwig, Hzgn. von Schlesien (1233-1243) 164, 165 Heidelberg 184, 186, 189, 193 Hein, Jakob, Schriftsteller (1971-) 150 Heinrich II., engl. Kg. (1154-1189) 106 Heinrich Seuse, Mystiker († 1366) 147 Heinrich Steinhöwel, Humanist († 1479) 190, 203 Heinrich VIII., engl. Kg. (1509-1547) 106 Heinrich von Hunwil († 1474) 188, 190 Helene v. Württemberg († 1506) 186 Henry Chicheley, Ebf. von Canterbury (1414-1443) 106 Hermann aus Leubus, Zisterzienser 164, 165 Herne 32, 51 - Marienhospital Eickel 12, 37-39, 43 Herrieden 139 Herrmann Weinsberg, Ratsherr in Köln (1543-1549, 1565-1597) 67 Hitler, Adolf, Diktator (1933-1945) 15 Hohenwart, Kl. der Benediktinerinnen 139 Honorius Augustodunensis († 1150/ 51) 64 Honorius III., Papst (1216-1227) 105 Huizinga, Johann, Kulturhistoriker († 1945) 110 Indien 31 Innozenz III., Papst (1198-1216) 68 Innozenz VIII., Papst (1484-1492) 101, 176 Iphofen 139 Irland 69 Register der Orts- und Personennamen 215 <?page no="216"?> Iseosee (Italien) 32 Israel 66, 67, 72 Italien 78, 181 Jacob de Litement, Hofmaler der frz. Könige (1451-1474) 198 Jakob von Vitry, Kardinaldekan (1237-1240) 165, 166 Jakob von Voragine, Ebf. von Genua (1292-1298) 166 Jan Hus, Theologe († 1415) 91 Jean Gerson, Kanzler der Sorbonne (1395-1429) 113-116, 144 Jeanne-Claude, Künstlerin († 2009) 31 Jerusalem 18, 19, 75, 111, 112, 122, 135, 146, 147, 151, 153-155, 172, 173, 176, 177, 181 Johann, Gf. von Werdenberg, Bf. von Augsburg (1469-1486) 200, 203 Johann Ohnefurcht, Hzg. von Burgund (1404-1419) 114 Johannes Bauer von Dorsten, Augustinereremit († 1481) 128, 129, 132, 137, 138, 141 Johannes Burckard, päpstl. Zeremonien‐ meister (1484-1503) 100 Johannes de Fabrica, Theologe († 1487) 91 Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510) 114, 115, 168-172, 177 Johannes Klimakos, hl. († ca. 649) 118 Johannes Paul II., Papst (1978-2005) 108 Johannes von Paltz, Doktor der Theologie (1483-1505) 124-138, 141, 144-147 Johannes von Staupitz, Generalvikar der Augustineremeriten (1503-1520) 122 John of Wodensburg, Domprior von Canterbury (belegt 1420) 106 John Wyclif, Theologe († 1384) 91 Kalabrien (Italien) 181 Kanyakumari (Indien) 31 Kärnten (Österreich) 86 Kastulus, hl. († um 312) 139 Kerkeling, Harpe, Entertainer (1964-) 107 Kettner, Johann, Arzt 203 Köln 67, 73, 79, 93, 135 Konrad von Weinsberg († 1448) 57, 58, 59 Krakau 165 L’Aquila (Italien) 80 - Santa Maria di Collemagio, Kirche 80 Lausanne 187 Leipzig 91 Leo XIII., Papst (1878-1903) 108 León 25 Leubus (Polen) 164, 165 - Kl. 164, 165 Liebenau, Kl. 190 Logroño (Spanien) 23, 24 Loisach, Fluss 7 Loreto (Italien) 111, 147 Lothringen (Frankreich) 25 Lough Derg (Irland) 69 Ludwig XI., frz. Kg. (1461-1483) 193-195, 198-200 Ludwig I., Hzg. von Savoyen (1440-1465) 187, 191, 193 Ludwig III. von Anjou, Titularkg. von Sizilien und Neapel (1417-1434) 181, 184, 193 Ludwig IV., Kf. von der Pfalz (1436-1449) 184, 186 Lüttich (Belgien) 159 Luzern (Schweiz) 188, 190 Lyon 114 Maastricht 111 Magdeburg 93 Mailand 93, 166, 167 Mainz 111, 135 Mallorca, Insel 93 Marc Aurel, römischer Ks. (161-180) 33 216 Register der Orts- und Personennamen <?page no="217"?> Margarethe, Schwester Gf. Eberhards II. von Württemberg 190 Margarethe, Tochter Margarethes v. Savoyen († 1470) 186 Margarethe von Savoyen, Titularkgn. von Sizilien (1431-1434), Gfn. von Würt‐ temberg (1453-1479) 11, 179-191, 193-196, 199, 200, 202-204 Maria, Hzgn. von Burgund (1477-1482) 180, 181 Maria, Mutter Jesu 66, 73, 85, 112, 121, 125, 127, 130-132, 135, 136, 138-142, 148, 160, 177, 181, 182, 187, 188, 204 Marie d’Anjou, Kgn. (1422-1461) 195 Marienthal, Seelbach bei Hamm 163 Marini, Piero, päpstl. Zeremonienmeister (1987-2007) 100 Martha von Bethanien, bibl. Gestalt 132 Martin Luther, Reformator († 1546) 31, 91, 98, 132, 134, 147 Martin V., Papst (1417-1431) 94, 106 Maximilian I., röm. Kg. und Ks. (1486/ 1508-1519) 101-104 Mecklenburg 137, 138, 140, 141 Meinerzhagen 39 Meiningen 130 Meinrad von Einsiedeln, hl. († 861) 188, 189 Meißen 93, 130 Mekka (Saudi-Arabien) 31 Melk, Stift (Österreich) 114 Mercury, Freddie, Sänger († 1991) 31 Messager, André, Komponist († 1929) 150 Möckmühl 185 Mont-Saint-Michel (Frankreich) 111, 130 Mont Ventoux, Berg 119 Montaigne, Michel de, Philosoph († 1592) 31 Montargis (Frankreich), Stadt und Schloss 194, 195, 199 Monte Alverna, Berg 118 Montevergine (Italien), Kl. 181, 204 Montreux (Schweiz) 31 Moosburg a. d. Isar 139 Mose, bibl. Figur 114, 118 München 8, 13, 29, 93, 149, 184 München-Freising, Erzbistum 72 Namur (Belgien) 89 Neapel 181, 194, 201 Nicolaus von Siegen, Benediktiner († 1495) 174, 175 Niederlande 172 Niklas von Wyle, Kanzler Gf. Ulrichs von Württemberg (1469-1478) 187, 188 Niklashausen 135 Nikolaus V., Papst (1447-1455) 94, 95 Nikolaus von Kues, Theologe (1401-1464) 95 Norwegen 102 Novalis, Romantiker (1772-1801) 35 Nürnberg 69, 103, 118, 120, 125, 138, 139, 143 - Kl. St. Katharina 118, 138, 143 Oetenbach, Kl. (bei Zürich) 166-168 Olsberg 39 Orff, Carl, Komponist († 1982) 8 Osnabrück 58, 132 Palästina 176 Paris 91, 97, 113-115, 149 Parma 26, 27 Passau 139 Paul II., Papst (1464-1471) 95 Paulus, Apostel († nach 60) 60, 62, 88 Pedro (Peter) Muñiz, Ebf. von Santiago de Compostela (1207-1227) 68 Peter von Herental († 1391) 89 Petrus, Apostel († 65-67) 60, 62, 88 Petrus von Verona, Dominikaner († 1252) 166, 167 Register der Orts- und Personennamen 217 <?page no="218"?> Pfalz 184, 186, 191, 193, 204 Pfalzel 124 Philipp von Zell († nach 750) 184, 186, 204 Philippine, Tochter Margarethes v. Savoyen († 1475) 186 Polen 39 Prag 93 Preußen 102 Prignitz 30 Provence 181 Pyrenäen 200 Radegunde, hl. († 587) 139 Raimund Peraudi, Kard. (1493-1505) 90, 91, 96-99, 101-103, 126, 145 Rattenberg am Inn (Österreich) 114 Regensburg 140 Regula, hl. († 286) 188, 189 Remiremont (Frankreich) 8 René I., Hzg. von Anjou (1434-1480) 193-195, 199, 201 Rhein, Fluss 111, 119, 130, 184 Richard von St. Viktor († 1173) 118, 119 Richildis von Hohenwart († 1100) 139 Ripaille, Schloss (Genfer See) 181 Rocamadour (Frankreich) 111 Rom 60, 75, 80, 82-96, 99-101, 103-108, 111, 135, 143, 147, 151, 168-174, 176, 177 - San Giovanni in Laterano, Kirche 85, 88 - San Lorenzo fuori le mura, Kirche 86, 88 - San Paolo fuori le mura, Kirche 83, 85, 88 - San Pietro (Petersdom), Kirche 83-85, 88, 100 - San Sebastiano fuori le mura, Kirche 88 - Santa Croce in Gerusalemme, Kirche 88, 143 - Santa Maria Maggiore, Kirche 86, 99, 92, 107 Rothenburg o. d. Tauber 139 Röttingen a. d. Tauber 139 Rovereto (Italien) 103 Rudolf von Scherenberg, Bf. von Würzburg (1466-1495) 135 Sachsen 130, 190 Saint-Alban-sur-Limagnole (Frankreich) 46 Saint-Denis (Frankreich) 199 Saint-Florentin (Frankreich) 199 Saint-Guilhem-le-Désert (Frankreich), Kl. (Gellone) 62, 66 Saintes (Frankreich), Stadt und Bistum 90, 96, 97, 101 - St. Pierre, Kathedrale 91, 97 Santiago de Compostela, Stadt und Erz‐ bistum 8, 10, 12, 17, 25, 28, 31, 39, 51, 53, 55, 68, 75, 90, 107, 108, 111, 139, 147, 151, 173, 179, 180, 187, 190, 193, 194- 196, 199, 200, 204 - Kathedrale 10, 17-19, 21-23, 68 Sauerland 39 Savoyen 11, 179-180, 182-183, 186, 187, 189-194, 196, 200, 202-204 Schweden 102 Sebald, hl. 139 Sebastian Ilsung, Augsburger Patrizier († 1469) 191, 193, 194 Sigismund von Luxemburg, Kg. und Ks. (1410/ 11-1437) 57 Simpert, Bf. von Augsburg (778-807) 139 Sinai, Berg 118 Sixtus IV., Papst (1471-1484) 97 Sizilien 22, 181, 184, 194, 195, 201 Sorrent (Italien) 181 Spanien 31, 62, 78, 150, 200 St. Annaberg (Polen) 39 Steiermark 8 Stephan Langton, Ebf. von Canterbury (1207-1228) 105 Stephan von Landskron († 1477) 114 Sternberg 137, 138 - Kl. der Augustinereremiten 138 Stilla von Abenberg († ca. 1140) 139 218 Register der Orts- und Personennamen <?page no="219"?> Straßburg 114, 168, 169, 171 Stuttgart 186, 193, 194, 200, 203 Suffersheim (Bayern) 139 Tegernsee, Kl. 7 Theodulf, Bf. von Orléans (798-813) 61 Thomas Becket, Ebf. von Canterbury (1162-1170) 104-106 Thomas Cajetan, Ordensgeneral der Dominikaner (1508-1518) 91 Thomas von Aquin, Theologe († 1274) 69, 88 Thomas von Cantimpré, Dominikaner († 1270/ 72) 163 Thüringen 130 Tiber, Fluss 83, 93 Trebnitz (Polen) 164, 165 Trient (Italien) 70 Trier, Stadt und Erzbistum 111, 124, 135, 136 Ulm 119, 124, 146, 190 - Münster 146 Ulrich, Bf. von Augsburg (923-973) 7, 139 Ulrich V., Gf. von Württemberg (1433-1480) 185-188, 193, 194 Ulrich Krafft, Stadtpfarrer in Ulm (1501-1516) 119, 121, 124, 146, 147 Urban VI., Papst (1378-1389) 92, 93 Ursula Haider, Äbtissin von Valduna u. Villingen (1467-1489) 175, 176 Vic/ Vich (Spanien) 62 Villingen 176, 177 - Klarissenkl. 175, 176 Volkach 139 Walldürn 73 Walter Hilton, Augustiner († 1396) 118 Weinsberg 57, 58, 67 Wendelstein 139 Wilhelm IV., Gf. von Henneberg (1482/ 85-1559) 130 Wiltzenach 130, 131 Windesheim 132 Winnenden 204 - Schlosskirche 204 Wittenberg 69 Worms 184, 190 Württemberg 185-186, 189, 195, 200, 202 Würzburg, Stadt und Bistum 130, 135, 139 - Kl. St. Jakob 135 Zell 184, 204 Zentralafrikanische Republik 101 Zimmermann, Johann Baptist, Maler († 1758) 8 Zürich 166 Register der Orts- und Personennamen 219 <?page no="220"?> Abkürzungsverzeichnis Bf. Bischof CChr. SL Corpus Christianorum Series Latina Ebf. Erzbischof Gf./ Gfn. Graf/ Gräfin HAB Herzog August Bibliothek Hl.; hl. Heilige/ Heiliger; heilige/ heiliger HStA Hauptstaatsarchiv Hzg./ Hzgn. Herzog/ Herzogin Kard. Kardinal Kg./ Kgn. König/ Königin Kf. Kurfürst Kl. Kloster Ks. Kaiser LMU Ludwig-Maximilians-Universität LThK Lexikon für Theologie und Kirche PL Migne, Patrologia Latina RI Regesta Imperii UB Universitätsbibliothek <?page no="221"?> Abbildungsnachweise Brüssel, Königliche Bibliothek: S.-183 Chambéry, Archives Départementales de la Savoie: S.-192 Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek: S.-116 Heidelberg, Universitätsbibliothek: S.-189 Mercogliano, Museo Abbaziale di Montevergine: S.-182 München, Bayerische Staatsbibliothek: S.-9 Paris, Louvre: S.-201 Parma, Bibliotheca Palatina: Umschlag, S.-27 Santiago de Compostela, Archiv der Kathedrale: S.-10 Stuttgart, Landesmuseum Württemberg: S.-185, 202 Anja Thaller/ Peter Rückert, Stuttgart: S.-196 f. Washington, National Gallery of Art: S.-120 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: S.-178 Weitere Abbildungsvorlagen, soweit nicht genauer bezeichnet, stammen von den Autoren. <?page no="222"?> Jakobus-Studien im Auftrag der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft herausgegeben von Klaus Herbers und Peter Rückert Bisher sind erschienen: Band 1 Klaus Herbers (Hrsg.) Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte 1988, 175 Seiten, zahlr. Abb. €[D] 19,- ISBN 978-3-8233-4000-3 Band 2 Robert Plötz (Hrsg.) Europäische Wege der Santiago-Pilgerfahrt 2. durchges. Auflage 1993, VIII, 232 Seiten €[D] 23,- ISBN 978-3-8233-4001-0 Band 3 John Williams / Alison Stones (eds.) The Codex Calixtinus and the Shrine of St. James 1992, XIV, 262 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-4004-1 Band 4 Ursula Ganz-Blättler Andacht und Abenteuer Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320-1520) 3. Auflage 2000, VII, 425 Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-8233-4003-4 Band 5 Klaus Herbers / Robert Plötz (Hrsg.) Spiritualität des Pilgerns Kontinuität und Wandel 1993, 152 Seiten €[D] 19,- ISBN 978-3-8233-4005-8 Band 6 Thomas Igor C. Becker Eunate (Navarra): Zwischen Santiago und Jerusalem Eine spätromanische Marienkirche am Jakobsweg 1995, 135 Seiten, zahlr. Abb. €[D] 19,- ISBN 978-3-8233-4006-5 Band 7 Klaus Herbers / Dieter R. Bauer (Hrsg.) Der Jakobuskult in Süddeutschland Kultgeschichte in regionaler und europäischer Perspektive 1995, XIV, 401 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-4007-2 Band 8 Klaus Herbers (Hrsg.) Libellus Sancti Jacobi Auszüge aus dem Jakobsbuch des 12. Jahrhunderts Ins Deutsche übertragen und kommentiert von Hans-Wilhelm Klein (†) und Klaus Herbers 1997, 150 Seiten, 2., durchges. Aufl. 2018 €[D] 24,90 ISBN 978-3-8233-8215-7 Band 9 Klaus Herbers / Robert Plötz (Hrsg.) Der Jakobuskult in »Kunst« und »Literatur« Zeugnisse in Bild, Monument, Schrift und Ton 1998, XII, 303 Seiten, zahlr. Abb. €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-4009-6 <?page no="223"?> Band 10 Klaus Herbers (Hrsg.) Stadt und Pilger Soziale Gemeinschaften und Heiligenkult 1999, XIV, 248 Seiten, zahlr. Abb. €[D] 24,- ISBN 978-3-8233-4010-2 Band 11 Luís M. Calvo Salgado Die Wunder der Bettlerinnen Krankheits- und Heilungsgeschichten in Burgos und Santo Domingo de la Calzada (1554-1559) 2000, X, 500 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-4011-9 Band 12 Klaus Herbers / Dieter R. Bauer (Hrsg.) Der Jakobuskult in Ostmitteleuropa Austausch - Einflüsse - Wirkungen 2003, X, 387 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-4012-6 Band 13 Robert Plötz / Peter Rückert (Hrsg.) Jakobuskult im Rheinland 2004, VI, 279 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-6038-4 Band 14 Klaus Herbers (Hrsg.) Jakobus und Karl der Große Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin 2003, XVI, 246 Seiten €[D] 29,90 ISBN 978-3-8233-6018-6 Band 15 Hedwig Röckelein (Hrsg.) Der Kult des Apostels Jakobus d.Ä. in norddeutschen Hansestädten 2005, 261 Seiten €[D] 42,- ISBN 978-3-8233-6039-1 Band 16 Klaus Herbers (Hrsg.) Die oberdeutschen Reichsstädte und ihre Heiligenkulte Tradition und Ausprägung zwischen Stadt, Ritterorden und Reich 2005, XII, 232 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-6192-3 Band 17 Klaus Herbers / Enno Bünz (Hrsg.) Der Jakobuskult in Sachsen 2007, VI, 340 Seiten, zahlr. Abb. €[D] 42,- ISBN 978-3-8233-6332-3 Band 18 Klaus Herbers / Peter Rückert (Hrsg.) Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit Wirtschaft, Kultur und Pilgerfahrten 2009, VI, 256 Seiten, zahlr., teils farbige Abb. €[D] 42,- ISBN 978-3-8233-6447-4 Band 19 Klaus Herbers / Peter Rückert (Hrsg.) Pilgerheilige und ihre Memoria 2012, 277 Seiten, zahlr., teils farbige Abb. €[D] 42,- ISBN 978-3-8233-6684-3 Band 20 Klaus Herbers / Hartmut Kühne (Hrsg.) Pilgerzeichen - „Pilgerstraßen“ 2013, 212 Seiten, zahlr., teils farbige Abb. €[D] 34,- ISBN 978-3-8233-6779-6 Band 21 Volker Honemann / Hedwig Röckelein (Hrsg.) Jakobus und die Anderen Mirakel, Lieder und Reliquien 2015, 258 Seiten, zahlr., teils farbige Abb. €[D] 42,- ISBN 978-3-8233-6981-3 <?page no="224"?> Band 22 Robert Plötz / Peter Rückert (Hrsg.) Jakobus in Franken Kult, Kunst und Pilgerverkehr 2018, 244 Seiten, zahlr., teils farbige Abb. €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-8159-4 Band 23 Hartmut Kühne / Gunhild Roth (Hrsg.) Andacht oder Abenteuer Von der Wilsnackfahrt im Spätmittelalter zu Reiselust und Reisefrust in der Frühen Neuzeit 2020, 376 Seiten, zahlr., teils farbige Abb. €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8388-8 Band 24 Hartmut Kühne / Christian Popp (Hrsg.) Pilgern zu Wasser und zu Lande 2022, 502 Seiten, zahlr., teils farbige Abb. €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8541-7 Band 25 Klaus Herbers / Peter Rückert (Hrsg.) Pilgern - Heil - Heilung 2023, 221 Seiten, zahlr., farbige Abb. €[D] 38,- ISBN 978-3-381-10131-3 <?page no="225"?> ISBN 978-3-381-10131-3 www.narr.de - Klaus Herbers, Peter Rückert (Hrsg.) PILGERN - HEIL - HEILUNG PILGERN - HEIL - HEILUNG Klaus Herbers, Peter Rückert (Hrsg.) Die Beiträge des Bandes nähern sich dem komplexen Thema um Pilgern, Heil und Heilung aus unterschiedlichen Richtungen: Dabei geht es zunächst um die historischen Erfahrungen, von Wundergeschichten um den hl. Jacobus bis hin zu Pilgerspuren, welche die Suche nach Heil und Heilung verbinden. Hier erschließen sich konkrete Bezüge von körperlicher Heilung und seelischem Heil, ebenso wie liturgische Formen Heilssuche und Heilsvermittlung in einem festen religiösen Rahmen wiederfinden lassen. Auch die Gnadenmittel der Kirche werden vorgestellt, die „Heiligen Jahre“ und die Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters, die zu Heil und Heilung führen sollten. Die aktuellen Bezüge des Themas werden aus philosophischer Perspektive lebensnah betont, ebenso wie die therapeutische Wirkung des Pilgerns aus medizinischer Sicht beeindruckt. Die Vielfalt von Heilssuche und Heilserwerb im Spannungsfeld von Realität und Imagination erscheint zeitlos und erhält hier deutliche Konturen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven. Klaus Herbers, Peter Rückert (Hrsg.)