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Kompendium Fachdidaktik Romanistik. Französisch – Italienisch – Spanisch

Band I: Grundlagen

0925
2023
978-3-3811-0242-6
978-3-3811-0241-9
Gunter Narr Verlag 
Daniel Reimann
10.24053/9783381102426

Das "Kompendium Fachdidaktik Romanistik" betritt in zweierlei Hinsicht Neuland: erstmals wird eine umfassende, sprachenübergreifend konzipierte Einführung in die Fachdidaktiken der drei großen romanischen Schulsprachen Französisch, Spanisch und Italienisch vorgelegt. Durch den Grad der Vertiefung ist das Werk nicht nur als Einführung, sondern auch als studienbegleitende Lektüre und für die Lehrkräfteaus- und -fortbildung geeignet. Band I behandelt u.a. die folgenden Themen: Definitionen - Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen - Bildung durch Fremdsprachenunterricht - Rahmenbedingungen - Unterrichtsplanung - Inklusion - Professionalisierung und Berufsperspektiven - Forschungsmethoden.

<?page no="0"?> Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 30 Band I: Grundlagen Daniel Reimann Kompendium Fachdidaktik Romanistik Französisch - Italienisch - Spanisch <?page no="1"?> Kompendium Fachdidaktik Romanistik <?page no="2"?> Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung Herausgegeben von Daniel Reimann (Berlin) und Andrea Rössler (Hannover) Band 30 <?page no="3"?> Daniel Reimann Kompendium Fachdidaktik Romanistik Französisch - Italienisch - Spanisch Band I: Grundlagen <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381102426 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2197-6384 ISBN 978-3-381-10241-9 (Print) ISBN 978-3-381-10242-6 (ePDF) ISBN 978-3-381-10243-3 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> parentibus carissimis Nadiae sorori gratissimo animo <?page no="7"?> 1 17 1.1 20 1.1.1 20 1.1.2 28 1.2 44 1.2.1 44 1.2.2 46 1.2.3 56 1.2.4 58 1.2.5 60 1.3 63 1.4 66 1.4.1 66 1.4.2 78 1.4.3 81 2 83 2.1 83 2.1.1 83 2.1.2 91 2.2 127 2.2.1 128 2.2.2 129 2.2.3 134 2.2.4 135 2.2.5 138 2.2.6 141 Inhalt Definitionen, Disziplinen und Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Standortbestimmungen: Romanistik, romanistische Fachdidaktiken, Fremdsprachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Neuphilologie und der Fremdsprachenlehrkräftebildung seit dem 19.-Jahrhundert (Schwerpunkt Romanistik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur gegenwärtigen Situation der romanistischen Fachdidaktiken Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen . . . Methodik und Methodologie/ Fachmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachlehrforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdsprachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Vorschläge für einen zeitgemäßen Begriffsgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblick: Allgemeine Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick: Allgemeine Fachdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblicke in die Romania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Entwicklung des Interesses an romanischen Sprachen und (Schul-)Sprachenpolitik . . . . . . Motive und Ziele der Fremdsprachenaneignung (Schwerpunkt: romanische Sprachen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der romanischen Sprachen als schulische Fremdsprachen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Entwicklungen vom Mittelalter bis zur Etablierung des staatlichen Schulwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatik-Übersetzungs-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Direkte Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermittelnde Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Audiolinguale und audiovisuelle Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikative Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 2.2.7 143 2.2.8 145 3 149 3.1 149 3.2 154 3.2.1 154 3.2.2 155 3.2.3 156 3.2.4 160 3.2.5 162 3.3 163 3.3.1 163 3.3.2 166 3.4 170 3.4.1 170 3.4.2 175 3.4.3 176 3.4.4 189 3.5 190 4 197 4.1 198 4.1.1 198 4.1.2 198 4.1.3 206 4.1.4 212 4.2 214 4.2.1 214 Synopse über methodische Tendenzen seit dem Mittelalter . . . . . . Neokommunikative Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Bildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Momente einer Theorie der Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Griechische Antike - Platon: Begründung der europäischen Bildungstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung - Kant: Autonomie, Mündigkeit und Moral . . . . . . . . . Neuhumanismus - Wilhelm von Humboldt: Bildung durch Sprache Deutscher Idealismus - Hegel: Bildung und Sozialisierung . . . . . . Bildungstheoretische Didaktik - Klafki: „Kategoriale Bildung“, „Schlüsselprobleme“ und Allgemeinbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuere Modellierungen des Bildungsbegriffs (auch innerhalb des fremdsprachendidaktischen Diskurses) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Spannungsfeld von Bildung und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . Neuere (romanistisch-)fremdsprachendidaktische Versuche . . . . . Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs und Vorschlag eines neuen Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Eigenleistung“ (Lenk): Ein humanes Leistungsprinzip für die demokratische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung zu sprachlicher und religiöser Vielfalt (Fabbro) . . . . . . . . . „Humane Bildung“ (Nida-Rümelin): ein erneuerter Humanismus/ Neohumanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorschlag eines neuen Humanismus: Bildung durch Sprachen im 21.-Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beitrag des Unterrichts der romanischen Sprachen zur Bildung . . . . Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts . . . . . . . . . . . . Rahmensetzungen auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufer: Der Treshold Level (1975 ff.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (2001) Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze (REPA) (2012 ff.) . . . . . . . Der „Companion Volume“/ „Begleitband“ zum GeR (2018/ 2020) . . . Rahmensetzungen auf bundesdeutscher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungsstandards - Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 4.2.2 217 4.2.3 220 4.3 223 4.3.1 223 4.3.2 225 4.3.3 228 4.3.4 235 5 247 5.1 248 5.2 251 5.3 255 5.4 260 5.4.1 260 5.4.2 260 5.4.3 275 5.5 280 5.6 285 5.6.1 285 5.6.2 291 5.6.3 301 5.7 319 5.7.1 319 5.7.2 330 5.7.3 336 Die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (2003 / 2023) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (1979-2004) und die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen, Systematik und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der (Fremdsprachen-)Lehrpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exemplarische Lehrplanbetrachtungen - historisch: Italienisch-Lehrpläne im 19. und 20.-Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . Exemplarische Lehrplanbetrachtungen - gegenwartsbezogen: Aktuelle Lehrpläne für Französisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taxonomien und Modelle der Unterrichtsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulpädagogische und allgemein-didaktische Perspektive: Unterrichtskonzeptionen, Unterrichtsprinzipien und Unterrichtsqualität Fremdsprachendidaktische Perspektive: Didaktisch-methodische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Unterrichtsplanung im Fremdsprachenunterricht Aufbau einer Unterrichtsstunde und das Prinzip der Aufgabenorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftliche Unterrichtsplanung und -vorbereitung . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsorganisation: Sozial- und Arbeitsformen, Offener Unterricht, Balanced Teaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsmethoden und -techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsmethoden und -techniken - Allgemeine Hinweise . . . Unterricht in der Zielsprache - Grundlagen und 30 ausgewählte Ausdrücke auf Französisch, Italienisch und Spanisch . . . . . . . . . . . Unterrichtstechniken - Auswahl einer „Top 20“: 20 Unterrichtsverfahren für einen kommunikationsorientierten und nachhaltigen Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsbeobachtung im Praktikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsbeobachtung durch Fachleiter/ innen - der Blick der Prüfenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick: Wissenschaftliche Unterrichtsbeobachtung . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 6 337 6.1 337 6.1.1 338 6.1.2 340 6.1.3 341 6.1.4 343 6.1.5 344 6.2 346 6.3 348 6.4 349 6.4.1 349 6.4.2 349 6.4.3 350 6.4.4 354 6.5 356 6.5.1 356 6.5.2 358 6.5.3 368 6.6 373 6.6.1 373 6.6.2 378 6.6.3 379 6.6.4 387 7 389 7.1 389 7.2 396 7.2.1 396 7.2.2 399 7.3 403 7.3.1 403 7.3.2 405 7.4 413 7.4.1 414 7.4.2 418 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen . . . . . . . . . . Individuelle Lernervariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozio-affektive Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren - Eltern/ Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herkunfts-/ Familiensprachen und vorgelernte Sprachen . . . . . . . . Kognitive Stile und Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Standardisierungs-Paradox“ und Heterogenitäts-Diskurs . . . . . . . . . . . . Heterogenität - Lernerorientierung - Differenzierung - Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernerorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgelernte Sprachen/ Mehrsprachigkeitsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . Jungenförderung und individuelles Feedback zur Aussprache im Anfangsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelles Feedback zu Klassenarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien und Bausteine inklusiven Fremdsprachenunterrichts . . Methoden und Techniken inklusiven Fremdsprachenunterrichts . Inklusive Inhalte im Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . Professionalisierung und Berufsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was macht eine gute (Fremdsprachen-)Lehrkraft aus und bin ich für den Beruf geeignet? Bildungswissenschaftliche Bezüge und fremdsprachendidaktische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phasen der Lehrerbildung ab dem Referendariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Referendariat: Die zweite Phase der Lehrerausbildung . . . . . . . . . . Weiter- und Fortbildung: Die dritte Phase der Lehrerbildung . . . . Berufliche Alternativen bei Nicht-Einstellung im staatlichen Schuldienst des erwünschten Bundeslandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulische Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachbezogene berufliche Alternativen, v.-a. im Bildungssektor . . . Berufliche Entwicklungsperspektiven im staatlichen Schuldienst . . . . . . Fachbezogene besondere Tätigkeiten und Funktionen . . . . . . . . . . Tätigkeiten und Funktionen mit pädagogischem Schwerpunkt und/ oder in Schulverwaltung und Schulaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> 7.4.3 421 7.4.4 422 8 427 8.1 428 8.1.1 428 8.1.2 434 8.2 439 8.3 445 8.3.1 445 8.3.2 447 8.4 448 8.4.1 448 8.4.2 450 8.5 461 8.5.1 461 8.5.2 465 8.6 470 8.6.1 470 8.6.2 472 8.7 473 8.7.1 473 8.7.2 475 9 477 481 534 559 Auslandsschuldienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hochschule und Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romanistische Fachdidaktiken/ Fremdsprachenforschung als wissenschaftliche Disziplinen: Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epistemologische Grundlagen und Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . Epistemologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsprozess und Entwicklung eines Forschungsdesigns, Gliederung einer forschungsorientierten Studienarbeit . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisch-konzeptionelle Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Felder und Beispiele hermeneutisch-fremdsprachendidaktischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien qualitativer Fremdsprachenforschung . . . . . . . . . . . . . . Exemplarische Verfahren: Befragung, Beobachtung, Dokumentenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen quantitativer Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen quantitativer Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Formate fremdsprachendidaktischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . Quasi-experimentelle Designs und Lernersprachenforschung . . . Handlungsforschung und Design Based Research . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätssicherung in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünfzehn Thesen zu Fremdsprachenunterricht und Fremdsprachendidaktik im 21.-Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 <?page no="13"?> Vorwort Das vorliegende Kompendium unternimmt eine überblickende, sprachenübergreifende Darstellung der Grundlagen der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen. Es richtet sich vor allem an Studierende, aber auch an praktizierende Lehrkräfte, an Ausbil‐ derinnen und Ausbilder an den Studienseminaren und an junge Forschende und Lehrende. Die einen werden hier eine Einführung in Gegenstände und Methoden der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen vorfinden, die anderen eine Synthese von ihnen Bekanntem für die persönliche Weiterbildung oder für die Vorbereitung von Lehr- und Seminarveranstaltungen. Nicht zuletzt können einzelne Kapitel den Ausgangspunkt für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegenständen und Fragestellungen bieten. Berücksichtigt werden die großen romanischen Schulsprachen Französisch, Spanisch und Italienisch, punktuell wird auch auf das derzeit noch weniger verbreitete Portugiesi‐ sche Bezug genommen. Der sprachenübergreifende Ansatz wurde vor dem Hintergrund der Tatsache gewählt, dass viele (angehende) Lehrkräfte einer romanischen Sprache auch eine weitere romanische Sprache unterrichten (werden) oder sich nachträglich auf das Unterrichten einer weiteren romanischen Sprache vorbereiten. Die sprachenübergrei‐ fend-interdisziplinäre Ausrichtung ist aber auch im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik und der mehrsprachigen Bildung zu verstehen. Sie ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass sich eine (Fach-)Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen in den letzten Jahrzehnten als eigenständige wissenschaftliche Disziplin konstituiert hat, die, wenn sie nicht explizit nur einzelsprachlich betrieben wird, als romanistische Teildisziplin originär und immer sprachenübergreifend-interdisziplinär ausgerichtet ist. In der Tiefe der romanistisch-sprachenübergreifenden Darstellung und in dem Bemühen, den aktuellen Forschungsstand mit den Bedürfnissen der Praxis zu verbinden, betritt das Werk innerhalb der deutschsprachigen Romanistik Neuland. Auch werden beispielsweise Ausführungen zur wissenschaftstheoretischen Verortung im Feld der Fachdidaktiken und der Romanistik, eine vergleichende Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen, Reflexionen über Bildung im und durch den Unterricht der romanischen Sprachen oder auch die neurophysiologischen Grundlagen der Fremdsprachenaneignung erstmals in einem Kompendium zur Fachdidaktik der romanischen Sprachen zusammengetragen. Das insgesamt dreibändig konzipierte Werk ist wie folgt aufgebaut: Band I widmet sich den Grundlagen und nähert sich dem Forschungs- und Handlungsfeld der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen aus verschiedenen Perspektiven: Einleitend werden Definitionen vorgeschlagen und eine Verortung im Feld der Wissenschaften vorgenommen, sodann eine Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen als Schulsprachen skiz‐ ziert. Es folgen Reflexionen über Bildung durch Fremdsprachenunterricht. An diese grund‐ legenden Abschnitte schließen sich eher praxisbezogene Ausführungen an, die gerade auch mit Blick auf frühe Praktika im Studium bereits an dieser Stelle vorgestellt werden: Auf eine Betrachtung der Rahmenbedingungen des Fremdsprachenunterrichts (z. B. GeR, Bildungsstandards, Lehrpläne) folgt eine Einführung in Unterrichtsplanung und Unter‐ <?page no="14"?> richtsmethoden aus romanistischer Sicht. Diese spezifizierend schließt sich ein Abschnitt zu Differenzierung und Inklusion als Handlungsfeldern, die besonderer Unterrichtsplanung und besonderen methodischen Geschicks bedürfen, an. Die den Band beschließenden Kapitel greifen die bereits aufgezeigten zwei grundlegenden Dimensionen der Fachdidaktik auf: den Praxisbezug und die Wissenschaftlichkeit. Hier werden einerseits berufliche Perspektiven und berufliche Alternativen aufgezeigt, die bereits in einem frühen Ausbil‐ dungsstadium (aber beispielsweise auch gegen Ende des Studiums) für die Selbstreflexion relevant sein können, andererseits ein grundlegender Überblick über Forschungsmethoden in der Fachdidaktik gegeben, der ebenfalls schon früh im Studium für die Fachdidaktik als forschende Disziplin sensibilisieren soll, zugleich auch bei der Rezeption wissenschaftlicher Studien sowie beim Verfassen erster eigener Forschungsskizzen im weiteren Verlauf der Ausbildung oder auch des beruflichen Werdegangs Orientierung geben soll. In Band II steht die Sprachdidaktik im weitesten Sinne im Fokus: Ausgehend von einer Vorstellung der anthropologischen und neurobiologischen Grundlagen des Spracherwerbs und der Fremdsprachenaneignung, einem Überblick über Erstspracherwerb, Mehrsprachenerwerb und mehrsprachige Bildung werden die Felder des Sprachunterrichts (sprachliche Mittel, kommunikative Fertigkeiten) am Beispiel der romanischen Sprachen in Theorie und Praxis vorgestellt. Der Band wird durch ein Kapitel zur Evaluation beschlossen, die sich bis dato weitgehend auf die Aspekte des sprachlichen Lernfortschritts bezieht. Band III widmet sich den Bereichen Medien-, Kultur- und Literaturdidaktik, die insofern miteinander vernetzt sind, als medienpädagogische Aspekte auch im Bereich der Kulturdidaktik mit ihren zentralen Dimensionen der inter- und transkulturellen Bildung wirksam werden und nicht zuletzt Literaturdidaktik aufs engste mit der Kulturdidaktik verknüpft ist. Auch hier werden Theorie, Empirieund Beispiele aus der Praxis des Unterrichts der drei großen romanischen Schulsprachen miteinander in Bezug gesetzt. Die verschiedenen Abschnitte stellen den aktuellen Forschungsstand in Grundzügen dar und geben Beispiele für die Praxis. Die Konzeptionsphase des Werkes begann im Jahr 2015, die Schreibphase ist auf die Jahre 2018 bis 2021 zu datieren, ab dem Jahr 2022 stand die Endredaktion im Vordergrund. Forschungsliteratur und auch publizierte unterrichts‐ methodische Anregungen wurden grundsätzlich bis zu einem Erscheinungstermin 2021 erfasst, punktuell auch danach in der redaktionellen Phase. Der Forschungsstand wurde jeweils nach bestem Wissen und Gewissen aufgearbeitet. Gleichwohl bleibt die Auswahl der berücksichtigten Forschungsliteratur - und erst recht die der unterrichtspraktischen Beispiele - für eine grundsätzlich als Einführung und als grundlegendes, studien- und ausbildungs-, ggf. berufsbegleitendes Nachschlagewerk konzipierten Darstellung zwangs‐ läufig subjektiv und es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Wiewohl es sich um eine Überblicksdarstellung handelt, werden punktuell neue Forschungsergebnisse hier erstmals präsentiert und eigene Standpunkte vorgebracht. Die Darstellung geht auf inzwischen beinahe zwanzigjährige Erfahrungen mit akade‐ mischen Einführungsveranstaltungen in die Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen an verschiedenen Universitäten in Deutschland zurück. Sie kann sich zudem auf unterrichtspraktische Erfahrungen in den Fächern Latein, Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch schwerpunktmäßig an Schulen (Sekundarstufen I und II), aber auch in der Erwachsenenbildung, in den letzten nunmehr etwa dreißig Jahren stützen. Aus 14 Vorwort <?page no="15"?> diesen Erfahrungen sind die Anregungen für die Praxis erwachsen, die in das Kompendium eingeflossen sind. Das Werk stellt in gewisser Hinsicht eine Synthese meiner bisherigen romanistisch-di‐ daktischen Beschäftigung in Wissenschaft und Praxis dar. Vor diesem Hintergrund danke ich allen meinen eigenen Lehrerinnen und Lehrern, akademischen Lehrerinnen und Lehrern, Kolleginnen und Kollegen an Schule und Hochschule, vor allem aber auch allen Schülerinnen und Schülern und Studierenden, durch deren Impulse und Fragen diese Zusammenstellung reifen konnte. Darüber hinaus danke ich auch der Sprach- und litera‐ turwissenschaftlichen Fakultät und der Humboldt-Universität zu Berlin für die Gewährung eines Forschungssemesters im Frühjahr 2023, das die abschließenden Arbeiten am Projekt zu intensivieren ermöglicht hat. Dem Verlag Gunter Narr und seiner Redakteurin Kathrin Heyng M. A. danke ich recht herzlich für die Anregung und die Bereitschaft, diese umfassende Synthese als Kompendium Fachdidaktik Romanistik in das Verlagsprogramm aufzunehmen und für die hervorragende redaktionelle und verlegerische Betreuung im Entstehungsprozess. Nicht zuletzt bin ich meiner Familie - meinen Eltern und meiner Schwester wie auch meinen Großeltern, nunmehr zusätzlich meiner eigenen Familie -, ohne deren Unterstützung und Verständnis sich auch dieses Werk nie hätte entwickeln können, nicht in Worte zu fassen dankbar. Möge diese Darstellung einen sinnvollen Beitrag zu einer jungen romanistischen Teildis‐ ziplin, mithin zur Romanistik insgesamt leisten - und vor allem auch angehende Lehrkräfte für die Beschäftigung mit den romanischen Sprachen, für die Wissenschaft und für das Unterrichten begeistern! Vorwort 15 <?page no="17"?> 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse Fachdidaktik hat sich in ihrem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis und in ihrem methodologischen Anspruch in den letzten Jahrzehnten spürbar verändert. „Fachdidaktik“ war früher in ihrem landläufigen (Selbst-)Verständnis vor allem eine Disziplin der Reflexion von Praktikern über die Praxis z. B. in der zweiten Phase der Lehrerbildung und eine Disziplin der Entwicklung von Unterrichtsentwürfen, mithin eher ein Diskurs über (Un‐ terrichts-)Methodik. Man spricht hier oft von „Best-practice“-Beispielen, die im Regelfall nicht wissenschaftlichen Ansprüchen im engeren Sinn entsprechen, da sie nicht konse‐ quent (forschungs-)methodisch reflektiert sind (landläufig auch abfällig als „Rezeptologie“, „Meisterlehre“ usw. bezeichnet). Diese - für die Praxis mitunter verdienstvollen - Ansätze können also aus heutiger Sicht nicht mit wissenschaftlicher Fachdidaktik gleichgesetzt werden. Spätestens seit etwa den 1960er Jahren, als die erste Phase der Lehrerausbildung zunehmend an die Universitäten integriert wurde, begannen insbesondere Linguisten, sich im Kontext einer „Angewandten Linguistik“ z. B. mit für das Fremdsprachenlernen relevanten Aspekten des Kontrasts zwischen Sprachen zu befassen oder auch die Interimsbzw. Lernersprachen auf typische Merkmale hin zu untersuchen. Zugleich wurde an den Pädagogischen Hochschulen, später auch an den Universitäten, die Disziplin „Fachdidaktik“ eingeführt, die sich insbesondere als Wissenschaft der Transformation, d.-h. der Adaption bezugswissenschaftlicher (z. B. sprach- oder literaturwissenschaftlicher) Inhalte für den schulischen Fremdsprachenunterricht verstand. Seit den frühen 1970er Jahren wurde dann systematisch - auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als nationales Anliegen gefördert - eine so genannte „Sprachlehr‐ forschung“ (auch: „Sprachlehr- und -lernforschung“) entwickelt, die, idealerweise auch sprachenübergreifend, auf empirischer Grundlage fremdsprachliche Lehr-/ Lernprozesse zu ergründen versuchte. Ihre Entstehung ist u. a. der Tatsache zu verdanken, dass man seit den 1960er Jahren mit zunehmendem Zusammenrücken innerhalb Europas und einer sich ab‐ zeichnenden Globalisierung auf politischer Ebene die Bedeutung von Fremdsprachenunter‐ richt erkannt hatte. Die Disziplin „Sprachlehrforschung“ wurde aus hochschulpolitischen Gründen an ihren wenigen Standorten in Deutschland inzwischen formal abgeschafft. Zugleich hat die Fachdidaktik, auch im weiteren Kontext einer empirischen Wende in den Bildungswissenschaften vor allem seit etwa dem Jahr 2000, (Forschungs-)Methoden und Zielsetzungen der genannten Forschungsrichtungen, also der Angewandten Linguistik, insbesondere aber der Sprachlehrforschung und der empirischen Bildungsforschung, inte‐ griert. Sie verbindet also traditionelle theoretisch-konzeptionelle und neuere empirische Forschungsansätze. Daher spricht man heute, gerade auch um die Forschungsorientierung der Disziplin zu kennzeichnen, häufig eher von „Fremdsprachenforschung“ (vgl. z. B. Reimann 2018, 123 f.). Die Tatsache, dass es seit den 1970er Jahren zwei Disziplinen bzw. Bündel von Disziplinen gab, die sich mit dem Lehren und Lernen von Fremdsprachen in institutionalisierten Kontexten befassten - namentlich die Sprachlehrforschung und die verschiedenen fremd‐ <?page no="18"?> sprachlichen Fachdidaktiken - stellt ein Spezifikum der fremdsprachlichen Fachbereiche dar. Indem eine dieser Disziplinen - die Sprachlehrforschung - explizit der empirischen Erforschung fremdsprachlicher Lehr-/ Lernprozesse gewidmet war, nimmt die Erforschung des Lernens und Lehrens fremder Sprachen bei genauem Hinsehen eine Vorreiterrolle mit Blick auf die von anderen Fachdidaktiken erst viel später vollzogene Hinwendung zur Empirie ein. Gelten also mit Blick auf die jüngere „empirische Wende“ der Fachdidaktiken die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken mit Recht als Vorreiterinnen, so ist doch nicht zu vergessen, dass empirische Forschung mit Blick auf fremdsprachliche Lehr-/ Lernprozesse ebenfalls eine sehr lange Tradition hat. Auch die heute festzustellende Existenz der Begrifflichkeit einer „Fremdsprachenforschung“ neben den einzelsprachlichen fremdsprachlichen Fachdidaktiken stellt ein Spezifikum der fremdsprachlichen Lernbe‐ reiche dar - so gibt es beispielsweise keine in Analogie denkbare eigene Disziplin „empi‐ rische Lehr-Lern-Forschung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer“ o.Ä. Aus wissenschaftstheoretischer Perspektivierung ist festzuhalten, dass eine Disziplin dann als Wissenschaft gelten darf, wenn sie 1. über einen bestimmten Gegenstandsbereich und 2. über eigene Forschungsmethoden verfügt. Ulf Abraham und Martin Rothgangel formulieren dies für die Fachdidaktiken wie folgt: In wissenschaftstheoretischer Hinsicht zeichnet sich jede Disziplin durch einen bestimmten Gegenstandsbereich aus, den sie erforscht (bzw. rekonstruiert oder modelliert), sowie bestimmte Methoden, die der Erforschung (bzw. Rekonstruktion oder Modellierung) des Gegenstandsbereichs dienen. (Abraham/ Rothgangel 2017, 16) Orientierend seien in einem ersten Schritt folgende Kurzbzw. Arbeitsdefinitionen vorge‐ schlagen: Fachdidaktik ist die fachbezogene Lehr-/ Lernforschung, die in der heutigen Zeit traditionelle historische und hermeneutische Verfahren mit empirischen Methoden verbindet und sich mit der Geschichte, mit Inhalten, Kontextbedingungen und Verfahren sowie mit Akteurinnen und Akteuren von (hier: Fremdsprachen-) Unterricht befasst. Sprachlehrforschung war die Disziplin der empirischen Erforschung fremdsprachli‐ cher Lehr- und Lernprozesse, die von ihr bevorzugt sprachenübergreifend (also unab‐ hängig von einzelnen Fächern) oder sogar sprachenunabhängig (z. B. mit Kunstwörtern) untersucht wurden. Innerhalb der Sprachlehrforschung spielte auch das Deutsche als Fremd- und Zweitsprache eine bedeutende Rolle. Sie zeichnete sich in ihrer wirkmäch‐ tigen Phase von den 1970er bis 1990er Jahren durch eine ausgesprochene Lernerori‐ entierung aus, d. h. die Prozesse des Lernens und die Lernenden als solche wurden häufig in den Fokus genommen. Daher wird die Disziplin häufig auch präzisierend als Sprachlehr-/ -lernforschung oder sogar Sprachlern-/ -lehrforschung bezeichnet (hierzu vgl. bes. auch Kap.-1.2.3). 18 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="19"?> Fremdsprachendidaktik ist die Wissenschaft vom Lehren und Lernen fremder Sprachen. Mit Einführung des Begriffs wurde ein besonderer Fokus auf dem spra‐ chenunabhängigen und sprachenübergreifenden Aspekt gelegt, eine Eigenschaft, die Fremdsprachendidaktik mit der Sprachlehrforschung teilte. Im Unterschied zur Sprach‐ lehrforschung weist der zweite Bestandteil des Wortes „-didaktik“ darauf hin, dass nicht ausschließlich empirische, sondern traditionell auch hermeneutische bis hin zu lediglich auf Einzelerfahrungen bzw. Erfahrungswissen basierende (unterrichts-)methodische Fragestellungen Gegenstandsbereich von Fremdsprachendidaktik sein können. Letztlich wurde und wird Fremdsprachendidaktik häufig als Oberbegriff für die Gesamtheit der fremdsprachlichen Fachdidaktiken verwendet (hierzu vgl. bes. auch Kap.-1.2.4). Fremdsprachenforschung ist die Disziplin der Erforschung fremdsprachlicher Lehr- und Lernkontexte, die in besonderem Maße Fragen und Methoden der Sprachlehrfor‐ schung aufgreift, weiterführt und mit den Forschungsgegenständen und traditionellen Methoden der fremdsprachlichen Fachdidaktiken verbindet. Fremdsprachenforschung kann daher als die Disziplin verstanden werden, die derzeit (auch empirisch) for‐ schungsorientierte fremdsprachliche Fachdidaktiken unter einem Dach vereint. Fremd‐ sprachenforschung ist, mit Blick auf die Forschungsorientierung, der im Verhältnis zur Fremdsprachendidaktik aktuell geläufigere Oberbegriff zur Bezeichnung aller for‐ schungsorientierten fremdsprachlichen Fachdidaktiken einschließlich der Fachdidaktik des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache (hierzu vgl. bes. auch Kap.-1.2.5). (Fach-)Methodik bezeichnet auf unterrichtspraktischer Ebene die Gesamtheit der (Un‐ terrichts-)Methoden, also der Verfahren und Techniken u. a. von (Fremdsprachen-)Un‐ terricht. Auf einer Meta-Ebene kann mit „Methodik“ oder „Methodologie“ auch die Reflexion über und die Erforschung von solchen Verfahren und Techniken gemeint sein. Man könnte also Methodik (oder eben Methodologie) auch als die Wissenschaft von der systematischen Beschreibung und der Erforschung von (Unterrichts-)Methoden - hier des Fremdsprachenunterrichts - definieren. Unmittelbar benachbarte Disziplinen sind u.a.: Allgemeine Didaktik ist eine Teildisziplin der (Schul-)Pädagogik, die sich in den 1950er und 1960er Jahren entwickelte und besonders in den 1960er/ 1970er Jahren wirkmächtig war. Seinerzeit stellte sie auch eine bedeutende Bezugsdisziplin für die (fremdsprachli‐ chen) Fachdidaktiken dar. Gegenstand der Allgemeinen Didaktik ist die Theorie von Unterricht in abstrakter Form, d. h. bewusst unabhängig von einzelnen Fächern. Die Allgemeine Didaktik hat insbesondere auch Modelle zur (Persönlichkeits-)Bildung durch Unterricht sowie Ansätze zur Beschreibung von fachunabhängigen Unterrichts‐ methoden und -techniken entwickelt (hierzu vgl. bes. auch Kap.-1.4.1). 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse 19 <?page no="20"?> Allgemeine Fachdidaktik ist eine sich seit etwa 2015 konstituierende Disziplin, die sich mit dem Vergleich der Fachdidaktiken untereinander befasst und sich daher auch als Metatheorie oder Metawissenschaft der Fachdidaktiken versteht. Durch den Vergleich werden insbesondere Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Themen, Unterrichts- und Forschungsmethoden zwischen den einzelnen Fachkulturen herausgearbeitet. Ein Ziel der Allgemeinen Fachdidaktik ist die Entwicklung einer Theorie fachlicher bzw. durch Fachunterricht bedingter Bildung (hierzu vgl. bes. auch Kap.-1.4.2). Im Folgenden sollen die einzelnen Disziplinen weiterführend definiert, wesentliche Ent‐ wicklungslinien und Diskurse skizziert und abschließend ein Vorschlag für eine zeitgemäße Begriffsverwendung gemacht werden. Zudem werden Ausblicke auf benachbarte Diszi‐ plinen und Diskurse aus dem weiteren Feld der Didaktik gegeben. 1.1 Historische Standortbestimmungen: Romanistik, romanistische Fachdidaktiken, Fremdsprachenforschung 1.1.1 Entwicklung der Neuphilologie und der Fremdsprachenlehrkräftebildung seit dem 19.-Jahrhundert (Schwerpunkt Romanistik) - 1.1.1.1 Anfänge der romanischen Philologie Bis ins 19. Jahrhundert gab es keine institutionalisierte Fremdsprachenlehrerbildung. Der Unterricht wurde häufig von muttersprachlichen Lehrkräften, traditionell so genannten „Sprachmeistern“, erteilt (s. u. Kap. 2.1, bes. 2.1.2.4). Eine frühe philologische Professur mit einem linguistischen Schwerpunkt wurde 1821 als Professur für Orientalische Literatur und Allgemeine Sprachkunde an der Universität zu Berlin eingerichtet und mit Franz Bopp, der als Begründer der vergleichenden indogermanischen Sprachwissenschaft gilt, besetzt. Zu Bopps Korrespondenten und „Schülern“ im weiteren Sinne gehörten u. a. Friedrich Rückert, Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel (Meier-Brügger 2010, 135 ff.). Die Anfänge der Romanischen Philologie werden in der Fachgeschichte häufig ebenfalls um die Wende zu den 1820er Jahren datiert, und zwar - mit Blick auf einzelne Studien - beispielsweise unter Bezug auf Friedrich Diez’ Übersetzungen altspanischer Romanzen ab 1817 und seine Studien zur provenzalischen Troubadour-Dichtung aus den 1820er Jahren (z. B. Die Poesie der Troubadours, 1826) oder auch unter Bezug auf August Wilhelms Schlegels Publikation Observations sur la langue et la littérature provençales von 1818 (vgl. Reimann 2017b, 14). Der Beginn einer institutionalisierten romanischen Philologie wird üblicherweise mit den Vorlesungen des Berliners Valentin Schmidt über altfranzösische und klassische französische, spanische und italienische Literatur ab 1821, den Bonner Vorlesungen von Friedrich Diez über romanische Sprachen und Literaturen ab 1821/ 1822 (vgl. z. B. Lieber 2003, 836) und von August Wilhelm Schlegel über „Geschichte der franzö‐ sischen Literatur“ ab 1823/ 24 (z. B. Rohlfs 1950, 10 f.) sowie mit der Besetzung der Hallenser 20 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="21"?> Professur für südeuropäische Sprachen und Literaturen mit Ludwig Gottfried Blanc 1822 (ab 1833 Ordinarius für Romanische Sprachen und ihre Literaturen) datiert (Lieber 2003, 835). Professoren, die im heutigen Sinne romanistische Lehrveranstaltungen abhielten, waren damals noch oft zugleich für germanistische, romanistische und anglistische Studien zuständig, wobei die deutsche Literaturwissenschaft meist vorrangig war (so auch bei Diez, vgl. Lieber 2003, 836 und 835). Neuphilologische Professuren, die etwa ab 1860 eingerichtet wurden, waren anfangs oft nur teilweise der Romanistik und zugleich der Anglistik gewidmet (z. B. Haas 1995, 483, Lieber 2003, 836). Seitens der Lehrenden war die Anglistik meist weniger angesehen, so dass die Romanisten für eine Loslösung der Anglistik von ihren Lehrstühlen plädierten (Lieber 2003, 837). Ein erster rein romanistischer Lehrstuhl wurde 1867 in Berlin eingerichtet (Lieber 2003, 837), ein erster anglistischer 1872 (Haas 1995, 483, vgl. Reimann 2017b, 15 f.). - 1.1.1.2 Romanische Philologie und Lehrkräftebildung im 19.-Jahrhundert Die romanische Philologie war zur Zeit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert in ihrem Selbstverständnis zunächst vor allem eine mediävistische Disziplin (z. B. Reimann 2017b, 14). Sie hat ihre Ursprünge in der deutschen Romantik einerseits und in der entstehenden Germanistik andererseits (Lieber 2003, 835). Die oben genannten frühen Studien wie auch erste größere Grundlagenwerke - beispielsweise Diez’ monumentale historische Grammatik der romanischen Sprachen (1836-1844) und sein Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen (1853) - beinhalten folglich keine fremdsprachendidaktischen Reflexionen (einführend zu Friedrich Diez z. B. Baum 1993). Auch die romanischen Studien der sog. Junggrammatiker ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - etwa Wilhelm Meyer-Lübkes Grammatik der romanischen Sprachen (1890-1902) oder sein Romanisches etymologisches Wörterbuch (1911 ff.) - sehen ihre Untersuchungen noch losgelöst von der etwaigen Nachbarschaft einer anwendungsbezogenen Disziplin wie einer noch zu begründenden Fachdidaktik. Noch Gustav Gröber bezeichnete in seinem Grundriß der romanischen Philologie im Jahr 1888 unmissverständlich „die unverstandene oder unver‐ ständlich gewordene Rede und Sprache“ als alleinigen Gegenstandsbereich der Philologie (Gröber 1888, zitiert bei Gier 2000, 49, vgl. Reimann 2017b, 14 f.). Bis heute existierende, bedeutende Zeitschriften aus der Entstehungszeit der Romani‐ schen Philologie sind etwa das Archiv für das Studium der neueren Sprachen (begründet 1846), die Zeitschrift für Romanische Philologie (1877) und die Romanischen Forschungen (1882); gerade die letztgenannten Zeitschriften enthalten bis heute traditionellerweise keine fremdsprachendidaktischen Beiträge. Frühe Lehrerzeitschriften, die teilweise als didaktische Publikationsorgane ante litteram gelten dürfen, sind indes Die Neueren Sprachen (ab 1893), die 1995 eingestellt und 2010 als Jahrbuch wieder belebt wurden (vgl. Schröder 2010a), die Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht (ab 1902), später auch die Zeitschrift für neusprachlichen Unterricht (ab 1935) sowie die Neuphilologische Monatsschrift (ab 1930) (vgl. Rohlfs 1950, 11 f., 14 f., Lieber 2003, 838, Reimann 2017b, 16). Zwar wurden Sprachkenntnisse, im Vergleich zu heute freilich in geringem Ausmaß und vor allem an den Bedürfnissen des philologischen Studiums orientiert, seinerzeit auch an den Universitäten vermittelt - vgl. z. B. den Aufenthalt Luigi Pirandellos als Lektor in Bonn in den Jahren 1889 bis 1891 (vgl. Pirandello 1994) -, eine Reflexion über Fremdspra‐ 1.1 Historische Standortbestimmungen 21 <?page no="22"?> chenunterricht im Sinne einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin ist vor dem Hintergrund des oben skizzierten Wissenschaftsverständnisses an den Universitäten in dieser Zeit indes nicht belegt (vgl. Reimann 2017b, 15). Dennoch ist die Romanistik schon früh in unmittelbarem Bezug zur Lehrerbildung, mithin zur Schulpraxis zu sehen. Durch die Konstituierung eines staatlichen öffentlichen Schulwesens und die zunehmende Einführung auch neusprachlichen Unterrichts (vgl. Kap. 2, bes. 2.1.2.7) entstand der Bedarf nach professioneller und im Sinne einer Verstaatlichung des Schulwesens regulärer Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften, zunächst gerade auch des Französischen. So führten nicht zuletzt die Bedürfnisse der Schulpraxis u. a. zur Einrichtung und Gründung folgender Institutionen, Organisationen und Publikations‐ organe: ● an Schulen angegliederte, spezifisch für die Lehrerbildung ausgerichtete Seminare für neuere Sprachen außerhalb der Universitäten (1839 Rostock, 1860 Berlin), ● neuphilologische Professuren ab etwa 1860, ● erster romanistischer Lehrstuhl 1867 (Berlin), ● erstes spezifisch romanisches Seminar 1874 (Straßburg), ● Königlich Romanisches Seminar in Bonn 1878, an dem eine „pädagogische Einweisung“ explizit vorgesehen ist (vgl. jeweils Reimann 2017b, 15 f., mit weiterführender Biblio‐ graphie), ● Fachverband Verein für neue Sprachen im Jahr 1880 (als erster Fremdsprachenlehrer‐ verband in Europa, seit 1886 mit geändertem Namen Allgemeiner Deutscher Neuphi‐ lologen-Verband (ADNV), Nachfolger seit 1972 Fachverband Moderne Fremdsprachen (FMF), seit 2006 Gesamtverband Moderne Fremdsprachen (GMF) als Dachverband der Fremdsprachenlehrerverbände, vgl. Hagge 2003, 589, Bausch et al. 2016, 2, Berthelmann 2016, 651), ● nicht nur tendenziell philologisch orientierte Zeitschriften wie Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen (1846), sondern auch dezidiert fremdsprachendi‐ daktische Zeitschriften seit etwa 1890 (bes. Neuphilologisches Centralblatt: 1887, Die Neueren Sprachen: 1893, Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht: 1902, als erste fremdsprachendidaktische Zeitschriften weltweit, Schröder 2003, 594). Die Forderungen gerade auch der weiterführenden Schulen hatten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spürbare Auswirkungen auf Forschungs- und Lehrprogramme der Universitäten v.-a. in folgenden Bereichen: ● Bedeutung der Phonetik, ● Bedeutung der Realienkunde, ● Berücksichtigung moderner Literatur (verstärkt ab ca. 1900) (Reimann 2017a, 16 f., mit weiterführender Bibliographie). Weiterhin einführend in die frühe Geschichte der romanischen Philologie gerade auch mit Blick auf die Lehrerbildung kann exemplarisch auf die Beiträge Stierle 1979 (besonders zum Bezug der entstehenden Neuphilologie zur klassischen Philologie mit forschungsmethodi‐ schem und wissenschaftstheoretischem Fokus) und Selig 2005 sowie Selig 2020 verwiesen werden; vertiefend auf die entsprechenden Abschnitte in der umfassenden Studie zur 22 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="23"?> frühen Institutionengeschichte der Romanistik von Alexander Kalkhoff (Kalkhoff 2010, in Grundzügen aufgegriffen z. B. in Teixeira Kalkhoff 2020) sowie in der ideen- und diskurs‐ geschichtlichen Studie zur Entstehung der romanischen Philologie im 19. Jahrhundert Wolf 2012 (jeweils mit weiterführender Bibliographie). - 1.1.1.3 Fallbeispiele zur frühen Lehrkräftebildung in den romanischen Sprachen im 19.-Jahrhundert: Bayern und Berlin Exemplarisch soll die frühe Geschichte der fremdsprachlichen Lehrerbildung an den Beispielen Bayerns und Berlins skizziert werden. Mit der Auflösung des Jesuitenordens 1773 kam es in Bayern zu einer Verstaatlichung der (Aus-)Bildung für das Höhere Lehramt ab 1798/ 99 (Neuerer 1978, 13, 15 ff.). In der Lehramtsprüfungsordnung von 1809 war für den gymnasialen Bereich das Philologische Lehramt bestimmend, das die Fächer Latein, Griechisch, Deutsch und Geschichte mit Anteilen auch der Mathematik, nach einer Novellierung 1811 auch mit Anteilen von Französisch und den orientalischen Sprachen umfasste (op. cit., 47). 1854 wurde erstmals Französisch in einer Lehramtsprüfungsordnung genannt (Englisch und Italienisch implizit unter Französisch im Jahr 1873, Italienisch (neben Französisch und Englisch) explizit im Jahr 1895, vgl. Reimann 2009b, 21; Neuerer 1978, 54). 1873 und in der Neufassung der Lehramtsprüfungsordnung von 1895 war erstmals ein Neuphilologisches Lehramt vorgesehen, das traditionellerweise die Fächer Französisch und Englisch umfasste (op. cit., 56). Ab 1864 waren an Realgymnasien und Industrieschulen Französisch und Englisch zu Hauptfächern geworden. Das Handelsministerium regte in der Folge beim zuständigen Innenministerium die Begründung eines neuphilologischen Lehramts an. Das neuphilolo‐ gische Lehramt wurde dem philologisch-historischen (s. o.) und dem zwischenzeitlich ebenfalls konstituierten Lehramt für Mathematik und Physik gleichgestellt (op. cit., 56 f.). Zwei weitere Lehrämter, die keinen Zugang zu den Gymnasien hatten, waren Chemie und beschreibende Naturwissenschaften (im Wesentlichen Biologie) sowie das Realienlehramt (im Wesentlichen Deutsch, Geschichte, Erdkunde) (op. cit. 57 ff.). Zum Vergleich kann die Preußische Lehramtsprüfungsordnung von 1866 herangezogen werden, die vier Lehrämter kannte: ein philologisch-historisches, ein mathematisch-naturwissenschaftliches, ein theo‐ logisches und ein neuphilologisches (op. cit., 101). Allerdings waren zunächst keine fachdidaktischen Studien im Rahmen der ersten Phase der Lehramtsausbildung vorgesehen. Dennoch gab es beispielsweise in Bayern seit Beginn des 19. Jahrhunderts erste Ansätze, unterrichtspraktische Erfahrungen zumindest im Sinne einer impliziten fachdidaktischen Propädeutik mit in die Lehrerausbildung zu integrieren oder zumindest das universitäre Studium an den Bedürfnissen der Lehrerbildung zu orien‐ tieren: so wurden etwa 1810 Überlegungen zur Verbindung der fachwissenschaftlichen mit einer methodisch-didaktischen Ausbildung z. B. im Rahmen eines philologischen Seminars an der Universität Landshut angestellt, letztlich aber nicht umgesetzt (vgl. Neuerer 1978, 137 f.). Ab 1876 wurde ein neuphilologisch-lehrerbildendes Seminar an der Universität München eingerichtet (zuvor hatte es nur einzelne Lehrstühle gegeben), das allerdings keine fachdidaktischen Studien anbot (op. cit. 154 f.). Zunächst angesetzte „praktische Prüfungen“ im Rahmen der wissenschaftlichen Prüfungen wurden „mit der 1.1 Historische Standortbestimmungen 23 <?page no="24"?> fortschreitenden Verwissenschaftlichung der gymnasialen Lehrämter in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts“ (Neuerer 1978, 169) eher zurückgefahren. Der Studienplan für das neuphilologische Lehramt an der Universität München von 1892 sah etwa folgende Lehrveranstaltungen vor (Neuerer 1978, 98 f.): A Vorlesungen für das Examen: Französische und englische Literaturgeschichte, vier Vorlesungen Encyklopädie der romanischen und englischen Philologie, zwei Vorlesungen Interpretation altfranzösischer, provenzalischer, mittel- und neufranzösischer, alt-, mittel- und neuenglischer Texte, sechs Vorlesungen Neufranzösische und neuenglische Stilübungen Französische und englische Phonetik und Methodologie, zwei Vorlesungen Historische Grammatik der französischen und der englischen Sprache, vier Vorlesungen Französische und englische Metrik Philosophie[, eine Vorlesung aus der systematischen Philosophie (Logik oder Psychologie), vier über Geschichte der Philosophie, eine über Pädagogik] Geschichte, je eine Vorlesung über Geschichte des Mittelalters, der neuern und neuesten Zeit Deutsche Literaturgeschichte, eine Vorlesung B Wünschenswerte Vorlesungen Interpretation eines lateinischen Autors Vulgärlatein Italienisch Spanisch Historische Grammatik der deutschen Sprache. Es ist offensichtlich, dass hier noch immer keine fachdidaktischen Studieninhalte vorge‐ sehen waren. Allerdings kam es in Bayern ab 1893 an zunächst fünf Gymnasien zur Einrichtung pädagogisch-didaktischer Gymnasialseminare, an denen nunmehr die zweite Phase der Lehrerbildung angesiedelt war (op. cit., 169, 186 ff.). Auch in anderen Ländern gab es im 18./ 19. Jahrhundert erste punktuelle Versuche, die Lehrerbildung so früh wie möglich auch an Bedürfnissen der Praxis zu orientieren. So versuchte beispielsweise das Philologische Seminar an der Universität Göttingen unter dem innovativen Johann Matthias Gesner ab 1734, eine fachwissenschaftlich-philologische Ausbildung mit pädagogischen Vorlesungen und Unterrichtsversuchen an der Stadtschule zu verbinden. Auch das Philologische Seminar an der Universität Halle bemühte sich ab 1787 unter Friedrich August Wolf, unterrichtspraktische Versuche in das Lehramtsstudium zu integrieren (vgl. z. B. Neuerer 1978, 194 ff., vgl. Reimann 2018, 131-135). Insgesamt lässt sich jedoch die Tendenz feststellen, dass im 18. und 19. Jahrhundert die Universitäten häufig unabhängig von den Bedürfnissen der Praxis ausbildeten und sich, je nach Standort, zunächst „Seminare“ außerhalb der Universitäten etablierten, die sozusagen als parallele Institutionen strukturierter und zugleich praxisnäher ausbilden wollten (vgl. z. B. Lieber 2003, 836). Erst allmählich bildete sich die heute übliche Struktur der zweiphasigen Ausbildung - erste Phase an der Universität, zweite Phase an einem (Studien-)Seminar, heraus. Vorbild war hier seit 1890 das Preußische Modell, das schon 1893 in Bayern übernommen wurde (Neuerer 1978, 187). 24 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="25"?> Als zweites Beispiel sei der Fall Berlins und Preußens betrachtet: Die Romanistik an der Universität zu Berlin bzw. der Friedrich-Wilhelms-Universität gehört seit ihrer Gründung zu den Instituten, die das Fach Romanische Philologie deutschlandweit und damit international maßgeblich geprägt haben. Der 1867 mit Adolf Tobler (1835-1910) besetzte Lehrstuhl für Romanische Philologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität darf als der erste nur der Romanistik gewidmete Lehrstuhl im deutschen Sprachraum überhaupt gelten (s. o., vgl. z. B. Lieber 2003, 837, zur Vorgeschichte der Romanistik an der Berliner Universität vgl. Kalkhoff 2010, 131-135). Tobler gehörte seinerzeit zu den anerkannten Größen seines Faches und prägte u. a. die Gebiete der historisch-vergleichenden Spra‐ chenwissenschaft, der historischen Grammatikographie und der Lexikographie auch in forschungsmethodischer Hinsicht (z. B. Bott 2010, 345, 347). Marie-Luise Bott wertet seine Leistung prägnant wie folgt: „Zu Beginn seiner Berliner Lehrtätigkeit war Tobler 32 Jahre alt. In den folgenden 43 Jahren wurde die Universität Berlin mit der Tobler-Schule zur prima inter pares für Romanistik in Deutschland“ (Bott 2010, 346). Doch die spezifischen Bedürfnisse der fachlichen Lehrerbildung fanden an der Berliner Universität auch unter Tobler noch kaum Berücksichtigung in den Lehr- und Forschungsschwerpunkten des Lehrstuhls (z. B. Lieber 2003, 836): Obschon er, zunächst ausgebildeter klassischer Philologe, als habilitierter Schweizer Gymnasiallehrer für Französisch und Italienisch berufen wurde (z. B. Kalkhoff 2010, 143, Bott 2010, 342, 345), fanden Inhalte einer Lehrerbildung zu seiner Zeit noch keinen Niederschlag im universitären Curriculum (z. B. Bott 2010, 347, Kalkhoff 2010, 157) und es wurde vielmehr auf eine strikte Trennung der universitären romanischen Philologie von den Belangen der Lehrerbildung insistiert (vgl. z.-B. Kalkhoff 2010, 170). Die eher an der Schule orientierte neuphilologische (Weiter-)Bildung fand parallel und außerhalb der Universität statt. Seitens wissenschaftlich qualifizierter, aber zugleich für die Bedürfnisse der Lehrerbildung offener Schulpraktiker und Schuldirektoren, insbesondere um Ludwig Herrig, entstanden in Berlin daher schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Institutionen, die sich einer auch akademischen Fremdsprachenlehrerbildung verschrieben. Zu nennen wäre das 1860 bestehende Berliner Seminar für Lehrer der neueren Sprachen, das dem Friedrichs-Gymnasium angegliedert war und auch nach der Gründung des grundsätzlich auch der Lehrerbildung gewidmeten, aber noch immer beinahe ausschließlich philologisch ausgerichteten Romanisch-englischen Seminars im Jahr 1877 weiter existierte (z. B. Kalkhoff 2010, 170 f.); Letzteres wurde 1896 in zwei fachspezifische Seminare für Romanistik und Anglistik überführt (vgl. Bott 2010, 343 f., Kalkhoff 2010, 158). In das Seminar aufgenommen werden konnten Kandidaten, die bereits ein Staatsexamen oder Examen pro facultate docendi erfolgreich abgelegt hatten, sowie ausnahmsweise und als Hospitanten auch besonders begabte Studierende nach der universitären Zwischenprü‐ fung (Kalkhoff 2010, 170). Mit Blick auf die grundlegende wissenschaftliche Lehrerbildung hatte Herrig 1872 weiterhin eine Akademie für moderne Philologie gegründet, die allerdings aufgrund der positiven Entwicklung des Lehrstuhls und der Einrichtung des universitären Romanisch-englischen Seminars (s. o.) 1880 wieder geschlossen werden konnte (vgl. Kalkhoff 2010, 171). Darüber hinaus hatte Herrig schon um 1850 die oben erwähnte frühe neuphilologische Zeitschrift, das Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen begründet (vgl. Bott 2010, 343) und etwa zeitgleich die Berliner Gesellschaft für das Studium der 1.1 Historische Standortbestimmungen 25 <?page no="26"?> neueren Sprachen initiiert, die sich durch eine umfassende und breitenwirksame Vortrags- und Debattentätigkeit mit dem Zielpublikum überwiegend der gymnasialen (Neu-) Philo‐ logen auszeichnete (vgl. Bott 2010, 343, weiterführend Kalkhoff 2010, 168-170): In den ersten fünfzig Jahren ihres Bestehens fanden ca. 1700 Vorträge in etwa 750 Sitzungen im Konzertsaal des Berliner Schauspielhauses statt, wobei (fach-)wissenschaftliche sowie fachdidaktische Themen erörtert wurden (vgl. Kalkhoff 2010, 169). Erst im Jahr 1892 ist innerhalb der universitären Romanistik in Berlin erstmals eine Übung „Methodik des französischen Unterrichts (mit Bezug auf die Lehrpläne von 1892)“ belegt, die nur wenige Folgeveranstaltungen kannte, da der sie erteilende Schuldirektor und Extraordinarius Stefan Waetzoldt bereits 1894 wieder aus dem Dienst der Universität ausschied, um sich ganz der Schulverwaltung zu widmen (vgl. Kalkhoff 2010, 136, 150). - 1.1.1.4 Vorgeschichte der romanistischen Fachdidaktiken im 19./ 20.-Jahrhundert Wiewohl es seinerzeit noch keine institutionalisierte Disziplin Fachdidaktik bzw. Fremd‐ sprachendidaktik/ Fremdsprachenforschung gab, liegen seit der ersten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts einzelne Veröffentlichungen vor, die sich mit Zielsetzungen, Inhalten und Methoden des Fremdsprachenunterrichts auf einer theoretischen Ebene befassen und mithin als Vorläufer einer wissenschaftlichen Fremdsprachendidaktik gelten dürfen (hierzu einführend z. B. Reimann 2018, bes. 135-149). Erste Veröffentlichungen, die einer (roman‐ istischen) Fremdsprachendidaktik ante litteram zugeschrieben werden können, sind ab etwa 1840 nachgewiesen. Sie entstammen also genau der Zeit, in der mit Friedrich Diez’ Grammatik der romanischen Sprachen (1836-1844) eines der ersten Hauptwerke der Roma‐ nistik publiziert wurde, und sind im bildungsgeschichtlichen Kontext einer Ausweitung des Fremdsprachenunterrichts im Zuge der Schulreformen des 19. Jahrhunderts und einer In‐ stitutionalisierung der Lehrerbildung zu sehen. Sie haben ihre institutionengeschichtlichen Ursprünge zumeist in den Lehrerbildungsseminaren, ihre Autoren waren beispielsweise Lehrer oder Rektoren. So legte etwa Karl Mager 1843, seinerzeit Lehrer für Französisch an der Kantonsschule Aarau (vgl. Hausmann 2016 ff., s.v. Mager) mit seinen Modernen Huma‐ nitätsstudien ein bildungstheoretisch fundiertes Konzept für den Fremdsprachenunterricht an Schulen vor - wenn man so möchte, eine „erste Fremdsprachendidaktik“ (vgl. Christ 2019, 17). Mager umreißt u. a. sehr anschaulich, inwiefern wissenschaftliche Linguistik für den schulischen Fremdsprachenunterricht aus seiner Sicht relevant sei, allerdings in didaktisch transformierter Form. In dieser könnten zeitgenössische wissenschaftliche Erkenntnisse den schulischen Fremdsprachenunterricht, wie er üblicherweise erteilt werde, spürbar verbessern und lernpsychologisch bzw. kognitiv-linguistisch bereichern. Vergleichende Grammatik, wie Grimm, Bopp, Benfey, Pott, W. v. Humboldt, Raynouard, Diez u.s.w. sie üben, vergleichende Grammatik als Doctrin, gehört nicht in die Schule, sondern auf philologische Seminare und in die Akademien der Wissenschaften; aber der hergebrachte Sprachunterricht vergleicht gar nicht, oder doch fast gar nicht, und das ist ein großer Fehler. Das unwillkürliche Vergleichen, das der Schüler nothgedrungen zwischen seiner Muttersprache und der fremden anstellt, genügt nicht; der Lehrer muß zum Vergleichen anleiten, er muß im Gymnasium das Lateinische mit dem Griechischen, beide mit dem Deutschen, sowie mit den beiden andern neueren Sprachen, er muß auf der h. Bürgerschule die neueren Sprachen unter sich vergleichen; die Schule thut wenig, wenn sie den Schülern Kenntnisse aus verschiedenen Fächern 26 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="27"?> in den Kopf bringt; diese Kenntnisse müssen zusammengebracht werden, damit das Eine Licht vom andern empfängt, und vor Allem, damit sie sich gegenseitig befruchten, damit sie Junge hecken. (Mager 1843/ 1965, 99, vgl. Reimann 2014a, 11) Mager fasst hier intuitiv und möglicherweise auf der Verhaltensebene beobachtend vorweg, was neurolinguistische Ergebnisse über 150 Jahre später belegen (vgl. Band 2, Kap. 1.2, bes. 1.2.7). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensivierten sich im Kontext der neusprach‐ lichen Reformbewegung (vgl. bes. Kap. 2.3) die Debatten über den Fremdsprachenunter‐ richt. Zwar gab es noch immer keine akademische Disziplin „fremdsprachliche Fachdidak‐ tiken“/ „Fremdsprachendidaktik“/ „Fremdsprachenforschung“, doch entstanden zahlreiche Zeitschriften als Foren des Austauschs (s. o.) sowie weitere frühe Handbücher zum Fremdsprachenunterricht. Zu erwähnen ist in diesem Kontext insbesondere das Handbuch Encyklopädie des französischen Unterrichts. Methodik und Hilfsmittel für Studierende und Lehrer der französischen Sprache mit Rücksicht auf die Anforderungen der Praxis von Otto Wendt aus dem Jahr 1888 (Wendt 1895). Im Wesentlichen werden hier der Sprach- und Literaturunterricht reflektiert; kulturkundliche Aspekte werden, wenn, dann im Bezug auf das Französische eher in ablehnender Intention erwähnt (vgl. Wendt 1895, 4) (vgl. Reimann 2018, 136 f.). Man kann feststellen, dass bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein keine wis‐ senschaftliche Fremdsprachendidaktik mit einem eigenen disziplinären Selbstverständnis (epistemologische und forschungsmethodologische Reflexion) existierte. Dennoch wurden mehrere umfassende Bestandsaufnahmen zum Fremdsprachenunterricht vorgelegt, oft unter impliziter, teils auch unter expliziter Anknüpfung an philologische (und psycholo‐ gische) Bezugswissenschaften. Gerade in den 1920er Jahren sind Veröffentlichungen zu verzeichnen, in denen Ansätze epistemologischer Reflexion erkennbar sind (bes. Otto, Aronstein) (zu den 1920er Jahren als einem Jahrzehnt, in dem sich eine Konstitution der Fremdsprachendidaktik als wissenschaftlicher Disziplin abzeichnet, vgl. Christ 2006). In ihnen wird (Fremdsprachen-)Didaktik allerdings tendenziell als Teilgebiet der Pädagogik verstanden. Eine grundlegende Sensibilität zumindest mancher Philologen und Institute für Belange der Lehrerbildung scheint dennoch zumindest punktuell bereits gegeben gewesen zu sein (vgl. Reimann 2018, 143). Als es nach dem ersten Weltkrieg zu einer Ausdifferenzierung der Romanischen Phi‐ lologie in dem Sinne kam, dass sich Sprach- und Literaturwissenschaft zunehmend als eigenständige Disziplinen konstituierten, war von einer Fachdidaktik als etwaiger dritter Disziplin im universitär-institutionellen Kontext indes noch nicht die Rede (Reimann 2017b, 18). Das änderte sich erst allmählich nach dem zweiten Weltkrieg. Noch in Gerhard Rohlfs Einführungswerk Romanische Philologie aus dem Jahr 1950 finden sich folgerichtig keine Hinweise auf eine Subdisziplin „Fachdidaktik“, auch werden Lehramtsstudierende lediglich an wenigen Stellen als Zielgruppe explizit erwähnt (Rohlfs 1950, 2, 3, 15), ohne dass dabei ggf. auf deren spezifische Bedürfnisse eingegangen würde (vgl. Reimann 2017b, 18). Ein zunehmendes Problembewusstsein für Fragen des Fremdsprachenlernens und -lehrens zeichnete sich zunächst im Kontext der anglophonen Linguistik ab, und hier insbesondere im Kontext der so genannten Applied Linguistics, die, in ihren Anfängen dem Behaviorismus nahe stehend, insbesondere auch im Bereich der kontrastiven Linguistik 1.1 Historische Standortbestimmungen 27 <?page no="28"?> nach Möglichkeiten einer Optimierung des Fremdsprachenlernens suchte - man denke etwa an Publikationen von Fries und Lado zwischen 1945 und 1957 (vgl. Fries 1945, Lado 1957) und die so genannte Kontrastivitätshypothese, in der Schwierigkeiten und Er‐ leichterungen der Fremdsprachenaneignung durch Übereinstimmungen bzw. Divergenzen zwischen Ausgangsbzw. Erst- und Zielsprache des Fremdsprachenunterrichts zu erklären versucht wurden (z. B. Reimann 2014a, 14, vgl. Band II, Kap. 2.1.5). Auch in Deutschland befasste sich die Linguistik gerade in den 1960er und 1970er Jahren mit Fragestellungen des Fremdsprachenlernens (exemplarisch aus romanistischer Sicht z.B.: Hausmann 1975, Barrera-Vidal/ Kühlwein 1975, aus anglistischer Perspektive z.-B. Burgschmidt et al. 1974). - 1.1.1.5 Entwicklung der romanistischen Fachdidaktiken seit den 1960er Jahren Seit den 1960er und 1970er Jahren wurden dann erstmals an den Pädagogischen Hoch‐ schulen Professuren für Fachdidaktik(en) der Fremdsprachen eingerichtet, z. B. 1971 ein Lehrstuhl für Didaktik der französischen Sprache und Literatur an der PH Berlin (besetzt mit Ludger Schiffler, ab 1980 an der FU Berlin). Mit der Überführung der Lehrerbildung an die Universitäten folgten auch dort erste Lehrstuhlgründungen, z. B. 1974 ein Lehrstuhl für Didaktik des Französischen an der Universität Gießen (besetzt mit Herbert Christ). In den Jahren 1970 und 1972 erfolgte einerseits die Definition der Fächergruppe „Fachdi‐ daktik“ durch den Deutschen Bildungsrat, andererseits die Formulierung des Forschungs‐ programms „Sprachlehrforschung“ durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) (aus dem insbesondere auch das Bochumer Seminar für Sprachlehrforschung hervorging, das faktisch 2016 geschlossen wurde) (vgl. Reimann 2017b, 21 f., s. u., bes. Kap. 1.2.2, 1.2.3). Wichtige fremdsprachendidaktische Handbücher dieser Zeit, die teilweise weit bis in die Folgejahrzehnte hinein weiter aufgelegt wurden, sind etwa Schröter/ Ladwein: Der neusprachliche Unterricht (1962), Leisinger: Elemente des neusprachlichen Unterrichts (1966) und Arnold: Fachdidaktik Französisch (1973) (der letzte im Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK) (Stand 14.01.2022) verzeichnete Nachdruck der dritten Auflage stammt aus dem Jahr 1997). Beiträge wie der Aufsatz „Zur Didaktik der französischen Sprache im Hochschulbereich“ von Wolfgang Maier und Erich G. Pohl aus dem Jahr 1973 enthalten indes wenig konkrete Daten über den Ausbauzustand des Faches, lassen aber aus ihren Formulierungen und Forderungen schließen, dass das Fach noch beinahe inexistent ist (Maier/ Pohl 1973). Noch 1980 musste ein Studienführer für das Fach Romanistik sehr knapp, aber im Grunde treffend feststellen: „Fachdidaktik ist kaum in Ansätzen vorhanden“ (Beyer/ Gallasch 1980, 15, vgl. Reimann 2017b, 21 f.). Dennoch dürfen die 1960er und 1970er Jahre insgesamt in institutionen- und fachgeschichtlicher Hinsicht als die eigentliche Gründungsphase einer wissenschaftlichen Fremdsprachendidaktik in Deutschland gelten (vgl. Reimann 2018, 143 f.). 1.1.2 Zur gegenwärtigen Situation der romanistischen Fachdidaktiken - 1.1.2.1 Situierung der Fachdidaktik innerhalb der Romanistik Eine zentrale fachwissenschaftliche Bezugsdisziplinen der romanistischen Fachdidaktiken ist die romanistische Linguistik (und hier insbesondere die Teildisziplinen Phonetik und 28 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="29"?> Phonologie, Pragmatik und Varietätenlinguistik, in gewissem Maße auch die historische Linguistik) (vgl. bes. Band II, bes. Kap. 3.1, 4.2). In besonderem Maße relevant sind - mit Blick auf die Entwicklung inter- und transkultureller Lernprozesse - weiterhin die romanistischen Landes- und Kulturwissenschaften sowie eine sich allmählich konstituie‐ rende romanistische Medienwissenschaft. Insofern literarische Texte im Fremdsprachen‐ unterricht eingesetzt werden, bleibt auch die romanistische Literaturwissenschaft eine relevante Bezugsdisziplin (vgl. hierzu bes. Band III, Medien-, Kultur- und Literaturdidaktik, zu den fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen der romanistischen Fachdidaktiken vgl. auch Reimann 2020a, 534). Wünschenswert wäre weiterhin, dass die Neurowissenschaften/ Neurolinguistik mit sprachspezifischen Untersuchungen als Bezugsdisziplinen erschlossen würden (vgl. hierzu Band II, Kap.-1.2). romanistische Linguistik romanistische Literaturwissenschaft Romanistische Fremdsprachenforschung Fachdidaktik Französisch/ Spanisch/ Italienisch/ Portugiesisch/ Rumänisch romanistische Landes- und Kulturwissenschaften, romanistische Medienwissenschaft Abb. 1: Romanistische Fachdidaktiken und ihre intradisziplinären Bezugsdiskurse innerhalb der Romanistik (eigene Darstellung) Fachwissenschaftliche Aspekte von Relevanz finden sich u. a. in der Erforschung der romanischen Gegenwartsliteraturen und der romanistischen Medienwissenschaft (einfüh‐ rend in die romanistische Literaturwissenschaft z. B. zum Französischen Klinkert 2017, Gröne/ Reiser 2017 bzw. mit auch kulturwissenschaftlicher Ausrichtung Hartwig/ Stenzel 2007, Mecke/ Wetzel 2007, spezifisch zur französischen Kultur- und Medienwissenschaft Lüsebrink et al. 2004; zum Italienischen Grewe 2009, Gröne/ von Kulessa/ Reiser 2012, Liebermann/ Kuhn 2014, zum Spanischen Stenzel 2010, Strosetzki 2010, Gröne/ von Ku‐ lessa/ Reiser 2016, Hartwig 2018 mit Schwerpunkt Hispanoamerika und mit kulturwissen‐ schaftlicher Ausrichtung, zum Portugiesischen Zepp 2014; konzise, aber systematisch 1.1 Historische Standortbestimmungen 29 <?page no="30"?> allgemeinromanistisch einführend Poppenberg 2019; speziell zur Lyrik im Französischen, Italienischen und Spanischen Wetzel 2016). Landes- und kulturwissenschaftliche Inhalte sind für die Lehrerbildung ebenso unabdinglich, Einführungen und Überblicksdarstel‐ lungen sind z. B. Röseberg 2001, Grosse/ Lüger 2008, Lüsebrink 2011 zu Frankreich, Grosse/ Trautmann 1997, Baasner/ Thiel 2004 zu Italien, Bernecker 2008, Gimber 2003, Gimber/ Walter 2012 zu Spanien, Kreutzer 2013, Briesemeister/ Schönberger 1997 sowie Hendrich/ Pereira Martins 2018 zu Portugal, Costa/ Kohlhepp/ Nitschack/ Sangmeister 2010 zu Brasilien. Weiterhin finden sich für die Lehrerbildung relevante Inhalte gerade auch in der romanistischen Linguistik (einführend z. B. Platz-Schliebs/ Schmitz/ Müller/ Merino Claros 2012 (sprachenübergreifend), Sokol 2007, Stein 2014, Pustka 2022 zum Französi‐ schen, Kabatek/ Pusch 2011, Dietrich/ Noll 2012, Becker 2013 zum Spanischen, Haase 2012, Michel 2016 zum Italienischen, Endruschat/ Schmidt-Radefeldt 2014 zum Portugiesischen). Hier ist, mehr als in der Vergangenheit, als entsprechende Kenntnisse selbstverständlich waren, zunächst grundlegend die historische Linguistik zu nennen. Sprachhistorisches Wissen hilft, scheinbare Unregelmäßigkeiten im Sprachsystem zu erklären und kann folglich als Merkhilfe vermittelt werden (z. B. im Französischen zur Begründung des Präpositionsgebrauchs bei Benennung der Jahreszeiten en hiver - en été - en automne vs. au printemps). An Studienorten, an denen ein Latinum nicht mehr verpflichtend ist, können Lehrveranstaltungen eines „Latein für Romanisten“ oder Einführungen in die Entwicklungen vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen sinnvollerweise an dessen Stelle treten (vgl. Müller-Lancé 2020 sowie Müller-Lancé/ Kropp/ Siebel/ Stöckel 2021, Kiesler 2018). Auch sprachwissenschaftliche Lehrveranstaltungen zu historischen Sprachstufen sollten (wieder) eine Selbstverständlichkeit sein (einführend z. B. noch immer Wolf/ Hupka 1981 zum Altfranzösischen, Michel 1997 und Heinemann 2017 zum Altitalie‐ nischen, Barme 2014 zum Altspanischen, noch immer Huber 1933 zum Altportugiesischen). Weiterhin grundlegend sind Erkenntnisse der (mehrsprachigen) Spracherwerbsforschung (z. B. Müller/ Kupisch/ Schmitz/ Cantone 2011), der Phonetik und Phonologie (z. B. Pustka 2016 zum Französischen, Blaser 2007, Gabriel & Meisenburg & Selig 2013 sowie Pustka 2021a zum Spanischen, Heinz/ Schmid 2021 zum Italienischen), der Varietätenlinguistik (z.-B. einführend Sinner 2013, Pöll 2017 zur Frankophonie, Herling/ Patzelt 2013, Noll 2019 zum Spanischen) und der Pragmatik (z. B. Siebold 2008, Sieberg 2018, Reimann/ Robles i Sabater/ Sánchez Prieto 2019 zum Spanischen und Portugiesischen). Linguistische Sprach‐ betrachtung mit Blick auf die Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften kann immer in kontrastiv-linguistischer Perspektive erfolgen (einführend z. B. Tekin 2012, exemplarisch Reimann 2014d, Robles i Sabater/ Reimann/ Sánchez Prieto 2016a, b, Reimann/ Robles i Sabater/ Sánchez Prieto 2019, Wolf-Farré/ Cantone/ Moraitis/ Reimann 2021). - 1.1.2.2 Fachdidaktische Ansätze und Forschungsschwerpunkte Die Fachdidaktik der romanischen Schulsprachen bezog sich traditionellerweise vor allem auf das Französische, seit der Etablierung des Italienischen und Spanischen als dritten Fremdsprachen vor allem seit den 1980er Jahren zunehmend auch auf Spanisch und Italienisch, nunmehr punktuell auch auf Portugiesisch. Als Eckdaten und historische Orientierungsmarken können für das Spanische z. B. die Gründungen der Zeitschriften Hispanorama im Jahr 1972 und Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 2003 sowie 30 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="31"?> die Veröffentlichung erster Einführungen in die Fachdidaktik (Grünewald/ Küster 2009, Sommerfeldt 2011 und Bär/ Franke 2016) gelten; für das Italienische die Gründung der Fachzeitschrift Italienisch - Zeitschrift für italienische Sprache und Kultur mit regelmäßig mindestens einem fachdidaktischen Beitrag im Jahr 1979, die Publikation fachdidaktischer Sektionen der Italianistentage seit den 2000er Jahren, z. B. Becker/ Heinz/ Lüderssen 2001 sowie die erste spezifische Einführung in die Fachdidaktik Italienisch Michler/ Reimann 2019; für das Portugiesische einführende Erhebungen wie Scotti-Rosin 1997 und Reimann 2017c, ein erster schwerpunktmäßig auf das Portugiesische als Fremdsprache in Deutsch‐ land ausgerichteter Band wie Koch/ Reimann 2019 sowie, als „Gründungsdokument“ einer Fachdidaktik Portugiesisch, Reimann et al. i.Vb. Als weitere historische Wegmarke für die Entwicklung einer fächerübergreifend und sprachenvernetzend arbeitenden Fachdidaktik der romanischen Sprachen kann die Gründung der Zeitschrift für Romanische Sprachen und ihre Didaktik im Jahr 2007 angesehen werden. Die theoretisch-konzeptionell wie auch empirisch forschende Fachdidaktik der romani‐ schen Schulsprachen befasst sich dabei im Wesentlichen mit allen Bereichen der Fremd‐ sprachendidaktik und Fremdsprachenforschung. Aufgrund der an vielen Hochschulen noch immer defizitären Ausstattung des Faches ist der Forschungsoutput gemessen an größeren Fachdidaktiken trotz des Einsatzes seiner Akteurinnen und Akteure bislang noch überschaubar; auch größere Forschungsprojekte oder -verbünde sind selten. Größere Studien werden überwiegend im Rahmen von Qualifikationsschriften (Dissertationen und - selten - Habilitationen) durchgeführt (vgl. Caspari 2016a, 13), die in ihrer Zahl insgesamt spürbar zunehmen (wenn auch die Zahl der Habilitationen rar bleibt - zwischen 2010 und 2020: circa fünf). In den vergangenen beiden Jahrzehnten seit Veröffentlichung der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2003), die auf den Fremdsprachenunterricht insgesamt große Strahlkraft haben - nicht zuletzt, weil sie seinerzeit ohnehin virulente Bemühungen um Kompetenzmodellierungen durch den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001) und eine Stärkung der „Mündlichkeit“ (Hör-Sehverstehen und Sprechen) katalysierten - hat sich ein breiter theoretisch-konzeptioneller und empirischer Forschungsdiskurs um Kompetenzorientierung, Aufgabenorientierung, Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen entwickelt, wobei sich dieser besonders in der verhältnismäßig jungen Spanischdidaktik entfalten konnte (vgl. z. B. Tesch 2010, Meißner/ Tesch 2010, Abendroth-Timmer/ Bär/ Roviró/ Vences 2011a, Bär 2013a, Grünewald/ Krämer 2014). Eine in den letzten beiden Jahrzehnten (neu) modellierte Teil‐ kompetenz, an deren (Weiter-)Entwicklung die romanistische Fachdidaktik beteiligt war, ist der Bereich der Sprachmittlung (also der situations- und adressatenadäquaten, sinnge‐ mäßen Übertragung von Texten aus einer in eine andere Sprache, einführend z. B. Reimann 2016a). In jüngerer Zeit finden sich verstärkt theoretisch-konzeptionelle Erinnerungen an die Bedeutsamkeit von - motivierenden und (allgemein-)bildenden - „Inhalten“ im Unterricht der romanischen Schulsprachen (z. B. Reinfried 2017c, bes. 79, exemplarisch Imbach 2011, Steinbrügge 2016a, Reimann 2017a). Andreas Grünewald und Katharina Verriere konnten im Jahr 2014 an 29 von 34 angeschriebenen Hochschulen, die eine Lehramtsausbildung in den romanischen Sprachen anboten, Daten zur Stellensituation und zu Forschungsschwerpunkten erheben (Grüne‐ 1.1 Historische Standortbestimmungen 31 <?page no="32"?> wald/ Verriere 2015, 19). Dabei wurden - auf den Angaben der jeweiligen Professuren basierend - bei einer einfachen deskriptiv-statistischen Auswertung der induktiv auf der Grundlage einer offenen Fragestellung gewonnenen Kategorien folgende von wenigstens einem Fünftel der Antwortenden bearbeitete Forschungsschwerpunkte ersichtlich (Grüne‐ wald/ Verriere 2015, 20 f., 27): • inter-/ transkulturelles Lernen 48% • Literaturdidaktik 44% • Standardorientierung/ Kompetenz‐ orientierung 41% • Mehrsprachigkeit (einschließlich Zweitsprachenforschung) 33% • bilingualer Unterricht 30% • Mediendidaktik 30% • Linguistik 22% • Aufgabenorientierung 22% • Teilkompetenzen (Sprechen, Sprachmittlung, Schreiben) 22% In einem Forschungsüberblick zur Französischdidaktik der Jahre 2005 bis 2015 konnte Lars Schmelter folgende thematische Schwerpunkte ausmachen: Kompetenzorientierung, Behandlung kultureller, medialer und literarischer Inhalte, interkulturelle Kompetenz, Sprachmittlung, Mehrsprachigkeitsdidaktik, Motivation (Schmelter 2016). Dabei ist festzu‐ stellen, dass Unterrichtsforschung im Bereich der Französischdidaktik noch weitgehend als Desiderat bezeichnet werden muss (Schmelter 2016, 124). Dieser Befund gilt auch für die Fachdidaktiken des Spanischen (vgl. z. B. Bär 2019) und des Italienischen (vgl. Reimann 2009c, 2019c). Historisch zurückblickend, Spezifika der romanistischen Fachdidaktik unterstreichend und ihre besonderen Leistungen für die Fremdsprachenforschung insgesamt würdigend können - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - u. a. folgende Forschungsfelder hervorge‐ hoben werden: Ein Gebiet, in dem der Unterricht der romanischen Sprachen - hier des Französischen - eine Vorreiterrolle zukam, war seit den 1960er Jahren die Entwicklung des bilingualen Sachfachunterrichts (z. B. Mentz/ Nix/ Palmen 2007, Schmelter 2013, Deutsch 2016). Damit eng verbunden ist der Bereich des frühen Fremdsprachenlernens, in dem das Französische insbesondere im Südwesten (v. a. Baden-Württemberg, Saarland, Rhein‐ land-Pfalz) lange eine besondere Bedeutung innehatte und für den frühzeitig Konzepte für eine „Didaktik des Übergangs“, mithin für eine Kontinuität zwischen Frühbeginn und Sekundarstufe I, entwickelt wurden (z. B. Prinz 1999, Prinz 2003, Kierepka/ Krüger/ Mertens/ Reinfried 2004, Mertens 2003, Mertens 2018). Ein Bereich, in dem die romanistische Fachdidaktik vor allem seit den 1990er Jahren richtungweisende Pionierarbeit geleistet hat, ist die so genannte Mehrsprachigkeitsdidaktik. Diese ist u. a. insbesondere mit den Namen Franz-Joseph Meißner und Marcus Reinfried verbunden (vgl. z. B. Meißner/ Reinfried 1998, Martinez/ Reinfried 2006). Naheliegenderweise hat sich die Fachdidaktik der romanischen Sprachen, die beinahe als einzige Fremdsprachendidaktik mehrere Schulfremdsprachen aus einer Sprachenfamilie vertritt, die in einer schulischen Lernbiographie aufeinander 32 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="33"?> folgend erlernt werden können (z. B. in den 1990er Jahren Spanisch als spät beginnende Fremdsprache nach Französisch als 3. Fremdsprache, zunehmend auch z. B. Italienisch als 3. Fremdsprache nach Französisch als 2. Fremdsprache und inzwischen z. B. auch Französisch oder Italienisch als 3. oder spät beginnende Fremdsprachen nach Spanisch als 2. Fremdsprache), als erste und wohl am intensivsten Gedanken über sprachenvernetzendes Lehren und Lernen schulischer Fremdsprachen gemacht und damit auch Impulse für die Fremdsprachendidaktik insgesamt gegeben. Im Kontext der Mehrsprachigkeitsdidaktik hat sich im weiteren Verlauf zum einen die Interkomprehensionsforschung entwickelt (Erforschung insbesondere der Möglichkeiten des rezeptiven Sprachverstehens auf der Grundlage vorhandener Sprachkompetenzen in anderen, z. B. verwandten, Sprachen), zu der die romanistische Fachdidaktik wiederum maßgebliche Beiträge vorlegen konnte (z. B. Klein/ Stegmann 2000, Meißner 2005, Bär 2009). In jüngerer Zeit hat man zunehmend auch die lebensweltliche Mehrsprachigkeit in den Blick genommen (z. B. Hu 2003) und es wurden theoretische Konzepte erarbeitet, beide Forschungsrichtungen der Mehrsprachig‐ keitsdidaktik/ -forschung zu integrieren, etwa unter den Vorzeichen einer „aufgeklärten Mehrsprachigkeit“ (z. B. Reimann 2016b, Reimann/ Siems 2015, Reimann 2017d, vgl. weiterhin z. B. García García/ Prinz/ Reimann 2020). Auch zu der von der europäischen Sprachenpolitik (bes. Europäisches Fremdsprachenzentrum des Europarats) beförderten Entwicklung einer Modellierung von Kompetenzen und Ressourcen zu „Pluralen Ansätzen zu Sprachen und Kulturen“, die einen weit gefassten Begriff von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität modellieren, hat die romanistische Fachdidaktik einschlägige Veröffentli‐ chungen beigesteuert (z. B. Schröder-Sura 2018, Schröder-Sura 2020, Melo-Pfeifer/ Reimann 2018a). Spezifika des Lernens und Lehrens der romanischen Sprachen als dritter und ab der späten Mittelstufe neu einsetzender spät beginnender Fremdsprachen etwa aus Perspektive der Unterrichtsforschung und der Lernersprachenforschung werden indes derzeit noch zu wenig in umfassenden Studien erforscht (vgl. als Vorläufer die Publikation Christ 1985 zu Französisch als spät beginnender Fremdsprache, Bahr et al. 1996 zu Italienisch und Spanisch im Rahmen des Bochumer Tertiärsprachenprojekts sowie Bouwmeester 2011 zu Spanisch als dritter Fremdsprache). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Fach‐ didaktiken der romanischen Sprachen bzw. die romanistische Fremdsprachenforschung im Grunde mit allen Fragen der gegenwärtigen Fremdsprachendidaktik auseinandersetzen. Vor der Folie der anderen fremdsprachlichen Fachdidaktiken - etwa Anglistik, aber auch Slavistik - darf als spezifisches Verdienst innerhalb der Fremdsprachenforschung seit den 1990er Jahren sicherlich die maßgebliche Beteiligung an der Entwicklung einer Mehrsprachigkeitsdidaktik gelten (vgl. Reimann 2020a, 534-536). - 1.1.2.3 Fachdidaktische Forschungsmethoden Die Fremdsprachenforschung verfügt derzeit mit Settinieri et al. (2014) und Caspari et al. (2016, 2 2022) über zwei aktuelle und umfassende Handbücher zu Forschungsmethoden. An dem letztgenannten Band war die romanistische Fremdsprachenforschung mit Daniela Caspari maßgeblich beteiligt. Eine konzise Einführung, die für eine erste Orientierung etwa im Bachelor-Studium mit Blick auf erste eigene Forschungsvorhaben geeignet ist, hat ebenfalls aus romanistischer Perspektive Reimann 2020b vorgelegt. Neben traditionelle, hermeneutische Methoden der historischen (bes. Marcus Reinfried, z. B. Reinfried 2014, 1.1 Historische Standortbestimmungen 33 <?page no="34"?> 2016) und vor allem der theoretisch-konzeptionellen fachdidaktischen Forschung sind in den letzten Jahrzehnten zunehmend empirische Methoden getreten. Dabei bedient sich die Fremdsprachenforschung, wie andere Fachdidaktiken auch, u. a. durch Psychologie und Bildungswissenschaften vermittelt, überwiegend der empirischen Sozialforschung entlehnter Methoden. Immer wieder wird dafür plädiert, das spezifische Potential einer kleineren Teildisziplin der Fremdsprachenforschung insbesondere im Bereich qualitativer Ansätze zu nutzen. Neben etablierten Verfahren wie v. a. leitfadengestützten Interviews, Lerntagebüchern usw. wird in jüngerer Zeit z. B. auch das Erfassen unterrichtsbezogener Produkte angeregt, d. h., „von Texten bzw. Dokumenten auszugehen, die nicht extra erhoben werden müssen, sondern bereits vorhanden sind […], z. B. Unterrichtsplanungen, Tafelbilder, […] Kurz-Präsentationen, Gedichte, Plakate […] Rollenspiele usw.“ (Caspari 2016c, hier 193). Quantitative Einzelstudien auf umfassender Datenbasis, die über einfache deskriptivstatistische Operationen hinausgehen, stellen bislang eher die Ausnahme dar (z. B. Porsch/ Köller 2010, Venus 2017). Insgesamt geht die Tendenz zu Mixed-methods-An‐ sätzen, Triangulation gilt als eine zentrale Forschungsstrategie. In der historischen Entwicklung der Disziplin und ihrer Forschungsmethoden - von einer eher auf die Verschriftlichung von Unterrichtsentwürfen bzw. Beispielen für die Un‐ terrichtspraxis zielenden systematisierenden Unterrichtsmethodik seit dem 19. Jahrhundert bis in die 1960er/ 1970er Jahre (vgl. Reimann 2018, bes. 135-149), über eine vor allem bis in die 1970er/ 1980er Jahre stark aus der hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Tradition geprägte theoretisch-konzeptionelle Forschung einer Fachdidaktik als „Transformation“ bezugswissenschaftlicher Inhalte (die hier vor allem philologisch, allenfalls landeswissen‐ schaftlich gedacht wurden, vgl. Schumann/ Steinbrügge 2008) hin zu einer sich durch Anregungen aus der in den 1970er Jahren geprägten Sprachlehrforschung einerseits (vgl. z. B. Gnutzmann/ Königs/ Küster 2011, Königs 2013, Bausch et al. 2016) und der empirischen Bildungsforschung besonders seit etwa 2000 andererseits wandelnden, sich zunehmend empirischer Methoden bedienender forschenden Fachdidaktik, die ihr methodisches In‐ strumentarium in enger Interaktion mit den anderen verwandten (Fremd-)Sprachendidak‐ tiken (bes. Anglistik, aber auch Slavistik und Niederlandistik sowie DaF/ DaZ) beständig reflektiert und weiterentwickelt, ist die romanistische Fachdidaktik und Fremdsprachen‐ forschung in demselben Beziehungsgefüge zu verstehen, wie Cramer 2019 es anschaulich für andere Fachdidaktiken nachgewiesen hat (vgl. z.-B. Reimann 2020a). Insgesamt verzeichnet die Fremdsprachenforschung in den vergangenen Jahren spürbar mehr wissenschaftlichen Nachwuchs. Eine sehr gute Nachwuchsförderung findet auch durch die Deutsche Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) statt, die u. a. gezielt Nachwuchstagungen und Sommerakademien für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ausrichtet (vgl. www.dgff.de). Die zunehmende Professionalisierung der fremdsprachlichen Fachdidaktiken zeigt sich u. a. in der steigenden Zahl an Promotionen und durch die Ausdifferenzierung und Reflexion des forschungsmethodischen Repertoires, wobei sich neben hermeneutisch-konzeptionellen Zugriffen qualitative und quantitative Ansätze etabliert haben. Abschließend kann man feststellen, dass in der aktuellen romanis‐ tischen Fachdidaktik historische, theoretisch-konzeptionelle und empirische Forschungs‐ designs koexistieren, wobei verstärkt seit etwa 2000 eine Hinwendung zur Empirie mit einem Übergewicht der qualitativen Forschung festzustellen ist. In den letzten Jahren ist 34 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="35"?> punktuell eine Rückbesinnung auf theoretisch-konzeptionelle Forschung anzutreffen. Auch gibt es Versuche, empirische Forschung mit einem erstrebten Praxisbezug zu verbinden, z. B. in erneuerten Konzepten der Handlungsforschung wie etwa Design-Based-Research (z. B. Grünewald et al. 2014) (vgl. Reimann 2020b, 536, weiterführend vgl. Reimann 2020a und Kap. 8). - 1.1.2.4 Institutionelle Verankerung des Faches und fachdidaktische Curricula im Studium Erst seit etwa 2005 wurden im Kontext der Umstellung auf Bachelor-/ Master-Studien‐ gänge und der zeitgleich auferlegten Akkreditierungen ansatzweise flächendeckend fremd‐ sprachendidaktische Professuren eingerichtet, was eine grundsätzlich sehr erfreuliche Entwicklung darstellt und das Forschungspotential der Disziplin grundlegend stärkt. Allerdings sind noch immer Defizite u. a. in folgenden Bereichen zu konstatieren: Nicht alle Universitäten, die ein Lehramtsstudium in einer Fremdsprache anbieten, richten auch Professuren ein (noch gravierender ist dieses Defizit im Übrigen im Bereich der Didaktik der Alten Sprachen), in jüngerer Zeit musste wiederholt festgestellt werden, dass de facto fachwissenschaftliche Professuren im Namen der Fachdidaktik oder auch als „Kom‐ binations-Professuren“ vom Typ „Fachwissenschaft und Didaktik in der Sprache X“, bei Erwartung im Extremfall ausschließlich fachwissenschaftlicher Forschungsschwerpunkte, ausgeschrieben wurden. Vor allem aber sind die Professuren mitunter nicht ausreichend ausgestattet, um forschungsstark agieren und den für die Zukunft der Fächer zwingend notwendigen wissenschaftlichen Nachwuchs fördern zu können. Nicht zuletzt ist ein negativer Nebeneffekt der Stärkung der fremdsprachlichen Fachdidaktiken die institutio‐ nelle „Abwicklung“ der traditionellen Sprachlehrforschung in Bochum und Hamburg (vgl. z. B. http: / / staff.germanistik.rub.de/ sprachbildung/ seminar-fuer-sprachlehrfoschung-slf/ (19.01.2022) https: / / www.uni-hamburg.de/ campuscenter/ studienangebot/ studiengang.htm l? 1115052380, 03.04.2018). Derzeit (Stand 2022) gibt es in Deutschland in der romanistischen Fremdsprachenfor‐ schung etwa 25 Professuren und 5 Juniorprofessuren. Im Detail handelt es sich dabei um 18 Professuren an Universitäten sowie um 4 Professuren an Pädagogischen Hochschulen (zusätzliche 4 Professuren sind derzeit vakant). Daneben treten 4 Juniorprofessuren an Universitäten und 1 an einer Pädagogischen Hochschule. Weiterhin gibt es 8 Universitäts- und PH-Professuren mit romanistisch-didaktischen Anteilen (6 bzw. 2, 7 davon mit fach‐ wissenschaftlichen, 1 mit anglistisch-didaktischen Anteilen), sowie 2 Juniorprofessuren mit romanistisch-didaktischen Anteilen. Dies wird in folgender Graphik veranschaulicht: 1.1 Historische Standortbestimmungen 35 <?page no="36"?> Abb. 2: Deutschland-Karte der romanistisch-didaktischen Professuren (eigene Darstellung, Stand 2022) In der Lehre spiegelt sich die insgesamt verbesserte personelle Ausstattung des Faches in größeren fachdidaktischen Studienanteilen im Lehramtsstudium, an vielen Standorten erfreulicherweise bereits im Grundstudium bzw. im B.A.-Studium. So durchlaufen bei‐ spielsweise Studierende an der Universität Duisburg-Essen je nach Wahl des Faches im Berufsfeldpraktikum mindestens 8, maximal 10 Semesterwochenstunden Lehre (also 4-5 Lehrveranstaltungen) in romanistischer Fachdidaktik bis zum Erwerb des B.A. mit Lehramtsoption, auf die im Master nochmals 6 Semesterwochenstunden Lehre (zuzüglich eines Praxissemesters an einer Schule) folgen. Insgesamt umfasst das Studium mithin 14 bis 16 Semesterwochenstunden fachdidaktische Lehrveranstaltungen (zuzüglich schulischer Anteile des Praxissemesters). Bei den fachdidaktischen Curricula ist grundlegend und prototypisch zwischen Hoch‐ schulen zu unterscheiden, an denen die fachdidaktische Ausbildung bereits in den ersten Studienjahren einsetzt (im Folgenden: „extensives Curriculum“) und solchen, an denen sie erst im Hauptstudium bzw. in der Master-Phase einsetzt (im Folgenden: „intensives Curri‐ culum“). Diese grundlegende Unterscheidung kann mit Blick auf den Studienortwechsel 36 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="37"?> für die Studierenden problematisch werden, sie ist insbesondere dann bedauerlich, wenn an benachbarten Studienorten grundlegend divergierende Studienverlaufspläne gelten, wie dies z. B. in Nordrhein-Westfalen der Fall sein kann. Hier zeigt sich eine Schwierigkeit der Bologna-Reform bezogen auf die lehramtsspezifischen Inhalte des Studiums. Inhaltlich weisen die zwei grundlegenden Ansätze folgende Vor- und Nachteile auf: bei Konzentration der fachdidaktischen Anteile im Master steht dieser ganz unter den Vorzeichen der Ausbil‐ dung für die Schule und erlaubt eine Fokussierung auf Didaktik und Schulpraxis (häufig verbunden mit einem Praxissemester). Bei Verteilung über den gesamten Studienverlauf ab dem ersten oder zweiten Studienjahr werden fachdidaktisches Wissen und didaktisch-me‐ thodische Kompetenzen sukzessive und systematisch aufgebaut und erlauben, in die Phase eines längeren studienbegleitenden Praktikums im Hauptstudium (z. B. Bayern) oder eines Praxissemesters im Master (z. B. Nordrhein-Westfalen, Berlin) auf der Grundlage eines relativ fundierten und über einen gewissen Zeitraum gefestigten Schatzes an Wissen, Kenntnissen und Fertigkeiten einzutreten. Aufgrund der obigen Feststellungen zur Rele‐ vanz fachwissenschaftlicher Inhalte stellt der frühe Zeitpunkt im Studium in der Regel keine gravierenden Hindernisse dar, allenfalls sprachpraktische Defizite könnten hinderlich werden (an manchen Universitäten gelten tatsächlich absolvierte sprachpraktische Module auf einem bestimmten Niveau als Zugangsvoraussetzung). Im Folgenden soll zunächst der prototypische Verlauf eines extensiven Curriculums skizziert und ein Beispiel für ein romanistisch-fachdidaktisches Curriculum im Detail gegeben werden: Häufig wird ein aus zwei bis drei Lehrveranstaltungen bestehendes fach‐ didaktisches Grundlagenmodul im zweiten oder dritten Fachsemester angeboten. Idealiter besteht es aus einer Einführungsvorlesung und einem Einführungsseminar, das genau auf die Vorlesung abgestimmt deren Inhalte vertieft. Ein bis zwei weitere, monographische Seminare im Verlauf des B.A. mit Lehramtsoption/ B.Ed. können folgen. Im Master werden üblicherweise Hauptseminare, Seminare zu Forschungsmethoden der Fremdsprachenfor‐ schung sowie Begleitveranstaltungen zu den verschiedenen fachdidaktischen Praxisphasen angeboten (vgl. Reimann 2020a, 536 f.). Als Beispiel sei das romanistisch-fachdidaktische Curriculum an der Universität Duisburg-Essen genannt: B.A. mit Lehramtsoption Semester Veranstaltungstyp Titel und inhaltliche Aspekte Modul „B.A.-Modul Fachdidaktik“ 2 Vorlesung (2 SWS) Einführung in die Fachdidaktik der romani‐ schen Schulsprachen 2 Proseminar (2 SWS) Begleitseminar zur Einführungsvorlesung 3 Proseminar (2 SWS) monographisches Proseminar, i.-d.-R. mit einem Schwerpunkt auf Mehrsprachigkeit (lebensweltlich/ schulisch) 3 (fakultativ) Tutorium (2 SWS) Tutorium zur Einführung in die Fachdi‐ daktik der romanischen Schulsprachen 1.1 Historische Standortbestimmungen 37 <?page no="38"?> Semester Veranstaltungstyp Titel und inhaltliche Aspekte 5 Wiss. Übung (2 SWS) Begleitseminar zum „Berufsfeldpraktikum“ Modul „Berufsfeldpraktikum“ 5/ 6 Wiss. Übung (2 SWS) - Begleitseminar zum Berufsfeldpraktikum Modul „Abschluss-Modul Fachdidaktik“ Modul „Abschluss-Modul Fachdidaktik“ 6 B.A.-Seminar (2 SWS) monographisches Seminar („Mittelse‐ minar“), keine thematische Festlegung M.Ed. Semester Veranstaltungstyp Titel und inhaltliche Aspekte Modul „Master-Modul-Fachdidaktik“ 7 (bzw. 1) Hauptseminar (2 SWS) monographisches Seminar, keine thematische Festlegung, i.d.R. unter Berücksichtigung von Aspekten der Inklusion - Modul „Praxissemester - Schule und Unterricht forschend verstehen“ 8 (bzw. 2) Wiss. Übung (2 SWS) fachdidaktisches Begleitseminar zum Pra‐ xissemester unter Berücksichtigung von Aspekten der Inklusion Modul „Begleitmodul zur Master-Arbeit - Professionelles Handeln wissen‐ schaftsbasiert weiterentwickeln“ 10 (bzw. 4) Hauptseminar (2 SWS) Forschungsmethoden in der Fachdidaktik der romanischen Schulsprachen Abb. 3: Modul- und Studienverlaufsplan Fachdidaktik Romanistik an der Universität Duisburg-Essen (eigene Darstellung) Sozusagen eine Misch- oder Kompromissform der beiden prototypischen Studienverläufe („extensives“ und „intensives Curriculum“) stellt das Modulcurriculum der Humboldt-Uni‐ versität zu Berlin dar, das hier als zweites Beispiel vorgestellt werden soll. Nach einer fun‐ dierten Einführung in die Fachdidaktik im Bachelor werden hier fachdidaktische Studien‐ anteile tendenziell verstärkt in das Master-Studium integriert: Die Studierenden besuchen im B.A.-Studium fachdidaktische Lehrveranstaltungen im Umfang von 4 Semesterwochen‐ stunden (Einführung und Seminar), im Master im Umfang von 11 Semesterwochenstunden, so dass auch hier das Studium insgesamt 15 Semesterwochenstunden fachdidaktischer Studienanteile (wiederum zuzüglich schulischer Anteile des Praxissemesters) vorsieht. 38 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="39"?> B.A. mit Lehramtsoption Semester Veranstal‐ tungstyp Titel und inhalt‐ liche Aspekte Modul „Grundlagen der Didaktik des Französisch-/ Ita‐ lienisch-/ Spanischunterrichts“ 5 Vorlesung (2 SWS) Einführung in die Didaktik der romani‐ schen Sprachen und Literaturen 6 Proseminar (2 SWS) monographisches Se‐ minar M.Ed. Semester Veranstal‐ tungstyp Titel und inhalt‐ liche Aspekte Modul „Aufbaumodul Fachdidaktik“ 7 (bzw. 1) Hauptseminar (2 SWS) Inklusion und Hete‐ rogenität 8 (bzw. 2) Hauptseminar (2 SWS) Problemfelder des Fremdsprachen‐ lehrens und -lernens Modul „Planung, Durchführung und Reflexion von Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht“ 8 (bzw. 2) Wiss. Übung (2 SWS) Vorbereitung des Schulpraktikums - 9 (bzw. 3) Wiss. Übung (1 SWS) Nachbereitung des Schulpraktikums Modul „Transfermodul Fachdidaktik“ 10 (bzw. 4) Hauptseminar (2 SWS) Perspektiven fachdi‐ daktischer Forschung 10 (bzw. 4) Hauptseminar (2 SWS) oder Kolloquium (2 SWS) Perspektiven fachdi‐ daktischer Forschung (II) bzw. Kolloquium zur Masterarbeit Abb. 4: Modul- und Studienverlaufsplan Fachdidaktik Romanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin (eigene Darstellung) Ein weiterer Reflex der verbesserten institutionellen Rahmenbedingungen ist das Auf‐ blühen einer Handbuch- und Lehrbuch-Literatur zur Einführung in einzelsprachliche Fachdidaktiken und zur Fremdsprachendidaktik im Allgemeinen, im Falle der Romanistik 1.1 Historische Standortbestimmungen 39 <?page no="40"?> seit 2006 (mit dem Vorläufer Leupold 2002), welche die Einführung in die Fachdidaktik Französisch von Arnold aus dem Jahr 1973 (mit Neuauflagen bis 1997, s. o., Kap. 1.1.1.5) ablösten. Die aktuelle Generation von für die Didaktiken der romanischen Sprachen und Literaturen relevanten Einführungs- und Überblicks-Darstellungen lässt sich aus heutiger Perspektive in zwei Phasen unterteilen, eine erste von 2006 bis 2010/ 2011 datierende Phase - mit einem Schwerpunkt um das Jahr 2010 - und eine zweite, die etwa 2014/ 2015 einsetzt, in der teilweise überarbeitete Neuauflagen von Werken der ersten Phase erschienen, teilweise aber auch noch neue Publikationen hinzugetreten sind. Diese jüngere Handbuch- und Lehrbuch-Generation sei an dieser Stelle tabellarisch erfasst, wobei auf die Frage eingegangen werden soll, ob Fachdidaktik als Wissenschaft a) definiert und b) durch (forschungs-)methodologische Abschnitte auch als solche eingeführt wird. Berücksichtigt wurden romanistische Einführungsdarstellungen sowie sprachenübergreifende Einfüh‐ rungen und Handbücher, die für die Romanistik relevant sind. Erstauflagen sind dabei mit Fettdruck (Autor und Titel) bezeichnet. 40 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="41"?> Jahr Werk Fachdidaktik/ Fremdsprachenforschung explizit als Disziplin modelliert Forschungsmethodologie eingeführt 2002 Leupold: Französisch unterrichten (Seelze: Kallmeyer) ja (bes. 24-44) nein 2006 Nieweler (Hrsg.): Fachdidaktik Französisch (Stuttgart: Klett) ja (bes. 12-26) nein 2007 Krechel (Hrsg.): Französisch-Methodik (Berlin: Cornelsen) nein nein 2009 Grünewald/ Küster (Hrsg.): Fachdidaktik Spanisch (Stuttgart: Klett) ja (bes. 42-83) ja (79-83) 2010 Leupold: Französisch lehren und lernen (Seelze: Kallmeyer) ja (bes.92-99) nein 2010 Fäcke: Fachdidaktik Französisch (Tübingen: Narr) ja (bes. 2-14) nein 2010 Decke-Cornill/ Küster: Fremdsprachendidaktik (Tübingen: Narr) ja (bes. 1-9) nein 2010 Hallet/ Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik (Seelze: Kallmeyer) ja (bes. 11-39) ja (z.B. 359-372) 2010 Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik (Stuttgart: Metzler) ja (vgl. 347: „Bezugswissenschaften und Teilbereiche) ja (v.a. s.v. Empirie, Forschungsmethoden und -instrumente) 1.1 Historische Standortbestimmungen 41 <?page no="42"?> 2011 Fäcke: Fachdidaktik Spanisch (Tübingen: Narr) ja (bes. 2-14) nein 2011 Sommerfeldt (Hrsg.): Spanisch-Methodik (Berlin: Cornelsen) nein nein 2014 Krechel (Hrsg.): Französisch unterrichten (Berlin: Cornelsen) nein nein 2014 Krechel (Hrsg.): Französisch-Methodik (Berlin: Cornelsen, 4. Auflage) nein nein 2015 Krechel (Hrsg.): Französisch-Didaktik (Berlin: Cornelsen) nein nein 2015 Decke-Cornill/ Küster: Fremdsprachendidaktik (Tübingen: Narr, 3. Auflage) ja nein 2016 Bär/ Franke (Hrsg.): Spanisch-Didaktik (Berlin: Cornelsen) nein nein 2016 Burwitz-Melzer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht (Tübingen: Francke) ja (bes. 1-7) ja (bes. 571-596) 2017 Fäcke: Fachdidaktik Französisch (Tübingen: Narr, 2. Auflage) ja (bes. 2-14) nein 2017 Nieweler (Hrsg.): Fachdidaktik Französisch (Stuttgart: Klett, 2. Auflage) ja (bes. 19-30) nein 42 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="43"?> 2017 Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik (Stuttgart: Metzler) ja ja (v.a. s.v. Empirie, Forschungsmethoden und -instrumente) 2018 Grünewald/ Küster (Hrsg.): Fachdidaktik Spanisch (Stuttgart: Klett, 2. Auflage) ja (bes. 60-95) ja (bes. 96-110) 2019 Hallet/ Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik (Seelze: Kallmeyer, 3. Auflage (2. Auflage: 2013)) ja (bes. 11-39) ja (z.B. 359-372) 2019 Michler/ Reimann: Fachdidaktik Italienisch (Tübingen: Narr) ja (bes. 279-302) ja (bes. 279-302) 2019 Sommerfeldt (Hrsg.): Spanisch-Methodik (Berlin: Cornelsen, 6. Auflage) nein nein 2019 Bär/ Franke (Hrsg.): Spanisch-Didaktik (Berlin: Cornelsen, 2. Auflage, 2. Druck: 2021) nein nein 2020 Koch: Einführung in die Fachdidaktik Spanisch (Berlin: Erich Schmidt) ja (bes. 24-36) nein 2020 Hallet / Königs / Martinez (Hrsg.): Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht (Seelze: Kallmeyer) nein Forschungsmethoden bes. als Lehr-/ Lernmethoden fokussiert (505-527) fett = Erstauflage, nicht fett = Neuauflage (Neuauflagen nur auswahlartig berücksichtigt, z.B., wenn lange nach Erstauflage erschienen bzw. wenn überarbeit) Abb. 5: Fremdsprachendidaktische Einführungsdarstellungen (Schwerpunkt Romanistik) seit dem Jahr 2000 (eigene Darstellung) 1.1 Historische Standortbestimmungen 43 <?page no="44"?> Im Unterschied zu den historischen Vorläufern seit dem 19. Jahrhundert (vgl. Reimann 2018) erfolgt eine Reflexion der Fachdidaktik als Disziplin nunmehr beinahe regelmäßig. Allerdings wird sie wie in der Vergangenheit häufig vor allem in den Kontext ihrer Bezugs‐ wissenschaften gestellt und in Abgrenzung zu einer - inzwischen beinahe als historisch zu bezeichnenden - Allgemeinen Didaktik (vgl. Kap. 1.4.1) eingeführt. Methodologische Reflexionen zur Fachdidaktik als forschender Disziplin bleiben in den Einführungen meist eklektisch und sind sehr knapp gehalten (Ausnahmen sind z. B. Grünewald/ Küster 2009, 2018 und Michler/ Reimann 2019). Dies mag an der Zielsetzung der genannten Bände liegen, die insbesondere Lehramtsstudierende in die praxisrelevanten Aspekte des Fachgebiets einführen wollen, ist aber mit Blick auf Fachdidaktik als eigenständige wissen‐ schaftliche Disziplin und in Hinblick auf die Bildung eines wissenschaftlichen Nachwuchses sicherlich zu hinterfragen. Handbücher wie Hallet/ Königs 2010, das Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik (2010, 2 2017) wie auch das neue Handbuch Fremdsprachenunterricht (Burwitz-Melzer et al. 2016) enthalten indes verlässliche (forschungs-)methodologische Abschnitte bzw. Einträge. Mit der grundlegend überarbeiteten Neuauflage des Handbuch Fremdsprachenunterricht (Burwitz-Melzer et al. 2016) liegt darüber hinaus nunmehr auch für die Praxis ein Werk vor, das den aktuellen Forschungsstand der Disziplin in handbu‐ chartiger Form kompakt darstellt. Abschließend kann festgehalten werden, dass sich die Fremdsprachendidaktik in den letzten zehn bis zwanzig Jahren massiv weiterentwickelt hat, von einer überwiegend hermeneutisch ausgerichteten Anwendungsdisziplin zu einer empirisch orientierten Fremdsprachenforschung. 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 1.2.1 Methodik und Methodologie/ Fachmethodik Das Wort Methodik bezeichnet auf einer konkreten Ebene die Gesamtheit der Methoden, also der Verfahren und Techniken u. a. von (Fremdsprachen-)Unterricht. Auf einer über‐ tragenen Ebene kann damit auch die Reflexion über und die Erforschung von solchen Verfahren und Techniken gemeint sein (in diesem Falle kann auch der Begriff „Methodo‐ logie“ verwendet werden). Man kann also Methodik (oder eben Methodologie) auch als die Wissenschaft von der systematischen Beschreibung und der Erforschung von Methoden - hier des Fremdsprachenunterrichts - definieren. Das Wort ist vom Griechischen μέθοδος - „Weg der Untersuchung“, „Methode“ abge‐ leitet, das aus der Präposition μετά - u. a. „hinter … her“, „nach“, „gemäß“ -und dem Substantiv ἡ ὁδός - „der Weg“ zusammengesetzt ist. Im etymologischen Sinn ist ἡ μέθοδος/ Methode also der „Weg zu etwas hin“, etwa der Weg zu den Zielen des Unterrichts. Der Begriff Methodik selbst ist in einem weiteren Schritt von einer denkbaren gelehrten griechisch-lateinischen Bildung μεϑοδική τέχνη/ methodica - etwa „Kunst der Methode“, „Lehre von der/ den Methoden“ - herzuleiten. Obwohl Methodik im Sinne einer Systematisierung unterrichtspraktischer Erfahrungen der Lehrkräfte wohl immer betrieben wurde und der Begriff „(Unterrichts-)Methodik“ land‐ 44 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="45"?> läufig vielfach Verwendung findet, hat sich eine Methodik des Fremdsprachenunterrichts als eigenständige wissenschaftliche Disziplin nie etablieren können, d. h., sie hat sich nicht explizit wissenschaftstheoretisch definiert und ein spezifisches (forschungs-)methodisches Instrumentarium entwickelt. Tatsächlich existieren Tendenzen zur Sammlung von und zur Reflexion über Verfahren, Techniken und Methoden des Fremdsprachenunterrichts wohl, seit Fremdsprachen vermittelt werden, und sei es nur auf der Ebene der einzelnen Lehrkräfte. Seit dem 19.-Jahrhundert (s.-u., Kap.-1.2.2) wird in Ansätzen systematisch über Unterrichtsverfahren reflektiert und es erfolgen Zusammenstellungen zu unterrichtsprak‐ tischen Verfahren, die den Titel „Methodik“ tragen (wiederum s. u., bes. Kap. 1.2.2.2). Mindestens ebenso häufig ist vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die eher unsystematische, praxisbasierte und -orientierte Darstellung einzelner Unterrichtsein‐ heiten und -stunden „aus der Praxis für die Praxis“ etwa in klassischen Lehrerzeitschriften (vgl. Kap. 7.2.2.2), die auch mit eher geringschätzenden Begriffen wie „Rezeptologie“, „instant teaching“ oder „Meisterlehre“ belegt werden, häufig aber auch als „methodische“ Veröffentlichungen bezeichnet werden. Gleichwohl ist es in der Bundesrepublik Deutschland wie einleitend beschrieben nie zur Konstituierung einer Methodik oder Methodologie des Fremdsprachenunterrichts als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin gekommen. Auch gibt es nur wenige systematische Untersuchungen zu Methoden des Fremdsprachenunterrichts im engeren Sinne (z. B. Segermann 1992). Die Beschäftigung mit Methoden darf vielmehr als eine (implizite) Teildisziplin bzw. als ein Forschungsfeld der fremdsprachlichen Fachdidaktiken bzw. der Fremdsprachenforschung (vgl. bes. Kap. 1.2.2, 1.2.5) gelten. Nur selten wurde in der fachdidaktisch-methodischen Diskussion der eigentlich konsequenterweise zu ver‐ wendende Begriff „Fachmethodik“ gebraucht (belegt v. a. für technische und wirtschaftliche Fächer, z.-B. Förner 1976, Schmiel 1978, 25 f.). Dass die Übergänge zwischen Methodik und Didaktik fließend sind, zeigt sich auch an der Begriffsverwendung in anderen Kontexten: In der DDR beispielsweise diente seit den 1950er Jahren der Begriff „Methodik“ weitgehend zur Bezeichnung dessen, was in der Bundesrepublik als Fachdidaktik bzw. Fremdsprachendidaktik bezeichnet wurde und wird (vgl. Bausch/ Christ/ Krumm 2003b, 1, weiterführend z. B. Apelt 1990 und 1991; grundlegend zur fremdsprachlichen Fachdidaktik in der DDR vgl. auch Hüllen 1991). In Frankreich bezeichnete im 20. Jahrhundert der Begriff méthodologie (des langues vivantes) das Pendant einer praxisorientierten Fachdidaktik der neueren Sprachen, bevor sich seit den 1970er Jahren Begriffe wie didactique des langues étrangères bzw. vivantes etablieren konnten (daneben wurde auch didactologie als nochmals abstrahierender Oberbegriff (im weitesten Sinne etwa dem deutschen Fremdsprachenforschung entsprechend) vorgeschlagen, vgl. Bausch/ Christ/ Krumm 2003c, 12 f.). In einem klassischen Verständnis von Didaktik und Methodik, das die Begriffe orientie‐ rend zu unterscheiden hilft, kann Didaktik als die wissenschaftlich-theoretische Betrach‐ tung von Unterricht eher als Gegenstandsbereich der ersten Phase der Lehrerbildung an den Hochschulen verstanden werden, Methodik als die systematische Auseinandersetzung mit Verfahren und Techniken des Unterrichtens als privilegierter Gegenstandsbereich der zweiten Phase der Lehrerbildung (Referendariat). In der dritten Phase der Lehrerbildung - der berufsbegleitenden Fortbildung - wären wiederum beide Gegenstandsbereiche 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 45 <?page no="46"?> relevant: Entwicklungen der Didaktik seit Abschluss des eigenen Studiums einerseits und Vertiefung methodischer Fragestellungen andererseits (weiterhin einführend in Systematik und Historizität der Methodenbegriffe z. B. Reinfried 2001, bes. 1-3, Reinfried 2020, Hallet/ Königs/ Martinez 2020b). 1.2.2 Fachdidaktik - 1.2.2.1 Definition und Etymologie Eine allgemein akzeptierte, nicht nur auf die fremdsprachlichen, sondern auf alle Fach‐ didaktiken bezogene Definition wurde 1998 von der Konferenz der Vorsitzenden der Fachdidaktischen Fachgesellschaften vorgelegt: Fachdidaktik ist die Wissenschaft vom fachspezifischen Lehren und Lernen innerhalb und außerhalb der Schule. In ihren Forschungsarbeiten befasst sie sich mit der Auswahl, Legitimation und didaktischen Rekonstruktion von Lerngegenständen, der Festlegung und Begründung von Zielen des Unterrichts, der methodischen Strukturierung von Lernprozessen sowie der angemes‐ senen Berücksichtigung der psychischen und sozialen Ausgangsbedingungen von Lehrenden und Lernenden. Außerdem widmet sie sich der Entwicklung und Evaluation von Lehr- und Lernmaterialien. (KVFF 1998, 13 f.) Etymologisch lässt sich „Didaktik“ auf das griechische Verb διδάσκειν - „lehren“ zurück‐ führen. Das Wort „Didaktik“ selbst geht auf das lateinische didactica zurück, das seinerseits als verkürzte lateinische Übersetzung eines als gelehrte Bildung denkbaren griechischen Begriffs διδακτική τέχνη gelten kann, der nach dem Muster anderer Bezeichnungen wissenschaftlicher Disziplinen um das Wort τέχνη gebildet werden könnte (ἡ τέχνη - „handwerkliches Können“, „Kunst“, „Technik“, „Fertigkeit“, „Wissenschaft“, vgl. z. B. μαθηματική τέχνη - „Mathematik“; mit Blick auf „qualifiziertes, zielgerichtetes Handeln“ ist τέχνη spätestens seit Platon ein etablierter Begriff, vgl. z. B. Löbl 1997, 211). Tatsächlich im historischen Griechisch belegt ist vor allem das Adjektiv διδακτικός - „geschickt im Lehren“, das besonders im biblischen Griechisch dokumentiert ist und dort z. B. als Qualität eines guten Bischofs ausgewiesen wird (z. B. 1. Tim. 3, 2) (weiterführend z. B. Thesaurus Linguae Graecae - LSJ - The Online Liddell-Scott-Jones-Greek-Englisch Lexikon, s.v., http: / / s tephanus.tlg.uci.edu/ lsj/ #eid=27280, 19.03.2021). Ebenfalls belegt, und zwar bereits seit der klassischen Zeit der griechischen Literatur, ist ferner ἡ δίδαξις - „das Lehren“, so etwa bei Euripides und Aristoteles (vgl. http: / / stephanus.tlg.uci.edu/ lsj/ #eid=27284, 19.03.2021). Der Begriff „Didaktik“ ist in einer allgemein-pädagogischen Verwendung erstmals im Jahr 1613 belegt und wird ab 1627 mit Comenius’ Didactica magna populär (vgl. z. B. Blankertz 1991, 14). Mit Bezug auf den neusprachlichen Unterricht ist er spätestens seit 1895 überliefert, und zwar in einem Buchtitel, dort in unmittelbarer Verbindung mit dem Begriff „Methodik“: Didaktik und Methodik des französischen Unterrichts (Münch 1895, vgl. Schröder 1977, 41). Der Begriff „Fachdidaktik“ gilt derzeit als erstmals 1921 belegt, und zwar in einem grundlegenden Aufsatz zur Didaktik der Mathematik (mit Ausblicken auf naturwissenschaftliche Fächer) (Lietzmann 1921, bes. 155, 158, 161, vgl. Hinweise in Fritsch 2006, bes. 209 f., vgl. Kipf 2009, 1). In wissenschaftstheoretischer Perspektive mit 46 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="47"?> Blick auf den Anspruch, dass es sich um eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin handele, ist der Begriff „Fachdidaktik“ im neuphilologischen Kontext dann nach heutigem Kenntnisstand erstmals 1932 belegt, und zwar bei dem Anglisten Walter Hübner (Hübner 1932, vgl. den Hinweis in Knecht 1984, 116 f., weiterhin auch Christ 2006, 54-56; Knecht 1984 auch weiterführend zur Geschichte des Begriffs „Didaktik“). - 1.2.2.2 Begriffsgeschichte der Didaktik und Methodik des neusprachlichen Unterrichts (v.-a. 19./ 20.-Jahrhundert) Die frühen Darstellungen zu Inhalten, Medien und Methoden des Fremdsprachenunter‐ richts seit dem 19. Jahrhundert entstehen in einer Zeit, als Didaktik als akademische Disziplin noch nicht existiert, sehr wohl aber - ausgehend vor allem von den entstehenden Studienseminaren und von einer sich noch stark akademisch definierenden Lehrerschaft - eine intensive Diskussion über Ziele, Inhalte und Verfahren des Fremdsprachenunter‐ richts (v. a. seit der sog. neusprachlichen Reformbewegung, vgl. Kap. 2.3, einführend aus romanistischer Perspektive exemplarisch Reimann 2018). Fachdidaktik als akademische Disziplin entstand indes erst etwa seit den 1960er Jahren (s. o., Kap. 1.1.1.5, weiterhin vgl. Kap. 1.2.2.3). Als frühe umfassende Ausführungen zum Fremdsprachenunterricht, die einen bildungstheoretischen Entwurf liefern und dabei auch Aspekte der historisch-ver‐ gleichenden Sprachwissenschaft - für die Schule adaptiert - berücksichtigen, gelten gemeinhin Schriften von Karl Mager aus den 1840er Jahren, die unter dem Titel Moderne Humanitätsstudien eine umfassende Konzeption von Fremdsprachenunterricht, gerade auch mit Bezug auf das Französische, entwickeln (z. B. Christ 2019, 17, vgl. Kap. 1.1.1.4). Die weiteren frühen monographischen Publikationen zur Didaktik und Methodik der neueren Sprachen, die besonders ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen, ent‐ halten teilweise Reflexionen über bildungspolitische Legitimationen, bildungstheoretische Begründungen und Ziele des Fremdsprachenunterrichts, Untersuchungen zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, Hinweise zu vorhandenen Lehrmaterialien, Erörterungen über die Inhalte des Fremdsprachenunterrichts (sprachliche Inhalte, literarische und ggf. kulturkundliche Inhalte) sowie unter Umständen unterrichtsmethodische Hinweise im engeren Sinn (zu einer exemplarischen Untersuchung für den Bereich der Aussprache‐ schulung im Französischen vgl. z. B. Reimann 2021b). Begriff, Gegenstandsbereich und (wissenschaftliche) Methoden der Disziplin werden indes meist nicht reflektiert (vgl. die exemplarische Untersuchung zu für das Französische relevanten Darstellungen in Reimann 2018, bes. 135-149). Als Gegenstandsbereich dieser Publikationen gilt der „Unterricht“ der Fremdsprachen, die Grenzen zwischen Didaktik und Methodik sind fließend, die Begriffe weitgehend aus‐ tauschbar, d. h., es ist nicht erkennbar, weshalb ggf. nur der eine oder nur der andere Begriff im Titel eines Werkes stehen. Eine Gleichsetzung von „Didaktik“ und „Methodik“ konsta‐ tiert Konrad Schröder noch 1977, hier bezogen auf den Englischunterricht, „bis in neueste Zeit“, also bis in die 1970er Jahre (Schröder 1977, 44). Weitere frühe Belege des Begriffs „Didaktik“ als Titel monographischer Einführungsdarstellungen sind - neben Münchs ab 1895 wiederholt erschienener Didaktik und Methodik des französischen Unterrichts (München: Beck 2 1902, 3 1910) - z. B. Ernst Ottos Methodik und Didaktik des neusprachlichen Unterrichts (Bielefeld/ Leipzig: Velhagen & Klaßing 1921) oder Walter Hübners Didaktik 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 47 <?page no="48"?> der neueren Sprachen (Frankfurt am Main: Diesterweg 1929). Dagegen tragen etwa Philipp Aronsteins Einführung in die neusprachliche Unterrichtslehre ebenso wie Julius Schmidts speziell auf das Französische bezogene Einführungsdarstellung, wie auch mehrere andere Werke des ausgehenden 19./ frühen 20. Jahrhunderts, ausschließlich den Begriff „Methodik“ im Titel (hier: Methodik des neusprachlichen Unterrichts. Leipzig/ Berlin: Teubner, 1 1921, 2 1926 bzw. Methodik des französischen Unterrichts. Jena/ Leipzig: Gronau, 1 1928, 2 1932). - 1.2.2.3 Diskurs- und institutionengeschichtliche Perspektiven (v.-a. 1950er bis 1970er Jahre) In diskursgeschichtlicher Hinsicht kann man festhalten, dass in der frühen Phase der do‐ kumentierten Reflexion über Fremdsprachenunterricht ausschließlich die höheren Schulen - Gymnasien, (Ober-)Realschulen, Lyzeen - den Bezugsrahmen bilden. Herbert Christ formuliert beispielsweise: die Fremdsprachendidaktik wurde für mehr als ein Jahrhundert [beginnend etwa ab 1830] zu einer Theorie des Lehrens und Lernens von fremden Sprachen in höheren Schulen. Zwar wurden auch außerhalb dieser Schulen fremde Sprachen gelehrt und gelernt, aber das beachtete die Fremdsprachendidaktik […] nicht. (Christ 2019, 17) In institutionengeschichtlicher Perspektive lässt sich die Entwicklung der Beziehung zwischen Methodik und Didaktik seit den 1950er Jahren wie folgt beschreiben. Für die 1950er Jahre sieht Schröder noch ein eindeutiges Primat der Methodik: Bis zum Ende der 50er Jahre ist die Beschäftigung mit Problemen des [Fremdsprachenunterrichts] eine Domäne der [gymnasialen] Studienseminare. Die Institution [Gymnasium] befindet sich damals noch unter dem Einfluß eines in seinen Ursprüngen neuhumanistischen Wertdenkens […]. [Stoffpläne regeln] […] im Rahmen traditioneller ministerieller Denkweise Thematik und Se‐ quenzialität des Unterrichts. Der Lehrer versteht sich als Methodiker, als geschickter Handwerker, zuweilen als Künstler. Das „bewährte“ Verfahren wird als sakrosankt erklärt […]. Der erfahrene Methodiker rückt zum Fachleiter auf. Er vermittelt seine Art zu unterrichten im Rahmen des Referendariats, das - [gymnasialem] Selbstverständnis entsprechend - als Meisterlehre konzipiert ist, der nächsten Lehrergeneration. (Schröder 1977, 44 f.) Tatsächlich verstand sich (Allgemeine) Didaktik bis in die 1970er Jahre hinein vor allem als Ort der Untersuchung der „Ziele und Inhalte, der Organisationsformen bzw. Methoden und Medien des Lehrens und Lernens“ (Klafki 1974, 117, vgl. Schröder 1977, 41). Mithin kamen sowohl bildungs- und lerntheoretische als auch informationstheoretische Konzeptionen von Didaktik zum Tragen, d. h. Fragen der Auswahl und der Strukturierung von Bildungs‐ inhalten einerseits und der Steuerung der Lernprozesse andererseits (Schröder 1977, 43, wiederum unter Berufung auf Klafki). In den 1960er Jahren entstanden, aus den Lehrerseminaren und Pädagogischen Aka‐ demien hervorgehend, die so genannten Pädagogischen Hochschulen. Dort wurden zu‐ nächst Dozenturen, später Professuren für einzelne Fachdidaktiken angesiedelt. Mit der Integration der Pädagogischen Hochschulen in die Universitäten bzw. mit der Begründung einer universitären Lehrerbildung in den 1970er Jahren wurden diese Professuren an die Universitäten transferiert, es erfolgte also „die Aufnahme der [Fachdidaktik] in den 48 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="49"?> universitären Fächerkanon“ (z. B. Schröder 1977, 45, vgl. Kap. 1.1.1.5). Die Fachdidaktik bemühte sich, dem entsprechenden wissenschaftlichen Anspruch gerecht(er) zu werden. Nicht zuletzt aufgrund einer noch nicht vorhandenen wissenschaftlichen Vergangenheit, mithin aufgrund fehlenden in der Disziplin Fachdidaktik wissenschaftlich ausgebildeten Personals, blieb sie jedoch oft auf der Ebene einer Wissenschaft der Transformation (fach‐ licher Inhalte) oder sogar auf der Ebene der Methodik. Schröder skizziert dieses Dilemma der 1960er Jahre - das sich in abgeschwächter Form punktuell weit ins 21. Jahrhundert hinein fortsetzt - u.-a. unter Berufung auf Walther Zifreund wie folgt: „Im Gefolge der Bemühungen der Pädagogischen Hochschulen um ihre Anerkennung als wissen‐ schaftliche Hochschulen galten Unterrichtslehre und Unterrichts- oder Fachmethodik bald nicht mehr als hoffähig. […] Didaktik ist weitgehend charakterisiert durch eine Überbetonung der In‐ halte und deren Auswahl oder der bildungstheoretischen Reflexion oder des Informationsumsatzes und damit wiederum der stofflich-inhaltlichen Problematik von Unterricht.“ (Zifreund 1970: 634). Auf die neusprachlichen Dozenturen, deren Umwandlung in Professuren sich in den folgenden Jahren vollzieht, werden in der Regel besonders qualifizierte Gymnasiallehrer und Fachleiter berufen: Der Methodiker steigt zum Didaktiker auf, auch wenn sein Lehrangebot auf Methodik fixiert bleibt. (Schröder 1977, 45) Im Jahr 1970 wurden im Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrats die Aufgaben der Fachdidaktiken wie folgt beschrieben: 1. festzustellen, welche Erkenntnisse, Denkweisen und Methoden der Fachwissenschaft Lern‐ ziele des Unterrichts werden sollen; 2. Modelle zum Inhalt, zur Methodik und Organisation des Unterrichts zu ermitteln, mit deren Hilfe möglichst viele Lernziele erreicht werden; 3. den Inhalt der Lehrpläne immer wieder daraufhin überprüfen, ob er den neuesten Erkennt‐ nissen fachwissenschaftlicher Forschung entspricht, und gegebenenfalls überholte Inhalte, Methoden und Techniken des Unterrichts zu eliminieren oder durch neue zu ersetzen; 4. erkenntnistheoretische Vertiefung anzuregen und fächerübergreifende Gehalte des Faches beziehungsweise interdisziplinäre Gesichtspunkte zu kennzeichnen. (Deutscher Bildungsrat 1970, 225 f., zit. nach Schmiel 1978, 25) Für die 1970er Jahre kann man eine Anerkennung und Etablierung der Fachdidaktik als akademischer Disziplin feststellen, die sich u. a. durch Besetzung der Stellen mit immer qualifizierterem Personal, zugleich und vor allem aber auch durch erste substantielle, wis‐ senschaftliche Forschungen zu den fremdsprachlichen Fachdidaktiken begründen lassen: Die von den Bildungsbehörden eingesetzten Reformkommissionen werden in zunehmendem Maße mit Fachdidaktikern und schulfachdidaktisch interessierten Hochschullehrern besetzt. Dadurch gewinnt die Disziplin spürbar an politischem Einfluß und allgemeiner Wertschätzung. Hinzu kommt, daß es einer Reihe von Fachdidaktikern gelingt, durch Vorlage grundlegender Publikationen [Fachdidaktik] als Wissenschaft im Sinne geltender Auffassungen glaubhaft zu umreißen. (Schröder 1977, 45) Bedrückend ist allerdings, dass folgende Formulierung von Konrad Schröder aus dem Jahr 1977, hier bezogen auf die Englischdidaktik, etwa 45 Jahre später auch bezogen auf 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 49 <?page no="50"?> die romanistische Fachdidaktik noch immer punktuell Gültigkeit hat, d. h., dass manche Universitäten bis heute nicht in der Lage bzw. willens waren oder sind, entsprechend geeignetes Personal auszubilden und zu berufen: Infolge einer unzureichenden Nachwuchspflege durch die überkommene Anglistik sowie die institutionalisierte [Englischdidaktik] fällt es schwer, Hochschullehrer-Positionen mit geeigneten Bewerbern zu besetzen. Berufungskommissionen greifen in diesem Zusammenhang nicht selten auf Bewerber zurück, deren Schwerpunkt im Bereich der angewandten Linguistik [erg.: oder der Literaturwissenschaft] angesiedelt ist. (Schröder 1977, 46) Von der zunehmenden Etablierung der fremdsprachlichen Fachdidaktiken seit den 1960er, vor allem in den 1970er Jahren zeugen weiterhin in diskursgeschichtlicher Hinsicht die zahlreichen Publikationen, die grundlegende Fragen des Fremdsprachenunterrichts reflektieren. Dabei handelt es sich früh und einerseits um Übersetzungen aus dem Englischen (und teilweise auch Französischen) (z. B. Closset 1965, Libbish 1965, Lado 1967), sehr bald aber auch um im deutschen schulischen und hochschulischen Kontext entstandene Publikationen, die häufig unter dem Begriff „Fremdsprachendidaktik“ (hierzu s. u. Kap. 1.2.4) anglistische und romanistische Beiträge in Sammelbänden vereinen (z. B. Freudenstein/ Gutschow 1972, Hessisches Institut für Lehrerfortbildung 1972, Hüllen 1973). Mal werden mit Blick auf das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis Fragen über die fremdsprachlichen Fachdidaktiken als wissenschaftliche Disziplinen gestellt (z. B. Reisener 1974, hierin bes. Jungblut 1974), mal mit Blick auf die Praxis auch bestimmte Schulstufen systematisch betrachtet (z. B. Bliesener/ Schröder 1977). Der Beitrag „Forschung im Bereich des Fremdsprachenunterrichts“ von Karl-Heinz Flechsig im Handbuch der Un‐ terrichtsforschung (Ingenkamp 1970-1972) erfüllt die Funktion eines frühen Handbuchs der Forschungsmethoden im Bereich der Fremdsprachendidaktik/ Sprachlehrforschung (vgl. Kap.-1.2.3, Kap. 8). Zugleich ist auch er - wie das gesamte Handbuch - in seiner Adaption entsprechender englischsprachiger Beiträge (hier von John B. Carroll) ein Zeichen der bereits angesprochenen Orientierung an der seinerzeit als wegbereitend angesehenen anglophonen Forschung (vgl. die gut zugängliche Studienausgabe Flechsig 1974). Punktuell wird auch die sich immer mehr etablierende fremdsprachendidaktische Ausbildung im Rahmen der Lehramtsstudiengänge theoretisch und hochschuldidaktisch reflektiert (z. B. ausgehend vom Fallbeispiel Bayern Schröder/ Walter 1973). - 1.2.2.4 Bezugsdisziplinen und Entwicklungen der Fremdsprachendidaktik und des Fremdsprachenunterrichts Als erste Phase der Existenz einer universitär institutionalisierten Fachdidaktik kann man folglich - bezogen auf alle Fächer - die Zeit von der Schaffung erster Professuren in den 1970er Jahren „bis zu einer deutlichen Ausweitung empirischer Arbeiten Mitte der 1990er Jahre“ ansehen (Abraham/ Rothgangel 2017, 15). In dieser ersten Phase lassen sich folgende zwei Funktionen der Fachdidaktiken mit Blick auf ihre primären Bezugswissenschaften, die so genannten Fachwissenschaften (im Falle der romanistischen Fachdidaktiken also der Romanischen Philologie) ausmachen (vgl. Abraham/ Rothgangel 2017, 15): 1. Kanonfragen und Auswahl exemplarischer Unterrichtsgegenstände 2. Entwicklung und Modellierung von Unterrichtskonzepten 50 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="51"?> (Fachdidaktik als „Modellierungswissenschaft“, vgl. Bayrhuber 2017a, 161). Bei der Entwicklung von Unterrichtskonzepten sollte „die fachwissenschaftlich generierte Komplexität didaktisch so rekonstruiert [werden], dass eine alters- und lernstandsange‐ messene Vermittlung möglich wird“ (Abraham/ Rothgangel 2017, 15): Eine Fachdidaktik, die nach diesem Modell arbeitet, nimmt eine Brückenstellung ein zwischen bil‐ dungswissenschaftlichem und fachwissenschaftlichem Nachdenken über Schule und Unterricht. Sie intendiert eine Balance zwischen einer Schüler- und einer Gegenstandsperspektive. (Abraham/ Rothgangel 2017, 19) Entsprechend wurde Fachdidaktik auch als Modellierungs-, (Re-)Konstruktions-oder auch Vermittlungsbzw. Integrationswissenschaft bezeichnet (z. B. Abraham/ Rothgangel 2017, 15, 19), weiterhin auch als Transformationswissenschaft, also als Wissenschaft der Um‐ wandlung und Adaption fachwissenschaftlicher Inhalte für die Praxis, verstanden (vgl. für die romanistische Fachdidaktik exemplarisch Schumann/ Steinbrügge 2008). Zu diesen Begrifflichkeiten formuliert etwa Bayrhuber 2017a wie folgt: In den Didaktiken der Naturwissenschaften wird anstelle von Modellieren gelegentlich der Terminus „Didaktische Rekonstruktion“ verwendet […] Nun bedeutet Rekonstruktion aber im Deutschen „Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, genaue Nachbildung“ sowie „ge‐ nauer Bericht nach Erinnerung“ […], hat also nicht den Bedeutungsgehalt von Neugestaltung bzw. Transformation. Der Terminus „Didaktische Rekonstruktion“ könnte allerdings von dem englischen Begriff reconstruction abgeleitet sein; denn dieser wird (zusätzlich) in der Bedeutung von Reorganisation verwendet […]. Diese Bedeutung kommt derjenigen von Transformation nahe. Allerdings fehlt sowohl dem deutschen als auch dem englischen Begriff die Dimension des Vereinfachens. Daher wird hier der auch in geisteswissenschaftlichen Didaktiken verwendete Terminus des fachdidaktischen Modellierens präferiert. (Bayrhuber 2017a, 165 f., vgl. weiterhin Bayrhuber 2017a, 167-169, zu Kriterien des wissenschaftlichen Modellierens vgl. Bayrhuber 2017a, 172-178) In diesem traditionellen Verständnis von Fachdidaktik stellen neben den Fachwissen‐ schaften die Erziehungs- (mit Blick auf das Handeln der erziehenden oder lehrenden Personen) oder Bildungswissenschaften (mit Blick auf die Lernenden) die privilegierten Bezugsdisziplinen bzw. Diskurssphären dar (vgl. Abraham/ Rothgangel 2017, bes. 16-20). Innerhalb der Erziehungswissenschaften spielte dabei lange Zeit die Allgemeine Fachdi‐ daktik eine zentrale Rolle (vgl. Kap. 1.4.2). Diese traditionelle Verortung der Fachdidaktiken zwischen Fach- und Bildungswissenschaften kann in Anlehnung an Abraham/ Rothgangel 2017 (18) wie folgt illustriert werden: 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 51 <?page no="52"?> Bildungswissenschaften als (inter-/ transdisziplinäre? ) - Vermittlungswissenschaft - Interaktionswissenschaft - Integrationswissenschaft - (Re-)Konstruktionswissenschaft Fachwissenschaften Bezugswissenschaften: Pädagogik Psychologie Kognitionswissenschaft Philosophie Soziologie Theologie Welche Didaktik? -bildungstheoretische -lerntheoretische -sozialkonstruktivistische -usw. Welche Fachwissenschaften? - … - … - … Bezugswissenschaften - .. - … - … Basiskonzepte und Theorien: - „Bildung“ - „Erziehung“ - „Lehren/ Lernen“ - „didaktische Prinzipien“ - „Kompetenzen“ - „Unterrichtsmethoden“/ - „Verfahren“ Basiskonzepte und Theorien der Fachdidaktiken Forschungsmethoden: empirisch (quantitativ und qualitativ) historisch-hermeneutisch grundlagentheoretisch (evidenzbasiert) disziplinäre Basiskonzepte, Theorien und Methoden - „Wissen“ - „Gegenstände“ - „Domänen“ - „Diskurse“ fachspezif. „Kompetenzen“ - „Themen“ - Fachkommunikation Fachdidaktik Abb. 6: Traditionelles Verständnis von Fachdidaktiken im Spannungsfeld von Fachwissenschaften und Erziehungs-/ Bildungswissenschaften (nach Abraham/ Rothgangel 2017, 18, verkürzt und berich‐ tigt) Eine frühe Studie, die von der Disziplinwerdung der fremdsprachlichen Fachdidaktiken in enger Beziehung zu der den Erziehungswissenschaften zuzurechnenden Allgemeinen Didaktik zeugt, ist etwa die Studie Achtenhagen 1969. Der Beginn der bisher zweiten Phase der wissenschaftlichen Fachdidaktiken kann mit der oben genannten empirischen Wende in den Fachdidaktiken auf Mitte der 1990er Jahre datiert werden. Seitdem verstehen sich die Fachdidaktiken zunehmend als „fachbezogene Lehr- und Lernforschung“ (Abraham/ Rothgangel 2017, 14, vgl. Bayrhuber 2017a, 161). Deren Entwicklung erfolgt unter Rückgriff auf Fragestellungen und Methodenrepertoire gerade auch der Pädagogischen Psychologie, die im Bereich der erziehungsbzw. bildungs‐ wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen der Fachdidaktiken die Allgemeine Didaktik mit ihren eher theoretischen Ansätzen zunehmend verdrängt (z. B. Abraham/ Rothgangel 2017, 20, Rothgangel 2017, 151 f.). Als Vorreiter in der Entwicklung der Fachdidaktiken als fach‐ bezogener Lehr-Lern-Forschung gelten die Fachdidaktik der Mathematik und insgesamt die Fachdidaktiken der MINT-Fächer (z. B. Terhart 2009, 195 f., vgl. aber die frühe Entwicklung einer empirischen Sprachlehrforschung im Bereich der Wissenschaften vom Lehren und Lernen fremder Sprachen, vgl. bes. Einleitung zu Kap. 1 sowie Kap. 1.1.1.5 und 1.2.3). Spätes‐ tens mit diesem neuen Verständnis von Fachdidaktik (bzw. Fremdsprachenforschung) wird 52 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="53"?> das traditionelle Verständnis von „Fachwissenschaften“ als Bezugsdisziplinen der Fachdi‐ daktiken in gewisser Hinsicht obsolet: Fachdidaktiken bzw. Fremdsprachenforschung sind nunmehr selbst eigenständige Fachwissenschaften (vgl. z. B. auch Abraham/ Rothgangel 2017, 19, Bayrhuber 2017a). Auf der Grundlage strukturierter Portraits von 17 Fachdidaktiken und deren verglei‐ chender Analyse gelangt Rothgangel 2020b zu dem Ergebnis, dass Fachdidaktiken heute ein Geflecht von vier zentralen Bezugswissenschaften kennen, nämlich nach wie vor Fach‐ wissenschaften und Erziehungs- und Bildungswissenschaft auf der einen Seite, zusätzlich aber auch eine empirische Bildungsforschung (sofern man diese nicht den Bildungswissen‐ schaften zurechnet) und andere Fachdidaktiken auf der anderen Seite. Dazu können, je nach Fragestellung weitere Bezugswissenschaften wie etwa die Neurowissenschaften treten (vgl. Rothgangel 2020b, 582 f., zum Verhältnis zwischen Fachdidaktiken und Bildungswis‐ senschaften und insbesondere der (pädagogisch-)psychologischen Lehr-Lern-Forschung weiterhin differenziert Cramer 2019). Graphisch lässt sich dieses Modell wie folgt veran‐ schaulichen: Abb. 7: Aktuelle Bezugsdisziplinen der Fachdidaktik (Rothgangel 2020b, 583) Von ihren Ursprüngen ante litteram bzw. ante institutionem bis in die 1980er/ 1990er Jahre hinein haben sich auch die fremdsprachlichen Fachdidaktiken stark über ihre Bezugsdiszi‐ 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 53 <?page no="54"?> plinen definiert. Fachwissenschaftliche Bezugsdisziplinen der romanistischen Fachdidaktik sind dabei insbesondere die romanistische Linguistik, die romanistische Literaturwissen‐ schaft sowie die romanistischen Landes- und Kulturwissenschaften einschließlich einer sich abzeichnenden romanistischen Medienwissenschaft (s. o., Kap. 1.1.2.1). Weitere zen‐ trale Bezugsdisziplinen und die damit einhergehenden Konzeptionen von Fremdsprachen‐ unterricht, mitunter sogar durch sie bestimmte dominierende Methodenkonzeptionen werden im Folgenden in Anlehnung an und in Fortschreibung von Bausch et al. 2016 (2 f.) zusammengefasst (weiterführend zu Methodenkonzeptionen im Rahmen der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts vgl. Kap. 2.3). Zeitraum zentrale Bezugsdis‐ ziplin(en) Konzeption von Fremdsprachenunter‐ richt/ Entwicklung der Fachdidaktik - Methode -- 19. Jhd. - Klassische Philo‐ logie/ altsprachlicher Unterricht - Erlernen des Sprachsystems mit dem Ziel der Klas‐ siker-Lektüre (z.-B. Racine, auch Fénelon: Télémaque, Chateaubriand: Itinéraire de Paris à Jérusalem u.a.) - Grammatik-Überset‐ zungsmethode Ende 19./ Anfang 20. Jhd. - Phonetik Mündlichkeit/ Sprechen Direkte Methode bis Mitte des 20. Jhd.s Literatur- und Kultur‐ wissenschaften kultur- und wesenskundliche Ansätze, Literaturdidaktik - (Vermittelnde Methode) 1950er/ 1960er Jahre - strukturalistische Lin‐ guistik, Psychologie Mündlichkeit auf behavioris‐ tischer Grundlage audiolinguale und au‐ diovisuelle Methode 1960er Jahre Allgemeine Didaktik zunehmende Konstituierung als akademische Disziplin, u. a. Bezug auf das lehr-/ lern‐ theoretische Berliner Modell der Didaktik (Bedingungs‐ faktoren: anthropogene und soziokulturelle Voraus‐ setzungen; Entscheidungs‐ faktoren: Ziele/ Inhalte - Themen/ Methoden/ Medien) - - 1970er/ 1980er Jahre linguistische Pragmatik, Soziolinguistik, zunehmend Psycholin‐ guistik - kommunikative, handlungs‐ orientierte Ansätze kommunikative Me‐ thode 54 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="55"?> Zeitraum zentrale Bezugsdis‐ ziplin(en) Konzeption von Fremdsprachenunter‐ richt/ Entwicklung der Fachdidaktik - Methode -- 1990er Jahre --- Kognitionswissen‐ schaften Differenzierung/ Individuali‐ sierung/ Inklusion, Kompetenzorientierung - neokommunikative Phase 2020er Jahre (? ) Informationstechno‐ logie, Epidemiologie Digitalisierung distant-digitales Inter‐ mezzo und/ oder KI-Re‐ volution (? ) Abb. 8: Bezugsdisziplinen und Konzeptionen von Fremdsprachenunterricht seit dem 19. Jahrhundert (eigene Darstellung) Überblickend können mit Bausch/ Christ/ Krumm 2003b (2) folgende Schwerpunkte der fremdsprachlichen Fachdidaktiken in ihrer Konsolidierungsphase als akademische Diszi‐ plin festgehalten werden: Zeitraum Schwerpunkte der fremdsprachlichen Fachdidaktiken - 1950er/ 1960er Jahre • Unterrichtsmethodik • Bedeutung der Grammatik • Literaturdidaktik (Textauswahl, Interpretation) • Formen der Leistungsüberprüfung 1970er Jahre • Konzeption und Evaluation von Unterricht • Instrumente für die Unterrichtsbeobachtung • Lehrwerkanalyse • Untersuchung außerschulischer Lehr-/ Lernkontexte, Erwachsenenbil‐ dung (v.-a. Volkshochschulen), hier v.-a. auch: curriculare Fragen, Lehrwerkentwicklung, Mediendidaktik, Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte Abb. 9: Schwerpunktsetzungen der fremdsprachlichen Didaktiken in ihrer Konsolidierungsphase in den 1950er bis 1970er Jahren (eigene Darstellung) Eine bewusste Emanzipation von einem Selbstverständnis als Disziplin der Transformation, d. h. der Adaption bezugswissenschaftlicher Inhalte auf den eigenen Untersuchungsgegen‐ stand und fachlicher Inhalte für den Unterricht, findet in der Fremdsprachendidaktik tendenziell erst relativ spät seit den 1970er Jahren statt (z. B. Müller 1979, vgl. Bausch/ Christ/ Krumm 2003b, 3). Abschließend kann festgehalten werden: Dem Begriff Fachdidaktik haftet, in seiner Vergangenheit begründet, in gewisser Hinsicht noch immer der Makel an, dass sich Fachdidaktik in ihrer Frühzeit sehr stark bis ausschließlich als Reflexion über Methoden des Unterrichts und als Wissenschaft der Transformation, d. h. der Aufbereitung fachlicher und fachwissenschaftlicher Inhalte für die Schule, verstanden hat. Eine Reduktion von Fachdidaktik auf die Aufbereitung von Inhalten für die unterrichtliche Vermittlung - 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 55 <?page no="56"?> welche Didaktik wiederum in unmittelbare Nähe zur Methodik rückt - ist zugleich mitunter noch immer in der Sicht der sog. Fachwissenschaften bzw. Bezugswissenschaften auf die Fachdidaktik wahrzunehmen. Dieses, im Wesentlichen in der Entstehungszeit der Fachdidaktik in den 1960er Jahren begründete, Verständnis ist nicht mehr mit dem heutigen Selbstverständnis von Fachdidaktik als eigenständiger, forschender wissenschaftlicher Disziplin vereinbar. Daher tritt der Begriff Fachdidaktik heute vor allem noch in der Terminologie der hochschulischen Selbstverwaltung auf (also z. B. in Studienplänen und folglich in der Denomination von Professuren), das Fach selbst bemüht sich entweder, zu betonen, dass sich die Disziplin in den letzten Jahrzehnten erheblich weiterentwickelt hat, oder verwendet alternative Begriffe wie etwa „Fremdsprachenforschung“, um seine Forschungsorientierung zu unterstreichen (soll der Fachbezug wieder hergestellt werden, kann es zu Prägungen wie „romanistische Fremdsprachenforschung“ kommen (vgl. z. B. die Publikationsreihe Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung im Verlag Gunter Narr)). 1.2.3 Sprachlehrforschung Parallel zur Etablierung der noch immer stark praxisbasierten, auf der Grundlage von Erfahrungswissen hermeneutisch und häufig präskriptiv Konzepte entwickelnden Fach‐ didaktiken entstand Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland eine Disziplin, die sich explizit als Wissenschaft vom Lehren und Lernen fremder Sprachen versteht, und diese Wissenschaftlichkeit vor allem aus ihrer forschungsmethodischen Ausrichtung auf die Empirie herleitet. Neben dem Fokus auf empirische Forschung sind mehrere inhaltliche Aspekte hervorzuheben, die Sprachlehrforschung von traditioneller Fachdidaktik unterscheiden: ● Sprachlehrforschung hat das Ziel, Sprachlern- und -lehrprozesse in ihrer empirisch fassbaren Abstraktion auch sprachenübergreifend oder sogar sprachenunabhängig ergründen zu können, ● Sprachlehrforschung zeichnet sich zusätzlich durch eine große Nähe zum Bereich Deutsch als Fremdsprache/ Deutsch als Zweitsprache aus (z. B. Bausch et al. 2016, 5), ● Sprachlehrforschung hat die sich vor allem seit den späten 1950er/ den 1960er Jahren entwickelnde Psycholinguistik (heute eher: kognitive Linguistik, vgl. Band II, Kap. 1, bes. 1.2.1) als wesentliche Bezugsdisziplin und vollzieht dadurch einen Perspektivwechsel vom traditionellen Blick der Fachdidaktik auf das Lehren hin zum Blick der und auf die Lernenden sowie auf die bei diesen stattfindenden Lernprozesse; nicht selten wird daher auch spezifizierend von „Sprachlehr- und -lernforschung“, ggf. sogar „Sprachlern- und -lehrforschung“ (u.ä. Begriffe) ge‐ sprochen (vgl. Hallet/ Königs 2019b (2010b), 11, s. o. Einleitung zu Kap. 1). Der Diskurs um die sog. Lernerorientierung wurde in Deutschland mit Bezug auf den Fremdsprachenunterricht nachhaltig durch die Sprachlehrforschung geprägt (vgl. z.-B. Bausch et al. 2016, 4). 56 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="57"?> Nicht zuletzt attestiert sich die Sprachlehrforschung selbst eine gewisse - in ihrer Entste‐ hungszeit in den 1970er Jahren durchaus nachvollziehbare - Überheblichkeit gegenüber den sich seinerzeit entwickelnden, wie oben dargestellt wissenschaftstheoretisch und forschungsmethodisch noch wenig elaborierten, fremdsprachlichen Fachdidaktiken (vgl. z.-B. Bausch et al. 2016, 4). Zugleich grenzt sich die Sprachlehrforschung von zwei anderen Disziplinen ab, die in den 1970er Jahren punktuell auf den Gegenstandsbereich des Fremdsprachenunterrichts Einfluss zu nehmen versuchten und ihrerseits als „wissenschaftlichere“ Konkurrentinnen zu einer allzu praxisbasierten Fachdidaktik auftraten: einerseits die Linguistik - als sprachsystembezogene vorrangige Bezugsdisziplin der Fachdidaktik, in ihrer Form als „Angewandte Sprachwissenschaft“ oder „Angewandte Linguistik“ sich durchaus auch als Alternative zur Fachdidaktik verstehend (s.-o., bes. Kap.-1.1.1.4, 1.2.2.3) - und andererseits die Zweitspracherwerbsforschung, die überwiegend von einer Gleichsetzung ungesteu‐ erten und gesteuerten Erwerbs anderer Sprachen als der Erstsprache ausging. Wolfgang Hallet und Frank G. Königs bringen diese Diskurse wie folgt auf den Punkt: Zum einen wurde [sc. durch die Sprachlehrforschung] dagegen argumentiert, dass die Linguistik die Disziplin sei, aus der die grundlegenden Vorgaben und Erkenntnisse für die Erforschung des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen (allein) kommen (können) […]. Gleichzeitig entwickelte sich aber auch eine Abgrenzung gegenüber den Formen der Zweitsprachenerwerbsforschung, die mit universalistischem Anspruch reklamierten, durch Erforschung der ungesteuerten, außerhalb des Klassenzimmers und institutionalisierter Kontexte stattfindender Erwerbsprozesse gesicherte Aussagen über Lernvorgänge im Fremdsprachenunterricht machen zu können. […]. (Hallet/ Königs 2019b (2010b), 12) Eine für den schulischen Fremdsprachenunterricht wesentliche Erkenntnis der Sprach‐ lehrforschung, die sich als grundlegendes Konzept im Diskurs um Fremdsprachenlernen und -lehren etabliert hat, ist das Konzept der „Faktorenkomplexion“. Gemeint ist, dass gleichzeitig immer mehrere Faktoren auf das Gelingen fremdsprachlicher Aneignungs‐ prozesse einwirken, wie etwa Lerner, Lehrer, individueller Lernervariablen, usw. (z. B. Hallet/ Königs 2019b (2010b), 13). Eine Kritik der Sprachlehrforschung an den benachbarten Disziplinen wie etwa den fremdsprachlichen Fachdidaktiken, der Linguistik oder der Zweitsprachenerwerbsforschung war daher auch, dass diese der Faktorenkomplexion des Fremdsprachenlernens und -lehrens nicht ausreichend Rechnung trugen, indem sie entweder nur bestimmte Aspekte fokussierten (z. B. Linguistik, Zweitspracherwerbsfor‐ schung) oder zu sehr versuchten, durch Übernahme von Methoden und Erkenntnissen anderer, so genannter Bezugsdisziplinen (z.-B. Fachdidaktik) dem Spezifischen des Fremd‐ sprachenlernens und -lehrens gerecht zu werden (vgl. z. B. Bausch/ Christ/ Krumm 2003b, 3). Die forschungsmethodische Hinwendung zur Empirie, die für die heutigen fremdsprach‐ lichen Fachdidaktiken bzw. die Fremdsprachenforschung als selbstverständlich gelten dürfen, in den 1970er Jahren aber einen grundlegenden Unterschied zur Fachdidaktik markierte, sei hier in ihrer inhaltlichen Begründung mit Bausch/ Christ/ Krumm 2003b rekapituliert: 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 57 <?page no="58"?> Definiert man das Lehren und Lernen fremder Sprachen als einen durch Eigengesetzlichkeit markierten Vermittlungsbereich, so wird zunächst einmal ein empirisch-systematischer Zugriff auf sich real vollziehenden Fremdsprachenunterricht und damit implizit ein Verzicht auf ein (wie auch immer geartetes) Konstruieren von Unterrichtsabläufen erforderlich [Anm. D.R.: Letzteres bezieht sich auf die damals dominierende Konzeption von Fachdidaktik/ Methodik]. (Bausch/ Christ/ Krumm 2003b, 4) In institutionengeschichtlicher Hinsicht kann die Existenz einer Sprachlehrforschung für die ziemlich genau vier Jahrzehnte zwischen 1970 und 2010 nachgewiesen werden (vgl. Einleitung zu Kap. 1, Kap. 1.1.1.5). In den frühen 1970er Jahren wurde die Entwicklung dieser Disziplin im Rahmen eines DFG-Schwerpunktprogramms zum nationalen Anliegen erklärt, das sich flächendeckend u. a. in der Ausgestaltung universitärer Sprachenzentren nicht nur als zentraler Lehreinheiten, sondern auch als Forschungsstätten, hätte nieder‐ schlagen sollen (Begründung eines Schwerpunkts „Sprachlehrforschung“, bestehend 1973 bis 1980/ 81 (vgl. Koordinierungsgremium 1977, 1983, vgl. z. B. Bausch et al. 2016, 4 f.)). Die Idee war die flächendeckende Einrichtung von Professuren für Sprachlehrforschung, welche die universitären Sprachenzentren hätten leiten sollen, die ihrerseits zugleich „Forschungslabore“ für die empirische Forschung hätten werden sollen (vgl. z. B. Bausch et al. 2016, 3 f.). Tatsächlich ist die Orientierung gerade auch an der Erwachsenenbildung und insbesondere auch am hochschulischen Fremdsprachenunterricht ein weiteres Merkmal der Sprachlehrforschung in ihrer ursprünglichen Konzeption, das eine Abgrenzung von der traditionellen, eher schulbezogenen Fachdidaktik erlaubt. Letztendlich kam es zu einer Etablierung der Sprachlehrforschung an nur sehr wenigen Standorten - etwa Hamburg und Bochum -, dort aber konnten beachtliche Forschungsprogramme entwickelt werden. In zunehmendem Maße wurden Erkenntnisse (z. B. Lernerorientierung) und Forschungs‐ methoden (empirische Zugriffe) der Sprachlehrforschung von den fremdsprachlichen Fachdidaktiken rezipiert und in sie integriert, so dass die Sprachlehrforschung, u. a. aufgrund der institutionellen „Schwäche“, dass sie als Fach für die Lehrerbildung nicht unmittelbar relevant war, in letzter Konsequenz selbst an den genannten Standorten, einst „Leuchttürme“ dieser Disziplin, schlichtweg abgeschafft wurde (vgl. z. B. Bausch et al. 2016, 5). Geblieben sind die genannten thematischen Schwerpunktsetzungen und sozusagen die Grundlegung eines empirischen (Forschungs-)Methodenrepertoires bezogen auf fremdsprachliche Lehr-/ Lernprozesse (weiterhin einführend zur Sprachlehrforschung z.-B. Bausch et al. 2016, bes. 3-5). 1.2.4 Fremdsprachendidaktik Der übergeordnete und zusammenfassende Begriff „Fremdsprachendidaktik“ - an „Fachdi‐ daktik“ anknüpfend, aber auf mehrere Fremdsprachen bezogen -, lässt sich seit den 1960er Jahren nachvollziehen („Arbeitstagungen der Fremdsprachendidaktiker an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten der Bundesrepublik Deutschland“ in zweijährigem Turnus seit 1963 (vgl. Bausch/ Christ/ Krumm 2003b, 1, Bausch et al. 2016, 2, weiterhin Segermann 2017, bes. 24-31)). Häufig und lange wurde er lediglich als abstrahierender Oberbegriff für die verschiedenen Fachdidaktiken der neueren Sprachen verwendet (vgl. z. B. die Begriffsverwendung in Bausch/ Christ/ Krumm 2003b, 1-3). Er beinhaltet heute wesentliche 58 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="59"?> inhaltliche und forschungsmethodische Aspekte, die durch die Sprachlehrforschung entwi‐ ckelt wurden, greift aber insofern weiter, als er auch Themen und (Forschungs-)Methoden der traditionellen Fachdidaktik aufgreift (vgl. z.-B. Hallet/ Königs 2019b (2010b), 13). Wolfgang Hallet und Frank G. Königs versuchten „Fremdsprachendidaktik“ im Jahr 2010 daher wie folgt zu definieren (Hallet/ Königs 2019b (2010b), 11): Die Fremdsprachendidaktik befasst sich mit dem Lehren und Lernen von Fremdsprachen und der Erforschung dieser Prozesse. Ihr Ziel ist die Erfassung, Erklärung und Optimierung im Kontext des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts. Sie gewinnt ihre Fragestellungen einerseits aus der Praxis des Fremdsprachenunterrichts, andererseits aus der Erforschung der fremdsprachlichen Vermittlungs- und Aneignungsprozesse und hat den Anspruch, daraus begründete Vorschläge für die Effektivierung des Fremdsprachenunterrichts abzuleiten. (Hallet/ Königs 2019b (2010b), 11) Als Gegenstandsbereiche der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Lehren und Lernen von Fremdsprachen identifizieren Hallet/ Königs 2019b (2010b) unter dem Oberbegriff „Fremdsprachendidaktik“ folgende vier große Bereiche: ● Theorie vom Lehren und Lernen fremder Sprachen, ● Bildungstheorie (des Fremdsprachenunterrichts), ● Theorie des Unterrichts in Fremdsprachen, ● Wissenschaft vom Lehrberuf, der Lehrerausbildung und weiteren Professionalitätsent‐ wicklung. (vgl. Hallet/ Königs 2019b (2010b), 13) Dabei liegt der Fokus - wie bei der Sprachlehrforschung - auf den sprachenübergreifenden und sprachenunabhängigen Zusammenhängen, was, wie auch im Falle der Sprachlehrfor‐ schung, durchaus kritisch gesehen werden kann. So formulierte etwa Konrad Schröder schon 1977 im Kontext einer Definition der Fachdidaktik Englisch wie im Folgenden wiedergegeben und definierte dabei „Fremdsprachendidaktik“ als etwas anderes als die Summe der einzelsprachlichen Fachdidaktiken: Die [Englischdidaktik] steht in besonders engem Zusammenhang mit den [Fachdidaktiken] der anderen modernen Fremdsprachen, mit denen sie in der geläufigen Bezeichnung [Fremd‐ sprachendidaktik] zusammengefaßt wird. Die [Fremdsprachendidaktik] ist allerdings […] keine Fachdidaktik; der Terminus bezeichnet vielmehr eine aus institutionellen oder kapazitären und personellen Gründen sich ergebende Zwischenform zwischen allgemeiner [Didaktik] und der [Didaktik] des Faches; er ist bezogen auf die gemeinsamen Zielsetzungen […], Inhalte, Methoden und Probleme einer Gruppe von benachbarten Fächern. (Schröder 1977, 42) Weiterhin führte er Folgendes aus und verwies damit schon seinerzeit auf die Problematik des Konstrukts „Fremdsprachendidaktik“, welche sich heute immer wieder in der Schaffung von Professuren für „Fremdsprachendidaktik“ im Sinne einer Bereichsdidaktik spiegelt: Zu den spezifischen Zielen und Zielrichtungen des [fremdsprachlichen] Einzelfaches kann eine generelle [Fremdsprachendidaktik] bestenfalls allgemeine Aussagen machen. Eine vorschnelle Gleichsetzung von [Fremdsprachendidaktik] und [Fachdidaktik] der jeweiligen [Fremdsprache] verführt zu der Annahme, die Ziele aller [fremdsprachlichen] Einzelfächer seien identisch. (Schröder 1977, 42) 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 59 <?page no="60"?> Bausch et al. 2016 wagen folgende, weiterführende, Fremdsprachendidaktik und Sprach‐ lehr/ -lernforschung zusammenfassende, Definition und Beschreibung des Aufgaben- und Zielspektrums der Disziplin (en): Fremdsprachendidaktik und Sprachlehr/ -lernforschung […] bezeichnen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dem Erwerb, Lernen und Lehren von fremden Sprachen bzw. Zweitsprachen be‐ schäftigen und diese mit differenzierten gegenstandsangemessenen Methoden erforschen. Sie tun dies grundsätzlich mit dem Ziel der konzeptbildenden und/ oder empirisch begründeten Veränderung von didaktisch-methodischen Verfahren und (Fremdsprachen-)Lernstrategien. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass durch die komplexen Vielsprachigkeitskontexte, in denen sich unsere Gesellschaften heute befinden, ein besonderes Forschungsinteresse der Entwicklung von didaktisch-methodischen Mehrsprachigkeitsprofilen gilt […]. Somit werden auch alle außerinsti‐ tutionellen Kontexte, in denen Fremdbzw. Zweitsprachen gelernt werden, und alle Altersstufen in Betracht gezogen, wenn diese Formen des Sprachenlernens mit institutionell unterstützten Verfahren interagieren. (Bausch et al. 2016, 1) Aus dieser Definition geht hervor, dass sich eine zeitgemäße Fremdsprachendidaktik je nach Gegenstand sowohl hermeneutischer Verfahren der theoretisch-konzeptionellen Forschung als auch empirischer Verfahren bedienen kann, dass sie sich mit Fremdsprachen‐ lernen und -lehren in und für alle Altersstufen befasst und auch außerschulische Lehr-/ Lernkontexte in den Blick nehmen kann (wobei Fremdsprachendidaktik tendenziell eher den schulischen, Sprachlehrforschung auch den außerschulischen Bereich fokussiert (vgl. auch Bausch et al. 2016, 1). Die Definition macht darüber hinaus deutlich, dass Mehrspra‐ chigkeitsdidaktik eine Schlüsselposition innerhalb aktueller fremdsprachendidaktischer Forschung und Entwicklung einnimmt. Die zunehmende Annäherung von Sprachlehrforschung und Fremdsprachendidaktik lässt sich auf die Mitte der 1990er Jahre zurückführen (Bausch et al. 2016, 1), wobei Vertreter der früheren Sprachlehrforschung - verständlicherweise - argumentieren, dass es noch nicht zu einer tatsächlichen Zusammenführung der Disziplinen gekommen sei (Bausch et al. 2016, 1 f., weiterhin einführend zur Fremdsprachendidaktik vgl. z. B. Hallet/ Königs 2019b (2010b)). Allerdings zeigt sich bei genauem Hinsehen, dass der Begriff „Fremdspra‐ chendidaktik“ - so häufig er landläufig auch verwendet wird - letztlich nicht eindeutig definiert ist und daher nur bedingt in sinnvoller Weise verwendet werden kann, und zwar am ehesten im Plural „Fremdsprachendidaktiken“ als Oberbegriff für „fremdsprachliche Fachdidaktiken“. Eine Verwendung im Singular suggeriert die Existenz einer eigenen Dis‐ ziplin, die zwischen den einzelsprachlichen Fachdidaktiken und der Sprachlehrforschung bzw. Fremdsprachenforschung angesiedelt wäre. Um eine solche begründet anzunehmen, fehlen u.-a. eindeutige Definitionen und ein eigenes wissenschaftliches Instrumentarium. 1.2.5 Fremdsprachenforschung Tatsächlich scheint ein die einzelsprachlichen Fachdidaktiken ergänzendes, sinnvolles Konzept das einer „Fremdsprachenforschung“ zu sein, das - vereinfacht gesprochen - die durch Themen und vor allem Methoden der Sprachlehrforschung bereicherten fremdsprachlichen Fachdidaktiken einschließlich der Didaktik des Deutschen als Fremd- 60 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="61"?> und als Zweitsprache in ihrer Gesamtheit bezeichnet. Als Vorläufer der Etablierung einer Fremdsprachenforschung kann die Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachen‐ unterrichts gelten, die 1981 eingerichtet wurde und seither jährlich tagt. Sie wurde explizit als Instrument gegründet, um den Diskurs um die wissenschaftliche Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen aus dem 1981 beendeten DFG-Schwerpunktpro‐ gramm „Sprachlehrforschung“ fortzuschreiben (vgl. Bausch et al. 1981, Bausch et al. 2016, 4, Segermann 2017, bes. 31-35). In der Folge näherten sich Sprachlehrforschung und Fremdsprachendidaktik immer weiter an; sozusagen als Synthese aus beiden Forschungsrichtungen entstand die so genannte „Fremdsprachenforschung“. Als institutionelle Begründung der Fremdsprachen‐ forschung darf die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) im Jahr 1988 bzw. 1989 gelten (z. B. Bausch et al. 2016, 5, Segermann 2017, 35 ff.). Mit der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung (ZFF) gibt die DGFF seit 1990 eine dezidiert forschungsorientierte Zeitschrift heraus (vgl. Schröder 2003, 596, vgl. auch Kap. 7.2.2.2), der erste Kongress der DGFF (zugleich 14. Kongress für Fremdsprachendidaktik) fand 1991 in Essen statt (vgl. Timm/ Vollmer 1993, 29, Segermann 2017, 37, zur Geschichte der Kongresse für Fremdsprachendidaktik, später Kongresse der DGFF, und zur Gründung der DGFF vgl. auch Sauer o.-J., bes. 3 f.). Zentrale Merkmale der Fremdsprachenforschung (die teilweise auch der Fremdspra‐ chendidaktik im engeren Sinn zugeschrieben wurden, hier bestehen also durchaus Über‐ schneidungen und Unschärfen in der Begriffsverwendung) sind etwa das Aufgreifen des forschungsmethodischen Instrumentariums der Sprachlehrforschung einerseits und die Integration traditionell von den fremdsprachlichen Fachdidaktiken erörterter, gerade auch schulbezogener Fragestellungen andererseits. Zu diesen Entwicklungen zählen auch die Zentralität der Lernerorientierung etwa in Diskursen um Differenzierung, Individua‐ lisierung und Inklusion in den fremdsprachlichen Fachdidaktiken oder die Annäherung fremdsprachlicher Fachdidaktiken und der Bereiche Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache mit Blick auf die Erforschung von Mehrsprachigkeit sowie die Entwicklung mehrsprachigkeits‐ didaktischer Konzepte (z.-B. auch Bausch et al. 2016, 5). Als ein konzeptionelles Gründungsdokument der Fremdsprachenforschung darf der Beitrag Timm/ Vollmer 1993 gesehen werden. In diesem Dokument wird „Fremdsprachen‐ forschung“ u. a. historisch im Kontext der Öffnung des europäischen Binnenmarktes, der Annäherung des Westens an Osteuropa und der deutschen Wiedervereinigung begründet und als Konstrukt eingeführt, das Vertreter/ innen der traditionellen Disziplinen Fremd‐ sprachendidaktik, Sprachlehrforschung und Zweitsprachenerwerbsforschung unter einem Dach vereinen kann (Timm/ Vollmer 1993, 3). Als Aufgaben der Fremdsprachenforscher‐ innen und -forscher formulieren sie in dem oben skizzierten, veränderten historischen Kontext u.a.: Sie müssen nicht allein das Lehren und Lernen von fremden Sprachen mit all seinen Rahmenbe‐ dingungen und Implikationen thematisieren, sondern ebenso die Problemkomplexe Erwerb und Gebrauch von Zweitsprachen, Bilingualität und potentielle Mehrsprachigkeit in einem zukünftigen Europa. (Timm/ Vollmer 1993, 3, Herv. im Original) 1.2 Disziplinen und Diskurse vom Lehren und Lernen fremder Sprachen 61 <?page no="62"?> Weiterhin bestimmen Johannes-Peter Timm und Helmut J. Vollmer den Gegenstandsbe‐ reich und das Erkenntnisinteresse der Fremdsprachenforschung wie folgt: Fremdsprachenforschung untersucht, allgemein formuliert, unter Rückgriff auf Analysen der Struktur von Sprachen und von sprachlichen Kommunikationsakten sowie der jeweiligen Spre‐ cher- und Kulturgemeinschaft(en) die komplexe Realität des Erwerbs und Gebrauchs von fremd- und zweitsprachlicher Handlungsfähigkeit - und zwar gleichermaßen in Bezug auf natürliche wie unterrichtlich gesteuerte Lernsituationen. Mit anderen Worten, Fremdsprachenforschung zeichnet sich durch eine gleichermaßen kognitive, kommunikative wie interkulturelle Perspektive aus. (Timm/ Vollmer 1993, 10) Darüber hinaus werden „kommunikativ[e] und interkulturell[e] Sprachhandlungsfähig‐ keit“ zum „erkenntnis- und handlungsleitenden Richtziel“ erklärt (Timm/ Vollmer 1993, 10). Aus dieser grundlegenden Beschreibung der Fremdsprachenforschung gehen u. a. folgende Bezugsgrößen und Schwerpunkte hervor, die Fremdsprachenforschung mit zeitgemäß verstandenen fremdsprachlichen Fachdidaktiken vereint: Linguistik und Kulturwissen‐ schaften sind nach wie vor relevante Bezugsdisziplinen, auch die Zweitsprachenkompetenz bzw. allgemein die (lebensweltlich bedingte) Mehrsprachigkeit der Lernenden werden ebenso wie außerunterrichtliche Aneignungsprozesse mitberücksichtigt. In der Betonung der kommunikativen und interkulturellen Sprachhandlungsfähigkeit geben sie eine inhalt‐ liche Ausrichtung vor, die sicherlich nicht unumstößlich ist, aber bis heute in den Modellen der interbzw. transkulturellen kommunikativen Kompetenz ein übergeordnetes Ziel des Fremdsprachenunterrichts repräsentiert (vgl. Band III, Kap. 2). Nicht zuletzt wird in dem Aufsatz vor dem Hintergrund von Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung explizit unterstrichen: Die Fremdsprachenforschung knüpft daher bewußt an neuere Ansätze der Fremdsprachendidaktik […] sowie an zentrale Postulate der Sprachlehrforschung […] an, die von dieser in der Bundesre‐ publik zwar als erste geltend gemacht wurden, heute jedoch allgemein akzeptiert sind. (Timm/ Vollmer 1993, 14) Bezogen auf die Forschungsmethoden vereint die Fremdsprachenforschung traditionelle, hermeneutische Methoden, wie sie gerade in der Fachdidaktik der frühen Jahre zum Tragen kamen, und empirische Methoden, wie sie von der Sprachlehrforschung für den Bereich des Lernens und Lehrens fremder Sprachen erschlossen wurden. Forschungsmethoden müssen immer dem Gegenstand und dem Erkenntnisziel angemessen sein. Aufgrund der Faktoren‐ komplexion des Fremdsprachenunterrichts gibt es daher kein von Vornherein festgelegtes Instrumentarium (Timm/ Vollmer 1993, 21 f., einführend vgl. Kap. 8, weiterführend z. B. Caspari et al. 2016, Reimann 2020b). In epistemologischer Hinsicht ist Fremdsprachenforschung eine Form von Grundla‐ genforschung - hier bezogen auf das Lehren und Lernen von (Fremd-)Sprachen. Eine unmittelbare Überführung ihrer Ergebnisse in die unterrichtliche Praxis ist nicht möglich. Timm und Vollmer bringen dies wie folgt auf den Punkt: So muß sich zwar jede Form der Fremdsprachenforschung an konkretem Unterricht als Perspektive ausrichten - aber immer nur mit dem Ziel, über die kritische Reflexion von Fremdsprachenunter‐ richt in seinen komplexen Bedingungszusammenhängen angehende wie praktizierende Lehrer 62 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="63"?> sensibel zu machen […]. Demgegenüber ist […] festzuhalten, daß individuelles Handeln [sc. von Lehrkräften] jeweils nur aus der subjektiven Einschätzung und Verarbeitung der relevanten Einflußfaktoren auf eine [sc. unterrichtliche] Situation, deren konkreter Ausprägung und deren konkretem Zusammenspiel möglich ist. Die Wahrnehmung einer solchen Situation, das Erkennen von Handlungsalternativen und die reale Handlungsentscheidung müssen allerdings weitgehend theoriegeleitet sein. […] Hilfestellungen für eine möglichst rationale, subjektive Theoriebildung und begründete, problembewusste Entscheidungen für den Einzelfall einer Lehrhandlung zu liefern, ist Aufgabe der Fremdsprachenforschung. (Timm/ Vollmer 1993, 24) Für eine explizit subjektive, aber sehr detailreiche und anschauliche, ausführliche Dar‐ stellung der Entwicklungen fremdsprachlicher Fachdidaktiken und der Fremdsprachenfor‐ schung aus romanistischer Perspektive sei auf den Beitrag von Krista Segermann „50 Jahre erlebte Geschichte der deutschen Fremdsprachendidaktik“ aus dem Jahr 2017 verwiesen (Segermann 2017). 1.3 Zusammenfassung und Vorschläge für einen zeitgemäßen Begriffsgebrauch In der folgenden Tabelle wird versucht, Begriffe, die dahinter stehenden Konzepte und Inhalte sowie die Zeiträume ihrer Verwendung zusammenzufassen. Daraus wird deutlich, dass sich in der Geschichte der Reflexion über und der Erforschung von Fremdsprachen‐ unterricht verschiedene Ansätze, Begriffe und letztlich „Disziplinen“ in der Chronologie ablösen, phasenweise aber auch nebeneinander existier(t)en: Begriff Inhalt Zeit Methodik - konkrete Handlungsanlei‐ tungen für den Unterricht ab ausgehendem 19.-Jahrhun‐ dert belegt - Didaktik (bezogen z.-B. auf Französisch, nicht als Allgemeine Didaktik (dazu s.-u., Kap.-1.4.1)) vorbzw. frühwissenschaftli‐ ches, allenfalls implizit von Methodik abgegrenztes, Verständnis einer Reflexion über Fremdsprachen‐ unterricht (implizit mit Schwer‐ punkt auf Inhalten und Medien). Wissenschaftstheore‐ tisch im ausgehenden 19.-Jahr‐ hundert zwischen positivisti‐ schen und hermeneutischen Zugriffen anzusiedeln (Materi‐ alsammlungen einerseits, Aus‐ wahl von Stoffen und Inhalten andererseits). - ab ausgehendem 19.-Jahrhun‐ dert 1.3 Zusammenfassung und Vorschläge für einen zeitgemäßen Begriffsgebrauch 63 <?page no="64"?> Begriff Inhalt Zeit Fachdidaktik -- (Fach-) Didaktik als Disziplin der Transformation, ursprüng‐ lich auf Alltagserfahrungen basierend, später vor allem mit hermeneutischen Zugriffen systematisierend und theore‐ tische Konzepte entwickelnd, heute auch empirisch forschend als fachbezogene Lehr-/ Lern‐ forschung. - ab 1920er/ 1930er Jahren, verstärkt ab 1960er/ 1970er Jahren belegt Fremdsprachendidaktik - Fokus auf sprachenübergrei‐ fende Aspekte des Fremdspra‐ chenlernens und -lehrens, einerseits hermeneutischen Forschungstraditionen der Fachdidaktik(en) verpflichtet, andererseits empirische An‐ sätze z.-B. der Sprachlehrfor‐ schung aufgreifend. - seit 1970er Jahren belegt Sprachlehrforschung --- Wissenschaft von der em‐ pirischen Erforschung fremd‐ sprachlicher Lehr- und Lern‐ prozesse seit 1970er Jahren Fremdsprachenforschung -- Integration von Ansätzen der Sprachlehrforschung mit An‐ sätzen der fremdsprachlichen Fachdidaktiken, sowohl mit Blick auf Forschungsgegen‐ stände als auch mit Blick auf Forschungsmethoden seit 1990er Jahren Abb. 10: Zentrale Diskurse und Disziplinen zur Erforschung fremdsprachlicher Lehr-/ Lernprozesse seit dem 19.-Jahrhundert (eigene Darstellung) Das Verhältnis der verschiedenen Begriffe und Diskurssphären kann, wiederum unter Berücksichtigung der chronologischen Dimension graphisch wie folgt veranschaulicht werden: 64 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="65"?> Abb. 11: Verhältnis der Diskurse und Disziplinen zur Erforschung fremdsprachlicher Lehr-/ Lern‐ prozesse seit dem 19. Jahrhundert und Vorschlag für einen zeitgemäßen Begriffsgebrauch (eigene Darstellung) Abschließend sei vorgeschlagen, derzeit vor allem die drei Begriffe (Fach-)Methodik, Fachdidaktik und Fremdsprachenforschung zur Bezeichnung unterschiedlicher Facetten des Diskurses um Lehr-/ Lernprozesse bezogen auf die romanischen Sprachen als (Schul-)Fremdsprachen zu verwenden. Vor dem Hintergrund der Ausführungen des Kap. 1 wird deutlich, dass „Sprachlehrforschung“ nur noch als historischer Begriff verwendet werden kann. Der Begriff „Fremdsprachendidaktik“ indes scheint bei genauem Hinsehen überflüssig bis missverständlich, spiegelt er doch einerseits die ggf. mit gedachte Fachspe‐ zifik nicht wieder (im Unterschied zu „Fachdidaktik des Spanischen“ usw.), und bezieht er sich andererseits weniger explizit auf die wissenschaftstheoretische Fundierung und Forschungsorientierung einer zeitgemäßen (Fach-)Didaktik als etwa der Begriff „Fremd‐ sprachenforschung“. Der Begriff „Fachdidaktik“ indes kann nach wie vor verwendet werden und ist noch immer etabliert. Er impliziert bei einer zeitgemäßen Verwendung etwa seit den 1990er/ 2000er Jahren ein nunmehr ausdifferenziertes forschungsmethodisches Instru‐ mentarium, dessen Entwicklung von der Sprachlehrforschung angestoßen wurde. „Fach‐ didaktik“ ist mithin auch die fachspezifische Manifestation einer Sprachlehrforschung. Fachdidaktik kann aus heutiger Sicht als fachbezogene Lehr-/ Lernforschung verstanden werden. Ein gewisser Nachteil des Begriffs liegt in seiner Historie begründet, da er lange auf einer vorwissenschaftlichen Stufe der Reflexion über (hier Fremdsprachen-)Unterricht beinahe willkürlich synonym mit „Methodik“ verwendet wurde und er daher teilweise noch immer die Assoziation mangelnder Wissenschaftlichkeit hervorruft. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, bei einer expliziten Betonung der Forschungsorientierung (und mit Blick auf das die verschiedenen einzelsprachlichen Fachdidaktiken Vereinende) von „Fremdsprachenforschung“ zu sprechen (ggf. zur Spezifizierung eines Fachbezugs 1.3 Zusammenfassung und Vorschläge für einen zeitgemäßen Begriffsgebrauch 65 <?page no="66"?> ergänzend von romanistischer Fremdsprachenforschung, französistischer Fremdsprachen‐ forschung usw.). Weiterhin ist die Verwendung der Begriffe „Methodik“ und „Methodo‐ logie“ - ggf. angemessener „Fachmethodik“ bzw. „Fachmethodologie“- immer dann sinn‐ voll, wenn in praxisorientierter Perspektive konkrete Fragen der Unterrichtsorganisation, Unterrichtsverfahren und -techniken beschrieben werden. 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 1.4.1 Rückblick: Allgemeine Didaktik Nach der frühen Verwendung des Begriffs durch Comenius im Sinne einer allgemeinen und übergeordneten Lehrkunst, die darauf ausgelegt war, „omnes omnia omnino“ - „allen alles mit Blick auf das Ganze“ zu lehren (s. o., Kap. 1.2.2.1), wurde Didaktik im 19. Jahrhundert als „Bildungslehre“ mit Blick auf die Unterrichtsgestaltung, aber auch als Lehre von den Bildungsinstitutionen, konzipiert und teilweise gleichberechtigt neben die Pädagogik als Theorie der Erziehung gestellt (z. B. Otto Willmann, vgl. Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 31, weiterführend Knecht 1984). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, in der Folge der Entstehung einer experimentellen Psychologie, in Ansätzen auch eine experimentelle Pädagogik; in deren Kontext befasste sich Didaktik nunmehr mit den konkreten Unterrichtstechniken (z. B. Wilhelm August Lay, Ernst Meumann), „Didaktik wurde dabei auf das Methodische begrenzt und zu einer technologischen Disziplin“ (Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 31). Dieses Verständnis von Didaktik wirkte bis in die 1950er Jahre hinein, als Erich Weniger als Vertreter der geisteswissenschaftlichen Päd‐ agogik versuchte, unter unmittelbarem Bezug auf Lehrpläne und ihre Inhalte, Didaktik als inhaltsorientierte bildungstheoretische Disziplin zu modellieren: In seiner geisteswissenschaftlichen Didaktik und Lehrplantheorie (Didaktik als Bildungslehre. Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans, 1952) erklärte Weniger Lehrpläne als Resultat gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Hauptgegenstand der Didaktik wurde die Frage, mithilfe welcher Inhalte sich Bildung vollzieht. (Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 32) Bildung wird zum zentralen Begriff einer Didaktik, die sich als „Theorie der Praxis für die Praxis“ versteht. Bildung soll „als kritische Instanz eine einseitige Belehrung oder gar In‐ doktrination ausschließen […] diese Bildungstheorie [wird] zum Anwalt des Kindes bzw. Ju‐ gendlichen gegenüber den Ansprüchen der objektiv Mächtigen“ (Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 32). Seit den 1950er/ 1960er Jahren entwickelte sich mit großen didaktischen Modellen (s. u.) eine Allgemeine Didaktik als Teildisziplin der Schulpädagogik. Didaktik kann vor diesem Hintergrund aus heutiger Perspektive z. B. mit Hartwig Schröder zunächst ganz allgemein als „kritische Auseinandersetzung mit dem Unterricht“ (Schröder 1995, 12) verstanden, Allgemeine Didaktik im Sinne einer Arbeitsdefinition wie folgt definiert werden: 66 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="67"?> Die Allgemeine Didaktik beschäftigt sich kritisch mit den Problemen des Unterrichts, wie sie grundsätzlich unabhängig vom Unterrichtsfach oder einer Altersstufe und einer Schulart auftreten. (Schröder 1995, 15) Ewald Terhart definiert Didaktik als Wissenschaft „des Lehrens und Lernens in einem umfassenden Sinn“ und umschreibt Allgemeine Didaktik dann weiterführend wie folgt: Die Allgemeine Didaktik thematisiert Lehren und Lernen auf einer grundsätzlichen Ebene in all seinen Voraussetzungen, Prozessen und Ergebnissen, wobei dieses Lehren und Lernen innerhalb oder außerhalb von Institutionen stattfinden kann. (Terhart 2009, 99) Das „klassische Problembündel“ sei daher die Frage: „[W]as soll warum von wem wie und zu welchem Zweck gelernt werden? “ (Terhart 2009, 195). Als „Besondere Didaktiken“ be‐ zeichnet er weiterhin die Beschäftigung mit Lehren und Lernen auf bestimmten Schulstufen oder auch in bestimmten Lernbereichen (z. B. Grundschuldidaktik, Hochschuldidaktik, Fachdidaktik des Französischunterrichts) (vgl. Terhart 2009, 99). Die Allgemeine Didaktik hat, vereinfacht gesprochen, zwei wesentliche inhaltliche Diskurssphären entwickelt: Auf der einen Seite Diskurse der Theorie von Bildung im und durch Unterricht, auf der anderen Seite Systematisierungen von Unterrichtsmethoden, die möglichst für alle Fächer Gültigkeit beanspruchen können. Das Studienbuch Allgemeine Didaktik (Schröder 1995) umfasst beispielsweise folgende acht große thematische Abschnitte, die zeigen, wie weit die Allgemeine Didaktik in inhaltlicher Sicht gefasst werden kann: Didaktik als Theorie des Unterrichtens, Unterricht - Erziehung - Bildung, Lernen im Unterricht, Lehren im Unterricht, Unterrichtskonzeptionen der Vergangenheit und Gegenwart, Unterrichtsprinzipien, Didaktische Modelle der Planung und Gestaltung von Unterricht, Unterrichtstechnologie und Mediendidaktik. Mit Blick auf die beiden oben genannten zentralen Bereiche der Allgemeinen Didaktik - Konzepte, Prinzipien und Methoden von Unterricht einerseits und Theorien von Unterricht andererseits -, können aus den genannten acht Bereichen insbesondere die Domänen der Reflexion und Systematisierung von Lehren im Unterricht (z. B. Formen des Lehrens, Lehrplan und Curriculum), der Unterrichtskonzeptionen in Vergangenheit und Gegen‐ wart (z. B. Anschauungsunterricht, Exemplarischer Unterricht, Offener Unterricht), der Unterrichtsprinzipien (z. B. Motivierung, Veranschaulichung, Differenzierung) sowie der Mediendidaktik - sofern sie unabhängig von der Realität einzelner Fächer verstanden werden - auf der einen Seite und die didaktischen Modelle der Planung und Gestaltung von Unterricht (z. B. bildungstheoretisches Modell, lerntheoretisches Modell) auf der anderen Seite als privilegierte Beschäftigungsfelder der Allgemeinen Didaktik gelten 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 67 <?page no="68"?> (einführend z. B. Schröder 1995, 92-197, 218-243 bzw. 198-217). Als spezifisches Verdienst der Allgemeinen Didaktik ist die Erarbeitung der zuletzt genannten Modelle zu nennen, die im Folgenden, verbunden mit weiterführenden Literaturhinweisen, kurz umrissen werden sollen, da sie auch heute noch, auch aus fachdidaktischer Sicht, als Hintergrund von Lehr-/ Lernprozessen und -szenarien auch im Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen und im Unterricht der romanischen Sprachen im Besonderen gelten dürfen. Klassischerweise rezipierte (allgemein-)didaktische Modelle sind etwa: ● bildungstheoretische bzw. kritisch-konstruktive bzw. kategoriale Didaktik, ● lern- und lehrtheoretische bzw. Berliner und Hamburger Didaktik, ● kybernetisch-informationstheoretische Didaktik, ● lernzielorientierte bzw. curriculare Didaktik, ● kritisch-kommunikative Didaktik (vgl. z. B. Schröder 1995, 198-217, jeweils auch mit Würdigung der Leistungen eines jeden der Modelle, Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 32-40, Wiater 2013, 61-97). Neuere Darstellungen fügen etwa auch folgende Ansätze hinzu: ● konstruktivistische Didaktik, ● Neurodidaktik (z.-B. Terhart 2009, 144-156, Wiater 2013, 89-97). Das erste große - und zugleich bis heute sehr wirkmächtige - didaktische Modell, das seit den späten 1950er Jahren entstanden ist, ist das Modell der kategorialen Bildung von Wolf‐ gang Klafki (auch bekannt als „bildungstheoretisches Modell“ bzw. in seiner Überarbeitung seit den 1970er Jahren als „kritisch-konstruktives Modell“). Auf wissenschaftstheoretischer Ebene ist dieses Modell der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zuzuordnen (z. B. Terhart 2009, 136). Anknüpfend an das schon bei Erich Weniger zentrale Konzept der Bildung entwickelt Klafki ein Modell, das wie folgt zusammengefasst werden kann: Bildung im Sinne Klafkis umfasst u.a. ● „ein historisch vermitteltes Bewusstsein von zentralen Problemen der Menschheit in der Gegenwart und Zukunft“ (Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 33), - von Klafki als „epochaltypische Schlüsselprobleme“ bezeichnet; darunter sind Aspekte wie die „Frage von Krieg und Frieden, ökologische Frage, Gerechtigkeit der Einen Welt, Umgang mit Informationstechnologien […]“ usw. zu verstehen (Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 33), ● die Einsicht in die Verantwortung eines jeden Individuums, ● die Fähigkeit und die Bereitschaft, zur Lösung dieser Probleme beizutragen (vgl. Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 33). Zentrale Fragen bei der Auswahl von Bildungs-, mithin Unterrichtsinhalten sind demnach die Gegenwartsbedeutung, die Zukunftsbedeutung und die exemplarische Bedeutung von Lerngegenständen (vgl. z. B. Schröder 1995, 200, zum exemplarischen Lernen im Diskurs der späten 1950er Jahre vgl. auch Derbolav 1957). Bildung ist für Klafki spätestens seit der überarbeiteten Fassung seines Modells als kritisch-konstruktive Didaktik explizit ein eigenverantwortlicher, selbsttätiger Prozess, der in die Fähigkeit zu Selbstbestimmung, Mit‐ 68 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="69"?> bestimmung und Solidarität mündet (vgl. z. B. Schröder 1995, 199, Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 33, Wiater 2013, 67). Indem sich solche Bildungsprozesse ausgehend von bestimmten Inhalten und Themen des Unterrichts entwickeln, setzt die Bildungstheorie Klafkis tra‐ ditionelle Konzepte der materialen (also rein am Lerngegenstand/ den Inhalten und am Wissen ausgerichteter) Bildung und der formalen (rein am Subjekt orientierten) Bildung in Bezug; Klafki bezeichnet dies als „kategoriale Bildung“ in dem Sinne, dass „kategoriale“ Inhalte exemplarisch Kategorien bzw. Grundstrukturen oder eben Schlüsselprobleme verdeutlichen. Dabei spielt das Prinzip des Exemplarischen bzw. das exemplarische Lernen eine besondere Rolle. Werner Wiater resümiert das wie folgt: Kategoriale Bildung (Kategorie (lat.-griech.)) - Grundaussage - eigentlich: Anklage, Beschuldigung - Gattung, Klasse, Ordnungsraster, Aussageweise; kategorial - Kategorien betreffend, übergrei‐ fende Strukturen herausarbeitend) meint bei Wolfgang Klafki nicht die Synthese von materialer und formaler Bildung, sondern deren dialektische Zuordnung zu einem Ganzen, wie es beim Prinzip des Exemplarischen gelingt: Setzt sich jemand vertieft mit geeigneten (repräsentativen, klassischen, elementaren usw.) Beispielen eines Sachverhalts auseinander, wird ihm die dingliche und geistige Wirklichkeit erschlossen, zugleich aber ruft das in ihm Einsichten und Verantwort‐ lichkeiten wach, die er bisher nicht hatte. Kategorial bedeutet hier also „auf den Wesenskern der Bildung hinweisend. (Wiater 2013, 64) Eine grundlegende Aufgabe von Didaktik ist in diesem Konzept die Auswahl geeigneter (Bildungs-)Inhalte. Die Wertigkeit von Inhalten wird an ihrem Bildungsgehalt gemessen, „Bildungsgehalt ist das Bildungswirksame in einem Bildungsinhalt“ (Schröder 1995, 199). Indem geeignete Inhalte Bildungsprozesse anregen, werden sie zu Themen des Unterrichts bzw. sind „thematisch“ (vgl. Klafki 1976, 83, in jüngerer Zeit das in fachdidaktischer Perspektivierung aktualisierte Konzept der „Themenkonstitution“ in Lange/ Sinning 2008, 2014a bis d). Seit den 1960er Jahren entwickelte Klafki sein Konzept als „kritisch-konstruktive Didaktik“ weiter, wobei vor allem der Praxisbezug des Modells gestärkt werden sollte. Schon in der bildungstheoretischen Didaktik der späten 1950er Jahre entwickelte er das Konzept der „Didaktischen Analyse“, die am Anfang einer jeden Unterrichtsplanung stehen solle - und die bis heute, in leicht abgewandelter Form, häufig in Stundenentwürfen etwa im Referendariat eingefordert wird. Dazu gehört z. B. eine Bedingungsanalyse (also eine Analyse des konkreten Kontexts der jeweiligen Unterrichtsstunde, z. B. eine Beschreibung der Lerngruppe und ihrer Lernausgangslage), eine Sachanalyse bzw. Untersuchung der Struktur des gewählten Inhalts sowie die didaktische Analyse im engeren Sinn, die nach Klafki u. a. nach der Bedeutung des Unterrichtsinhalts für Gegenwart und Zukunft sowie nach seiner exemplarischen Bedeutung fragt (einführend z. B. Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 35 f., Wiater 2013, 67-69). Zentraler Ansatzpunkt des bildungstheoretischen Modells von Klafki ist also die Unterrichtsplanung unter den Vorzeichen eines idealistischen, aus dem historischen Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit heraus zu verstehenden Bildungskonzepts. Einschränkungen für die Praxisrelevanz des Ansatzes liegen in seinem hohen Abstraktionsgrad begründet. Klafki selbst erkennt an, dass das allgemein-didak‐ tische Modell auf eine Konkretisierung durch die Fachdidaktiken angewiesen ist (vgl. 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 69 <?page no="70"?> Schröder 1995, 201). Dennoch kann der bildungstheoretische Ansatz als grundlegend für jegliches Verständnis von Schule und Unterricht gelten: Die Stärke dieses Ansatzes liegt nach wie vor in seiner grundlegenden Option für Bildung als zentrierende und orientierende Kategorie. Dadurch wird nicht nur eine Sinnstiftung für Unterricht generell möglich; über den Bildungsbegriff wird Unterricht sowohl mit der Entwicklung des Einzelnen wie mit der Weiterentwicklung von Kultur und Gesellschaft verbunden. Sofern man den Kultur- und Sinnbezug von Schule, Unterricht und Lehrerhandeln in den Mittelpunkt stellt, wird jede Allgemeine Didaktik unausweichlich ´bildungstheoretisch´ sein müssen. (Terhart 2009, 136 f., weiterhin einführend z. B. Schröder 1995, 198-202, Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 33-36, Terhart 2009, 134-137, Wiater 2013, 63-69). In bewusster Abgrenzung zur bildungstheoretischen Didaktik entwickelten Paul Heimann, Gunter Otto und Wolfgang Schulz in den frühen 1960er Jahren ein Modell, das nicht von der idealtypischen Unterrichtsvorbereitung unter den Vorzeichen eines idealistischen Bil‐ dungsziels, sondern von der nüchternen Unterrichtsanalyse mit Fokus auf die Lehrprozesse ausgeht, als „lern-“ bzw. „lehrtheoretische Didaktik“ (die von den Autoren ursprünglich gewählte Bezeichnung „lerntheoretische Didaktik“ ist daher eigentlich irreführend, vgl. z. B. Wiater 2013, 70). In wissenschaftstheoretische Perspektive ist die lehrtheoretische Didaktik mithin im Kontext einer empirisch-analytischen Pädagogik zu verorten (vgl. Tenorth 2009, 137). Damit verbunden ist eine Verschiebung des Schwerpunkts von den (für bildungsrelevant gehaltenen) Inhalten hin zu den Methoden und Verfahren des Unterrichts, Didaktik wird also tendenziell wieder zur Methodik. Dieses Modell ist auch als „Berliner Modell“ bekannt. Zentral - und ebenfalls lange Zeit auf die Entwicklung von Unterrichtentwürfen auch im Fremdsprachenunterricht wirksam - ist in diesem Modell die Analyse von zwei Bedingungsfeldern und vier Entscheidungsfeldern von Unterricht. Als Bedingungsfelder werden anthropogene und soziokulturelle Bedingungen von Unterricht bezeichnet - damit fällt dieser Bereich im Wesentlichen mit der Bedingungsanalyse bei Klafki zusammen. Prägend für die Entwicklung von Unterrichtsentwürfen war und ist teilweise bis heute die Analyse der vier unterrichtlichen Entscheidungsfelder: Intentionen bzw. Ziele, Inhalte, Methoden und Medien. Zur Beschreibung der Ziele des Unterrichts werden die Kategorien Zieltaxonomie (kognitive, affektive, psycho-motorische Ziele), Zielhierarchie (Richt-, Grob- und Feinziele) und Zieloperationalisierung (also die Realisierung des Zielverhaltens) herangezogen (vgl. Schröder 1995, 203). Bezogen auf die Methoden spielen u. a. die Kategorien Artikulation des Unterrichts (also Aufbau und Gliederung einer Unterrichtsstunde), Aktions- und Sozialformen eine bedeutende Rolle (vgl. Schröder 1995, 203, vgl. auch Kap. 5, bes. 5.5). Besonders seit den 1980er Jahren hat Wolfgang Schulz das Modell weiterentwickelt und über die eher technizistisch-methodischen Aspekte hinaus den Aspekt der Interaktion der Lernenden mit den Unterrichtsgegenständen und den Lehrkräften im Sinne eines emanzipatorischen Ansatzes ergänzt. Damit einher ging die Umbenennung des Ansatzes in „lehrtheoretische Didaktik“ bzw. „Hamburger Modell“ und ein verändertes wissenschafts‐ theoretisches Selbstverständnis weg vom Empirismus hin zu einer „quasi-therapeutischen“ 70 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="71"?> Konzeption (hierzu vgl. Terhart 2009, 140, weiterhin einführend Schröder 1995, 202-204, Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 36-38, Terhart 2009, 137-140, Wiater 2013, 70-79). Die in den 1960er Jahren entstandene kybernetisch-informationstheoretische Didaktik ist im Kontext ihrer Entstehungszeit, in der Kybernetik als Regelung von Maschinen und lebendigen Organismen eine bedeutende Rolle spielte, zu verstehen. Ihre Ausdrucks‐ form war die Entwicklung des so genannten Programmierten Unterrichts oder auch des computergestützten, stark gesteuerten Unterrichts allgemein. Sie gilt heute als überholt (einführend z. B. Schröder 1995, 205-209, zu Grenzen des Ansatzes bes. 208 f., Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 38). Die lernzielorientierte Didaktik bzw. curriculare Didaktik hat sich, mit Vorläufern in den späten 1960er Jahren, v. a. in den 1970er Jahren entwickelt. Sie ist letztlich behavioristisch basiert und nicht zuletzt daher als grundlegendes Modell nicht mehr tragfähig. Ende der 1960er Jahre jedoch wurde das Buch Bildungsreform als Revision des Curriculums des in Berlin tätigen US-amerikanischen Erziehungswissenschaftlers Saul B. Robinsohn in einer Zeit, in der die Bildungstheorie der geisteswissenschaftlichen Pädagogik (vgl. bildungsthe‐ oretische Didaktik, s. o.) und die vorliegenden Lehrpläne zunehmend hinterfragt wurden, mit seinem analytischen Zugriff positiv und offen rezipiert (vgl. z. B. Wiater 2013, 80). Zentrales Konzept der lernzielorientierten bzw. curricularen Didaktik ist das Ziel im Sinne später im Leben zu bewältigender Situationen, auf die Schülerinnen und Schüler vorbereitet werden sollen. Stehen diese Ziele fest, können Lernziele festgelegt und über bestimmte Inhalte, die in Lehrplänen (Curricula) festgeschrieben werden, angestrebt werden (vgl. z. B. Wiater 2013, 83). Lernziele werden auf einer kognitiven, einer pragmatischen und einer affektiven Ebene beschrieben (mit Blick auf geistige, prozessorientierte und emotionale Handlungen). Auf der kognitiven Ebene wird dabei z. B. folgende Taxonomie, also Stufung der Lernziele, vorgenommen: Wissen à Verstehen à Anwendung à Analyse à Synthese à Beurteilung/ Bewertung (vgl. Wiater 2013, 81). Weiterhin schlug Christine Möller in den 1970er Jahren die Unterscheidung von Lernzielniveaus in Form von Richtzielen (z. B. Jahrgangsstufenziel), Grob- oder Teilzielen (z. B. einer Unterrichtseinheit) und Feinzielen (einzelner Unterrichtsschritte/ -stunden) vor (vgl. z. B. Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 38, Wiater 2013, 82). Die lernzielorientierte, curriculare Didaktik macht explizit Vorgaben zu dem, was erlernt werden und was im Unterricht geschehen soll. Sie verfolgt also einen nor‐ mativ-präskriptiven Ansatz und versteht Didaktik als normative, also Vorgaben machende, Disziplin (vgl. Schröder 1995, 210). Mit der Erstellung einer Taxonomie von Lernzielen und der Festlegung von Lernzielniveaus hatte die curriculare Didaktik in den 1970er und 1980er Jahren eine große Wirkmacht, denn die Lehrpläne waren teilweise daran orientiert. Solche Lehrpläne wurden z. B. in Bayern seit Mitte der 1970er Jahren als „curriculare Lehrpläne“ eingeführt und waren bis weit in die 1990er Jahre hinein gültig (einführend in die curriculare Didaktik z. B. Schröder 1995, 209-212, Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 38 f., Wiater 2013, 80-85, zu den curricularen Lehrplänen in Bayern exemplarisch Westphalen 1973, 1985, vgl. Kap. 4.3.2). Die seit den 1980er Jahren entwickelte kritisch-kommunikative Didaktik (Rainer Winkel) greift mit dem Phänomen der Unterrichtsstörungen einen Teilaspekt unterrichtlicher Realität heraus und erhebt diesen zum Ausgangspunkt eines eigenen didaktischen Modells, das die soziale Interaktion im Unterrichtsgeschehen fokussiert (vgl. Terhart 2009, 140). 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 71 <?page no="72"?> Eine theoretische Grundlage ist die Humanistische Psychologie, die in Abkehr von Beha‐ viorismus und Psychoanalyse die Selbstbestimmtheit und Kreativität des Individuums sowie die Bedeutung seiner individuellen Bedürfnisse betont (vgl. z. B. Wiater 2013, 85). Das Modell versteht sich insofern als kritisch, als es bestehende Verhältnisse zu verbessern versucht, und als kommunikativ, indem Kommunikation im Sinne der linguistischen Prag‐ matik als zentrales Element unterrichtlicher Prozesse besonders beachtet wird (vgl. z. B. Schröder 1995, 212 f.). Folgende Aspekte der Kommunikation werden dabei besonders in den Fokus genommen: nonverbale Kommunikation, Beziehungsebene der Kommunikation, Symmetrie der Kommunikation, Metakommunikation, kommunikative Kompetenz (vgl. Schröder 1995, 213). Innerhalb des Modells der kritisch-kommunikativen Didaktik, das einen radikal emanzi‐ patorischen Ansatz verfolgt, soll vor allem eine möglichst symmetrische, also gleichberech‐ tigte, Kommunikation zwischen Lernenden und Lehrenden entstehen. Insofern kann der Ansatz in wissenschaftstheoretischer Perspektive einer kritischen Erziehungswissenschaft zugerechnet werden (vgl. Terhart 2009, 142). Symmetrische Kommunikation ist nach Winkel in einem gestuften Prozess zu erzielen; bei jungen und mit der Zielvorstellung einer symmetrischen Kommunikation noch nicht vertrauten Schülerinnen und Schülern darf es durchaus noch zahlreiche sog. „stellvertretende Entscheidungen“ durch die Lehrkraft geben, die im Laufe der Zeit sukzessive zurückgefahren werden sollen (vgl. z. B. Wiater 2013, 86 f.). Dabei will die kritisch-kommunikative Didaktik bewusst nur eine Ergänzung bestehender Modelle sein. Ihre Ansätze werden z. B. durch eine Abkehr vom Frontalunter‐ richt, durch das Selbstverständnis der (Fremdsprachen-)Lehrkraft als Lernbegleiterin, durch Arrangements des Offenen Unterrichts durch eine nicht zu kleinschrittige Unterrichtspla‐ nung usw. zumindest in Grundzügen umgesetzt (einführend z. B. Schröder 1995, 212-217, Böhmann/ Schäfer-Munro 2008, 39, Wiater 2013, 85-89). Solche Ansätze werden von einer konstruktivistischen Didaktik, die sich seit den 1990er Jahren entwickelt hat (z. B. Kersten Reich), konsequent fortgeschrieben. Die konstruktivis‐ tische Didaktik geht - sehr vereinfacht gesprochen - von der Grundannahme aus, dass jedes Individuum seine eigene Wirklichkeit auf der Grundlage seines Vorwissens und bestimmter Informationen von außen konstruiert. Sie basiert auf dem grundlegenden, wis‐ senschaftstheoretischen Ansatz des Konstruktivismus, der seinerseits biologisch fundiert ist. Neben dem radikalen Konstruktivismus, der auf der Grundlage der (neuro)biologischen Erkenntnis vom Gehirn als in sich geschlossenem, sich selbst organisierendem System objektiv Gegebenes völlig leugnet (vgl. Konzepte wie Autopoiesis, Selbstreferentialität, einführend z. B. Schmidt 1987), gibt es den gemäßigten Konstruktivismus u. a. in Form eines interaktionalen und sozialen bzw. soziokulturellen Konstruktivismus, bei dem die Interaktion mit lebensweltlichen Referenzen bei der (Ko-)Konstruktion von Wirklichkeiten berücksichtigt wird (aus pädagogischer und allgemeindidaktischer Sicht z. B. Reich 1996, 2012). Werner Wiater bringt die neurophysiologische Grundlegung des didaktischen Konstruktivismus wie folgt auf den Punkt: Für das Lernen im konstruktivistischen Verständnis ist die Ausprägung der individuellen Struk‐ turen des Denkens, Fühlens, Wollens und Könnens die Grundlage und Voraussetzung für alle Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse. Diese wiederum unterliegen neurophysiologischen Bedingungen, genauer der vorangegangenen Bildung von Synapsennetzwerken im Gehirn auf 72 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="73"?> Grund von verarbeiteten Umwelterfahrungen. Die moderne Neurowissenschaft unterstützt die Theorie des sozialen Konstruktivismus, indem sie (1) Lernen als Änderung der Konnektivität neuronaler Netze auf Grund einer bewusst gewordenen sensorischen Erregung versteht, (2) die Bedeutung des Vorwissens unterstreicht (99,9% aller Neuronen erhalten ihren Input von anderen Neuronen im Gehirn) und (3) durch das Vorhandensein von Spiegelneuronen, die es dem Menschen erlauben, Handlungen und Emotionen eines anderen mit- und nachzuvollziehen, soziale und emotionale Verhaltensweisen erklärt. (Wiater 2013, 91 f.) Unterrichtsplanung und Unterrichten muss in einem solchen Ansatz nicht vom Lehrenden oder von den Inhalten her, sondern vom selbstgesteuert lernenden Schüler her gedacht werden: Im Sinne des Konstruktivismus ist Lernen ein aktiver Prozess individueller Selbstorganisation. Jeder Schüler/ jede Schülerin konstruiert als ein personales Handlungssystem sein Wissen, Fühlen, Wollen und Können auf individuelle Weise, subjektiv-biografisch und auf der Basis vorangegan‐ gener Lernerfahrungen. (Wiater 2013, 89 f.) Lernen wird dabei als Konstruktion, Rekonstruktion oder Dekonstruktion verstanden. Bei der Konstruktion bauen Schülerinnen und Schüler aus sich selbst heraus Bedeutungen auf (z. B. Operationen des Erfindens, Begründens, Gestaltens), bei der Rekonstruktion baut das Individuum für sich Bedeutungen auf, die bereits andere einem Lerngegenstand gegeben haben (z. B. Leseverstehen), bei der Dekonstruktion werden auf der Grundlage eines Einflusses von außen bisheriges Wissen, Fühlen oder Können hinterfragt (weiterführend z. B. Terhart 2009, bes. 145, Wiater 2013, 91). Etwas abstrakter, auf die Bedeutung von Lernen für die Entwicklung von Individuum und Umwelt insgesamt bezogen, formuliert Ewald Terhart dies wie folgt: ● Konstruktion bedeutet, dass Lernen grundsätzlich ein Konstruieren ist, das auch im Unterricht jeder einzelne Schüler zwar im sozialen Kontext, aber doch für sich vollzieht. Leitmotto: „Wir sind die Erfinder unserer Wirklichkeit.“ ● Rekonstruktion bedeutet, dass von den nachwachsenden Generationen (und im Unterricht) nicht alles neu erfunden wird; vielmehr werden vorhandene Kultur- und Erkenntnisleistungen nach-entdeckt. Leitmotto: „Wir sind die Entdecker unserer Wirklichkeit.“ ● Dekonstruktion bedeutet: Sowohl eigene Erfahrungen wie die (Nach-) Entdeckungen von bereits Vorhandenem müssen kritisch auf Auslassungen, Einseitigkeiten etc. geprüft werden. Alternativen des Konstruierten müssen offen bleiben. Leitmotto: „Es könnte auch noch anders sein! Wir sind die Enttarner unserer Wirklichkeit.“ (Terhart 2009, 144, 146) Folglich steht selbstständiges, individuelles Lernen im Zentrum einer konstruktivistischen Didaktik. Die Wahrnehmung verschiedener Ebenen von Heterogenität innerhalb einer Lerngruppe, denen mit Maßnahmen der Differenzierung, Individualisierung und Inklusion begegnet werden kann, nimmt eine Schlüsselrolle innerhalb der konstruktivistischen Didaktik ein. Aufgabe der Lehrperson ist weniger die Konzeption einer in ihrem Verlauf absehbaren Unterrichtsstunde, sondern die Schaffung von Lernumgebungen, die individu‐ elles, kreatives und produktives Arbeiten der Schülerinnen und Schüler anregen (vgl. Wiater 2013, 92). Nach Wiater sind Aufgaben der Unterrichtskonzeption und -planung im konstruktivistischen Sinn u.a.: 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 73 <?page no="74"?> ● Schülern zu Konstruktionen, Rekonstruktionen und Dekonstruktionen Anlässe geben, ● […] das Lernen über komplexe authentische Probleme […] und mit multiplen Perspektiven ermöglichen, ● […] ermöglichen, dass Schüler ihren Lernprozess gestalten und reflektieren können, ● die Heterogenität und Individualität der Lernenden bei den Lehr-Lern-Methoden, bei den Lernmaterialien und Lernmedien sowie bei den in Lernumgebungen gestellten Aufgaben berücksichtig[en], ● Lernsituationen stress-, angst- und repressionsfrei [gestalten], ● Schülern […] Gelegenheit [geben], eigene Assoziationen zwischen dem neuen Lernstoff und ihren bereits aufgebauten Wissens-, Fühlens- und Könnensstrukturen herzustellen und diese sprachlich auszuformulieren […]. (Wiater 2013, 93 f.) Letztlich finden die verhältnismäßig radikalen erkenntnistheoretischen Positionen des Konstruktivismus ihren unterrichtlichen Niederschlag in den verschiedensten Formen Offenen Unterrichts usw. Auch mediengestütztes Lernen (bes. z. B. computer- und inter‐ netgestütztes Lernen) kann konstruktivistisch begründet werden. Terhart bringt dies wie folgt auf den Punkt: Die konstruktivistischen Empfehlungen zur Unterrichtsgestaltung orientieren sich stark an alten und neuen reformpädagogischen Modellen (Erfahrungslernen, entdeckendes Lernen, fächerüber‐ greifendes Lernen, Förderung der Selbsttätigkeit, Lernen des Lernens etc.). […] In der Praxis verbindet sich konstruktivistische Didaktik mit Praxisformen reformpädagogischer und kommu‐ nikativer Modelle sowie - verstärkt - mit den komplexen virtuellen Lernwelten (E-Learning), die die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen. In dieser Form ist die konstruktivistische Provokation mithin pädagogisch normalisiert und didaktisch entschärft worden; […]. (Terhart 2009, 146 f., weiterhin einführend z.-B. Terhart 2009, 144-147, Wiater 2013, 89-94) Der Anspruch der Allgemeinen Didaktik, seit den 1990er/ 2000er Jahren durch die Ent‐ wicklung einer so genannten „Neurodidaktik“ ein aktuelles Konzept von Bildung und Unterricht zu entwickeln (z. B. Herrmann 2006), ist angesichts der Entwicklung der Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten verständlich, jedoch stehen diesbezüglich Forschungen und seriöse Konkretisierung nach wie vor aus. Der Versuch, aus neurowis‐ senschaftlichen Erkenntnissen didaktische Modelle für das Lehren und Lernen ableiten zu wollen, kann im Regelfall aus neurowissenschaftlicher Perspektive nicht seriös gelingen. Sinnvoll - und unabhängig von den Bestrebungen einer „Neurodidaktik“ zu sehen - ist indes eine Beschäftigung mit neurobiologischen Grundlagen des Lernens (auch von Sprachen und Fremdsprachen) (hierzu vgl. Band II, Kapitel 1.2). Erforderlich wäre darüber hinaus neurowissenschaftlich fundierte Grundlagenforschung zum Lernen und Lehren von Fremdsprachen (vgl. ebd.). Letztlich fokussiert die „Neurodidaktik“ als Ansatz der Allgemeinen Didaktik vor allem solche neurowissenschaftlichen Aspekte, die auch der insgesamt weiter greifenden kon‐ struktivistischen Didaktik zugrunde liegen und die sich auf Prozesse des Lernens beziehen. Trotz der hier formulierten Vorbehalte gegen das Konzept einer „Neurodidaktik“ können mit Ewald Terhart und Werner Wiater u. a. folgende Grundlagen des Lernens resümiert werden, die zwischenzeitlich als durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse gestützt 74 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="75"?> erachtet werden und als Hintergrund der Konzeption und Gestaltung von Unterricht dienen können (wörtliche Übernahmen aus Terhart 2009, 152 f. (Punkt (2), (3), (6), (9), (11)), Wiater 2013, 96 (Punkte (1), (4), (5), (7), (8), (10), Anordnung und Nummerierung D.R.): 1. Für die Lernmotivation und den Lernerfolg entscheidend ist das Vorwissen des Schülers und ob er das Neue an bereits Gelerntes anknüpfen kann. 2. Lernen ist dann erfolgreich, wenn sein Nutzen oder sein Wert subjektiv einsehbar ist, wenn es „Sinn“ macht. 3. Bei der Neustrukturierung von internen Strukturen spielen Kognitionen, Emo‐ tionen und Motivationen eine […] wichtige Rolle. Insofern ist Lernen ein ganzheit‐ licher Prozess. 4. Aktivität/ eigenes Tun ist die Voraussetzung für erfolgreich verlaufende Lehr-Lern-Prozesse. 5. Im Unterricht muss der Lernstoff geübt, wiederholt und trainiert werden, damit die neuronale Architektur entsprechend gestärkt wird. 6. Neu Gelerntes wird besser behalten, wenn es unmittelbar geübt und angewendet werden kann, aber auch, wenn es auf neue Informationen und Probleme ange‐ wendet werden kann. 7. Die Phasen besonderer Lernfähigkeit („Zeitfenster“ in der Entwicklung des Men‐ schen) müssen genutzt werden (z.-B. bei der Musikerziehung). 8. Schüler/ Schülerinnen müssen viele unterschiedliche Kommunikationsmöglich‐ keiten (sprachliche, bildnerische, musikalische, mimische, gestische, tänzerische) lernen und nutzen. 9. Es ist für das Lernen von Vorteil, wenn über mehrere Sinneskanäle Informationen auf das immer schon eigenaktive Gehirn treffen […] 10. Lernen ist erfolgreich, wenn die Rahmenbedingungen als positiv empfunden werden. 11. Menschen lernen besser in einer angstfreien Atmosphäre ohne Stress und Druck. Neben den oben genannten Einschränkungen bezüglich einer „Neurodidaktik“ kann also festgehalten werden, dass beinahe ausschließlich die Seite des Lernens, nicht aber die des Lehrens (vgl. die (re)konstruierte Etymologie διδακτική τέχνη - Kunst des Lehrens, s. Kap. 1.2.2.1) betrachtet wird. Weiterhin werden die Gegenstände, also die Inhalte und Themen, von Unterricht ausgeblendet - so dass man ggf. in Zweifel ziehen kann, ob „Neurodidaktik“ wirklich als eine Spielart oder ein Modell von (Allgemeiner) Didaktik gelten darf. Ewald Terhart formuliert dies pointiert wie folgt: Die materiale Seite, die Sache des Unterrichts, wird konstruktivistisch und neurophilosophisch de-konstruiert, verflüssigt sich, wird zur Ansichtssache. So gesehen kann man fragen, ob die Neurodidaktik überhaupt eine Didaktik ist. (Terhart 2009, 156, weiterhin einführend z. B. Terhart 2009, 152-156, Wiater 2013, 94-97). Rückblickend haben vor allem die bildungstheoretische bzw. kritisch-konstruktive Di‐ daktik in der Folge Klafkis sowie die lernbzw. lehrtheoretische Didaktik (v. a. auch 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 75 <?page no="76"?> Hamburger Prägung) bedeutenden Einfluss auf die Schul- und Unterrichtsentwicklung ausgeübt. Heutige Lehr-/ Lernarrangements sind darüber hinaus häufig von Prinzipien der kritisch-kommunikativen und der konstruktivistischen Didaktik beeinflusst - was frei‐ lich im Fremdsprachenunterricht, gerade in der grundlegenden Sprachaneignungsphase, durchaus auf seine Grenzen stoßen kann. Oben wurde gezeigt, dass die Allgemeine Didaktik in den 1960er Jahren eine wichtige Bezugsdisziplin für die fremdsprachlichen Fachdidaktiken war (s. o., Eineitung zu Kap. 1, Kap. 1.2.2.3, 1.2.2.4). So verweisen etwa auch Titel und Beiträge des Bandes Kochan 1970 (Allgemeine Didaktik, Fachdidaktik, Fachwissenschaft. Beiträge aus den Jahren 1953-1969) auf die Nähe von Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik von den 1950er bis in die 1970er Jahre hinein (vgl. auch Rothgangel 2017, 147). Die Nähe zwischen Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik (aber auch der Fachwissenschaft) ist auch ihrer damals gemeinsamen in‐ stitutionellen Verankerung an den Pädagogischen Hochschulen geschuldet. Als besonders bedeutsam für den Dialog konnten die Tagungen des Arbeitskreises der Pädagogischen Hochschulen in den Jahren 1959 und 1962 rekonstruiert werden (Rothgangel 2017, 147, mit weiterführender Bibliographie). Martin Rothgangel formuliert wie folgt: Zwei Faktoren sind m. E. besonders in Betracht zu ziehen: Erstens besaß die Allgemeine Didaktik mit der kategorialen Bildungstheorie Klafkis und der sich später in Konkurrenz dazu etablierenden lerntheoretischen Didaktik sowie Curriculumtheorie ein hohes Innovationspotential für die Fachdidaktiken, was die inhaltliche Basis für einen regen Austausch bildete. Zweitens bestand in organisatorischer Hinsicht an den damals bestehenden Pädagogischen Hochschulen im Vergleich zu den Universitäten eine bessere Kooperation zwischen den an der Lehrerbildung beteiligten Wissenschaften und Akteuren […]. (Rothgangel 2017, 147 f.) Durch die Eingliederung der Lehrerbildung an die Universitäten wurde die Allgemeine Di‐ daktik - nicht selten im Rahmen der Schulpädagogik - an die Erziehungswissenschaftlichen Fakultäten angegliedert, die Fachdidaktiken in den allermeisten Fällen an die jeweiligen Fächer und ihre Fakultäten: Die dabei oftmals erfolgte Anbindung der Fachdidaktiken an „fachwissenschaftliche“ Fakultäten war hingegen dem Dialog zwischen Fachdidaktik und Allgemeine[r] Didaktik abträglich. (Roth‐ gangel 2017, 148, mit weiterführender Bibliographie) Den Bezug der Allgemeinen Didaktik zu den Fachdidaktiken umreißt Schröder 1977 wie folgt: Die Fachdidaktiken stellen als integrale Bestandteile der Fächer einzelfachliche Konkretisierungen der abstrakten (allgemeinen) [Didaktik] dar. Die (allgemeine) [Didaktik] ist auf die empirischen Daten aus den einzelnen [Fachdidaktiken] angewiesen […]. (Schröder 1977, 44) So wurde die Allgemeine Didaktik zunehmend auch insofern kritisiert, als sie ohne Bezug auf ein bestimmtes Fach schon von ihrer Definition her zu abstrakt bleiben musste und letztlich zu einer reinen unterrichtlichen Methodenlehre verkommen konnte. Karlheinz Scherler bringt dies wie folgt auf den Punkt: Das Defizit der allgemeinen Didaktik ist, daß sie genau genommen keinen empirischen Gegenstand hat. Den allgemeinen Unterricht gibt es nicht, sondern nur den in Fächern und Fachbereichen 76 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="77"?> geordneten Unterricht. Die Allgemeinheit der allgemeinen Didaktik besteht in der Abstraktion von unterrichtlichen Fachbezügen. Sie ist methodischer, nicht aber inhaltlicher Natur. (Scherler 1989, 21, zit. nach Rothgangel 2017, 150) Der Allgemeinen Didaktik konnte auch vorgeworfen werden, als Teil der Erziehungswis‐ senschaften zu sehr den Anspruch zu erheben, die Fachdidaktiken müssten ihre Theorien und Konzepte übernehmen, ohne ihrerseits zu reflektieren, inwieweit sie sich selbst mit den Erkenntnissen der Fachdidaktiken auseinandersetzen könnte (vgl. z. B. Rothgangel 2017, 152-154). Dazu kommt, dass sich auch in den Bildungswissenschaften zunehmend ein Bewusst‐ sein über die Bedeutung von Fachlichkeit und fachlichen Inhalten einstellt. So zitiert etwa Ewald Terhart die Metastudie Seidel/ Shavelson 2007 zu Unterrichtsvariablen und ihren Wirkungen, die zu dem Ergebnis kommt, dass „[d]er stärkste, für das kognitive Lernen förderlichste Effekt des Unterrichtens […] von der Fachspezifik aus[geht]“, und zwar unabhängig von Fach, Schulstufe und anderen Faktoren. Darüber hinaus wird in der genannten Metastudie deutlich, dass „fachliche[s] Lerne[n] ebenfalls eine wichtige Rolle für das Zustandekommen motivational-emotionaler Wirkungen hat“ (übers. Terhart 2009, 198 f.). Nicht zuletzt kann man mit Ewald Terhart Allgemeine Didaktik auch nicht als forschende, also wissenschaftliche Disziplin im eigentlichen Sinn, sondern eher als Reflexionsinstanz in der Ausbildung angehender Lehrkräfte bezeichnen. Im Vergleich empirischer Lehr-Lern-Forschung mit der Allgemeinen Didaktik formuliert er pointiert wie folgt: Lehr-Lern-Forschung ist - wie der Name schon sagt - ein Forschungsbereich innerhalb der Pädago‐ gischen Psychologie. Die Allgemeine Didaktik ist demgegenüber gerade kein Forschungsbereich, sondern ein Element im Ausbildungsprozess von angehenden Lehrern. […] Dieser […] klaren […] Beschreibung der Aufgaben eines wissenschaftlichen Forschungskontextes seitens der Lehr-/ Lernforschung steht aufseiten der Allgemeinen Didaktik eine Aufgabenbeschreibung gegenüber, die weiter und unspezifischer gefasst ist: Es geht um die Theoretisierung und operative Gestaltung von Lehren und Lernen im Kontext von Ausbildung für den pädagogischen Beruf des Lehrers. Hierzu gehören bei den bildungstheoretischen Didaktiken auch weit gespannte Vorstellungen über den normativen Sinnhorizont von Schule und Unterricht - aber ebenso auch konkrete Fragelisten für Unterrichtsvorbereitung und Schemata zur Unterrichtsgestaltung, operative Elemente also. In dieser Ausbildungsfunktion liegt letztlich der inhaltliche und institutionelle Zweck von Allge‐ meiner Didaktik begründet; Fragen der Erforschung, gar noch: der empirischen Erforschung von Unterricht werden in den älteren Allgemeinen Didaktiken entweder gar nicht genannt oder sind bei den neueren allgemeinen Didaktiken in diese Aufgabenstellung eingeordnet. (Terhart 2009, 157 f.) Dieses Zitat verdeutlicht, weshalb Allgemeine Didaktik für eine sich als forschende Disziplin verstehende, fachbezogene Lehr-Lernforschung keine essentielle Bezugsdisziplin mehr ist. Gleichwohl können fachliche Inhalte vor dem bildungstheoretischen Hintergrund der Allgemeinen Didaktik auch heute noch mit Gewinn reflektiert werden. Ein jüngeres Vorhaben, das fachdidaktisches Denken und Bildungsprozesse durch die verschiedensten Fachbereiche hindurch vor der Folie der Didaktik Klafkis reflektiert, ist etwa das Projekt „Themenkonstitution“ von Harald Lange und Silke Sinning, in dem die thematischen, also 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 77 <?page no="78"?> die als Lerngegenstände (persönlichkeits-)bildenden Inhalte der verschiedensten Fächer untersucht wurden (vgl. Lange/ Sinning 2014a-d, romanistisch-didaktische Beiträge sind Michler 2014 zum Französischen und Reimann 2014b zum Italienischen). Seit den 1980er, spätestens seit den 1990er Jahren entwickeln sich Allgemeine Didaktik und Fachdidaktiken zumeist unabhängig voneinander und driften folglich immer weiter auseinander (vgl. z. B. Rothgangel 2017, 148 f.). Diese Distanzierung vollzieht sich also in einer gewissen zeitlichen Parallelität zur Entwicklung der Fachdidaktiken als eigen‐ ständige Disziplinen fachbezogener Lehr-/ Lernforschung (s. o., bes. Kap. 1.2.2). Mitunter wird sogar ein Kausalzusammenhang zwischen der Entwicklung der Fachdidaktiken als emanzipierten, forschenden Wissenschaftsdisziplinen einerseits und der Verdrängung der Allgemeinen Didaktik aus der Rolle einer wichtigen Bezugsdisziplin für die Fachdidaktiken andererseits angenommen (vgl. Terhart 2009, 193, Abraham/ Rothgangel 2017, 20; zum Beziehungsgeflecht von Allgemeiner Didaktik, Fachdidaktik und Fachwissenschaft aus der Zeit der Begründung der didaktischen Disziplinen vgl. z. B. Kochan 1970 (s. o.), aus jüngerer Zeit z. B. Arnold 2007, bes. Arnold/ Koch-Priewe/ Lin-Klitzing 2007, hierin eine systematische, einführende Untersuchung der Bezüge z. B. von Allgemeiner Didaktik zu Schulpädagogik, Bildungstheorie, Allgemeiner Pädagogik, Lehr-Lern-Forschung, Pädago‐ gische Psychologie, Fachdidaktik). 1.4.2 Ausblick: Allgemeine Fachdidaktik Ein interessanter Diskurs, der derzeit noch eher eine Perspektivierung denn eine eigene Disziplin darstellt und dessen Entwicklung man im Auge behalten sollte, ist seit etwa 2015 um das Konzept einer „Allgemeinen Fachdidaktik“ modelliert worden (vgl. z. B. Bayrhuber et al. 2017, Rothgangel et al. 2020). Ihr Gegenstand ist der „Vergleich der einzelnen Fachdidaktiken und der von diesen entwickelten Theorien und Metatheorien“ (Frederking 2017, 181). Volker Frederking definiert die Allgemeine Fachdidaktik weiterhin wie folgt: Dazu bewegt sich die Allgemeine Fachdidaktik auf einer von ihr etablierten Metaebene. Auf dieser formuliert sie metatheoretische Aussagen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Theorien, Metatheorien, Fragestellungen etc. der einzelnen Fachdidaktiken. Die auf diese Weise entstehenden Theorien der Allgemeinen Fachdidaktik lassen sich als metatheoretische Bestim‐ mungen der Fachdidaktiken in ihrer Gesamtheit verstehen. (Frederking 2017, 181) In wissenschaftstheoretischer Sicht kann die Allgemeine Fachdidaktik als „Verstehens‐ modus im Sinne Poppers bzw. [als] Beobachtungsmodus im Sinne Niklas Luhmanns, in dem Differenzen und Kohärenzen der Fachdidaktiken gleichermaßen erfasst werden können und sollen“ (Frederking 2017, 179) bezeichnet werden. In Anlehnung an Luhmann 1992 situieren Rothgangel 2017 (bes. 159 f.) und Frederking 2017 (bes. 181 f.) die Allgemeine Fachdidaktik als Metawissenschaft in wissenschaftstheoretischer Perspektive auf einer dritten Beobachtungsebene. Volker Frederking beschreibt dies wie folgt: Eine einzelne Fachdidaktik generiert auf der Ebene von Beobachtungen erster Ordnung Theorien über ihren Gegenstand - fachspezifisches Lehren und Lernen innerhalb und außerhalb von Schule […]. Beobachtungen zweiter Ordnung entstehen innerhalb dieser Fachdidaktik, wenn nicht nur das 78 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="79"?> „Was“, sondern auch das „Wie“ dieser Beobachtung beobachtet und im Rahmen fachdidaktischer Theorie(n) der Erkenntnisgewinnung verarbeitet wird [sc. z. B. Reflexion über Forschungsme‐ thoden, Epistemologie der jeweiligen Fachdidaktik]. Damit verlässt eine Fachdidaktik im Sinne der Popperschen Distinktion perspektivisch die Objektebene und betritt die Metaebene, auf der sie Metatheorien über sich als Disziplin und ihre Erkenntnisweisen generiert. Werden die Theorien und Metatheorien mehrerer oder aller Fachdidaktiken in den Blick genommen und theoretisch reflektiert, entstehen auf einer weiteren Metaebene bottom up Beobachtungen dritter Ordnung. Dies ist die Ebene der Allgemeinen Fachdidaktik. (Frederking 2017, 181 f.) Martin Rothgangel selbst setzt als erste Ebene der Beobachtung die „Praxis bzw. Praxen fachspezifischer Bildung“ (Rothgangel 2017, 159) bzw. die „Beobachtungen beim fachspe‐ zifischen Lehren und Lernen (z. B. zwischen SchülerInnen und LehrerInnen)“, als zweite Ebene die „Beobachtungen bei fachdidaktischer Forschung“, und schließlich auf dritter Ebene die „Beobachtungen bei der Entwicklung Allgemeiner Fachdidaktik“ (Rothgangel 2020a, 19) an. Berücksichtigt man die Tatsache, dass sich die Fachdidaktiken selbst zuneh‐ mend z. B. (forschungs-)methodologisch auf einer Metaebene beobachten und reflektieren (vgl. die Beobachtungen zweiter Ordnung bei Frederking 2017, 182), stellt sich die Frage, in‐ wieweit die Allgemeine Fachdidaktik nicht sogar auf einer vierten Ebene der Beobachtung angesiedelt ist (hierzu vgl. auch Rothgangel 2020b, 596, zur wissenschaftstheoretischen Problematik der Allgemeinen Fachdidaktik in ihrer bisherigen Entwicklung insgesamt vgl. Rothgangel 2020b, bes. 586 ff.). In der Zusammenschau der Beiträge von Frederking 2017 und Rothgangel 2018, 2020a und b seien an dieser Stelle folgende vier Ebenen der Beob‐ achtung bezogen auf das fachspezifische Lehren und Lernen und seine Systematisierung angenommen: 1. Ebene Beobachtungen innerhalb des Unterrichts (Ebene der Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern bzw. zwi‐ schen Schülerinnen und Schülern sowie der Lehrkraft 2. Ebene Beobachtungen über den Unterricht (Ebene der Fachdidaktik) 3. Ebene Beobachtungen über die Fachdidaktik (Ebene der Theorie, Epistemologie und (Forschungs-)Methodologie der Fachdidaktik) 4. Ebene Beobachtungen über mehrere Fachdidaktiken (Ebene der Allgemeinen Didaktik) Abb. 12: Ebenen der Beobachtung in und über (Fremdsprachen-)Unterricht, Fachdidaktik und Allge‐ meine(r) Fachdidaktik (eigene Darstellung) Da die Allgemeine Fachdidaktik in ihren bisherigen Arbeiten zu der Erkenntnis gelangt ist, dass für sie nicht nur die Entwicklung einer Metatheorie der Fachdidaktiken relevant ist, sondern auch die gegenständliche Ebene der Fachdidaktiken verglichen und daraus Schlüsse gezogen werden können („Was? “), versteht sie sich inzwischen nicht mehr nur als Metatheorie, sondern auch als Objekttheorie der Fachdidaktiken (vgl. Rothgangel 2020b, bes. 593-595). 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 79 <?page no="80"?> Vorläufer eines Konzepts von Allgemeiner Fachdidaktik lassen sich bis in die Konsti‐ tuierungsphase der Fachdidaktiken als Disziplinen, zumindest bis in die 1970er Jahre hinein nachvollziehen. So versucht etwa Martin Schmiel in einer Einführung in das fachdidaktische Denken das spezifisch Fachdidaktische etwa von der Allgemeinen Didaktik zu unterscheiden und stellt Vergleiche zwischen den Diskursen ausgewählter Fachdidak‐ tiken an (Schmiel 1978). Grundsätzlich sind der Begriff „Allgemeine Fachdidaktik“ und verschiedene entsprechende theoretische Reflexionen seit 1980 belegt (vgl. z. B. Rothgangel 2017, 149 f., mit weiterführender Bibliographie), doch ist es erst in den genannten Jahren zu einer Intensivierung der Debatte gekommen. Im Unterschied zur Allgemeinen Didaktik, die sich mit grundlegenden bildungstheoretischen Fragen und mit potentiell für alle Fächer gültigen didaktisch-methodischen Prinzipien und Verfahren befasste und insofern dezidiert als Teildisziplin der Erziehungswissenschaften, hier insbesondere der Schulpädagogik, auftrat, will die Allgemeine Fachdidaktik eine Art „Metatheorie und Metawissenschaft“ der Fachdidaktiken modellieren (vgl. Frederking 2017). Dabei will sie aber „nicht als ein Ersatz, sondern als eine Dialogpartnerin für die Allgemeine Didaktik“ auftreten (Rothgangel 2017, 156). Die Allgemeine Fachdidaktik versucht also - im Unterschied zur Allgemeinen Didaktik - Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Fachdidaktiken herauszuarbeiten (hierzu bes. den beeindruckenden Versuch Rothgangel et al. 2020), und zwar grundsätzlich jenseits der bestehenden erziehungsbzw. bildungswissenschaftlichen Diskurse (nähert sich diesen dabei aber natürlich wieder an, vgl. auch Frederking 2017, 183). In diesem Zusammenhang kommt auch der Modellierung einer „fachdidaktischen Bildungstheorie“ im Sinne der persönlichkeitsbildenden Relevanz fachlicher Bildung besondere Bedeutung zu (z. B. Frederking/ Bayrhuber 2017, Rothgangel et al. 2020). Vorgehen und Zielsetzung der „metatheoretische Ebene einer allgemeinen Fachdidaktik“ definiert Martin Rothgangel weiterhin mit folgenden Worten: Eine Allgemeine Fachdidaktik kann dadurch generiert werden, dass sie wiederum beobachtet, mit welchen Unterscheidungen die Beobachterinnen und Beobachter aus den verschiedenen Fachdidaktiken ihre jeweilige Praxis fachspezifischer Bildung beobachten. Es handelt sich gewis‐ sermaßen um eine Beobachtung dritter Ordnung. Hier geht es keineswegs darum, das Allgemeine im Sinne einer Ganzheit des fachdidaktischen Diskurses zu beobachten […], vielmehr geht es in einem spezifischen Sinne um Verallgemeinerungen: Diese basieren auf einer vergleichenden Beobachtung der fachdidaktischen Diskurse und zeichnen sich durch Gemeinsamkeiten und (! ) Unterschiede aus. (Rothgangel 2017, 160) Gerade hierin - in einem induktiven Vorgehen ausgehend von Erkenntnissen der Fach‐ didaktiken, d. h. in der Untersuchung von Ergebnissen der Fachdidaktiken und in der Erfassung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Fachdidaktiken - liegt ein wesentlicher Unterschied zur Allgemeinen Didaktik. Diese wollte, verankert in den Erziehungswissenschaften, im Wesentlichen deduktiv und normativ abstrakte Vorgaben (bildungstheoretischer und unterrichtsmethodischer Natur) machen, die für die Fachdidaktiken und den (Fach-)Unterricht in den verschiedensten Domänen Allgemein‐ gültigkeit haben sollten (weiterführend zur wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Allgemeinen Fachdidaktik vgl. z. B. Frederking 2017). Über die Modellierung einer Meta‐ 80 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="81"?> theorie der Fachdidaktiken hinaus können aus der Weiterentwicklung der Allgemeinen Fachdidaktik auch unmittelbar unterrichtspraktische und erziehungsbzw. bildungswirk‐ same Folgen mit Blick auf die fachliche Bildung entstehen: Ein Gesamtkonzept fachlicher Bildung zeigt Zusammenhänge zwischen den Fachdidaktiken bzw. den Unterrichtsfächern auf, die bislang nicht in den Blick genommen wurden. Ein solches Gesamt‐ konzept dürfte nicht zuletzt den Schülerinnen und Schülern als Adressaten des Fachunterrichts zugutekommen; denn diese sind bisher mit dem Problem allein gelassen bzw. überfordert, den Zusammenhang der Fächer, in denen sie unterrichtet werden, selbst herzustellen. (Bayrhuber 2017b, 253) In institutioneller Hinsicht wird die Entwicklung einer Allgemeinen Fachdidaktik insbeson‐ dere von der Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) befördert, die 2001 als Dachverband der fachdidaktischen Fachgesellschaften in Deutschland gegründet wurde (vgl. z. B. Bayrhuber et al. 2017, 2). Als Vorläuferinstanz der GFD darf die Konferenz der Vorsitzenden Fachdi‐ daktischer Fachgesellschaften (KVFF) gelten, die 1997 gegründet worden war (Bayrhuber et al. 2017, 5). Auch die oben genannte Deutsche Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) ist Mitglied in der GFD. Aus der Perspektive der Allgemeinen Fachdidaktik vergleichend betrachtet, verfügt der Bereich der fremdsprachenbezogenen Lehr-/ Lernforschung mit den Teildisziplinen bzw. Ausprägungen der Sprachlehrforschung und der Fremdsprachenforschung im Vergleich zu den anderen Fachdidaktiken über Spezifika, die sich nur in diesem Bereich finden: In keiner anderen Fachdidaktik gibt es entsprechende benachbarte bzw. in unmittelbarem Zusammenhang stehende Disziplinen. Durch die Sprachlehrforschung wurde im Bereich des fremdsprachlichen Lehrens und Lernens viel früher als in anderen Fachdidaktiken eine empirisch forschende Teildisziplin eingerichtet. Aus heutiger Perspektive stellt die Fremd‐ sprachenforschung ein dezidiert forschungsorientiertes „Dach“ für die verschiedenen einzelsprachlichen Fachdidaktiken dar, wie es ebenfalls kein anderer Fachbereich kennt. 1.4.3 Ausblicke in die Romania Auch in den romanophonen Gebieten Europas zeichnet sich eine entsprechende, spürbare Professionalisierung der Fremdsprachendidaktik ab (einführend z. B. Reimann 2020c). Allerdings scheinen im Vergleich zur Entwicklung der Disziplin in Deutschland folgende Unterschiede zu bestehen: in vielen romanophonen Gebieten hat sich eine akademisch-phi‐ lologische Tradition gegenüber Ansätzen einer eigenständigen, empirischen Fremdspra‐ chenforschung augenscheinlich noch länger behaupten können. Immer wieder ist darüber hinaus eine stärkere und beinahe exklusive Orientierung an anglophoner Forschung festzustellen (symptomatisch ist etwa Sánchez Pérez 2009, der unter dem Titel La enseñanza de idiomas en los últimos cien años. Métodos y enfoques praktisch nicht auf innerspanische Entwicklungen eingeht). Die Didaktiken der jeweiligen „Landessprache“ als Fremdsprache wurden häufig unter (post-)kolonialen Vorzeichen begonnen (z. B. in Italien die Università per Stranieri in Siena und Perugia in den 1910er/ 1920er Jahren) und entwickeln sich in den letzten Jahrzehnten spürbar unter den Vorzeichen der Immigration gerade auch zu Didaktiken der jeweiligen 1.4 Rückblicke und Ausblicke: Benachbarte Disziplinen und Diskurse in Vergangenheit und Gegenwart 81 <?page no="82"?> Sprache als Zweitsprache (vgl. z. B. Français Langue Étrangère (FLE) und Français Langue Seconde (FLS), Italiano Lingua Straniera und Italiano Lingua Seconda, Español como Lengua Extranjera (ELE), Português Língua Estrangeira (PLE) - Português Língua Segunda (PLS)/ Português Língua N-o Materna (PLNM)). Einzelsprachliche Fremdsprachendidaktiken insbesondere anderer romanischer Spra‐ chen entwickeln sich in der Romania erst allmählich parallel zum Aufbau entsprechender Lehramts-Master-Studiengänge, wobei Ansätze forschenden Lernens sogleich umgesetzt werden (z. B. in Spanien Guillén 2010a, 2010b). Insgesamt ist in den letzten Jahren, ggf. ein wenig zeitversetzt zur Entwicklung der deutschen Fremdsprachenforschung, ein spürbarer Innovationsschub in Richtung einer kompetenzorientierten, Fremdsprachenun‐ terricht erforschenden, empirischen Fremdsprachenforschung wahrzunehmen. Punktuell entwickeln sich einzelne Diskurse dabei auch schneller und vertiefter als bis dato in Deutschland, so sind etwa in der italienischen Fremdsprachenforschung sehr spezifische Publikationen zur Inklusion von Lernenden mit verschiedenen Förderschwerpunkten im Fremdsprachenunterricht erschienen (z. B. Daloiso 2016 und Novello 2022, auch eigens zum altsprachlichen Unterricht z. B. Cardinaletti/ Giusti/ Iovino 2016) (weiterhin grundlegend einführend in Entwicklungen der Fremdsprachendidaktik in Frankreich, Italien und in Ansätzen Spanien bis in die frühen 2000er bzw. 2010er Jahre vgl. Bausch/ Christ/ Krumm 2007c, bes. 12-15, sowie Meißner 2019). 82 1 Definitionen, Disziplinen und Diskurse <?page no="83"?> 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Entwicklung des Interesses an romanischen Sprachen und (Schul-)Sprachenpolitik Für die folgenden Abschnitte 2.1 und 2.2 wird in Analogie zur Terminologie der Lingu‐ istik auf die Unterscheidung zwischen externer und interner bzw. äußerer und innerer Geschichte zurückgegriffen. In der romanistischen Linguistik ist die Unterscheidung auf Ausführungen von Gaston Paris aus dem Jahr 1897 und Ferdinand Brunot aus dem Jahr 1906 zurückzuführen; in der Linguistik werden damit bekanntermaßen auf der einen Seite die äußeren Faktoren bezeichnet, die auf die Entwicklung einer Sprache einwirken, mithin vor allem soziolinguistische und sprachenpolitische Entwicklungen („externe Sprachgeschichte“). Auf der anderen Seite geht es um die „internen“ Entwicklungen des Sprachsystems in der Diachronie („interne Sprachgeschichte“) (einführend z. B. Berschin 2001, 628-637, Blumenthal 2003, 38-45). Mit „äußerer“ oder „externer“ Geschichte des Fremdsprachenunterrichts sollen hier entsprechend vor allem die äußeren Bedingungen und sprachenpolitischen Entwicklungen, die zu Fremdsprachenunterricht geführt und auf Fremdsprachenunterricht eingewirkt haben, bezeichnet werden (also z. B. die Frage: „Wann bestand für welche romanischen Sprachen in welchen Kontexten besonderes Interesse? “), mit „innerer“ oder „interner“ Geschichte des Fremdsprachenunterrichts Fragen der Ent‐ wicklung der Unterrichtsverfahren und -methoden im Verlauf der Geschichte. Über die im Folgenden zitierten Beiträge, insbesondere auch diejenigen von Herbert Christ und Marcus Reinfried, hinaus kann grundlegend in die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts einführend auch auf Hüllen 2005 sowie auf das kürzlich überarbeitet veröffentlichte Vorlesungsskript von Herbert Christ aus dem Jahr 1994 verwiesen werden (Christ 2020); weiterhin sei auf Bände wie Christ/ Coste 1990 und das fortlaufende Periodikum Documents pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde der SIHFLES - Société Internationale pour l’Histoire du Français Langue Etrangère ou Seconde (mit jährlichen monographischen Themenschwerpunkten, seit 1988) insbesondere für die Vertiefung einzelner Aspekte der Geschichte des Französischunterrichts verwiesen. 2.1.1 Motive und Ziele der Fremdsprachenaneignung (Schwerpunkt: romanische Sprachen) - 2.1.1.1 Ziele und Methoden von Fremdsprachenunterricht Warum erlernt man Fremdsprachen und seit wann erlernt man romanische Sprachen als Fremdsprachen? Wann waren welche - insbesondere romanische - Sprachen im deutschen Sprachraum als Fremdsprachen aus welchen Gründen für Lernende attraktiv und wie wurden sie gelehrt und gelernt? Diesen Fragen versucht der folgende Abschnitt <?page no="84"?> als historische Grundlegung einer Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen nachzugehen. Grundsätzlich kann man, sehr vereinfacht gesprochen, seit dem Altertum je zwei Ziele des Fremdsprachenlernens und zwei grundlegende methodische Herangehensweisen an das Lernen und Lehren von Fremdsprachen feststellen: Fremdsprachen wurden entweder in Hinblick auf den unmittelbaren praktischen Nutzen erlernt (z. B. Kaufleute, fremdsprachige Arbeitsumgebung, z. B. Germanen im Umfeld des Limes/ römischer Siedlungen oder deutsche Kaufleute im Italien des Mittelalters) oder mit dem Ziel von Bildung im Sinne der Entwicklung und Bereicherung der eigenen Persönlichkeit (zu verschiedenen Bildungs‐ konzepten mit Blick auf den Unterricht der romanischen Sprachen vgl. das Kapitel 3). Bezogen auf Methoden des Fremdsprachenlehrens und -lernens kann man feststellen, dass sich über die Jahrhunderte hinweg einerseits schwerpunktmäßig kommunikativ-praktische Methoden entwickelt haben, die häufig auch immersiv im Sinne eines „Sprachbades“ in der jeweiligen Fremdsprache sind (z. B. die Heranführung junger Römer an das Griechische durch griechische Kindermädchen im antiken Rom oder das Französischlernen von Kindern des deutschsprachigen Adels bei französischen Erzieherinnen), andererseits eher theoretisch-abstrakte, von Grammatik- und Vokabelunterricht ausgehende Methoden (z. B. das systematische Vertiefen des Griechischen beim grammaticus im antiken Rom oder die von den altsprachlichen Gymnasien beeinflusste sog. Grammatik-Übersetzungs‐ methode des beginnenden neusprachlichen Unterrichts an deutschen weiterführenden Schulen des 19. Jahrhunderts). Beide methodische Dimensionen können entweder in einem Bildungsgang (vgl. Griechisch in Rom: „Frühgriechisch“ bei Amme und Kindermädchen, dann systematisches Studium bei litterator, grammaticus, rhetor) oder auch in einer eigenen Methodenkonzeption (vgl. die sog. „Vermittelnde Methode“ im Fremdsprachenunterricht des 20. Jahrhunderts, s. u.) miteinander verbunden sein. Tendenziell eignen sich die immersiv-situativ-kommunikativen Herangehensweisen eher für unmittelbar praktische Zielsetzungen (z. B. der Französischunterricht an höheren Mädchenschulen des 19. Jahr‐ hunderts), die abstrakter-regelformulierenden Methoden wurden häufiger, etwa als Vorlauf zur Lektüre inhaltsstarker literarischer oder philosophischer Texte, mit Zielen der Bildung assoziiert (vgl. die o. g. Gliederung des römischen Schulwesens für das Jugendalter oder den Französischunterricht an den humanistischen Gymnasien im 19. Jahrhundert). Eine ausschließliche Zuordnung einer der beiden methodischen Dimensionen zu je einer der beiden Zieldimensionen von Fremdsprachenlernen und -unterricht kann jedoch nicht erfolgen (vgl. auch den tendenziell pragmatisch orientierten „neokommunikativen“ Fremd‐ sprachenunterricht an allgemeinbildenden Schulen der heutigen Zeit, der in letzter Instanz durchaus Bildung intendiert). Auch können beide Zieldimensionen miteinander verknüpft sein: So lernte etwa der deutsche Adel im Mittelalter und der Frühen Neuzeit Fremdspra‐ chenunterricht zunächst im Sinne einer Art (Allgemein-)Bildung, jedoch war späterer praktischer Nutzen auf Reisen durch Europa, die z. B. politischen Zielen dienen konnten, keineswegs ausgeschlossen. Ebenso will der heutige allgemeinbildende Fremdsprachen‐ unterricht etwa an Gymnasien natürlich neben einer allgemeinen Bildung zugleich auf praktische Erfordernisse im Privat- und ggf. späteren Berufsleben vorbereiten. Diese grundsätzlichen Dimensionen, vor deren Hintergrund die im Folgenden beschriebenen Entwicklungen zu verstehen sind, lassen sich graphisch wie folgt veranschaulichen: 84 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="85"?> Grundlegende Dimensionen des Fremdsprachenunterrichts Zieldimension methodische Dimension Bildung Praxis immersiv-kommunikativ theoretisch-abstrakt Abb. 13: Grundlegende Ziel- und methodische Dimensionen des Fremdsprachenunterrichts (eigene Darstellung) Johannes Müller-Lancé hat auf der Grundlage der Auswertung verschiedenster Quellen folgende Sprachauffassungen von (Fremd-)Sprachen herausgearbeitet, die Motivationen zum (Fremd-)Sprachenlernen bieten können (Müller-Lancé 2000): ● Sprache als Medium von Bildung, ● Sprache als Repräsentantin einer Religion, ● Sprache als Rahmenbedingung, an die man sich anzupassen hat, ● Sprache als Mittel, um individuelle Kontakte zu knüpfen, ● Sprache als Forschungsobjekt. (vgl. Synopse in Müller-Lancé 2000, 48) All diese grundlegenden Situationen und Auffassungen von (Fremd-)Sprachen waren im Laufe der Zeit auch für die romanischen Sprachen oder zumindest für das Lateinische im deutschen Sprachraum relevant, z. B. sind Motive aus dem Bereich „Sprache als Medium von Bildung“ seit der Renaissance für das Lateinische, später aber auch für das Französische und Italienische zutreffend, als Repräsentantin einer Religion wurde das Lateinische in den mittelalterlichen Klosterschulen gelehrt und gelernt, und diese Motivation trifft noch heute beispielsweise auf (Lehramts-)Studierende der Theologie zu, die Italienisch lernen, um ein Auslandsjahr in Rom zu verbringen. Schon zu Zeiten des römischen Reichs war das Lateinische eine der sprachlichen Rahmenbedingungen, an die sich beispielsweise germanische Händler anzupassen hatten, ebenso wie später das Französische als höfische Sprache eine gesetzte Gegebenheit war oder das Italienische noch heute für Studierende der Musik kaum zu umgehen ist. Individuelle Kontakte wurden etwa von den Kaufleuten des Mittelalters in der jeweiligen romanischen Sprache - zunächst waren hier vor allem Italienisch und Französisch, dann auch Spanisch relevant - geknüpft und Sprache als Forschungsobjekt ist immer dann Motiv des Fremdsprachenlernens, wenn etwa ein Linguist sich mit einer romanischen Sprache nur um des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses willen beschäftigt (vgl. Müller-Lancé 2000, bes. 48, ergänzt um eigene Beispiele). Dabei ist auch eine Überlagerung und Kombination verschiedener Sprachauffassungen und Motive möglich. - 2.1.1.2 Interesse für romanische Sprachen im deutschen Sprachraum In historischer Perspektive kann grundsätzlich festgehalten werden, dass es grundlegende Sprachaneignungsprozesse immer dann gegeben hat, wenn verschiedensprachige Men‐ schen aufeinandertrafen. Dies betrifft beispielsweise auch die Situation in den germani‐ 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 85 <?page no="86"?> schen Provinzen des römischen Reichs, für die seit langem bekannt ist, dass über die Grenze, den so genannten Limes, hinweg Handelsaustausch stattfand. Es muss also hier zu frühen lateinisch-germanischen Sprachkontakten und zumindest rudimentären Sprachaneignungsprozessen gekommen sein. Von der Aneignung romanischer Sprachen kann in der Natur der Sache begründet nicht vor Herauskristallisierung und Ausdifferenzierung dieser Sprachen als vom Lateini‐ schen unabhängig wahrgenommener Volkssprachen ausgegangen werden. Wir wissen inzwischen, dass dies langwierige, zeitlich und geographisch sich überlagernde bzw. divergierende Prozesse des Sprachwandels waren (einführend z. B. Kiesler 2018, vertie‐ fend z. B. Banniard 1997, Adams 2007). Nicht selten sind Zeugnisse, welche die Sprach‐ geschichtsschreibung als erste Zeugnisse einer romanischen Sprache als Volkssprache bezeichnet, letztlich Dokumente der Auseinandersetzung mit einer Fremdsprache (z. B. die volkssprachlichen Glossierungen lateinischer Texte, die offensichtlich intuitiv nicht mehr komplett verständlich waren, z. B. die „Glosas emilianenses“ und „Glosas silenses“ aus dem 10./ 11. Jahrhundert für das Spanische, vgl. Wolf 1991). Allerdings sind diese so genannten ersten Zeugnisse einer jeweiligen romanischen Sprache nur zufällige, der Überlieferung und mitunter auch der Interpretation der sprachlichen Daten geschuldete In‐ dizien für die oben angedeuteten langen, komplexen Entwicklungen (einführend in solche Texte aus romanistisch-linguistisch-hochschuldidaktischer Perspektive u. a. Müller-Lancé/ Kropp/ Siebel/ Stöckl 2021). Durch das gesamte Mittelalter hindurch war in Westeuropa letztlich einzig das Lateini‐ sche als Fremdsprache, die auch als Verkehrssprache diente, relevant. Konrad Schröder bringt dies wie folgt prägnant auf den Punkt: „Insgesamt aber bleibt das vorreformatorische West-, Mittel- und Nordeuropa ein Sprachraum mit nur einer Fremdsprache: der interna‐ tionalen Sprache Latein“ (Schröder 2017, 107). Dennoch gab es, zeitlich und räumlich teils begrenzt, Anfänge eines Erlernens auch der so genannten Volkssprachen als Fremdspra‐ chen. Marcus Reinfried etwa sieht Anfänge des Unterrichts in modernen Fremdsprachen in Europa v. a. im England und im Flandern des späten Mittelalters, wo Französisch gelernt wurde (Reinfried 2016, 620). Weiterhin wurden im deutschen Sprachraum ab dem 13. Jahrhundert Französisch und Provenzalisch als „höfische Kultursprachen“ relevant (Schröder 2017, 107, vgl. einführend z. B. Reimann 2006b, weiterführend Kramer 1992, bes. 45-5). In den deutschen Handelsstädten unterrichteten so genannte (muttersprachliche) Sprachmeister im 15. und 16. Jahrhundert vor allem Französisch und Italienisch (Reinfried 2016, 620). Bis ins 17. Jahrhundert war Italienisch in Deutschland mit und allenfalls nach dem Französischen die am meisten nachgefragte Sprache. Das Französische war ab dem 17. Jahrhundert in Deutschland die am weitesten verbreitete Fremdsprache (und hatte in dieser Rolle spätestens jetzt endgültig das Italienische abgelöst), das Spanische, das im 16. Jahrhundert zunächst an Bedeutung gewonnen hatte - ohne eine Verbreitung wie das Französische und das Italienische zu erzielen - verlor seit Beginn des 17. Jahrhunderts an Ansehen (vgl. z. B. Voigt 1998, Lehberger 2003, Reimann 2009b). Wurden im Mittelalter die romanischen Sprachen v. a. von Adeligen und Kaufleuten erlernt, so wurde im 18. Jahr‐ hundert verstärkt auch eine kulturelle Elite als Zielgruppe von Fremdsprachenlehrwerken und -unterricht adressiert (vgl. z. B. Christmann 1992, Reimann 2009b). Bürgerliche Kreise erlernten ab dem 18. Jahrhundert zunehmend moderne Fremdsprachen, und zwar 86 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="87"?> allmählich auch in institutionalisiertem Kontext. Beachtenswert ist, dass in gebildeten Schichten eine Lesekompetenz im Französischen weit verbreitet gewesen sein muss: Gut 13 % der in Verzeichnissen in Deutschland lieferbarer Bücher gelisteten Titel waren in den 1760er Jahren in französischer Sprache verfasst (Reinfried 2014, 258, mit weiterführender Bibliographie). Neben dem ohnehin etablierten Französischen waren auch zwei andere große romanische Sprachen und ihre Kulturen im deutschen Sprachraum präsent, man denke an die Verbreitung des Italienischen etwa in Weimar, die in der Publikation einer italienischsprachigen Zeitschrift, der Gazzetta di Weimar, kulminierte (vgl. Stammerjohann 1999, Traiser 2011, zur deutschen Italien-Rezeption dieser Zeit insgesamt einführend z. B. Hausmann 1996). Auch das Spanische oder zumindest die spanische Literatur in deutscher Übersetzung war in dem kulturellen Zentrum, das Weimar schon in jener Zeit darstellte, gegenwärtig (einführend z. B. die Beiträge in Briesemeister/ Wentzlaff-Eggebert 2003). Eine bedeutende Rolle spielte hierbei der Verleger und Buchhändler Friedrich Justin Bertuch, der u. a. auf Wieland, Goethe und Herder Einfluss hatte und 1780 bis 1782 drei Bände eines „Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur“ herausgab (z. B. Bertuch 1780: v. a. Texte von Quevedo, Lope de Vega, Cervantes und Camões, Bertuch 1782: v. a. Texte von Lope de Vega, Cervantes, zum Inês-de-Castro-Stoff, u. a. von António Ferreira sowie „Fragmente aus der Portugiesischen Geschichte und Literatur“, vgl. den Hinweis in Schröder 1980 ff., III, 542 (= Quelle Nr. 542), einführend zu Bertuch als Vermittler spanischer Kultur vgl. auch Heymann 1989). Eine Rehabilitation des deutschen Spanien-Bildes zeich‐ nete sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts ab und wurde u. a. durch die Spanien-Reise Wilhelm von Humboldts mit seiner Familie in den Jahren 1799 und 1800 geprägt: Die Reise hatte eine außerordentliche geistesgeschichtliche Bedeutung für die Formung des neuen deutschen Spanienbildes. Bisher brachten Italienreisen die entscheidenden Bildungserfahrungen. Mit Caroline und Wilhelm von Humboldt trat eine Wende ein. (Briesemeister 1996/ 2004, 85) Insgesamt stand die Nachfrage nach dem Spanischen in den ersten Jahrhunderten des belegten Fremdsprachenlernens und -lehrens im deutschen Sprachraum deutlich hinter der nach Französisch und Italienisch zurück. Portugiesisch spielte kaum eine Rolle. Zeugnisse über das Erlernen des Rumänischen sind beinahe inexistent. Parallel zu diesen Entwicklungen blieb bis ins 18. Jahrhundert hinein das Lateinische als Umgangs- und Publikationssprache der Gelehrten und der Wissenschaft dominant (vgl. z. B. Schröder 2017, 108). Einen Einblick in die Bedeutung der einzelnen romanischen Sprachen bis ins Jahr 1800, auch im Vergleich zum erst seit dem 18. Jahrhundert allmählich und seit dem 19. Jahrhundert verstärkt bedeutsamen Englischen, gibt eine quantitative Auswertung der Zahl der Nennungen einzelner Sprachen in einer großen Sammlung von Quellen zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts im deutschen Sprachraum, der Linguarum recentium annales (Schröder 1980 ff.): 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 87 <?page no="88"?> Abb. 14: Romanische Sprachen und Englisch in den Linguarum recentium annales (eigene Darstellung) Mit der Etablierung des staatlichen Schulwesens im 19. Jahrhundert konnte sich zunächst Französisch als wichtigste Fremdsprache durchsetzen, und wurde als solche seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert allmählich vom Englischen abgelöst. Italienisch und Spanisch waren v. a. als Wahlfächer („Arbeitsgemeinschaften“) seit dem 19. Jahrhundert präsent. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden Italienisch und Spanisch zu vollwertigen Wahlpflichtfächern, die seit der Jahrtausendwende verstärkt auch in den Bereich der 2. Fremdsprache vordringen können. Dennoch bleibt Französisch an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland mit Abstand die am zweithäufigsten nach dem Englischen erlernte Fremdsprache (an den beruflichen Schulen ist indes das Spanische inzwischen stärker als das Französische). Portugiesisch ist als Schulfremdsprache noch immer kaum existent, ein Zustand, der angesichts der Verbreitung dieser Sprache - Sprecherzahlen, geographische Verbreitung, neben Europa und Brasilien gerade auch in Afrika und Asien, wirtschaft‐ liche Bedeutung Brasiliens für Deutschland (vgl. z. B. Reimann 2017c) - durch künftige Bildungspolitik und Lehrergenerationen geändert werden sollte. Eine richtungsweisende Entscheidung hat diesbezüglich der Hessische Landtag im Jahr 2021 getroffen, durch die Portugiesisch (neben Arabisch) ab dem Schuljahr 2023/ 2024 in Hessen nicht nur als 3., sondern auch als 2. Fremdsprache an Realschulen und Gymnasien angeboten werden kann. In der entsprechenden Beschlussvorlage liest man mit Blick auf das Portugiesische: Der Landtag stellt fest, dass Portugiesisch zu einer der Sprachen mit der weltweit größten Verbreitung zählt. Es gehört wie Polnisch zu einer der 24 Amtssprachen der Europäischen Union. Der Landtag begrüßt daher die Pläne, das schulische Fremdsprachenangebot um das Fach Portugiesisch zu erweitern und hierfür in einem ersten Schritt Kerncurricula für Portugiesisch als 2. Fremdsprache im Bildungsgang der Realschule sowie als 2. und 3. Fremdsprache im gymnasialen Bildungsgang (Sekundarstufe I) zur Verfügung zu stellen, sodass das Fach ab dem Schuljahr 2023/ 2024 angeboten werden kann. In einem zweiten Schritt werden Kerncurricula für die gymnasiale Oberstufe für das Fach Portugiesisch entwickelt. (Hessischer Landtag 2021, 1) Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Möglichkeit in Hessen genutzt werden und Vorbild‐ wirkung für andere Bundesländer ausüben wird. Auch das Rumänische ist als Schulfach praktisch inexistent - auch diese Tatsache sollte innerhalb der Europäischen Union und angesichts der Tatsache, dass Rumäninnen 88 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="89"?> und Rumänen inzwischen eine der größten Bevölkerungsgruppen in Deutschland mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit darstellen (inzwischen größte romanophone Bevölke‐ rungsgruppe in Deutschland, selbst größer als die Zahl der Italienerinnen und Italiener, bei gleichzeitig sehr niedrigem Altersdurchschnitt (32 Jahre, Stand 31.12.2018, vgl. Destatis 2020a)), in künftigen (fremd-)sprachenpolitischen Entwürfen überdacht werden (vgl. Rei‐ mann 2021a). Einen Einblick in die aktuelle Verbreitung der romanischen Sprachen in der deutschen Schullandschaft geben die jährlichen Datenreihen des Statistischen Bundesamts, zusammengefasst in der Statistik „Schüler/ -innen mit fremdsprachlichem Unterricht“ (Destatis 2019): Einen Einblick in die aktuelle Verbreitung der romanischen Sprachen in der deutschen Schullandschaft geben die jährlichen Datenreihen des Statistischen Bundesamts, zusam‐ mengefasst in der Statistik „Schüler/ -innen mit fremdsprachlichem Unterricht“ (Destatis 2023a und 2023b): Allgemeinbildende Schulen Σ Englisch 6.951.899 Französisch 1.290.246 Latein 538.808 Griechisch 10.022 Spanisch 495.889 Italienisch 46.334 Russisch 90.716 Türkisch 34.128 Sonstige Sprachen 80.027 Berufliche Schulen - Englisch 1.299.245 Französisch 49.361 Latein 2.358 Griechisch 73 Spanisch 111.707 Italienisch 3.927 Russisch 8.694 Türkisch 256 Sonstige Sprachen 10.391 Abb. 15: Schülerinnen und Schüler mit Fremdsprachenunterricht im Schuljahr 2021/ 2022 (eigene Darstellung, Quellen: Destatis 2023a und 2023b) 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 89 <?page no="90"?> Französisch ist an den Schulen insgesamt und insbesondere an den allgemeinbildenden Schulen also noch immer mit Abstand die am häufigsten erlernte romanische Sprache (ca. 1,3 Millionen Schülerinnen und Schüler), gefolgt von Spanisch, das mit knapp einer halben Million Schülerinnen und Schülern also etwa ein Drittel der Lernerkontingente des Französischen aufweisen kann - und im Übrigen immer noch hinter dem Lateinischen mit ca. 550.000 Schülerinnen und Schülern rangiert. Allerdings ist zu bemerken, dass das Spanische in den letzten Jahren seine Schülerzahlen weiter stetig ausbauen konnte, während die meisten anderen Sprachen tendenziell jährlich einige Prozentpunkte verlieren. Das Italienische ist mit etwas unter 50.000 Schülerinnen und Schülern inzwischen deutlich hinter das Spanische zurückgefallen, Portugiesisch wird in der Statistik nicht eigens aus‐ gewiesen (vgl. auch Kap. 2.1.2.9, zu Portugiesisch vgl. Reimann 2017c). Im berufsbildenden Bereich ist inzwischen Spanisch mit Abstand die verbreitetste romanische Sprache. Ein wenig anders gestaltet sich die Situation bei einem Blick in den Bereich der Erwachse‐ nenbildung: Hier ist Spanisch die am häufigsten nachgefragte romanische Sprache, gefolgt von Italienisch, während Französisch nur auf Platz 3 rangiert. Es fällt auf, dass der Abstand zwischen Spanisch und Italienisch hier deutlich geringer ist als im schulischen Bereich, d. h., dass das Italienische in der Erwachsenenbildung als verhältnismäßig beliebte Sprache gelten darf. Die Abstände zwischen Spanisch und Italienisch sowie zwischen Italienisch und Französisch sind in etwa vergleichbar. Portugiesisch rangiert wiederum deutlich hinter den anderen Sprachen, das Lateinische, das wiederum als Vergleichswert berücksichtigt wird, spielt in der Erwachsenenbildung in der Natur der Sache begründet keine größere Rolle. Die vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung bereitgestellten Zahlen für das Jahr 2019 weisen folgende Kurszahlen und Stundenzahlen aus (2021, 79): Sprache Kurse Unterrichtsstunden […] - - Deutsch als Fremdsprache 61.506 6.144.200 Englisch 42.034 1.078.226 […] - - Französisch 14.768 363.614 Italienisch 16.815 409.540 […] - - Latein 415 8.750 […] - - Portugiesisch 1.271 30.702 […] - - Spanisch 20.494 515.333 Abb. 16: Kurse und Unterrichtsstunden an Volkshochschulen im Jahr 2019 (eigene Darstellung in Anlehnung an Huntemann et al. 2021, 79) 90 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="91"?> 2.1.2 Geschichte der romanischen Sprachen als schulische Fremdsprachen in Deutschland - 2.1.2.1 Frühes und hohes Mittelalter: Latein als Sprache des Klerus, Französisch und Italienisch als Sprachen des Adels Im frühen Mittelalter entstanden im Kontext der Karolingischen Reform auch in den Gebieten, die heute als deutschsprachig gelten, erstmals Klosterschulen, über die das Lateinische zur ersten im germanophonen Sprachraum systematisch gelehrten Fremd- und Bildungssprache wurde (vgl. z. B. Hüllen 2005, 29 ff.). Kipf/ Liebsch 2021 veranschaulichen dies aus altsprachlich-didaktischer Perspektive wie folgt: Die Anfänge des Schulfachs Latein reichen in Deutschland bis ins frühe Mittelalter zurück. Die ersten Schulen waren Klosterschulen, in denen Latein als allgemeine Unterrichtssprache gesprochen und gelehrt wurde […]. Daher kann Latein auch als das älteste Unterrichtsfach Deutschlands bezeichnet werden: Latein, die „Vatersprache des Mittelalters“ (Langosch […]), bildete das Zentrum des gesamten mittelalterlichen Schulwesens. Nur wer diese Sprache in Wort und Schrift beherrschte, erhielt vollen Zugang zum kirchlichen Leben und zu den Bildungsgütern, die an Kloster-, Kathedral- und Domschulen sowie seit dem Spätmittelalter auch an den städtischen Schulen vermittelt wurden […]. (Kipf/ Liebsch 2021, 10) Das Erlernen der romanischen Sprachen als Fremdsprachen in Europa lässt sich zunächst für den Fall des Französischen in England rekonstruieren, und zwar für die Zeit, in der die Verbreitung des Französischen bereits wieder abnahm, aufgrund der Bedeutung dieser Sprache aber immer noch ein Bedarf an Französischkompetenzen bestand. Marcus Reinfried bringt das wie folgt auf den Punkt: Etwa ab 1200, als der ohnehin auf bestimmte Familien begrenzte Gebrauch des Französischen im englischen Alltag abzunehmen begann, bildete sich allmählich eine Nachfrage nach durch Sprachmeister angeleitetem Lernen aus […]. (Reinfried 2020, 19) Ein weiterer Schwerpunkt des Französischlernens lag in Flandern, dessen Händler intensiv mit frankophonen Gebieten in Kontakt waren (vgl. ebenfalls Reinfried 2020, 19, jeweils mit weiterführender Bibliographie). Für den deutschsprachigen Raum ist im Mittelalter noch kein systematischer Franzö‐ sischunterricht belegt (vgl. z. B. Kramer 1992, 131 f., Kuhfuß 2014, 46 f.). Johannes Kramer formuliert prägnant, dass „Frankreich zum Kulturzentrum des Hochmittelalters wurde“ (Kramer 1992, 47). Insbesondere im zweiten Kreuzzug ab 1147 intensivierten sich die Kontakte zwischen französischen und deutschen Rittern, die französische Kultur und Sprache galten zunehmend als vorbildlich (z. B. Thiele 1993, Kuhfuß 2014, 48). In der Folge ist davon auszugehen, dass es beispielsweise in adeligen Familien bereits Hofmeister gab, die mit der Vermittlung der französischen Sprache betraut waren, und dass eine Aneignung der französischen Sprache in diesen Kreisen nicht gänzlich unüblich war. Nur so lässt sich die Präsenz der französischen Sprache und Kultur im deutschsprachigen Adel erklären, die in literarischen Texten der französischen und deutschen Literatur teilweise explizit benannt wird, und die sich weiterhin u. a. in der umfangreichen Rezeption der französischen und (alt-)okzitanischen bzw. provenzalischen Literatur durch deutsche 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 91 <?page no="92"?> Dichter des Mittelalters (schwerpunktmäßig zwischen 1170 und 1230, Kuhfuß 2014, 45), in französischen und provenzalischen Elementen in Texten der mittelhochdeutschen Literatur sowie in zahlreichen, teilweise auch bis heute überdauernden sprachlichen Einflüssen des Französischen auf das (Mittelhoch-)Deutsche manifestiert (vgl. Dorfeld 1892, bes. 1-3, Kramer 1992, 45-55, 131 f., Reimann 2006b, bes. 53-56). Neben frühen lexikalischen Entlehnungen wie etwa ade, Chance, falsch oder fehlen ist z. B. das Verbalsuffix -ieren auf französisch -ier zurückzuführen. Auch deutsches -lei beispielsweise in mancherlei, allerlei lässt sich auf französisches -leye < L lege - „nach Art von“ zurückführen und wurde bereits im 13. Jahrhundert ins Mittelhochdeutsche entlehnt (vgl. Reimann 2006b, 54 f., mit weiterführender Bibliographie). Mit dem Verfall der höfischen Gesellschaft kommt es auch zu einer Reduktion des Einflusses der französischen Sprache und Kultur in Deutschland, der allerdings durch die zunehmenden internationalen Handelsbeziehungen des Bürgertums allmählich kompensiert wurde (s. u., Kap. 2.1.2.2, vgl. Reimann 2006b, 55). Das Mittelalter mit einem Schwerpunkt im 12./ 13. Jahrhundert darf also, ungeachtet des in Quellen nicht wirklich belegten Französischunterrichts, als eine Zeit spürbarer Präsenz des Französischen zumindest in einzelnen Schichten der Gesellschaft des deutschsprachigen Raumes gelten (vgl. Reimann 2006b, 56). Walter Kuhfuß kommt zu folgendem Schluss: Dennoch kann man grosso modo annehmen, dass trotz des allmählichen Niedergangs des Rit‐ tertums und seiner wirtschaftlichen Basis der Einfluss des Französischen in Deutschland sich in den Oberschichten bis weit in das 14. Jh. erhielt, dann aber zugunsten des italienischen Einflusses zurückging. (Kuhfuß 2014, 47) Im Mittelalter (und bis in die Neuzeit hinein) wurden die romanischen Sprachen neben dem Lateinischen zunächst also insbesondere in den Adelshäusern im Privatunterricht erlernt, teilweise auch schon in einem Alter, in dem man heute z. B. von „Frühfranzösisch“ oder „Frühitalienisch“ sprechen würde. In der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. aus dem Jahr 1356 liest man: […] Quapropter statuimus, ut illustrium principum, puta regis Boemie, comitis Palatini Reni, ducis Saxonie et marchionis Brandemburgensis electorum filii vel heredes et successores, cum verisimiliter Theutonicum ydioma sibi naturaliter inditum scire presumantur et ab infantia didicisse, incipiendo a septimo etatis sue anno in gramatica, Italica ac Sclavica linguis instruantur, ita quod infra quartum decimum etatis annum existant in talibus iuxta datam sibi a deo gratiam eruditi; cum illud non solum utile, ymmo ex causis premissis summe necessarium habeatur, eo quod ille lingue ut plurimum ad usum et necessitatem sacri Romani imperii frequentari sint solite et in hiis plus ardua ipsius imperii negocia ventilentur. […] Daher verfügen wir, dass der erlauchten Kurfürsten, nämlich des Königs von Böhmen, des Pfalzgrafen bei Rhein, des Herzogs von Sachsen und des Markgrafen von Brandenburg, Söhne oder Erben und Nachfolger - da man als wahrscheinlich voraussetzt, dass sie die ihnen angestammte deutsche Sprache kennen und von Kindheit an gelernt haben - von ihrem siebenten Lebensjahr an in der lateinischen, der italienischen und der tschechischen Sprache unterrichtet werden, so dass sie bis zum vierzehnten Lebensjahr, je nach der ihnen von Gott verliehenen Begabung, damit vertraut seien; denn dies wird nicht nur für nützlich, sondern aus obgenannten Gründen für höchst notwendig erachtet, weil diese Sprachen am meisten für den Gebrauch und Bedarf des 92 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="93"?> heiligen römischen Reiches angewendet zu werden pflegen und weil in ihnen die wichtigsten Reichsgeschäfte verhandelt werden. (zit. nach Müller 1957, 99; vgl. Jung 2001, 45 f.) Im Folgenden wird den Kurfürsten freigestellt, ob sie ihren designierten Nachfolgern zum Spracherwerb Privatunterricht in verschiedenen Formen oder aber einen Auslandsaufent‐ halt angedeihen lassen wollen: […] relinquatur optioni parentum, an filios, si quos habuerint, seu proximos, quos in principatibus sibi credunt verisimiliter successuros, ad loca dirigant, in quibus de huiusmodi possint linguagiis edoceri, vel in propriis domibus pedagogos instructores et pueros consocios in hiis peritos eis adiungant, quorum conversatione pariter et doctrina in linguis ipsis valeant erudiri. […] Es sei der freien Wahl der Eltern überlassen, entweder, wenn sie Söhne haben, diese, andernfalls die nächsten Verwandten, von denen sie annehmen, dass sie ihnen in ihren Fürstentümern voraussichtlich nachfolgen werden, an Orte zu senden, wo sie diese Sprachen erlernen können, oder ihnen in ihren eigenen Häusern sprachenkundige Erzieher, Lehrer und Gespielen zu geben, damit sie gleichermaßen durch Umgang und Unterricht diese Sprachen erlernen können. (ebd.) Die Reise gerade auch junger Adeliger in fremdsprachliche Gebiete oder auch der „Kinder‐ tausch“ mit längeren Auslandsaufenthalten u. a. zur Fremdsprachenaneignung war im hohen Mittelalter fester Bestandteil der adeligen Bildung. Sie diente der Pflege diplomati‐ scher Beziehungen einerseits, der Anbahnung - politisch opportuner - Ehen andererseits (z.-B. Kuhfuß 2014, 47 f.). Walter Kuhfuß charakterisiert das Phänomen wie folgt: Die Adeligenreise war im 14. und 15. Jh. bereits ein Teil der internationalen Kommunikation der Höfe untereinander und hat dadurch zu einer gesamteuropäischen Kultur beigetragen. […] Bekannt ist das Beispiel Elisabeths von Bayern, die 1385 Karl VI. in Amiens heiratete und dadurch Königin von Frankreich wurde. Sie brachte eine Reihe von bayerischen Hofdamen mit, dazu ihre Entourage inklusive Koch, Kaufleuten und Finanziers, was zu einer festen bayerischen Kolonie gegen 1400 in Paris führte. Z.T. heirateten die Hofdamen in Paris, wie ihre Amme Katharina […] französische Edelleute, siedelten sich dort fest an oder wechselten wieder nach Ingolstadt zurück. So war die herzogliche Kanzlei 1422 in der Lage, Briefe auf Französisch zu schreiben und französische Briefe zu beglaubigen. (Kuhfuß 2014, 47 f.) Parallel zu diesen Formen des Kontakts mit Fremdsprachen sind seit dem hohen Mittelalter Handelskontakte gerade auch nach Italien überliefert. So ist z. B. in Genua und Venedig, aber auch in Südfrankreich die Präsenz (süd-)deutscher Kaufleute seit dem 12. Jahrhundert belegt (Meyer 2006, bes. 34, 38), im 13. Jahrhundert waren die Messen in der französischen Champagne für deutsche Kaufleute eine bedeutende Anlaufstation (Kuhfuß 2014, 49), spätestens im 14. Jahrhundert bestanden auch Handelsbeziehungen nach Spanien. Erste deutsche Handwerker sind beispielsweise Ende des 13. Jahrhunderts in Barcelona belegt (Meyer 2006, 38). Zu den intensiven Beziehungen Süddeutschlands zu Italien und Spanien seit dem Mittelalter vgl. z. B. Körner/ Schuller 2010 und Riepertinger 2010 (zu Bayern und Ita‐ lien), Kapp/ Hausmann 1991 (speziell zu Nürnberg und Italien), Briesemeister 2004 (zu Deutschland und Spanien), Bauer/ Herbers/ Kuhn 2006 (mit Fallbeispielen zu Oberschwaben und Spanien) sowie Pöppel 2017 (zu Bayern und Spanien). Detaillierte Fallstudien und 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 93 <?page no="94"?> Einzelbetrachtungen zu Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenlernen im süddeutschen Raum am Beispiel der Städte Augsburg und Nürnberg liefert die umfassende Studie Glück/ Häberlein/ Schröder 2013; dort u. a. zur Chronologie der Handelsbeziehungen (z.-B. Augsburg und Nürnberg zunächst tendenziell nach Italien, Oberschwaben - u. a. die so genannte Große Ravensburger Handelsgesellschaft - zunächst zur iberischen Halbinsel, in der Folge dann auch dort z. B. Vertreter Nürnbergs usw., vgl. bes. Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 14-40; weiterhin untersuchen Glück/ Häberlein/ Schröder u. a. folgende Aspekte im Detail: die Lehre junger Kaufleute im Ausland, Studien und Bildungsreisen im Ausland, die Rolle der Sprachmeister, für den Fremdsprachenunterricht relevante Bildungsinstitutionen sowie Sprachlehrwerke). - 2.1.2.2 Spätes Mittelalter: Romanische Sprachen als Sprachen des internationalen Handels Für das Mittelalter dürfen darüber hinaus das Lateinische als Sprache der Gelehrten und des Adels, mitunter auch der Kaufleute (z. B. Voigt 1998, 25), sowie sich in Kontaktsituationen herauskristallisierende linguae francae als die überwiegenden Kommunikationsmittel in alltäglichen Sprachkontaktsituationen gelten. So diente etwa im späten Mittelalter im Mittelmeerraum bis einschließlich im Nahen Osten das Italienische - mitunter in einer vereinfachten Form - als lingua franca (Schuchardt 1909, Kramer 2004, bes. 80 f.; prägnant einführend in die Bedeutung des Italienischen außerhalb Italiens über die Jahrhunderte vgl. z. B. Reutner/ Schwarze 2011, 219-238). Dieses vereinfachte Italienisch, das durch die muttersprachlichen Sprecher als foreigner talk, also als für Nicht-Muttersprachler (mut‐ maßlich) verständlich überformt wurde, konnte auch durch spanische oder französische Elemente ergänzt werden (Kramer 2004, 81 f.). Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass dieses lingua-franca-Italienisch auch z. B. in Portugal präsent war (Kramer 2004, 81). In Portugal selbst bildete sich seit dem 15. Jahrhundert besonders in Lissabon ein entsprechendes lingua-franca- oder Handels-Portugiesisch heraus, das mitunter gezielt an afrikanische Gefangene vermittelt wurde, auf lange Sicht in den Kontakten von Portugiesen mit Afrikanern und Asiaten eingesetzt wurde, aber auch als Verständigungsmittel zwischen Europäern verschiedener Herkunft dienen konnte, ähnlich wie zuvor das Italienische (Naro 1978, Kramer 2004, 78 f., 79 f., 82 f.). Ein über Einzelfälle hinausgehender, sich allmählich intensivierender Unterricht der romanischen Sprachen - und zwar insbesondere des Französischen und des Italienischen - begann im späten Mittelalter als Privatunterricht. Zielgruppen waren zunächst hohe Adelige wie auch Kaufleute, also Angehörige geographisch mobiler Gruppen, die diese Fremdsprachenkenntnisse auf ihren Reisen benötigten und anwenden konnten (vgl. z. B. Reinfried 2017a, 34, Kuhfuß 2014, 47 ff.). Punktuell sind auch deutsch(sprachig)e Studie‐ rende und Gelehrte in der Romania des Mittelalters belegt, so etwa Hermannus Alemannus im 13. Jahrhundert im Kontext der „Übersetzerschule“ von Toledo oder zahlreiche Studie‐ rende an den italienischen Universitäten v.-a. ab dem 14.-Jahrhundert (s.-u., vgl. z.-B. Voigt 1998, 23, Christmann 1992, 47). Die Entwicklung der Städte seit dem 13. Jahrhundert führte dazu, dass sich einzelne Zentren als Metropolen des Handels etablieren konnten, in denen sich für die Notwendig‐ keiten des internationalen Austauschs u. a. neben den Lateinschulen auch private Schulen 94 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="95"?> und öffentliche, bürgerliche Handelsschulen entwickelten (z. B. Decke-Cornill/ Küster 2015, 60; exemplarische Einzeluntersuchungen zu einer (hier reichs-)städtischen Lateinschule sowie zu ihrer Lehrerschaft liegen mit den Studien Bauer 1979 und 2012 für den Fall Rothenburgs ob der Tauber vor). Grundsätzlich war zwar das Lateinische noch immer nicht nur Sprache der Gelehrten, sondern auch Verkehrssprache des Handels. Wenn entsprechende Lateinkenntnisse aber nicht vorhanden waren, mussten Kaufleute auf die Volkssprachen (Decke-Cornill/ Küster 2015, 60, mit weiterführender Bibliographie) oder eben die von ihnen abgeleiteten linguae francae zurückgreifen. Burkhard Voigt beschreibt die frühen Fremdsprachen-Aneignungsprozesse in der Zeit vor Verbreitung des Buchdrucks wie folgt: Der Lernprozeß war direkt, erfolgte von Person zu Person und wurde nur wenig durch zusätzliche Hilfsmittel (Bücher) unterstützt, wenn wir auch annehmen dürfen, daß Vokabellisten und Notizen von Anfang an beim Auswendiglernen und Wiederholen eine Rolle gespielt haben. Das Aneignen der Kulturtechniken des Lesens und des Schreibens war in hohem Maße standesgebunden und die über das Medium der Schrift erworbenen Fremdsprachenkenntnisse demzufolge äußerst selten. Unterschiede zwischen Männern und Frauen lassen sich hinsichtlich des Sprachenlernens in dieser Zeit nicht nachweisen. Zwar war der Unterricht an Lateinschulen, wo diese existierten, ausschließlich jungen Männern vorbehalten, in Klöstern gab es jedoch auch für Frauen vergleich‐ bare Lernmöglichkeiten. (Voigt 1998, 24) Die Anfänge der als national wahrgenommenen Volkssprachen und intensivere Handels‐ kontakte, die dann ein Fremdsprachenlernen erforderlich machten, kann man an der Schwelle zur Frühen Neuzeit ausmachen: Renaissance und Reformation heben die Volkssprachen ins Bewusstsein und schaffen damit die Voraussetzungen für das heutige vielsprachige Europa. Fortschritte in Hygiene (Steinbau‐ weise, Wasserqualität) und Medizin verlängern die Lebenserwartung zumindest der gehobenen Schichten. Die neue Planbarkeit des Lebens führt zu einem veränderten Lebensgefühl und im Gefolge zu verstärkten Anstrengungen politischer, gewerblicher und wissenschaftlicher Natur. Der entstehende Frühkapitalismus lässt den Fernhandel aufblühen; da die potentiell wirksamste Sprache des Handels die des Handelspartners ist, werden solche Sprachen als Lerngegenstand interessant. (Schröder 2017, 107 f.) So gewann mit den Handelsbeziehungen zu Italien gerade unter den Kaufleuten spätestens ab dem 15. Jahrhundert fremdsprachliche Kompetenz zunehmend an Bedeutung. Hier galt ein Primat der Mündlichkeit mit dem Ziel der praktischen Anwendbarkeit (vgl. Gorini 1997, 31 ff.). Die Italienischkenntnisse wurden v. a. durch längere Auslandsaufenthalte erworben (vgl. z. B. Schröder 1980 ff., I, 2). Schon 1342 ist ein Deutscher zum Sprachstudium in Venedig „causa adiscendi linguam“, also um die Landessprache zu erlernen, belegt (Gorini 1997, 20, Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 57, mit weiterführender Bibliographie). Aber auch andere ober- und mittelitalienische Städte wie etwa Florenz oder Lucca konnten Ziel sein, ein Nürnberger Kaufmannssohn wurde beispielsweise 1460 bereits im Alter von zehn Jahren für fünf Jahre „hinauß gesandt gen Florenz, da welsch lernen reden“ (Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 61, mit weiterführender Bibliographie). Der Fondaco dei Tedeschi, die Handelsniederlassung der deutschen Kaufleute, in Venedig war spätestens vom 15. 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 95 <?page no="96"?> bis in die Anfänge des 17. Jahrhunderts sozusagen Pflichtstation des Nachwuchses der oberdeutschen Kaufmannsfamilien, auch mit Blick auf eine sprachliche Grundausbildung (einführend z.-B. Häberlein 2010, hier bes. 125 f.). Abb. 17: Der Fondaco dei Tedeschi als früher Ort des deutsch-italienischen Austausches (und des Italienischlernens durch deutsche Jugendliche), Kupferstich von Raphael Custos aus dem Jahr 1616, Quelle: Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 15) Das Sprachbuch des Adam von Rottweil, das 1477 in Venedig erschien, ist das erste überlieferte Lehrbuch des Italienischen für deutschsprachige Lernende (vgl. Christmann 1992, 47). Es wurde bereits 1479 in der Universitätsstadt Bologna neu aufgelegt (ebd., zum Einsatz des Sprachbuchs des Georg von Nürnberg aus den 1420er Jahren ggf. auch für deutschsprachige Italienischlernende vgl. Glück/ Morcinek 2006 und hierin bes. Schröder 2006, 52 f.; weiterführend zum Deutschen als Fremdsprache bei Italienern vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert vgl. Glück 2018). Die Bedeutung Italiens und des Italienischen für den Handel spiegelt sich auch in den zahlreichen Italianismen, die insbesondere im 15. Jahrhundert Einzug ins Deutsche hielten, wie z. B. Bank, Konto, netto oder Rest, Schmöe 1998, 35, insgesamt überblickend zu Italianismen im Deutschen bis ins frühe 20. Jahrhundert Schmöe 1998, 27-64). Auch für das Französische ist ein zunehmender Bedarf 96 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="97"?> an unterrichtlicher Fremdsprachenaneignung in den deutschen Städten festzustellen, die den intensivsten internationalen Handel betrieben (z.-B. Kuhfuß 2014, 54). Bezogen auf die Auslandsaufenthalte des oberdeutschen Kaufmanns-Nachwuchses zwi‐ schen dem 15. und beginnenden 17. Jahrhundert kommt die umfassende Untersuchung Glück/ Häberlein/ Schröder 2013 u.-a. zu folgenden Ergebnissen: Zunächst besuchten die Kaufmannslehrlinge deutsche und lateinische Schulen in ihrer Heimat‐ stadt […]. Auf diesen Schulbesuch folgte im Regelfall ein mehrjähriger Auslandsaufenthalt, der dem Spracherwerb sowie der Aneignung kaufmännischer Kenntnisse diente. […] In den meisten Fällen begann die Kaufmannslehre zwischen dem 13. und 16. Lebensjahr. […D]ie Kenntnisse moderner Fremdsprachen, die oberdeutsche Kaufmannssöhne erwarben, [waren] primär praktischer Art. Während Latein im Schulunterricht vermittelt wurde, eignete man sich fremde Sprachen vor Ort und in der Alltagskonversation mit den Lehrherren und deren Familien, mit einheimischen Händlern und Rechenmeistern an. Ein Zeitraum von zwei bis drei Jahren wurde offenbar als ausreichend erachtet, um in einer Fremdsprache „zuereden gantz fertig“ zu werden, wie Marx Pfister es formulierte […]. [Weiterhin] tritt in den Beispielen die Dominanz des Italienischen als Leitsprache des kommer‐ ziellen Sektors klar zutage. Insbesondere in den Lebensläufen Augsburger Kaufleute stand ein Italienaufenthalt fast unweigerlich am Anfang der beruflichen Laufbahn. […] Eine erhebliche Bedeutung hatte auch die Ausbildung im französischen Sprachraum, für die die Messestadt Lyon zwar ein wichtiges Zentrum war, aber längst nicht so dominant wie Venedig für die Ausbildung in Italien. (Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 71, mit weiteführender Bibliographie) Insgesamt scheint ein Aufenthalt in Frankreich oder auf der iberischen Halbinsel für die süddeutschen Handelsstädte Nürnberg und Augsburg weniger obligatorisch gewesen zu sein als ein Italienaufenthalt, mitunter wurde ein solcher Aufenthalt an eine vorausgegan‐ gene Lehrzeit in Italien angehängt (vgl. Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 63-70, z.-B. 63). Über die (angehenden) Kaufleute hinaus scheinen die deutschen studentischen Kollek‐ tive besonders in Bologna (seit dem 14. Jahrhundert), Padua, Siena und Pavia (seit dem 15. Jahrhundert) eine weitere bedeutende Gruppe potentieller Italienischlernender gebildet zu haben (Christmann 1992, 47). Auch die französischen Universitäten - allen voran Paris (vgl. den Quartier Latin), aber auch Orléans, Bourges und Poitiers - zogen bis zu den ersten deutschen Universitätsgründungen Ende des 14. Jahrhunderts zahlreiche deutsche Studierende an (Kuhfuß 2014, 55). In Spanien sind im Umfeld der so genannten „Übersetzerschule von Toledo“ seit dem 13. Jahrhundert deutschsprachige Wissenschaftler belegt (Voigt 1998, 23; sehr anschaulich vergleichend quantifizierend für die Fälle Nürn‐ berger und Augsburger Studierender Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 99-102, 127 ff.). Allerdings dürften diese Aufenthalte frühestens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu nennenswerten Aneignungen der Volkssprachen geführt haben, vorher muss man von den Universitäten und universitären Zirkeln als „lateinischen Sprachinseln“ ausgehen (vgl. Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 93-135, bes. 94 f.). Tatsächlich wurde z. B. 1588 in Siena der erste Lehrstuhl für Italienisch als Fremdsprache (Cattedra di toscana favella) eingerichtet - und zwar speziell für die zahlreichen deutschen Studierenden, die dort lebten und studierten. Dieser Lehrstuhl existierte bis 1743, die Lehrveranstaltungen waren wohl auch für Angehörige anderer Sprachgruppen geöffnet (vgl. z. B. Troncarelli 2018, 301). 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 97 <?page no="98"?> Hiermit wurde im weitesten Sinn der Grundstein für die heutige Ausländeruniversität Siena/ Università per Stranieri di Siena gelegt. Seit dem ausgehenden Mittelalter sind nicht nur Italien-Aufenthalte von Adeligen, Kaufleuten und Handwerkern belegt, sondern auch Spanien-Aufenthalte durch eben diese Gruppen. So gibt es z. B. Quellen, die beschreiben, wie der spätere pfälzische Kurfürst Friedrich II. um 1500 im Alter von etwa 18 Jahren im Gefolge des spanischen Königs durch Frankreich und Spanien gereist und dabei gut Spanisch gelernt habe (vgl. Schröder 1980 ff., I, 003). Unter den Kaufleuten in Spanien sind v. a. Händler aus den norddeutschen Hansestädten zu verzeichnen, aber auch aus den süddeutschen Wirtschaftszentren (z. B. Ravensburg, Augsburg, Nürnberg, Ulm, vgl. exemplarisch z. B. Meyer 2006, Haberer 2006). In der Folge sind auch auf die iberische Halbinsel emigrierte Handwerker und punktuell Bildungsreisende mit dem Ziel iberische Halbinsel belegt (z. B. Hieronymus Münzer aus Nürnberg) (Voigt 1998, 25 f.; zur Reise dieses Mediziners und Humanisten, der zuvor in Italien studiert und während eines weiteren Aufenthaltes Italien bereist hatte, durch Spanien und Portugal in den Jahren 1494-1495, sowie zu den (v. a. süddeutschen) Personengruppen und Einzelpersonen, die er auf der iberischen Halbinsel antreffen konnte, vgl. weiterführend Herbers 2006; weiterhin zu Deutschen in Portugal und insbesondere in Lissabon im 15./ 16. Jahrhundert vertiefend Hendrich 2007, bes. 35 ff., 169 ff.). Wie in Italien erfolgte der Spracherwerb hier v. a. durch Immersion, ggf. aber zusätzlich auch durch systematische Unterweisung in der Heimat und in den lokalen Handelsniederlassungen und Kontoren (vgl. Voigt 1998, 25). Der Historiker Klaus Herbers beschreibt die Bevölke‐ rungsgruppen, die als Vermittler fremder Kulturen um 1500 in Frage kamen, wie folgt: Neben dem Studium klassischer, seit dem 15. Jahrhundert zunehmend auch geographisch-kos‐ mographischer Schriften, gab es nur einen eingeschränkten Personenkreis, der durch Mobilität dazu beitrug, auch Fremdes im eigenen Land bekannt zu machen. Zu dieser Gruppe gehörten vorzugsweise Adlige in diplomatischer Mission oder auf Repräsentationsreise, Pilger, Bau- und Kunsthandwerker, Kaufleute, Studenten, aber auch Geistliche, wenn sie nach Rom […] reisten. (Herbers 2006, 11) Im Wesentlichen hält Kuhfuß für das Französische drei „Traditions- und Motivationslinien“ (Kuhfuß 2014, 56) fest, die zur Aneignung des Französischen als Fremdsprache geführt haben, und die, wie dargestellt wurde, im weitesten Sinne auch für das Italienische, mit Einschränkungen auch für das Spanische und das Portugiesische gelten dürften: 1. Der Fremdsprachenerwerb der sozialen Oberschichten, die damit Prozesse des Kulturtransfers ermöglichen und befördern. In einer Art Erinnerungskultur werden die kulturellen Produkte und Praktiken im 16. Jh. in Deutschland in den gleichen sozialen Milieus wieder modisch und verhelfen dabei auch dem Französischen zu neuer Bedeutung. […] 2. Durchgehend bleibt der Bedarf nach einem auf den grenzüberschreitenden Handelsverkehr gerichteten Spracherwerb für die Bewältigung von Beruf, Fernhandel und Reisen erhalten. Der Kaufmann und der Reisende wollten in der Landessprache kommunizieren und das hieß vor allem, den mündlichen Gebrauch der Fremdsprache aus praktischen Gründen zu erlernen. […] 3. Schließlich gibt es eine noch weniger deutlich ausgeprägte Traditionslinie des akademischen Erwerbs der französischen Sprache. Auch ein darauf aufbauender Französischunterricht hat 98 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="99"?> eine besondere Zieldimension: die gelehrte Bildung. Der einheitliche europäische Bildungs‐ raum für Kleriker und Gelehrte war zwar in Wort und Schrift noch fest an die lateinische Sprache gebunden […]. An Schriftlichkeit orientierte gelehrte Bildung wurde in größerem Umfang zu einem Motiv für das Erlernen der modernen Volkssprache Französisch erst, als im 16. Jh. die einheitliche europäische Kulturlandschaft begann, sich in Einzelräume aufzulösen, und die französische Sprache begann, sich systematisch die Regeln zu geben, die Lerner und Lehrer für eine gebildete Vermittlung der modernen Fremdsprachen benötigten. […]. (Kuhfuß 2014, 56 f.) Entsprechend macht etwa Voigt für das ausgehende Mittelalter und für die Frühe Neuzeit folgende Gruppen von potentiellen Spanischlernenden aus (wobei sich diese Gruppen im Wesentlichen auch auf die anderen romanischen Sprachen übertragen lassen): 1. Wallfahrer und Pilger 2. fahrende Ritter und Adlige 3. Kaufleute, Händler, Seefahrer 4. Handwerker, Baumeister und Künstler als Emigranten 5. Gelehrte und Bildungsreisende (Humanisten) 6. Abenteurer, Söldner, Flüchtlinge u.-a. (Voigt 1998, 24) Die Bedeutung der einzelnen Gruppen dürfte je nach Sprachraum und Zeitpunkt leicht unterschiedlich gewesen sein (vgl. z. B. die Bedeutung Italiens vor den Entdeckungen des Kolumbus, die Bedeutung Spaniens danach - und die emblematische Tatsache, dass die Reisen des Genuesen Kolumbus nicht etwa von der einst mächtigen Republik Genua, sondern - nach langen Aufenthalten auf der iberischen Halbinsel, vor allem in Portugal - vom spanischen Königshaus finanziert wurden). So war etwa für den Kontakt zum Spanischen, aber auch zum Französischen, die Wallfahrt nach Santiago de Compostela bedeutsam, wenngleich im Regelfall wohl eher auf sprachkundige Begleiter denn auf eine sprachliche Vorbereitung der Reise gesetzt wurde (vgl. Voigt 1998, 24 f.). Gelehrte und Bildungsreisende zog es schon früh gerade auch nach Italien, während Spanien noch in der Neuzeit „nicht zu den üblichen Zielen der Cavalierstouren und Bildungsreisen“ gehörte (Briesemeister 1989, 3), usw. - 2.1.2.3 Frühe Neuzeit - Fremdsprachenunterricht im Humanismus unter den Vorzeichen des Buchdrucks In der Frühen Neuzeit wurden unter den Vorzeichen des Renaissance-Humanismus und der Reformation - mit Blick auf den unmittelbaren Zugang zum Originaltext der Bibel - auch erstmals Hebräisch und Griechisch (z. B. Reuchlin, Melanchthon) sowie später auch Latein als gelehrte „alte“ Sprachen erlernt (vgl. Hüllen 2005, 41; exemplarische Beiträge zum Unterricht der alten Sprachen in der Frühen Neuzeit versammelt z. B. der Band Korenjak/ Schaffenrath 2010). Mit der Renaissance erzielte die kulturelle, aber auch die wirtschaftliche Bedeutung Italiens einen Höhepunkt (vgl. z. B. Reinfried 2014, 257). Anfang des 16. Jahrhunderts hielt man „in Deutschland […] noch das Italienische für die schönste und feinste Sprache“, während es für Französisch „noch wenig praktisches Interesse“ gab (Waldinger 1981, 44). In Deutschland wurde im 16. Jahrhundert also noch immer vor allem Italienisch, dann Französisch, und erst dann Englisch und Spanisch erlernt (z. B. Lehberger 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 99 <?page no="100"?> 2003, 610). Das Italienische konnte sich allerdings an den Bildungseinrichtungen als Unter‐ richtsfach zunächst nicht etablieren: In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts finden sich zunehmend Bekundungen eines institutionalisierten Unterrichts in den neueren Sprachen, wobei das Französische bereits eine Vorrangstellung innehatte, die sich im 17. Jahrhundert weiter verstärkte (vgl. z. B. Kramer 1992, 59 f., 132 f., Neumeister 1999, 25; Lehberger 2003, 610; Minerva/ Reinfried 2012, 23 f., Reinfried 2014, 257). Infolge der Verbreitung des Buchdrucks waren seit dem 16. Jahrhundert mehrsprachige Wortschatzlisten/ Glossare und praktische „Sprachführer“ (u. a. sog. „Dialogbücher“) im Umlauf, die u. a. auch Deutsch und die romanischen Sprachen, besonders auch Italienisch, Französisch und Spanisch, beinhalteten (z. B. Voigt 1998, 26-28). Zentrum der Produktion waren zunächst die spanischen Niederlande, dann Italien, Frankreich und England, später auch Deutschland. Die Zahl der Italienisch-Lehrwerke blieb hinter der Zahl der Französisch-Lehrwerke zurück (Reinfried 2014, 257, mit weiterführender Bibliographie). Das früheste überlieferte u. a. auf das Spanische bezogene „Lehrbuch“ Vocabulario para aprender Franches, Espannol y Flaminco stammt aus dem Jahr 1520 (Voigt 1998, 27, mit weiterführender Bibliographie). Das erste mehrsprachige Glossar, das u. a. auch das Sprachenpaar Deutsch und Spanisch enthält, wurde erst von Franciscus Garonus 1533 in Venedig herausgegeben (Voigt 1998, 27, vgl. das deutsch-italienische Sprachbuch des Adam von Rottweil bereits von 1477, sowie das des Georg von Nürnberg von 1424, s. o. Kap. 2.1.2.2). Solche Vokabularien enthielten neben einer - bisweilen thematisch-situativen - Zusammenstellung von Wortschatz häufig u.-a. Dialoge, aber auch Musterbriefe und -dokumente für das Geschäftsleben, Gebete und Erklärungen zu Aussprache und Grammatik (vgl. z. B. Voigt 1998, 28). Insgesamt darf man keine mit heutigen Verhältnissen vergleichbaren Auflagenzahlen und entsprechende Verbreitung erwarten. Burkhard Voigt bringt dies wie folgt auf den Punkt: Die Auflagen der Bücher waren klein und die Produkte teuer. Nur Begüterte oder von ihnen unterhaltene Bibliotheken (Klöster, Fürstenhöfe) konnten sich die Luxusware Buch leisten. Die Sprachlernbücher, die nun in gedruckter Form konsultiert werden konnten, entstanden größten‐ teils nicht in Deutschland und waren im wesentlichen für Bildungseliten geschrieben. (Voigt 1998, 26) Das Spanische erfuhr erstmals im 16. Jahrhundert unter Karl V. größere Beachtung, als Spanien zu einer Weltmacht wurde und spanische Mode und Sitten insbesondere in den Grenzgebieten zu den Spanischen Niederlanden vorbildlich wurden (vgl. z. B. Voigt 1998, 26, Reinfried 2014, 258, Reinfried 2016, 620). Burkard Voigt formuliert, dass die zunehmende Beachtung Spaniens, mithin des Spanischen einerseits und die Möglichkeiten des Buchdrucks andererseits die Beschäftigung mit dem Spanischen im 16. Jahrhundert begünstigten (Voigt 1998, 26). Dietrich Briesemeister hat am Beispiel des Spanischen im 16. Jahrhundert detailliert herausgearbeitet, dass die intensivierte Beschäftigung mit einer (Fremd-)Sprache und eine verstärkte Auseinandersetzung mit der jeweiligen Literatur sowie eine intensivierte Übersetzungstätigkeit aus der jeweiligen Sprache unmittelbar verwoben sind (Briesemeister 1989, vgl. Briesemeister 2004, 440-459). So konstatiert er als Ausgangspunkt seiner Dokumentation zu einer Vorgeschichte der Hispanistik in Deutschland prägnant: „Sprachlehre und die dazugehörigen Hilfsmittel (Wörterbücher, Sprachführer, Grammatiken), spanische Landeskunde und literarische Übersetzertätigkeit 100 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="101"?> entwickeln sich in gegenseitiger Abhängigkeit im Verlauf des 16. Jahrhunderts“ (Briese‐ meister 1989, 1, einführend in die Übersetzungen aus dem Spanischen im 16. Jahrhundert vgl. auch Voigt 1998, 30). Dennoch erlangte Spanisch seinerzeit bei weitem nicht die Bedeutung, die das Französische und das Italienische als Fremdsprachen in Deutschland genossen (vgl. z. B. Reinfried 2014, 258; zum Spanischunterricht in Europa insgesamt, mit Schwerpunkten z. B. in den Niederlanden ab der Mitte des 16. Jahrhunderts und in Italien, besonders dem spanisch dominierten Neapel, auf der Grundlage einer systematischen Auswertung von Erscheinungsjahren und -daten entsprechender Lehr-/ Lernmaterialien Niederehe 1992). Von mehreren Adeligen und Gelehrten um 1600 wird überliefert, dass sie - sicherlich nicht bis zur Perfektion - nicht nur über Kenntnisse im Französischen und Italienischen, sondern eben auch im Spanischen verfügten, z. B. Landgraf Moritz von Hessen-Kassel („Graece et latine exacte, hispanice, italice et gallice novit“, Schröder 1980 ff., I, 060), der Theologe, Jurist und Kurfürstliche Rat Hartger von Henot aus Köln („Die von ihm in griechischer, lateinischer, spanischer, italienischer, französischer und deutscher Sprache mit kalligraphischer Schönheit und Zierlichkeit niedergeschriebenen Evangelien und Episteln“, Schröder 1980 ff., I, 076) oder Herzogin Magdalena von Bayern („Sie verstand … und redete nicht nur mehrere fremde Sprachen, als die lateinische, italienische, spanische und franzö‐ sische, …“, Schröder 1980 ff., I, 091). In diesem Sinne liest sich auch die Bestallungsurkunde des Hofmeisters des Prinzen Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg aus dem Jahr 1621, in der es heißt: Ferner soll [oben genannter] Hofmeister mit Zutun und Rat der verordneten Präzeptoren daran sein und befördern, daß Unser Sohn zu Begreif- und Lernung der lateinischen, wie auch anderer fremden und sonderlich der spanischen, französischen und italienischen Sprache, und zwar anfangs ex professio der italienischen, angewiesen und erinnert werde … (Schröder 1980 ff., I, 168) Das schon im Laufe des 17. Jahrhundert nachlassende Interesse am Spanischen wurde auch mit dem Mangel an spanischsprechenden Sprachmeistern und an entsprechenden Lehrwerken zu erklären versucht (vgl. z. B. Voigt 1998, 26 ff., Reinfried 2014, 258, Reinfried 2016, 620). Explizite Erwähnungen des Portugiesischen sind für die Frühzeit des Unterrichts der romanischen Sprachen im deutschen Sprachraum rar. Über Lukas Rem, einen Faktor der Welser in Augsburg, heißt es, er verstehe „außer seiner Muttersprache Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Flämisch“ (Dietze 1927, 9 f., bei Schröder 1980, 002). Im 16./ 17. Jahrhundert hielt das Portugiesische auch in mehrsprachigen Dialogbüchern (z. B. in Colloquia et dictionariolum von Noël de Berlaimont) und mehrsprachigen Glossaren und „Reisewörterbüchern“ Einzug (z. B. der Ductor in Linguas von John Minsheu) (Hüllen 2005, 57, 59). Erste regelrechte Sprachlehrwerke für das Portugiesische im deutschen Sprachraum sind für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt ( Johann Andreas von Jung: Portugiesische Grammatik (Frankfurt/ Oder), Abraham Meldola: Nova grammatica portugueza (Hamburg), vgl. Mühlschlegel 2011, 7). Eine zweisprachige Lexikographie des Sprachenpaares Portugiesisch-Deutsch ist erst seit dem frühen 19. Jahrhundert belegt (z. B. Endruschat/ Schmidt-Radefeld 2008, 150, weiterführend Mühlschlegel 2011). Die Motivation für das Erlernen dieser Sprachen war unterschiedlich. Konrad Schröder attestiert dem Französischen und Italienischen im deutschen Sprachraum für die damalige 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 101 <?page no="102"?> Zeit die Funktionen als „Kultur- und Handelssprachen“, dem Spanischen die der „Sprache des kaiserlichen Hofes“, und konstatiert ab dem 17. Jahrhundert zunehmendes, aber im Verhältnis geringeres Interesse am Flämischen und Englischen als Handelssprachen, wobei das Englische auch theologisch und allmählich wissenschaftlich bedeutsam wurde (Schröder 2017, 108, weiterhin einführend zum Englischen z.-B. Schröder 2010b). - 2.1.2.4 Entstehung eines Berufsstandes: Sprachmeister Infolge der Tatsache, dass ab dem 15./ 16. Jahrhundert breitere Bevölkerungskreise nach Fremdsprachenkenntnissen strebten, „eröffnete sich [den Sprachkundigen] ein neues Berufsfeld“ (Voigt 1998, 28). Die zunehmende Nachfrage kann, vor allem für das sich all‐ mählich als dominante Fremdsprache im deutschen Sprachraum etablierende Französisch, auch durch ein zunehmendes und zugängliches Angebot erklärt werden: In der Folge des Edikts von Fontainebleau aus dem Jahr 1685 (und u. a. in der Folge des im unmittelbaren Nachgang erlassenen Toleranzedikts von Potsdam), mit dem das Edikt von Nantes von 1598 widerrufen worden war, kam es zu einer Migration frankophoner Hugenotten in den deutschen Sprachraum, mithin zu einem größeren Angebot und sinkenden Preisen für den Französischunterricht. Marcus Reinfried liefert so auch eine soziologische Erklärung für die Verbreitung des Französischunterrichts ab dem 17.-Jahrhundert: Dadurch [sc. durch die Ansiedlung französischer Hugenotten] verschärfte sich in Deutschland die Konkurrenz unter den Sprachmeistern; der Privatunterricht in Französisch verbilligte sich, wurde auch für die deutsche Mittelschicht erschwinglich und immer häufiger an höheren Schulen - vorwiegend noch als kostenpflichtiger Zusatzunterricht - angeboten. (Reinfried 2020, 21) Neben das Erteilen von Sprachunterricht trat unter den Vorzeichen des sich verbreitenden Buchdrucks die Autorschaft von Sprachlehrwerken als zusätzliche Einnahmequelle der insgesamt eher dürftig, aber überlebensfähig entlohnten Sprachlehrer. Der Berufsstand des Sprachmeisters entwickelte sich. Voigt stellt prägnant dar, welche Arten von Schulen neben dem Privatunterricht bereits im 15./ 16.-Jahrhundert existierten: Meist erteilten [die Sprachmeister] Privatunterricht in wohlhabenden Bürgerhäusern oder den Residenzen des Adels, aber auch an Universitäten, Ritterakademien und illustren Gymnasien [Institutionen, die gymnasiale und sich anschließende akademische Bildung verbanden]. Der Landadel stellte für die Erziehung seiner Kinder Hofmeister ein, die neben der Unterweisung in der Fechtkunst, Fahnenschwingen, Piken, Spielen, Tranchieren, Voltigieren und im Tanzen (ars saltatoria) auch für den Unterricht in den neueren Sprachen zuständig waren. In den größeren Städten etablierten sich nun auch private Sprachschulen, die vom Entgelt der Eleven unterhalten wurden. (Voigt 1998, 28 f.) Weiterführend zum Berufsstand der Sprachmeister gerade auch mit Blick auf das Franzö‐ sische kann auf den Band Häberlein 2015 mit verschiedenen Einzelbeiträgen verwiesen werden; Aspekte des Wirkens und des Werkes des aufgrund seiner Publikationen be‐ deutenden, u. a. für Französisch, Italienisch und Spanisch v. a. in Nürnberg tätigen Sprachmeisters Matthias Kramer (1640-1729) beleuchtet der Band Häberlein/ Glück 2019 (speziell zu Kramers Dialog über die Lehrmethode des Französischen vgl. Schröder 1992a, 102 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="103"?> weiterführend zum Berufsstand des Sprachmeisters vgl. auch Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 137-208) . - 2.1.2.5 Das 17.-Jahrhundert und die Etablierung des Französischen Noch immer waren die Fürstenresidenzen und Adelshöfe bedeutende Zentren des Fremd‐ sprachenstudiums (z. B. Voigt 1998, 34). Während die fremdsprachliche Erziehung von Prinzessinnen und Prinzen zunächst eher immersiv durch muttersprachliche Diener und Gouvernanten erfolgte, ist ab Mitte des 16. Jahrhunderts systematischer Privatunterricht durch so genannte Hofmeister belegt (Schröder 2017, 108). Noch im ausgehenden 16. Jahr‐ hundert ist die Unterweisung von Prinzen in der italienischen Sprache z. B. für Sachsen und Bayern belegt. So dokumentieren Quellen beispielsweise für Sachsen (um 1579): Als ein dem Prinzenunterrichte bisher fremder Unterrichtsgegenstand kam, als der Prinz reifer geworden war, die italienische Sprache in Aufnahme […] Der Unterricht wurde […] in der Hauptsache von dem Leibarzte Dr. Siegismund Kolreuter erteilt. Dieser hatte in usum delphini eine Grammatik verfaßt, die dem Herzog Christian in italienischer Vorrede gewidmet ist und nach welcher der Unterricht erteilt wurde … ‘Regoletto e Precetti della grammatica volgare raccolti insieme’[…] (Annaburg 1579). Dem Unterricht dienten auch die in der Kgl. Bibliothek [zu Dresden] noch vorhandenen […] lose eingelegten Blätter mit italienischen Gesprächen. (Schröder 1980 ff., I, 35, vgl. auch Schröder 1980 ff., I, 173) Oder für Bayern im Jahr 1587: «Der damals fünfzehnjährige Prinz Maximilian von Bayern lernt Italienisch und Französisch zu Ingolstadt bei dem Italiener Astor Leoncelli […]» (Schröder 1980 ff., I, 45, vgl. 48, 56). Keine Rarität waren Anweisungen für Hofmeister, in denen angeordnet wurde, diese sollten «befördern, dass Unsere Söhne der lateinischen, französischen und italienischen Sprache nicht vergessen» (Bestallung Wolf Dietrich von Brandts zum Hofmeister der Prinzen August und Johann Friedrich von Pfalz-Neuburg im Jahr 1598, Schröder 1980 ff., I, 77, vgl. I, 81). Für die Zeit nach 1662 ist bezüglich der Kinder des bayerischen Herzogs Ferdinand Maria Folgendes überliefert: «Italienische Ammen und Diener pflegten die kurfürstlichen Kinder, und fremde Erzieher gaben neben der durchaus französisch gebildeten Mutter den ersten Unterricht in den Sprachen…» (Schröder 1980 ff., Bd. I, 295, vgl. I, 4, 35, 36, 45, 324, 385 u.ö.). 1677 las man in der Bestallungsurkunde für die Hofmeisterin der Prinzessinnen Marie Sophie (damals 11 Jahre), Marie Anna (10 Jahre), Dorothea (7 Jahre), Hedwig (4 Jahre) von Pfalz-Neuburg, die Prinzessinnen sollten außer sonn- und feiertags jeden Tag von 15 bis 16 Uhr abwechselnd eine Stunde Französisch bzw. Italienisch studieren (Schröder 1980 ff., I, 382); eine ähnliche Anweisung galt für Leopoldine von der Pfalz, die 1692 als Dreizehnjährige an allen Werktagen Italienischunterricht erhalten sollte (Schröder 1980 ff., I, 467). Im Unterricht mit adligen Kindern kamen ab dem 16.-Jahrhundert auch Lesestoffe zum Einsatz (Gorini 1997, 32 f.). Darüber hinaus gab es zunehmend Bildungseinrichtungen, an denen ebenfalls Fremd‐ sprachen unterrichtet wurden. Werner Kuhfuß hat in seiner umfassenden Studie zur Frühzeit des Französischunterrichts folgende Typen und Institutionen des Französischun‐ terrichts für die Zeit ab etwa 1600 herausgearbeitet, die auch für den Italienisch- und - mit Einschränkungen - für den Spanischunterricht angenommen werden dürfen: ● Französischunterricht an Hofschulen (Ritterakademien, Collegium Illustre), 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 103 <?page no="104"?> ● bürgerlich-kaufmännischen Französischunterricht, ● akademischer Französischunterricht an Gymnasien, Akademien und Universitäten (Kuhfuß 2014, 157-212). Der Unterricht für adelige Jugendliche wurde v. a. ab dem 17. Jahrhundert an so genannten Ritterakademien konzentriert und institutionalisiert. Auch hier diente das Fremdsprachen‐ studium der allgemeinen Bildung, aber auch der Vorbereitung der Reisen der jungen Adligen. Der Adel war europaweit vernetzt, Reisen diente dem Erhalt oder der Anbahnung diplomatischer Beziehungen oder auch von Heiraten, die nicht selten im Dienste der Politik standen. Der Unterricht war dementsprechend situativ-alltagssprachlich und mündlich ausgerichtet und wurde durch Muttersprachler (eben die o. g. Sprachmeister) erteilt (vgl. Decke-Cornill/ Küster 2015, 62). Auch an den Gymnasien wurde Französisch unterrichtet; hier war vor allem der Vorbildcharakter der französischen Kultur Ausgangspunkt des Französischunterrichts, der somit immer auch auf (Persönlichkeits-)Bildung zielte (vgl. z. B. Kuhfuß, 138 f., 188, 199-204 (Fallbeispiel Straßburg)). Neben dem Adel und einer gehobenen Mittelschicht wurde Französisch nunmehr auch für Kaufleute und eine einfachere Mittel‐ schicht attraktiv und hielt Einzug in Mädchenschulen wie auch in Realschulen (Reinfried 2014, 258, weiterführend z. B. Kuhfuß 2014, bes. 402-475). Die Aufnahme der modernen Fremdsprachen in das Lehrangebot der Universitäten ist wiederum im Zusammenhang mit der Begründung der Ritterakademien zu sehen: Da die Ritterakademien den Universitäten zahlungskräftige adlige Studierende entziehen, stellen die Universitäten Sprachmeister an, die in Einzel- oder Kleingruppenunterricht die Fremdsprachen der Zeit vermitteln. Locker mit den Artistenfakultäten verknüpft unterrichten sie Hörer aller Fachrichtungen; einige erreichen den Professorenstatus. (Schröder 2017, 108) Insgesamt entwickelte sich im 17. Jahrhundert das Französische international zur vorran‐ gigen Sprache der Diplomatie, des Handels, des Militärs und der Verwaltung. Daher stieg die Nachfrage nach Französisch spürbar, die Ziele des vor diesem Hintergrund betriebenen Französisch-Studiums waren zunächst vor allem utilitaristischer Natur (vgl. Reinfried 2003, 143, Reinfried 2014, 258). Ende des 18. Jahrhunderts hat sich Französisch zu einer europäischen lingua franca entwickelt (Reinfried 2014, 263). Vom 17. bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Französische die in Deutschland verbreitetste Fremdsprache (z. B. Voigt 1998, 34, Reinfried 2016, 620). Marcus Reinfried umreißt die Rolle des Französischen in dieser Zeit sehr prägnant wie folgt: [Das Französische] verdankte diese Stellung v. a. der zeitweiligen Hegemonie [sc. Frankreichs] in Europa, der militärtechnischen und administrativen Führungsrolle Frankreichs, dem Ansehen der französischen Kultur. Französisch wurde zu einem besonders wichtigen Fach an allen deutschen Hofschulen und Ritterakademien, blieb aber an den typischen Lateinschulen im fakultativen, kostenpflichtigen Zusatzbereich. (Reinfried 2016, 620, mit weiterführender Bibliographie) Zugleich galt das Französische bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts im deutschspra‐ chigen Raum als moderne Bildungssprache neben dem Italienischen und Spanischen - und neben den älteren Bildungssprachen Griechisch, Latein und Hebräisch, deren Rolle unbestritten war (vgl. Roelcke 2014b, 149 f.), wenn es auch punktuell Stimmen gab, die für eine Bevorzugung des Französischen gegenüber dem Lateinischen als sprachlich und 104 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="105"?> kulturell leichter zugänglicher Fremdsprache plädierten (vgl. Roelcke 2014b, 150, 153). Der von Roelcke aus zeitgenössischen Quellen eruierte Fremdsprachenkanon des 17./ 18. Jahr‐ hunderts umfasste die genannten Sprachen in verschiedenen Kombinationen, u. a. in den Kombinationen Latein, Griechisch, Französisch und Italienisch sowie Latein, Französisch, Spanisch und Italienisch (Roelcke 2014b, 151 f., vgl. Roelcke 2014a, 331 f.; zu Prestige, Stellung und Sprachreflexion der bzw. über die alten Sprachen in Barock und Aufklärung im deutschen Sprachraum vgl. insgesamt die monumentale Studie Roelcke 2014a (auch im Kontrast zur Reflexion über die modernen Fremdsprachen), zur Sprachreflexion über das Französische Roelcke 2014b, zum Italienischen im fraglichen Zeitraum Roelcke 2011). Zunächst darf das Französische vor allem an den Höfen im Westen und Süden Deutsch‐ lands aufgrund von Erziehung, Reisen und Verwandtschaftsbeziehungen als relativ weit verbreitet gelten. Im 18. Jahrhundert wurde dann auch in geographisch weiter von Frankreich entfernten Gebieten die französische Sprache gut erlernt, wobei neben das generell anhaltende Prestige zwei weitere Faktoren traten: Zum einen die Zuwanderung frankophoner Hugenotten (v. a. auch nach Berlin), zum anderen die Tatsache, dass adelige Frauen zunehmend die französische Salonkultur nachahmten und daher auch Französisch lernten (Reimann 2006b, 57-59, mit weiterführender Bibliographie). Hinlänglich bekannt ist beispielsweise die Französisch-Kompetenz des preußischen Königs Friedrich II. (vgl. Petersilka 2005). Doch auch das Italienische und Spanische wurden im 17. und 18. Jahrhundert noch bzw. schon unterrichtet. So ist 1618 am Kasseler Collegium Illustre ein Sprachlehrer (Professor linguarum) belegt, der „nur die fremden aus der lateinischen Sprache entstandenen Sprachen, nämlich die französische, italienische und [spanische]“ lehrte (Voigt 1998, 31, vgl. Schröder 1980 ff., I, 153); um 1700 war am Gymnasium in Stuttgart „zur Erlernung des Spanischen Gelegenheit gegeben“ (Voigt 1998, 31, vgl. Schröder 1980 ff., I, 535). Trotz insgesamt allmählich abnehmenden Interesses war das Spanische im 17. Jahrhun‐ dert noch präsent, und es entstanden weitere Sprachlehrwerke. Namentlich bekannt und mutmaßlich „erste[r] deutsche[r] Verfasser einer spanischen Sprachlehre“ (Briesemeister 1989, 7) war etwa Heinrich Doergang als linguarum gallicae, italicae et hispanicae Professor in Köln, der - nach Lehrwerken für Französisch und Italienisch ab 1604 - im Jahr 1614 ein eigenes Spanisch-Lehrwerk herausgab (in lateinischer Sprache, nach der klassisch-de‐ duktiven Methode, s. u., Voigt 1998, 31, zu Doergang weiterführend z. B. Briesemeister 1989, 4-8, Briesemeister 1992/ 2004, 429-439, Kuhfuß 2014, 190-197). Die Residenzstadt München verlieh dem Spanier Sumarán bzw. Zumarán zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Titel „der löblichen Landschaft und fürstlichen Hauptstadt München in Bayern bestellter Sprachmeister“. Zumarán trat als Fremdsprachenlehrer und als Autor insbesondere eines Lehrwerks für Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch auf und verwendete nunmehr das Deutsche als Metasprache (Voigt 1998, 31, 33, Niederehe 1992, 145 f., vgl. Schröder 1980 ff., I, 166, zu Zumarán weiterführend Briesemeister 1989, 3 f., zu Lehrwerken des Spanischen des 17./ 18. Jahrhundert insgesamt Voigt 1989, 32-34 sowie vertiefend Franz‐ bach 1975). Im Jahr 1670 erschien das erste überlieferte zweisprachig deutsch-spanische Wörterbuch von Nicolas Mez (Voigt 1998, 32, vgl. 2.1.2.3 zum deutlich späteren Beginn der deutsch-portugiesischen Lexikographie erst im frühen 19.-Jahrhundert). 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 105 <?page no="106"?> 2.1.2.6 Das 18.-Jahrhundert - Französisch als erste Fremdsprache im sich etablierenden Schulwesen Im von zunehmend vernetztem Handel geprägten 18. Jahrhundert bestand insgesamt ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Bedeutung von Fremdsprachenkenntnissen (einführend in den Fremdsprachenunterricht des 18. (und 19.) Jahrhunderts vgl. Hüllen/ Klippel 2005). Burkhard Voigt beschreibt anschaulich, wie sich der Fremdsprachenunterricht tendenziell von den Adelshöfen zunächst in die private, dann in die öffentlich-institutionalisierte bürgerliche Bildung verlagerte: Demzufolge verschoben sich die Schwerpunkte des Unterrichts […] immer mehr in den Bereich des Bürgertums, und hier zunächst in die häusliche und private Sphäre oder, und dies sollte später die dominierende Tendenz werden, an öffentliche Bildungseinrichtungen. Als vorrangige Lehr- und Lernorte begannen die Fürstenresidenzen und Adelshöfe an Bedeutung zu verlieren. Ihre Stellung nahmen nach und nach die Wohnung des reichen Bürgers oder die Privatschulen ein […] Die organisatorische Abwicklung, nämlich der mit dem Sprachmeister individuell vereinbarte und von ihm privatim durchgeführte Unterricht, [wurde aus dem höfischen Kontext] als Modell übernommen, erhielt jedoch schon bald eine deutliche Akzentverschiebung. Je mehr sich die inhaltlichen Bestandteile und didaktischen Zielsetzungen dieses Unterrichts nämlich für die praktischen Zwecke des Gewerbes und Handels als wenig geeignet erwiesen und je mehr die Zahl derjenigen, die Fremdsprachen lernen wollten, zunahm, desto mehr wurde auch die Verlegung des Unterrichts an öffentliche Einrichtungen zu einer Notwendigkeit. (Voigt 1998, 34 f.) Damit verbunden war eine Akzentverschiebung der Funktion des Fremdsprachenlernens: Wurde es an den Adelshöfen - wie auch an den Gymnasien - vorwiegend als „kulturelle Bereicherung“ und als Bestandteil von Bildung erachtet, so wurde an den bürgerlichen Handelsschulen die pragmatische Dimension eines auf den Bereich der Wirtschaft ausge‐ richteten Fremdsprachenlernens prioritär (Voigt 1998, 34 f.) - eine Zielrichtung des Fremd‐ sprachenlernens, die bereits im Mittelalter in der Gruppe der Händler anzutreffen war. In Schriften, die auf die Einrichtung von Handels- („Handlungs-“) bzw. Kaufmanns-Akade‐ mien hinarbeiteten, ist daher immer wieder von „mehreren Sprachen“ die Rede; explizit wurden zumeist (in dieser Reihenfolge) Französisch, Italienisch und Latein, mitunter auch Niederländisch, benannt. In Hamburg wurde etwa 1768 eine der frühen bedeutenden deutschen Handelsschulen, das Hamburger Institut zur Erziehung und Vorübung des jungen Kaufmanns bzw. später die Handelsakademie Büsch gegründet, an der auch das Spanische zumindest phasenweise gelehrt und gelernt wurde - und zwar mit Blick auf den Handel mit Südamerika (Voigt 1998, 35, vgl. Schröder 1980 ff., III, 464). Im 17. und 18. Jahrhundert wurde indes auch der Französisch- und Italienischunterricht an den Ritterakademien (s. o., Ausbildungsstätten für adelige Jugendliche) weitergeführt (vgl. z. B. Schröder 1980 ff., I, 305 (1664), 436, 450 (1687 ff.), I, 498, III, 6 (1741), III, 54 (1744), 119 (1748); vgl. Lehberger 2003, 610). So wurde in Erlangen 1696 ein Auditorium Publicum eröffnet, aus dem sich über eine Academia Practica eine Ritterakademie entwickelte (1707); um 1700 standen auf dem Programm: Erstlich (neben Exkolierung der Muttersprache, worauf man sonderliche Reflexion macht) […] die lateinische Sprache […] Neben welcher Sprache auch andere fremde Sprachen, sonderlich die 106 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="107"?> französische und italienische, auch nach Beschaffenheit Englisch und Spanisch, [gelehrt werden sollen]. (Schröder 1980 ff., I, 533; vgl. I, 436, I, 498) Italienisch steht hier auf einer Stufe mit Französisch und deutlich vor Englisch und Spanisch. 1713 wird im deutschen Vorwort zu einer Art Programmschrift dieser Akademie die „Erlernung der vier okzidentalischen Sprachen, als Französisch, Italienisch, Spanisch und Lateinisch“ empfohlen, aus den weiteren Ausführungen wird deutlich, dass im - durch die hohe Zahl frankophoner Hugenotten in der Stadt durchaus präsenten - Franzö‐ sischen auch produktive, im Italienischen und Spanischen vor allem rezeptive Kenntnisse angestrebt wurden (Schröder 1980 ff., II, 166). Noch sind dem Quellenmaterial dieser Zeit geographische und periodische Schwankungen hinsichtlich der Präferenz einer bestimmten Sprache zu entnehmen. August Bohse, später Professor an der Ritterakademie zu Liegnitz, konstatiert z.-B. 1703 in seiner Schrift Der getreue Hofmeister: Was die französische Sprache betrifft, so ist selbige heutigen Tages allerdings auch einem Politico nötig, nachdem Deutschland mit dem ehrsüchtigen Frankreich mehr zu tun hat, als ihm lieb ist. […] Was das Italienische betrifft, dieses ist gleichfalls einem Politico heutigen Tages gar nötig, zumal, da anjetzo an vielen Höfen die italienische Sprache weit höher als die französische geachtet wird […]. Und es kostet auch, dieselbe zu erlernen, nicht so viel Mühe, als bei der Französischen. Denn das Lesen und die Pronunziation ist viel leichter, auch kommen die meisten Wörter mehr mit dem Latein überein, als in jener; daß also, wer nur ein wenig des Lateins kundig ist, in derselben gar bald fortkommen kann. […] Die spanische Sprache hat mit der italienischen große Verwandtschaft, wer also erst Italienisch kann, und sodann selbiges zu begreifen einige Zeit daran wenden will, kann bald dazu gelangen, solche verstehen zu lernen. Sie ist zwar wenig in Übung bei uns Deutschen, es müßte denn in etwa am Kaiserlichen Hofe sein. Aus ihren Schriften aber ist viel Gutes zu nehmen; zumal, was die Staatsmaximen und politischen Anmerkungen betrifft […]. (Schröder 1980 ff., II, 35; zu diesem Text vertiefend Schröder 2005, bes. 12-15) Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts zeichnete sich - neben der weiter bestehenden Dominanz des Französischen, gefolgt vom Italienischen - punktuell Interesse für das Englische ab, die Bemühungen um das Spanische nahmen indes - von den einleitend zitierten Hamburger Ausnahmen abgesehen - insgesamt ab. Martin Franzbach umreißt die Situation des Spanischen im 17./ 18.-Jahrhundert wie folgt: Spanien befindet sich auf dem Rückzug: holländische und englische Flotten beherrschen das Meer, Portugal hat sich aus der Personalunion mit Spanien gelöst [1640], die nördlichen Provinzen der Niederlande sind als unabhängige Republik anerkannt worden, Aufstände in Katalonien und Neapel [1707] erschüttern das Reich. Ungünstig für Spanien ist weiterhin die allgemeine öffentliche Meinung, die „Leyenda Negra“. Hauptangriffspunkte sind die Inquisition, die Ausbeutung der überseeischen Kolonien, Stolz, Hochmut und übertriebenes Ehrgefühl des Spaniers. (Franzbach 1975, 27; zum europäischen Spanienbild seit der Aufklärung einführend z.-B. Hinterhäuser 1979) So plädierte im Jahr 1725 der Direktor des Gymnasiums zu Zittau für das Erlernen des Französischen, Italienischen und Englischen als „galante“ Sprachen - natürlich nur nach den „Sprachen der Gelehrten“, also Latein und Griechisch (Schröder 1980 ff., II, 325), im Jahr 1726 empfiehlt Sigismund Jakob Apinus in seiner in Jena erschienenen Schrift „Vernünftiges Studentenleben“, Französisch und Italienisch zu erlernen, „weil heutzutage solche grande 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 107 <?page no="108"?> mode worden, und bei Frequentation honnêter Compagnie höchstnötig“ seien; Englisch und Spanisch seien weniger bedeutend und nur für diejenigen, „die ein Naturell und Memorie dazu haben“, zu empfehlen (Schröder 1980 ff., II, 328). Nach Reinfried 2017a (34) war Französisch im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland die meist gelernte (moderne) Fremdsprache und als solche an höheren Schulen und Universitäten etabliert, überwiegend jedoch im Bereich der optionalen Zusatzangebote an‐ gesiedelt. Französisch- und Fremdsprachenunterricht allgemein erreichten nunmehr auch das Bürgertum (vgl. z. B. Reinfried 2016, 620). Zunehmend wurde auch Italienisch an den Universitäten (vgl. die ansteigende Zahl entsprechender überlieferter Belege bei Schröder 1980 ff.), besonders ab dem 18. Jahrhundert vereinzelt auch an weiterführenden Schulen und Gymnasien unterrichtet (zum Niedergang der Ritterakademien und dem Aufschwung der Gymnasien vgl. exemplarisch Gorini 1997, 26 f.). Neumeister (1999, 27) erstellt eine aus Schröder 1980 ff. eruierte Liste der Schulen, für die zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert Italienischunterricht belegt ist. Tatsächlich muss aufgrund der sporadischen Belege ( Jah‐ reszahlen in Klammern) damit gerechnet werden, dass der Italienischunterricht ggf. nur eine vorübergehende Erscheinung darstellte. Als Beispiele mögen genügen: Gymnasium zu Ulm (1613), Gymnasium Illustre zu Stuttgart (1687, 1780, 1797), Gymnasium Christianeum zu Altona (1740), Gymnasium zu Stralsund (1772, 1779, 1787), [Gymnasium Rutheneum in Gera (1739-1759, 1776-79, 1790-1824): Schröder 1980 ff., II, 505, IV, 781], Gymnasium Casimirianum zu Coburg ([1774]: Schröder 1980 ff., IV, 114; 1780), Gymnasium bei der kurfürstlichen Universität zu Bonn (1784), Berlin-Köllnisches-Gymnasium (1796) (die Liste wurde aus Neumeister 1999 übernommen; in eckigen Klammern bei ihm nicht referierte Belege mit Angabe der Fundstelle). Um 1700 wird Italienisch am Pädagogium Halle als zusätzliches Angebot, das „außerordentliche Unkosten erforder[t]“, erst nach Französisch, aber noch vor Englisch genannt (Schröder 1980 ff., I, 534). Noch 1748 sind für Berlin und Köln neben „einem Dutzend“ französischer auch zwei italienische, aber noch kein englischer Sprachmeister belegt (Schröder 1980 ff., III, 120, vgl. auch III, 340). Im Jahr 1733 sah die Weimarische Gymnasien- und Schulordnung für das Wilhelm-Ernst-Gymnasium Weimar Französisch- und Italienischunterricht vor (Schröder 1980 ff., II, 426). Als Reaktion auf sinkende Schülerzahlen an seiner Anstalt forderte der Rektor des Gothaer Gymnasiums 1736 nicht nur eine Anhebung der Qualität des Französischunterrichts, sondern auch die Einführung des Italienischen an seiner Lehranstalt, was von der (erwarteten) Attraktivität des Faches zeugt (Schröder 1980 ff., II, 467). Noch immer war Englisch keine Konkurrenz für das Französische und Italienische. Der Zittauer Gymnasialdirektor Müller „rechnet Englisch [1725] unseres Wissens zum ersten Male zu den ,Sprachen der galanten Welt‘. Allerdings reiht er es gemäß seiner mehr nach Süddeutschland neigenden Einstellung hinter Italienisch ein, ohne aber Spanisch zu erwähnen […]“ (Aehle, zit. bei Schröder 1980 ff., II, 325). Dass die Ausweitung des Italienischunterrichts auch im Süden, der mit Baden-Württem‐ berg und Bayern heute zwei Hochburgen des schulischen Italienischunterrichts bildet, zunächst alles andere als geradlinig verlief, zeigen folgende Beispiele: 1684 wurde das Stuttgarter Pädagogium zu einem Gymnasium ausgebaut. Es wurde nach einem Franzö‐ sischlehrer Ausschau gehalten, der auch Italienisch unterrichten sollte, doch ist ein solcher erst mit Beginn des 18. Jahrhunderts belegt (Schröder 1980 ff., I, 414). Erst 1797 wurde 108 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="109"?> dann Englisch neben Französisch und Italienisch in die Stundentafel des Gymnasiums zu Stuttgart aufgenommen, nachdem Italienisch zum ordentlichen Unterrichtsfach geworden und so das Budget für einen Wahlkurs frei geworden war (Schröder 1980 ff., IV, 1138; vgl. 376, 985-987, 1086). An der Hohen Karlsschule Stuttgart, einer Art Ritterakademie, die 1770 gegründet wurde und zu deren Schülern u. a. Friedrich Schiller zählte, wurde vor allem Französisch, aber auch „seit 1773 Italienisch für Musikzöglinge und seit 1779 für Kaufleute“ angeboten. Auch Russisch, Dänisch und Polnisch standen in den folgenden Jahren punktuell auf dem Programm, Spanisch indes nicht (Schröder 1980 ff., III, 521). Ein anderer Fall ist der des Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg, wo noch 1740 der Versuch einer Reformkommission scheiterte, die Unterrichtsfächer Französisch und Italienisch in den Lehrplan aufzunehmen; erst 1767 gelang das für das Französische, für das Italienische fanden sich nicht immer genügend Schüler (Schröder 1980 ff., II, 522 und III, 431; vertiefend zum Fall des Gymnasiums bei St. Anna und zum Wirken des Hieronymus Andreas Mertens als Vorläufer des Neuhumanismus und zugleich als Schulreformator mit Blick auf die Einführung des Französischen und Italienischen an allgemeinbildenden Schulen, als (stellvertretender) Schulleiter und als Lehrer für Latein, Französisch, Italienisch, Deutsch und Geschichte vgl. Glück/ Häberlein/ Schröder 2013, 221-229). Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Lindau erwogen, in der Oberstufe der Lateinschule verstärkt Französisch und Italienisch anzubieten: In seinem Gutachten zur Reform der Schule forderte der Rektor 1765: In Prima wird Latein nur mehr für künftige Studierende gelehrt, Griechisch bloß in der Nachschule. Die übrigen Schüler werden dafür zum Rechnen, Schreiben und zur französischen und italieni‐ schen Sprache angehalten. […]. (Schröder 1980 ff., III, 393; zur Vorgeschichte dieses Gutachtens vgl. eine aus den frühen 1720er Jahren belegte, recht polemische Argumentation gegen die alten Sprachen im Lindauer Stadtrat, Schröder 1980 ff., II, 267) Die Schulordnung für das Gymnasium zu Ulm erlaubte schon seit 1613 einen Ersatz des Griechischen durch das Französische und Italienische, allerdings nur für Kinder auswärtiger Kaufleute (Schröder 1980 ff., I, 132: „Die Dispensation vom Griechischen geschieht bloß ausnahmsweise […], namentlich bei Kindern auswärtiger Kaufleute, welche die griechischen Stunden auf französische und italienische verwenden“). In München wiederum war Italienisch in dieser Zeit eine geläufige Sprache. Eine Quelle aus der Zeit um 1745 berichtet über die Situation Mitte des 18. Jahrhunderts, als G. L. Bianconi am Hofe des Kurfürsten Maximilian III. Josef von Bayern (1745-1777) weilte. Dieser habe „berichtet, daß das Italienische in München allgemein bekannt war; vom Kurfürsten selbst sagt er: ‹Indirizzategli pur la parola in italiano, giacché egli possiede perfettamente la lingua nostra›“ - man könne den Kurfürsten also bedenkenlos in italienischer Sprache anreden (Carli, zit. in Schröder 1980 ff., III, 75). Die Schulverordnung für die Kurbayerischen Lyzeen und Gymnasien aus dem Jahr 1777 sieht in § 36 fakultativen Unterricht im Französischen, Italienischen wie auch in der „Zeichnungskunst“ vor, die „in besonderen Stunden von einigen hierzu aufgestellten Lehrern für Studierende sowohl als nicht Studierende im Gymnasio zu München gelehrt [werden]“ (Schröder 1980 ff., IV, 242; vgl. 324, 451, 453); in der Kurfürstlichen Schulverordnung für die bürgerliche Erziehung der Stadt- und Landschulen in Bayern von 1778 heißt es in § 4: „In der Hauptrealschule zu München ist auch die Gele‐ 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 109 <?page no="110"?> genheit da, die französische und italienische Sprache von besonders hierzu aufgestellten Sprachmeistern zu erlernen“ (Schröder 1980 ff., IV, 277; 973). Für 1808 ist Italienisch dann im Lehrplan der bayerischen Realinstitute belegt (vgl. Waldinger 1981, 45). Das Wirken einzelner Lehrkräfte konnte dabei prägend auf einzelne Schüler wirken. So erlebte etwa der Schüler Friedrich August Wolf (1759-1824) am Gymnasium Nordhausen den Lehrer Johann Jordan Frankenstein, der ihn zum Studium des Französischen und Italienischen, dann auch des Spanischen und Englischen motivierte. Friedrich August Wolf wurde später ein bedeutender Altphilologe - immer wieder wird er als Begründer der Klassischen Philologie bezeichnet -, der zugleich für Fragen der Lehrerbildung innovierend offen war (u. a. bemühte er sich an der Universität Halle, unterrichtspraktische Versuche in das Lehramtsstudium zu integrieren, was seinerzeit keineswegs üblich war, s. o., Kap. 1.1.1.3, vgl. z. B. Neuerer 1978, 194 ff.). Über seine Schulzeit unter Frankenstein berichtet er: „Iis mensibus, quibus primum ad italicam et anglicam me applicui, nullum librum graecum ne latinum quidem in manum sumebam“ (Schröder 1980 ff., III, 531) - in den Monaten also, in denen er sich intensiv mit dem Italienischen und Englischen beschäftigte, habe er das Lateinische und das Griechische hintangestellt. Im 18. Jahrhundert blieb das Französische die Sprache des Adels, der Diplomatie und auch des Handels, das Italienische hatte als Handelssprache an Bedeutung verloren, war aber als europäische Kultursprache insbesondere auch im Bereich der Musik (Oper) und der Kunst nach wie vor europa- und damit auch deutschlandweit attraktiv - man denke an die oben exemplarisch beschriebenen Verhältnisse in Weimar und in München (vgl. weiterhin bes. 2.1.1.2, weiterführend z. B. Folena 1983, Stammerjohann 1997). Parallel entwickelte sich das Interesse am Englischen unter den Vorzeichen der (Vor-)Romantik, dessen Rolle im theologischen Bereich blieb erhalten, als Wissenschaftssprache etablierte sich das Englische zunehmend (Schröder 2017, 109). Während das Spanische gerade in Norddeutschland (mit Schwerpunkt Hamburg), aber auch in Sachsen und einigen süddeutschen Handelsplätzen wie Nürnberg und Augsburg im 18. Jahrhundert, auch als Folge des Spanischen Erbfolgekriegs (1701-1714), erneut leicht erstarkte (Voigt 1998, 35, weiterführend zum Spanischen in Deutschland im 18. Jahrhundert vgl. Franzbach 1975, bes. 27 ff.), liegen über das Portugiesischlernen in dieser Zeit nach wie vor nur spärliche Zeugnisse vor. Es scheint, als sei Portugal gerade infolge des Erdbebens und Tsunamis von Lissabon im Jahre 1755, das im ganzen Süden des Landes Zerstörungen verursachte (vgl. etwa auch den Wiederaufbau von Vila Real de Santo António an der Algarve/ Grenze zu Spanien nach der Lissabonner Baixa vergleichbaren Plänen von Pombal), ins Bewusstsein zumindest von Teilen der deutschen Bevölkerung gelangt (vgl. z. B. Scotti-Rosin 1996, 13). Michael Scotti-Rosin ordnet die in diesem Kontext entstehende Aufmerksamkeit für Portugal wie folgt ein: Das Beben von Lissabon wurde in den deutschen Periodika ausführlich kommentiert und, wie in anderen Ländern auch, unter den verschiedenartigsten Aspekten betrachtet. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Tragik, daß Portugal durch ein Naturereignis und nicht durch seine in Deutschland weitgehend unbekannten kulturellen und politischen Leistungen in den Mittelpunkt des europäischen und damit auch des deutschen Interesses gelangte. (Scotti-Rosin 1996, 13) 110 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="111"?> Im weiteren Verlauf kristallisierte sich ein gewisses Interesse an Portugal, der portugie‐ sischen Kultur und Literatur - hier insbesondere am Renaissance-Epos Lusiaden (Os Lusíadas) von Camões von 1572 - und ganz allgemein der portugiesischen Sprache kurz vor und insbesondere im Kontext der deutschen Romantik heraus. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass dieses Portugal-Interesse - anders etwa als eine sich zeitgleich entwickelnde Anglo- oder auch Frankophilie - nur relativ kleine Kreise der Bevölkerung erfasste (Scotti-Rosin 1996, 13). In einer anonym überlieferten Schrift über die „Einrichtung eines Gymnasii für junge Landeskinder, so sie sich der Handlung widmen wollen“ in Leipzig wird das Portugiesische neben fünf weiteren Sprachen explizit genannt, und zwar neben Holländisch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch (Dietze 1923, 14 f., bei Schröder 1980 ff. II, 008). In diesem Zeitraum entstanden auch weitere mehrsprachig angelegte Lehrwerke, die überwiegend auf die rezeptiven Fertigkeiten und in diesem Rahmen vor allem das Lesen ausgerichtet waren. So veröffentlichte Ignaz Weitenauer, Professor der griechischen und hebräischen Sprache an der Universität Innsbruck, in den Fünfziger Jahren des 18. Jahr‐ hunderts ein „Hexaglotton seu methodus addiscendi intra brevissimum tempus linguam gallicam, italicam, hispanicam, graecam, hebraicam et chaldaicam, ut ope lexici libros ex‐ plicare queas“, das kurze Zeit darauf in einer erweiterten Ausgabe auch das Portugiesische berücksichtigte („Hexaglotton geminum, docens linguam gallicam, italicam, hispanicam, graecam, hebraicam, chaldaicam, anglicam, germanicam, belgicam, latinam, lusitanicam, syriacam […]“, Kána 1980: 287 ff., in Schröder 1980 ff., III, 254, vgl. ebd. 343). Gleichwohl dürfte die Verbreitung des Portugiesischen gering gewesen sein. So schreibt der Hallenser Ordinarius für Philosophie und Preußische Hofrat Martin Schmeizel in seiner Schrift „Rechtschaffener Academicus oder gründliche Anleitung, wie ein Akademischer Student seine Studien und Leben gehörig einzurichten habe“ aus dem Jahr 1738 u. a. über weitere Sprachen neben der Muttersprache und den damals so genannten gelehrten Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch: Die französische [Sprache] ist wegen vieler herrlicher Bücher und wegen des fast allgemeinen Gebrauchs im bürgerlichen Leben unentbehrlich […]. Die französische [Sprache] hat sich in eine fast allgemeine Achtung und Gebrauch gesetzt, aber um die italienische bekümmern sich wenige, und um die spanische, portugiesische und englische und [die] übrigen nordischen [Sprachen], desgleichen um die ungarische und polnische, nur diejenigen, welche etwa in diese Reiche zu reisen, oder gar daselbst zu leben gedenken. (Schmeizel 1738, 546 f., bei Schröder 1980 ff., II, 486) Einer der wenigen expliziten, bei Schröder 1980 ff. erfassten Belege zum Portugiesischen betrifft die Schaumburg-Lippesche „Militär-Schule auf dem Wilhelmsteine“: Neben Fran‐ zösisch und Englisch wurden hier als Privatunterricht auch Italienisch und Portugiesisch angeboten, das Graf Wilhelm, der 1766 den Lehrplan festsetzte, auch selbst beherrscht haben soll: Lehrfächer, welche der allgemeinen Bildung dienen, waren - abgesehen von der Geographie, dem Französischen, welches die Offiziere jener Waffen schon mit Rücksicht auf ihre literarischen Bedürfnisse erlernen mussten, und vom Englischen, für welches der Graf, vermöge seiner Herkunft und seiner Erziehung und der aus dem Siebenjährigen Kriege herrührenden Waffenbrüderschaft, eine besondere Vorliebe hatte - aus dem Unterrichtsplane ausgeschlossen, doch wurden als 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 111 <?page no="112"?> Privatstudium noch andere Sprachen getrieben, so das Italienische und das Portugiesische, welche der Graf, selbst ein sehr sprachkundiger Herr, ebenso wie die erstgenannten vollständig beherrschte. (Poten 1897, 236 f., bei Schröder 1980 ff., III, 420) Auch an den Universitäten hielt das Portugiesische punktuell Einzug. In Göttingen unter‐ richtete I. Andreas Dieze nach juristischen und neusprachlichen Studien seit den 1750er Jahren Englisch, Spanisch und Portugiesisch, zuletzt als Bibliothekar und Ordinarius. In einer entsprechenden Quelle heißt es, er lehre „die Anfangsgründe der englischen, der spanischen und der portugiesischen Sprache, deren beste Schriften er so erklärt, daß man ihren Nationalgeist kennen, ihren Charakter unterscheiden lernt […] (Schröder 1980 ff., II, 244, 366 (Zitat)). Weiterhin ist etwa in Frankfurt an der Oder 1778 die Publikation einer ersten portugiesischen Grammatik überliefert (Schröder 1980 ff., IV, 298 - ausführlicher zu dieser Grammatik vgl. Scotti-Rosin 1996, 16-19), eine weitere erschien 1785 in Hamburg (Schröder 1980 ff., IV, 601, auch hierzu vgl. Scotti-Rosin 1996, 20-23 sowie Mühlschlegel 2011, 7, s. o. Kap. 2.1.2.3). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist also insgesamt ein leicht „zunehmendes deutsches Interesse an Portugal und der portugiesischen Sprache“ (s. o., vgl. Scotti-Rosin 1996, 23) festzustellen (vgl. weiterführend Kalwa 1995). Bereits für diese „Frühzeit des Fremdsprachenunterrichts“ konnte Marcus Reinfried zwei grundlegende methodische Orientierungen ausmachen (Formulierungen kombiniert aus Reinfried 2016, 621 und 2017b, 68): 1. eine deduktive, stärker theoretische, am traditionellen altsprachlichen Unterricht ausgerichtete Methodenströmung, welche vor allem die Grammatik und das Auswen‐ diglernen von (bis 1700 oft noch in lateinischer Sprache formulierten) Regeln zur Un‐ terrichtsgrundlage machte; es schlossen sich das Auswendiglernen von Beispielsetzen zu den jeweiligen grammatikalischen Inhalten sowie im Fortgeschrittenenunterricht die Lektüre von Texten an. 2. eine imitative, eher kommunikativ-praktische Methodenströmung, welche die Gram‐ matik in den ersten Lernjahren ohne Rückgriff auf das Lateinische auf das Aller‐ nötigste reduzierte, keine lateinischen Vorkenntnisse erforderte und stärker auf dem Auswendiglernen und Wiederholen von (schriftlich vorgelegten) Dialogen oder Texten in der [französischen] Zielsprache basierte. Man bezeichnet sie auch als „Lese-Übersetzungs-Methode“. (Reinfried 2016, 621, vgl. Reinfried 2014, 259) Die erstgenannten Ansätze wurden vor allem an den Universitäten praktiziert, während zweitere vor allem in Sprachkursen für Kinder, Kaufleute und in der höheren Mädchen‐ bildung zum Tragen kamen (Reinfried 2014, 260). Man kann hier auch von tendenziell immersiven Ansätzen sprechen (vgl. Schröder 2017, 109). Aus der zweiten genannten Tendenz gingen u. a. Ansätze wie die Wolfgang Ratkes, der u. a. mit dramapädagogischen Ansätzen von Beginn eines Sprachlehrgangs an arbeitete, Comenius’ wie auch die so genannte „Versinnlichungsmethode“ am Dessauer Philanthropinum hervor, welche bereits einen zielsprachlich-einsprachigen Fremdsprachenunterricht anstrebte und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Anschauungsmethode“ wieder aufgegriffen wurde (Reinfried 2014, 260-262, 2016, 621). Ab etwa 1770 darf von einer allmählichen Verstaatlichung des Schulwesens ausgegangen werden (bezogen auf das Französische z. B. Kuhfuß 2014, 477 ff.). Französisch wurde zur 112 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="113"?> bedeutendsten modernen Schulfremdsprache, die in der Regel die Position der ersten (mo‐ dernen) Fremdsprache einnahm und an den Gymnasien die einzige lebende Fremdsprache (meist als dritte Fremdsprache nach Latein und Griechisch, allmählich auch als zweite Fremdsprache nach Latein und vor Griechisch) wurde (vgl. Ostermeier 2012, bes. 65-68, 78-83, sowie einführend die Synopsen 265 ff., zur ganz unterschiedlichen Intensität des Französischunterrichts im 19. Jahrhundert vgl. weiterführend Kuhfuß 2014, bes. 548-604). Gerade an den Gymnasien entwickelte sich die so genannte Grammatik-Übersetzungsme‐ thode, die europaweit, in besonderer Intensität aber in Italien, rezipiert wurde (Reinfried 2014, 261 ff., 266, vgl. Reimann 2020c, bes. 131 f., 138 ff.). Sie fügt sich in die oben als erste genannte Strömung der deduktiv-theoretisch-abstrakten Sprachlehrmethoden ein. Ihre Anfänge werden üblicherweise mit Meidingers Practische Französische Grammatik von 1783 datiert (über 250.000 verkaufte Exemplare nur in Deutschland und Österreich bis Mitte des 19. Jahrhunderts, z. B. Reinfried 2014, 262 f.). Ihren Höhepunkt erreichte sie mit dem Französischlehrwerk von Karl Ploetz, das an den Preußischen Gymnasien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beinahe eine Monopolstellung hatte (Reinfried 2014, 266 f.). Johann Valentin Meidinger war Privat-Lehrer für Französisch und Italienisch in Frankfurt und ließ seiner französischen Grammatik von 1783 im Jahr 1796 eine Praktische Italienische Grammatik folgen, der Hamburger Lehrer für Spanisch Johann Basilius Beneke legte 1814 eine Spanische Grammatik […] ganz nach der Art der beliebten Arnoldschen englischen und Meidingerschen französischen Grammatik bearbeitet vor (Voigt 1998, 37), wodurch die Grundlage für eine weite Verbreitung der Grammatik-Übersetzungsmethode im Unterricht der romanischen Sprachen insgesamt gelegt war. Voigt 1998 hebt einige innovative und auf pragmatisch-kommunikativen Fremdspra‐ chenunterricht vorausweisende Elemente etwa in den Lehrwerken von Ahn und Ollendorf hervor (Voigt 1998, 38). Mitunter kam es auch zu innovativen Entwürfen zu Sprachenfolgen und Organisation des Unterrichts, so etwa bei dem norddeutschen Lehrer und Schulleiter, Philosophen und aufklärerischen Pädagogen Martin Ehlers in seiner Schrift „Gedanken von den zur Verbesserung der Schulen notwendigen Erfordernissen“ (Altona/ Lübeck) im Jahr 1766. Er plädierte stark für das Französische als beinahe gelehrte, nützliche und lingua-franca-fähige Sprache, deren „Geist“ zugleich eine Art „aurea mediocritas“, also einen in jeglicher Hinsicht goldenen Mittelweg, widerspiegelte. Als weitere moderne Fremdsprache empfahl Ehlers das Englische, und verwies später auf das Italienische, Spanische und Dänische, die er lediglich aus pragmatischen und schulorganisatorischen Gründen nicht vorrangig zu berücksichtigen erklärte. Für die Sprachenfolge schlug er Folgendes vor - hier werden neuere Konzepte des gleichzeitigen Einsetzens des Lateinischen und einer modernen Fremdsprache in Jahrgangsstufe 5, sprachenvernetzendes Lernen („Mehrsprachigkeitsdi‐ daktik“) und der bilinguale Sachfachunterricht, sogar in Kombination dieser Ansätze, vorweggegriffen: Man fängt unter den fremden Sprachen mit dem Lateinischen an. Hat man Schüler, die fähig, fleißig und nicht mehr gar jung sind, so macht man schon nach Verfließung eines halben Jahrs den Anfang mit dem Französischen, und diese beiden Sprachen treibt man ungefähr zwei Jahre zusammen, doch so, daß zu der lateinischen Sprache wenigstens zweimal soviele Stunden genommen werden als zur französischen. Man richte bei der französischen Sprache immer sein Augenmerk auf die 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 113 <?page no="114"?> lateinische und bei der lateinischen auf die französische und merke jedesmal die Veränderungen an, die mit einem Worte vorgegangen sind, ehe es zum französischen geworden ist […] in den erwähnten zwei Jahren werden die Schüler der französischen so mächtig sein, daß sie mit Hilfe eines Wörterbuchs jeden Schriftsteller für sich mit Leichtigkeit lesen können. Man höre alsdann auf, die französische Sprache bloß als Sprache zu treiben, und lasse die Schüler nur noch beständig Übungen im Schreiben anstellen. Damit sie aber nicht gänzlich aufhören, unter der Anführung ihres Lehrers das Französische weiterzutreiben: so kann der Lehrer anfangen, sie mit den schönen Wissenschaften bekanntzumachen […] Man setzt das Lateinische indessen immer auf gleiche Weise fort und macht sich ans Englische. (Schröder 1980 ff., III, 403) Zusammenfassend kann für die Entwicklungen vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert bezogen auf den Unterricht in den modernen Fremdsprachen im Allgemeinen und auf die verschiedenen romanischen Sprachen im Besonderen Folgendes festgehalten werden: Seit dem 18. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt der Sprachstudien zunehmend von den Adelshäusern in den bürgerlichen Privatunterricht, dann in die immer zahlrei‐ cher entstehenden öffentlichen Bürgerschulen und später an die staatlichen Schulen. Die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dominanten utilitaristischen Zielsetzungen des Fremdsprachenunterrichts (z. B. Lehberger 2003, 610, 612; vgl. z. B. Quellen in Schröder 1980 ff., II, 8) schlugen sich auch in den Lehrmaterialien nieder (z. B. Lehrbücher zum „Wirtschaftsitalienisch“) (z. B. Schröder 1980 ff., z. B. II, 93). Französisch blieb im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland die bedeutendste Fremdsprache, deutlich vor dem Englischen; leichte Schwankungen ergaben sich mit der Napoleonischen Zeit (weiterer Aufschwung) und nach dem Sturz Napoleons (sogar kurzfristige Abschaffung an staatlichen preußischen Schulen, vgl. Reinfried 2014, 263, Schröder 2017, 109). Der Umfang des Fran‐ zösischunterrichts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war jedoch überschaubar: etwa sechs bis zwölf ( Jahres-) Wochenstunden über die gesamte Schullaufbahn (Reinfried 2014, 263). Gerade durch das Verbot des Französischen als Schulfach in Preußen zwischen 1815 und den 1830er Jahren konnten sich die Alten Sprachen etablieren und die entsprechenden Stundenkontingente erweitern (vgl. Schröder 2017, 109). Spanisch hat seit Beginn des 17. Jahrhunderts (Beginn des politischen Niedergangs Spa‐ niens) zunehmend an Ansehen und Verbreitung verloren (Voigt 1998, 34). Gleichwohl zeich‐ nete sich im Norden (bes. Hamburg) schon Ende des 18. Jahrhunderts eine Bevorzugung des Englischen, mitunter des Spanischen gegenüber dem Italienischen ab (z. B. Schröder 1980 ff., IV, 1217, 1298). Als 1768 mit dem „Hamburger Institut zur Erziehung und Vorübung des jungen Kaufmanns“ die erste große deutsche Handelsschule entstand, sahen die Lehrpläne nach Französisch und Englisch das Italienische, Spanische und Niederländische noch als gleichwertige „Handelssprachen 3. Grades“ vor (Schröder 1980 ff., III, 464). Doch auch in der Schulordnung der Fürstenschule zu Meißen ist etwa gleichzeitig 1773 nach wie vor die Rede von der „Erlernung der neueren [Sprachen], als der italienischen, französischen und englischen […]“ (Waldinger 1981, 44, zit. Streubner 1914, 18; vgl. Schröder 1980 ff., IV, 85), was die immer große bzw. wieder erstarkende Rolle des Italienischen unterstreicht. Das Ansehen der italienischen Kultur und damit auch der italienischen Sprache wurde im 18. und 19. Jahrhundert durch Dichter und Gelehrte (Goethe, Herder, Humboldt), durch Kaufleute (z. B. Sigismund Streit, vgl. Schröder 1980 ff., III, 192) und Adelige (z. B. Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar) gefördert (vgl. Waldinger 1981, 45, 47 f.). 114 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="115"?> Die Lektionen wurden noch meist von Muttersprachlern erteilt, bei denen es sich um Migranten handelte, die ihre Heimat häufig aus religiösen Gründen verließen (z. B. Hugenotten auf Frankreich, Papstgegner aus Italien) (z. B. Reinfried 2016, 620, zu den sog. Sprachmeistern vgl. Kap. 2.1.2.4). Nicht selten übernahm ein französischer Sprachmeister oder ein deutscher Französischlehrer auch den Unterricht im Italienischen, später ggf. auch im Englischen. Die übliche Fächerverbindung der Lehrenden ist daher ‚Französisch/ Italie‐ nisch‘ (z. B. Schröder 1980 ff., I, 66 (1593), I, 77 (1598, L F I), I, 181 (1624), I, 219 (1634), I, 232 (1642), I, 268 (1655), I, 365 (1674), II, 76 (1706), II, 125 (1710), II, 168 (1713), II, 469 (1736), II, 505 (1739), später auch ‚Französisch/ Italienisch/ Englisch‘ (z. B. Schröder 1981 ff., II, 114 (1709), III, 373 (1764)). Mitunter ergab sich auch die Fächerkombination ‚Französisch/ Italie‐ nisch/ Spanisch‘, teils in anderen Gewichtungen (Italienisch oder Spanisch als Mutter- und offensichtlich hauptsächliche Unterrichtssprache (z. B. Schröder 1980 ff, I, 137 (1614), I, 153 (1618), I, 187 (1625), I, 231 (1642), I, 253 (1650), I, 326 (1668), I, 400 (1681), II, 92 (1707), II, 129 (1710)). Keine Einzelfälle stellen in der Überlieferung des. 17./ 18. Jahrhunderts Schulleiter dar, die, teils altphilologisch oder zumindest klassisch gebildet, den Wahlunterricht in diesen zwei bis drei Sprachen erteilten (z. B. Schröder 1980 ff., I, 329 (1668: F I durch den Rektor, E durch den Konrektor), II, 386 (1730, L Gr Hebr F I E), III, 296 (1759, F I), 414 (1766, F I E), wohl auch II, 352 (1728, F I E) (weiterführend Schröder 1980 ff. und Schröder 1987 ff.; zur Rolle der alten Sprachen im deutschen Sprachraum schwerpunktmäßig im 17. und 18. Jahrhundert, aber auch bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein vgl. die bereits erwähnte Darstellung Roelcke 2014a). - 2.1.2.7 Das 19.-Jahrhundert - Französischunterricht zwischen (alt-)philologischer Tradition und neusprachlichem Selbstverständnis Ab dem Jahr 1788 wurde an den (humanistischen) Gymnasien in Preußen das Abitur als Abschluss eingeführt. Dabei wurden u. a. bereits französische Aufsätze zu historischen, philosophischen oder auch naturwissenschaftlich-technischen Themen gefordert (Kuhfuß 2014, 591-598, Reinfried 2014, 263). Ein gewisser Rückgang der Bedeutung des Französi‐ schen zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann nicht nur mit der (nach-)napoleonischen Zeit, sondern auch mit der Französischen Revolution und den sich anschließenden Demo‐ kratie-Bewegungen in Verbindung gebracht werden. Die geringe Rolle des Unterrichts in den modernen Fremdsprachen im staatlichen Schulsystem des 19. Jahrhunderts bei gleichzeitigem hohen Stundenkontingent für die alten Sprachen kann wiederum nicht nur vor dem Hintergrund der Attraktivität der alten Sprachen unter den Zeichen des Neuhumanismus und als Distinktionsmerkmal eines entstehenden Bildungsbürgertums gesehen werden, sondern auch als Folge eines (bildungs-) politischen Vakuums, das das Französische in einer Zeit hinterlässt, in der das Englische noch nicht bedeutsam genug war, um sofort an dessen Stelle nachzurücken. Konrad Schröder bringt dies wie folgt auf den Punkt: Die Französische Revolution und die napoleonische Zeit verändern die Sprachenlandschaft: Französisch, die Kultur- und Modesprache des 18. Jahrhunderts, wird nun als Idiom einer überwundenen Epoche gebrandmarkt, später dann als Feindsprache. Mit dem Fall Napoleons fällt auch seine Sprache […]. Da durch den Abbau des Französischen und anderer moderner Sprachen Stundenkontingente frei werden, kommt die Altphilologie quantitativ voran: 15 Wochenstunden 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 115 <?page no="116"?> Latein und 7 Wochenstunden Altgriechisch sind an den (stets altsprachlichen) Gymnasien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit; die anderen Fächer sind einbis zweistündig. Wie schon in der Renaissance ist das Lateinische nun sprachästhetische Richtschnur, die grie‐ chisch-römische Literatur gilt als Vermittlerin (säkularisierter) „ewiger Werte“. (Schröder 2017, 109, vgl. Reinfried 2014, 263) Ein am Kriterium der Zweckmäßigkeit ausgerichteter tendenziell kommunikativer Fremd‐ sprachenunterricht fand im 19. Jahrhundert v. a. an den höheren Bürger-, Real- und Handelsschulen statt, während der Privatunterricht in den höheren Ständen allmählich aufgegeben wurde (vgl. z. B. Reinfried 2003, 146). Tatsächlich konnte sich Unterricht in den modernen Fremdsprachen - zunächst ganz überwiegend im Französischen - erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im schulisch-institutionalisierten Kontext voll etablieren, und zwar an den Real- und Oberrealschulen (höhere Schulen ohne Latein, die späteren mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien), Realgymnasien (höhere Schulen mit Latein und mindestens einer modernen Fremdsprache, die späteren neusprachlichen Gymnasien) und höheren Mädchenschulen als vierbis sechsstündiges Hauptfach über sieben oder neun Schuljahre hinweg (Reinfried 2003, 143, 146, Reinfried 2017a, 34), so dass beispielweise an preußischen Realgymnasien ab 1882 insgesamt 34 ( Jahres-)Wochenstunden, an den Oberrealschulen sogar 56 ( Jahres-)Wochenstunden Fran‐ zösischunterricht in der gesamten Schullaufbahn durchlaufen wurden (Reinfried 2014, 263, mit weiterführender Bibliographie, vertiefend vgl. Ostermeier 2012). Ab etwa 1900 wurden diese Schularten dem Gymnasium gleichgestellt, an ihnen konnte nunmehr das Abitur erlangt werden. Dies führte dazu, dass sie einen immensen Schülerzuwachs verzeichneten, der denjenigen der (humanistischen, altsprachlichen) Gymnasien zahlenmäßig übertraf. Französisch und Englisch wurden somit „zu den meistgelernten schulischen Fremdspra‐ chen“ (Reinfried 2003, 143, Reinfried 2017a, 34). Bis zum Ersten Weltkrieg war Französisch meist die erste (lebende) Fremdsprache (Reinfried 2003, 143). An den (humanistischen) Gymnasien wurde Französisch, z. B. in Preußen seit 1837 als Pflichtfach, meist nur mit zwei bis drei Wochenstunden in einem sechsjährigen Kursus unterrichtet (Reinfried 2003, 143, und 2017a, 34, jeweils mit weiterführender Bibliogra‐ phie, vertiefend wiederum Ostermeier 2012). Im Geiste des Neuhumanismus musste sich der gymnasiale Fremdsprachenunterricht dem Ideal der „zweckfreien Allgemeinbildung“ fügen, der Unterricht in den modernen Sprachen wurde ebenso gestaltet wie der in den alten Sprachen. Die Bedeutung des Spanischen blieb, trotz weiterer Intensivierung der Handelsbezie‐ hungen nach Lateinamerika, deutlich hinter der des Französischen und Englischen zurück (Voigt 1998, 36). Meist handelte es sich um wahlfreien Unterricht im Umfang von zwei Wochenstunden, der in höchstens drei aufeinander aufbauenden Stufen (Schuljahren) stattfand (Voigt 1998, 41 f.). Burkhard Voigt umreißt die Situation des Spanischen an den deutschen Schulen im 19.-Jahrhundert wie folgt: Spanisch wurde an den Höheren Schulen überwiegend außerhalb des offiziellen und obliga‐ torischen Lehrplans unterrichtet. Interessierte Schüler besuchten fakultative Kurse oder sog. Handelsklassen. Der Unterricht erstreckte sich fast nie über mehr als drei Jahre und beanspruchte kaum mehr als zwei Wochenstunden. […] Die Ausbildung der Spanischlehrer war, da das Fach 116 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="117"?> an den philologischen Fakultäten der Universitäten nur schwach vertreten war und die Schulver‐ waltungen entsprechende Unterrichtsbefähigungen so gut wie überhaupt nicht erteilten, sowohl quantitativ als auch qualitativ unzureichend. Die Zahl der Spanischlehrenden und -lernenden blieb demzufolge auch recht klein […]. (Voigt 1998, 42) Gerade im Süden blieb das Italienische nach dem Französischen eine bedeutende Fremd‐ sprache. So waren bereits seit 1808 an bayerischen Realschulen und Realinstituten Fran‐ zösisch und Italienisch jeweils dreistündig in allen fünf Jahrgangsstufen verpflichtend (Gorini 1997, 40 f., Christ/ Rang 1985, VII, 126, s. o. Kap. 2.1.2.6). Die badische Verordnung über Gelehrtenschulen aus dem Jahr 1836 führt Englisch und Italienisch auf einer Ebene nach Französisch („Für den Unterricht in der englischen und italienischen Sprache bleiben für solche Anstalten, wo derselbe Statt findet, besondere Vorschriften vorbehalten“, Christ/ Rang 1985, III, 21). Ab 1832 sind auch in Preußen Abschlussprüfungen im Italienischen belegt (Waldingen 1981, 45). Dennoch war Italienisch an den Realschulen Preußens im 19. Jahrhundert weniger relevant und wurde - von durch Außenhandelsbeziehungen begründeten Ausnahmen wie z. B. Aachen und Krefeld abgesehen - allenfalls als fakul‐ tatives Wahlfach angeboten (Ostermeier 2012, 73). Interessant für die Einschätzung des Italienischen auch im Norden Deutschlands durch weitsichtige Direktoren ist eine Stel‐ lungnahme des Leiters der Berliner Handelsschule, Dr. Schweitzer, aus dem Jahr 1861 auf eine nachdrückliche Anfrage des „Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten“, Spanisch im Hinblick auf den Handel mit Hispanoamerika prioritär anzubieten (vgl. Christ/ Rang 1985, IV, 109 f.): […] Aber dieser Handelsverkehr wird fast ganz ausschließlich nur durch Vermittlung von Hamburger und Bremer Häusern, an welche die Fabrikanten des Binnenlandes, und ganz besonders auch die Berliner, ihre Artikel „consignieren“, betrieben. […] Für diese letztere [„Consignatäre“] nun ist allerdings die Nothwendigkeit vorhanden, in spanischer Sprache zu correspondiren, für Berliner Kaufleute und Fabrikanten dürfte hierzu gegenwärtig kaum Gelegenheit gegeben, ge‐ schweige denn ein Bedürfniß vorhanden sein. Aber auch abgesehen von der Bedürfnißfrage, würde ich die Einführung der spanischen Sprache, selbst eines nur fakultativen Unterrichtsgegenstandes, an der hiesigen Handelsschule weder für rathsam noch für wünschenswerth halten. […] Dieser meiner unmaßgeblichen Meinung über die Nothwendigkeit der Einführung des Spani‐ schen als Unterrichtsgegenstand an der Handelsschule erlaube ich mir noch die Bemerkung hinzuzufügen, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen die italienische Sprache ein mindestens ebenso großes, wo nicht größeres Anrecht auf Berücksichtigung im Lehrplane einer Berliner Handelsschule hat, als die spanische. Unsere Handelsbeziehungen zu Italien sind weit näherliegend und mehr unmittelbar, als mit Südamerika, und unser Verkehr mit Triest und mit dem Orient, wohin wir z. B. Bücher, Teppiche und dergl. in ziemlich bedeutender Quantität ausführen, ist in steter Zunahme begriffen. Die italienische Sprache aber, als Correspondenz- und kaufmännische Geschäftssprache, beschränkt sich keineswegs auf Italien und Triest, sondern ist in fast allen größeren Handelsplätzen des Orients (z. B. in Constantinopel), und zwar in mehreren der bedeutendsten Handelshäuser neben der griechischen in Anwendung und Gebrauch. Auch ist thatsächlich das Bedürfniß und die Nothwendigkeit, in italienischer Sprache zu correspondiren, in der Berliner Handelswelt ungleich häufiger vorkommend, als die Correspondenz in spanischer Sprache. (Christ/ Rang 1985, IV, 110-112) 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 117 <?page no="118"?> Immer wieder unternommene Versuche, Italienisch neben Französisch und Englisch als Pflichtfach am Gymnasium einzuführen, scheiterten im 19. Jahrhundert noch (Waldinger 1981, 45 f.; Gorini 1997, 39 f.). Auch Anregungen, das Italienische als erste Fremdsprache zu lehren, die insbesondere in Bayern mit Argumenten vorgebracht wurden, die auch heute noch für Italienisch oder Spanisch als erste Fremdsprache bedacht werden könnten (Motivation durch eine „lebende“ Fremdsprache bei gleichzeitigem Formenreichtum, der ähnlich wie das Lateinische zur Genauigkeit erzieht, erleichterter Zugang zu weiteren romanischen Sprachen und zum Lateinischen durch ein verhältnismäßig „transparentes“ romanisches „Basis-Sprachsystem“, wegen Phonie-Graphie-Relation „leichter“ Zugang), blieben in der Praxis unberücksichtigt (mit weiterführenden Quellen Ostermeier 2012, 130 ff.). Spanisch und Italienisch wurden an den höheren Schulen im 19. Jahrhundert also vor allem als wahlfreie Angebote („Arbeitsgemeinschaften“) für interessierte Schüler angeboten (vgl. z. B. Voigt 1998, 41 f.). An den Gymnasien Bayerns beispielsweise war Italienisch seit Mitte des 19. Jahrhundert Wahlfach, seit 1874 auch durch Lehrpläne ausgewiesen (Ostermeier 2012, 74). Weiterhin gab es in Bayern offensichtlich bereits mit der 1873 von Ludwig II. genehmigten Prüfungsordnung für das Lehramt an humanistischen und technischen Unterrichtsanstalten eine Lehramtsprüfung im Fach Italienisch (Italienisch ist dort wohl in der Formel „andere neuere Sprachen“ impliziert, vgl. Dorner 1995, 327). In der Prüfungsordnung von 1895 wird Italienisch explizit genannt, und zwar als einzige neuere Sprache neben Englisch und Französisch: Die Kandidaten, welche ihre Befähigung zur Erteilung des Unterrichtes in einer anderen neueren Sprache (Italienisch etc.) darthun wollen, werden in entsprechender Weise aus der betreffenden Sprache und Literatur schriftlich und mündlich geprüft. […]. (Dorner 1995, 327 f.) In der Fassung von 1912 erhält das Italienische sogar - als einzige moderne Fremdsprache neben Französisch und Englisch - einen eigenen Paragraphen (ebenfalls neben den beiden anderen modernen Sprachen). In dieser Lehramtsprüfungsordnung werden insgesamt drei den sprachlichen Bereich betreffende „Lehrämter“ (zum Konzept des „Lehramts“, aus heutiger Perspektive in etwa mit „Fächerverbindung“ gleichzusetzen, vgl. Kap. 1.1.1.3) ausgewiesen: Prüfungen werden abgehalten für das Lehramt 1. der klassischen Sprachen, der deutschen Sprache und der Geschichte, 2. der deutschen Sprache, der Geschichte und der französischen oder englischen Sprache, 3. der neueren Sprachen. (Dorner 1995, 328) Italienisch wird in dem fraglichen Abschnitt explizit als Erweiterungsfach für das neuphi‐ lologische oder jedes weitere beliebige Lehramt bezeichnet: IV. Prüfung für den Unterricht in der italienischen Sprache. § 75 1. Kandidaten, die ihre Befähigung zur Erteilung des Unterrichtes in der italienischen Sprache nchweisen wollen, werden aus dieser Sprache in angemessener Weise schriftlich und münd‐ lich geprüft. 118 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="119"?> 2. Die Prüfung kann im Anschlusse an die Prüfung für den Unterricht in den neueren Sprachen oder an eine andere Lehramtsprüfung, auch in einem beliebigen späteren Jahre abgelegt werden. (Dorner 1995, 328) Tatsächlich ist beispielsweise bereits 1875/ 76 am St. Michaels-Gymnasium bei der Abtei Metten (Niederbayern) ein erstaunlich gut ausgebauter Wahlunterricht im Italienischen belegt (Neumeister 1999, 38; dort am Beispiel des genannten Gymnasiums eine exemplari‐ sche Darstellung der Entwicklung eines Wahlunterrichts Italienisch von 1875-1991, mit Überblick über Lehrbücher und Lesestoffe (38-40)). Immerhin wurde Italienisch mit der Reform des höheren Mädchenschulwesens in Preußen (1908) wahlfrei in den Fächerkanon für die Frauenschulklassen des Oberlyzeums (etwa ab 15./ 16. Lebensjahr) aufgenommen (vgl. Waldinger 1981, 48-52; Christ/ Rang 1985, IV, 48-51; vgl. Lehberger 2003, 611), in der Folge ab 1911 auch in Bayern in die Höhere Mädchenschule/ Frauenschule (vgl. Christ/ Rang 1985, IV, 51 f.). Die 1914 vom Königlichen Bayerischen Kultusministerium erstellte Stundentafel für das Humanistische Gymnasium sieht Italienisch als Wahlfach vor (Christ/ Rang 1985, IV, 53); auch die bayerische Schulordnung und Schülersatzung von 1928 nennt das Italienische ausdrücklich als Wahlfach (Dorner 1995, 327). An Handelsschulen war Italienisch auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vereinzelt Pflichtfach, so an der Polytechnischen Schule in Baden (Schulordnung von 1925) (Gorini 1997, 41, Christ/ Rang 1985, II, 59). Eine konzise Einführung in die Schulsysteme Preußens, Bayerns und Württembergs mit Blick auf den Unterricht in den modernen Fremdsprachen im 19. Jahrhundert sowie zu frühen staatlichen Verordnungen zum Fremdsprachenunterricht in diesen und weiteren deutschen Klein- und Mittelstaaten bietet Willems 2013 (43-74). Im weiteren Verlauf analysiert die Studie verschiedene Lehrwerke für den Französischunterricht an höheren Knabenschulen im 19. Jahrhundert (z. B. Meidinger, Seidenstücker, Mager, Ahn, Ploetz) (Willems 2013, 79-491). Einen ersten, differenzierten Blick weniger auf Differenzen, denn auf Gemeinsamkeiten der Entwicklungen des alt- und neusprachlichen Unterrichts im 19. Jahrhundert (u. a. begründet durch die Ausbildung der frühen Lehrkräfte, die den ersten Französisch- und Englischunterricht erteilten, als (klassische) Philologen) schlägt Klippel 2000 vor. Eine knappe Darstellung zu Lehrwerken für den Spanischunterricht im 19.-Jahr‐ hundert findet sich in Voigt 1998, 37-41, Italienischlehrwerke auch des 19. Jahrhunderts untersucht Gorini 1997 (bes. 161-261). Die Studie Ostermeier 2012 untersucht in etwa für den gleichen Zeitraum vertieft Die Sprachenfolge an den höheren Schulen in Preußen (1859-1931). - 2.1.2.8 Professionalisierung des Lehrerberufs Das 19. Jahrhundert ist auch das Jahrhundert, in dem der Lehrerberuf professionalisiert wurde und sich eine institutionalisierte Lehrerbildung entwickeln konnte. 1809 führte Bayern, 1810 Preußen das Examen für das Höhere Lehramt ein (z. B. Reinfried 2003, 146). Dieses umfasste vor allem die philologisch-historischen Disziplinen (Latein, Griechisch, Geschichte), ergänzt um Mathematik (vgl. noch heute die Bezeichnung „Philologenver‐ band“ für den Verband der Gymnasiallehrer aller Fächer). Seit den 1830er Jahren sollte Fremdsprachenunterricht (d. h. seinerzeit bes. Französischunterricht) nur noch durch solche akademisch ausgebildeten (Gymnasial-) Lehrer erteilt werden, d. h., in der Regel 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 119 <?page no="120"?> unterrichteten Altphilologen auch Französisch, eine Situation, die bis etwa 1860 anhielt (vgl. Reinfried 2017a, 35). Dadurch wurden die Sprachmeister nach und nach aus den Schulen gedrängt (Reinfried 2003, 146). Mit der zunehmenden Zahl an Realgymnasien und Oberrealschulen und dem sich so ausweitenden Französisch- (und Englisch-)unterricht (s. o., bes. 2.1.2.7) entwickelte sich ein steigender Bedarf an entsprechend qualifizierten Lehrkräften, die an den neu eingerichteten Lehrstühlen für romanische (und englische) Philologie ausgebildet werden konnten (vgl. z. B. Reinfried 2003, 146). Seit den 1860er/ 1870er Jahren kann man von einer fachspezifisch-akademisch ausgebildeten neusprachli‐ chen Lehrerschaft an den Realanstalten sprechen, die ab den 1890er Jahren auch Zugang zu den Gymnasien erhielt (Reinfried 2014, 264). Marcus Reinfried betont, dass dadurch „[e]ine neue Lehrergruppe entstand, die sich über ihr neuphilologisches Studium definierte und von den stärker traditionsbewussten Altphilologen abgrenzte“ (Reinfried 2003, 146). Diese Gruppe grundständig ausgebildeter neusprachlicher Lehrkräfte war Initiatorin und Trägerin der sog. neusprachlichen Reformbewegung, die sich von der traditionellen Grammatik-Übersetzungsmethode abgrenzen wollte. In institutionengeschichtlicher Sicht kann an die Gründung des Allgemeinen Deutschen Neuphilologen-Verbands (ADNV) von 1886 erinnert werden (z. B. Reinfried 2003, 146, vgl. Kap. 1.1.1.2) (zur Professionalisierung des Lehramts in den romanischen Sprachen - seinerzeit insbesondere im Französischen - im 19. Jahrhundert vgl. weiterhin einführend die institutionengeschichtlichen Grundlagen in Kap.-1.1.1.2 sowie z.-B. Christ 2005, Teixeira Kalkhoff 2020). - 2.1.2.9 Das 20.-Jahrhundert - schulische Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit durch romanische Sprachen Bis zum ersten Weltkrieg blieb Französisch in Deutschland die wichtigste moderne Fremd‐ sprache (vgl. z. B. Reinfried 2017a, 35). Nach dem ersten Weltkrieg ist bis Ende der zwanziger Jahre eine leichte Abwendung des deutschen Bildungswesens vom Französischen vor dem Hintergrund des Versailler Vertrages bei gleichzeitiger Hinwendung zum Englischen, aber auch zum Spanischen festzustellen, welche mit der zunehmenden wirtschaftlichen Bedeu‐ tung Großbritanniens und der USA einerseits sowie der Neutralität der hispanophonen Staaten in den Kriegshandlungen andererseits begründet werden kann (Reinfried 2003, 143, Reinfried 2013a, 32, Reinfried 2014, 265); vereinzelt wurde Spanisch als zweite, in Bremen und Hamburg sogar als erste Fremdsprache angeboten (vgl. z. B. Voigt 1998, 42 f., Reinfried 2016, 623). Wie Frankreich hat auch Italien in Deutschland mit dem ersten Weltkrieg Sympathien verloren (Hausmann 2008, 466 f.). Ende der 1920er Jahre war das Französische wieder fest etabliert und erneut mindestens genauso verbreitet wie das Englische (Voigt 1998, 45, Reinfried 2003, 143), seine Wieder‐ einführung als erste Fremdsprache - nachdem 1923 in fünf Ländern der Weimarer Republik Englisch zur ersten Fremdsprache geworden war (Schröder 2017, 110) - wurde für 1933 beschlossen (Reinfried 2017a, 35). Erst mit der nationalsozialistischen Reform des Unter‐ richtswesens der Jahre 1935/ 1936ff. wurde Englisch für alle Schulen verpflichtend, mithin das Französische zum Wahlpflichtfach abgewertet (z. B. Hausmann 2008, 62, 64, Reinfried 2013a, 29 ff.). Zugleich wurden das Spanische und das Italienische als Sprachen wichtiger politischer Partner grundsätzlich mit dem Französischen gleichgestellt (wohlgemerkt mit Wahl(pflicht)fachstatus, d. h., maximal drei Wochenstunden in drei Schuljahren, Hausmann 120 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="121"?> 2008, 65, vgl. auch Reinfried 2013a, 31 sowie die Richtlinien in Christ/ Rang 1985, III, 165 f., zu einer einführenden Sichtung der Lehr-/ Lernmaterialien der fraglichen Zeit vgl. Hausmann 2008, 80-88). Nur an einem Teil der Mädchenschulen konnte sich Französisch einen besseren Status erhalten (Reinfried 2003, 144). Die Schülerkontingente waren nicht mit den heutigen vergleichbar: Nach der Untersuchung Hausmanns kam Italienisch auf ca. 5.000 Schülerinnen und Schüler an 226 Schulen - an 161 Schulen als „Wahlfach“, an 65 Oberschulen „regulär unterrichtet“ (Hausmann 2008, 474). Die Aufwertung des Spanischen und Italienischen führte auch zu einer Stärkung der Romanistik an den Universitäten (Hausmann 2008, 78). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland die Sprache der jeweiligen Be‐ satzungsmacht als erste Fremdsprache vorgeschrieben (Reinfried 2003, 144). Man hat errechnet, dass seinerzeit in den Besatzungszonen der anglophonen Siegermächte 40 Mil‐ lionen Menschen, in der französischen Besatzungszone nur 6 Millionen Menschen lebten (Reinfried 2003, 144, Reinfried 2017a, 36, jeweils mit weiterführender Bibliographie), was verdeutlicht, wie über die nationalsozialistische Bildungsreform hinaus das Englische das Französische als erste (moderne) Fremdsprache in Deutschland ablösen konnte. Lediglich in der ehemaligen französischen Besatzungszone, also in Teilen Baden-Württembergs, in Rheinland-Pfalz und später im Saarland, konnte sich Französisch zunächst als erste Fremdsprache behaupten (z. B. Reinfried 2017a, 36). Ein zentrales Wahl- und Lernmotiv für das Französische war in den 1950er Jahren noch das „Prestige der Bildungs- und Kultursprache“ (Reinfried 2003, 145). Als erste (moderne) Fremdsprache war Französisch jedoch in stetigem Rückgang begriffen, bereits 1969 erlernten nur noch 2 % der Fünftklässler an deutschen Gymnasien Französisch, eine Quote, die bis etwa 1990 wieder auf ca. 5 % erhöht werden konnte (Reinfried 2017a, 36). Für die Zeit von 1963 bis 1971, einer Zeit der Bildungsexpansion, in der die Zahl der Gymnasien und der Gymnasiasten stark zunahm, konnte für das Französische ein Zuwachs der Lernerkontingente um 71 %, für das Englische um 195 % verzeichnet werden (Reinfried 2003, 144, mit weiterführender Bibliographie). Ein die Bedeutung des Französischunterrichts in der jungen Bundesrepublik begründendes Dokument ist der deutsch-französische Freundschaftsvertrag oder Elysée-Vertrag (Traité de l’Élysée) von 1963. Hier wird im Abschnitt „C. Erziehungs- und Jugendfragen“ in Abschnitt 1a „Erziehungswesen“/ „Sprachunterricht“ wie folgt formuliert: Die beiden Regierungen erkennen die wesentliche Bedeutung an, die der Kenntnis der Sprache des anderen in jedem der beiden Länder für die deutsch-französische Zusammenarbeit zukommt. Zu diesem Zweck werden sie sich bemühen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl der deutschen Schüler, die Französisch lernen, und die der französischen Schüler, die Deutsch lernen, zu erhöhen. Die Bundesregierung wird in Verbindung mit den Länderregierungen, die hierfür zu‐ ständig sind, prüfen, wie es möglich ist, eine Regelung einzuführen, die es gestattet, dieses Ziel zu erreichen. (5 f., https: / / www.1000dokumente.de/ index.html? c=dokument_de&; do‐ kument=0016_ely&object=facsimile&pimage=8&v=100&nav=&l=de, 03.02.2022) Dieses Programm wird beinahe 60 Jahre später im Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration, dem Vertrag von Aachen (Traité d’Aix-la-Chapelle), im Jahr 2019 in Abschnitt 3 „Kultur, Bildung, Forschung und Mobilität“ wieder aufgegriffen: 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 121 <?page no="122"?> Artikel 10 Beide Staaten führen ihre Bildungssysteme durch die Förderung des Erwerbs der Partnersprache, durch die Entwicklung von mit ihrer verfassungsmäßigen Ordnung in Einklang stehenden Stra‐ tegien zur Erhöhung der Zahl der Schülerinnen, Schüler und Studierenden, die die Partnersprache erlernen, durch die Förderung der gegenseitigen Anerkennung von Schulabschlüssen sowie durch die Schaffung deutsch-französischer Exzellenzinstrumente für Forschung, Ausbildung und Berufsbildung sowie integrierter deutsch-französischer dualer Studiengänge enger zusammen. (9, https: / / www.bundesregierung.de/ resource/ blob/ 974430/ 1570126/ c720a7f2e1a0128050baaa6a16 b760f7/ 2019-01-19-vertrag-von-aachen-data.pdf ? download=1, 03.02.2022) Das Italienische und das Spanische (und natürlich erst recht das Portugiesische oder das Rumänische) fristeten im Allgemeinen bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhun‐ derts ein Schattendasein hinter den großen Fremdsprachen Englisch und Französisch, die ihre Bedeutung weiter ausbauen konnten. Einen ersten Aufschwung erlebte das Italienische mit dem gesamten Fremdsprachenunterricht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, getragen von der neuen Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben der Völker gerade auch durch Kenntnis fremder Sprachen und Kulturen. So wurde z. B. in Bayern zu diesem Zeitpunkt der trotz finanzieller Engpässe gut ausgebaute, oft fachfremd erteilte Wahlunterricht in den modernen Sprachen besonders auch von den Schülern des Humanistischen Gymnasiums besucht (vgl. Dorner 1995, 327). Tatsächlich schloss die Bundesrepublik Deutschland bereits am 8. Februar 1956, also sogar noch vor dem Élysée-Vertrag, ein Kulturabkommen mit Italien, das in Art. 2 vorsieht: Die Hohen vertragsschließenden Teile sorgen nach Möglichkeit für die Verbesserung und Erwei‐ terung des Unterrichts der italienischen Sprache an deutschen Höheren Schulen und der deutschen Sprache an italienischen Höheren Schulen, wobei sie auch die Ausbildung und Fortbildung der beiderseitigen Lehrkräfte durch geeignete Maßnahmen fördern. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland wird sich dafür einsetzen, dass im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland an höheren Schulen und an kaufmännischen Berufsschulen, wo es angängig ist, pflichtmäßige Lehrgänge und Arbeitsgemeinschaften in italienischer Sprache eingerichtet werden. Die von den Schülern in diesem Unterricht erzielten Leistungen werden bei Versetzungen und Prüfungen angemessen gewertet. […]. (Bundesgesetzblatt 1958, Teil II, 2 f., vgl. Dorner 1995, 329; Neumeister 1994, 12 f., 1999, 23) Die ständige gemischte Kommission zur Durchführung des Kulturabkommens empfahl 1972, „[…] Italienisch als Pflicht- und Wahlpflichtfach an Gymnasien weiter auszubauen und zwar nicht nur in der Kollegstufe, sondern auch in der Unter- und Mittelstufe“ (Italienisches Kulturleben in der Bundesrepublik Deutschland 7, 1972, 18; vgl. Euler 1976, 340). Gerade im Bereich der Unterstufe scheint bezüglich einer Umsetzung dieser Empfehlung auch noch nach etwa fünfzig Jahren Handlungsbedarf zu bestehen; doch wurden auch hier in den letzten Jahren sichtbare Fortschritte erzielt (s.-u., Kap. 2.1.2.10). Spanisch hingegen verschwand in der zweiten Nachkriegszeit aus politischen Gründen zunächst beinahe gänzlich aus dem (west-)deutschen Schulwesen (Nähe Hitler-Deutsch‐ lands zum Regime Francos). Ihm blieb im Wesentlichen die Rolle als wahlfreies Fach (Arbeitsgemeinschaft etc.) (Voigt 1998, 45). In der DDR gewann es indes infolge der Kubani‐ 122 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="123"?> schen Revolution, in der Bundesrepublik etwa seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts infolge der verstärkten spanischen Immigration (Gastarbeiter) und des aufkommenden Spanien-Tourismus, wieder leicht an Bedeutung (Voigt 1998, 46). Nach dem Hamburger Abkommen der KMK (1964, in der überarbeiteten Fassung von 1971 und 1989) konnten Spanisch und Italienisch grundsätzlich auch als erste Fremdsprache an den Gymnasien eingerichtet werden. Der Regelfall war jedoch zunächst, dass Spanisch und Italienisch entweder weiterhin als wahlfreies Fach (Arbeitsgemeinschaft) oder allen‐ falls als 3. Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 9 bzw. als neu einsetzende spät beginnende Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 11 unterrichtet werden (Voigt 1998, 47, Reimann 2009b, z.-B. in NRW seit den 1970er Jahren jeweils auch als Leistungskurs möglich). In den 1970er und 1980er Jahren konnte das Französische zumindest auf der Sekundar‐ stufe I seine Lernerkontingente an Gymnasien und Realschulen halten - mit Ausnahme der Gesamtschulen, an denen Französisch damals rückläufig war (Reinfried 2003, 144). Zentrale Anwahl- und Lernmotive für das Französische sind die Rolle des Französischen als Sprache eines bedeutenden Wirtschaftspartners der Bundesrepublik und die Beliebtheit Frankreichs als Reiseziel (Reinfried 2003, 145, mit weiterführender Bibliographie, vgl. Venus 2017, bes. z. B. 221-229). Gerade in der gymnasialen Oberstufe ist bereits seit den 1970er Jahren die Zahl der Französisch-Schülerinnen und -Schüler rückläufig (Reinfried 2003, 144 f.). Dies ist insbesondere durch die Wahlfreiheit infolge der Oberstufenreform des Jahres 1972 begründet. Letztere stellt zugleich einen Meilenstein in der Geschichte des schulischen Spanisch- und Italienischunterrichts dar: Erstmals wurden Spanisch und Italie‐ nisch voll anerkannte curriculare Fächer, die in Hinblick auf Anrechenbarkeit der erzielten Leistungen und auf die Kurstypen (Grundkurs, ggf. Colloquiumsfach, Leistungskurs) gleichberechtigt neben andere Schulfächer treten (für Italienisch z. B. Reimann 2004, 14 f., für Spanisch z. B. Bernecker 2006, 155). Die Umsetzung dieser formalen Grundlage in die Praxis gestaltet sich sehr unterschiedlich - beispielsweise werden in Nordrhein-Westfalen z. B. im Italienischen schon seit 1975 Leistungskurse angeboten, in Bayern erst seit 1989/ 90, in Baden-Württemberg seit 1992/ 93. Auch Kurse vordergründig gleichen Typs können verschiedene Ausgangspunkte haben (z. B. Grundkurs als fortgeführte oder als neu einset‐ zende Fremdsprache). Insbesondere an den Real- und Gesamtschulen im norddeutschen Raum kann sich Spanisch zunehmend auch als zweite Fremdsprache etablieren (vgl. Voigt 1998, 47) - inzwischen teilweise bereits ab Jahrgangsstufe 5) -, seit etwa 2000 verstärkt auch an den Gymnasien, z.-B. auch in Nordrhein-Westfalen. Bundesweit steht Spanisch in Hinblick auf seine Verbreitung an allgemeinbildenden Schulen heute nach Englisch und Französisch als am dritthäufigsten gewählte moderne Fremdsprache vor Italienisch und Russisch, allerdings noch hinter Latein (vgl. z. B. Bernecker 2006, 159, s. o. Kap. 2.1.1.1, vgl. Abb. 15). In Bayern beispielsweise blieb Spanisch bis in die neunziger Jahre in seiner Bedeutung deutlich hinter dem Französischen, aber auch hinter dem Italienischen und zeitweise dem Russischen zurück und wurde überwiegend im Wahlunterricht (Arbeitsgemeinschaft, sog. Elementarkurs) unterrichtet. Seit Ende der achtziger Jahre wird es vereinzelt an neusprachlichen Gymnasien als dritte Fremdsprache eingerichtet, die in Grund- oder Leistungskurs bis zum Abitur fortgeführt werden kann. Seit 2000 gibt es auch in Bayern die Möglichkeit, Spanisch ab Jahrgangsstufe 11 als neu einsetzende spät beginnende 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 123 <?page no="124"?> Fremdsprache zu erlernen, die in einem Grundkurs bis in Jahrgangsstufe 13 belegt werden muss. In den Jahren nach 2000 beginnt die Zahl der Schulen, die Spanisch als dritte und spät beginnende Fremdsprache anbieten, die Zahl der Schulen, an denen Italienisch angeboten wird, allmählich zu übertreffen. In der ehemaligen DDR war Russisch die einzige Pflichtfremdsprache, die romanischen Sprachen wurden im schulischen Bereich nur sehr wenig erlernt. Seit dem Schuljahr 1957/ 58 bestand die Möglichkeit, ab Jahrgangsstufe 7 eine zweite, fakultative Fremdsprache zu erlernen. Dabei handelte es sich um Englisch oder Französisch (Szyska 2008, 12). Dieser Unterricht umfasste insgesamt elf ( Jahres-)Wochenstunden in vier aufeinanderfolgenden Schuljahren (Szyska 2008, 12, mit weiterführender Bibliographie). Da die zweite Fremd‐ sprache seit 1965 Aufnahmevoraussetzung für die Abiturstufe war, nahmen sehr viele Schülerinnen und Schüler das Angebot war, wobei nur die wenigsten Schülerinnen und Schüler sich für Französisch entschieden. In den 1980er Jahren erzielte das Französische an der Polytechnischen Oberschule Lernerkontingente zwischen 3 % und 5 % der Schülerschaft (Reinfried 2017a, 36, mit weiterführender Bibliographie), 1989/ 1990 entfiel nur 1 % der Lernerkontingente (ca. 22.000 Schülerinnen und Schüler) auf das Französische (Szyska 2008, 12, weiterführend zum Französischunterricht in der DDR v. a. Pfeil 2007, zum Spanischunterricht in der DDR auch Helle 1993). An einigen Erweiterten Oberschulen (Abiturstufe) bestand die Möglichkeit, eine weitere, dritte Fremdsprache zu erlernen. Neben Englisch und Französisch konnten dies seit 1969 auch Latein und Spanisch sein (Helle 1993, 48, Szyska 2008, 12). Im Schuljahr 1969/ 1970 startete der Spanischunterricht an insgesamt zehn Schulen (Helle 1993, 48, Szyska 2008, 13). Eine Nachfrage nach Spanisch war erstmals mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Kuba 1963 aufgetreten (Szyska 2008, 11). Die Schülerzahlen waren noch deutlich geringer als für das Französische. Für das Schuljahr 1989/ 1990 sind 421 Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen belegt (neben ca. 3500 Lernenden an Hochschulen, Volkshochschulen und vergleichbaren Einrichtungen, Helle 1993, 43). Nach der Wende konnten alle drei romanischen Sprachen in den neuen Bundesländern sehr schnell Fuß fassen. Bereits 1998/ 99 lernten beinahe 43 % der Gymnasiasten der neuen Bundesländer Französisch (Reinfried 2003, 145), das Italienische wurde u. a. in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt nicht nur als dritte und spät beginnende, sondern - anders als in den meisten Bundesländern der alten Bundesrepublik - auch als zweite Fremdsprache eingeführt (vgl. Reimann 2009b, bes. 40-45, Reimann 2019a, bes. 12). - 2.1.2.10 Meilensteine der jüngeren Entwicklung der romanischen Sprachen als Schulfächer und Diversifizierung der Sprachenfolgen (seit 1972/ 1973) Im Folgenden sollen noch einmal wesentliche Entwicklungen der romanischen Sprachen als Schulsprachen seit der Oberstufenreform des Jahres 1972/ 1973 mit besonderem Augenmerk auf den „jungen“ romanischen Schulsprachen Italienisch und Spanisch betrachtet werden. Die Gesamtschülerzahlen für Italienisch und Spanisch haben seit den 1970er Jahren rasante Entwicklungen durchlaufen. Für das Fach Italienisch geht diese Entwicklung von etwa 2.000 Schülerinnen und Schülern im gesamten Bundesgebiet im Schuljahr 1968/ 69 über 6.000 Schülerinnen und Schüler an der Wende von den 1970er zu den 1980er Jahren auf über 18.000 Ende der 1980er Jahre und schließlich auf etwa 35.000 um die 124 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="125"?> Jahrtausendwende, um am bisherigen Höhepunkt um 2010 etwa 60.000 Schülerinnen und Schüler zu erreichen (vgl. Reimann 2004, 7 und 15, Reimann 2014b, 82, mit weiterführender Bibliographie). Seit 2010 ist für das Italienische allerdings ein leichter, stetiger Rückgang von ein bis zwei Prozent pro Jahr zu verzeichnen, um 2020 waren es etwa 47.000 Schülerinnen und Schüler (Destatis 2020b, s.-o.). Für Spanisch werden Mitte der 1970er Jahre mit ca. 7.000 Schülerinnen und Schülern (Meißner 2011, 46) etwas mehr Lernende als für Italienisch verzeichnet, Ende der 1980er Jahr ca. 30.000 (vs. 18.000 für Italienisch, s. o.), zwischen 1997 und 2001 verdoppeln sich die Lernendenkontingente beinahe von ca. 53.000 auf etwas über 100.000 (Meißner 2011, 46), um 2010 die Zahl 350.000 zu überschreiten (Bär 2012a, 36, vgl. Bär 2012b, bes. 241 f.) und um 2020 bei über 450.000 zu rangieren (vgl. Destatis 2019, 2020b, s. o. Kap. 2.1.1.2, Abb. 15). Das Spanische kann also, anders als das Italienische, auch im zweiten Jahrzehnt des 21.-Jahrhunderts seine schulische Verbreitung beständig ausbauen. Französisch konnte seinerseits seine Schülerzahlen insgesamt weitgehend halten, musste aber spürbare Rückgänge bei den (nunmehr weitgehend „freiwilligen“) Belegungen in der Oberstufe verzeichnen (eine detaillierte Analyse prozentualer Anteile der Lernendenkon‐ tingente legt Reinfried 2012 vor). In absoluten Zahlen liegt Französisch mit knapp 1,5 Millionen Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen noch immer deutlich vor dem Spanischen und dem Italienischen (s.-o. Kap. 2.1.1.2, u.-a. Abb. 15). Als vier „Schlüsseljahre“ bzw. „-phasen“ der jüngeren Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen dürfen, vereinfacht gesprochen, das Jahr 1972, die Jahre um 1985, die Zeit der Wende nach 1989 sowie das Jahr 2000 gelten. 1. Die Oberstufenreform von 1972/ 73 Mit der Oberstufenreform des Jahres 1972/ 73 konnten sich Italienisch und Spanisch als Grund- und Leistungskursfächer der gymnasialen Oberstufe etablieren: Wäh‐ rend es beispielsweise im Flächenstaat Bayern immerhin punktuell Grundkurse im Fach Italienisch als spät beginnende Fremdsprache gab, führte Nordrhein-Westfalen alsbald Leistungskurse in der in Jahrgangsstufe 11 neu einsetzenden Fremdsprache ein und wurde somit zum Vorreiter in der Entwicklung des Italienischen und des Spanischen als (Wahl-)Pflichtfächer und dem Französischen ebenbürtige Fremd‐ sprachen (vgl. Reimann 2009b, 24). Das bevölkerungsreiche Nordrhein-Westfalen wurde hier zugleich Zugpferd im Hinblick auf die Entwicklung von Lehrmateria‐ lien, die nicht primär aus der und für die Volkshochschule entstanden (z. B. die Textsammlungen Tempi d’oggi (Klett) für Italienisch oder Spanisch Panoramas del mundo hispánico für Spanisch (Cornelsen)). 2. Die Mitte der 1980er Jahre Während in Nordrhein-Westfalen Italienisch als Leistungskursfach etabliert war, führten Bayern und Baden-Württemberg, die inzwischen zu den Hochburgen des schulischen Italienischunterrichts zählten, um 1985 Italienisch als 3. Fremdsprache ein, die alsbald auch in den Leistungskurs mündete (ab 1989/ 90 bzw. 1992/ 93, vgl. Reimann 2009b, 24, 47). Etwa zeitgleich erfolgte in mehreren Bundesländern auch 2.1 „Äußere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts 125 <?page no="126"?> die Einführung des Spanischen als 3. Fremdsprache, das gerade in den südlichen Bundesländern zunächst etwa gleichauf mit dem Italienischen rangierte. 3. Die Zeit der Wende nach 1989 Die Zeit der Wende stellt insofern einen weiteren Meilenstein für die Entwicklung des Unterrichts in den romanischen Sprachen in Deutschland dar, als in den „neuen“ Bundesländern sehr schnell und sehr massiv von der Gelegenheit Gebrauch gemacht wurde, Französisch in größerem Umfang als reguläre Fremdsprache anzubieten (s. o., Kap. 2.1.2.9, vgl. auch Reinfried 2012, bes. 182-184). Zugleich machte man dort früh von flexiblen Sprachenfolgen Gebrauch und führte Italienisch und Spanisch nicht nur als dritte und spät beginnende, sondern immer wieder auch als zweite Fremdsprache ein (vgl. ebenfalls Kap. 2.1.2.9, weiterhin z. B. Reimann 2009b, 40-45). 4. Die Jahrtausendwende Nachdem sich Italienisch seit Mitte der 1980er Jahre als Wahlpflichtfach neben Französisch und mitunter zunächst sogar vor Spanisch (z. B. in Bayern und Baden-Württemberg) etablieren konnte, so z. B. auch in Rheinland-Pfalz, Hessen und dem Saarland, nach der Wende auch in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt (dort mitunter sogar auch als 2. Fremdsprache in der Unterstufe) und insgesamt in elf Bundesländern belegt ist (vgl. Reimann 2009b, 45), erfahren das Italienische und das Spanische einen weiteren Schub mit der Einführung einer neu einsetzenden spät beginnenden Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 11 bzw. 10 gerade auch in den Flächenstaaten Bayern und Baden-Württemberg ab dem Jahr 2000. Seit etwa diesem Zeitpunkt ist die Entwicklung, dass das Spanische bundesweit die Lernerzahlen des Italienischen übertrifft, unübersehbar (s. o. die Beinahe-Verdoppelung der Lernerkontingente im Spanischen zwischen 1997 und 2001). In der Folge dieser Entwicklungen ist es auch zu einer spürbaren Diversifizierung der Sprachenfolgen gekommen. Inzwischen werden alle drei romanischen Sprachen an allen Positionen der Schulsprachenfolge gerade auch der allgemeinbildenden Schulen angeboten, wobei als erste Fremdsprachen noch immer das Französische am häufigsten anzutreffen ist, als zweite Fremdsprache inzwischen auch das Spanische sehr stark geworden ist (bei durchaus immer zahlreicheren Angeboten auch im Italienischen) und Spanisch und Italie‐ nisch unter den spät beginnenden Fremdsprachen noch immer stark vertreten sind. In dem Maße, in dem diese Sprachen in die Position der zweiten und dritten Fremdsprache drängen, ist allerdings auch das Französische immer häufiger als spät beginnende Fremdsprache anzutreffen. Das Portugiesische wird nach wie vor nur sehr punktuell als reguläre dritte und spät beginnende Fremdsprache angeboten. Auch gibt es inzwischen bilinguale Züge mit allen drei großen romanischen Schulsprachen, wobei hier das Französische nach wie vor am stärksten vertreten ist. Beispiele für Schulen mit besonderen Sprachenfolgen und -profilen im Bereich der romanischen Sprachen sind etwa: Für das Italienische als zweite Fremdsprache das Wald-Gymnasium, das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium, das Sartre-Gymnasium, das Ul‐ rich-von-Hutten-Gymnasium und das Einstein-Gymnasium in Berlin (teilweise mit Latein und/ oder Französisch als darauf aufbauender dritter Fremdsprache), das Gymnasium 126 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="127"?> Dörpsweg in Hamburg oder das Mannesmann-Gymnasium in Duisburg, für bilinguale Züge mit Italienisch nach dem Vorbild des „AbiBac“ (bei dem de facto eine direkte Hochschulzugangsberechtigung für Deutschland und Frankreich zugleich erworben wird) die „Sezione Italiana“ am Rupprecht-Gymnasium München und am Martin-Behaim-Gym‐ nasium Nürnberg, die mit entsprechenden Zertifikaten abgeschlossen werden. Eine grund‐ ständig deutsch-italienische ausbildende Schule, die mit der Grundschule einsetzt und bis zum Gymnasium fortführt, ist etwa die Deutsch-Italienische Schule Leonardo Da Vinci in München. Auffallend ist auch, dass sich das Italienische immer wieder an humanistischen Gymnasien als alternative dritte oder spät beginnende Fremdsprache nach Latein, Englisch und Griechisch durchsetzen konnte - man mag dies als Reflex der Bedeutung Italiens als europäische Kultursprache deuten (z. B. Celtis-Gymnasium Schweinfurt, Spohn-Gymnasium Ravensburg, Beethoven-Gymnasium Bonn). Für das Por‐ tugiesische sind besondere Angebote vor allem am Max-Planck-Gymnasium Dortmund und am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Stuttgart-Sillenbuch, aber auch an der Europaschule Köln oder der Stadtteilschule Am Hafen in Hamburg zu verzeichnen. Für das Spanische ist etwa das Comenius-Gymnasium Düsseldorf zu erwähnen, das - im Grunde nach dem „Biberacher Modell“ der Verzahnung von Latein und einer modernen Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 5 (s. o., Kap. 2.1.2.6) - Spanisch ab der 5. Klasse neben Englisch als „zweite“ Fremdsprache anbietet. Auch in Hamburg gibt es mehrere Gymnasien, die Spanisch ab Jahrgangsstufe 5 und teilweise anschließend auch in bilingualen Angeboten unterrichten (z. B. Gymnasium Lerchenfeld, Albrecht-Thaer-Gymnasium). In ähnlicher Form wird am Tilesius-Gymnasium Mühlhausen/ Thüringen Italienisch als „zweite“ Fremdsprache neben Englisch bereits ab der 5. Jahrgangsstufe unterrichtet. Den genannten besonderen Schulen für Italienisch und Spanisch steht eine Vielzahl von Schulen mit Französisch als erster Fremdsprache, bilingualen Angeboten im Französischen und mehrere Dutzend Schulen mit dem Angebot des „AbiBac“ gegenüber, sowie die drei explizit Deutsch-Französischen Gymnasien in Freiburg, Saarbrücken und Hamburg. Ein einzigartiges Angebot mit Bezug auf Intensität des Unterrichts in romanischen Sprachen und auf bilingualen Unterricht stellt die Schulform der Staatlichen Europa-Schule Berlin (SESB) mit ihren Sektionen und Schulen u. a. für Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch dar. Eine Schule, die einen besonderen Schwerpunkt auf Fremdsprachen, auch in Französisch, Italienisch und Spanisch, legt und letztlich als eine Art „Leistungsförderzentrum“ im sprachlichen Bereich fungiert, ist die Salzmannschule Schnepfenthal - Staatliches Spezialgymnasium für Sprachen (Thüringen) (Stand Anfang 2022, Dokumentation auf den jeweiligen Schul‐ homepages). 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden Über die in Kap. 2.1.1.1 und 2.1.2.6 erwähnten grundlegenden methodischen Orientierungen hinaus lässt sich die Geschichte der Unterrichtsmethoden, also sozusagen die „innere“ Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in ihrer chronologischen Entwicklung wie folgt rekonstruieren. 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 127 <?page no="128"?> 2.2.1 Methodische Entwicklungen vom Mittelalter bis zur Etablierung des staatlichen Schulwesens Für die Anfänge des Französischunterrichts im mittelalterlichen England sind in englischen Archiven damals noch handschriftlich gefertigte Unterrichtsmaterialien erhalten, aus denen hervorgeht, dass überwiegend mit Musterdialogen, Musterbriefen und Vokabularien gearbeitet wurde (Reinfried 2020, 19). Das methodische Vorgehen bei der Behandlung solcher Mustertexte war offenbar wie folgt: ● Übersetzung der Texte in die Erstsprache der Lernenden (Her-Übersetzung), ● Auswendiglernen der Texte, ● Wiedergabe der auswendig gelernten Texte. (vgl. Reinfried 2020, 19) Nur da, wo unbedingt nötig, fanden offensichtlich grammatikalische Erklärungen statt (Reinfried 2020, 19). Mit zunehmender Verbreitung des Buchdrucks wurden auch gedruckte Lehr- und Lern‐ materialien verwendet, die Aneignung moderner Fremdsprachen seit dem Humanismus - im deutschen Sprachraum wie oben beschrieben vor allem Italienisch- und Französi‐ schlernen (vgl. Kap. 2.1.2.3) - zeichnet sich ab dem 16. Jahrhundert durch eine zunehmende Grammatikorientierung aus. Diese folgt dem Modell der eben unter den Vorzeichen des Humanismus stehenden Auseinandersetzung mit den alten Sprachen Griechisch und Latein, deren Darstellung sich stark an die spätantike Sprachbeschreibung des Donat (4. Jhd. n. Chr.) anlehnte. Die gedruckte Grammatik wurde zum am häufigsten belegten Lehr-/ Lernmedium. Marcus Reinfried beschreibt die Entwicklung wie folgt: Der inhaltliche Stoff wurde von nun an auch in den meisten für den Französisch- und Italie‐ nischunterricht bestimmten Elementargrammatiken nach den acht Wortarten aufgeteilt - eine Kapitelgliederung, die auf die Ars minor des Aelius Donatus, eine Grammatik, die im 4. Jahrhundert entstanden war, zurückgeht […]. Die Französischgrammatiken wurden zur häufigsten Lehrbuch‐ form: Im 16. Jahrhundert waren erst 14 Grammatiken in Verlagen des deutschsprachigen Raums erschienen, im 17.-Jahrhundert waren es bereits 87 Grammatiken […]. (Reinfried 2020, 20) In etwa einem Drittel der belegten Fälle erfolgten die Erklärungen auf Lateinisch, d. h., Lateinkenntnisse wurden beim Zielpublikum solcher Grammatiken vorausgesetzt (Rein‐ fried 2020, 20, weiterführend vgl. Reinfried 2003, 146 f.). Mit dieser im 16. Jahrhundert ein‐ setzenden Grammatikorientierung bildete sich eine erste methodische „Hauptströmung“ (Reinfried 2020, 20) heraus, die als deduktiv bezeichnet werden kann, d. h., der Ausgangs‐ punkt für das Fremdsprachenlernen war die Vermittlung von Grammatikregeln. Das methodische Vorgehen kann wie folgt beschrieben werden: ● Auswendiglernen der Grammatikregeln, ● Übersetzungen von Beispielsätzen aus dem Deutschen bzw. Lateinischen in die Ziel‐ sprache (Hin-Übersetzung), ● im Unterricht für Fortgeschrittene: Lektüre von Texten. (vgl. Reinfried 2020, 20) Parallel dazu entwickelte sich ein Ansatz zum eher imitativen Fremdsprachenlernen, der allerdings nicht so stark vertreten war wie die deduktive Haupttendenz. Um dem eher imitativ ausgerichteten Unterricht folgen zu können, waren keine Lateinkenntnisse erfor‐ 128 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="129"?> derlich. Er nahm seinen Ausgangspunkt bei authentischen zielsprachlichen Texten (z. B. Dialoge aus Komödien, später auch Zeitungstexte), die zunächst ins Deutsche übertragen und in der Zielsprache besprochen, weiterhin auswendig gelernt und repetiert wurden. Daher wird der Ansatz auch als Lese-Übersetzungs-Methode bezeichnet (Reinfried 2020, 21). Der Vermittlung grammatikalischer Regeln kam bei einer solchen auf Leseverstehen und zumindest in Ansätzen auch auf Sprechfertigkeit zielenden Methodenkonzeption folgerichtig nur eine untergeordnete Funktion zu (vgl. Reinfried 2017b, 68, Reinfried 2020, 20, weiterführend vgl. z. B. auch Kuhfuß 2014, bes. 115-118, 349 ff., weiterhin Reinfried 2014, 259 f.). Das Vorgehen der Lese-Übersetzungs-Methode kann wie folgt schematisch resümiert werden: ● Lesen (authentischer) Ausgangstexte, z.-B. Dialoge aus Theaterstücken, ● Übersetzung der Texte in die Erstsprache (Her-Übersetzung), ● Besprechung der Texte in der Zielsprache, ● Auswendiglernen und Repetieren der Texte. Marcus Reinfried fasst den Ansatz der imitativen Methodenströmung des 16./ 17.-Jahrhun‐ derts wie folgt zusammen: Bei der imitativen methodischen Gegen- und Nebenströmung hingegen, die keine Lateinkennt‐ nisse voraussetzte, waren zielsprachige Zeitungstexte und Komödiendialoge öfter die Ausgangs‐ medien, die oft auch in die Unterrichtssprache übersetzt und in der Zielsprache besprochen wurden. Das Leseverstehen und die Ausbildung einer einfachen Sprechfertigkeit gehörten hier bereits in den Anfangsunterricht. Die Grammatikunterweisung reduzierte sich auf einige ausge‐ wählte Inhalte […]. (Reinfried 2020, 20) Diese imitative Methodentendenz kannte im folgenden 18. Jahrhundert ihrerseits zwei Teilströmungen. Einerseits wurde die soeben beschriebene Lese-Übersetzungs-Methode fortgeführt, parallel dazu entwickelte sich an einer wirkmächtigen Internatsschule, an der Französisch besonders intensiv gelehrt wurde, eine noch konsequenter auf einsprachige, imitierende Sprachverwendung ausgerichtete Form des Fremdsprachenunterrichts, die als Versinnlichungsmethode bezeichnet wurde (namentlich am Philanthropin in Dessau, weshalb man auch von der Versinnlichungsmethode der Dessauer Philanthropen spricht). Ein Ziel war hier der einsprachig-zielsprachige Fremdsprachenunterricht, die einsprachige Semantisierung erfolgte durch Bilder. Bilder wurden auch als Impulse für Aktivitäten zum Sprechen und Schreiben eingesetzt. Mithin handelte es sich bei der Versinnlichungs‐ methode der Dessauer Philanthropen um einen unmittelbaren Vorläufer der konsequenten direkten Methode (s.-u., vgl. Reinfried 2020, 21, weiterführend Reinfried 1992, 56-86). 2.2.2 Grammatik-Übersetzungs-Methode Mit der Verstaatlichung des Schulwesens im 19. Jahrhundert und der oben in Kap. 2.1.2.6 und 2.1.2.7 dargestellten, zunehmenden Etablierung zunächst des Französischen, dann auch des Englischen als curriculare Schulfremdsprachen, kam es auch zu einer Verein‐ heitlichung und Standardisierung der Methodik des Fremdsprachenunterrichts. Marcus Reinfried etwa spricht von einer „immer stärker werdende[n] Tendenz zur Normierung der 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 129 <?page no="130"?> Unterrichtsmethodik“ (Reinfried 2020, 21). Hintergrund einer solchen Vereinheitlichung waren u. a. die Lehrpläne und die auf diesen basierenden Lehrwerke, auf deren Grund‐ lage der Unterricht durchgeführt wurde (vgl. Reinfried 2020, 21). Insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und an den altsprachlichen Gymnasien wurde an die bereits in der Vergangenheit belegten deduktiven Methodenkonzeptionen angeknüpft, es entwickelte sich die so genannte Grammatik-Übersetzungsmethode, auch synthetische Grammatik-Übersetzungsmethode (z. B. Reinfried 2020, 22) oder in der älteren Literatur auch „synthetisch-konstruktive Methode“ (z. B. Aronstein 1926, 35-39) genannt (die ihrer‐ seits durchaus wieder Unterströmungen kannte, aus beinahe zeitgenössischer Sicht z. B. Wendt 1895, bes. 31-80). Die Bezeichnung „synthetisch“ (wie auch der Zusatz „konstruktiv“) „soll zum Ausdruck bringen, dass in einem Lehrbuch die neu vermittelten grammatischen Formen oder Strukturen mit abgedruckten Vokabeln von den Lernenden regelkonform so verbunden werden sollen, dass damit korrekte fremdsprachige Sätze konstruiert werden können“ (Reinfried 2020, 22). Als Gründungsdokument dieser Methode gilt gemeinhin Meidingers Practische Französische Grammatik aus dem Jahr 1783. Dieser folgte 1796, ebenfalls von Meidinger veröffentlicht, eine Praktische Italienische Grammatik (s. o., Kap. 2.1.2.6). Die Besonderheiten und Innovationen des Lehrwerks von Meidinger bringt Marcus Reinfried wie folgt auf den Punkt: Das Besondere an diesem Lehrbuch war die leicht verständliche und wohl portionierte Präsenta‐ tion grammatischer Formen und Regeln. Ihr schloss sich, und das war das eigentlich Neuartige, in jeder Lektion ein Übungsteil an, in dem die Schüler die auf ein bis zwei Seiten vermittelten Formen und Regeln durch ausgiebige Übersetzungen vom Deutschen ins Französische praktisch anwandten. Erstmals war hier eine Schulgrammatik entstanden, die etwa zwei Drittel ihres Raums der praktischen Einübung widmete […]. (Reinfried 2017b, 68) Dies sei am Beispiel des Lehrwerks für Italienisch illustriert: 130 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="131"?> Abb. 18a-c: Standardwerke der frühen Grammatik-Übersetzungsmethode waren die Lehrwerke von Meidinger - hier Auszüge aus dem Lehrwerk für Italienisch (Meidinger, Johann Valentin ( 4 1799): Praktische Italienische Grammatik. Leipzig: Fleischer/ Barth, I, 143f. In den Abbildungen 18b und c sieht man die Abfolge: kurze Regelerklärung - Übung durch Übersetzung aus dem Deutschen in die Fremdsprache - Wortschatzhilfen zur Bewältigung der Aufgabe. Das Lehrwerk als Ganzes enthält über den Lektionsteil hinaus auch eine um‐ fangreiche thematische „Wörter-Sammlung“ (Meidinger 1799, 237-322) sowie im Abschnitt „Gespräche“ verschiedene Musterdialoge, kurze Geschichten sowie einige Gebrauchstexte (z. B. Rechnungen/ Belege) als Lesestücke, gefolgt von einem Wortschatzverzeichnis zum Textteil (Meidinger 1799, 323-461 bzw. 462-509). Für den schulischen Französischunterricht wurde das Lehrwerk Meidingers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Karl Ploetz’ Lehrbuch der französischen Sprache abgelöst, das etwa um 1880 an den meisten höheren Schulen Preußens Verwendung fand 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 131 <?page no="132"?> (Reinfried 2020, 22, vgl. Reinfried 1992, 89, erste Auflage von 1848). Ploetz wandte sich von der oben beschriebenen, an Donat orientierten Gliederung nach Wortarten ab und führte eine didaktisch begründete Progression ein. Vor allem aber ergänzte er Beispielsätze und Texte in der Zielsprache - hier Französisch -, die bei Meidinger noch gefehlt hatten (dort wurde direkt auf die (Hin-)Übersetzung in das Französische bzw. Italienische gesetzt) (vgl. Reinfried 2017b, 69). Ziel der Grammatik-Übersetzungsmethode war vor allem die Auseinandersetzung mit Sprache in Form von Grammatik (sowie in der Oberstufe mit klassischen Texten der Literatur), der - in Entsprechung zum altsprachlichen Unterricht - unter den Vorzeichen des Neuhumanismus (s. o. Kap. 2.1.2.7 sowie Kap. 3 zur Bildung im Fremdsprachenun‐ terricht) auch formal-bildender Wert zugeschrieben wurde (vgl. Reinfried 2003, 148 f., Reinfried 2017b, 69; zum Verhältnis von altzu neusprachlicher Unterrichtsmethodik im 19. Jahrhundert vgl. weiterführend Klippel 2000). Die schriftlichen Fertigkeiten, insbe‐ sondere auch in Form der Übersetzung in die Fremdsprache, standen im Zentrum des impliziten Kompetenzmodells dieser Methode (vgl. Reinfried 2017b, 73). Das Vorgehen der Grammatik-Übersetzungs-Methode kann mithin in einem ersten Schritt (bei Meidinger) wie folgt beschrieben werden: ● Einführung einer Grammatik-Regel, ● Übersetzungen von Beispielsätzen aus dem Deutschen in die Zielsprache (Hin-Über‐ setzung) (vgl. deduktive Methode des 16.-Jahrhunderts/ Humanismus), ● im Unterricht für Fortgeschrittene: Lektüre klassischer literarischer Texte. Bei Ploetz traten, wie oben angedeutet, bereits vor der Lektüre neben die Grammatik-Erklä‐ rungen und -Übungen in Form der Hin-Übersetzung zusätzlich Beispielsätze/ -texte in der Zielsprache Französisch sowie Her-Übersetzungen aus dem Französischen (vgl. Reinfried 2017b, 69, Reinfried 2020, 22). Der typische Lektions-Aufbau bei Ploetz war daher: ● Einführung einer Grammatik-Regel, ● Her-Übersetzung aus dem Französischen (version), ● Hin-Übersetzung ins Französische (thème) (Reinfried 2006, 38). Bei den Übersetzungsübungen handelte es sich in den Anfangsphasen der Sprachlehrgänge in der Regel um Zusammenstellungen nicht zusammenhängender, dekontextualisierter Einzelsätze, die zunehmend von zusammenhängenden Texten abgelöst wurden (vgl. z. B. Reinfried 2006, 38). 132 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="133"?> Abb. 19a-c: Das schulische Französisch-Lehrwerk der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlechthin: das Lehrbuch der französischen Sprache von Ploetz (Ploetz, Carl ( 18 1860): Lehrbuch der französischen Sprache. Berlin: Herbing, 58f. Die Abbildungen 19b und c lassen das beschriebene Vorgehen gut erkennen: im leicht fortgeschrittenen Unterricht (Lektion 56) wird eine kurze Einführung der Grammatik vorgenommen, gefolgt von einem Text in der Fremdsprache zur Herübersetzung ins Deutsche, an den sich die Übersetzung von Sätzen ins Französische anschließt (hier weiterhin gefolgt von einer neuerlichen Herübersetzung aus dem Französischen). Die Ebene der unzusammenhängenden Einzelsätze ist in dieser Lektion bereits weitgehend überwunden, es wird ein weites, gerade auch das Altertum umfassendes historisches Wissen angenommen, das verständniserleichternd wirken soll. Das Gesamtkonzept des Lehrwerks sieht ferner einen „Lesebuch“-Teil (Ploetz 1860, 103-120), einen Vokabelteil (Ploetz 1860, 121-144) sowie eine „Systematische Übersicht der grammatischen Elemente“ vor (Ploetz 1860, 145-167). Die heute vielfach geforderte und praktizierte Kontrastierung ausgewählter Elemente mit der Erstsprache und ggf. mit weiteren im Klassenverband anzutreffenden Sprachen wie auch mit weiteren Schulsprachen (vgl. Band II, Kap. 2 zu Erstspracherwerb, Mehrsprachen‐ erwerb und Mehrsprachigkeitsdidaktik), sowie die punktuelle Übersetzung zum Zweck der 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 133 <?page no="134"?> Kontrastierung können letztlich auf die Grammatik-Übersetzungsmethode zurückgeführt werden. Mittelbar kann auch die Sprachmittlung im weiteren Sinne (vgl. Band II, Kap. 4.7) qua Nachfolgerin der Übersetzung als ein Erbe der Grammatik-Übersetzungsmethode angesehen werden. 2.2.3 Direkte Methode In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich dann, insbesondere ausgehend von den eher an praktischer Sprachverwendung interessierten „lateinlosen“ Schulen, wie etwa den Real- und Oberrealschulen sowie den (Mädchen-) Lyzeen, getragen von einer jungen Generation erstmals vollumfänglich als „Neuphilologen“ an den Universitäten ausgebildeter Lehrer (hierzu z. B. Reinfried 2006, 38, weiterhin s. o. Kap. 2.1.2.8), die so genannte „direkte Methode“ als Methode einer neusprachlichen Reformbewegung (ca. 1880-1910). Die zentrale Zieldimension dieses Ansatzes war das Sprechen über den (konkret sichtbaren und durch Bilder zu veranschaulichenden) Alltag (vgl. Reinfried 2017b, 73). In zeitgenössischen und älteren, die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts retro‐ spektiv reflektierenden Quellen, ist auch diesbezüglich von „analytisch-imitativen Me‐ thoden“ die Rede (z. B. Aronstein 1926, 39-42. Der Zusatz „analytisch“ bezieht sich in diesem Fall darauf, dass in diesen Methoden von gegebenen, komplexeren Texten ausgegangen und anhand dieser Texte Sprache analysiert wird, bevor es zur eigenen Sprachproduktion kommt (vgl. z. B. Aronstein 1926, 39, vgl. die oben dargestellten imitativen Methoden seit dem 16. Jahrhundert). Die direkte Methode mit ihren Spielarten wollte sich bewusst von der Grammatik-Übersetzungsmethode abwenden und strebte einen mündlich orientierten, einsprachig zielsprachlichen Fremdsprachenunterricht an, in dem u. a. eine korrekte Aussprache - für die der Lehrer das Vorbild sein sollte - eine zentrale Rolle spielte (hierzu vgl. z. B. Reimann 2021b). Hinter dem Prinzip der Einsprachigkeit stand die psychologische Grundannahme, dass auf diese Weise ein „Umweg“ über die Muttersprache/ Erstsprache vermieden werden könne, d. h. z. B. eine direkte Verknüpfung im Gehirn zwischen bildlich dargestellten Gegenständen und den Lexemen der Fremdsprache entstehen könne. Hierdurch sollte eine unmittelbarere, direkte Rezeption und Produktion in der Fremd‐ sprache ermöglicht werden (vgl. z. B. Reinfried 2017b, 69). Diese Annahme gilt aus Sicht der aktuellen neurolinguistischen Erkenntnisse zur Mehrsprachigkeit als überholt (vgl. Band 2, Kap. 1, bes. Kap. 1.2.7). Die jungen Disziplinen (Sprach-)Psychologie und Phonetik waren mithin wesentliche Bezugsdisziplinen der fremdsprachlichen Reformmethode (vgl. Reinfried 2017b, 73). In ihrer Orientierung an Einsprachigkeit und Mündlichkeit als grundlegenden Unter‐ richtsprinzipien griff die direkte Methode also Ansätze auf, die bereits die Dessauer Phil‐ anthropen verfolgt hatten. Im Unterschied zur Grammatik-Übersetzungsmethode sollte die Grammatikvermittlung im Fremdsprachenunterricht nur eine untergeordnete, dienende Rolle ausüben und Übersetzungen, vor allem Hin-Übersetzungen in die Fremdsprache, vor allem im Anfangsunterricht vermieden werden (vgl. Reinfried 2017b, 69, Reinfried 2020, 22 f.). Im Anfangsunterricht kannte die direkte Methode folgende zwei grundlegende Ausprägungen: Auf der einen Seite gab es eine gemäßigte Variante, die auch als Lesebuch‐ 134 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="135"?> methode bezeichnet wurde und ausgehend von (v. a. narrativen) Lesetexten arbeitete, womit sie an die Lese-Übersetzungs-Methode als Spielart der imitativen Methode des 18. Jahrhunderts (s. o.) anknüpfte. Diese Texte lieferten Beispielmaterial für eine im Hintergrund noch immer wirkende grammatische Progression; die „Regeln“ der Grammatik sollten nunmehr induktiv von den Schülern aus den Texten heraus erschlossen werden (vgl. z. B. Reinfried 2017b, 69). Auf der anderen Seite stand die konsequent einsprachig-direkte Variante, die so genannte Anschauungsmethode, die an die Versinnlichungsmethode der Dessauer Philanthropen anknüpfte und einsprachig-zielsprachlichen Unterricht vor allem durch den Einsatz von Bildmaterial (zur Semantisierung, Veranschaulichung und als Sprechanlass) zu gestalten versuchte (vgl. Reinfried 2020, 23). Zu den einsprachigen, stark auf Imitation und Reproduktion vorgegebenen Sprachmaterials setzenden Übungsformen der direkten Methode gehörten: ● Beantwortung von Fragen, ● Nacherzählung, ● Inhaltsangabe, ● Diktate, ● Umformungs- und Ergänzungsübungen. (Reinfried 2017b, 69, Reinfried 2020, 23, vertiefend Reinfried 2007) Trotz des umfangreichen Schrifttums, mithin einer umfassenden theoretischen Modellie‐ rung, konnte sich die direkte Methode in der Praxis nach heutigem Erkenntnisstand nicht flächendeckend etablieren (z. B. Reinfried 2017b, 70). Dennoch können das Bemühen um Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht, die Orientierung an Mündlichkeit und nicht zuletzt Verfahren der einsprachig-zielsprachlichen Semantisierung (vgl. Band II, Kap. 3.3 zur Wortschatzarbeit) im heutigen Fremdsprachenunterricht auf die direkte Methode zurückgeführt werden. 2.2.4 Vermittelnde Methode Mit Blick auf die starke Tradition der Grammatik-Übersetzungsmethode und die Schwie‐ rigkeiten der neusprachlichen Reformbewegung, sich in der Fläche durchzusetzen, ist es verständlich, dass sich in Deutschland um die Jahrhundertwende als Kompromiss eben zwischen Grammatik-Übersetzungs- und direkter Methode eine so genannte Vermittelnde Methode entwickelte und spätestens ab etwa 1910 spürbar präsent war. In der vermittelnden Methode wurde ein auf Mündlichkeit und Sprechen ausgerichteter, möglichst einsprachiger Fremdsprachenunterricht angestrebt, der aber nicht auf die (freilich noch immer bevorzugt induktive) Erschließung und Erklärung grammatikalischer Zusammenhänge und deren Einübung sowie auf Aktivitäten zum Übersetzen verzichten wollte. Dieser vermittelnde Ansatz war bis weit in die 1960er Jahre (vgl. Reinfried 2020, 23), vielleicht, realistisch betrachtet, sogar noch darüber hinaus, spürbar im deutschen Fremdsprachenunterricht wirksam. In den 1960er Jahren wurde kurzzeitig auch wieder eine konsequentere Orien‐ tierung an der direkten Methode empfohlen (Reinfried 2020, 23). Für das Gebiet der ehemaligen DDR kann bis in die 1980er Jahre hinein eine Dominanz der vermittelnden Methode angenommen werden: „[…] an den Polytechnischen Oberschulen der DDR bleibt 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 135 <?page no="136"?> die ,Vermittelnde Methode‘ bis zur Selbstauflösung des Staates 1990 im Wesentlichen erhalten“ (Schröder 2017, 110). Exemplarisch für ein Lehrwerk der Vermittelnden Methode kann das Elementarbuch von Gustav Ploetz aus dem Jahr 1891 (hier in der Auflage von 1908) herangezogen werden. Gustav Ploetz war der Sohn von Karl Ploetz (vgl. Kössler 2008, s.v. Ploetz, Gustav) und hat in diesem Werk versucht, „die gesunden und fruchtbaren Momente der heutigen Reform‐ bewegung im Sinne altbewährter methodischer Grundsätze zu verwerten“ (Ploetz 1908, VIII). Es besteht für jede Lektion aus den drei Teilen „Lesebuch“, „Elementargrammatik“ und „Übungen“, die aufeinander bezogen sind, aber innerhalb des Buches in diesen Kategorien jeweils separat abgedruckt sind (also ein „Lesebuch“-Teil, ein „Grammatik“-Teil usw., das Auffinden ist durch das tabellarische Inhaltsverzeichnis gut möglich). 136 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="137"?> Abb. 20a-f: Ein Lehrwerk der Vermittelnden Methode (Ploetz, Gustav (1908, 1 1891): Ploetz-Kares Kurzer Lehrgang der französischen Sprache - Elementarbuch. Berlin: Herbig, I, XIII, 3, 75 f., 127) 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 137 <?page no="138"?> 2.2.5 Audiolinguale und audiovisuelle Methode Etwa parallel dazu hielten - in Deutschland selten ausschließlich praktiziert, aber spürbar auf den Fremdsprachenunterricht einwirkend - ebenfalls vom Grundanliegen her auf Mündlichkeit zielende, behavioristisch und strukturalistisch basierte Methodenkonzepte aus den USA und Frankreich Einzug in den Fremdsprachenunterricht, wobei - naheliegen‐ derweise - die Wirkung der so genannten audiolingualen Methode, die US-amerikanischen Ursprungs ist, im Englischunterricht, die der sogenannten audiovisuellen Methode, die französischen Ursprungs ist („méthode structuro-globale audio-visuelle“ oder „méthode SGAV“), im Französischunterricht stärker nachvollziehbar ist (vgl. Reinfried 2020, 23). Die audiolinguale Methode, die in den USA seit den 1940er Jahren entwickelt wurde, stellt einen stark imitativen Ansatz dar, der in der Bundesrepublik verstärkt seit den 1960er Jahren im Fremdsprachenunterricht gerade auch der Hauptschulen rezipiert wurde (vgl. z. B. Schröder 2017, 110). Das Prinzip der Imitation wird hier auf der Grundlage des seinerzeit in den USA dominanten lerntheoretischen Paradigmas des Behaviorismus und auf der Grundlage der technischen Möglichkeiten, die Tonband und später Audiokas‐ sette in so genannten Sprachlaboren boten, in drill-artige Übungen überführt, in denen sprachliche Muster (patterns) wiederholt und ggf. leicht modifiziert werden mussten (daher pattern drill als Bezeichnung solcher, kognitiv häufig wenig fordernder, aber zu grammatikalisch-formaler Präzision erziehenden Aktivitäten) (ausführlicher in Band 3, Kap. 1.3.5 zu Sprachlaboren). Zentrale Zieldimensionen waren mehr als das freie Sprechen korrekt anzueignende „sprachspezifisch[e] Lautfolgen und Satzbaumuste[r]“ (Reinfried 2017b, 73). Der Aufbau eines Sprachlehrgangs folgte einer klaren linearen Abfolge der Fertigkeiten vom Hören über das Sprechen zum Lesen und zum Schreiben (vgl. Reinfried 2017b, 73). Ein typischer Lektionsaufbau sah folgende Schritte vor: ● wiederholte Präsentation mündlicher Dialoge, ● Erklärungen, ● Nachsprechen der Dialoge Satz für Satz, ● ggf. Lesen der Dialoge mit verteilten Rollen, ● Fragen zum Text, ● Wiedergabe/ Reproduktion in einem Rollenspiel, ● Variation des Sprachmaterials in pattern-drill-artigen Übungen. (Reinfried 2017b, 70 f., Reinfried 2020, 23) 138 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="139"?> Abb. 21: Pattern-drill-artige Übung im Lehrwerk Italienisch für Sie 1 (Carli, Augusto/ Lehmberg, Peter/ Piccinelli-Balocchi, Laura (1975): Italienisch für Sie. Ein moderner Sprachkurs für Erwachsene. Band-1. München: Hueber, 32) Die französische methode SGAV, entwickelt in den 1950er Jahren und in Ansätzen vor allem Anfang der 1970er Jahre im deutschen Französischunterricht rezipiert (Reinfried 2020, 23), ist in Grundzügen vergleichbar, orientiert sich aber in Darstellung der Sprache und Anlage der Aktivitäten noch stärker am Strukturalismus französischer Prägung und geht von einer holistischen Sprachtheorie aus, in welcher der Kontext einer Sprachäußerung, der u. a. durch Gestik und Mimik gegeben ist, eine entscheidende Rolle spielt (Reinfried 2013, bes. 68, Reinfried 2017b, 71). Mithin rückt die Interaktion in Alltagssituationen stärker als die 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 139 <?page no="140"?> Sprachstrukturen der audiolingualen Methode zur Zieldimension des Fremdsprachenun‐ terrichts auf. Dabei steht die mündliche Sprachverwendung im Vordergrund (vgl. Reinfried 2017b, 73). Vor dem Hintergrund der holistischen Sicht auf Sprache bezieht die méthode SGAV zur Visualisierung des kommunikativen Kontexts von vornherein neben dem Hören auch das Sehen mit in die Darbietung des Lernstoffs ein (daher auch die Bezeichnung als audiovisuelle Methode): Diapositive und später OHP-Folien (vgl. Band III, Kap. 1.3.2) sollten Dialoge und Texte in Standbildern illustrieren, das gehörte Sprachmaterial sollte so nicht nur in der Assoziation von Schrift und Laut gespeichert, sondern mithilfe des zusätzlichen visuellen Kanals verankert werden. Der (auch auswendig repetierende) Aufruf des Sprachmaterials sollte in der Folge durch die Bilder ausgelöst werden können. In der Praxis wurden z. B. Dialoge auf Tonband und gleichzeitig die begleitenden Diapositive oder Folien präsentiert, für die Folgestunde sollten die Dialoge auswendig gelernt und beim sukzessiven Zeigen der Bilder wiedergegeben werden. Abb. 22: Bilderfolge aus dem Foliensatz zu Études Françaises. Cours intensif 1. Stuttgart: Klett 1978 (vgl. Erdle-Hähner, Rita et al. (Hrsg.): Françaises. Cours intensif 1. Stuttgart: Klett 1977, 7) In weiteren Schritten sollte es nach der Reproduktion in Phasen der Anwendung auch zu einer Variation des angeeigneten Sprachmaterials kommen (vgl. z. B. Reinfried 2017b, 73). Während ein solcher Fremdsprachenunterricht in Frankreich noch bis in die 1990er Jahre beobachtet werden konnte (Erfahrungswissen des Autors), hat sich die audiovisuelle 140 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="141"?> Methode im engeren Sinn - wie auch die audiolinguale Methode - an deutschen Schulen nie wirklich etablieren können. Eine Wertung der Bedeutung dieser beiden Methoden kann nach Marcus Reinfried wie folgt lauten: beiden Methoden [kommt] das historische Verdienst zu, dass sie eine Lehrergeneration für die Relevanz der gesprochenen Sprache sensibilisiert und zum Einsatz akustischer und visueller Medien im Französischunterricht entscheidend beigetragen haben. Etwa um 1970 wurden erstmals zahlreiche Dialoge und die Inhalte einer alltagsbezogenen Landeskunde in die Lehrwerke aufge‐ nommen. (Reinfried 2017b, 71) Weiterhin kann eine punktuelle Berücksichtigung sprachkontrastierender Aspekte - über die oben diesbezüglich gewürdigte Grammatik-Übersetzungsmethode hinaus - auf die audiolinguale Methode zurückgeführt werden, zu deren zentralen Bezugsdisziplinen die so genannte kontrastive Linguistik der 1950er Jahre zählte (vgl. Reimann 2014a, bes. 13-15). Ergänzend konnte Marcus Reinfried herausarbeiten, dass es in den frühen 1970er Jahren im deutschen Französischunterricht in der Folge eines „Kompromiss[es] von (ganzheitlich situativer) audiovisueller und (analytisch-wortschatzbezogener) Anschauungsmethode“ tendenziell zu einem Wiederaufkeimen der konsequenten direkten Methode kam (Reinfried 2020, 23, weiterführend z.-B. Reinfried 2013b). 2.2.6 Kommunikative Methode Die sogenannte kommunikative Methode wurde Anfang der 1970er Jahre im angloameri‐ kanischen Sprachraum als Gegenbewegung zur audiolingualen Methode entwickelt (vgl. Reinfried 2020, 23) und alsbald für den deutschen Fremdsprachenunterricht rezipiert (z. B. Piepho 1974): „Die [audiolinguale] Methode gerät nach 1968 als anti-emanzipatorischer Versuch der Schülerprogrammierung ins politische Abseits. Sie wird nach und nach durch den kommunikativen Ansatz abgelöst“ (Schröder 2017, 110). Im Zentrum dieses Ansatzes steht die „kommunikative Kompetenz“ in Alltagssituationen. Übergeordnetes Ziel ist - anders als bei audiolingualer und audiovisueller Methode, die vor allem auf Reproduktion vorgegebenen Sprachmaterials setzten - das eigenständige freie Sprechen (vgl. z. B. Reinfried 2017b, 71 f.). Die zentrale linguistische Bezugsdisziplin ist die seinerzeit junge linguistische Prag‐ matik, die Sprache als Handeln, mithin als zielgerichtetes Tun, betrachtet. Es wurde versucht, die abstrakte Theorie der Sprechakte in Verzeichnisse von Situationen und Redemitteln zu überführen, die den Ausgangspunkt für eine an Sprechhandlungen orien‐ tierte, pragmatisch begründete Progression in Sprachkursen und -lehrwerken bildeten (vgl. Band II, bes. Kap. 4.2). Eine überwiegend pragmatisch fundierte Progression liegt bis heute den meisten schulischen Lehrwerken für den Unterricht romanischer Sprachen zugrunde (vgl. Reinfried 2017b, 72). Lernziel ist also der Erwerb von Redemitteln, mit denen sprachliche Handlungen vollzogen werden können, unter den kommunikativen Fertigkeiten tritt das Sprechen (mit Blick auf seine pragmatischen Aspekte, weniger mit Blick auf die sprachliche Korrektheit, hierzu vgl. bes. Band II, bes. Kap. 3.1 zur Aussprache und Kap. 5 zum Umgang mit Lernersprachen) stark in den Vordergrund. Wesentliche 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 141 <?page no="142"?> Verfahren der Unterrichtsorganisation und der Unterrichtsmethodik können wie folgt beschrieben werden: ● Aktivitäten, auch formbezogene Übungen, werden in kommunikative Kontexte einge‐ bettet, ● Sprechhandlungen werden eingeübt und variiert, ● frei zu entwickelnde Rollenspiele werden zu einer privilegierten Form der Anwendung des erlernten Sprachmaterials, ● Partner- und Gruppenarbeit werden zu privilegierten Sozialformen. (vgl. Reinfried 2017b, 72 f., vgl. Kap. 5 zur Unterrichtsplanung) Zugleich wirkte noch immer der Strukturalismus auf den Fremdsprachenunterricht ein; er beeinflusste nicht nur, im Verbund mit dem lernpsychologischen Ansatz des Behaviorismus, den audiolingualen und audiovisuellen Fremdsprachenunterricht, sondern seine Wirkung ist, gepaart mit der noch jungen linguistischen Pragmatik, auch noch nachhaltig im soge‐ nannten ,kommunikativen‘ Fremdsprachenunterricht (vgl. z. B. Piepho 1974) der siebziger und achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und seinen Lehrwerken spürbar (vgl. z. B. insbesondere für Spanisch und Italienisch die lange Zeit - teils bis in die neunziger Jahre hinein - noch in der Erwachsenenbildung, aber auch im frühen schulischen Unterricht dieser Sprachen maßgeblichen Lehrwerke Kontakte Spanisch (Halm/ Ortiz Blasco 1980, Halm/ Ortiz Blasco 1987) und Va bene (de Manzini/ Meusel 1984), aber auch für das Franzö‐ sische A bientôt (vgl. Haberzettl 1978, Haberzettl 1987) oder auch für das Portugiesische Vamos lá, Dourado von Rahden/ Di Fonzo-Weil 1989) im Bereich der Erwachsenenbildung oder beispielsweise die Ausgabe 1977 des Cours intensif (Erdle-Hähner et al. 1977)). Abb. 23: Ein frühes kommunikativ ausgerichtetes und bis in die 1990er Jahre hinein eingesetztes Lehrwerk für Spanisch: Kontakte Spanisch (Halm, Wolfgang/ Ortiz Blasco, Carolina (1980): Kontakte Spanisch. Ein Grundkurs für Erwachsene. München: Hueber, 36f. 142 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="143"?> Neben der linguistischen Pragmatik werden ab den neunziger Jahren auch die kognitive Linguistik - allerdings eher in der Lehrwerkgestaltung und der Methodik als in der Forschung, man denke z. B. an die Berücksichtigung von frames und scripts schon in Lehrwerken der kommunikativen Phase - und jüngst auch die Korpuslinguistik (einfüh‐ rend z. B. Mukherjee 2008, Blauth-Henke/ Heinz 2009) und die Neurowissenschaften (vgl. z. B. Videsott 2011) zu Bezugsdisziplinen des nunmehr als neokommunikativ (vgl. Meißner/ Reinfried 2001) zu bezeichnenden Fremdsprachenunterrichts (s. u., vgl. z. B. Reinfried 2020, 24). 2.2.7 Synopse über methodische Tendenzen seit dem Mittelalter Die verschiedenen, zuletzt von Marcus Reinfried (Reinfried 2020) herausgearbeiteten Strö‐ mungen und Haupttendenzen können für die Zeit seit dem Mittelalter und insbesondere ab dem 16. Jahrhundert wie folgt visualisierend nebeneinandergestellt werden (fett = dominante Strömung): 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 143 <?page no="144"?> Jahrhundert theoretisch-deduktiv-abstrakte Grundausrichtung immersiv-imitativ-induktiv-kommunikative Grundausrichtung Mittelalter Übersetzungs- Auswendiglern- Methode 16. deduktiv-übersetzende Methode imitative Methode (Lese- Übersetzungs- Methode) 17. 18. imitative Methode (Lese- Übersetzungsmethode) Versinnlichungsmethode/ imitative Methode der (Dessauer) Philanthropen 19. (v.a. 1. Hälfte, humanistische Gymnasien) synthetische Grammatik- Übersetzungsmethode 19. (v.a. 2. Hälfte, Realgymnasien, (Ober-) Realschulen, Lyzeen, u.ä.) direkte Methode direkte Methode - gemäßigt: Lesebuchmethode direkte Methode - konsequent: Anschauungsmethode 20. (v.a. 1910- 1960) (v.a. 1960er/ 1970er bzw. 1970er) (seit 1970er) Vermittelnde Methode audiolinguale Methode (direkte Methode) audiovisuelle Methode („méthode SGAV“) Kompromiss aus audiovisueller Methode und Anschauungsmethode kommunikative Methode 20. / 21. (seit 1980er/ 1990er, verstärkt seit 2000) neokommunikative Phase Abb. 24: Methodenströmungen im schulischen Fremdsprachenunterricht seit dem Mittelalter (eigene Darstellung) 144 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="145"?> 2.2.8 Neokommunikative Phase Die aktuelle Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts an deutschen Schulen kann, wie oben angedeutet, als neokommunikativ bezeichnet werden: Grundanliegen der kommuni‐ kativen Methode werden aufrecht erhalten und vielleicht sogar noch konsequenter als seinerzeit auf den mündlichen Sprachgebrauch fokussiert (Schlagwort: „Mündlichkeit“) verfolgt, zugleich aber seit den 1980er und verstärkt seit den 1990er/ 2000er Jahren um einige „neue“ Diskurs- und Handlungsfelder ergänzt, so dass eine präfigierende Bezeichnung als „neo-“ kommunikativ durchaus angebracht scheint. Weiterhin ist offensichtlich, dass in postmodernen Zeiten nach dem Ende der großen Erzählungen (Lyotard) hier nicht von einer geschlossenen Methodenkonzeption gesprochen werden kann, sondern an dieser Stelle bewusst der Begriff „neokommunikative Phase“ verwendet werden soll. Abb. 25: Beispiel eines neokommunikativ ausgerichteten Lehrwerks der 2000er Jahre: Berücksichti‐ gung von Kognitivierung, Metakognition und Inter-/ Transkulturalität bereits auf der ersten Doppel‐ seite des Lehrwerks Perspectivas (Amann Marín, Sara/ Forst, Gabriele/ Vicente Álvares, Araceli (2006): Perspectivas A1. Berlin: Cornelsen, 8 f.) Die Begriffsprägung erfolgte durch Marcus Reinfried (Reinfried 2001, vgl. auch Rein‐ fried/ Volkmann 2012, Reinfried 2017b, c) und wird hier in der von Reimann weiterentwi‐ ckelten Form (zuerst Reimann 2014b, 2015a, b, zuletzt z. B. Reimann 2018) aufgegriffen. Zu weit hat sich der Fremdsprachenunterricht insbesondere seit der Jahrtausendwende 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 145 <?page no="146"?> u. a. in der Folge der Publikation des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen im Jahr 2001 und der fremdsprachlichen Bildungsstandards von 2003 ff. vom kommunikativen Paradigma der 1970er Jahre entfernt bzw. weiterentwickelt, als dass man noch immer von demselben „kommunikativen“ Fremdsprachenunterricht sprechen könnte. Zugleich wird das Grundanliegen der „kommunikativen Methode“, die kommunikative Kompetenz (vgl. z. B. zur Grundlegung Hymes 1972, in der deutschen fremdsprachendi‐ daktischen Debatte Piepho 1974) keineswegs in Frage gestellt - ja der „neokommunikative Fremdsprachenunterricht“ schreibt diese unter veränderten Vorzeichen fort und setzt sie im Sinne der Kompetenzorientierung konsequent um. War die bevorzugte Bezugsdisziplin der „kommunikativen Methode“ die linguistische Pragmatik (z. B. Reinfried 2006, 41 f.) und waren entsprechende Lehrwerken noch deutlich von strukturalistischen Einflüssen geprägt (s. o.), so sind wesentliche Diskussionsfelder der neokommunikativen Fremdspra‐ chenforschung, mithin distinktive Merkmale, durch welche sich ein neokommunikativer Fremdsprachenunterricht vom Unterricht der kommunikativen Methode der 1970er Jahre unterscheidet, nach Reinfried (2001 und in Reinfried / Volkmann 2012): Lernerorientie‐ rung, Handlungsorientierung, Ganzheitlichkeit, Prozessorientierung, Interkulturalität und fächerübergreifendes Lernen einschließlich Mehrsprachigkeitsdidaktik. Reinfried (2001, 10) gliedert letztere in drei Teilbereiche: „interlinguale Koordination des Sprachinputs“, „interlinguale Lernstrategien“ und „kontrastive Sprach- und Kulturbewusstheit“ (Reinfried 2001, 10). Aus heutiger Sicht könnte man vom erweiterten Konzept einer „aufgeklärten Mehrsprachigkeit“ sprechen (vgl. z. B. Reimann 2015a, 2016b), die Diskursfelder Interkul‐ turalität um Transkulturalität (z.-B. Reimann 2013a, 2017b, f) und Schülerorientierung um Differenzierung und Inklusion erweitern sowie Aufgaben- und Standardorientierung, Mul‐ timedialität, Kognitivierung und Metakognition, die implizit teilweise bereits in Reinfried (2001) und Reinfried/ Volkmann (2012) angelegt sind, ergänzen (vgl. Reimann 2014b, bes. 90 f., 2015b). Marcus Reinfried selbst hat die inzwischen auch virulente Diskussion um eine „Inhaltsorientierung“, die der offensichtlichen Gefahr einer inhaltlichen Verflachung des Fremdsprachenunterrichts bei allzu ausgeprägter Konzentration auf die Vermittlung der leicht messbaren funktionalen kommunikativen Kompetenzen gefolgt ist, als Charakteris‐ tikum des neokommunikativen Fremdsprachenunterrichts hinzugefügt (Reinfried 2017c, bes. 79). In einer Zeit, die in der anglophonen Forschung nicht zu Unrecht - aber sehr vage - bisweilen mit dem Etikett „post-method condition“ versehen wird (Stern 1983), scheint es wie oben angedeutet sinnvoll, nicht von einer etwaigen „neokommunikativen Methode“, sondern, in teilweiser Anlehnung an Königs 1991, von einer „neokommunikativen Phase“ des Fremdsprachenunterrichts zu sprechen und diese in Integration der Ansätze von Marcus Reinfried (2001, 2017b, c) und den Ergänzungen in Reimann 2014b, 2015a, b sowie 2018 wie folgt darzustellen: 146 2 Geschichte des Unterrichts der romanischen Sprachen <?page no="147"?> kommunikative Methode o kommunikative Kompetenz seit den 1970er Jahren neokommunikative Phase o Schülerorientierung o Differenzierung inkl. Jungenförderung (*) o Inklusion (*) -o aufgeklärte * Mehrsprachigkeit o Inter- und Trans * kulturalität o Handlungsorientierung o Ganzheitlichkeit -o Inhaltsorientierung ** o fächerübergreifendes Lernen einschließlich bilingualer Sachfachunterricht -o Aufgabenorientierung (*) o Standard-Orientierung * -o Kognitivierung * o Metakognition (*) -o Multimedialität * - * Ergänzungen D.R. aus heutiger Sicht (erstmals Reimann 2014b); ** Ergänzung Reinfried 2017b, c (*) implizit bereits in Reinfried 2001 und Reinfried/ Volkmann 2012 erfasst (z.-B. s.v. Lerner- und Prozessorientierung, Ganzheitlichkeit bzw. Prozessorien‐ tierung) -------seit den 1990er Jahren, -verstärkt seit etwa 2000 Abb. 26: Neokommunikativer Fremdsprachenunterricht (eigene Darstellung) Tatsächlich hat der Begriff „neokommunikativer Fremdsprachenunterricht“ durch die von Marcus Reinfried verfassten Kapitel zur Geschichte und Gegenwart des Fremdsprachenun‐ terrichts in der überarbeiteten Neuauflage der Fachdidaktik Französisch (Nieweler 2017a) auch Einzug in die Handbuch-Literatur gefunden (Reinfried 2017b, bes. 72 f. und 2017c, bes. 74). Drei herausragende Schwerpunkte des gegenwärtigen neokommunikativen Diskurses sind sicherlich die Bereiche Mündlichkeit, Heterogenität, Differenzierung und Inklusion, inter- und transkulturelles Lernen sowie Mehrsprachigkeit. 2.2 „Innere Geschichte“ des Fremdsprachenunterrichts: Geschichte der (Unterrichts-)Methoden 147 <?page no="149"?> 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen Um Wert und Zielsetzung von Fremdsprachenunterricht an allgemeinbildenden Schulen bestimmen, mithin Fremdsprachenunterricht gestalten zu können, ist es essentiell, sich neben den üblicherweise festgesetzten sprachlich-funktionalen Zielen auch grundlegende, übergeordnete Bildungsziele zu vergegenwärtigen. Erst auf der Grundlage eines hinter der vordergründigen Lehr-/ Lerntätigkeit stehenden Bildungskonzepts konturiert sich die Rolle des (Fremdsprachen-) Unterrichts an den Schulen. Daher soll im folgenden Abschnitt der Versuch unternommen werden, vor dem Hintergrund einer historischen Rückversicherung ein gegenwartstaugliches Bildungskonzept für den Unterricht der romanischen Sprachen zu entwickeln. 3.1 Was ist Bildung? Das Bildungskonzept der sog. Klieme-Expertise, auf das im aktuellen Diskurs häufig Bezug genommen wird, wird in Kap. 4 (Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremd‐ sprachenunterrichts) vorgestellt. Der Begriff „Bildung“ hat indes eine lange Tradition und ist in der Vergangenheit auch weit umfassender, teilweise auch deutlich konkreter, bestimmt und verwendet worden. Im Folgenden sollen daher einige Zugänge zum Konzept „Bildung“ vorgestellt werden, die gerade in der heutigen Zeit im Hinblick auf persönliche Identitätsbildung einerseits und ein friedliches Miteinander der Menschen andererseits erneut reflektiert werden können. Eine eindeutige Definition von Bildung ist nicht möglich. So hat etwa Max Horkheimer, auf den auch die u. a. bereits bei Wilhelm von Humboldt angelegte Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung in dezidierter Form zurückgeht, bereits 1952 darauf hingewiesen, dass mit zunehmender Komplexität eines Gegenstandes - hier der Bildung - eindeutige Definitionen nahezu unmöglich werden (Horkheimer 1952, 409 f., weiterfüh‐ rend Dörpinghaus/ Uphoff 2014, 56). Dennoch kann versucht werden, sich dem Begriff aus verschiedenen Traditionen und Beschreibungsansätzen heraus multiperspektivisch anzunähern, um ihn in seiner Komplexität und Zentralität für das System Schule, mithin auch für den Unterricht der romanischen Sprachen, zumindest ansatzweise zu erschließen. Hartwig Schröder etwa schlägt in den 1990er Jahren folgende Arbeitsdefinition vor: „Bildung ist die wachsende Teilnahme an der Kultur mit dem Ziel einer wertegeleiteten, harmonischen Persönlichkeit.“ (Schröder 1996, 42) und er erläutert diese Definition wie folgt: ● Wachsend zeigt das dynamische Moment der Bildung. Bildung ist nicht abschließbar. Sie ist kein verfestigter Endzustand. ● Teilhabe verweist auf Beteiligung an allem, was den Menschen berühren kann. Teilhabe ist mehr als gelegentliche Teilnahme, ist Mitleben in der Kultur. <?page no="150"?> ● Kultur umfaßt einen nationalen Bereich (z. B. Sprache, Rechtsordnung), einen abendländi‐ schen (z.-B. christlicher Humanismus) und eine entstehende umfassende Weltkultur (univer‐ selle Werte, Menschenrechte u.-a.). ● Wertgeleitet ist der Mensch, wenn er Werte als Leitideen anerkennt und setzt. Werte sind regulative Prinzipien nicht nur, aber vornehmlich in bezug auf das Schöne, Wahre, Gute und Heilige. ● Harmonisch meint eine innere Ordnung, eine Ausgeglichenheit, die zur Weisheit und Aus‐ strahlung verhilft. ● Persönlichkeit als Bildungsziel ist die auf personaler Basis entwickelte Individualität, wobei sich eine ausgewogene Entfaltung und Verfügbarkeit aller Grundkräfte zeigt. Persönlichkeit als Ziel haben Erziehung und Bildung gemeinsam. In engem Zusammenhang damit steht als Ziel der Bildung die Mündigkeit. Durch die Förderung der Persönlichkeitsentfaltung führt die Bildung den Menschen zur Mündigkeit. (Schröder 1996, 43, hier ohne Hervorhebung der einleitenden Schlüsselwörter und des Begriffs der Mündigkeit wiedergegeben) Wenn man auch heute ggf. etwas anders formulieren würde (insbesondere die Gleichset‐ zung von Sprache und Nation und ihre Relevanz für den Bildungsbegriff würde man heute wohl differenzierter betrachten), so erlauben diese Arbeitsdefinition und ihre Erläuterung doch eine erste Annäherung an das Konzept der Bildung. Andreas Dörpinghaus und Ina Uphoff bezeichnen in Grundbegriffe der Pädagogik in den 2010er Jahren Bildung in einem ersten Schritt ganz allgemein als „offensichtlich etwas, das über den Gedanken der Ausbildung hinausgeht und auf größere Zusammenhänge verweist“ (Dörpinghaus/ Uphoff 2014, 56). Im Wesentlichen geht es dabei um die drei Dimensionen der Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu seiner Umwelt insgesamt (vgl. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 10). Diese drei Dimensionen von Bildung sind wiederum bereits bei Humboldt angelegt (ebd.). Dieter Lenzen rekurriert in seinem Essay Bildung statt Bologna! auf drei „Komponenten“ von Bildung, die sich in der europäischen Geistesgeschichte herauskristallisiert haben (vgl. Lenzen 2014, 46 ff.): 1. Bildsamkeit: sie rückt den Menschen als bildungsfähiges Wesen in den Vordergrund. Menschen können zu humanen Lebewesen im Sinne des Humanismus werden und darin gefördert werden. 2. Selbstbildung: Bildung kann nur durch das Individuum selbst vollzogen werden, von außen können allenfalls Anregungen geliefert werden; diese sind aber andererseits auch notwendig, um Selbstbildung zu initiieren. 3. Höherbildung der Menschheit: Bildung soll insgesamt dazu beitragen, dass die Menschheit zu „einer lebenswerteren Zukunft in einer besseren Sozialität als der vorgefundenen“ (Lenzen 2014, 49) gelange. Mit Dörpinghaus/ Uphoff 2013 (327-329) können darüber hinaus grundlegend folgende Merkmale und Funktionen von Bildung festgehalten werden (wörtliche Übernahmen, unter Ersetzung der aufzählenden Buchstaben durch Spiegelstriche): ● Bildung ist nicht Ausbildung […], ● Bildung ist eine Sorge um sich […], 150 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="151"?> ● Bildung ist die Suche nach Erkenntnis […], ● Bildung ist ein Sichfremdwerden […], ● Bildung ist Verzögerung […], ● Bildung als kulturelles Gedächtnis. U.a. die beiden letztgenannten Aspekte scheinen in den aktuellen Debatten zum Beispiel um die Bildungsstandards zu kurz zu kommen und sollen daher an dieser Stelle in den Ausführungen von Dörpinghaus/ Uphoff 2013 nachvollzogen werden. Unter Bildung als Verzögerung konzipieren sie Folgendes: Aber was tun wir, wenn wir den Begriff Bildung für die Frage nach unserer Subjektivität, nach Gesellschaft und Kultur herausstellen? - Wir begreifen und behandeln uns als Individuen, die für ihr Handeln Gründe haben und nicht mechanisch reagieren. Die Absage an die Verbindung von Reiz und Reaktion lässt sich über den Gedanken fassen, dass Bildung mit den Verzögerungen der unmittelbaren und kürzesten Verbindungen im Denken, Handeln und Urteilen zusammenhängt. Der Mensch ist ein Wesen, das zögern kann. Erst in der Verzögerung werden Erfahrungen als Bildungsprozesse möglich. Bildung als Verzögerung markiert den Übergang von der bloßen Nutzbarmachung einer Sache hin zur Frage nach ihrem Sinn und ihrer Bedeutung (vgl. Cassirer 1944/ 2 2007, 49). (Dörpinghaus/ Uphoff 2013, 328 f.) Den Aspekt der „Bildung als Verzögerung“ vertiefen Andreas Dörpinghaus und Ina Ka‐ tharina Uphoff in dem bildungsphilosophischen Essay Die Abschaffung der Zeit (Dörping‐ haus/ Uphoff 2012). Über die Relation von Bildung und kulturellem Gedächtnis formulieren sie wie folgt: […] In die Geschichte zu blicken und ein Bewusstsein für die eigene historische Situation zu entwickeln schützt vor naiver Weltbegegnung und hinterfragt zugleich das eigene Denken. […] Gegenstände von Bildung sind solche des Verstehens, das seine Zeit benötigt. […] Die Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Musik, Sprache, Religion, Wissenschaft, Recht, Ökonomie und Geschichte, Natur sowie Technik ist immer Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, seinem Denken, seinen Gefühlen und seinen Formen des Ausdrucks. Es geht also bei Bildung nicht um die „materiale“ Anhäufung historischen Wissens, um etwa in „Vielwisserei“ als gebildet zu gelten, sondern um ein vielseitiges Interesse für Fragen, die zur Orientierung wichtig sind und auf die gemeinsame Antworten als Sinnentwürfe gesucht werden müssen. (Dörpinghaus/ Uphoff 2013, 329) In historischer Perspektive können unter Rückgriff auf Wiater 1993, 97 (a), Wiater 2013, 86 (b) (vgl. auch Schröder 1996, 42) u. a. folgende zentrale Konzeptionen von Bildung seit der Antike erinnert werden: ● Bildung als Erkennen von Ideen als Urbilder der wahrnehmbaren Realität (Antike, Platon) (b), ● Bildung durch vielfältige, exemplarische Inhalte als ἐγκύκλιος παιδεία und als artes liberales (Antike) (b), ● Bildung als christliche Umdeutung der artes liberales (b), Bildung als Gottesbildlichkeit (Mittelalter) (a), 3.1 Was ist Bildung? 151 <?page no="152"?> ● Bildung als autonome und ganzheitliche Persönlichkeitsbildung des Menschen u. a. durch das Studium der antiken Literaturen (Humanismus) (b), ● Bildung als Kritikfähigkeit des Menschen (Aufklärung) (a), ● Bildung als Entfaltung der im Menschen angelegten Fähigkeiten und Fertigkeiten (Neuhumanismus) (a), ● Bildung als Selbstverwirklichung des Menschen in Verbindung mit dem objektiven Geist (Idealismus) (a), ● Bildung als Versuch, den Menschen durch Arbeit zu verwirklichen (Materialismus) (a), ● Bildung als gegenseitiges Erschließen von Mensch und Welt (kategoriale Bildung) (a), ● Bildung als überflüssige Leerformel (Postmoderne) (a). In ihrer Einführung in die Theorie der Bildung arbeiten Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009 (5 ff., passim) ihrerseits aus der Geschichte des westlichen Bildungsdiskurses verschiedene historische und gegenwärtige Positionen heraus, von denen die wichtigsten hier abstrahie‐ rend aufgegriffen werden sollen (ergänzt um Formulierungen aus Dörpinghaus/ Uphoff 2013, 329 zu historische Positionen 1. und 3.): Historische Positionen: 1. Bildung als Umwendung und Aufstieg/ als Erkenntnis, 2. Bildung zu Autonomie und Mündigkeit, 3. Bildung als Bestimmung/ Selbstzweck des Menschen, 4. Bildung als Aneignung des Allgemeinen und als gesellschaftliche Integration. Gegenwärtige Positionen: 1. Bildung als offene Identität, 2. Bildung als Selbständigkeit im Denken, 3. Bildung als skeptisch-kritische Haltung, 4. Bildung als plurale Kritikfähigkeit, 5. Bildung als Umgang mit Widerständigkeiten. Sodann grenzen sie Bildung von folgenden verwandten Diskursfeldern ab, namentlich von: ● Erziehung, ● Sozialisation, ● Identität, ● Ausbildung/ Berufsbildung/ Qualifikation, ● Kompetenz, ● Lernen, ● Wissen. (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 7, 136 ff.) An dieser Stelle soll nur die wesentliche Abgrenzung zur Erziehung in Erinnerung gerufen werden: Vereinfacht gesprochen ist Erziehung die Tätigkeit bestimmter Akteure (v. a. Eltern, Lehrkräfte), die auf Individuen einwirkt (vgl. auch die Etymologie etwa von französisch éducation: lat. e-ducare - auf-, erziehen, vgl. e(x)-ducere - „heraus-ziehen“), während Bildung die Wirkung ebensolcher Handlungen wie auch weiterer Umweltein‐ 152 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="153"?> flüsse bezeichnet, durch die sich eine (Persönlichkeits-) Entwicklung des Individuums vollzieht (vgl. z.-B. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 136 f.). Erziehung und Bildung unterscheiden sich zumindest in zwei Hinsichten. Unter zeitlichem Aspekt gehen die […] Maßnahmen und Prozesse der Erziehung im Lebenslauf eines Menschen den Prozessen und Resultaten von Bildung voraus, wenn Bildung das Reflexions- und Gestaltungsver‐ mögen dieses Menschen in Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen meint. In sachlicher Hinsicht heben die Handlungen, Prozesse und Maßnahmen der Erziehung die äußeren Einwirkungen und Wirkungen auf den zu [E]rziehenden als noch Unmündigen hervor, die von anderen Seiten als diesem selbst kommen, d. h. etwa - intentional - von einem Erzieher oder - funktional - von der Gesellschaft. Bildung dagegen betont stärker die reflexiven Vollzüge, die u. a. die eigene Erziehung zum Gegenstand haben können. (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 137). Den besonderen Beitrag fachspezifischer Inhalte als Bausteine von Bildung unterstreichen Frederking/ Bayrhuber 2017 in ihrem Versuch der Grundlegung einer „fachdidaktischen Bildungstheorie“ (vgl. Kap. 1.4.2). Sie untersuchen historische und gegenwärtige Positionen zur Interaktion von Fachlichkeit und Bildung und unterstreichen, dass insbesondere auch Wilhelm von Humboldt als „Spiritus rector einer Theorie fachbasierter Bildung“ gelten darf (Frederking/ Bayrhuber 2017, 223). Sie erkennen im Werk Humboldts u. a. folgende drei, mitunter in der Humboldt-Rezeption (vgl. Kap. 3.2.3) weniger beachtete, Dimensionen von Bildung: 1. Die Aufwertung des Fachlichen, 2. die personale Dimension fachlicher Bildung, 3. das Anerkennen funktionaler Facetten von Bildung. (Frederking/ Bayrhuber 2017, 208) Schließlich kommen sie zu dem Ergebnis, „dass bereits dem Fachlichen selbst ein erhebli‐ ches Bildungspotential inhärent ist. Bildung findet mit anderen Worten auch und gerade im Fach bzw. in den einzelnen Fächern statt.“ (Frederking/ Bayrhuber 2017, 232). Abschließend sollen die Ergebnisse der begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu den Konzepten „Bildung“ und „Kompetenzen“ von Martin Eder aus dem Jahr 2021 aufgegriffen werden, der, in Anerkennung der Unmöglichkeit einer abschließenden Definition von Bildung (s. o., z. B. Eder 2021, 45, 57)), aus den untersuchten Positionen folgende fünf „Grundkonstanten“ von Bildung ausmacht, die auch in dieser Konzeption von Fachdidaktik der romanischen Sprachen und Literaturen zugrunde gelegt werden können: 1. Der Mensch verfügt mit Geburt über Kräfte bzw. deren Grundlagen, die es anzuregen, zu fördern und zu entfalten gilt. 2. Bildung ist ein individueller, lebenslanger Prozess ohne faktisches Ziel und hat einen reflexiven Charakter. 3. Der Mensch bildet sich durch die Teilhabe an und Interaktion mit der Gesellschaft, also der Wechselwirkung zwischen sich und der Welt. 4. Bildungsprozessen liegt eine ursprüngliche Zweckfreiheit zugrunde. 5. Die eigene, individuelle Auseinandersetzung mit gehaltvollen Inhalten ist die Voraussetzung für erkenntnisbasierte und damit nachhaltige Bildungsprozesse. (Eder 2021, 45-57, 57) 3.1 Was ist Bildung? 153 <?page no="154"?> Zu weiteren historischen und gegenwärtigen Konzeptionen von Bildung vgl. beispielsweise auch die einführende Darstellung Erziehen und Bilden von Werner Wiater (Wiater 2013, bes. 86-109). Überblickend zur Theorie der Bildung kann über die genannten Bände Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009 und Dörpinghaus/ Uphoff 2014 hinaus beispielsweise auf das konzise Kapitel „Bildung als Aufgabe der Schule“ von Dörpinghaus/ Uphoff 2013 im Studienbuch Schulpädagogik, die einschlägigen Abschnitte der Studie Eder 2021 (bes. 19-44) sowie - durchaus vertiefend und auch mit Blick auf das Konzept der Erziehung - auf Tenorth 2010 verwiesen werden. Darüber hinaus liegt mit Tenorth 2020 nunmehr eine umfassende Untersuchung des Diskurses um Bildung vor. Im Folgenden sollen ausgewählte, für die Frage nach Bildung im und durch Unterricht der romanischen Sprachen relevant scheinende historische Konzeptionen von Bildung kurz in Erinnerung gerufen werden (Kap. 3.2), bevor vor dem Hintergrund der Feststellung, dass es derzeit keine geeignete Konzeption von Bildung für den schulischen Unterricht der romanischen Sprachen zu geben scheint (Kap. 3.3) und auf der Grundlage philosophischer Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs (Kap. 3.4) der Versuch unternommen wird, den Beitrag des Unterrichts der romanischen Sprachen zur Bildung exemplarisch zu untersuchen (Kap. 3.5). 3.2 Historische Momente einer Theorie der Bildung 3.2.1 Griechische Antike - Platon: Begründung der europäischen Bildungstradition Im Einzelnen ist unter den in Kap. 3.1 genannten bedeutenden historischen Positionen Folgendes zu verstehen: Die Rolle eines der frühesten, wirkmächtigsten Texte in der Geschichte der europäischen Bildung wird gemeinhin Platons „Höhlengleichnis“ im siebten Buch der Politeia zugeschrieben. Mit „Bildung als Umwendung und Aufstieg“ bezeichnen Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009 (43-53) hier das zentrale Moment des Textes, in dem ein Individuum, das veranlasst wird, sich - um im Bild Platons zu bleiben - aus seinen Fesseln zu befreien und umzudrehen, nicht mehr nur die Schatten an einer vor ihm befindlichen Wand wahrnimmt, sondern die Schatten werfenden „Originale“, zu denen es sodann (in der Erzählung aus den Tiefen einer Höhle heraus) emporsteigen und sie genauer betrachten kann. Dieses so genannte „Höhlengleichnis“ beschreibt also Bildung auch als „Emanzipationsprozess“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 48), der durch eine nicht näher bestimmte Figur - eine Art Lehrperson - eingeleitet werden muss (vgl. ebd.). Ergänzend zu der Darstellung in op. cit. kann hier darauf hingewiesen werden, dass dieser Gedanke bei Plotin und in der Folge im gesamten Neuplatonismus bis in die frühe Neuzeit hinein (vgl. z. B. auch Ficino) aufgegriffen wird und zugleich eine große Wirkmacht auf die Theologie des Mittelalters hatte (vgl. das Weltbild Dantes). Der Bildungsgedanke wiederum, wie er sich in Europa seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat, ist zunächst eindeutig theologischen Ursprungs (vgl. z. B. Tenorth 2012, 92, hierzu s. u.). Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009 beschreiben ihrerseits die Wirkung Platons auf die Geschichte der Bildung in Europa wie folgt: 154 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="155"?> Die Wirkungsgeschichte platonischen Denkens, insbesondere seine Umformulierungen und Weiterführungen durch Platons Schüler Aristoteles und die jüdisch-christlichen Traditionen bis in die Neuzeit, ist über weite Strecken deckungsgleich mit dem Verlauf der europäischen Philosophiegeschichte […]. Demzufolge wirkt Platons philosophische Begründung der Bildung […]in maßgeblichen Konzeptionen von Pädagogik in der Gegenwart fort, wenn auch in manchen Fällen uneingestanden oder unbemerkt. […] Nach eigenen Aussagen hat das platonische Bildungs‐ denken etwa auf […] Augustinus (354-430) gewirkt, der wiederum maßgeblichen Einfluss auf das christlich geprägte Mittelalter hatte. In der groben Zeitspanne zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert, im Humanismus der europäischen Renaissance, entsteht dann in der Aufnahme und Auseinandersetzung mit dem platonischen Bildungsdenken das neuzeitliche Selbst- und Weltverständnis des Menschen, das über die Aufklärungsepoche konkretisiert bis heute - wenn auch mitunter problematische - Gültigkeit hat […]. (op. cit., 52 f.) 3.2.2 Aufklärung - Kant: Autonomie, Mündigkeit und Moral Der Bezug der Kategorien „Autonomie“, „Mündigkeit“ und „Moral“ zur Bildung kann insbesondere aus der anthropologischen Konzeption der Aufklärung bei Immanuel Kant (1724-1804) hergeleitet werden (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 54 ff.). Die hier zentralen Anliegen und Fragen lassen sich wie folgt auf den Punkt bringen: Wie kann man „dem Menschen auf der Grundlage seiner Vernunft zur größtmöglichen Freiheit im Denken und Handeln verhelfen [? ] […] Kann der Mensch seine Freiheit so gebrauchen, dass er sein Leben moralisch-gut (Autonomie) führt und sich in seinem Denken und Handeln nur von Dingen leiten lässt, die er selbst als richtig erkannt hat (Mündigkeit)? “ (op. cit., 54). Ansatzpunkt für die Kategorien „Autonomie“ und „Mündigkeit“ ist dabei die bekannte Definition der Aufklärung durch Immanuel Kant: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmün‐ digkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (Kant 1968, 53) Es gibt nach Kant vier bildende Momente für den Menschen, das Disziplinieren, das Kul‐ tivieren, das Zivilisieren und das Moralisieren (vgl. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 61). Für Letzteres spielt der so genannte kategorische Imperativ Kants eine zentrale Rolle; das Moralisieren stellt den Zielpunkt der Bildungsarbeit dar. Disziplinieren, Kultivieren und Zivilisieren beziehen sich auf zwei von drei Anlagen, die Kant dem Menschen grundlegend zuschreibt und die ihm von seiner biologischen zu seiner moralischen Natur verhelfen (Tenorth 2012, 93): Tierheit (Überleben à Disziplinierung) und Menschheit (Ausbildung der individuellen intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten à Kultivierung) sowie Integration als soziales Wesen à Zivilisierung). Die dritte Anlage ist die zur Persönlichkeit, aus ihr ergibt sich die Möglichkeit und die Verpflichtung zur Entwicklung von Moralität (vgl. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 58, 61 f.). Alle Bildungsbemühungen haben nur 3.2 Historische Momente einer Theorie der Bildung 155 <?page no="156"?> dann einen Sinn, „wenn sie sich auf die Ermöglichung moralischer Bildung zu Autonomie und Mündigkeit ausrichten“ (op. cit., 63, vgl. 65). 3.2.3 Neuhumanismus - Wilhelm von Humboldt: Bildung durch Sprache Der Aspekt „Bildung als Wesensmerkmal des Menschen“ kann weiterhin als zentraler Ausgangspunkt in der Bildungskonzeption Wilhelm von Humboldts (1767-1835) gesehen werden, die in ihrer idealistischen Ausprägung eine klare Abkehr vom Nützlichkeitsdenken der Aufklärung vollzieht (vgl. z. B. Hoffmann 2016, 22). Wilhelm von Humboldt gilt als Begründer des Neuhumanismus, dessen Wirkmacht bis weit in die Gegenwart hineinreicht. Humboldts Bildungsbegriff ist bei genauem Hinsehen bis heute aktuell und wird nach wie vor an den Anfang bildungstheoretischer Reflexionen gestellt (z. B. Koller 2012, bes. z. B. 10 f.). (Persönlichkeits-)Bildung sei der „wahre“, übergeordnete Zweck der menschlichen Existenz (z. B. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 68, Hoffmann 2016, 22). Bildung stehe jedem Individuum zu (vgl. Tenorth 2012, 93) - ein sehr fortschrittlicher Gedanke, der in letzter Konsequenz zum heutigen Inklusionsparadigma führt. Bildung wird als „formale“ Bildung gedacht, „die der Ausbildung des Verstandes und des Gemütes dient“ und sich über „die überlieferte Kultur und insbesondere die Sprache“ erzielen lasse (Hoffmann 2016, 22). Humboldts Bildungskonzeption steht unter den Vorzeichen einer - von ihm in der antiken griechischen Kultur verkörperten - Harmonievorstellung, die den Menschen zur „höchste[n] und proportionirlichste[n] Bildung der Kräfte zu einem Ganzen“ führt (zit. nach Koller 2012, 11, vgl. Tenorth 2012, 93) und dadurch mögliche „Einseitigkeit“ eines jeden Menschen überwinden helfen solle (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 69). Koller 2012 deutet dieses Zitat wie folgt: […] es [geht] Humboldt um die möglichst weitreichende („höchste“) und zugleich um die möglichst ausgewogene („proportionirlichste“) Entfaltung aller menschlichen Anlagen. Maßstab seines Bildungsgedankens stellen also nicht (wie z. B. im modernen Qualifikationsbegriff) die gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Anforderungen an das Individuum dar, sondern vielmehr dessen „Kräfte“, d. h. das je individuelle Entwicklungspotential. Entscheidend dabei ist freilich, dass die Entfaltung dieser „Kräfte“ Humboldt zufolge nicht im solipsistischen Bezug des Individuums auf sich selbst erfolgen kann, sondern dass der Mensch dazu eines Widerparts, einer „Welt ausser sich“ bedarf. (Koller 2012, 11) Bildung ist also immer auch als „Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt“ zu verstehen (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 71). Dabei geht es um Aktivierung und Entwicklung der in einem Individuum vorhandenen „Kräfte“, die letztlich mit den „Ressourcen“ heutiger Diskurse, etwa im Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA) (vgl. Kap. 4.1.3), durchaus vergleichbar sind. Bildungsziel ist folglich die individuelle Höherbildung, die letztendlich zur Höherbildung der Menschheit in ihrer geschichtlichen Entwicklung beitrage (z. B. Dörpinghaus/ Poe‐ nitsch/ Wigger 2009, 70). Diese Höherbildung zielt auf eine Verbesserung des mensch‐ lichen Zusammenlebens im Sinne eines Abbaus „sozialer und politischer Missstände“ und eines Zugewinns an persönlicher Freiheit und „soziale[r] Gerechtigkeit“ (Dörping‐ haus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 70). Freiheit und Selbstbestimmung einerseits und der Bezug 156 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="157"?> zu anderen Menschen andererseits sind für Wilhelm von Humboldt also zwei grundle‐ gende Bedingungen von Bildung (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 72). Weiterhin ist die „Mannigfaltigkeit der Situationen“, mit denen ein Individuum konfrontiert wird, essentiell, um sich weiterzuentwickeln und etwa einseitigen Entwicklungen vorzubeugen (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 72). In heutiger Terminologie wäre darunter etwa eine Vielfalt der „Lerngelegenheiten“ zu verstehen. Oertel 2013 resümiert als Kern des humboldtschen Bildungskonzepts mit Ziel einer Entwicklung aller in einem Individuum angelegten „Kräfte“: ● [die] lebendige Auseinandersetzung mit wesentlichen Stoffen, ● [die] kontinuierliche Selbstentfaltung vor der Spezialisierung, ● möglichst für alle in einer einheitlichen Schule, soweit die Begabung reicht. (Oertel 2013, 34) Zentral sind für Humboldt der Bezug auf die klassische, vor allem die griechische, Antike, die alten Sprachen und das Ideal einer zunächst zweckfreien Bildung (vgl. z. B. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 68). Auch sein Konzept harmonischer Menschen‐ bildung geht letztendlich auf die griechische Antike zurück (vgl. z. B. Dörpinghaus/ Po‐ enitsch/ Wigger 2009, 69). Die Hinwendung zur griechischen Antike ist in mehrfacher Hinsicht im historischen Kontext des beginnenden 19. Jahrhunderts verständlich: Zum einen beobachtete man in Westeuropa die national orientierte Unabhängigkeitsbewegung der Griechen vom Osmanischen Reich mit großer Bewunderung, zum anderen waren Preußen und seine ständisch-absolutistische Gesellschaft mit den napoleonischen Kriegen zusammengebrochen: „Erneuerung erhoffte man sich durch eine liberale Neuordnung (z. B. Aufhebung der Leibeigenschaft) und durch ein Bildungssystem, das allen Bürgern gemeinsame Wertevorstellungen vermittelt, die zur freiwilligen Mithilfe aller an einer nationalen Identität anspornen“ (Oertel 2013, 34). Nicht zuletzt waren Kopien griechischer Kunstwerke vor allem in Rom zugänglich und eine Präsenz der griechischen Kultur etwa auch in der Weimarer Klassik mithin auch eine Folge der Hinwendung zu Italien im 18./ 19. Jahrhundert (vgl. Winckelmann, Goethes italienische Reise) (vgl. Hoffmann 2016, 22). In Bayern wiederum herrschte ein Philhellenismus besonderer Ausprägung - u. a. war der erste griechische König, Otto I., Sohn des bayerischen Königs Ludwig I. -, so dass die humboldtschen Reformideen auch hier auf fruchtbaren Boden fielen und insbesondere durch Niethammer und von Thiersch das humanistische Gymnasium etabliert wurde (vgl. Hoffmann 2016, 23). Insofern die Interaktion mit Menschen als essentieller Baustein von Bildung gedacht wird, spielen Sprache und Fremdsprachen in der Bildungskonzeption des Neuhumanismus in mehrfacher Hinsicht eine grundlegende Rolle: Einerseits als Medium der Interaktion mit Anderen, andererseits als Gegenstand des (alt-)sprachlichen Unterrichts. Eine dritte Bedeutung von Sprache für Bildung ergibt sich aus der sprachtheoretischen Position Wilhelm von Humboldts: Er ist überzeugt, dass jede Sprache das Denken auf eine ihr eigene Weise beeinflusse. Sprache wird also nicht repräsentationistisch, sondern konstitu‐ tionistisch, „d.h. als Medium der Hervorbringung bzw. der Konstitution von Gegenständen und Gedanken“ (Koller 2012, 12), verstanden. D.h., je mehr Fremdsprachen ein Individuum erlernt, desto mehr Weltsichten mache es sich zu eigen: 3.2 Historische Momente einer Theorie der Bildung 157 <?page no="158"?> Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neue Arten zu denken und zu empfinden stehen […] vor uns da. (Humboldt 1960 ff., V, 111, vgl. z.-B. Koller 2012, 13) Auch wenn man Humboldts sprachtheoretische Sicht nicht teilen möchte (vgl. auch spätere Theorien zur sprachlichen Relativität, etwa die Sapir-Whorf-Hypothese), so darf man doch auch heute davon ausgehen, dass die Aneignung mehrerer Sprachen und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturen zu mehr Offenheit führen können. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009 (79) fassen die Bedeutung von Sprache in der Bil‐ dungskonzeption Wilhelm von Humboldts wie folgt konzise zusammen: „Die sprachliche Bildung ist aber nicht nur Medium der bildenden und gestaltenden Wechselgespräche. Sie markiert zugleich eine Sicht auf die Welt, die es zu erweitern, zu bereichern und auszuar‐ beiten gilt“. Hoffmann 2016 resümiert Humboldts Idee von (Fremd-)Sprachenunterricht etwas weitergreifend: Indem wir fremde Sprachen lernen, machen wir uns dabei deren und - im Kontrast dazu - auch unsere eigene Weltsicht deutlich. Spracharbeit verknüpft somit nicht nur unser Ich mit der Welt, sondern ist gleichzeitig ein Akt der persönlichkeitsbildenden Selbstreflexion. Dies leistet der Sprachunterricht auch dann, wenn der Schüler nicht die Höhen der anspruchsvollen (griechischen und lateinischen) Literatur erreicht; das Ziel wird allerdings verfehlt, wenn sich der Sprachunterricht nur auf bloßes Auswendiglernen der Regeln und auf die Vorbereitung der Autorenlektüre beschränkt. (Hoffmann 2016, 22 f.) Wie weit Humboldt zumindest eine grundlegende (Allgemein-)Bildung idealerweise einem jeden Menschen gerade auch über Sprache angedeihen lassen wollte, wird an folgendem bekannten Zitat sehr anschaulich verdeutlicht: Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz sein, als Tische zu machen dem Gelehrten. Indes lässt kleine Verschiedenheiten allerdings die Wahl des Stoffs, da jede Form nur an einem Stoff geübt werden kann, zu und auf diese wird in der Folge auch Rücksicht genommen werden. Auch können die grellen Kontraste immer vermieden werden, und es braucht nie dahin zu kommen, dass ein Handwerker Griechisch, kaum lateinisch gelernt habe. (Humboldt 1809, zit. nach der gut zugänglichen Leseausgabe Humboldt 2017, 136, vgl. Müller 1968, 85) Dem Griechischen kommt für Wilhelm von Humboldt auch in Abgrenzung zum Lateini‐ schen insofern besonders idealtypische Bedeutung für die Anregung von Bildungsproz‐ essen zu, als ● [d]as Griechische […] einen vollendeten Bau der Sprache [besitzt], dessen Einsicht auch die Erlernung weiterer Sprachen ermöglicht. ● Griechenland […] eine Fülle von Kunstwerken hervorgebracht [hat], in denen augenfällig die Idee des Menschen zur Geltung gebracht wird. ● [d]ie Griechen […] in ihrem kulturellen Schaffen die Humanität im reinsten Sinne [verkör‐ pern] - als Harmonie von Körper und Geist. (Hoffmann 2016, 23) 158 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="159"?> Zugleich ist Humboldts Sprachreflexion differenziert genug, um nicht nur Nationalspra‐ chen, sondern auch sprachliche Variation bis zum Idiolekt zu berücksichtigen und als bildend zu erachten (vgl. z.-B. Koller 2012, 13 f.). In der kurzen Zeit, in der Wilhelm von Humboldt im preußischen Innenministerium für Bildung verantwortlich war (1809-1810), konnte er grundlegende Bildungsreformen an‐ stoßen (vgl. z. B. Oertel 2013, 35). Am Beginn eines jeden Bildungswegs stand für Humboldt die - wenn auch noch so kurze - oben beschriebene allgemeine Bildung, bevor entweder die allgemeine Bildung vertieft wurde oder eine berufliche Schule besucht werden sollte (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 76). Für die allgemeinbildenden Schulen konzipierte er folgende Lernbereiche: ● linguistische Lernbereiche: Latein, Griechisch, Deutsch, einschließlich philosophischer Lerngegenstände und politischer Bildung, ● historische Lernbereiche: Geschichte, Geographie, Naturkunde, ● ästhetisch-künstlerische Lernbereiche, ● gymnastische Lernbereiche. (vgl. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 77) Betrachtet man die Aufgabenfelder der heutigen Stundentafeln, wird deutlich, dass diese Lernfelder im Wesentlichen noch immer Bestand haben, ergänzt um die Naturwissen‐ schaften, die seinerzeit erst im Entstehen begriffen waren und von Humboldt an die sich an den allgemeinbildenden Bereich anschließenden spezialisierenden Bildungseinrichtungen angegliedert wurden (vgl. Hoffmann 2016, 23). Die dreifache Bedeutung des (Fremd-)Sprachenlernens für Bildung bei Humboldt bringt Ansgar Nünning in seinem Beitrag „Bildung durch Sprache(n) und Literatur - Zur Aktua‐ lität von Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie“ wie folgt auf den Punkt: ● Erstens ist die Sprache […] insofern grundlegende Bedingung für die Bildung des Menschen, als der Mensch nur durch Sprache Zugang zur Welt hat und Denken und Sprechen untrennbar mit einander verknüpft sind. ● Zweitens sind Sprachen Voraussetzungen für Dialog, Geselligkeit und Fremdverstehen. Hum‐ boldt vertritt die Ansicht, dass „das lebendig einander eingreifende, Ideen und Empfindungen wahrhaft austauschende Wechselgespräch […] der Mittelpunkt der Sprache“ (III 81) ist und dass „die gesellige Mittheilung durch Sprache“ dem Menschen Überzeugung und Anregung gewährt. ● Durch das Lernen von Sprachen erwerben Menschen drittens nicht nur bestimmte Kenntnisse und sprachliche Fertigkeiten, sondern sie lernen durch Sprachen zugleich auch neue Weltan‐ sichten - heute würden wir vielleicht sagen: „Kulturen“ - kennen. (Nünning 2007, 154) Aus Sicht der heutigen Bildungswissenschaft wird an der Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts u. a. Folgendes hinterfragt: Offen bleibe in Humboldts Bildungstheorie, „wer oder was eigentlich den Anstoß zu Bildungsprozessen in diesem Sinn“ bzw. zum Spra‐ chenlernen gebe - ein sicherlich berechtigter Einwand -, und inwieweit der hinter der Bildungskonzeption stehende Harmoniegedanke noch tragfähig sei oder „ob angesichts der vielfach diagnostizierten Pluralität und Heterogenität unterschiedlicher Sprachen und Denkweisen nicht ein anderes, stärker am Dissens als an harmonischer Ergänzung orientiertes Theoriemodell für das Verhältnis von Sprachen und Weltansichten zueinander 3.2 Historische Momente einer Theorie der Bildung 159 <?page no="160"?> erforderlich“ sei (Koller 2012, 14, kritisch einführend z.B. auch Benner 2023).“ Dem kann, auch angesichts des Zugeständnisses z. B. bei Koller, dass es sich um ein „idealistisches Bildungsverständni[s] [sc. handelt], das dazu geeignet ist, pädagogischen Bemühungen als Zielvorstellung zu dienen“ (Koller 2012, 15), entgegengehalten werden, dass gerade angesichts von Pluralität und Heterogenität nicht Dissens, sondern Harmonie als Zielvor‐ stellung jeglicher Bemühungen um Bildung, also auch des Fremdsprachenunterrichts, dienen könnten. 3.2.4 Deutscher Idealismus - Hegel: Bildung und Sozialisierung Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), ein Zeitgenosse Wilhelm von Humboldts, bekannt vor allem als Philosoph, war u. a. Schulleiter des Nürnberger (humanistischen) Egidien- (heute Melanchthon-)Gymnasiums (1808-1816), später Professor an der und Rektor der Berliner Universität (1818-1831). Viele seiner bildungstheoretisch relevanten Schriften sind im unmittelbaren Kontext seiner schulischen Tätigkeit entstanden oder wurden kurz darauf publiziert (vgl. z. B. Dörpinghaus/ Poentisch/ Wigger 2009, 81-91, 93). Hegel betonte die Bedeutung des Grammatikunterrichts als „(sprach-)philosophische Propädeutik“ (Hoffmann 2016, 23), erachtete „- gegen die Nützlichkeitsforderungen seiner Zeit - die Meisterwerke der griechischen und römischen Klassik (in ihrer form-inhaltlichen Einheit) [als] das unersetzbare Material formaler Bildung vor aller (beruflichen) Speziali‐ sierung [und] entdeckte […] die Nicht-Unmittelbarkeit bzw. Fremdheit der Antike als didaktischen Gewinn, als „Entfremdung, welche Bedingung der theoretischen Bildung ist“ (1809)“ (Hoffmann 2016, 23 f.). Allerdings betont Hegel - der als letzter großer, klassischer Bildungstheoretiker gilt (z. B. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 92) - stärker als Humboldt den Aspekt der Sozialisation durch Bildung, d. h., das Individuum und seine Bildungsprozesse werden in Auseinandersetzung mit der Allgemeinheit gedacht. So formuliert etwa Tenorth, das Subjekt bewege sich „[a]us der reinen Privatheit, „Entfremdung“ und Subjektivität […] durch Arbeit zur Allgemeinheit“ (Tenorth 2012, 93), wodurch es im Sinne Hegels letztlich zu Freiheit gelangt: Bildung zielt auf Versöhnung, ist aber durch Entzweiung und Entfremdung gekennzeichnet. Die Bildung des einzelnen Menschen geschieht in Abhängigkeit von Gesellschaft, Staat und Geschichte, von Natur und Kultur und bleibt nach Hegel diesen Abhängigkeiten verpflichtet, wenn diese sich als notwendig und vernünftig ausweisen lassen. (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 81) Zugespitzt formuliert wird „Bildung als Allgemeinwerden von Subjektivität durch Fa‐ milie und Erziehung, durch Schule und Unterricht“ sowie durch den gesellschaftlichen Kontext bezeichnet (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 87). Das Individuum hat in Hegels Konzeption die „Pflicht, sich allgemein, d. h. sittlich zu machen“ (Dörpinghaus/ Po‐ enitsch/ Wigger 2009, 88). Die Bildung des einzelnen Menschen wird dabei ähnlich wie bei Humboldt als „Moment im Fortgang der Weltgeschichte“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 81), mithin als Teil der Geschichte betrachtet, zugleich als Teil der Entwicklung des „Geistes“, worunter 160 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="161"?> freier formuliert die „Kultur“, alles von Menschen Geschaffene, zu verstehen ist (Dör‐ pinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 83). Durch Bildung entstehen „sittliche Menschen“, wobei Sittlichkeit wiederum den zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Epoche vorherrschenden „Zusammenhang von Verhältnissen, Institutionen, Denk- und Handlungsweisen, der insgesamt gut und vernünftig ist“ bezeichnet (Dörpinghaus/ Po‐ enitsch/ Wigger 2009, 84). Sittliches Handeln soll nach Hegel für den Menschen zur „Gewohnheit“ werden (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 84). Dieser Prozess vollzieht sich durch „Entzweiung und Entfremdung“ von der ursprünglichen, willkürlichen Natur des Menschen, führt aber in Hegels Konzeption letztlich zu „Befreiung und Versöhnung“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 84): im Einklang von individuellem Tun und allgemeinen Regeln […] gibt es keinen Gegensatz mehr zwischen individuellen Überzeugungen (dem Gewissen) und allgemeinen Gesetzen und Anforderungen (von Recht, Wirtschaft, Staat). (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 84). Als „Welt“ wird der Kontext des Erwachsenenlebens bezeichnet. Erziehung und Bildung beginnen nach Hegel in der Familie, die (staatliche) Schule stellt eine Mittlerin zwischen Familie und Welt dar (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 85). In letzterer wird das Individuum nach dem bemessen, was es leistet - und dies wird in der Schule mit ihren Leistungsanforderungen vorbereitet (vgl. (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 85). Als Besonderheit des wissenschaftspropädeutischen Unterrichts des Gymnasiums gilt mit Hegel, „dass nicht nur einiges nützliches Wissen, sondern eine wissenschaftliche Bildung angestrebt wird“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 85). Hegel plädiert in diesem Zusammenhang für die eigenständige Anwendung des Erlernten auf neue Fälle, für die „Anwendung des Gelernten“ - aber nicht für „eigenes Reflektieren und Räsonieren“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 86). Wissenschaftspropädeutischer Unterricht als „formelle Bildung“ führe wiederum zu sittlicher bzw. moralischer Bildung, insofern durch ihn das Denken erlernt werde, was in eine Befreiung von „Gefühlen und Trieben“ münde (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 86 f.). Weiterhin gibt es für Hegel die direkte moralische Belehrung (Dörpinghaus/ Poe‐ nitsch/ Wigger 2009, 87) sowie die von ihm so genannte „praktische Bildung“, worunter er das Geprägt-Werden durch Institutionen und kulturelle Kontexte, die Individuen umgeben, versteht (vgl. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 87). In der sich zu Hegels Zeit entwi‐ ckelnden bürgerlichen Gesellschaft gehören dazu auch „die Gesetze der Marktökonomie [… und] des Staates […]“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 88). Dabei erachtet Hegel auch Arbeit als Weg der bzw. zur Bildung. Die die moderne Gesellschaft auszeichnende Arbeits‐ teilung könne einerseits zu einer „Abstumpfung“ durch monotone Tätigkeiten führen, trage aber insofern in besonderem Maße zur angestrebten Bildung bei, als die eigenen Bedürfnisse durch den „Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen“ überwunden würden (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 89). Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft ist also „soziale Integration und Funktionalität“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 90). Für Hegel sind die konträren Bedürfnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nur durch den Staat zu überwinden bzw. zu versöhnen. Die Bildung des Bürgers wird daher noch von der Bildung des Staatsbürgers übertroffen. Diese habe „die allgemeinen und staatlichen Zwecke zum Inhalt“, der Staat sei „das „an und für sich Vernünftige“ […], d. h. das Höchste“, 3.2 Historische Momente einer Theorie der Bildung 161 <?page no="162"?> folglich „ist es für die Individuen das „höchste Recht“ und die „höchste Pflicht“, Mitglieder des Staats zu sein“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 90). Die Bildungskonzeption Hegels als Abgleich der eigenen Bedürfnisse mit denen der umgebenden Gesellschaft kann wie folgt zusammengefasst werden: Nach Hegels pädagogischen Ansichten wird vom Individuum ein Standpunktwechsel gefordert, ein Abstandnehmen von seinem als Willkür beschriebenen Willen und seinen als Einfällen und Meinungen gekennzeichneten Vorstellungen. Es wird ein Denken, Wollen und Handeln gemäß einem vorgegebenem Allgemeinen verlangt, das sich dann später nicht nur als notwendig, sondern zunehmend auch als begründet und vernünftig und als Sphäre von Anerkennung und Selbstbewusstsein erweisen soll. (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 87). Eine aus Sicht heutiger pädagogischen Reflexion offene Frage ist, ob die in der idealisti‐ schen (Bildungs-)Philosophie Hegels angelegte Versöhnung zwischen Individuum und Allgemeinheit tatsächlich erreicht werden kann (z. B. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 87). Hegels Theorie von „Bildung als Versöhnung des Einzelnen mit der Wirklichkeit“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 92) liegt letztlich auch jüngeren bildungstheoreti‐ schen Konzepten zugrunde, die - wie etwa bei Klafki - „Allgemeinbildung als Bildung im Medium des Allgemeinen“ konzipieren (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 92). 3.2.5 Bildungstheoretische Didaktik - Klafki: „Kategoriale Bildung“, „Schlüsselprobleme“ und Allgemeinbildung Die zwischen Bildungstheorie und didaktischer Theorie zu verortenden Bildungskonzep‐ tionen Wolfgang Klafkis (1927-2016) sollen hier als gerade auch aus (fach-)didaktischer Sicht bedeutende jüngere Konzeptionen aus dem 20. Jahrhundert in Erinnerung gerufen werden (zu Klafki als Vertreter einer Allgemeinen Didaktik vgl. darüber hinaus Kap. 1.4.1). Grundlegend ist festzustellen, dass von Klafki eine „Wende von der Methodik zur Didaktik“ vollzogen wird: „Das Primat der Didaktik, für das Klafki eintritt, zielt darauf ab, vor den Methoden die Ziele und Inhalte zu bestimmen“ (Leubner/ Saupe/ Richter 2012, 19). Als (allgemein-)bildungsrelevante Inhalte werden von Klafki schon in seinem frühen Werk in historischer Perspektive klassische, kanonische Gegenstände untersucht (für Klafki die „materiale Bildung“), zugleich auch solche, die auf bestimmte Verhaltensweisen von (jungen) Menschen zielen (für Klafki die „formale Bildung“). Klafki versucht, beide Aspekte im Konzept einer „kategorialen Bildung“ zusammenzuführen (s.-o., Kap.-1.4.1). Ziel müsse sein, solche Inhalte zum Gegenstand von Unterricht zu machen, die zur Lösung von Problemen der Menschheit in Gegenwart und idealerweise Zukunft beizutragen helfen (Klafki 1957 zur kategorialen Bildung im Rahmen seiner bildungstheoretischen Didaktik). Klafki versucht gerade in seinem späteren Werk seit den 1970er Jahren, ein für das 20. Jahrhundert tragfähiges Allgemeinbildungskonzept zu entwerfen. Dabei betrachtet er Bildung als „Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung“ sowie als „Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 117). Schließlich definiert Klafki Bildung über folgende drei „Grundfähigkeiten“: Selbstbe‐ stimmung, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit. Allgemeinbildung sei das Zusammenspiel der genannten drei „Grundfähigkeiten“ (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 162 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="163"?> 2009, 117 f.). Ihr Ziel ist die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“, die wie bei Humboldt als auf die Entwicklung von „Vielseitigkeit der Interessen und Fähigkeiten“ gegründet gedacht wird (Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 118). In seinen späteren Schriften zur kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft und Didaktik bringt er sein Allgemeinbil‐ dungskonzept für das ausgehende 20. Jahrhundert weiterhin u. a. wie folgt auf den Punkt: Wir müssen die Frage [sc. nach den Inhalten] heute neu, und zwar auf dem Stand eines kritischen, historisch-gesellschaftlich-politischen und zugleich pädagogischen Bewusstseins stellen. Meine Kernthese lautet: Allgemeinbildung bedeutet in dieser Hinsicht, ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und - soweit voraussehbar - der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereit‐ schaft, an ihrer Bewältigung mitzuwirken. Abkürzend kann man von der Konzentration auf epochaltypische Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und der vermutlichen Zukunft sprechen. (Klafki 1985, 56, zit. auch in Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 118) Solche Schlüsselprobleme sind für Klafki beispielsweise Umwelt, Frieden, soziale Unge‐ rechtigkeit, Demokratie, Interkulturalität, Menschenrechte usw. (vgl. Dörpinghaus/ Poe‐ nitsch/ Wigger 2009, 118). Auswahlprinzipien für Unterrichtsinhalte sind im Kontext der kategorialen Bildung das Elementare (einfach und zugleich über den jeweiligen Gegenstand hinausweisend), das Fundamentale (grundlegende Aspekte berührend) und das Exemplari‐ sche (Klafki 1957). Für die Konzeption und Aufbereitung von Inhalten für den Unterricht ist daher die Frage maßgeblich, inwieweit sie pädagogischen Zielen zuträglich sind, mithin, in der Terminologie Klafkis, inwieweit sie „Themen“ sind oder „thematisch“ werden können: Indem ein Inhalt oder Gegenstand […] unter einer pädagogischen Zielvorstellung […] ausgewählt wird, wird er zum Thema […]. Im Begriff Thema wird die vollzogene Verbindung der Zielmit der Inhalts-Entscheidungsebene zum Ausdruck gebracht. (Klafki 1976, 83) Zum Konzept der Themenkonstitution - also der Frage, wie Inhalte in verschiedenen Fächern thematisch, mithin bildungsrelevant werden - aus Sicht verschiedener Fachdidak‐ tiken vgl. die vier Bände Lange/ Sinning 2014a-d. 3.3 Neuere Modellierungen des Bildungsbegriffs (auch innerhalb des fremdsprachendidaktischen Diskurses) 3.3.1 Das Spannungsfeld von Bildung und Kompetenzen Auch jüngere Ansätze wie etwa Kollers „transformatorische Bildungsprozesse“ versuchen letztendlich, den klassischen Bildungsbegriff für die Erfordernisse der gegenwärtigen Gesellschaft und die Entwicklungen der empirischen Bildungswissenschaften anschluss‐ fähig zu machen, kommen jedoch nicht umhin, sich grundsätzlich etwa auf Wilhelm von Humboldt zu beziehen (Koller 2012, auch kritisch, z.-B. Koller 2012, 12, 14 f.). Grundlegend ist festzuhalten, dass etwa der Kompetenzbegriff nicht als Ersatz für den Bildungsbegriff taugt (z. B. Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 144) und dass 3.3 Neuere Modellierungen des Bildungsbegriffs 163 <?page no="164"?> selbstverständlich Bildung nicht mit Ausbildung zu verwechseln ist (z. B. Dörpinghaus/ Po‐ enitsch/ Wigger 2009, 143). So wie Bildung zwar ein Ergebnis von Erziehung sein kann (s. o.), aber nicht mit ihr identisch ist, so ist auch das Verhältnis von Wissen und Bildung ambivalent: Bildung ist kaum ohne Wissen denkbar, allerdings führt viel (ggf. oberflächliches) Wissen keineswegs zu Bildung. So formulieren etwa Dörpinghaus/ Poenitsch/ Wigger 2009, 148: Bildung in dem hier durchweg verstandenen Sinn eines reflektierten Verhältnisses zu sich selbst, zu anderen und zur Welt ist auf Wissen bezüglich dieser Verhältnisse angewiesen. In dieser Charakterisierung ist Bildung nicht identisch mit Wissen oder kann auf dessen umfangreichen und effektiven Erwerb reduziert werden. […] Bildung unterscheidet sich von Wissen darin, dass sie den ganzen Menschen, also seine Leiblichkeit, seine Wahrnehmung, seinen Geschmack und sein Gewissen betrifft. Eine mit Blick auf Bildung problematische Entwicklung der letzten Jahrzehnte stellt die so genannte Kompetenzorientierung dar (bezogen auf den Fremdsprachenunterricht vgl. Kap. 4, hier bes. Kap. 4.2.1). Aus der faktisch wiederholt vollzogenen (Beinahe-)Gleich‐ setzung von Bildung mit (messbaren) Kompetenzen ergibt sich die Gefahr, dass der Bildungsbegriff gleichsam ausgehöhlt und Kompetenzen zu Instanzen der Kontrolle über das Bildungssystem, mithin letztlich über Individuen werden - Kompetenzen, die etwa in den von der OECD veranlassten PISA-Studien ganz klar mit Blick auf den ökonomischen Nutzen des Bildungssystems, mithin des Einzelnen, für die wirtschaftliche Entwicklung gedacht werden. Andreas Dörpinghaus und Ina Katharina Uphoff formulieren wie folgt und bringen dabei auch die Verquickung von Kompetenzorientierung und empirischer Bildungsforschung auf den Punkt: In den Debatten des 21. Jahrhunderts über Schule und Unterricht wird der Bildungsbegriff mit dem Begriff der Kompetenzen nahezu gleichgesetzt, um ihn in der Folge als austauschbar und obsolet darzustellen. […] [Es sind] nun Kompetenzen, die den Bildungsdiskurs wesentlich bestimmen und durch ihre Anschlussfähigkeit an die empirische Bildungsforschung zum funktionalen Element bildungspolitischer Bestrebungen werden. (Dörpinghaus/ Uphoff 2013, 340) Mit Blick auf das den Kompetenzen, wie sie in unserem Bildungssystem modelliert werden, inhärente Potential der Kontrolle formulieren sie pointiert: Insbesondere der Vorwurf an den Bildungsbegriff, er sei nicht operationalisierbar, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als einsichtsnahe Feststellung, dass er sich der Kontrolle entzieht. Ein Bil‐ dungssystem, das sich zunehmend als Kontrollsystem versteht und die pädagogische Perspektive auf Schule durch eine gesellschaftlich-ökonomische verstellt, bedarf daher nur eingeschränkt des Bildungsbegriffs. […] Über „Qualitätsmanagement“ und „Bildungsmonitoring“, durch empirische Vergleichsstudien, Evaluationen, insgesamt durch Gewinnung von Steuerungswissen, wird das Bildungssystem zunehmend nach Effizienzkriterien gestaltet. (Dörpinghaus/ Uphoff 2013, 340, 341) Dass sich infolgedessen auch der Blick auf das Individuum zu verändern droht, wurde oben bereits angedeutet und es versteht sich von selbst. Auch dies formulieren Dörpinghaus und Uphoff sehr prägnant: 164 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="165"?> Während der Mensch unter dem Aspekt des Bildungsgedankens als Subjekt der Sorge [um sich selbst] in den Blick rückt, wird er nach dieser Logik zum Gegenstand der Sorge und als „Humanka‐ pital“ Objekt politisch-ökonomisch geplanter Qualifikationsbemühungen. Das Selbst konstituiert sich dann vorrangig nur noch durch Prozesse gesellschaftlicher Anpassung. (Dörpinghaus/ Uphoff 2013, 341) Ein prominenter Vertreter einer pointiert-dezidierten Kritik an der Kompetenzorientierung ist etwa auch der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin (z. B. Ladenthin 2011, vgl. auch Ladenthin 2014). Die Reihe der wissenschaftlich fundierten, aber populär‐ wissenschaftlich formulierten kritischen Auseinandersetzungen mit den Bildungsreformen an Schulen und Hochschulen in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ließe sich fortsetzen, an dieser Stelle seien weiterhin nur die Beiträge des Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann (z. B. Liessmann 2006, 2014, 2017) oder die des Frankfurter Biologie-Didak‐ tikers Hans Peter Klein (z. B. Klein 2019) erwähnt. Eine sehr klar strukturierte begriffs- und konzeptanalytische Studie legt Eder 2021 vor. Er betont die Inkompatibilität derzeitiger Konzeptionen von Kompetenzen mit den etablierten Bildungsbegriffen (vgl. z. B. Eder 2021, 205-211) und gelangt zu folgender Schlussfolgerung: […] es [bedarf] einer konstruktiven [im Sinne einer „Aufhebung gegenwärtig bestehender Distanzierungen“, Eder 2021, 209, Anm. 1224] humanistischen Wende, die sich aufgrund der bisherigen Verknüpfungsversuche von empirischer Bildungsforschung und bildungstheoretischer Forschung in besonderem Maße der epistemologischen Grenzen annehmen muss. […] Folglich besteht ein weiteres Desiderat auch in der Revision der nationalen Bildungsstandards, die sich grundlegend auf Kompetenzmodelle stützen und zudem eines Diskurses über Standardisierung auf Grundlage neuester Forschungsergebnisse bedürfen. (Eder 2021, 209-2011, mit weiterführenden Fußnoten) Nähert man sich dem Kompetenzbegriff losgelöst von seiner nicht zu leugnenden, häufig anzutreffenden Manifestation in Steuerungsmechanismen qua Vergleichsstudien oder Qualitätsmanagement, kann man indes zu dem Schluss kommen, dass Kompetenzen und Bildung sich keineswegs ausschließen müssen, nämlich dann nicht, 1.) wenn Kompetenzen nicht als operationalisierbare Kontrollinstanzen verstanden werden und 2.) ihr Erreichen explizit über bildungsrelevante Inhalte und Themen konzipiert wird. So folgert etwa Andrea Beyer aus der Perspektive der altsprachlichen Didaktik: Im Kern geht es bei der Einführung des Kompetenzkonzepts um eine kognitionswissenschaftliche Neuausrichtung des Unterrichts: Das Lernen soll sichtbar und explizit gemacht sowie stets reflektiert werden, d. h., das eigene Tun soll verstanden werden. Neu ist also v. a. der metakognitive Anteil am Lernprozess. Hierunter fällt z. B. das explizite Thematisieren von bisher implizit gegebenen Arbeitsaufträgen, unterschwelligen Lernprozessen und allgemeinen Rückmeldungen. (Beyer/ Kipf 2021, 22) Vor diesem Hintergrund entwickelt Andrea Beyer ein Kompetenzstrukturmodell konkret für den Lateinunterricht, das im Grundsatz auf seine Übertragbarkeit auch auf andere Fächer geprüft werden könnte. Sie geht dabei von drei Bereichen der fachlichen Kompetenz oder Kompetenzfeldern aus, und zwar von den Kompetenzfeldern Sache („Fachkompe‐ tenz“), Strategie („Methodenkompetenz“) und Person („individuelle Grundlagen“) (Beyer/ 3.3 Neuere Modellierungen des Bildungsbegriffs 165 <?page no="166"?> Kipf 2021, 22-29). Als Schnittmengen dieser Kompetenzfelder konzipiert sie so genannte „Superkompetenzen“ (im Falle des altsprachlichen Unterrichts z. B. Translationskompe‐ tenz, Beyer/ Kipf 2021, 28 f., 33 f.). Als zentrale Schnittmenge aller Kompetenzfelder bzw. der Basis- und Superkompetenzen (hier: des Lateinunterrichts) nimmt die „individuelle Bildung“ eine Schlüsselposition in dem Kompetenz(struktur)modell ein (Beyer/ Kipf 2021, 34). Die Vereinbarkeit von Bildung und Kompetenzorientierung, ja das Potential der Kompetenzorientierung für eine Aktualisierung des Bildungsbegriffs begründet sie wie folgt: […] die Idee der individuellen Bildung als Kern von schulischer Bildung [beschäftigt] seit über 200 Jahren die (deutsche) Bildungsdiskussion. Dennoch ist es bisher nicht gelungen, die humanistische Tradition - der einzelne Mensch steht im Zentrum des Lernens, von ihm geht das Lernen als Teil seiner Entwicklung aus - in ein konsensfähiges Bildungskonzept zu überführen. Dies kann sich nun auf der Grundlage der Kompetenzorientierung verändern, weil diese Ausrichtung des schulischen Unterrichtens ebenfalls vom Individuum ausgeht und dessen konstante, nicht enden wollende Fortentwicklung in den Blick nimmt. Wie schon bei Humboldt wird dabei die Möglichkeit, die persönlichen Anlagen zu entfalten, jedem Menschen zugestanden, d. h., der Erwerb bzw. die Erweiterung von Kompetenzen wird inklusiv gedacht. (Beyer/ Kipf 2021, 33 f.) Abschließend bringt sie das Gemeinsame von Bildung und Kompetenzorientierung noch einmal auf den Punkt: Kompetenzorientierung und Bildung fokussieren also auf das „Selbst“ des Individuums, das in humanistischer Tradition durch das Individuum errungen, nicht aber von Dritten vorgegeben wird. Erst mit dem überfachlichen Ziel der individuellen Bildung ist auch im Zeitalter der Daten […] - der Vermessung des Menschen - eine aufgeklärte Haltung gegenüber neuen, gesellschaftlich relevanten Entwicklungen möglich, weswegen die individuelle Bildung in einem freiheitlich-demokratisch ausgerichteten Schulsystem unweigerlich zur überfachlichen Maxime erhoben werden sollte. (Beyer/ Kipf 2021, 34) 3.3.2 Neuere (romanistisch-)fremdsprachendidaktische Versuche Historische Konzeptionen eines „Verständnisses der neusprachlichen Bildung“ mit Schwer‐ punkt auf dem 19. und frühen 20. Jahrhundert hat Karl-Heinz Flechsig bereits in seiner Dissertation von 1963 aufgearbeitet. Eine Bildungsdebatte im engeren Sinn lässt sich in der (romanistischen) Fremdsprachendidaktik seit dem massiven Ausbau des Unterrichts der romanischen Sprachen seit den 1970er Jahren (vgl. Kap. 2.1.2.9f.) nicht ausmachen. In der jüngeren (romanistisch-)fremdsprachendidaktischen Literatur wird der Bildungsbegriff gelegentlich aufgegriffen, allerdings findet meist keine tiefgründige Auseinandersetzung mit historischen Bildungskonzepten statt bzw. es werden kaum tragfähige Gegenentwürfe zu den einleitend beschriebenen Konzepten und Modellen vorgelegt (vgl. bes. 3.1 und 3.2). Viele Versuche beschränken sich darauf, teilweise durchaus plausible Einzelaspekte von Bildung auszuleuchten, ohne ein umfassendes Bildungskonzept zu entwickeln, und umge‐ kehrt konzentrieren sich manche Ansätze, die sich als Bildungskonzept verstanden wissen wollen, sehr einseitig auf Teilaspekte von Bildung (zu jüngeren fremdsprachendidaktischen Ansätzen vgl. z. B. Küster 2003, bes. 135-160, Küster 2007a, bes. 52-56, einige Beiträge 166 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="167"?> in Grünewald/ Plikat/ Wieland 2013, in Schleicher/ Zenga 2019 sowie in Fremdsprachen Lehren und Lernen 47, 1, 2018 (Themenheft: Fachlichkeit und Bildungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht, wobei gerade der Aspekt der Fachlichkeit bzw. die Interaktion von Fachlichkeit und Bildung nur in den wenigsten Beiträgen vertieft beleuchtet wird)). In einem „Plädoyer für einen bildenden Fremdsprachenunterricht“ resümiert Lutz Küster als „[b]ildungstheoretische Fundierungen des Fremdsprachenlernens“ auf folgende Grundkonstanten aktueller erziehungswissenschaftlicher Bildungsbegriffe: ● das Prinzip der Reflexivität (im Spannungsfeld von Sach- und Selbstbezug), ● das Prinzip der Subjektivität (im Spannungsfeld von Ich- und Fremdbezug), ● den Prozesscharakter. (Küster 2004, 196). Prozesscharakter und Reflexivität sind unbestreitbare Charakteristika bzw. Notwendig‐ keiten für die (individuelle) Bildung. Es fällt aber auf, dass in der jüngeren Diskussion immer wieder beinahe ausschließlich auf diese Aspekte fokussiert wird; hiervor sei an dieser Stelle gewarnt - Reflexivität um ihrer selbst willen und auf sich beschränkt kann keine Bildungs‐ prozesse initiieren und befördern, sie ergibt sich aus einem Fremdsprachenunterricht, der sich am im Folgenden entwickelten Bildungsbegriff (vgl. Kap. 3.4f.) orientiert, vielmehr von selbst. In dem genannten Beitrag hebt Lutz Küster dann auf folgende spezifische Beiträge des Fremdsprachenunterrichts zur Bildung ab: Wenn Bildung - zu Recht - als „stets unabgeschlossen“ (Küster 2004, 196) konzipiert wird stellt sich die Frage: Worauf aber kann der Einzelne seine Ziele und Lebensentwürfe gründen? Einzig und allein auf ein kritische und nie endende Infragestellung der Prämissen des eigenen Denkens, auf eine Reflexion der eigenen Erfahrungen und Wertentscheidungen […] Hierzu wiederum benötigen wir eine Verfremdung des eigenen Blicks, die Möglichkeit, uns quasi von außen zu sehen. (Küster 2004, 197) Der Fremdsprachenunterricht sei in der Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und entsprechenden Inhalten prädestiniert, entsprechende „Perspektivenwechsel“ zu initiieren (Küster 2004, 197). Insbesondere dem seinerzeit noch als interkulturelles Lernen bezeich‐ neten Teilbereich des Fremdsprachenunterrichts schreibt er in diesem Sinne bildenden Wert zu: Insbesondere im Rahmen Interkultureller Bildung werden sozial-kognitive und sozial-affektive Aspekte akzentuiert wie die Beziehungen zwischen Verstehen und Verständnis, zwischen Empa‐ thie und Toleranz im Miteinander einer heterogenen Gesellschaft. (Küster 2004, 197) Eine sehr knappe, aber durchaus brauchbare Hinführung zum Konzept der „Bildung“ aus fremdsprachendidaktischer Perspektive bietet auch der entsprechende Artikel im Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Hier gelangt Lutz Küster zu dem treffenden Schluss: Fremdsprachliches Lernen kann vor diesem Hintergrund insofern Erfahrungs- und Bildungsräume eröffnen, als es den Einzelnen mit der Fremdheit sprachlicher und kultureller Codices konfrontiert und ihn dazu anregt, die Prämissen des eigenen Denkens und Handelns in Frage zu stellen und zu transformieren ([…] interkulturelles Lernen). Dies geschieht jedoch nicht automatisch, sondern es bedarf der Bereitschaft bzw. der Anleitung zur Reflexivität. Erst wenn der Einzelne 3.3 Neuere Modellierungen des Bildungsbegriffs 167 <?page no="168"?> seine Konstruktionen von Welt-, Selbst- und Fremdbildern hinterfragt und für Veränderungen offenhält, ist von Bildungsprozessen zu sprechen. […] Bildung ist daher notwendigerweise stets unabgeschlossen. Neben diesen Aspekten einer formalen Bildung erfüllt Fremdsprachenlernen auch die Funktion materialer Bildung, indem es zur Teilhabe an einer mehrsprachigen Welt befähigt […]. (Küster 2017, 26) Eine etwas weiter greifende Annäherung an den Bildungsbegriff - aus erziehungswissen‐ schaftlicher Perspektive, aber mit Blick auf den Fremdsprachenunterricht, und ebenfalls unter Rückgriff auf Humboldt (vgl. auch Brinkmann 2019) - stellt der einführende Beitrag Brinkmann 2020 dar. Eine gut lesbare und praxisnahe, anschauliche Darstellung, was Fremdsprachenunter‐ richt mit Blick auf Bildung über die Bildungsstandards und die in ihnen formulierten vor allem funktionalen Kompetenzziele hinaus leisten kann, stellen, trotz einer etwas polarisierend überzogenen Abgrenzung von Wilhelm von Humboldt, die entsprechenden Abschnitte in De Florio-Hansen 2015 dar (bes. 52-55 sowie 85-148: Kapitel „Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet“ sowie Einzelkapitel mit auch durch transkri‐ bierte Unterrichtssequenzen wissenschaftlich fundierten Praxisbeispielen zu sprachlicher Bildung, interkultureller Bildung und ästhetisch-literarischer Bildung u. a. im Französisch‐ unterricht). Den Versuch, Bildung humboldtscher Prägung mit einem Kompetenzbegriff in Verbin‐ dung zu bringen, hat die in der deutschen Fremdsprachenforschung stark rezipierte Claire Kramsch mit ihrem Entwurf der „symbolischen Kompetenz“ vorgelegt (z. B. Kramsch 2006). In der romanistischen Fremdsprachendidaktik wurde dieses Konzept beispielsweise von Plikat 2017 (bes. 165-177), Zenga 2019 und Schädlich 2020 aufgegriffen und diskutiert. Giselle Zenga resümiert wie folgt: Um es dem rein utilitaristischen Kompetenzbegriff im Bildungsbereich entgegenzusetzen, entwirft Kramsch (2006) den Begriff der symbolischen Kompetenz. Darunter versteht sie die vielseitige Fähigkeit einer Sprecherin oder eines Sprechers, (1) die Historizität sprachlicher und kultureller Prozesse zu erkennen, (2) sie zu verstehen, (3) die Möglichkeit, sie manipulieren zu können, um (4) einen neuen Kontext des sprachlichen und kulturellen Austausches mitgestalten zu können (Kramsch & Wellmon 2008, 219-220). (Zenga 2019, 91) Kramsch und Wellmon beschreiben „Bildung als symbolische Kompetenz“ wie folgt: Bildung as a symbolic competence is not a buildung of the mind reserved to the elite, nor a building of skills that language learners need to master. It is a constructionist frame of mind that can recapture the main tenet of Bildung as an organic, both generative and adaptive, form of development, brought about through mutual engagment with the outside world. (Kramsch & Wellmon 2008, 220, vgl. Zenga 2019, 92) Einen weiteren, im Grunde einfachen, aber plausiblen Ansatz stellt das Konzept einer „fremdsprachigen Diskursfähigkeit“ als übergeordnetes Bildungsziel des Fremdsprachen‐ unterrichts dar, wie es Wolfgang Hallet vorgeschlagen hat (z. B. Hallet 2011, bes. 54-56, Hallet 2012, bes. 9 f.). Hallet rekurriert auf das Bildungskonzept der Klieme-Expertise (vgl. Kap. 4, bes. 4.2.1) und hebt aus diesem den Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe bzw. Partizipation als eine wesentliche Zieldimension von Bildung hervor (Hallet 2011, 29). 168 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="169"?> Dieser wird gerade unter den Vorzeichen der Inklusion (vgl. Kap. 6, bes. 6.6) zusätzlich virulent. Diskurse definiert Hallet in Anlehnung an Foucault (vgl. z. B. Hallet 2012, 9) beispielsweise wie folgt (weiterführend z.-B. auch Hallet 2008): [Unter Diskursen] wird ein größerer, thematisch kohärenter, intersubjektiver und kultureller, eventuell auch transkultureller Redezusammenhang verstanden oder, was das Gleiche ist, eine Menge kulturell zirkulierender und inhaltlich-thematisch aufeinander bezogener Äußerungen, Texte und anderer kommunikativer Artefakte aller Art, also zum Beispiel auch Bilder oder Grafiken und ähnliches […]. (Hallet 2011, 54) Es ist naheliegend, die Fähigkeit zur Teilhabe an solchen Diskursen als zentrales Ele‐ ment der Fähigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe insgesamt zu sehen. Insofern kann Diskursfähigkeit als übergeordnetes Bildungsziel, fremdsprachige Diskursfähigkeit qua „fremdsprachiger Partizipation“ (Hallet 2012, 10) als übergeordnetes Bildungsziel des Fremdsprachenunterrichts angenommen werden: Der Zugang zu und die Fähigkeit zur Teilhabe an Diskursen, auch an fremdsprachigen, ist das eigentliche Bildungsziel allen sprachlichen Lernens in der Schule; von ihm hängen entscheidend die Lebenschancen und die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensgestaltung der Heran‐ wachsenden ab […] Diskursfähigkeit lässt sich damit als Bildungsziel allen sprachlichen, wenn nicht allen schulischen Lernens bestimmen, fremdsprachige Diskursfähigkeit als Bildungsziel des Fremdsprachenunterrichts […]. (Hallet 2011, 55) Auch die Zentralität mehrsprachigen sowie inter- und transkulturellen Lernens wird in Hallets Konzeption der fremdsprachigen Diskursfähigkeit - wenn auch vor allem bezogen auf die erste Fremdsprache Englisch - mit bedacht: Wenn die in der schulischen Bildung zu entwickelnde Diskursfähigkeit der Heranwachsenden einerseits an deren lebensweltliche Kontexte und Erfahrungen anschließen muss, andererseits aber Anschlüsse an die Diskurse der fremdsprachigen Kulturen suchen und herstellen muss, erhält Diskursfähigkeit im Englischunterricht stets eine mehrsprachige und mehrkulturelle Di‐ mension, die sich sowohl als interkulturelle Differenz als auch als transkulturelle Aufladung oder Bereicherung darstellen kann. Im Idealfall kulturellen Lernens ergibt sich transkulturelles Lernen als Ergebnis interkulturellen Verstehens und Aushandelns. Die besondere Bildungsleistung des Fremdsprachenunterrichts besteht dann darin, dass er die Heranwachsenden zur Teilhabe an den eigenen lebensweltlichen Diskursen und zugleich an analogen oder damit unmittelbar verbundenen fremdsprachigen Diskursen in anderen kulturellen Kontexten befähigt. (Hallet 2011, 55 f.) Die Dimensionen der Mehrsprachigkeit und der Mehrkulturalität werden selbstverständ‐ lich im Falle der romanischen Sprachen, die häufig zweite, dritte oder vierte Fremdsprachen einer Sprachlernbiographie sind, umso bedeutender. Einen interessanten, wenn auch in der Summe wenig überraschende Erkenntnisse brin‐ genden Entwurf stellt der Theoretical Framework for Language Education and Teaching von Paolo E. Balboni dar, der versucht, universelle, sprachenunabhängige Prinzipien sprachli‐ cher Bildung im engeren Sinn auszumachen (Balboni 2018). Sprachliche Bildung - die für ihn erst- und zweitsprachliche, herkunfts- und fremdsprachliche, auch altsprachliche, 3.3 Neuere Modellierungen des Bildungsbegriffs 169 <?page no="170"?> Spielarten umfasst (z. B. 12-20) - wird dabei letztlich als menschliche Universalie und als grundlegend für den Spracherwerb eingeführt (z.-B. 136 f.), als zentrales Element jeglicher Bildung und der Selbstverwirklichung erachtet (z. B. 137 f., 139 f.), als essentiell für die Entwicklung kommunikativer Kompetenz (z. B. 65-72, 75-97, 140-143), als grundlegender Baustein zu semiotischer (107-114) und literarischer Bildung (115-123); ihr wird eine ethische Dimension zugesprochen (72-74). Angesichts dieses Befunds einer eher defizitären Modellierung des Bildungsbegriffs in der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen soll in den folgenden Abschnitten, basierend auf den oben vorgestellten Definitionsversuchen und historischen Konzeptionen von Bildung (vgl. Kap. 3.1 und 3.2), versucht werden, ein zukunftstaugliches Konzept von Bildung auf der Grundlage ausgewählter philosophischer Anregungen zu entwickeln (Kap. 3.4.1 bis 3.4.3), so ein Bildungskonzept für den Unterricht der romanischen Sprachen vorzuschlagen (Kap. 3.4.4) und dieses anhand einiger Beispiele zu illustrieren (Kap. 3.5). 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs und Vorschlag eines neuen Humanismus 3.4.1 „Eigenleistung“ (Lenk): Ein humanes Leistungsprinzip für die demokratische Gesellschaft Als anthropologische Grundlegungen eines gegenwartstauglichen Bildungskonzepts können etwa die Versuche des Philosophen Hans Lenk, den Menschen im Spannungs‐ feld zwischen Bio-, Techno- und Kulturwissenschaften zu verstehen (Lenk 2011), oder auch die Ansätze des italienischen Neurologen und Neuropädiaters Franco Fabbro, der Neurowissenschaften, Philosophie und Sprachwissenschaft miteinander in Bezug setzt, herangezogen werden (jüngst z. B. Fabbro 2021; zur Beziehung der Philosophie zu den Neurowissenschaften, die v. a. auch in Band II als grundlegend für die Didaktik der romanischen Sprachen eingeführt werden, kann in diesem Zusammenhang weiterhin bereits auf Lenk 2001 verwiesen werden). Von Lenk stammt u. a. das Konzept der „Eigenleistung“ im Sinne einer freiwillig erbrachten, oft kreativen und schöpferischen, durch Interesse an der Sache „intrinsisch“ motivierten Leistung. Eine solche „Eigenleistung“ trage auf individueller Ebene zur Per‐ sönlichkeitsentwicklung bei, auf kollektiver Ebene sei die Bereitschaft zur Eigenleistung eine Voraussetzung für das Bestehen demokratischer Gesellschaften. „Eigenleistung“ kann sich auch in objektivierbar besonders herausragenden Leistungen manifestieren (z. B. Leistungssport), muss dies aber nicht notwendigerweise tun. Essentiell sind vielmehr Freiwilligkeit und Motivation zu einer Handlung bzw. Leistung. Da das Konzept für pädagogische wie auch (fach-)didaktische Diskurse noch weitgehend unerschlossen zu sein scheint - bisher wurde es, sicherlich nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Lenk auch grundständig ausgebildeter Sportwissenschaftler und ehemaliger Leistungssportler ist, vor allem in der Sportpädagogik rezipiert (z. B. Hecker 2001, Fischer 2009) -, soll es an dieser Stelle mit Blick auf die Bedeutung eines positiven Leistungsbegriffs für die (Persönlichkeits-)Bildung einerseits und für die Gesellschaft andererseits vorgestellt 170 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="171"?> werden (einführend vgl. z. B. Lenk 2011, 500-536 („Anthropologie der Leistung“), bes. 500 f., 505-514, 527-533, ursprünglich vgl. Lenk 1983 (Eigenleistung. Plädoyer für eine positive Leistungskultur), weiterhin z. B. Bewusstsein, Kreativität und Leistung. Philosophische Essays zur Psychologie (Lenk 2007, 167-196)). Lenk stellt das Konzept der Eigenleistung, eng geknüpft an seine Manifestation in der Bewegung, ins Zentrum seiner Anthropologie. Er führt diese enge Verbindung von Körper und Geist letztlich auf die Anfänge der philosophischen Anthropologie bei Platon zurück: „Leben ist Bewegung, an Selbstbewegung gebunden: Eigenbewegung nur ist beseeltes Leben […]. Bewegungsvielfalt ist auch ein Ausdruck persönlicher Differenziertheit.“ (Lenk 2007, 186 f.). Ausgehend von grundsätzlichen Reflexionen zur Leistungsmotivation (z. B. Lenk 2007, 168-173, bes. 172 f.) und einer Abgrenzung verschiedener Leistungsprinzipien (ökonomisches, sozialpsychologisches und soziologisches Leistungsprinzip (Lenk 2007, 175 f.) definiert Lenk das sozialpsychologische Prinzip der „Eigenleistung“ als „eigenmoti‐ vierte, eigenengagierte, freiwillig erbrachte persönliche Leistung“ - in Abgrenzung zu „fremdbestimmter Leistung“ (Lenk 2007, 178, 177, 183). Er schreibt ihr die Funktion eines „grundsätzliche[n] Wert[es]“ zu (Lenk 2007, 183) und verortet sie in einer „Leistungsgesell‐ schaft im weiteren Sinne […], in der die Zuteilung nach Leistungsprinzip eine vorrangige, aber nicht ausschließliche Rolle spielt“ (z. B. neben dem Sozialprinzip, Lenk 2007, 178, 176), denn: „Die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auf Leistung zu verzichten.“ (Lenk 2007, 182). Allerdings sei „mit extremer Leistungsorientierung verbundene Inhumanität“ auf jeden Fall abzulehnen. Extremer Leistungsdruck solle gerade auch von Kindern ferngehalten werden (Lenk 2007, 181). Letztlich sei das Ziel die „selbstmotiviert[e]“ Eigen‐ leistung (Lenk 2007, 177, vgl. „Nicht Leistungsdruck, sondern Eigenleistung entscheidet.“, Lenk 2007, 182). Er plädiert für eine „Humanisierung des Leistungsprinzips“ bzw. eine „humane Leistungsgesellschaft“, in der dem Prinzip der Eigenleistung eine bedeutende Rolle zukommt: Eine Leistungsgesellschaft kann keine totale, sondern muss eine humane Leistungsgesellschaft sein. Es gibt ein humanisiertes Leistungsprinzip, das die Extreme der Leistungsfeindlichkeit und der totalen Leistungsorientierung vermeidet. Dies muss für die Erziehung und für Betriebe im Vor‐ dergrund stehen. Die eigenengagierte Leistung, die Eigenleistung, besonders die eigenengagierte, kreative Eigentätigkeit muss im Zentrum stehen. Eigenverantwortung, Größe des Dispositions‐ spielraums, persönliches Engagement - für Bildung und Betriebe sind sie wünschenswert und nützlich. (Lenk 2007, 183) Eigenleistung kann in den verschiedensten Bereichen des Lebens erbracht werden („Sie bezieht sich auch auf symbolische Leistungen und solche, die sich erst durch Deutung verwirklichen oder ausdrücken, auf Deutungen beruhen wie in der Kunst, der Wissenschaft und auch im Sport.“, Lenk 2007, 178). Zwar erachtet er den Sport als „exemplarische[n] Bereich für freiwillig erbrachte Eigenleistung“ (Lenk 2007, 168, vgl. z. B. 186, 188 f.), aber gerade auch der Kunst, mitunter der Musik schreibt er die Eigenschaft zu, für Kinder und Jugendliche leicht zugängliche Bereiche der eigenmotivierten Leistung darzustellen (Lenk 2007, 190, 193). Überträgt man diese Gedanken auf den Fremdsprachenunterricht, so wird in diesem Bereich Eigenleistung über die Binnendimension des jeweiligen Unterrichts mit ihren Möglichkeiten zur Entfaltung von Eigenleistungen hinaus z. B. im Besuch zusätzlicher 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 171 <?page no="172"?> Arbeitsgemeinschaften, Leistungen im Rahmen von Schüleraustausch oder auch in fremd‐ sprachlichen Theatergruppen, aber auch in der Teilnahme an Fremdsprachenwettbewerben (in Analogie zu Lenk 1983, 204, vgl. Band II, Kap. 5.5) besonders greifbar. Nimmt man die Gedanken Lenks zum niederschwelligen Zugang zur Eigenleistung durch Sport und Kunst, mitunter auch Musik auf, so spricht dies für die Integration von Momenten des bewegten Lernens und der ästhetischen Bildung im Fremdsprachenunterricht (vgl. Band II, Kap. 1.2.9 zum bewegten Lernen und Band III zur ästhetischen Bildung im Unterricht der romanischen Sprachen). Die Fähigkeit zur Eigenleistung muss erst entwickelt werden, sie ist dem Menschen nicht von Natur aus gegeben: Freiwilligkeit und Eigenmotivierung sind notwendige Bedingungen der eigenen, besonders der schöpferischen Leistung. Leistung kann so zum Ausdruck persönlicher Handlungsfreiheit werden. Die Eigenleistung, eigenmotiviert vollbracht, ist ein Ausdruck der aktiven und kreativen Persön‐ lichkeit. Eigenleistung ist dementsprechend kein reines Naturprodukt von Anlage und auch Trieb, sondern weit mehr seelische, gesellschaftliche und kulturelle, ja geistige Errungenschaft wenn auch auf biologischer Grundlage. (Lenk 2007, 186). Zur erzieherischen Dimension von Eigenleistung stellt Lenk weiterhin u. a. folgende Reflexionen an: Wenn Eigenleistung und Eigenhandeln wesentliche kreative Momente des Lebens sind, so müssen diese gerade in der Erziehung als unerlässlich gefördert und gefordert werden. Im Blick auf die vielfältigen Leistungsarten sollte das kreative Leistungsprinzip dabei nicht bloß ökonomistisch missdeutet werden. Eigenmotivation sollte dabei dem teilweise noch notwendigen Leistungszwang vorangehen. Jeder unnötige Leistungszwang sollte allmählich reduziert werden, sollte ideell der kreativen Eigenleistung weichen. Die Persönlichkeit entwickelt sich in ihren krea‐ tiven Eigenleistungen. Das Prinzip Eigenleistung ist kulturell, erzieherisch und gesellschaftlich unverzichtbar. (Lenk 2007, 177) An anderer Stelle betont Lenk die Bedeutung gerade auch solcher Eigenleistungen, die zu vordergründig überflüssigen Ergebnissen führen. Diesen kommt mit Blick auf Bildung eine herausragende Rolle zu: […] Eigenleistung besitzt eine besondere erzieherische Bedeutung - gerade auch dann[,] wenn es sich um eine symbolische Leistung handelt, die ein biologisch und rein ökonomisch überflüssiges Ergebnis erzeugt. Das anscheinend Überflüssige ist in mancher Hinsicht besonders nötig - für die kulturelle Entwicklung und zumal für die Erziehung. (Lenk 2007, 186) Die Hinführung zur Eigenleistung in der Konzeption Lenks trägt daher in besonderem Maße zur Entfaltung der Persönlichkeit bei und ist somit ein Schlüssel zu (Persönlichkeits-) Bildung: „Eigenleistung kann sogar zu einem wichtigen Selbstentfaltungswert werden, in dem sich die Persönlichkeit spiegelt und entwickelt. Besonders auch in unseren Eigenleistungen verwirklichen wir uns selbst. Insofern ist die Orientierung an Eigenleistung geradezu emanzipatorisch, […] Leis‐ tungsentlohnung wird zudem als relativ gerecht empfunden. Das Leistungsprinzip als allgemeine 172 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="173"?> Leitlinie, Eigenleistung als grundsätzlicher Wert spielen für den einzelnen und die Gesellschaft nach wie vor eine wichtige Rolle.“ (Lenk 2007, 183) Schließlich unterstreicht Lenk in diesem Sinne die zentrale Bedeutung der Eigenleistung für die Demokratie: Gerade die demokratischen Gesellschaften in der verwalteten Welt sind auf Eigenmotivation und Leistungsbereitschaft angewiesen und müssten diese in ihren Bildungsinstitutionen nachdrücklich fördern. Eigenmotivierte, sachorientierte und kooperationswillige Leistungshaltungen gilt es besonders zu unterstützen, zu prämiieren. Eigenes Handeln, eigene Leistung sind ein wichtiger Ausdruck eines wirklich persönlichen Lebens. (Lenk 2007, 189 f.) In Bewusstsein, Kreativität und Leistung. Philosphische Essays zur Psychologie (Lenk 2007) konzentriert Hans Lenk sodann zentrale Aspekte seines Konzepts der Eigenleistung in zwölf „Zusammenfassende Thesen zur Eigeninitiative“ (Lenk 2007, 193-196, vgl. bereits die „Zwanzig Thesen zu einer positiven Leistungskultur“ in Lenk 1983, 201-209). Aus diesen seien hier die mit Blick auf Bildung im und durch Unterricht der romanischen Sprachen wesentlichen Aspekte aufgegriffen: 1. Nur der Mensch kann persönlich handeln, „eigenhandeln“. […] Der Mensch möchte sich im Handeln verbessern, nach Gütemaßstäben gut oder immer besser handeln. Er möchte eben etwas leisten […] Er ist daher nicht nur das „handelnde Wesen“, sondern er (und nur er) ist auch „das leistende Wesen“, das eigenleistende Wesen. Nur eigenengagierte Leistung kann schöpferisch sein. Man könnte von einem Prinzip der schöpferischen Eigenleistung sprechen. Diese Art des Leistungsprinzips ist nicht überholt und unnütz am Ende, wie manche Gesellschaftskritiker in den letzten Jahrzehnten glaubten, die fälschlicherweise das soziale und das ökonomische Leistungsprinzip der […] fremdverordneten Leistungen allein als repräsentativ für jede Leistungsorientierung ansahen. […] Leistung tut nach wie vor not. 1. Erziehung zur sinnvollen Eigenleistung ist unerlässlich. Wenn Eigenleistung kreativ ist, so sollten alle Möglichkeiten dazu der Jugend in jeder Form angeboten, leicht zugänglich gemacht werden. Eigenleistung sollte als persönlichkeitsbildende Aktivität von großer pädagogischer und sozialer Bedeutung angesehen und gefördert werden. Sie muss gelernt, geübt werden. Dies gilt für alle ihre vielfältigen Arten: Jede schöp‐ ferische Form der Eigentätigkeit muss empfohlen, ausgebildet, immer wieder geübt werden - sei es in der Kunst, Musik, im Sport, in der Wissenschaft und Technik, im freiwilligen Sozialdienst usw. Die Chancen für persönliches Handeln und eigene Leistung sollten in allen passenden Zusammenhängen in der Gesellschaft gezielt vereinfacht und verbessert werden: Mannigfaltige Angebots- und Aktivitätsformen sind nötig - besonders für Heranwachsende. Jugendliche sollten in spielerischer Form möglichst viele und vielartige Leistungs- und Freizeitaktivitäten, Spielarten kreativen Handelns kennen, einüben und kombinieren lernen, um später ihnen ge‐ mäße Formen auszuwählen und eigenmotiviert als Tätigkeiten annehmen zu können, mit denen sie sich identifizieren, in denen sie sich ausdrücken, selbst verwirklichen. Sie sollten natürlich auch im Bereich der Schule zu einer größtmöglichen Vielfalt von Leistungsarten animiert, angeregt, motiviert (möglichst nicht oder möglichst wenig 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 173 <?page no="174"?> fremdbestimmt erzwungen) werden. […] Eigenleistung ist vielfältig(er) anzuregen und „zu fördern“ - besonders bei Jugendlichen. 2. Insbesondere gegenüber einer strikten, harten Konkurrenz um jeden Preis, die aus‐ schließlich orientiert ist an der Auszeichnung eines einzigen und nur eines Siegers, sollte die Zusammenarbeit, die Ausrichtung an der Gemeinschaftsleistung, nicht zu kurz kommen. […] Gegen die sozial wie individuell fruchtbare (aber eingeschränkte) Funktion der geregelten Leistungskonkurrenz ist damit natürlich nichts gesagt. Dem Wetteifer müssten die primäre Sachbegeisterung, Teamwork und die Gruppenorientie‐ rung gleichrangig zur Seite gestellt und entsprechend gefördert werden. Wir brauchen Wettbewerbsmotivation, aber kombiniert mit Zusammenarbeitswilligkeit und wirkli‐ chem Sachinteresse. Team-Leistung ist besonders zu fördern; Konkurrenzleistung sollte sich mit Kooperation und sachlichem Engagement verbinden. 3. Begeisterung an der Aufgabe, an der Sache selbst, ist entscheidend für die Kunst des Eigenleistens, primäre Motivation ist letzten Endes wichtiger als sekundäre Motivation (diese ist nur Notbehelf […]). Begeisterungsfähige und -willige Lehrer sollten besonders ermutigt werden - auch zu vielfältigen eigenen Sonderwegen: Nur selbst Begeisterte begeistern! Leistungsbegeisterte und -begeisternde an die Front! 4. Darüber hinaus sollte man besonders die Attraktivität, die faszinierende Herausfor‐ derung durch hervorragende Leistungen zur Aktivierung des Eigenleistens nutzen. Vorbilder wirken mehr als Verordnungen. […] Hochleister als Vorbilder faszinieren, wirken so erzieherisch - immer noch - und wohl auch künftig. […] 5. In einer eigenen Leistung - sei es ein Werk oder eine hoch bewertete Handlung - legt sich die Person aus. Die schöpferische Eigenleistung ist unverwechselbar persönlich; die handelnde Person hat sie vollbracht. Die Leistung ist und bleibt in diesem Sinne ein Ausdruck persönlicher Handlungsfreiheit, der Freiheit des Individuums. […] Auf Eigenhandeln und Freiwilligkeit kommt es an: Eigenleistung ist so ein Signum der Freiheit des Einzelnen. 6. […] 7. Es bedarf daher allgemein einer neuen, positiven Kultur der freiwilligen Eigenleistung, einer Förderung des Prinzips der kreativen Eigenleistung. Die verstärkte Ausbildung einer positiveren, leistungsanreizenden Kultur (im Originalsinn des Wortes: „Pflege“, „Bebauung“) des selbstbestimmten kreativen Eigenhandelns, ist - besonders heute (wieder) - in unseren Bildungsinstutionen nötig. Wir brauchen eine neuerliche Kulti‐ vierung und Unterstützung der Kultur der Eigenleistungen. 8. Daraus folgt, dass das Prinzip Eigenleistung auch der Humanität verpflichtet ist. Es muss ein humanisiertes Leistungsprinzip sein. Es ist eine wesentliche Zukunftsauf‐ gabe, die „freie Eigenleistung als Humanismus zu begreifen und zu gestalten (Verf. 1983). […] Eigenleistung sollte human und sozial sinnvoll sein. 9. […] 10. Die leistende Eigentätigkeit kann ihren Rhythmus, ihren Wert, ihre Lust und Genuss - ja ein Flow-Erleben […] in sich tragen - selbst unter Hochleistungsansprüchen. Eigenleistung trägt den besten „Lohn“, die persönliche Befriedigung, in sich selber. Sie sollte mit gelockerter Gelassenheit einhergehen. 174 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="175"?> 11. […] Die Demokratie braucht die engagierten Eigenleistungen, lebt geradezu von diesen - gerade auch von solchen, die sie nicht erzwingen kann: Auch gesellschaftlich sind Eigenaktivierung und Eigenleistungen unverzichtbar: Sie müssten aber auch anerkannt werden: Eigenleistung und Eigeninitiative sollten sich wieder lohnen.“ (Lenk 2007, 193- 196). Prägnant zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Möglichkeit, freiwillig Leistung zu erbringen, ist essentiell für die Entfaltung der eigenen Anlagen - im zeitgenössischen Diskurs wäre ggf. wieder von „Ressourcen“ die Rede (vgl. Kap. 3.2.3) -, mithin für die Ent‐ faltung der Persönlichkeit. Insbesondere auch das Angebot freiwilliger (Zusatz-)Leistungen z. B. in Form von Arbeitsgemeinschaften, Fremdsprachenwettbewerben (vgl. Band II, Kap. 5.5) bietet Eigenleistungen in diesem Sinne Entfaltungsfreiheit. Eigenleistung im Sinne Lenks ist Ausdruck der individuellen Freiheit und dient zugleich dem Gemeinwohl. Mit Blick auf die Bedeutung der Bereitschaft zu Einsatz und Engagement ist sie letztlich Bedin‐ gung für das Fortbestehen demokratischer Gesellschaften. Leistungserwartungen müssen dabei aber mit Blick auf das jeweilige Individuum realistisch sein, d. h., das Leistungsprinzip muss human gehandhabt werden (neben anderen Prinzipien wie beispielsweise dem Sozialprinzip). In diesem Sinne sei an dieser Stelle in Anlehnung an Lenk für eine humane Leistungsgesellschaft plädiert, zu deren Entwicklung auch der Unterricht der romanischen Sprachen mit seinen Leistungsgelegenheiten und kreativen Impulsen einen Beitrag leisten kann. 3.4.2 Bildung zu sprachlicher und religiöser Vielfalt (Fabbro) In verschiedenen Studien und Essays hat der italienische Neurologe (und grundständig ausgebildete Philosoph) Franco Fabbro den Versuch unternommen, auf der Grundlage auch eigener neurowissenschaftlicher Forschungen eine frühe mehrsprachige Bildung evidenzbasiert zu begründen (z. B. Fabbro 2004, Fabbro/ Cargnelutti 2018). In Identità culturale e violenza. Neuropsicologia delle lingue e delle religioni (Fabbro 2018) ergänzt er den Ansatz der mehrsprachigen Bildung um einen Ansatz der Bildung über/ zu religiöser Vielfalt. Diese erscheint ihm notwendig, da religiöser Fanatismus in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder zu Kriegen und Gewalt geführt hat. In religiöser Bildung erkennt er insofern ein grundlegendes Potential zur Vermeidung von Gewalt. Die Komplementarität (fremd-)sprachlicher und religiöser Bildung begründet er wie folgt: […] Meine Forschungsaktivität hat sich also in einen Bereich bewegt, von dem ich glaube, dass er dem Studium der Sprachen und des Bilinguismus nahe steht, nämlich der Untersuchung der neuropsychologischen Grundlagen der Religionen (Fabbro 2010, 2014a, b). Tatsächlich tragen Glaube und religiöse Praktiken wie die Sprachen zur Einigung einer sozialen Gruppe und zugleich zur Trennung dieser Gruppe von anderen Gruppen, die sich zu anderen Religionen bekennen, bei. Zudem werden beide Dimensionen, die sprachliche und die religiöse, von Erwachsenen an Kinder weitergegeben und kennen kritische Phasen der Aneignung; tatsächlich zeigt sich, dass es nach der Adoleszenz sehr schwierig ist, sich von der eigenen Sprache oder von der eigenen Religion abzukehren. […] (Fabbro 2018, 5, Übers. D.R.) 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 175 <?page no="176"?> Er sieht daher insbesondere in sprachlicher/ mehrsprachiger und religiöser Bildung eine Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens der Menschen bei gleichzeitiger Anerken‐ nung und Beibehaltung eigener kultureller Identität (vgl. auch die Konzepte der transkul‐ turellen Bildung und der Transdifferenz in Band III, Kap. 2): Wie kann man also den Aspekt der Gewalt, der mit kultureller Identität [sc. in der Geschichte, aber auch in der Gegenwart] verbunden ist, reduzieren, ohne die eigene Heimat, die eigenen kulturellen und religiösen Traditionen zu verleugnen? Ich kann einen möglichen Ausweg erkennen: Kinder frühzeitig zur Mehrsprachigkeit und zur theoretischen und praktischen Kenntnis verschiedener religiöser Traditionen zu erziehen. (Fabbro 2018, 127, Übers. D.R.) Abschließend schlägt Fabbro vier Bündel von Maßnahmen vor, die dem friedlichen Mitein‐ ander der Menschen dienen und somit als grundlegende Dimensionen von Bildung für das 21.-Jahrhundert verstanden werden können. ● Förderung mehrsprachiger Bildung und Erziehung, ● Förderung der Kenntnis und Praxis verschiedener religiöser Traditionen, ● Förderung des wissenschaftlich-kritischen Denkens (einschließlich eines kritischen Umgangs mit den Technologien), ● Förderung von Wegen der Selbsterkenntnis und der Achtsamkeit. (Fabbro 2018, 128- 135). 3.4.3 „Humane Bildung“ (Nida-Rümelin): ein erneuerter Humanismus/ Neohumanismus Aus den Ausführungen in Kap. 3.2 ist deutlich geworden, dass das Bildungsverständnis Wilhelm von Humboldts nach wie vor als ein umfassendes Modell von Bildung Gültigkeit beanspruchen darf. Indem es sich stark auf (Fremd-)Sprachen bezieht - womit seinerzeit freilich vor allem die alten Sprachen gemeint waren - ist es für den Unterricht auch der modernen Sprachen in besonderem Maße anschlussfähig. Das sich auf Humboldt berufende Bildungskonzept des 19. Jahrhunderts wird, wie in Kap. 3.2.3 erinnert wurde, gemeinhin als Neuhumanismus bezeichnet, als „Dritten Humanismus“ bezeichnet man dessen Aktualisierung besonders durch Werner Jaeger in den 1930er und 1940er Jahren (vgl. z. B. Hoffmann 2016, 28). Insofern müsste der Versuch, ausgehend vom Bildungskon‐ zept Humboldts ein grundlegendes Bildungskonzept für den Fremdsprachenunterricht im 21. Jahrhundert vorzuschlagen, konsequenterweise als „vierter“ Humanismus bezeichnet werden. Allgemeiner soll hier von einem „neuen Humanismus“ die Rede sein. Für eine solche Aktualisierung eines weiter gefassten (neu-)humanistischen, humboldt‐ schen Bildungsverständnisses wiederum lassen sich sehr gute Anschlussstellen in den Schriften des Philosophen Julian Nida-Rümelin finden, und zwar insbesondere in seiner Philosophie einer humanen Bildung (Nida-Rümelin 2013), aber auch in seinen Humanisti‐ sche[n] Reflexionen (Nida-Rümelin 2016). Dieser Ansatz wurde von der (romanistischen) Fremdsprachendidaktik noch kaum zur Kenntnis genommen (punktuelle, aber nicht sys‐ tematische Bezugnahmen finden sich bei Roland Ißler, z. B. Ißler 2017 (z. B. 48, Anm. 12) und 2019 (z. B. 180, Anm. 7); ein entsprechender Vorschlag des Anknüpfens an 176 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="177"?> Nida-Rümelin mit Blick auf ein aktualisiertes Bildungskonzept findet sich bisher lediglich in der altsprachlichen Didaktik bei Stefan Kipf (Kipf 2021, 32 f.). Im Rahmen eines grundlegenden „Plädoyers für einen erneuerten Humanismus“ inner‐ halb seiner Humanistischen Reflexionen erörtert Nida-Rümelin zunächst folgende sechs „Grundlagen“ des neuen Humanismus: Menschenwürde, Moralische Erfahrung, Realismus, Wahrheit, Verständigung und Autorschaft (zu einzelnen Begriffen s. u.). In Ausführungen zu „Demokratie und Kosmopolitismus“, in die der Humanismus münde, befasst er sich u. a. mit folgenden Fragestellungen: Legitimität kollektiver Entscheidungen, Freiheit und Gleichheit, Kooperation und Solidarität, Humanistischer Kosmopolitismus, Internationale Gerechtigkeit (Nida-Rümelin 2016, 353-383 bzw. 410-442). In seiner Philosophie einer humanen Bildung (Nida-Rümelin 2013) formuliert Julian Nida-Rümelin auf der Grundlage dieses Verständnisses von Humanismus den Vorschlag einer (erneuerten, neo-)humanistischen Bildungskonzeption (vgl. auch in Nida-Rümelin 2016, 201-245), die im Folgenden kurz umrissen werden soll, da sie zentrale Anschluss‐ stellen für ein aktuelles Bildungsverständnis (auch) im Unterricht der romanischen Spra‐ chen bietet. Auf einer Metaebene erkennt Nida-Rümelin im Grunde in der gesamten europäischen Bildungsgeschichte eine Auseinandersetzung mit humanistischem Gedan‐ kengut, das er in den Grundbausteinen Autarkie, Rationalität und Universalität bereits in der Antike angelegt sieht (Nida-Rümelin 2016, 214-218): Das Gemeinsame humanistischen Denkens ist durch die genannten Ursprungsimpulse - (1) Autarkie/ Autonomie, (2) Rationalismus (theoretische wie praktische Vernunft) sowie (3) Univer‐ salismus - interessanterweise schon weitgehend erfasst. Die europäische Bildungsgeschichte kann man als immer wiederaufgenommene Auseinandersetzung mit diesen Grundorientierungen des Humanismus lesen. Das humanistische Ideal erfährt zunächst eine philosophische Fassung (Platon und Aristoteles, die griechischen und die römischen Stoiker, Pico della Mirandola und andere humanistische Philosophen der italienischen Renaissance, Kant und die Philosophen des deutschen Idealismus, etc.), bis der Humanismus sodann Eingang in die Bildungsdebatten findet, Bildungsreformen prägt und dann verebbt in der Gegenoffensive der Instrumentalisten und Anti-Humanisten unterschiedlicher Couleur, um nach einigen Jahrhunderten oder auch nur Jahrzehnten in neuer Gestalt wiederaufzuerstehen. (Nida-Rümelin 2016, 218) Nida-Rümelin will seine „Bildungsphilosophie“ vor dem Hintergrund eines „unaufgeregten [sc. philosophischen] Realismus“ verstanden wissen (Nida-Rümelin 2013, 133). Er schlägt ein Konzept humanistischer Bildung vor, das davon ausgeht, dass zentrale Fragestellungen der Bildungstheorie bereits in Texten der antiken Philosophie verhandelt und in der italienischen (v. a. Früh-)Renaissance weiterentwickelt wurden (z. B. Nida-Rümelin 2013, 43-49, 164, 172, Nida-Rümelin 2016, 218), und das immer wieder an Wilhelm von Humboldt anknüpft (z. B. Nida-Rümelin 2013, 95). Diese Ansätze entwickelt er im Sinne einer Übertragung auf veränderte äußere Gegebenheiten nuancierend weiter. Bei der Konzeption der „humanen“ oder „neohumanistischen“ Bildung (z.-B. Nida-Rümelin 2013, 87, Nida-Rü‐ melin 2016, 241) überwindet er beispielsweise an Dewey anschließend das aus heutiger Perspektive elitäre Bildungskonzept Platons durch einen demokratischen Ansatz, nach dem Bildung allen zugänglich sein muss (z. B. Nida-Rümelin 2013, 74 f., 188). Zugleich distanziert er sich auch von einigen Aspekten der neuhumanistischen Bildungskonzeptionen: „Die 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 177 <?page no="178"?> Schlagseite humanistischer Bildungspraxis in Richtung Buchwissen und alte Sprachen, die Abwertung der eigenen Erfahrung, der Naturforschung, der Technik insbesondere des 19. Jahrhunderts“ sei selbstverständlich zu überwinden bzw. zu nuancieren (Nida-Rümelin 2013, 164). Vor diesem Hintergrund entwirft Nida-Rümelin, vereinfacht formuliert, folgende Kon‐ zeption des Humanismus und der Bildung: Im „Zentrum einer humanistischen Anthro‐ pologie“ als Grundlage einer human(istisch)en Bildung stehen für ihn die drei Aspekte Rationalität bzw. Vernunft, Freiheit bzw. Autonomie und Verantwortung (z. B. Nida-Rü‐ melin 2013, 56, 61-92). Diese drei Bereiche erachtet er als „Aspekte des gleichen Phänomens […], nämlich der besonderen menschlichen Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen.“ (Nida-Rümelin 2013, 60, vgl. Nida-Rümelin 2016, 258-261). Daraus leitet er folgende Bildungsziele ab: Die Fähigkeit, vernünftige, wohlbegründete Überzeugungen auszubilden (1), die Fähigkeit zu einer autonomen Lebensgestaltung (2) und die Fähigkeit, Verantwortung wahrzunehmen (3), sind die zentralen Bildungsziele eines erneuerten Humanismus. (Nida-Rümelin 2013, 83) Ein Ziel ist also die „verantwortliche Persönlichkeit“ (Nida-Rümelin 2013, 71). Nida-Rü‐ melin erkennt in der praktischen Philosophie Kants „die elaborierteste und bis heute einflussreichste Fassung humanistischen Denkens“ (Nida-Rümelin 2013, 57), plädiert aber für einen „(neohumanistische[n]) Verantwortungsbegriff “, der „weit über den Kantischen hinaus[]geht“ (Nida-Rümelin 2013, 87, vgl. z. B. Nida-Rümelin 2016, 355). Verantwortung habe eine praktische bzw. handlungsbezogene, eine theoretische und eine emotionale Dimension (Nida-Rümelin 2013, 89, 97). Als ein weiteres übergeordnetes Bildungsziel, das durch human(istisch)e Bildung er‐ reicht werden soll, führt er Selbstbestimmtheit und Freiheit an (z. B. Nida-Rümelin 2013, 14, 56, 60, 83): Ein humanistisches Bildungsverständnis beruht auf dem Ideal der Autonomie. Die Fähigkeit, ein Leben nach eigenen Regeln, frei und verantwortlich zu führen, ist oberstes humanistisches Bildungsziel. Eine entwickelte Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit sind Voraussetzungen für ein autonomes Leben. (Nida-Rümelin 2013, 60) Autonomie bzw. Freiheit bezieht sich auf die drei Dimensionen „der Überzeugungen, Mei‐ nungen und Meinungsäußerungen […], des Handelns [… und] der Emotionen“ (Nida-Rü‐ melin 2016, 380 f.). Über das Individuum hinausweisende Bildungsziele, die auf diesen Grundlagen entwi‐ ckelt werden können, sind kognitiver Natur einerseits und praktischer Natur andererseits. Im Bereich der eher kognitiven Ziele werden über die Entwicklung der Vernunft bzw. der Urteilskraft (vgl. z. B. Nida-Rümelin 2013, 170) hinaus Verständigung - in diesem Zusammenhang spielt Sprache eine zentrale Rolle - und Orientierungswissen eingeführt (Nida-Rümelin 2013, 117-136 bzw. 137-159), für den Bereich der „humanen Praxis“ werden vor allem die Entfaltung von Tugenden reflektiert (z. B. Nida-Rümelin 2013, 163-178), die drei Ziele Emanzipation, Inklusion und Demokratie angenommen (z.-B. Nida-Rümelin 2013, 179-220) sowie folgende drei Prinzipien einer humanen Bildungspraxis dargestellt: 178 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="179"?> Einheit der Person, Einheit des Wissens, Einheit der Gesellschaft (z. B. Nida-Rümelin 2013, 221-246). Die Rolle von Verständigung und Sprache im Rahmen dieser Bildungskonzeption ist zunächst wie folgt zu verstehen: Bildung hat zwei ursprüngliche und miteinander verwobene Quellen: die Erfahrung im Umgang mit der Natur, mit außermenschlichen, außersozialen Dingen, Prozessen und Ereignissen einerseits und Kommunikation als die Grunderfahrung des zwischenmenschlichen Umgangs andererseits. (Nida-Rümelin 2013, 125). Kommunikation wird dabei ausgehend von Grice (vgl. Band II, Kap. 4.2) wie folgt definiert: Das Grundmodell gelungener Kommunikation ist in Anlehnung an Paul Grice das folgende: Eine sprachliche Äußerung oder generell eine Zeichen-Setzung ist Teil eines gelungenen kommunika‐ tiven Aktes, wenn damit beim Sprecher die Intention verbunden ist, dem Hörer (dem Adressaten) Grund für etwas zu geben. Es ist nicht das Ziel des Bewirkens im Sinne konsequenzialistischer Rationalität, wie viele Griceaner meinen, sondern es ist der Austausch von Gründen, [der] mit der Mitteilung von Intentionen einhergeht. Die sprachliche Form solcher kommunikativer Akte setzt allerdings in der Regel voraus, dass die betreffenden Äußerungen eine konventionelle, in dieser spezifischen Sprache etablierte Bedeutung haben und dass beiden - dem Sprecher wie dem Hörer - diese konventionelle Bedeutung vertraut ist. (Nida-Rümelin 2013, 123, vgl. vertiefend Nida-Rümelin 2016, 376-379) Fremdsprachenlernen wird im weitesten Sinn wie bei Wilhelm von Humboldt konzipiert: „Das Erlernen einer Sprache heißt auch, sich zumindest virtuell mit einer Lebensform vertraut zu machen.“ (Nida-Rümelin 2013, 130). An anderer Stelle beobachtet er im Zusammenhang mit einer globalen Bewertung unseres Bildungssystems zum Fremdspra‐ chenunterricht wie folgt: Unsere allgemeinbildenden Schulen sind in zwei Bereichen recht erfolgreich: Sie vermitteln die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen und die Gymnasien vermitteln akzeptable Fremdspra‐ chenkenntnisse (man vergleiche das einmal mit Ländern wie den USA oder auch Italien und Frankreich! ), […]. (Nida-Rümelin 2013, 209) Aspekte der Verständigung und des Respekts betreffen nicht nur andere Menschen, sondern beispielsweise auch Tiere. In Humanistische Reflexionen hält Nida-Rümelin daher, Ausführungen zur Verständigung beschließend, Folgendes fest: Auch Rücksichtnahme auf empfindungsfähige Lebewesen, mit denen wir nicht kommunizieren können, ist für Humanisten essenziell. Wenn wir in der Weise auf Menschen Rücksicht nehmen müssen, dass wir ihnen keine unnötigen Schmerzen zufügen, dann haben wir auch die Pflicht, empfindungsfähigen Lebewesen, die nicht der menschlichen Spezies angehören, keine unnötigen Schmerzen zuzufügen. (Nida-Rümelin 2016, 379) Die Zentralität der Verständigung für den Humanismus verdeutlicht er wie folgt resümie‐ rend: Der erneuerte Humanismus vertraut auf die Fähigkeit des Menschen, sich von Gründen leiten zu lassen, er bildet Persönlichkeiten, die Autoren ihres Lebens sind, er setzt auf die Fähigkeit, sich zu 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 179 <?page no="180"?> verständigen und damit den Einsatz von Gewalt überflüssig zu machen, aber er beschränkt seine Werte und Normen weder auf die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft noch auf die Mitglieder der menschlichen Spezies. Der Humanismus ist universalistisch, weil er jede Form von Kollektivismus ablehnt. Die menschliche Verständigungspraxis ist deswegen von besonderer Bedeutung für das humanistische Ethos, weil sie allein im Stande ist, eine humanistische Praxis zu etablieren. (Nida-Rümelin 2016, 379) Im Rahmen der kognitiven Bildungsziele ist über die Entwicklung von Vernunft und von Verständigung hinaus „Orientierungswissen […] dadurch definiert, dass es für die menschliche Lebensform relevant ist. […] Das lebensweltliche Orientierungswissen muss allen gemeinsam je individuell zur Verfügung stehen.“ (anders etwa als wissenschaftliches (Orientierungs-)Wissen) (Nida-Rümelin 2013, 137, 151, vgl. z. B. Nida-Rümelin 2016, 358 f.). Mit Blick auf die Entwicklung handlungsorientierter Bildungsziele oder einer „hu‐ mane[n] Praxis“ (Nida-Rümelin 2013, 161) konzipiert Nida-Rümelin „Tugenden“ als essen‐ tielle Grundlage. Er legt nahe, einen weiter und tiefer greifenden Tugend-Begriff, den er grundlegend aus der Philosophie der griechischen Klassik (hier Aristoteles) herleitet, wieder zu etablieren, anstelle heute in Ansätzen Ähnliches bezeichnender Begriffe wie „soft skills“, „Schlüsselqualifikationen“ etc. Dabei geht er von drei Dimensionen der Tugenden aus, einer theoretischen, einer praktischen und einer emotionalen: Von Tugenden ist heute im Alltag selten […] die Rede. Tatsächlich erleben wir unter anderen Begriffen eine Renaissance der Tugenden, allerdings in einer Art Schrumpfform als Kompetenzen oder soft skills. Ich plädiere für die Wiederaufnahme eines reichhaltigeren Tugendbegriffs im aktuellen Bildungsdiskurs. Er gliedert sich entsprechend den drei Dimensionen der Bildung in „dianoetische Tugenden“ (Urteilskraft, Theorie), „ethische Tugenden“ (Normativität, Praxis) und „emotionale Tugenden“ (Gefühle, Emotionalität). (Nida-Rümelin 2013, 163) Er stellt fest, dass im aktuellen Bildungswesen noch immer die kognitive Dimension verstärkt betont werde und plädiert für eine stärkere Entwicklung gerade auch der emo‐ tionalen Tugenden („Unser Bildungswesen hat eine kognitive Schlagseite. Auf dianoetische Tugenden fokussiert, vernachlässigt es ethische und emotionale.“ (Nida-Rümelin 2013, 178)). Dianoetische Tugenden (vgl. διάνοια - „Verstand“, vgl. διανο-έομαι, διανο-έω - „nach‐ denken“, „im Sinn haben“) sind diejenigen, „die unsere Fähigkeiten, richtig zu denken und zu urteilen, zu voller Entfaltung bringen. [Sie] äußern sich in einer entwickelten Urteilskraft.“ (Nida-Rümelin 2013, 170). In diesem Zusammenhang attestiert er der griechi‐ schen Klassik ein „ungewöhnlich hohe[s] Niveau praktischer Philosophie“ (Nida-Rümelin 2013, 165) und bezieht sich bei seinen Ausführungen zu den dianoetischen Tugenden insbesondere auf die zwei Konzepte der Tugend - ἀρετή - und der εὐδαιμονία, „des gelungenen Lebens“ (Nida-Rümelin 2013, 166, sowie 166-171). An letzteres Konzept knüpft er den (philosophischen) Perfektionismus an, der für das Konzept einer humanen Bildung essentiell ist: Ausgangspunkt des Perfektionismus ist die Aristotelische Überzeugung, dass ein gelungenes Leben (eudaimonía) darin besteht, die eigenen Anlagen, Begabungen und Fähigkeiten zu voller Entfaltung zu bringen. […] Tugenden im Aristotelischen Sinne sind nichts anderes als Wertungen, 180 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="181"?> Einstellungen und Entscheidungen, die die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringen lassen. (Nida-Rümelin 2013, 168 f.) Individuelle Anlagen und Begabungen sind also im Sinne einer (neo)human(istisch)en Bildung in jedem Fall zu fördern, um den einzelnen Schülerinnen und Schülern zur εὐδαιμονία zu verhelfen. Diese beschreibt er an anderer Stelle wie folgt: „Autor[: ]in des eigenen Lebens zu sein, sich selbst in der eigenen Praxis wiederzufinden, Glück in der Entfaltung der eigenen Fähigkeiten zu erfahren. [Dies ist] die lebendige, nach wie vor aktuelle Botschaft humanistischer Bildungsphilosophie.“ (Nida-Rümelin 2013, 246, vgl. z. B. Nida-Rümelin 2016, 379-383). An der Schnittstelle von dianoetischen („kognitiven“) und ethischen Tugenden steht die φρόνησις, sozusagen die „Klugheit aus Erfahrung“, die aus „Urteilskraft und […] überzeu‐ gender Praxis gleichermaßen“ besteht (Nida-Rümelin 2013, 171). Mit Blick auf die ethischen Tugenden stellt Nida-Rümelin - durchaus in Abgrenzung von einem vereinfachten, naiven Postulat der „goldenen Mitte“ - den Verzicht auf das Extreme, das „[Ernstnehmen] anderer“ und das Vermitteln zwischen verschiedenen Positionen im Sinne des griechischen Konzepts der σωφροσύνη - „Besonnenheit“ in den Mittelpunkt (Nida-Rümelin 2013, 172 f.): Auf die Utopie einer ganz anderen Ordnung zu verzichten, ist Ausdruck dieser Form von Humanität. Der Theoretiker steht nicht außerhalb, sondern inmitten der Gesellschaft, er meidet das Extreme auch deshalb, um verstanden zu werden und eine Wirkung ohne Zwang zu entfalten. Der gebildete Mensch versucht, Konflikte durch Ausgleich, nicht durch Sieg, zu überwinden, er sucht nicht die Provokation, sondern die Verständigung, er hält zusammen, wo Einzelteile auseinanderzubrechen drohen“ (Nida-Rümelin 2013, 173) Aus der Zentralität auch ethischer Tugenden leitet Nida-Rümelin die Bedeutung der Praxis, der Lebenserfahrung, für den von ihm vorgeschlagenen neuen Humanismus ab: Da ethische, nicht nur dianoetische Tugenden ein zentrales Bildungsziel darstellen, ist die prakti‐ sche Erfahrung für den Bildungserfolg genauso ausschlaggebend wie die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten und dianoetischer Tugenden. […] Eine zeitgenössische Erneuerung des Humanismus und die auf dieser basierende Philosophie einer humanen Bildung müssen die Einheit von Theorie und Praxis in den Mittelpunkt stellen. (Nida-Rümelin 2013, 174) In diesem Zusammenhang kritisiert Nida-Rümelin auch den Bologna-Prozess und favori‐ siert die Universitätsidee Wilhelm von Humboldts: In [einer der Einheit von Theorie und Praxis entgegengesetzten] Tradition der Separierung steht die Unterscheidung von berufs- und wissenschaftsorientierten Studiengängen im Bologna-Pro‐ zess. Wissenschaftsorientierung ist unter den modernen Bedingungen zugleich Berufsorientie‐ rung. In dieser Hinsicht ist die Universitätsidee von Wilhelm von Humboldt heute aktueller als vor 200 Jahren. (Nida-Rümelin 2013, 175) In Humanistische Reflexionen vertieft er die Frage nach dem Realitätsbezug seines Huma‐ nismus-Konzepts und grenzt sich in diesem Zusammenhang von konstruktivistischen Positionen ab. Dabei betont er den „große[n] Reichtum praktischer Gründe und ihre Ver‐ ankerung in der Lebenswelt […]. Dieser Reichtum muss für einen vitalen zeitgenössischen 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 181 <?page no="182"?> Humanismus unbedingt erhalten bleiben […]. Humanisten sind Realisten oder sollten es jedenfalls sein.“ (Nida-Rümelin 2016, 368, 371). Als dritten, zentralen Bereich der Tugenden nennt er den Bereich der emotionalen Tugenden und führt diese - unter Anerkennung von deren unterschiedlichen Konzeptionen - auf die hellenistische Philosophie, namentlich auf Epikureismus und Stoa zurück. In seinem Entwurf eines erneuerten Humanismus versucht er, die beiden Ansätze zusammen‐ zuführen: Nach der hier vorgetragenen Konzeption teilt die gebildete Person mit dem Stoiker die Fähigkeit zur Distanz gegenüber eigenen Neigungen und Gefühlsregungen. Sie teilt mit den Epikureern die Sorge um sich selbst, die allerdings eingebettet ist in eine Sorge für andere, die Ausdruck ihrer Gleichwürdigkeit ist. Und schließlich sorgt sie für Kohärenz der Strebungen (Neigungen und Wünsche), indem sie emotionale Tugenden entwickelt, die der Affektion [vereinfacht: Beeinflussung, Überzeugung] durch Gründe Spielraum verschaffen. (Nida-Rümelin 2013, 178) In engem Zusammenhang mit der emotionalen Dimension von Bildung ist auch die „soziale Kompetenz“ zu sehen, die sich in der „Fähigkeit zu Empathie, [des] Sich-Hineinfühlen[s] in eine andere Person, auch eine solche, der man nicht nahesteht, [als] Voraussetzung einer sozial gebildeten Praxis“ manifestiere (Nida-Rümelin 2013, 230). Nach den drei Bereichen der Tugend führt Nida-Rümelin im Bereich der Bildungsziele einer „humanen Praxis“ (s. o.) die Trias Emanzipation, Inklusion und Demokratie ein. Ausgangspunkt seiner Reflexionen ist dabei die essentielle Bedeutung von Bildung für Demokratie und die grundlegende Verwobenheit von Emanzipation und Inklusion mit demokratischer Bildung: Die besondere Ordnung der Demokratie ist als einzige mit Bildung unauflöslich verbunden. Demokratie und Bildung sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Ohne Bildung ist Demokratie als Staats- und Lebensform nicht möglich und Bildung befördert die Demokratie, in der demo‐ kratischen Praxis bewährt und erfüllt sich Bildung. Die beiden Grundwerte der Bildung in der Demokratie sind Emanzipation und Inklusion. (Nida-Rümelin 2013, 179 f.) Emanzipation wird dabei je eine politische und eine persönliche Dimension zugeschrieben, die sich in kollektiver respektive individueller Selbstbestimmung manifestieren (Nida-Rü‐ melin 2013, 184). Die Zentralität der Inklusion wiederum impliziert eine Abgrenzung vom idealistischen, aber exkludierenden Bildungsentwurf Platons (vgl. Nida-Rümelin 2013, 188 f.). Er weist zugleich darauf hin, dass der institutionalisierten Bildung mit Blick auf Inklusion dann Grenzen gesetzt sind, wenn eine Gesellschaft zu stark desintegriert ist („Eine sozial desintegrierte Gesellschaft kann durch Bildung allein nicht reintegriert werden. […] Bildungspolitik ist mit Wirtschafts- und Sozialpolitik eng verflochten.“, Nida-Rümelin 2013, 191). In diesem Zusammenhang erneuert er sein Plädoyer für das Bildungskonzept Wilhelm von Humboldts und erteilt dem Neoliberalismus, auch mit Blick auf Bildung und Bil‐ dungsinstitutionen, eine Absage (zur Kritik des Neoliberalismus in diesem Kontext vgl. weiterführend Nida-Rümelin 2016, 412 f., 441 f.). Er erinnert daran, dass die sozialdemokra‐ tische Idee des 19. Jahrhunderts „aus den liberalen Bildungsvereinen des 19. Jahrhunderts 182 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="183"?> hervorging“, die erkannten, dass eine Entfaltung der Persönlichkeit unter den Vorzeichen der „ökonomischen Kräfte des Marktes“ nicht möglich war (Nida-Rümelin 2013, 189): Die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts kann man als Synthese aus Liberalismus und Sozialismus interpretieren: Der liberale Sprach-, Kultur- und Sozialphilosoph Wilhelm von Humboldt betonte einerseits die Grenzen des Staates und nahm ihn doch sogar in ganzem Umfang in die Pflicht. Der Staat sollte für die allgemeine Bildung von den Volksschulen bis zu den Universitäten die notwendigen Mittel bereitstellen, aber sich zugleich inhaltlich und organisatorisch abstinent verhalten. […] Es gehört zu den politischen Wundertaten, dass diese schier unvereinbaren Postulate zur Leitschnur der größten Bildungsreform wurden, die, wenn auch nur partiell verwirklicht, am Ende doch für mehrere Jahrzehnte, im Grunde bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs[,] Deutschland zur führenden Bildungsnation der Welt machte. (Nida-Rümelin 2013, 189 f.) Mit Blick auf die inklusive Gesellschaft ruft Nida-Rümelin auch dazu auf, verschiedenste Expertisen und berufliche Tätigkeiten als gleichwertig anzusehen: Warum ist in unserer Kultur die Tätigkeit eines Elektrotechnikers niedriger bewertet als die eines Germanisten? Ist wirklich gesagt, dass die Tätigkeit eines Elektrotechnikers weniger Qualifikation erfordert als die eines Germanisten? […] wäre es nicht viel plausibler, diese beiden Tätigkeiten […] als unterschiedliche, aber gleichwertige anzusehen? Ist es nicht viel plausibler, anzunehmen, dass diejenigen, die die einen Begabungen und Interessen haben, das eine, zum Beispiel Elektrotechnik, und dass diejenigen, die die anderen Begabungen und Interessen haben, eben das andere tun, zum Beispiel akademische Forschung an der deutschen Sprache betreiben? […] Eine inklusive Gesellschaft beruht auf einer Kultur der gleichen Anerkennung und dies beinhaltet auch den gleichen Respekt vor unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten. Der Beruf des Altenpflegers ist nicht weniger wertvoll oder weniger fordernd als der des Hochschullehrers. Es sind vermutlich nicht die gleichen Kompetenzen, die den Erfolg in dem einen und den Erfolg in dem anderen Beruf ermöglichen. Aber die Gesellschaft braucht beide Arten von Kompetenzen. (Nida-Rümelin 2013, 204 f.) Daraus ergibt sich auch, dass die Wahl eines Ausbildungsberufs nicht als ein persönliches Scheitern oder mit Blick auf das Bildungssystem „als ein verwehrter Aufstieg oder gar als ein Versagen des Bildungssystems interpretiert werden darf.“ (Nida-Rümelin 2013, 206, vgl. auch 207 f.). Die durch Emanzipation und Inklusion definierte Demokratie wird sodann als „Lebens‐ form, nicht lediglich ein Entscheidungsverfahren“ und in diesem Zusammenhang grund‐ sätzlich auf einer „Kultur gleicher Anerkennung und gleichen Respekts“ basierend einge‐ führt. Ferner werden Grenzen und Bedingungen der Demokratie in Erinnerung gerufen: die Grundrechte des Einzelnen, die Rechtsstaatlichkeit, die Notwendigkeit von Partizipation und politischer Öffentlichkeit (Nida-Rümelin 2013, 211). In all diesen Facetten ist Demo‐ kratie von der Fähigkeit zur vernünftigen Meinungs- und Entscheidungsbildung abhängig, die ja zuvor als ein grundlegendes Bildungsziel eingeführt wurden („Die Demokratie setzt also voraus, dass die Grundlinien der politischen Praxis auf der Grundlage allgemeiner Urteilskraft in vernünftiger Weise bestimmt werden können.“, Nida-Rümelin 2013, 214). An anderer Stelle formuliert er pointiert: „Keine Demokratie ohne allgemeine Urteilskraft, 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 183 <?page no="184"?> keine allgemeine Urteilskraft ohne allgemeine und inklusive Bildung.“ (Nida-Rümelin 2013, 216). Als ein grundlegender Inhalt demokratischer Bildung wird der Umgang mit Differenz eingeführt, der allerdings da seine Grenzen hat, wo Grundlagen der Demokratie in Frage gestellt werden: Zu den zentralen Bildungsinhalten in der Demokratie gehört ein respektvoller Umgang mit Differenz, Differenz der persönlichen Lebensführung, der individuellen Lebensform, aber auch Differenz kultureller Praktiken und kollektiver Institutionen. […] Die Demokratie ist mit einer Vielfalt kultureller Lebensformen vereinbar, aber nicht mit allen. […] sie ist nicht ethisch neutral. Bildung in der Demokratie muss dem gerecht werden. Allgemeine, vom Staat verantwortete Bildung darf nicht einzelne Lebensformen gegenüber anderen auszeichnen oder bevorzugen. Sie muss getragen sein von einer Kultur gleich würdiger Anerkennung und einer Haltung des Respekts gegenüber individuellen Differenzen. Zugleich aber bleibt sie auf die normativen Grundlagen der demokratischen Ordnung verpflichtet, das heißt insbesondere auf die Menschen- und Bürgerrechte. (Nida-Rümelin 2013, 217 f.) Mit Blick auf die Demokratie setzt sich Nida-Rümelin auch mit den Konzepten der Koope‐ ration (wechselseitig) und Solidarität (einseitig) auseinander, und betont die Bedeutung der Solidarität im humanistischen Denken: Aus humanistischer Perspektive steht im Mittelpunkt die allgemein menschliche Solidaritäts‐ pflicht. […] Aus humanistischer Perspektive ist die Menschheit als [G]anze eine Solidargemeinschaft, die nicht vor den Grenzen der Hautfarbe, der Nation oder der Religion Halt macht. Die Entgrenzung der Solidaritätspflichten ist wohl die anspruchsvollste und zentralste Botschaft des Humanismus, neben dem Prinzip der gleichen menschlichen Würde. (Nida-Rümelin 2016, 428) An anderer Stelle führt er, gerade auch in Abgrenzung zum Neoliberalismus, weiterhin aus: Zugleich setzt sich das humanistische Verständnis von Demokratie von den liberalen Schrumpf‐ formen ab […] Neoliberalismus, Wirtschaftsliberalismus, die so genannten pluralistischen Demo‐ kratietheorien instrumentalisieren die politische Ordnung und entwerten die demokratische Praxis der gleichberechtigten Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen und die Gemein‐ schaftsstiftung systematisch. […] Jede Konstitution des demos, [der] in eine[n] Konflikt mit den universellen Menschenrechten gerät, ist im humanistischen Verständnis illegitim […]. Der oberste Wert ist für ein humanistisches Verständnis von Demokratie nicht die politische Gemeinschaft, sondern das menschliche Individuum, das gleichen Respekt und gleiche Anerkennung innerhalb jeder politischen Ordnung verdient. (Nida-Rümelin 2016, 412 f., vgl. auch 423) Als Prinzipien einer humanen Bildungspraxis, aufgrund derer die genannten Bildungsziele erreicht werden können, werden die drei Prinzipien der Einheit der Person, Einheit des Wissens und Einheit der Gesellschaft eingeführt (Nida-Rümelin 2013, 221-246). Ihnen ge‐ mein ist das Moment der Einheit: „Eine humane Bildungspraxis stiftet Einheit, sie separiert und selektiert nicht.“ (Nida-Rümelin 2013, 222). Er versteht die genannten Prinzipien als „bildungspraktische Schlussfolgerungen aus den bildungsphilosophischen Überlegungen“ (Nida-Rümelin 2013, 222), die von ihm zuvor dargestellt wurden und hier in Grundzügen resümiert wurden. Das Prinzip der „Einheit der Person“ zielt dabei vor allem darauf, 184 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="185"?> die Integrität der Person zu achten und zu fördern […] die Person als Ganze, nicht in ihrem Funktionieren für diese oder jene Zwecke, zu respektieren und günstige Bedingungen für ihre Entfaltung zu schaffen. (Nida-Rümelin 2013, 223) Im weiteren Verlauf präzisiert er: Eine humane Bildung soll den ganzen Menschen in den Blick nehmen, ihn in seiner ästhetischen, emotionalen, ethischen und kognitiven Dimension respektieren. Die menschliche Praxis verlangt nach einer Kohärenz emotiver und kognitiver, ästhetischer und ethischer Erfahrungen und Einstellungen. Diese Kohärenz zu entwickeln helfen und damit ein in sich stimmiges Leben zu ermöglichen, dazu beizutragen, dass Menschen in den unterschiedlichen Phasen ihres Lebens mit sich im Reinen sind, ist oberstes Ziel humaner Bildung. (Nida-Rümelin 2013, 230 f.) In diesem Zusammenhang verweist Nida-Rümelin ferner darauf, dass dem Heranwach‐ senden gleicher Respekt wie einem Erwachsenen entgegengebracht werden muss: „Eine humane Bildung versteht das heranwachsende Individuum als ein Wesen eigenen Ranges, das gleichen Respekt verdient wie erwachsene Menschen.“ (Nida-Rümelin 2013, 224). Wie er im Bereich der Tugenden die Bedeutung (und aktuelle Vernachlässigung) der emotionalen Tugenden für eine humane Bildung unterstreicht, so betont er mit Blick auf die Entfaltung der Person die Bedeutung ästhetischer und auch physischer Bildung (Nida-Rümelin 2013, 225-228). Ästhetische Bildung müsse dabei über den im aktuellen Bildungswesen sehr reduzierten Unterricht in Kunsterziehung hinausgehen: Die wöchentlich 45 Minuten Kunsterziehung entsprechen einem traurig verkürzten Bildungsbe‐ griff, in dem die ästhetische Dimension menschlicher Existenz verkümmert ist. Angesichts der Ursprünge der europäischen Bildungsgeschichte in der griechischen Klassik und der humanisti‐ schen Bildungstradition, ein eigentlich niederschmetternder Befund. (Nida-Rümelin 2018, 226). Andernorts führt er mit Bezug auf die emotionale Dimension von Bildung weiter aus: Das Kognitive und das Emotionale sind unauflöslich miteinander verbunden. […] Das Emotionale ist wiederum mit dem Ästhetischen eng verbunden, da es der vorsprachliche Qualitätsraum ist, der noch nicht von Begriffen präzisierte und differenzierte Erfahrungskontext, der eine geteilte Emotionalität ermöglicht. (Nida-Rümelin 2013, 230). Neben der Bedeutung der ästhetischen Bildung unterstreicht Nida-Rümelin mit Blick auf die „Einheit der Person“ auch die Existenz einer „physische[n] Dimension der Bildung“ (z. B. Nida-Rümelin 2013, 226), die durch Sport befördert werden könne und plädiert in diesem Zusammenhang u. a. für tägliche, morgendliche Bewegungsaktivitäten in den Schulen (Nida-Rümelin 2013, 227). Dabei zielt er im Grunde auf moderate Bewegung. Zwar spricht er dem Leistungssport nicht grundsätzlich bildendes Potential ab, aber aufgrund des Zeitaufwands und des Verletzungsrisikos erachtet er ihn nicht als zu privilegierende Form der physischen Bildung (Nida-Rümelin 2013, 228). Unter dem Aspekt „Einheit des Wissens“ plädiert Nida-Rümelin für eine Reduktion des fachlichen Spezialwissens zugunsten allgemeiner, allgemeinbildender kanonischer Inhalte. Wiederum unter Bezug auf Wilhelm von Humboldt postuliert er: „Der allgemeinbildende Wissenserwerb dient der Persönlichkeitsbildung, nicht spezifischen beruflichen oder an‐ 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 185 <?page no="186"?> deren Tätigkeiten.“ (Nida-Rümelin 2013, 231). Ergänzend dazu kann es in seiner Konzeption spezifisches Wissen geben, das in verschiedene Bildungskanones einfließen kann: Darüber hinaus scheint es mir allerdings legitim zu sein, dass kulturelle und historische Spezi‐ fika sich in den Bildungsinstitutionen auch darin niederschlagen, dass die Besonderheiten des betreffenden Landes, der Kultur, der Bevölkerung verbindlicher gemeinsamer Lerninhalt sind. (Nida-Rümelin 2013, 241). Als einzige Fächergruppe erwähnt er im Zusammenhang mit der „Einheit des Wissens“ ausdrücklich die fremdsprachlichen Fächer und verdeutlicht, dass der Beitrag zur Bildung gerade in all dem besteht, was über die Aneignung der reinen funktionalen kommunika‐ tiven Kompetenzen (vgl. Band II, Kap. 4) hinausgeht: Ähnliches gilt für den Sprachunterricht. Auch wenn die Kenntnisse der jeweiligen Sprache für die Persönlichkeitsbildung entbehrlich sind und nicht als kanonischer Bestandteil des Ori‐ entierungswissens gelten können, so ist doch die über das Erlernen der Sprache entwickelte kognitive und interkulturelle Kompetenz wichtig für die Persönlichkeitsausbildung. Wenn es lediglich um die Fertigkeit, sich in einer Fremdsprache ausdrücken zu können, ginge, dann wäre die Schule der falsche Ort. Diese Fertigkeit ist außerhalb der Schule wesentlich wirksamer zu vermitteln. Ein schulischer Sprachunterricht, der sich daher auf Grammatik und Vokabeln beschränkt, verfehlt sein Ziel. Erst die vertiefte Auseinandersetzung mit Literatur und Kultur, mit Politik und Gesellschaft einer zeitgenössischen oder antiken Lebensform macht den schulischen Fremdsprachenerwerb zu einem wichtigen Instrument der Persönlichkeitsbildung. (Nida-Rümelin 2013, 234) Man könnte nuancierend hinzufügen, dass aus dem Grund, dass derzeit immer weniger schulische Sprachlehrgänge gerade der zweiten und dritten Fremdsprachen (und natürlich, in der Natur der Sache begründet, erst recht der spät beginnenden Fremdsprachen) tatsächlich bis in den Bereich des traditionellen, u. a. literarische Texte behandelnden Oberstufenunterrichts fortgeführt werden, besonderes Augenmerk darauf gelegt werden muss - und kann -, dass im oben genannten Sinne bildende kulturelle, literarische und allgemeiner ästhetische Inhalte auf einfachere Weise bereits in die früheren Phasen der Sprachlehrgänge einfließen (vgl. u.-a. Band III zu Medien-, Kultur- und Literaturdidaktik). Die „Einheit der Gesellschaft“ manifestiert sich in der humanistischen Bildung nach Nida-Rümelin wie folgt: Eine humane Bildungspraxis selektiert nicht und parzelliert nicht, sie geht von der Gleichwertig‐ keit aller Menschen aus und f[ö]rdert die Bedingungen eines gleichermaßen gelungenen und autonomen Lebens. Dabei nimmt sie auf die Vielfalt der individuellen Lebensformen, Interessen, Begabungen und kulturellen Prägungen Rücksicht. Diese Rücksichtnahme darf nicht zum Vor‐ wand für Selektion und Separation werden. (Nida-Rümelin 2013, 244). Eine Grundkonstante des Humanismus ist die Ablehnung einer Instrumentalisierung von Bildung: Humanisten aller Zeiten haben natürlich nicht bestritten, dass Bildung nützlich ist, nicht nur im Beruf, sondern zu einer gelungenen Gestaltung des Lebens generell. Humanisten haben in der Regel auch keine Probleme, Bildungsanstrengungen damit zu rechtfertigen, dass sie externen 186 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="187"?> Zwecken dienen. Sie sehen es jedoch als problematisch an, wenn die Inhalte der Bildung von diesen externen Zwecken bestimmt oder Bildung als solche gar über den instrumentellen Erfolg definiert wird. (Nida-Rümelin 2016, 218 f.) Die Möglichkeiten der Realisierung und Wirkung einer so gefassten (neo)human(istisch)en Bildung schätzt Nida-Rümelin realistisch als begrenzt an, ermuntert aber dennoch, sie zu etablieren zu versuchen - und zwar nicht als idealistischer Lösungsversuch für alle Probleme der aktuellen Gesellschaft(en), sondern realistischerweise als Korrektiv, als Baustein zur erstrebenswerten Problemlösung: Dass dieses Ideal einer humanen Bildung eine immense und unter den modernen Bedingungen einer sozial und kulturell zerklüfteten Gesellschaft kaum bewältigbare praktische Herausforde‐ rung nach sich zieht, liegt auf der Hand. Die Bildungspraxis muss sich, um an dieser Spannung von Ideal und Realität nicht zu zerbrechen, als Korrektiv, als Beitrag zur Humanisierung und nicht als Lösungsansatz aller gesamtgesellschaftlichen Probleme verstehen. (Nida-Rümelin 2013, 244, vgl. z.-B. Nida-Rümelin 2016, 362, 368). 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 187 <?page no="188"?> Humane Bildung nach Julian Nida-Rümelin Grundkonzepte humanistischen Denkens seit der Antike Autarkie/ Autonomie Rationalismus Universalität Grundkonzepte humanistischer Anthropologie Freiheit Vernunft/ Rationalität Verantwortung humane Bildung als Korrektiv, Beitrag zur Humanisierung, nicht als Lösung aller Probleme grundlegende Bildungsziele: Fähigkeit zur autonomen Fähigkeit, vernünftige, Fähigkeit, Lebensgestaltung wohlbegründete Überzeugungen Verantwortung wahrzunehmen auszubilden kognitive Bildungsziele: Orientierungswissen Verständigung (Bedeutung der Sprache) handlungsorientierte Bildungsziele: Tugenden Emanzipation dianoetische Tugenden (  Vernunft) Inklusion ethische Tugenden (  Praxis) emotionale Tugenden Demokratie (bes. auch Sorge für andere und sich selbst) (als Lebensform) => Einheit von Theorie und Praxis => (philosophischer) Perfektionismus: εὐδαιμονία: Entfaltung aller Anlagen Bildungsphilosophie bildungspraktische Schlussfolgerungen Prinzipien humaner Bildung: - Einheit der Person (ästhetische, emotionale, ethische, kognitive, physische Dimension) - Einheit des Wissens (allgemeinbildende, kanonische Inhalte, Orientierungswissen, „überflüssiges“ Wissen zentral für Bildung) - Einheit der Gesellschaft (Gleichwertigkeit aller Menschen) Grundlage: „unaufgeregter“ (philosophischer) Realismus, entwickelt in Auseinandersetzung u.a. mit: griechische Klassik (v.a. Platon, Aristoteles), Hellenismus (Stoa, Epikureismus), Kant, Wilhelm von Humboldt neuer Humanismus/ Neohumanismus Grundlagen: - Menschenwürde - Wahrheit moralische Erfahrung - Verständigung - Realismus - Autorschaft Demokratie Kosmopolitismus Abb. 27: Humane Bildung nach Julian Nida-Rümelin (bes. Nida-Rümelin 2013): Graphische Darstel‐ lung zentraler Aspekte (eigene Darstellung) An anderer Stelle hat Julian Nida-Rümelin sein Konzept einer „humanen Bildung“ auch explizit als anschlussfähig für die allgemeinbildenden Schulen, insbesondere die Schulart Gymnasium, modelliert (vgl. bes. Nida-Rümelin 2012). Dabei hebt er auch auf die Zentralität 188 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="189"?> humanistischer Bildung für das Funktionieren der Europäischen Union, aber auch für die Entwicklung des Schul- und Hochschulwesens sowie der Wissenschaften insgesamt ab (Nida-Rümelin 2012, 65-70), und schließt pointiert: Wer nicht die Augen verschließt vor den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesellschaft, in den Technologien, in den Ökonomien weltweit, muss eigentlich zu der Erkenntnis kommen, dass [sc. humanistische] Bildung heute paradoxerweise zur besseren Ausbildung geworden ist. […] Bildung ist zur besten Ausbildung geworden, und deswegen sind in meinen Augen die humanistischen Bildungsideale so aktuell wie nie zuvor. (Nida-Rümelin 2012, 69 f.) In eine ganz ähnliche Richtung argumentiert beispielsweise in historisch-pädagogischer Perspektive, insbesondere auch unter Berufung auf Niethammer, der Würzburger Pädagoge Winfried Böhm in einem prägnanten Beitrag „Humanistische Bildung neu denken im Hinblick auf das Gymnasium“ (Böhm 2012, vgl. weiterführend z. B. Böhm 2013). Mit Blick auf die (gymnasiale) Bildung kann darüber hinaus mit Gewinn an die Schriften des Konstanzer Wissenschaftstheoretikers Jürgen Mittelstraß erinnert werden (exempla‐ risch Mittelstraß 1994c), der wie Nida-Rümelin gymnasiale und hochschulische Bildung unmittelbar miteinander verwoben sieht (z. B. Mittelstraß 1994c, 149), schon lange vor der Bologna-Reform vor einem „Fachhochschulmodell der Universität“ gewarnt hat (z. B. Mittelstraß 1994b, 17) und immer wieder - ähnlich wie Nida-Rümelin (s. o.) - die Bedeutung von Wissen und Orientierungswissen als einem zentralen Gegenstand schulischer Bildung hervorgehoben hat (z. B. Mittelstraß 1994c, 162-165, vgl. z. B. Mittelstraß 2002, bes. 157 ff., 164 ff., zur Konzeption von „Orientierungswissen“ bei Mittelstraß und Nida-Rümelin vgl. auch Frederking/ Bayrhuber 2017, 229-231, 246). Als Ausblick sei verwiesen auf das multiperspektivische, zahlreiche Reflexionsanlässe bietende, für verschiedene der hier vorgestellten Positionen anschlussfähige (u. a. auch bezogen auf die Integration von Neurowissenschaften und Bildung), in einzelnen Aspekten aber sicherlich auch streitbare „Manifest“ [sc. zur Bildung] von Jürgen Baumert, Johannes Fried, Hans Joas, Jürgen Mittelstraß und Wolf Singer (Baumert/ Fried/ Joas/ Mittelstraß/ Singer 2002). 3.4.4 Vorschlag eines neuen Humanismus: Bildung durch Sprachen im 21.-Jahrhundert In dem hier vorliegenden Kompendium Fachdidaktik Romanistik wird ein Menschenbild zugrunde gelegt, das von der (neuro-) biologischen Verfasstheit des Menschen ausgeht (vgl. z. B. Lenk 2011, Fabbro 2021), das dessen Beeinflussung durch die von ihm selbst geschaffenen Technologien anerkennt und das zugleich von der essentiellen Bedeutung der Kultur für das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der Menschheit überzeugt ist (vgl. z.-B. Lenk 2011). Zugleich wird davon ausgegangen, dass Bildung ein zentraler Baustein von Kultur ist. Bildung wird in diesem Zusammenhang wie bei Julian Nida-Rümelin explizit humanistisch konzipiert. Mit Nida-Rümelin wird ferner die Annahme geteilt, dass wesentliche Aspekte von Bildung bereits im klassischen Altertum (bes. in Griechenland) vorgeprägt und formuliert wurden (vgl. z. B. Nida-Rümelin 2013, 2016). Es wird weiterhin in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt davon ausgegangen, dass sprachliche Bildung, insbesondere auch 3.4 Philosophische Impulse zur Aktualisierung des Bildungsbegriffs 189 <?page no="190"?> Bildung durch Fremdsprachenunterricht und Fremdsprachenlernen, eine grundlegende Rolle für Bildungsprozesse insgesamt spielt. Insofern kann und muss Fremdsprachenun‐ terricht, auch in den zweiten, dritten und spät beginnenden Fremdsprachen, immer auch (humane, im weiteren Sinne humanistische) Bildung im Blick haben. Es ist dabei für das hier vertretene Verständnis von (sprachlich begründeter und vermittelter) Bildung in einem ersten Schritt unerheblich, ob entsprechende Bildungsprozesse in schwerpunktmäßig alt- (vgl. Humanismus, Neuhumanismus und „dritter Humanismus“, s. o.) oder neusprachli‐ chen Bildungszügen initiiert werden. Vielmehr ist nach der hier vertretenen Auffassung alt- und neusprachliche Bildung grundsätzlich integriert zu denken. Aus den jeweiligen Schwerpunktsetzungen ergeben sich idealerweise lediglich Nuancen und teilweise andere Wege zur Bildung (z. B. ausgehend von anderen Texten). Unabdingbar ist in dem hier vorgeschlagenen Konzept von Bildung indes der Aspekt echter Mehrsprachigkeit, die sich durch schulisch entwickelte oder überformte (z. B. fortgeführte Auseinandersetzung mit einer Herkunftssprache) Literalitätsentwicklung mit wenigstens drei bis vier Sprachen neben der dominanten Bildungssprache - in diesem Fall dem Deutschen - manifestiert. Vor diesem Hintergrund soll hier in Anlehnung an Julian Nida-Rümelin für einen neuen Humanismus plädiert werden. In diesem hat ein humanes Leistungsprinzip, das sich über das Konzept der Eigenleistung im Sinne Lenks realisiert, einen angemessenen Platz, wobei Eigenleistung zur Entfaltung der persönlichen Anlagen einerseits und zum Fortbestand der Demokratie andererseits beiträgt. Ziel jeglicher Bemühungen um Bildung ist letztlich das auf Entfaltung aller individuellen, auch ästhetischen, physischen, emotionalen und sozialen Anlagen beruhende, selbständige und - nicht zuletzt mit Blick auf Nachhaltigkeit - demokratisch verantwortungsvolle Leben in εὐδαιμονία - ein Ziel, das auch durch und im Unterricht der romanischen Sprachen erreicht werden kann. 3.5 Der Beitrag des Unterrichts der romanischen Sprachen zur Bildung An dieser Stelle soll daher versucht werden, vor dem Hintergrund der oben beschriebenen historischen und gegenwärtigen Konzeptionen von Bildung sowie unter Einbezug der allge‐ meinbildenden Dimension jüngerer Lehr- und Bildungspläne ausgewählter Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Brandenburg) das Potential der romanischen Sprachen für Bildungsprozesse von Schülerinnen und Schülern gerade auch mit Blick auf nachhaltige Entwicklung ausgehend vom Fremdsprachenunterricht zu skizzieren. Mehrsprachigkeitsdidaktik (vgl. Band II, Kap. 2, bes. 2.3) sowie inter- und transkulturelles Lernen (vgl. Band III, Kap. 2) sind zwei zentrale und distinktive Bereiche, in denen der Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen und der Unterricht der romanischen Sprachen, möglicherweise sogar der Unterricht zweier oder mehrerer romanischer Sprachen in einer Schülerbiographie, in besonderem Maße zur Bildung beitragen können. Mehrsprachigkeit als Entwicklung und (Heraus-) Bildung mehrsprachiger Individuen wird im Falle von Kindern, die bei Schuleintritt noch einsprachig sind, dann möglich, wenn sie eine zweite und ggf. dritte oder weitere Fremdsprache erlernen - die in den deutschen Bildungssys‐ temen sehr häufig eine romanische Sprache ist. Man kann mit Blick auf die bildenden 190 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="191"?> Dimensionen von Fremdsprachenunterricht in diesem Zusammenhang von „aufgeklärter Mehrsprachigkeit“ sprechen (z. B. Reimann 2015a, 2016b). Inter- und transkulturelles Lernen, mithin inter- und transkulturelle Bildung, haben im Fremdsprachenunterricht und seinen außerschulischen Lernorten (etwa Begegnungen, Schüleraustausch etc.) einen privilegierten Ort (mehr als in anderen Fächern, in denen inter- und transkulturelle Bildung selbstverständlich auch initiiert werden kann) (einführend z. B. Reimann 2017a und e, zum darüber hinaus weisenden Potential des altsprachlichen Unterrichts für das inter- und transkulturelle Lernen vgl. Reimann 2017 f bzw. g, aus altsprachlich-didaktischer Perspektive weiterführend Freund/ Janssen 2017). Ein besonderer Mehrwert des Unterrichts in den romanischen Sprachen liegt darüber hinaus sicherlich auch in der Tatsache begründet, dass hier mehrere schulische Fremdspra‐ chen aus einer Sprachenfamilie den Zugang zu einer Vielzahl von Kulturen ermöglichen, die Auseinandersetzung mit sprachlicher und kultureller Vielfalt also einerseits bis zu einem gewissen Grade erleichtert, andererseits aber eben auch besonders anschaulich erfahr- und erlebbar wird (vgl. z.-B. Reimann 2017b, 69). Im Umgang mit vielfacher sprachlicher, ethnischer, kultureller und sozialer Heteroge‐ nität leistet der Unterricht in den romanischen Sprachen einen besonderen Beitrag zu einer der gegenwärtig übergeordnet erscheinenden Bildungsdimensionen, namentlich dem Um‐ gang mit Vielfalt, diversity usw. Inklusion im Sinne eines weiten Inklusions-Konzepts wie bei Kersten Reich - ethnokulturelle Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Diversität sozialer Lebensformen, sozioökonomische Gerechtigkeit, Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung (Reich 2014, 31-36) - ist im Unterricht der romanischen Sprachen, zumindest die ersten vier Dimensionen betreffend - immer zentral. Selbiges gilt für die übergeordneten Bildungs- und Erziehungsdimensionen des Globalen Lernens und der Bildung für nachhaltige Entwicklung: Inhalte, die auf diese Zieldimensi‐ onen ausgerichtet sind, lassen sich leicht in den Französisch-, Spanisch-, Italienisch- oder Portugiesischunterricht integrieren (vgl. z. B. Büter 2018 zum Spanischen, Stegmüller 2021 zum Italienischen, einführend für die neueren (Fremd-)Sprachen insgesamt Becker/ Börner/ Edelhoff/ Schröder 2016). Weiterhin können Bildungsprozesse im Unterricht der romanischen Sprachen u. a. in folgenden Dimensionen angeregt werden: ● Bildung als Persönlichkeitsbildung, als Aktivierung vorhandener „Kräfte“ bzw. Res‐ sourcen des Einzelnen (vgl. Humboldt, Lenk, Nida-Rümelin) und als freie Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne einer Vielfältigkeit der Interessen und Fähigkeiten (z. B. Klafki) durch ganzheitlichen Unterricht mit vielfältigen Inhalten und mit Lerngelegenheiten auch an außerschulischen Lernorten, ● Bildung zu Autonomie und Mündigkeit (vgl. Kant), z.-B. durch Schüleraustausch, ● Bildung als Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidari‐ tätsfähigkeit (vgl. Klafki, Nida-Rümelin) durch die Zentralität der Interaktion mit anderen im Fremdsprachenunterricht und z. B. durch Projektlernen bei Schüleraus‐ tausch, Drittortbegegnungen usw., ● Bildung in den genannten Dimensionen - bestmögliche Entfaltung aller Anlagen, Autonomie, Mündigkeit und Selbstbestimmung - in dem Sinne, dass in unseren Schulsystemen Inklusion konsequent zu Ende gedacht (qua Zugang zum Abitur) nur 3.5 Der Beitrag des Unterrichts der romanischen Sprachen zur Bildung 191 <?page no="192"?> durch eine zweite Fremdsprache möglich ist, die in der Regel entweder das Lateinische oder einer romanische Sprache ist, ● Bildung zur und durch Eigenleistung (Lenk) gerade auch durch zusätzliche fremd‐ sprachliche Angebote, z. B. Arbeitsgemeinschaften zur Vertiefung (z. B. französische Konversation, Wirtschaftsitalienisch) oder zur Begegnung mit weiteren Sprachen (z.-B. Portugiesisch, Rumänisch), durch Angebote im Bereich des leiblich-ästhetischen Lernens (z. B. spanische Theatergruppe), durch Schüleraustausch/ außerschulische Projekte, durch Angebote mit Wettbewerbscharakter bzw. durch Ermunterung zur Teilnahme an Wettbewerben (z.-B. Bundeswettbewerb Fremdsprachen), ● Bildung durch Sprache als Medium der Interaktion zwischen Menschen und als Zugang zu unterschiedlichen Sichtweisen (vgl. Humboldt, Nida-Rümelin), ● kognitive und formale Bildung (vgl. Humboldt, Hegel) sowie Erziehung zur Präzision durch Formenreichtum der Sprachen (vgl. z. B. Kramer 2010): werden Formenreichtum (Flexion) und daraus resultierende Notwendigkeit zur Präzision - zu Recht - immer wieder als bildende Momente des altsprachlichen Unterrichts hervorgehoben, so gilt dies auch für die romanischen Sprachen in Abgrenzung etwa vom Englischen. Insbesondere ist zu beachten, dass gerade im Spanischen und Italienischen auch in der mündlichen Produktion beispielsweise die Angleichung von Adjektiven, aber auch die Flexion der Verben, hörbar wird (teilweise mehr als im Französischen, wo der Formenreichtum eher im Schriftlichen sichtbar wird), ● religiöse Bildung als Weg zur Überwindung von Gewalt (z. B. Fabbro) durch Aus‐ einandersetzung mit verschiedenen religiösen Traditionen und Religionen in den unterschiedlichen romanophonen Räumen, ● ästhetische Bildung (vgl. z. B. Lenk, Nida-Rümelin) durch wahrgenommenen Wohl‐ klang der Sprachen (z. B. Bigalke 1981 zum Italienischen, Bouwmeester 2011 zum Spanischen und Französischen, z.-B. 86 f., 89), ● ästhetische und literarische Bildung durch Umgang mit Kunst, Architektur, Film, Musik eischließlich Textmusik und Oper, Literatur, usw., ● physische Bildung (vgl. Lenk, Nida-Rümelin) und Bildung zur Selbstverantwortung durch Achtsamkeit (vgl. Fabbro), durch bewegtes Lernen, Einblick in sprachraumspe‐ zifische Sportarten, z. B. an Projekttagen und mittelbar durch Thematisierung von Sport im Fremdsprachenunterricht, ● Bildung durch vielfältige Lerngelegenheiten (vgl. Humboldt, Klafki), durch kanoni‐ sche Inhalte (vgl. Humboldt, Klafki, Nida-Rümelin) und durch gegenwarts- und zu‐ kunftsrelevante, thematische Inhalte (vgl. Klafki) z. B. durch Auseinandersetzung mit klassischen Stoffen und Texten romanophoner Literaturen einerseits wie auch mit aktuellen Umweltproblemen etwa in Andalusien, im subsaharischen Afrika oder in Lateinamerika (z.-B. Themen wie „Wasser“) andererseits, ● Bildung als Weg zur Erkenntnis von Wirklichkeit(en), der Vielschichtigkeit und Komplexität der Dinge (vgl. Platon), z. B. durch Auseinandersetzung mit der Vielfalt der kulturellen Phänomene, ökologischen Probleme usw. innerhalb eines oder mehrerer romanophoner Sprachräume, ● Bildung als Umwendung und Aufstieg (vgl. Platon), z. B. durch Relativierung von Positionen beim inter- und transkulturellen Lernen, 192 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="193"?> ● Bildung zur Vernunft/ kritischen Urteilsbildung (vgl. Nida-Rümelin) durch Auseinan‐ dersetzung mit philosophischen Texten des jeweiligen Sprachraums, ● Bildung zu Moral (vgl. Kant) und Sittlichkeit (vgl. Hegel) durch Auseinandersetzung mit grundlegenden Werten und Wertesystemen in verschiedenen romanophonen Kulturen, Beispielen moralisch vorbildlicher Persönlichkeiten usw. wie auch mit verschiedenen kulturellen Systemen und ihren Werten (exemplarisch z. B. Michler 2005 zu Werteerziehung und Demokratiebildung im Französischunterricht, Rückl 2020 zu Demokratiebildung ausgehend vom Italienischunterricht), ● Bildung als Versöhnung des Einzelnen mit der Welt (vgl. Hegel) z.-B. durch inter- und transkulturelle Lernprozesse im Fremdsprachenunterricht, ● Bildung als gesellschaftliche Integration und staatsbürgerliche Bildung (vgl. Hegel, Nida-Rümelin) z. B. durch politische Bildung und Europabildung im Unterricht der romanischen Sprachen, vgl. Reimann 2017h, vgl. Band III, Kap. 2.4.2.3, sowie jetzt auch die Bände Plötner/ Willems 2020, del Valle Luque/ Heyder/ Schlaak i.Vb.), ● politische Bildung durch „Landeskunde“, Auseinandersetzung mit soziokulturellen Gegebenheiten in verschiedenen romanophonen Gebieten, ● Umweltbildung und Globale Bildung, Verinnerlichung der Bedeutung von Nachhaltig‐ keit durch die Auseinandersetzung mit entsprechend relevanten Inhalten bzw. Themen aus romanophonen Gebieten verschiedener Kontinente, etwa Südeuropa, Nordafrika, subsaharisches Afrika, Mittel- und Südamerika, usw. ● Bildung zur (sozialen) Verantwortung (vgl. Lenk, Nida-Rümelin) durch Kontakt zur und Anregung des ehrenamtlichen Engagements für die jeweilige sprachliche Ge‐ meinde/ „Community“ vor Ort. Mit Blick auf einzelne Fächer kann deren Bildungspotential reflektiert werden, indem man (spezifische) Inhalte, die im Sinne Klafkis „thematisch“ werden können (vgl. Kap. 3.2.5), untersucht. Für das Italienische beispielsweise konnten an anderer Stelle folgende spezifische Inhalts- oder Themenfelder festgehalten werden: ● Antikes Erbe (vermittelt durch den Unterricht in einer modernen Sprache), ● Renaissance und europäische Identität, ● Entwicklung der Architektur und der Kunst, ● Entwicklung der (Natur-) Wissenschaften, ● Musik: Oper, Popularmusik: „canzoni“, ● Autos und Fußball, ● Transkulturalität und gegenwärtige Immigration nach Europa, ● Italien und Bilinguismus/ Italienisch und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit, ● dialektale Gliederung Italiens und ethnische Minderheitensprachen ● Italienisch als Zugang zu erlernter Mehrsprachigkeit: Italienisch als Zugang zu wei‐ teren romanischen Sprachen. (vgl. Reimann 2014b, 103) Konzeptionen von „Allgemeinbildung“ etwa im Sinne Klafkis konkretisieren sich in for‐ malisierter Weise u. a. in Bildungs- und Erziehungszielen, die auf übergeordneter Ebene der verschiedenen Bildungs- und Lehrpläne der Bundesländer benannt werden. Exemplarisch seien an dieser Stelle fächerübergreifende Bildungs- und Erziehungsziele in den Lehrplänen Baden-Württembergs, Bayerns und Berlins (und Brandenburgs) betrachtet. Baden-Würt‐ 3.5 Der Beitrag des Unterrichts der romanischen Sprachen zur Bildung 193 <?page no="194"?> temberg etwa formuliert diese als „Leitperspektiven“ im Bildungsplan 2016 und benennt folgende sechs Bereiche: Bildung für nachhaltige Entwicklung, Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt, Prävention und Gesundheitsförderung, Berufliche Orientierung, Medienbildung, Verbraucherbildung (http: / / www.bildungsplaene-bw.de/ ,Lde/ LS/ BP2016B W/ ALLG/ LP, 07.02.2022). Bayern benennt als Schulart- und fächerübergreifende „Bildungs- und Erziehungsziele sowie Alltagskompetenz und Lebensökonomie“ (https: / / www.lehrpla nplus.bayern.de/ uebergreifende-ziele/ gymnasium, 07.02.2022) folgende fünfzehn Bereiche: Alltagskompetenz und Lebensökonomie, Berufliche Orientierung, Bildung für Nachhaltige Entwicklung (Umweltbildung, Globales Lernen), Familien- und Sexualerziehung, Gesund‐ heitsförderung, Interkulturelle Bildung, Kulturelle Bildung, Medienbildung/ Digitale Bil‐ dung, Ökonomische Verbraucherbildung, Politische Bildung, Soziales Lernen, Sprachliche Bildung, Technische Bildung, Verkehrserziehung, Werteerziehung. Berlin und Brandenburg wiederum weisen im 2015 veröffentlichten Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1 bis 10 im Bereich „Fächerübergreifende Kompetenzentwicklung“ eigene „Basiscurricula“ für „Sprachbildung“ und „Medienbildung“ aus, wodurch diese Bereiche besonderes Gewicht erhalten. Sie benennen darüber hinaus folgende dreizehn „übergreifende Themen“: Berufs- und Studienorientierung, Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity), Demokratiebil‐ dung, Europabildung in der Schule, Gesundheitsförderung, Gewaltprävention, Gleichstel‐ lung und Gleichberechtigung der Geschlechter (Gender Mainstreaming), Interkulturelle Bildung und Erziehung, Kulturelle Bildung, Mobilitätsbildung und Verkehrserziehung, Nachhaltige Entwicklung/ Lernen in globalen Zusammenhängen, Sexualerziehung/ Bildung für sexuelle Selbstbestimmung, Verbraucherbildung (https: / / bildungsserver.berlin-branden burg.de/ fileadmin/ bbb/ unterricht/ rahmenlehrplaene/ Rahmenlehrplanprojekt/ amtliche_Fa ssung/ Teil_B_2015_11_10_WEB.pdf, 07.02.2022). Stellt man die übergeordneten Bildungs- und Erziehungsziele dieser exemplarisch gewählten Bundesländer gegenüber, so fallen große Übereinstimmungen auf: Baden-Württemberg Bayern Berlin und Brandenburg Bildung für Nachhaltige Ent‐ wicklung Bildung für Nachhaltige Ent‐ wicklung (Umweltbildung, Globales Lernen) Nachhaltige Entwick‐ lung/ Lernen in globalen Zu‐ sammenhängen Bildung für Toleranz und Ak‐ zeptanz von Vielfalt - Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity) - - Gewaltprävention - Interkulturelle Bildung Interkulturelle Bildung und Er‐ ziehung - - Gleichstellung und Gleichbe‐ rechtigung der Geschlechter (Gender Mainstreaming) - Kulturelle Bildung Kulturelle Bildung - Politische Bildung - - - Demokratiebildung 194 3 Bildung durch Unterricht in den romanischen Sprachen <?page no="195"?> Baden-Württemberg Bayern Berlin und Brandenburg - - Europabildung in der Schule - Soziales Lernen - - Werteerziehung - Prävention und Gesundheits‐ förderung Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung - Familien- und Sexualerziehung Sexualerziehung/ Bildung für sexuelle Selbstbestimmung Berufliche Orientierung Berufliche Orientierung Berufs- und Studienorientie‐ rung Medienbildung Medienbildung/ Digitale Bil‐ dung Medienbildung Verbraucherbildung Ökonomische Verbraucherbil‐ dung Verbraucherbildung - Alltagskompetenz und Lebens‐ ökonomie - - Sprachliche Bildung Sprachbildung - Technische Bildung - - Verkehrserziehung Mobilitätsbildung und Ver‐ kehrserziehung Abb. 28: Übergeordnete Bildungs- und Erziehungsziele ausgewählter Bundesländer in den Lehr‐ plänen der 2010er-Jahre (Reihenfolge am Beispiel Baden-Württembergs, Entsprechungen und Ergän‐ zungen aus anderen Bundesländern daran orientiert gereiht) (eigene Darstellung) Auch in einzelnen Bundesländern nicht an derart prominenter, übergeordneter Stelle in den Lehrplänen ausgewiesene Themenfelder finden sich in der Regel an anderer Stelle der jeweiligen Lehrpläne (z. B. auf der Ebene einzelner Fächer oder Fächergruppen) oder in anderer Wortwahl den o. g. Bereichen untergeordnet. Es darf mithin weitgehend als Konsens gelten, dass die genannten etwa zwanzig Bereiche derzeit bundesweit als übergeordnete Bildungs- und Erziehungsziele gelten. Es ist offensichtlich, dass der Unterricht der romanischen Sprachen zu all diesen Bereichen seinen Beitrag leisten kann - auch da, wo es nicht auf den ersten Blick ersichtlich zu sein scheint: So kann etwa Prävention und Gesundheitsförderung durch die Thematisie‐ rung von Ernährungsweisen in bestimmten romanophonen Gebieten („mediterrane Diät“) ebenso gefördert werden wie durch die Behandlung bestimmter spezifischer Sportarten (z. B. pádel im Spanischen), berufliche Orientierung durch Einblicke in den Arbeitsmarkt in verschiedenen Regionen oder auch Verbraucherbildung durch Einblick in ökonomische Strukturen, bestimmte Produkte einzelner Sprachgebiete usw. 3.5 Der Beitrag des Unterrichts der romanischen Sprachen zur Bildung 195 <?page no="197"?> 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts Staatliche Vorgaben zur Gestaltung von Unterricht und vor allem zu den zu erreichenden Lernzielen lassen sich wenigstens bis in die Anfänge des staatlichen Schulwesens im 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Schon zuvor gab es allerdings ungeschriebene und geschriebene Vorläufer von Lehrplänen (s. u., bes. Kap. 4.3.2). Im föderalen Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist es nach wie vor Verantwortung und Freiheit der Länder, eigene Lehrpläne und damit letztlich auch eigene Anforderungsprofile zu entwi‐ ckeln. Allenfalls die Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung, welche die Kultusministerkonferenz auch für die romanischen Sprachen seit 1979 veröffentlichte, wiesen über diesen regionalen Rahmen hinaus (vgl. Kap. 4.2.3). Zunehmend wurden auch europäische Entwicklungen seit der Erstellung des Treshold Level (1975 ff.) in den Blick genommen (vgl. Kap. 4.1.1). Seit der Jahrtausendwende unterliegt die fremdsprachliche Lehrplanentwicklung - die selbstverständlich nach wie vor den Ländern überlassen ist - spürbaren Einflüssen von außen, und zwar auf zwei Ebenen: Einerseits auf der europäi‐ schen Ebene durch den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen aus dem Jahr 2001 und andererseits auf der bundesdeutschen Ebene durch die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss aus dem Jahr 2003. Beide haben sich spürbar auf Inhalte und Struktur der Lehrpläne der Länder ausgewirkt (vgl. die exemplarischen Betrachtungen in Kap. 4.3.3). In diesem Abschnitt werden zunächst die - für die deutschen Länder prinzipiell unver‐ bindlichen, aber viel rezipierten - Rahmensetzungen auf europäischer Ebene untersucht, und zwar insbesondere die Bemühungen um einen sog. Treshold Level seit den 1960er Jahren, der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (2001) und der ihn er‐ gänzende Companion Volume oder Begleitband aus dem Jahre 2018 (deutsche Fassung 2020), sowie der beide Dokumente ergänzende Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA) aus den Jahren 2012 ff. (Kap. 4.1). Anschließend werden die Rahmen‐ setzungen auf bundesdeutscher Ebene betrachtet, namentlich die bereits angesprochenen Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss, die Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung sowie die an die Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss anknüpfenden Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife aus dem Jahr 2012 (Kap. 4.2). Schließlich wird im Kap. 4.3 - Rahmensetzungen auf Länderebene - zunächst grundlegend in Definition, Systematik und Funktion von Lehrplänen (Kap. 4.3.1) und in die Geschichte der Lehrpläne für den Fremdsprachenunterricht (Kap. 4.3.2) eingeführt, bevor exemplarisch historische (Kap. 4.3.3) und gegenwärtige (Kap. 4.3.4) Lehrpläne aus den Ländern des 19.-Jahrhunderts bzw. aus den Bundesländern betrachtet werden. <?page no="198"?> 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 4.1.1 Vorläufer: Der Treshold Level (1975 ff.) Die sprachenpolitische Abteilung des Europarats bemühte sich in der gesamten Nach‐ kriegszeit um die Erstellung von Dokumenten, die vergleichbare Standards für die Fremd‐ sprachenausbildung in Europa vorschlagen sollten. Ein erstes großes Projekt war seit Ende der 1960er Jahre im Rahmen des Modern Language Project/ Projet Langues Vivantes des Europarats die Beschreibung in etwa dessen, was heute als Niveau B1 des Gemein‐ samen europäischen Referenzrahmens für Sprachen bezeichnet wird. Dabei wurden u. a. Sammlungen sprachlicher Mittel für die selbständige Sprachverwendung in Fremdsprachen erstellt. Ein wichtiger Bezugspunkt war dabei das sprachliche Handeln, den wissenschaft‐ lichen Hintergrund bildete die linguistische Pragmatik (vgl. die „kommunikative Methode“ der 1970er Jahre, hierzu vgl. Kap. 2.2.6). Bereits 1975 wurde in diesem Zusammenhang eine Beschreibung des heutigen Niveau B1 des GeR für das Englische als sog. Treshold Level veröffentlicht. Es folgten entsprechende Publikationen für andere europäische Sprachen, darunter auch für die romanischen Sprachen als Niveau seuil (1976), Nivel umbral (1979), Livello soglia (1981) und für das Portugiesische deutlich später als Nível limiar (1988) (vgl. z.-B. Balboni 2009, 83, Malaca Casteleiro/ Meira/ Pascoal 1988, 3). Entsprechende „Sprachfunktionenlisten“ für den schulischen Fremdsprachenunterricht in Deutschland wurden seinerzeit z. B. für Italienisch und Spanisch durch das Hessi‐ sche Kultusministerium vorgelegt (Auburtin 1984, vgl. Reimann 2004, 110, und Fickler/ Stein-Haschberger 1984). 4.1.2 Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (2001) Auf die Erarbeitung des Treshold Level folgte in den 1990er Jahren die empirisch fundierte Erarbeitung eines weiteren Instruments durch die sprachenpolitische Abteilung des Rats für kulturelle Zusammenarbeit beim Europarat, das die zu erzielenden Kompetenzen in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Niveaustufen beschreibt (vgl. Europarat 2001, bes. 18, 210-217). Es handelt sich um den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR), dessen Erscheinen üblicherweise auf das Jahr 2001 datiert wird (in den romanischen Schulsprachen als Cadre européen commun de référence pour les langues, Marco común europeo de referencia para las lenguas, Quadro comune europeo di riferimento per le lingue, Quadro europeu comum de referência para as línguas). Der GeR will kein normatives Dokument sein: Wir wollen den Praktikern NICHT sagen, was sie tun sollen oder wie sie etwas tun sollen. […] Es ist nicht Aufgabe des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens festzulegen, welche Ziele die Benutzer anstreben oder welche Methoden sie dabei einsetzen sollten. (Europarat 2001, 8) Ziele seien vielmehr, zu einer Reflexion über Sprache(n), Sprachverwendung und Sprach‐ lernprozesse anzuregen und „es Praktikern zu erleichtern, sich untereinander auszutau‐ schen und ihren Lernenden zu erläutern, welche Ziele sie ihnen zu erreichen helfen wollen 198 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="199"?> und wie sie dies zu tun versuchen“ (Europarat 2001, 8). Weiterhin formuliert der GeR seine Grundanliegen wie folgt: Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen stellt eine gemeinsame Basis dar für die Entwicklung von zielsprachlichen Lehrplänen, curricularen Richtlinien, Lehrwerken usw. in ganz Europa. Er beschreibt umfassend, was Lernende zu tun lernen müssen, um eine Sprache für kommunikative Zwecke zu benutzen, und welche Kenntnisse und Fertigkeiten sie entwickeln müssen, um in der Lage zu sein, kommunikativ erfolgreich zu handeln. Die Beschreibung deckt auch den kulturellen Kontext ab, in den Sprache eingebettet ist. Der Referenzrahmen definiert auch Kompetenzniveaus, sodass man Lernfortschritte lebenslang und auf jeder Stufe des Lernprozesses messen kann. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen will helfen, Barrieren zu überwinden, die aus den Unterschieden zwischen den Bildungssystemen in Europa entstehen und die der Kommunikation unter Personen, die mit der Vermittlung moderner Sprachen befasst sind, im Wege stehen. […]. (Europarat 2001, 14) Dabei verfolgt der GeR einen interkulturellen (Europarat 2001, 14) und einen mehrspra‐ chigen Ansatz und zielt auf lebenslanges Fremdsprachenlernen (Europarat 2001, 18). Die Förderung von Mehrsprachigkeit in Europa ist ein erklärtes Grundanliegen des GeR (Europarat 2001, bes. 17). Da der GeR im Weiteren aber gerade die Bereiche interkulturelle Kompetenz und Mehr‐ sprachigkeit weniger thematisiert, sondern vielmehr genaue Beschreibungen funktionaler kommunikativer Kompetenzen liefert, stellt er inzwischen eine wesentliche Bezugsgröße für die Beschreibung vor allem der sprachlichen Kompetenzen dar, die auch in die Beschreibung von Sprachkursen und die Zertifizierung von Fremdsprachenkenntnissen, auch in schulischen Zeugnissen, Einzug gehalten hat. Er schlägt für die Beschreibung von Sprachkompetenzniveaus sechs Stufen vor, die sich auf drei, je zwei Unterstufen umfassende, Niveaus verteilen (vgl. Europarat 2001, 33 f.): Niveaustufe grundlegende englische Bezeich‐ nung übergeordnetes Niveau A1 breakthrough elementare Sprachverwendung A2 waystage B1 treshold selbständige Sprachverwendung B2 vantage C1 effective operational proficiency kompetente Sprachverwendung C2 mastery Abb. 29: Die Niveaustufen des GeR (eigene Darstellung in Anlehnung an Europarat 2001, 34) Die sechs Niveaustufen werden dann etwas detaillierter in folgenden Globalskalen be‐ schrieben (Europarat 2001, 35): 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 199 <?page no="200"?> Kompetente Sprachverwendung C2 Kann praktisch alles, was er/ sie liest oder hört, mühelos ver‐ stehen. Kann Informationen aus verschiedenen schriftlichen und mündlichen Quellen zusammenfassen und dabei Begründungen und Erklärungen in einer zusammenhängenden Darstellung wiedergeben. Kann sich spontan, sehr flüssig und genau ausdrü‐ cken und auch bei komplexeren Sachverhalten feinere Bedeu‐ tungsnuancen deutlich machen. C1 Kann ein breites Spektrum anspruchsvoller, längerer Texte ver‐ stehen und auch implizite Bedeutungen erfassen. Kann sich spontan und fließend ausdrücken, ohne öfter deutlich erkennbar nach Worten suchen zu müssen. Kann die Sprache im gesell‐ schaftlichen und beruflichen Leben oder in Ausbildung und Studium wirksam und flexibel gebrauchen. Kann sich klar, struk‐ turiert und ausführlich zu komplexen Sachverhalten äußern und dabei verschiedene Mittel zur Textverknüpfung angemessen verwenden. Selbständige Sprachverwendung B2 Kann die Hauptinhalte komplexer Texte zu konkreten und abs‐ trakten Themen verstehen; versteht im eigenen Spezialgebiet auch Fachdiskussionen. Kann sich so spontan und fließend verständigen, dass ein normales Gespräch mit Muttersprachlern ohne grössere Anstrengung auf beiden Seiten gut möglich ist. Kann sich zu einem breiten Themenspektrum klar und detailliert ausdrücken, einen Standpunkt zu einer aktuellen Frage erläu‐ tern und die Vor- und Nachteile verschiedener Möglichkeiten angeben. B1 Kann die Hauptpunkte verstehen, wenn klare Standardsprache verwendet wird und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht. Kann die meisten Situationen bewäl‐ tigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet. Kann sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen und persönliche Interessengebiete äußern. Kann über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele be‐ schreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben. Elementare Sprachverwendung A2 Kann Sätze und häufig gebrauchte Ausdrücke verstehen, die mit Bereichen von ganz unmittelbarer Bedeutung zusammenhängen (z.-B. Informationen zur Person und zur Familie, Einkaufen, Arbeit, nähere Umgebung). Kann sich in einfachen, routinemä‐ ßigen Situationen verständigen, in denen es um einen einfachen und direkten Austausch von Informationen über vertraute und geläufige Dinge geht. Kann mit einfachen Mitteln die eigene Herkunft und Ausbildung, die direkte Umgebung und Dinge im Zusammenhang mit unmittelbaren Bedürfnissen beschreiben. A1 Kann vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und verwenden, die auf die Befriedigung konkreter Bedürfnisse zielen. Kann sich und andere vorstellen und anderen Leuten Fragen zu ihrer Person stellen - z.-B. wo sie wohnen, was für Leute sie kennen oder was für Dinge sie haben - und kann auf Fragen dieser Art Antwort geben. Kann sich auf ein‐ fache Art verständigen, wenn die Gesprächspartnerinnen oder Gesprächspartner langsam und deutlich sprechen und bereit sind zu helfen. Abb. 30: Die Globalskalen des GeR (Europarat 2001, 35) 200 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="201"?> Da der Schritt zur selbständigen Sprachverwendung (B1/ B2) eine bedeutende Stufe in der Kompetenzentwicklung Fremdsprachenlernender ist - erst zur selbständigen Sprachver‐ wendung fähige Lernende können in fremdsprachiger Umgebung weitgehend autonom agieren, in beruflichen Kontexten etwa von einem Arbeitgeber ohne größere weitere In‐ vestitionen in Sprachlehrprogramme in fremdsprachige Kundengespräche oder ins Ausland geschickt werden usw. - und da zugleich die Schwelle zu C1 im schulischen Bereich, zumal in den romanischen Sprachen als dritten und spät beginnenden Fremdsprachen, nur noch selten überschritten wird (vgl. auch die Vorgaben für das Abitur, s. u. Kap. 4.2.4), kommt bei der Entwicklung der Evaluationskompetenz seitens angehender Lehrkräfte der romanischen Sprachen der Diagnosefähigkeit zur Unterscheidung zwischen A2 und B1 besondere Bedeutung zu. Einen Kern des GeR bilden einzelne Skalen zu verschiedenen kommunikativen Sprach‐ aktivitäten, die sich auf die o. g. Globalskalen beziehen, diese aber in einzelnen Bereichen detaillierter ausführen. Eine Skala ist hier konkret eine Tabelle zu einer bestimmten kom‐ munikativen Aktivität (z. B. Hörverstehen), die ein System von Leistungsbeschreibungen, sog. Deskriptoren, für verschiedene Niveaustufen umfasst. Diese Deskriptoren sind als can-do-Beschreibungen angelegt, d. h., sie betonen nicht defizitäre Aspekte von Lerner‐ sprache (hierzu vgl. Band II, Kap. 5), sondern sie bezeichnen das, was ein/ e Lernende/ r üblicherweise auf einer bestimmten Niveaustufe in einem bestimmten Bereich „schon kann“ (vgl. Europarat 2001, 45-49, Anhang A: Die Entwicklung von Deskriptoren der Sprachkompetenz, Europarat 2001, 200-209). Dafür legt der Referenzrahmen ein Sprachkompetenzmodell zugrunde, von dem die deutsche Bildungspolitik bislang abweicht (s. u.). Der GeR geht von vier Modi (englisch modes) kommunikativer Sprachaktivitäten aus (Europarat 2001, 25 f.), die graphisch wie folgt dargestellt werden können: Rezeption mündlich: Hören schriftlich: Lesen Produktion mündlich: Sprechen schriftlich: Schreiben Interaktion Mediation Abb. 31: Modi kommunikativer Sprechaktivitäten im GeR (eigene Darstellung) Die Definitionen der in den deutschsprachigen Rahmenvorgaben (z. B. Bildungsstandards, s. u.) bislang nicht auf einer Stufe mit Rezeption und Produktion rezipierten Modi seien hier wiedergegeben: In mündlichen oder schriftlichen Interaktionen tauschen sich mindestens zwei Personen aus, wobei sie abwechselnd Produzierende oder Rezipierende sind, bei mündlicher Interaktion manchmal beides überlappend. Es kommt nämlich nicht nur vor, dass zwei Gesprächspartner gleichzeitig sprechen und einander zuhören. Selbst wenn Sprecherwechsel (turn taking) genau 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 201 <?page no="202"?> beachtet werden, bildet sich der Hörer bereits beim Hören Hypothesen über den Fortgang der Äußerung des Sprechers und plant seine Antwort. Diese Interaktionsweise zu erlernen, erfordert daher mehr als nur das einfache Empfangen bzw. Produzieren von Äußerungen. Der Interaktion wird allgemein in der Sprachverwendung und beim Sprachenlernen hohe Bedeutung zugeschrieben, weil sie eine so zentrale Rolle bei der Kommunikation spielt. Sowohl bei der rezeptiven als auch bei der produktiven Sprachverwendung ermöglichen die mündlichen und/ oder schriftlichen Aktivitäten der Sprachmittlung Kommunikation zwischen Menschen, die aus irgendwelchen Gründen nicht direkt miteinander kommunizieren können. Übersetzung oder Dolmetschen, die Zusammenfassung oder der Bericht ergeben eine (Neu-)Fas‐ sung eines Ausgangstexts für Dritte, die keinen unmittelbaren Zugriff darauf haben. Sprachmit‐ telnde Aktivitäten, also die Umformung eines schon vorhandenen Textes, nehmen eine wichtige Stellung im alltäglichen sprachlichen Funktionieren unserer Gesellschaften ein. (Europarat 2001, 26, Herv. im Original) Während die Sprachmittlung in den deutschen sprachenpolitischen Vorgaben als „fünfte Fertigkeit“ neben den vier traditionellen Fertigkeiten Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben durchaus hervorgehoben rezipiert und in einer eigenen Modellierung auch wissenschaftlich fundiert entwickelt wurde (vgl. Kap. 4.2 zu den Bildungsstandards und Band II, Kap. 4 zu den kommunikativen Fertigkeiten), ist der Bereich der „Interaktion“ in Deutschland bisher weniger stark diskutiert worden (in den Bildungsstandards etwa der Kategorie „Sprechen“ untergeordnet, s.-u.). Exemplarisch sollen an dieser Stelle einige (Sub-)Skalen zum Hörverstehen vorgestellt werden: Der GeR legt Skalen zu „Hörverstehen allgemein“ (Europarat 2001, 71 f.), dann aber auch zu folgenden Einzelaspekten des Hörverstehens vor: „Gespräche zwischen Mutter‐ sprachlern verstehen“, „Als Zuschauer/ Zuhörer im Publikum verstehen“, „Ankündigungen, Durchsagen und Anweisungen verstehen“ sowie „Radiosendungen und Tonaufnahmen verstehen“ (Europarat 2001, 72--74). Die Skala „Hörverstehen allgemein“ etwa enthält folgende Deskriptoren (Europarat 2001, 71 f.): Hörverstehen allgemein C2 Hat keinerlei Schwierigkeiten, alle Arten gesprochener Sprache zu verstehen, sei dies live oder in den Medien, und zwar auch wenn schnell gesprochen wird, wie Muttersprachler dies tun. C1 Kann genug verstehen, um längeren Redebeiträgen über nicht vertraute abstrakte und komplexe Themen zu folgen, wenn auch gelegentlich Details bestätigt werden müssen, insbesondere bei fremdem Akzent. Kann ein breites Spektrum idiomatischer Wendungen und umgangssprachlicher Ausdrucks‐ formen verstehen und Registerwechsel richtig beurteilen. Kann längeren Reden und Gesprächen folgen, auch wenn diese nicht klar strukturiert sind und wenn Zusammenhänge nicht explizit ausgedrückt sind. B2 Kann im direkten Kontakt und in den Medien gesprochene Standardsprache verstehen, wenn es um vertraute oder auch um weniger vertraute Themen geht, wie man ihnen normalerweise im privaten, gesellschaftlichen, beruflichen Leben oder in der Ausbildung begegnet. Nur extreme Hintergrundgeräusche, unangemessene Diskursstrukturen oder starke Idiomatik beeinträchtigen das Verständnis. 202 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="203"?> Hörverstehen allgemein Kann die Hauptaussagen von inhaltlich und sprachlich komplexen Redebeiträgen zu kon‐ kreten und abstrakten Themen verstehen, wenn Standardsprache gesprochen wird; versteht auch Fachdiskussionen im eigenen Spezialgebiet. Kann längeren Redebeiträgen und kom‐ plexer Argumentation folgen, sofern die Thematik einigermaßen vertraut ist und der Rede- oder Gesprächsverlauf durch explizite Signale gekennzeichnet ist.- B1 Kann unkomplizierte Sachinformationen über gewöhnliche alltags- oder berufsbezogene Themen verstehen und dabei die Hauptaussagen und Einzelinformationen erkennen, sofern klar artikuliert und mit vertrautem Akzent gesprochen wird. Kann die Hauptpunkte verstehen, wenn in deutlich artikulierter Standardsprache über vertraute Dinge gesprochen wird, denen man normalerweise bei der Arbeit, in der Ausbildung oder der Freizeit begegnet; kann auch kurze Erzählungen verstehen. A2 Versteht genug, um Bedürfnisse konkreter Art befriedigen zu können, sofern deutlich und langsam gesprochen wird.- Kann Wendungen und Wörter verstehen, wenn es um Dinge von ganz unmittelbarer Bedeu‐ tung geht (z.-B. ganz grundlegende Informationen zu Person, Familie, Einkaufen, Arbeit, nähere Umgebung) sofern deutlich und langsam gesprochen wird. A1 Kann verstehen, wenn sehr langsam und sorgfältig gesprochen wird und wenn lange Pausen Zeit lassen, den Sinn zu erfassen. Abb. 32: Skala „Hörverstehen allgemein“ des GeR (Europarat 2001, 71 f.) Die Subskala „Radiosendungen und Tonaufnahmen verstehen“ liest sich wie folgt (Euro‐ parat 2001, 73): Radiosendungen und Tonaufnahmen verstehen C2 wie C1 C1 Kann ein breites Spektrum an Tonaufnahmen und Radiosendungen ver‐ stehen, auch wenn nicht unbedingt Standardsprache gesprochen wird; kann dabei feinere Details, implizit vermittelte Einstellungen oder Beziehungen zwischen Sprechenden erkennen. B2 Kann Aufnahmen in Standardsprache verstehen, denen man normalerweise im gesellschaftlichen und beruflichen Leben oder in der Ausbildung be‐ gegnet und erfasst dabei nicht nur den Informationsgehalt, sondern auch Standpunkte und Einstellungen der Sprechenden. - Kann im Radio die meisten Dokumentarsendungen, in denen Standard‐ sprache gesprochen wird, verstehen und die Stimmung, den Ton usw. der Sprechenden richtig erfassen.- B1 Kann den Informationsgehalt der meisten Tonaufnahmen oder Rundfunk‐ sendungen über Themen von persönlichem Interesse verstehen, wenn deutlich und in der Standardsprache gesprochen wird. - Kann in Radionachrichten und in einfacheren Tonaufnahmen über ver‐ traute Themen die Hauptpunkte verstehen, wenn relativ langsam und deutlich gesprochen wird. 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 203 <?page no="204"?> Radiosendungen und Tonaufnahmen verstehen A2 Kann kurzen, langsam und deutlich gesprochenen Tonaufnahmen über vorhersehbare alltägliche Dinge die wesentliche Information entnehmen. A1 keine Deskriptoren vorhanden Abb. 33: Subskala „Radiosendungen und Tonaufnahmen verstehen“ (Europarat 2001, 73) Solche Deskriptoren erlauben natürlich noch keine gestufte Bewertung einzelner Schüler‐ leistungen. Der GeR selbst äußert sich grundlegend zu seinen Skalen und Deskriptoren: „Als Benutzer sind Sie eingeladen, das Skalierungssystem und die Deskriptoren kritisch zu verwenden“ (Europarat 2001, 10). Die dort vorgelegten Skalen und Deskriptoren wollen vielmehr einerseits auch Anhaltspunkte für die Unterrichtsplanung sein, ande‐ rerseits Ausgangspunkt für die Entwicklung differenzierender Bewertungsraster. Solche werden teilweise durch die Bundesländer erstellt, mitunter können auch einzelne Fach‐ schaften/ Fachgruppen dazu aufgerufen werden, eigene Bewertungsraster zu erstellen. Beispiele, wie solche Bewertungsraster aussehen können, finden sich etwa auf den Seiten des bayerischen Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB): http: / / ww w.isb-gym8-lehrplan.de/ contentserv/ 3.1.neu/ g8.de/ index.php? StoryID=26786 (08.02.2022, mündliche Interaktion auf verschiedenen Niveaustufen). Ein Beispiel für die Bewertung des Sprechens in Interaktion auf Niveau B1 des ISB sei im Folgenden wiedergegeben: 204 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="205"?> Kriterien zur Bewertung mündlicher Sprachproduktion B1 B1+ Aussprache/ Intonation Sprachliche Mittel/ Sprachrichtigkeit (Grammatik/ Lexik) Strategie/ Interaktion Aufgabenerfüllung/ Inhalt evtl.Faktor 1 4 3 4 5 4,5 stets klar und verständlich, fremder Akzent ist hörbar, aber nicht störend geringfügige Verstöße in Aussprache und Intonation verfügt über recht vielfältige lexikalische und grammatikalische Mittel, um sich über die meisten Themen des eigenen Alltagslebens (z. B. Familie, Freunde, Hobbys, Sport, Musik, Arbeit, Reisen) flüssig und meist fehlerfrei äußern zu können kann ein Gespräch, vor allem in vertrauten Situationen, in Fluss halten und selbst initiativ werden, wenn der Gesprächspartner nicht zu schnell spricht kann die eigene Meinung durch kurze Erklärungen erläutern erfüllt anschaulich und folgerichtig die gestellten Aufgaben bewältigt vertraute Situationen sprachlich flüssig und kohärent argumentiert durchdacht und überzeugend 4 3,5 meist klar und verständlich, fremder Akzent ist hörbar, aber selten störend gelegentliche Verstöße in Aussprache und Intonation zeigt eine meist flüssige Beherrschung der lexikalischen und grammatikalischen Mittel gelegentliche Verstöße, auch muttersprachlich bedingt, stören die Kommunikation nur wenig kann mit einer gewissen Sicherheit aktiv an Gesprächen teilnehmen bewältigt die meisten Situationen mit einfachen sprachlichen Mitteln braucht gelegentlich Hilfe erfüllt im Allgemeinen die Aufgabenstellung stellt Ideen meist klar, kohärent und sprachlich flüssig dar argumentiert meist durchdacht und überzeugend 3 2,5 im Allgemeinen korrekt und insgesamt noch verständlich gelegentliche, auch kommunikationsstörende Verstöße wendet eher einfache lexikalische und grammatikalische Mittel zum Teil mit Schwierigkeiten an macht gelegentlich sinnstörende Fehler kann aktiv an Gesprächen teilnehmen die begrenzten sprachlichen Mittel führen zu gelegentlichen Pausen oder erfordern des öfteren Hilfe erfüllt die gestellten Aufgaben zwar meist angemessen, stellt Ideen aber manchmal unklar und nicht immer kohärent dar liefert nur zum Teil relevante Ideen 2 1,5 nicht immer verständlich starker Einfluss der Muttersprache - Verstöße teilweise sinnstörend - Wortschatz und Grammatik weisen Lücken auf, die nur kurze Äußerungen zulassen häufige, z.T. gravierende und kommunikationsstörende Verstöße kann an Gesprächen, auch zu vertrauten Themen, nur eingeschränkt aktiv teilnehmen braucht viel Hilfe erfüllt die gestellten Aufgaben kaum angemessen stellt Ideen wenig flüssig und kohärent dar liefert nur wenig relevante Ideen 1 0,5 muttersprachliche Interferenzen und häufige Verstöße in Aussprache und Intonation beeinträchtigen das Verständnis erheblich verfügt über ein deutlich reduziertes Spektrum lexikalischer und grammatikalischer Mittel häufige, teilweise gravierende und erheblich kommunikationsstörende Verstöße kann nur sehr begrenzt und mit sehr einfachen Mitteln an Gesprächen teilnehmen braucht häufig Zeit und sehr viel Hilfe erfüllt die gestellten Aufgaben nur ansatzweise liefert kaum themen- oder sachbezogene Ideen oder Aspekte argumentiert zusammenhanglos 0 spricht unverständlich äußert sich unverständlich kommuniziert unverständlich äußert sich zusammenhanglos BE 60-52 51-44 43-37 36-30 29-20 19-0 © ALP/ Multiplikatoren, ISB, Mayrhofer (Landeskoordinatorin moderne FS) Note 1 2 3 4 5 6 Abb. 34: Bewertungsraster „Sprechen in Interaktion“ (B1) des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung München (http: / / www.isb-gym8-lehrplan.de/ contentserv/ 3.1.neu/ g8.de/ index.ph p? StoryID=26786) 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 205 <?page no="206"?> 4.1.3 Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze (REPA) (2012 ff.) Da der GeR gerade für seine programmatisch zentralen Zieldimensionen, Interkulturalität und Mehrsprachigkeit, keine Skalen vorsieht, hat das Europäische Fremdsprachenzentrum des Europarats mit Sitz in Graz, das der sprachenpolitischen Abteilung des Europarats in Straßburg beiseite steht (im weitesten Sinne vergleichbar im Verhältnis der deutschen pädagogischen Landesinstitute zu den Kultusministerien), bereits kurz nach Erscheinen des GeR begonnen, Deskriptoren eben für diese Bereiche und eine daraus resultierende übergeordnete Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz zu entwickeln (vgl. ein- und weiterführend die Beiträge in Melo-Pfeifer/ Reimann 2018a). Hintergrund sind die Bemühungen des Europarats um Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für die Sprachen in ihrer grundlegenden Bedeutung für Kommunikation, inter- und transkulturellen Dialog, sozialen Zusammenhalt und demokratische Bürgerbeteiligung als essentiell erachtet werden (vgl. Melo-Pfeifer/ Reimann 2018b, 15). Unter dem Oberbegriff „Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen“ wurde dabei seit 2004 ein Konstrukt geschaffen, das versucht, verschiedene Ansätze des sprachsensiblen und sprachenübergreifenden Unterrichtens und einer inter- und transkulturellen Sensibi‐ lisierung in ein Gesamtkonzept mehrsprachiger und mehr- (bzw. in der Terminologie des REPA pluri-)kultureller Bildung zu integrieren. In einem ersten Schritt werden dabei vier „Plurale Ansätze“ unterschieden: Éveil aux langues u. a. im Sinne der Entwicklung von (früher) Sprachbewusstheit und Nutzung der herkunftsbedingten Mehrsprachigkeit innerhalb der Lerngruppen, Interkomprehension, integrative Sprachendidaktik und inter‐ kulturelles Lernen (vgl. Melo-Pfeifer/ Reimann 2018b, 15). Infolge dieser Forschungs- und Entwicklungsarbeit (vgl. Schröder-Sura 2018, 90 f.) hat das Europäische Fremdsprachenzentrum des Europarats mit dem Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA) ein Instrument geschaffen (veröffentlicht ab 2012), dessen deutschsprachige Fassung in absehbarer Zeit erscheinen dürfte. Seine Deskriptoren sind auf die Bereiche Wissen (savoir, bzw. K wie knowledge), Einstellungen und Haltungen (savoir être, bzw. A wie attitudes) sowie Fertigkeiten (savoir faire, bzw. S wie skills) verteilt und können eine Hilfe bei der Beurteilung von Lehrmaterialien, aber auch bei der Erstellung von Materialien und in der Curriculumentwicklung darstellen (einführend zu Einsatzmöglichkeiten der Deskriptoren des REPA z. B. Schröder-Sura 2020). Der REPA kann mithin für die Schulpraxis vor Ort ebenso wie für die Schulentwicklung und -verwaltung zu einem nützlichen Instrument werden (Melo-Pfeifer/ Reimann 2018b, 15, weiterführend zur Genese des REPA Schröder-Sura 2018, 80-83). Zentral ist in den „Pluralen Ansätzen“ neben den Kompetenzen auch das Konzept der „Ressourcen“. Darunter wird der gesamte sprachliche und kulturelle Hintergrund verstanden, den Schülerinnen und Schüler in den Unterricht mit- und letztlich in ihre Kompetenzentwicklung einbringen können - vorausgesetzt, dass die Ressourcen aktiviert werden (vgl. Schröder-Sura 2018, 84 f.). Solche Ressourcen werden in Zeiten zunehmender Zuwanderung nach Europa immer vielfältiger, so dass Plurale Ansätze auch als eine Option für die Schulentwicklung in von Migration geprägten Gesellschaften insgesamt verstanden können (vgl. Melo-Pfeifer/ Reimann 2018b, 16). Die Liste der Ressourcen kann auf den Seiten des Europäischen Fremdsprachenzentrums eingesehen werden (http: / / carap.ecml.at/ Documents/ tabid/ 2668/ language/ de-DE/ Default. 206 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="207"?> aspx, hier unter Punkt 6., bzw. https: / / carap.ecml.at/ Components/ 2Listsofdescriptors/ tabi d/ 2662/ language/ de-DE/ Default.aspx, 07.02.2022). Insgesamt gibt es mehrere hundert Des‐ kriptoren, die sich auf 41 übergeordnete Kategorien beziehen (15 im Bereich K - Wissen, 19 im Bereich A - Haltungen und Einstellungen, 7 im Bereich S - Fertigkeiten). Die einzelnen Kategorien können dabei jeweils eine unterschiedliche Anzahl an Unterkategorien auf verschiedenen Ebenen haben. Im Folgenden sollen zur Veranschaulichung ausgewählte Deskriptoren zu jedem der drei übergeordneten Bereiche wiedergegeben werden, und zwar: ● K 5 - Wissen über Vielfalt der Sprachen, Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit ● A 3 - Neugier oder Interesse für „fremde“ Sprachen, Kulturen und Menschen ● S 5 - Die in einer Sprache verfügbaren Kenntnisse und Fertigkeiten für Handlungen des Sprachverstehens oder der Sprachproduktion in einer anderen Sprache nutzen können: 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 207 <?page no="208"?> Abb. 35a: Exemplarische Deskriptoren des REPA (1): K5 - Vielzahl oder Vielfalt der Sprachen, Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit (http: / / carap.ecml.at/ Descriptorsofresources/ 1/ tabid/ 3593/ la nguage/ de-DE/ Default.aspx, 16.01.2018) 208 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="209"?> Abb. 35b: Exemplarische Deskriptoren des REPA (2): A 3 - Neugier oder Interesse für „fremde“ Sprachen, Kulturen und Menschen (http: / / carap.ecml.at/ Descriptorsofresources/ 2/ tabid/ 3592/ langua ge/ de-DE/ Default.aspx, 16.01.2019) 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 209 <?page no="210"?> 210 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="211"?> Abb. 35c: Exemplarische Deskriptoren des REPA (3): S 5 - Die in einer Sprache verfügbaren Kenntnisse und Fertigkeiten für Handlungen des Sprachverstehens oder der Sprachproduktion in einer anderen Sprache nutzen können (http: / / carap.ecml.at/ Descriptorsofresources/ Skills/ tabid/ 2657 / language/ de-DE/ Default.aspx, 16.01.2019). Die unterschiedlichen Färbungen des Schlüssels bei jedem Deskriptor bezeichnen dabei die Bedeutung, die den Pluralen Ansätzen für die Entwicklung der jeweiligen Ressource beigemessen wird. - -… nützlich -… wichtig -… notwendig Abb. 35d: Bedeutung der Pluralen Ansätze für die Entwicklung einer Ressource (z. B. http: / / carap.e cml.at/ Descriptorsofresources/ Skills/ tabid/ 2657/ language/ de-DE/ Default.aspx, 16.01.2019). Der REPA scheint insbesondere für die reflektierte Entwicklung von (Schul-)Curricula und Lehr-/ Lernmaterialien in den Bereichen inter- und transbzw. plurikultureller Ressourcen und Kompetenzen, Mehrsprachigkeit sowie Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz ein hilfreiches Instrumentarium zu sein. Dass er bislang in Deutschland noch nicht so 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 211 <?page no="212"?> intensiv rezipiert wurde, kann am Fehlen der abschließenden deutschsprachigen Fassung (Publikation angekündigt, Stand 02/ 2022) ebenso liegen wie an der auf den ersten Blick wenig zugänglich wirkenden Systematik und Begrifflichkeit, nicht zuletzt aber auch daran, dass die inhaltlichen Grundanliegen der „Pluralen Ansätze“ in Deutschland teilweise unter Verwendung anderer Begriffe bereits hinlänglich diskutiert wurden (z. B. Frühbeginn, Mehrsprachigkeitsdidaktik) und daher auf den ersten Blick ggf. weniger Innovationspo‐ tential beinhalten als für andere europäische Bildungssysteme (vgl. Melo-Pfeifer/ Reimann 2018b, 16, Schröder-Sura 2018, 80-83). Dennoch kann der REPA nach einer kurzen Einarbeitung in seine Systematik und Begrifflichkeit mit Gewinn als ein zu lebenslangem (Sprachen-)Lernen anregendes, auf mehrsprachigen und plurikulturellen Fremdsprachen‐ unterricht zielendes Instrument genutzt werden, das nicht nur die Kompetenzentwicklung von Schüler/ innen fokussiert, sondern auch ihre Ressourcen betont. 4.1.4 Der „Companion Volume“/ „Begleitband“ zum GeR (2018/ 2020) Ein wenig zeitversetzt zur Erstellung des REPA hat auch die sprachenpolitische Abteilung des Europarats begonnen, „blinde Flecken“ des GeR von 2001 zu bearbeiten. Die Ergeb‐ nisse intensiver Forschungen, die zu leichten Modifikationen, vor allem aber auch zu Ergänzungen der bislang vorliegenden Skalen und Deskriptoren geführt haben, wurden im Jahr 2018 als Companion Volume with New Descriptors (Europarat 2018, kurz „Companion (Volume)“ bzw. „Begleitband“) vorgestellt. Wie der GeR des Jahres 2001 (Europarat 2001, 25 f.), regt der Companion des Jahres 2018 an, die Betrachtung kommunikativer Sprachaktivitäten (communicative language activities, 2018, 31) weniger an den traditionellen vier Fertigkeiten zu orientieren, sondern an den in Kap. 4.1.2 vorgestellten vier Modi (modes) von Kommunikation: Rezeption - Produktion - Interaktion - Mediation (Europarat 2018, 31; in der deutschen Fassung des „Companion“ ist nunmehr auch von „Mediation“ statt von „Sprachmittlung“ die Rede, vgl. z. B. Europarat 2020, 38 f.). Stärker als im GeR wird im Companion 2018 hervorgehoben, dass diese Reihenfolge auch einer Progression im Sprachaneignungsprozess entspreche, womit Mediation als komplexester Modus der fremdsprachlichen Aktivität eingeführt wird (Europarat 2018, 31). Wesentliche Veränderungen und Ergänzungen gegenüber dem GeR von 2001 sind: ● die Einführung eines Prä-A1-Levels, ● die Modifikation der C2-Deskriptoren, die deutlicher von muttersprachennahem Ni‐ veau abgegrenzt werden, ● Präzisierungen zur Aussprachekompetenz (Phonologie), ● Skalen zur Mediation, ● Skalen zu plurilingualer und plurikultureller Kompetenz, ● Skalen zu literarischer und textanalytischer Kompetenz, ● Skalen zu Gebärdensprachen, ● Berücksichtigung jüngerer Lernender. (vgl. z.-B. Europarat 2018, 45-51) Im Folgenden seien exemplarisch die neuen Deskriptoren zur Aussprachekompetenz in der deutschen Fassung wiedergegeben: 212 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="213"?> Abb. 36: Deskriptoren zur Aussprachekompetenz im „Companion Volume“/ „Begleitband“ zum GeR (Europarat 2020, 159) 4.1 Rahmensetzungen auf europäischer Ebene 213 <?page no="214"?> Insbesondere die für Mediation vorgelegten Skalen greifen deutlich weiter als das Konstrukt der Sprachmittlung, wie es in den vergangenen beinahe zwanzig Jahren seit Veröffentli‐ chung des GeR in Deutschland entwickelt wurde (vgl. Reimann 2019d, 2020d). Hier wird festgehalten, dass Mediation“ im Sinne des GeR [und bes. des Companion Volume a) Vermittlung zwischen jeglichen Personen, die einander nicht verstehen (nicht zwingend nur aufgrund sprachlicher Verständnis‐ schwierigkeiten) und b) Vermittlung eines Textes auch innerhalb ein und derselben Sprache sein kann (Europarat 2018, 33). […] Zentral ist also der Aspekt der Hilfe zur Konstruktion von Bedeutung im sozialen Handeln (durch Umformung von Texten bzw. Arbeit mit Sprache). Mittlung zwischen Sprachen, wie sie im GeR von 2001 noch als die „häufigste“ Konstellation eingeführt worden war […] und wie sie im deutschsprachigen fremdsprachendidaktischen Diskurs zentral ist, wird ganz bewusst nur als eine Variante („sometimes“) bezeichnet. (Reimann 2020d, 15 f.) Es wird abzuwarten sein, wie der „Companion“ zum GeR in der deutschen Fremdsprachen‐ forschung und in der Bildungspolitik rezipiert werden wird (zu einer ersten Einschätzung vgl. das Themenheft der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 30, 2, 2019). In einigen Bereichen (etwa Aussprache) wird er sicherlich neue Bewertungsgrundlagen schaffen. Letztlich liegen mit dem GeR, dem REPA und nunmehr auch dem „Companion“ zum GeR drei Instrumente vor, die einen holistischen Blick auf Fremdsprachenlernen ermöglichen und bei der Konzeption von Fremdsprachenunterricht, teilweise auch bei der Bewertung fremdsprachlicher Kompetenzen, einen hilfreichen Rahmen darstellen. 4.2 Rahmensetzungen auf bundesdeutscher Ebene 4.2.1 Bildungsstandards - Grundlagen Innerhalb Deutschlands legten die Bundesländer bis in die 1990er Jahre überwiegend Inhalts- oder Input-orientierte Lehrpläne für den schulischen Fremdsprachenunterricht vor. Mit dem Konstanzer Beschluss von 1997 vereinbarte die Kultusministerkonferenz (KMK), das deutsche Bildungswesen verstärkt auf den Prüfstein internationaler Vergleichsstudien zu stellen. Die Folgen sind hinlänglich bekannt: wie bereits in der TIMSS- (Trends in International Mathematics and Science Study) Studie von 1995 enttäuschten die Ergebnisse in internationalen Vergleichsstudien wie PISA (Programme for International Student Assess‐ ment) 2000, IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) 2001 und DESI (Deutsch Englisch Schülerleistungen International) 2003/ 2004. Wiewohl der Fremdsprachenunterricht eigentlich nur in der DESI-Studie am Beispiel des Englischen unmittelbar erfasst wurde, ist der Fremdsprachenunterricht insgesamt von den Folgerungen, die aus den schlechten Ergebnissen gezogen wurden, betroffen: Auf der Meta-Ebene der Bildungsforschung und der Fachdidaktiken kann von einer „empiri‐ schen Wende“ gesprochen werden, die sich in der Folge der genannten internationalen Vergleichsstudien abgezeichnet hat (vgl. bes. Kap. 1.2.2.4, 1.2.5, 1.3 sowie Kap. 8). Für das Bildungssystem als Ganzes wurde ein Paradigmenwechsel von der Inputzur Outputbzw. Outcome-Orientierung vollzogen, der z.-B. in der Erstellung nationaler Bildungsstandards 214 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="215"?> durch das an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelte, im Auftrag der KMK agierende Institut zur Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB) einen Niederschlag gefunden hat. Dabei ist festzuhalten, dass dieser Paradigmenwechsel im Bereich des Fremdsprachen‐ unterrichts in Deutschland durch den so genannten „PISA-Schock“ ab 2001 lediglich katalysiert wurde; eingeleitet worden war er spätestens seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre durch die internationalen Arbeiten an der Entwicklung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR), dessen deutsche Fassung ebenfalls im Jahr 2001 erschien (GeR 2001, s. o. Kap. 4.1.2) und der bei den Arbeiten an Lehrplänen, die sich im Moment der Veröffentlichung der ersten Bildungsstandards für Fremdsprachen bereits in Arbeit befanden bzw. im Erscheinen begriffen waren (z. B. Schleswig-Holstein, Bayern) schon berücksichtigt wurde. Die ersten nationalen Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht sind die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schul‐ abschluss (KMK 2003). Es folgten solche für den Hauptschulabschluss im Jahr 2004 (KMK 2004a) und zuletzt, Ende 2012, die Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012). Obschon diese Bil‐ dungsstandards bislang jeweils nur für die Sprachen Englisch und Französisch ausformu‐ liert sind, haben sie Strahlkraft auf jeglichen schulischen Fremdsprachenunterricht in der Bundesrepublik (vgl. bereits Caspari 2005). Bildungsstandards sollen der Wahrung von Bildungsgerechtigkeit dienen, insofern Chancengleichheit im Hinblick auf und durch Bildung bundesweit gewährleistet sein muss. Daher muss auch für die Implementierung der Standards Sorge getragen werden, die u. a. durch Vergleichsstudien zu erfassen versucht wird. Hallet 2011 (29) erinnert mit Hu/ Leupold 2008 (55) an folgenden übergeordneten Bil‐ dungsbegriff der Klieme-Expertise zu den Bildungsstandards, der versucht, die Bedürfnisse von Gesellschaft und Individuum miteinander zu vereinbaren: Für moderne, der Tradition der Aufklärung verpflichtete und demokratisch organisierte Gesell‐ schaften gilt dann ein Bild von Individualität als leitend, in dem - wie es das Grundgesetz sagt - die Würde des Menschen und die freie Entscheidung der Persönlichkeit oberste Maximen sind. Zu allgemeinen Bildungszielen werden diese Prämissen, weil erst im Prozess des Aufwachsens zu sichern ist, dass alle Heranwachsenden einer Generation, und zwar unabhängig von Herkunft und Geschlecht, dazu befähigt werden, in der selbständigen Teilhabe an Politik, Gesellschaft und Kultur und in der Gestaltung der eigenen Lebenswelt diesem Anspruch gemäss zu leben und als mündige Bürger selbstbestimmt zu handeln. (Klieme 2003, 63, vgl. Hallet 2011, 29) Dabei wird den Bildungsstandards in der sog. Klieme-Expertise (Klieme 2003) folgende Kompetenz-Definition Weinerts aus dem Jahr 2001 zugrunde gelegt: [… die] bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Weinert 2001, 27 f.) 4.2 Rahmensetzungen auf bundesdeutscher Ebene 215 <?page no="216"?> Bedeutsam ist in dieser Definition, dass neben den kognitiven auch affektive und soziale Fähigkeiten hervorgehoben werden, sowie die Tatsache, dass der Definition in dem Adverb „verantwortungsvoll“ auch ein ethisches Moment eingeschrieben ist. Wie verhält es sich mit dem etablierten Konzept des „Lernziels“ in Zeiten der Kom‐ petenzorientierung? Engelbert Thaler konkretisiert die beiden Begriffe im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht auf konzise Art und Weise, indem er Kompetenz als „eine komplexe, meist situativ eingebettete und lebensweltlich orientierte Handlungsfertigkeit wie z. B. das Schreiben eines Briefes oder die Teilnahme an einer Diskussion“ beschreibt (Thaler 2012, 19), wohingegen er unter „Lernzielen“ „eher isolierte Einzelfertigkeiten wie die korrekte Verwendung der indirekten Rede oder das Deuten von Metaphern“ bezeichnet (ebd.). Er definiert weiterhin integrierend: Auch wenn die Perspektivveränderung, die mit dem Kompetenz-Konzept in den Fremdsprachen‐ unterricht Einzug gehalten hat, sehr wertvoll ist, ist der Lernzielbegriff damit lange noch nicht überholt: Er beschreibt die Ergebnislage, die am Ende einer Stunde oder einer Reihe erreicht sein soll und die eine Etappe auf dem Weg zur vollentwickelten Kompetenz ist. Nach dem hier skizzierten Verständnis der Begriffe schließen sich Kompetenz und Lernziel also keineswegs aus, sondern bauen aufeinander auf. (ebd.) Für den Fremdsprachenunterricht unterscheiden die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss die heute etablierten drei großen Kompetenzbereiche funktionale kommu‐ nikative Kompetenzen, interkulturelle Kompetenzen und methodische Kompetenzen (KMK 2003, 8). Es ist immer wieder diskutiert worden, dass die Bildungsstandards und die ersten Instrumente zu ihrer Implementierung die so genannten „leicht messbaren“ funktionalen kommunikativen Kompetenzen fokussieren, und die postulierten interkulturellen und methodischen Kompetenzen ebenso wenig zu evaluieren helfen wie sie Fragen nach Inhalten unbeantwortet lassen, mit denen die Ziele erreicht und Bildung im oben zitierten Sinne der Klieme-Expertise - und vielleicht auch darüber hinaus im Sinne des Kap. 3 - im Fremdsprachenunterricht erzielt werden können (exemplarisch und einleitend z. B. Nieweler 2006b, Lüger/ Rössler 2008, De Florio Hansen 2015, bes. z. B. 73-78, 95-97, jeweils mit weiterführender Bibliographie). Der diesbezügliche Nachbesserungsbedarf darf inzwischen als erkannt gelten, die Zeit wird zeigen, inwiefern die Erkenntnisse in die Praxis umsetzbar sind (vgl. etwa die Versuche in Hu/ Byram 2009 oder Eberhardt 2013, interkulturelle Kompetenz zu operationalisieren). Auch wurde angemahnt, dass „die persönlichkeitsbildenden und die kreativ-ästhetischen Dimensionen des Fremdsprachen‐ lernens“ (Zydatiß 2010, 62) vernachlässigt werden: Bildungsstandards‘ sollten sich auch über unterrichtsbezogene Aussagen zu den persönlichkeits‐ bildenden Zieldimensionen des Lernens, der ästhetisch-imaginativen Sprachverwendung und der reflexiv-kritischen Urteilsfähigkeit der Lernenden legitimieren. (art. cit., 63) Dennoch stellt das Kompetenzmodell der Bildungsstandards in diesen Jahren eine wesent‐ liche Leitlinie für die Erstellung von Lehr- und Bildungsplänen wie auch für die Ausge‐ staltung von Fremdsprachenunterricht in der Sekundarstufe I dar. Konkrete Inhalte, über welche die genannten sprachlich-kommunikativen und interkulturellen Kompetenzen, 216 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="217"?> aber auch das übergeordnete Bildungsziel erreicht werden können, wollen die Bildungs‐ standards, auch für das Englische und Französische als erste (KMK 2003) bzw. fortgeführte Fremdsprache (KMK 2012), nicht vorgeben. Sie auszugestalten und inhaltlich anzufüllen, wäre Aufgabe auf dezentraler Ebene, etwa bei der Erstellung von Schulcurricula. Mit Blick auf die Implementierung der Bildungsstandards in den romanischen Sprachen wurden bisher u.-a. folgende Publikationen vorgelegt: ● der Sammelband Bildungsstandards Französisch konkret (Tesch/ Leupold/ Köller 2008), der Hintergründe und Anliegen der Bildungsstandards darstellt und erste Beispiele zur Umsetzung im Unterricht liefert, ● für das Spanische der Band Spanisch kompetenzorientiert unterrichten (Meißner/ Tesch 2010), der eine ähnliche Zielsetzung verfolgt, ● das Testheft Bildungsstandards: Kompetenzen überprüfen und fördern. Französisch - Sekundarstufe I (HU Berlin - IQB/ FU Berlin 2010), ● die Ergebnisse erster Implementierungsstudien zu den Bildungsstandards für das Fach Französisch (Porsch/ Tesch/ Köller 2010, z.-B. Porsch/ Köller 2010), ● der Band Bildungsstandards aktuell: Englisch/ Französisch in der Sekundarstufe II (Tesch/ von Hammerstein/ Stanat/ Rossa 2017), der die Grundlagen der Bildungsstan‐ dards für die Sekundarstufe II näher untersucht. 4.2.2 Die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (2003 / 2023) Das fremdsprachliche Kompetenzmodell der Bildungsstandards für den Mittleren Schulab‐ schluss soll hier kurz betrachtet werden (KMK 2003, 8): 4.2 Rahmensetzungen auf bundesdeutscher Ebene 217 <?page no="218"?> Abb. 37: Das fremdsprachliche Kompetenzmodell der Bildungsstandards für die Sekundarstufe I (KMK 2003, 8) Der Bereich der methodischen Kompetenzen umfasst dabei grundlegende Strategien und Techniken zum Umgang mit Sprache und Texten, im weiteren Sinne auch das, was häufig als „Lernen lernen“ bezeichnet wird. Im Bereich interkulturelle Kompetenzen werden Aspekte des Wissens, des Verstehens und des Handelns in Bezug auf kulturelle Spezifika und Begegnungssituationen in der Fremdsprache benannt. Der Bereich der „funktionalen kommunikativen Kompetenzen“ wird aufgeteilt in zwei Bereiche, namentlich den der „kommunikativen Fertigkeiten“ und den der „Verfügung über sprachliche Mittel“. Diese stehen in dem Kompetenzmodell gleichberechtigt neben‐ einander, sind sicherlich auch beide von grundlegender Bedeutung, den funktionalen kommunikativen Kompetenzen im engeren Sinn stehen allerdings die Fertigkeiten oder Teilkompetenzen näher, da hier schon die komplexe Verarbeitung sprachlicher Mittel erforderlich ist. Als kommunikative Fertigkeiten benennen die Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss folgende fünf Fertigkeiten: Hörbzw. Hör-Sehverstehen, Leseverstehen, Sprechen, Schreiben und Sprachmittlung. Dabei fällt auf, dass die im GeR als eigener „Modus“ der Sprachaktivitäten (s. o.) bezeichnete Interaktion als ein Teilaspekt des Sprechens benannt („an Gesprächen teilnehmen“) und Mediation als Sprachmittlung in einem engen Verständnis als eigene Fertigkeit geführt wird. Als sprachliche Mittel werden - linguistisch etwas unpräzise - die Bereiche Wortschatz, Grammatik, Aussprache und Intonation sowie Orthographie bezeichnet. An diesem Kompetenzmodell orientieren sich die Lehrpläne der meisten Bundesländer, teils mit geringfügigen Nuancierungen, seit den 2000er Jahren. Die Schülerinnen und Schüler sollen auf der Ebene des Mittleren Schulabschlusses - dies betrifft für Realschulen, 218 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="219"?> Gesamtschulen und Gymnasien die Jahrgangsstufe 10 - in der ersten Fremdsprache „im Wesentlichen“ das Niveau B1 erreichen (KMK 2003, 11). In dem Dokument KMK 2003, das 85 Seiten umfasst und auch online einsehbar ist (https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ ve roeffentlichungen_beschluesse/ 2003/ 2003_12_04-BS-erste-Fremdsprache.pdf, 09.02.2022), sind nach detaillierteren Ausführungen zu den einzelnen Kompetenzbereichen und den anzusetzenden Standards (KMK 2003, 7-18) auch Aufgabenbeispiele für Englisch und Französisch abgedruckt. Im Jahr 2023 hat die KMK überarbeitete Bildungsstandards für die erste Fremdsprache auf der Ebene des Ersten Schulabschlusses und des Mittleren Schulabschlusses vorgelegt (KMK 2023), welche die Standards des Jahres 2003 ab sofort ersetzen sollen, letztlich aber erst mittel- und langfristig mit den nächsten Lehrplangenerationen zum Tragen kommen dürften. Darin wird folgendes, im Wesentlichen weitgehend unverändertes, an einigen Stellen aber in Nuancen verändertes Kompetenzmodell vorgestellt: Kompetenzmodell Abbildung 1: Kompetenzmodell Abb. 38: Das fremdsprachliche Kompetenzmodell der Bildungsstandards für die Sekundarstufe I aus dem Jahr 2023 (KMK 2023, 9) 4.2 Rahmensetzungen auf bundesdeutscher Ebene 219 <?page no="220"?> Im Kern bleiben also die Kompetenzbereiche der Bildungsstandards des Jahres 2003 erhalten, wobei im Bereich der funktionalen kommunikativen Kompetenz die Verfügung über die sprachlichen Mittel ähnlich wie zuvor erst in den Bildungsstandards für das Abitur (s.u., Kap. 4.2.3) gegenüber den kommunikativen Fertigkeiten deutlich in den Hintergrund gerückt wird und das „Verfügen über kommunikative Strategien“ explizit ergänzt wird. Auch wird der Bereich der Sprachmittlung explizit zu „Mediation / Sprachmittlung“ erweitert, wodurch den neuen Impulsen zur Weiterentwicklung der Sprachmittlung, die sich aus dem Begleitband zum GeR (s.o., Kap. 4.1.1) ergeben, Rechnung getragen wird (vgl. z.B. Reimann 2019d, 2020d und Band II, Kap. 4.7). Der Bereich der methodischen Kompetenzen wird spezifiziert und aufgefächert: Auf der einen Seite steht, wiederum in Anlehnung an die bisherigen Abiturstandards, die sprachenspezifische(re) „Text- und Medienkompetenz“ (vgl. Kap. 4.2.3), die nochmals durch den Zusatz „literarisch-ästhetische Kompetenz“ ergänzt wird. Dieser Zusatz unterstreicht die Bedeutung des literarischen und ästhetischen Lernens und letztlich eine Inhaltsorientie‐ rung des Fremdsprachenunterrichts, womit sich die neuen Standards von den immer wieder als zu technizistisch und zu sehr auf die messbaren funktionalen kommunikativen Kom‐ petenzen konzentrierten Bildungsstandards des Jahres 2003 abheben wollen. Zusätzlich wird digitale Kompetenz in ihrer fremdsprachenbezogenen Ausformung als „fremdspra‐ chenspezifische digitale Kompetenz“ explizit in das Kompetenzmodell aufgenommen. Weiterhin werden die Bereiche die Sprachbewusstheit und der Sprachlernkompetenz, die ebenfalls bereits in die Abiturstandards des Jahres 2012 eingeflossen sind (vgl. wiederum Kap. 4.2.3), aufgegriffen, und der graphisch übergeordnete Bereich der „interkulturellen Kompetenz“ um eine „plurilinguale Kompetenz“ ergänzt. Damit erfolgt letztlich ein expli‐ zites Aufgreifen der mehrsprachigkeitsdidaktischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte (hierzu vgl. Band II, Kap. 2.3), und in der Verbindung von „interkultureller Kompetenz“ und „plurilingualer Kompetenz“ wird letztlich das intendiert, was in der Forschung auch als „transkulturelle kommunikative Kompetenz“ bezeichnet wurde (vgl. Band III, Kap. 2). Offensichtlich ist das Aufgreifen von im deutschen fremdsprachendidaktischen Diskurs noch nicht etablierten Internationalismen in Anlehnung an die Dokumente des Europarats wie etwa „plurilinguale Kompetenz“ statt „mehrsprachige Kompetenz“ oder auch „audio‐ visuelles Verstehen“ statt Hör-Sehverstehen (hierzu vgl. Band III, Kap. 1.2.3f.). Auch das Zielniveau B1 für den Mittleren Schulabschluss in der ersten Fremdsprache bleibt bestehen (KMK 2023, 10). 4.2.3 Die Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (1979- 2004) und die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (2012) Nach der Oberstufenreform des Jahres 1972 beschloss und publizierte die Kultusminister‐ konferenz in den Jahren 1979 bis 1983 erstmals Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) für einzelne Fächer, die für die romanischen Sprachen Französisch, Italienisch und Spanisch 1989 überarbeitet und zuletzt 2004 aktualisiert vorgelegt wurden. Ziel der EPA war die „Sicherung der Gleichwertigkeit der schulischen Ausbildung, der Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse sowie der Durchlässigkeit des Bildungswesens in der 220 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="221"?> Bundesrepublik Deutschland“ (KMK 2008a, 1). Die letzte Fassungen der EPA, die also schon nach Erscheinen des GeR und der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss ver‐ öffentlicht wurden und ab den Abiturprüfungen des Jahres 2007 umgesetzt werden sollten, enthielten u. a. bereits Erläuterungen und Musteraufgaben zu neuen Aufgabenformaten wie der Sprachmittlung und des Hör-Sehverstehens (vgl. am Beispiel des Italienischen Reimann 2009d, 348 f.). Bereits 2012 wurde das Dokument jedoch faktisch von den Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife ersetzt. Obwohl sich das Dokument explizit wiederum nur auf das Französische bezieht, wirkt es auch auf das Spanische, Italienische und das Portugiesische als fortgeführte Fremdsprachen. Die Bildungsstandards für das Abiturniveau aus dem Jahr 2012 schreiben das Kompe‐ tenzmodell für die Sekundarstufe I insofern nuanciert fort, als sie, unter Rückgriff auf das Modell Byrams (Byram 1997, s. Band III, Kap. 2 zur inter- und transkulturellen Kompetenz), ● „interkulturelle kommunikative Kompetenz“ als zumindest graphisch übergeordnetes Ziel des Fremdsprachenunterrichts ansetzen und dabei die Dimensionen Wissen - Einstellungen - Bewusstheit sowie Verstehen und Handeln explizit als Komponenten interkultureller kommunikativer Kompetenz benennen, ● die zentral gesetzten fünf kommunikativen Fertigkeiten in der graphischen Darstellung eindeutig über die Verfügung über die sprachlichen Mittel stellen, ● die Methodenkompetenz der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss auf der Abiturebene als „Text- und Medienkompetenz“ spezifischer modellieren und ● den genannten und aus den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss bekannten drei zentralen Kompetenzbereiche die übergreifenden Bereiche „Sprach‐ lernkompetenz“ und „Sprachbewusstheit“ zur Seite stellen (vgl. KMK 2012, 11 und passim): 4.2 Rahmensetzungen auf bundesdeutscher Ebene 221 <?page no="222"?> Abb. 39: Das fremdsprachliche Kompetenzmodell der Bildungsstandards für die Sekundarstufe II (KMK 2012, 11) 222 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="223"?> Das Dokument, das wesentlich umfangreicher ist als die Bildungsstandards für den Mitt‐ leren Schulabschluss - es umfasst 387 Seiten - ist ebenfalls online einsehbar (https: / / www. kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18-Bildungsstandards -Fortgef-FS-Abi.pdf, 09.02.2022) und enthält neben den ausformulierten Bildungsstandards für die einzelnen Kompetenzbereiche jeweils auf einem grundlegenden und einem erhöhten Niveau (in manchen Bundesländern noch bzw. wieder mit den Begriffen Grund- und Leistungskurs gleichzusetzen) (KMK 2012, 14-22) Hinweise zur Prüfungsdurchführung (KMK 2012, 23-29) sowie zahlreiche kommentierte Aufgabenbeispiele für die Fächer Englisch und Französisch, und zwar sowohl für Prüfungsals auch für darauf vorbereitende Lernaufgaben (KMK 2012, 30-303). Auf der Ebene des Abiturs sollen die Schülerinnen und Schüler im Fach Französisch (und entsprechend für Italienisch, Spanisch und ggf. Portugiesisch) als fortgeführte Fremdsprache das Niveau B2 des GeR erreichen (KMK 2012, 11). 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne Für das Erreichen der Ziele der Bildungsstandards sind natürlich nach wie vor die Länder verantwortlich. Daher gibt es in jedem Bundesland Lehrpläne - teilweise mit anderen Bezeichnungen wie etwa Kernlehrplan, Rahmenplan oder Bildungsplan (s. u.) - für die einzelnen Sprachen in den verschiedenen Ausbildungszügen. Im Folgenden soll eine grund‐ legende Einführung in Lehrpläne und ihre Funktion erfolgen und an ausgewählte Momente aus der Geschichte fremdsprachlicher Lehrpläne erinnert werden, bevor exemplarisch Auszüge aus vier Lehrplänen für die romanischen Sprachen vorgestellt werden. 4.3.1 Definitionen, Systematik und Funktion Eine begriffliche Unterscheidung zwischen Lehrplan, Bildungs- oder Rahmenplan und Curriculum ist im heutigen Sprachgebrauch nicht eindeutig zu erkennen. Grundsätzlich kann man die Konzepte wie folgt zu unterscheiden versuchen: Curriculum ist ein überge‐ ordnetes Konstrukt, das - prinzipiell fächerübergreifend - pädagogische Grundkonzepte für einen bestimmten Bereich vorgibt. Nach Karl Frey kann man Curriculum definieren als die systematische Darstellung des beabsichtigten Unterrichts über einen bestimmten Zeitraum als konsistentes System mit mehreren Bereichen zum Zwecke der optimalen Vorbereitung, Verwirklichung und Evaluation von Unterricht. (Frey 1971, 50, vgl. Quetz 2007, 121) In der Folge der sich in Deutschland seit den 1960er Jahren entwickelnden Curriculum-Re‐ form (s. u.) wurde der anglophone Begriffsgebrauch, der „Curriculum“ im Sinne von „operationalisiertem Schullehrplan“ (Böhm 2005, 140) verwendet, in den deutschsprachigen Diskurs übernommen und tritt dort zunächst an die Stelle des traditionellen Begriffs Lehr- oder Bildungsplan: Während an den herkömmlichen Lehrplänen die oft mehrdeutige, jedenfalls nicht eindeutig ope‐ rationalisierbare Formulierung der Ziele und der zu wenig schlüssige Zusammenhang zwischen Zielen, Inhalten, Methoden und Mitteln kritisiert wurde, sollten eine gründliche Revision dieser 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 223 <?page no="224"?> Lehrpläne und eine neuartige Curriculum-Forschung zu einer wissenschaftlich fundierten Reform von Zielen, Inhalten und Methoden organisierten Lernens und insbesondere der Schule führen. (Böhm 2005, 140 f.) Traditionelle „Bildungspläne“ gelten in der Curriculum-Reform seit den 1960er Jahren als „oft subjektive[n] pädagogische[n] Überzeugungen ihrer Verfasser“ (Quetz 2007, 122) verpflichtet und werden daher stark kritisiert. Jüngere Richtlinien oder Rahmenpläne indes „umreißen für eine bestimmte Schulform oder -stufe die fächerübergreifenden Aufgaben, Ziele und Unterrichtsprinzipien“ und „[halten] nur allgemeine Leitvorstellungen [fest]“ (Bausch 2007, 111 f. bzw. Quetz 2007, 122), während Lehrpläne „die fachspezifischen Aufgaben, Ziele, Inhalte“ (Bausch 2007, 112) usw. je nach Ansatz des jeweiligen Lehrplans mehr oder weniger genau vorgeben. Der Bildungstheoretiker Herwig Blankertz beschreibt seit den späten 1960er/ den 1970er Jahren Lehrpläne als: geordnete Zusammenfassung von Lehrinhalten, die während eines vom Plan angegebenen Zeit‐ raums über Unterricht, Schulung oder Ausbildung vom Lernenden angeeignet und verarbeitet werden sollen. (Blankertz 1991, 118, vgl. Böhm 2005, 401, Quetz 2007, 122) In systematischer Hinsicht kann man weiterhin grundsätzlich zwischen produkt- und prozessorientierten Ansätzen der Lehrplanentwicklung unterscheiden (einführend Quetz 2007, 123 ff.). Erstere gehen vom zu erlernenden (v. a. Sprach-) Material aus, welches auf der Grundlage linguistischer Erkenntnisse (v. a. Frequenzwörterbücher) ausgewählt wird. Dieser Ansatz ist in der kommunikativen Methode der 1970er (und 1980er) Jahre dominant und führt u. a. zu sich an Erkenntnissen der linguistischen Pragmatik orientierenden, so genannten „Sprachfunktionenlisten“ (s. o., Kap. 4.1.1, vgl. Band II, bes. Kap. 4.5.1). Lernprozessorientierte Vorgaben, wie sie sich seit den 1980er Jahren entwickeln, nehmen den Lernenden in den Fokus, so etwa Nunans The learner-centred curriculum (Nunan 1988). Auch dem GeR liegt in dieser Systematik ein prozessorientierter Ansatz zugrunde, Lernaufgaben spielen in ihm eine zentrale Rolle (Task-based Language Learning (and Teaching) (vgl. Kap. 5.4.2 zur Aufgabenorientierung)). Gemeinsam ist den verschiedenen Ausprägungen staatlicher Vorgaben, dass sie Lern- oder eben Kompetenzziele des Unterrichts festlegen und zumindest teilweise vorgeben. Das Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik definiert aus heutiger Perspektive treffend wie folgt: […] Ein Lehrplan ist ein bildungspolitisches, administratives und juristisches Dokument, das für den institutionellen Kontext Schule festlegt, welche Kompetenzen, Bildungsziele, Inhalte, Gegenstände und sprachlichen Mittel die [Schülerinnen und Schüler] zu bestimmten Zeitpunkten innerhalb ihres Bildungsganges erreicht und erarbeitet haben müssen. (Salden-Förster 2017, 199) Wolfgang Hallet und Frank G. Königs beschreiben traditionelle Lehrpläne in ihrem als Einführung in die Thematik sehr gut geeigneten Artikel „Lehrpläne und Curricula“ des Handbuch Fremdsprachendidaktik weiterhin über folgende Kriterien: ● [Lehrpläne] sind auf die Einzelsprachen bezogene staatliche Vorgaben und regeln verbindlich die Ziele, Inhalte und Gegenstände des Unterrichts. Sie besitzen daher eine für alle Beteiligten - Schulen, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern - normative, regulierende Funktion; 224 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="225"?> ● organisieren die lineare Abfolge und Progression von Unterrichtsinhalten und Lerngegen‐ ständen (in der Regel in Lernjahren). Sie bilden daher auch die rechtlich entscheidende Grundlage für die Genehmigung von Lehrwerken und für Prüfungsinhalte; ● sind generell inputorientiert, weil sie Unterrichtsinhalte und -ziele, nicht aber erwartete Lernergebnisse beschreiben. (Hallet/ Königs 2019c (2010c), 54 f.) Eine Perspektive für die künftige Lehrplanentwicklung, auf die Karl-Richard Bausch immer wieder hingewiesen hat, sei an dieser Stelle in Erinnerung gerufen, namentlich die Not‐ wendigkeit, Lehrpläne nicht nur einzelsprachlich zu konzipieren, sondern im Hinblick auf eine integrative Mehrsprachigkeitsdidaktik mit dem Ziel der Entwicklung mehrsprachiger Lernbiographien bzw. ‘echter´ individueller Mehrsprachigkeit auszugestalten (z. B. Bausch 2007, 114 f.). Zunehmend müsste dabei auch die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit bzw. die heritage languages der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden (vgl. z. B. Tracy 2014). Claudia Finkbeiner weist Lehrplänen folgende Funktionen zu: ● Legitimationsfunktion (gegenüber der Öffentlichkeit und der Fachdidaktik); ● Vermittlungsfunktion (zwischen gesellschaftlichen Interessen und individuellen Be‐ dürfnissen der Lernenden); ● Orientierungfunktion (für die Lehrkräfte); ● Sicherungsfunktion (für die Qualitätssicherung von Unterricht durch die beteiligten Akteure). (vgl. Finkbeiner 1998, 37 f.) Tendenziell orientieren sich Lehrpläne heute an den in 4.2 beschriebenen Kompetenzmo‐ dellen der Bildungsstandards und sind daher in höherem Maße kompetenz- und weniger in‐ haltsorientiert als bis in die 1990er Jahre. Allerdings ist festzustellen, dass nach einer Phase der häufig strikten Kompetenzorientierung in den 2000er Jahren sich seit etwa Mitte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts in der „zweiten Generation“ kompetenzorientierter Lehrpläne insofern eine zaghafte Rückkehr auch zu einer Inhaltsorientierung abzeichnet, als viele Bundesländer in ihre grundsätzlich nach wie vor kompetenzorientierten Lehrpläne zumindest vereinzelt wieder inhaltliche Anregungen integrieren (teilweise z. B. auch nur in Anhängen zum Lehrplan oder auch in einer Linkebene der online verfügbaren Lehrpläne). 4.3.2 Geschichte der (Fremdsprachen-)Lehrpläne Bereits in der griechischen ἐγκύκλιος παιδεία wie auch in sich anschließenden (spät-)rö‐ mischen artes-liberales-Konzeptionen kann man Vorläufer moderner Lehrpläne erkennen (einführend z. B. Tenorth 2010, 48 f.), ebenso in der Abfolge der mittelalterlichen artes liberales und in den Ausführungen des Comenius, die aufeinander aufbauende Lernein‐ heiten postulieren (Leupold 2002, 83 f.). Richtlinien in Hinblick auf Inhalte, mitunter auch Verfahren, des Fremdsprachenunterrichts im engeren Sinn konnten von Herbert Christ und Hans-Joachim Rang in ihrer mehrbändigen Quellensammlung Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945 (Christ/ Rang 1985) ab etwa 1700 erfasst werden, dem Zeitpunkt also, als Fremdsprachenunterricht zunehmend institutionalisiert wird (s. o. den geschichtlichen Abriss zum Unterricht der romanischen Sprachen in Deutschland, bes. 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 225 <?page no="226"?> Kap. 2.1.2.6ff.; überblickend zur Geschichte neusprachlicher Lehrpläne vgl. z. B. Schröder 2020). Die neuhumanistische Lehrplanentwicklung im 19. Jahrhundert geht von der „Überzeu‐ gung, daß Unterrichtsfächer und -gegenstände Medien allgemeiner Geistes- und Persön‐ lichkeitsbildung seien“ (Arnold 1977, 5) aus. Bis ins 20. Jahrhundert hinein kann Werner Arnold zwei Tendenzen, den Bildungswert des Französischunterrichts zu bestimmen, feststellen: Zum einen die Kenntnis der „Wesensart“ eines fremden Volkes im Sinne des kulturkundlichen Ansatzes, zum anderen das Prinzip der „formalen Bildung“ (Arnold 1977, 5 f.). Seit den 1960er Jahren etabliert sich etwa in der Folge von Saul B. Robinsohns Bildungs‐ reform als Revision des Curriculum (Robinsohn 1967) die sog. Curriculumtheorie (vgl. Kap. 4.3.1), die vom Grundgedanken die Kompetenzorientierung ante litteram antizipiert, insofern sie „die Befähigung der Lernenden zur Bewältigung von Lebenssituationen“ (Fäcke 2010, 69) in den Vordergrund stellt. Klassische Bildungsinhalte werden als nicht gegenwartstauglich verworfen (aus der Perspektive der besonders betroffenen Didaktik der Alten Sprachen anschaulich einführend Kipf 2006). Erkannt bzw. unterstellt wurde eine gewisse Willkür der Lernzielfestlegung in traditionellen Bildungsplänen. Eine zentrale Frage lautet für Robinsohn: Durch welche Methode systematisch orientierender Ermittlung und gesellschaftlicher Organisa‐ tion können Curriculum-Entscheidungen so vorbereitet werden, daß sie aus ‘Beliebigkeit´, aus pädagogischem oder politischem Dezisionismus heraus in Formen eines rationalen gesellschaftli‐ chen Konsensus gehoben werden? (Robinsohn 1967, 31, vgl. Arnold 1977, 6) Bereits in den 1970er Jahren kristallisieren sich dabei für den Fremdsprachenunterricht drei Lernziel(bereich)e heraus, die sich noch heute als Komponenten einzelner Kompetenzen wiederfinden (vgl. exemplarisch für die interkulturelle Kompetenz z. B. Erll/ Gymnich 2010, 11, Rössler 2010, 141 ff.): Kenntnisse (kognitive Dimension), Fertigkeiten (pragma‐ tische/ konative Dimension), Einsichten/ Einstellungen/ Haltungen (affektive/ attitudinale Dimension). Diese sollen über „Lehrinhalte“ aus den Bereichen Sprache, Literatur und - im Falle des Französischen - Civilisation erzielt werden (Arnold 1977, 7-10, in Anlehnung an Achtenhagen 1971, 46). Inhalte werden also noch als zentrale Mittel zur Erlangung von Lernzielen oder Kompetenzen erachtet, worin ein bedeutender Unterschied zu den heutigen Rahmen- oder Kerncurricula besteht: Curriculum bezeichnet ein Dokument, das angibt, welche operationalisierbaren Lernziele über welche Inhalte vermittelt werden (sollen), und in welcher Weise die Anordnung und Überprüfung erfolgt. (Leupold 2002, 85) In der Praxis der Richtliniengestaltung ergeben sich aus der Verbindung von Tradition und zeitgenössischer Theoriebildung Mischformen wie etwa die bayerischen „curricularen Lehrpläne“ der 1970er/ 1980er Jahre (vgl. einführend Westphalen 1973, 1985). Dabei ent‐ stehen allerdings derart präzise Vorgaben - vierspaltige Kompendien mit den Bereichen Lernziele, Lerninhalte, Unterrichtsverfahren und Lernzielkontrollen, in denen sogar Vor‐ gaben zum zeitlichen Umfang der Behandlung eines Themas und zur Art der Überprüfung gemacht werden -, dass diese als nicht umsetzbar bzw. als gängelnd empfunden werden. 226 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="227"?> Daher wird diese Struktur in den Lehrplänen der 1990er Jahre, um beim Beispiel Bayern zu bleiben, wieder zu Gunsten einer einspaltigen Darstellung aufgegeben, wobei aber - neben der Lernzielbeschreibung - durchaus zahlreiche inhaltliche Anregungen beispielsweise in den Bereichen Landeskunde/ interkulturelles Lernen und Literatur geliefert werden, über welche die festgelegten Lernziele erreicht werden können. Bei einem Vergleich der bayerischen Lehrpläne für die 3. Fremdsprache aus den 1990er Jahren kann man fest‐ stellen, dass die Lehrpläne für Italienisch deutlich mehr und fundiertere kulturspezifische inhaltliche Beispiele geben als die für das Französische und das Spanische. Mit diesen strukturellen Änderungen in der Lehrplangeneration der (späten) 1980er/ 1990er Jahre geht auf terminologischer Ebene eine Abwendung vom Begriff „Curriculum“ und eine Rückkehr zum „Lehrplan“ einher. Etwa in der Zeit, in der über die Entwicklung der nachfolgenden Lehrplangeneration nachgedacht wird, also um die Wende von den 1990er zu den 2000er Jahren, wird für den Fremdsprachenunterricht der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen fertig gestellt (Europarat 2001) und es erscheinen die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss in der ersten Fremdsprache (KMK 2003) (s. o., Kap. 4.2.2), wodurch die Kom‐ petenzorientierung im engeren Sinne Maßstab für die Lehrplanentwicklung, sofern sie noch nicht zu weit fortgeschritten ist, werden kann. Idealtypischerweise sollen, bei konsequenter Umsetzung der Kompetenz- und Outcomeorientierung, nur noch Outcome-Standards bezogen auf die Kompetenzziele am Ende eines Bildungsgangs beschrieben werden: In radikalen Modellen der output-orientierten Steuerung verlieren zentrale Lehrpläne auf natio‐ naler oder - wie in Deutschland - Länderebene nahezu vollständig ihre Bedeutung als strukturie‐ rendes Element von Unterricht. […] Lehrpläne der herkömmlichen Art müssen und werden, so die These, bei einer Output-Steuerung des Bildungssystems ihre Funktion an eine zielgerichtete, der Autonomie der Einzelschule verpflichtete Standardorientierung abgeben, damit die angestrebten Kompetenzziele auch wirklich ermöglicht werden. (Klieme 2003, 93, vgl. Hallet/ Königs 2019c (2010c), 55) Bei einer bedingungslosen Umsetzung dieser Forderung würden die Einzelschulen, ohne entsprechende Erhöhung der personellen Ressourcen, mit der komplett eigenständigen Entwicklung von schulinternen Curricula überfordert (vgl. Hallet/ Königs 2019c (2010c), 55). Die Klieme-Expertise plädiert daher für die Erstellung von Kerncurricula oder Rahmen‐ plänen, in denen „die Leitfunktion nationaler Bildungsstandards und die Orientierungs‐ funktion von Lehrplänen systematisch gekoppelt werden, und zwar so, dass die Autonomie der Einzelschule gefördert wird“ (Klieme 2003, 94). Die Forderung nach kompetenzorientierten, Freiheiten zur inhaltlichen Ausgestaltung lassenden Rahmen-Curricula wurde z. B. in den Bildungsstandards Baden-Württembergs von 2004 und den Bildungsplänen Baden-Württembergs von 2016, noch dezidierter in den Berliner Rahmenplänen von 2006 und 2015 umgesetzt. Auch in den Vorgaben Hamburgs und Thüringens, teilweise auch Sachsens und Sachsen-Anhalts findet sich eine Anordnung der Kompetenzziele, die jeweils mehrere Jahrgangsstufen umfasst und die somit den traditionellen Jahrgangsstufenlehrplan durch gestufte Kompetenzzielvorgaben zu ersetzen sucht. Der Lehrplan aus Rheinland-Pfalz der 2010er Jahre (z. B. Lehrplan Italienisch, 2013) ist konsequent kompetenzorientiert und zugleich in Ansätzen inhaltsorientiert angelegt: Auf 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 227 <?page no="228"?> eine Beschreibung der zu entwickelnden Kompetenzen und jahrgangsstufenübergreifend angelegten, knappen Angaben zur Schulung sprachlicher Mittel folgen konzise Angaben zu Themen und Inhalten der Sekundarstufe I bzw. II. Im Anhang wird dann - u. a. neben hilfreichen Angaben zu Fehlern und Fehlerkennzeichnung und einer Operatorenliste - eine ausführliche Literatur- und Filmauswahl geboten, wodurch eine gelungene Verbindung aus kompetenzorientiertem Rahmenplan und inhaltlichen Hilfestellungen für die Lehrkräfte vor Ort entsteht. Denn inhaltliche Anregungen, die spätestens seit der Lehrplangeneration der 1990er Jahre immer seltener als Vorgaben, sondern eher als unverbindliche Beispiele präsentiert wurden, stellen für junge Lehrkräfte eine Orientierung und Hilfestellung bei der Themenauswahl und Unterrichtsplanung dar. Insofern gab es gerade in Bundesländern, welche die Kompetenzorientierung der Jahre nach 2000 in der letzten bzw. vorletzten Ge‐ neration staatlicher Vorgaben besonders konsequent umgesetzt hatten (etwa Baden-Würt‐ temberg mit seinen Bildungsstandards des Jahres 2004) Diskussionen, inwieweit in den folgenden Lehrplangenerationen wieder mehr inhaltliche Anregungen aufgenommen werden könnten. Eine Rückkehr zu einer moderaten Inhaltsorientierung zeichnet sich in vielen Lehrplänen seit den 2010er Jahren ab; als Beispiel kann der LehrplanPLUS in Bayern genannt werden. 4.3.3 Exemplarische Lehrplanbetrachtungen - historisch: Italienisch-Lehrpläne im 19. und 20.-Jahrhundert In diesem Abschnitt werden - am Beispiel des Italienischen - Einblicke in die konkrete Entwicklung von Lehrplänen für eine romanische Sprache vom 19. bis ins ausgehende 20.-Jahrhundert (Lehrplangeneration der 1990er Jahre) mit besonderem Fokus auf die dort ausgewiesenen kulturellen und literarischen Inhalte gegeben. In der von Herbert Christ und Hans-Joachim Rang besorgten monumentalen, siebenbändigen Zusammenstellung Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945 ist eine erste Erwähnung des Italienischen in staatlichen Vorgaben aus Braunschweig aus dem Jahr 1745 belegt (Col‐ legium Carolinum, Christ/ Rang 1985, IV, 47). Im 19. Jahrhundert erscheint das Italienische u. a. in Vorgaben aus dem Königreich Westfalen, aus Schleswig-Holstein, Baden, Preußen und Bayern, wobei es lediglich neben anderen Sprachen (z. B. Französisch, Spanisch) geführt wird (ebd.) und keinen eigenen Lehrplan erhält. Nach der in Christ/ Rang 1985, IV, dokumentierten Quellenlage erhält das Italienische in der Verordnung für Realgymnasien in Bayern aus dem Jahr 1891 erstmals einen eigenen Abschnitt. Dort heißt es allerdings nur knapp: § 21. Italienische Sprache: 1. In der italienischen Sprache wird an den Realgymnasien, soweit es die Mittel und Verhältnisse gestatten, Unterricht erteilt. 2. Für den Unterricht gelten im Allgemeinen dieselben Grundsätze, wie für den Unterricht in der englischen Sprache. (op. cit., 48) Die ersten, auch inhaltlich, spezifischen Ausführungen finden sich indes im Lehrplan für die Lyzeen in Preußen aus dem Jahr 1908 (zweijähriger Kurs im Umfang von jeweils zwei Wochenstunden). Die Darstellung umfasst in Christ/ Rang 1985, IV etwa drei Druckseiten 228 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="229"?> und gliedert sich in die folgenden Abschnitte: A. Allgemeines Lehrziel, B. Methodische Bemerkungen, C. Lehraufgaben (op. cit., 48-51). Bei genauer Betrachtung aus heutiger Perspektive gibt bereits hier der einleitende Abschnitt Kompetenzziele vor, und zwar v. a. im Bereich der funktionalen kommunikativen Kompetenz, und, zumindest mittelbar, auch im Bereich der interkulturellen Kompetenz: A. Allgemeines Lehrziel. Der Unterricht im Italienischen soll die Schülerinnen befähigen, gesprochenes Italienisch richtig aufzufassen, einen leichteren Schriftsteller zu verstehen und die Fremdsprache mit einiger Gewandtheit im mündlichen und schriftlichen Verkehr anzuwenden. Neben dieser unmittelbaren Aufgabe soll der Unterricht auch noch die mittelbare erfüllen, die Schülerinnen mit Leben und Sitten des italienischen Volkes bekannt zu machen und ihnen das Verständnis für seine geistige und materielle Kultur nach Möglichkeit zu erschließen. (op. cit., 48) Im Hinblick auf einen nur einjährigen Kursus wird weiterhin sinngemäß Sprachlernkom‐ petenz als Unterrichtsziel erwähnt: Die Schülerinnen werden dann soweit gefördert, daß sie gesprochenes und geschriebenes Italie‐ nisch, sofern es sich in den einfachsten Formen des täglichen Verkehrs hält, verstehen, ein leichtes Schriftwerk lesen und einen einfachen Brief schreiben können. Der Hauptzweck des Unterrichts besteht dann darin, Interesse für die Fremdsprache bei den Schülerinnen zu erwecken und die Grundlage für späteres Privatstudium zu bieten. (op. cit., 48). Auch im Bereich der „Methodischen Bemerkungen“ werden Aspekte genannt, die heute unter den Stichworten „Methoden-“ bzw. „Sprachlernkompetenz“ und Mehrsprachigkeits‐ didaktik/ Spezifika der spät beginnenden Fremdsprache erörtert werden: Der italienische Unterricht schließt sich im Lehrverfahren dem französischen und englischen Unterricht an; er weicht davon nur insoweit ab, als die kürzere Lehrzeit, die größere geistige Reife der Schülerinnen und die Verwandtschaft des Italienischen mit dem Französischen ein schnelleres Fortschreiten und eine Beschränkung des grammatischen Regelwerks ermöglichen. […] Die Hauptaufgabe des Unterrichts in der Grammatik besteht darin, die vom französischen Gebrauche abweichenden Erscheinungen hervorzuheben und einzuprägen […]. Die Hauptregeln der Formenlehre und der Syntax werden unter Beschränkung auf das Gebräuchliche möglichst in induktiver Lehrform entwickelt und durch mündliche und schriftliche Übungen befestigt. […]. (op. cit., 48 f.) Von einem propädeutischen Kurs zur Aussprache wird explizit als nicht erforderlich abgeraten (op. cit., 49). Auch im Bereich der Wortschatzvermittlung werden im Grunde Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik nahegelegt: Es muß Gewicht auf Einprägung eines ausreichenden Wortschatzes gelegt werden. Diesem Zwecke dienen gelegentliche Belehrungen über Wortbildung und Ableitung, Hinweise auf die verwandten Wörter andrer Sprachen, insbesondere der französischen, und auf lautliche Unterschiede zwischen den Wörtern des Italienischen und des Französischen. (op. cit., 50) 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 229 <?page no="230"?> Mündliche Produktion soll „schon nach den ersten Unterrichtsstunden“ gefördert werden, wobei hier explizit auf Anschauungsbilder verwiesen wird (op. cit., 50, zum fremdsprach‐ lichen Anschauungsunterricht vgl. Reinfried 1992, bes. 87-164). Kulturelle Inhalte werden im Bereich „Methodische Bemerkungen“ und insbesondere im Abschnitt „Lehraufgaben“ benannt. In erstgenanntem Absatz heißt es im Hinblick auf das Auswendiglernen, welches als eigene Aktivität neben die „Lektürestunden“ (op. cit., 49), die „Sprechübungen“ (op. cit., 50), die Aussprache-, Grammatik- und Wortschatzschulung (op. cit., 49 f.) gestellt wird: Die zum Auswendiglernen bestimmten Gedichte oder Prosastücke müssen dem Verständnis der Schülerinnen angemessen, zugleich aber Proben des Besten sein, was die italienische Literatur bietet. Das 19.-Jahrhundert ist bei der Auwahl besonders zu berücksichtigen. (op. cit., 49) Im Bereich „Lehraufgaben“ werden sodann folgende Textsorten und Autoren/ Texte emp‐ fohlen: 1. Jahr. […] Toskanische Kinderreime; Volkslieder z. B. Santa Lucia; Canto dei volontari toscani; Prati G., Tutto ritorna; Cantù C., Lo spazzacamino. […]. 2. Jahr. De Amicis E., Cuore; La vita militare; Farina Salv., Amore bendato; Cantù, I Grassi; Goldoni C., Il vero amico; Un curioso accidente; commedie. Bei sehr rasch fortschreitenden Schülerinnen käme etwa noch in Frage: Auswahl aus Manzoni A., I promessi sposi; Grossi T., Marco visconti; Giacosa, G., Una partita a scacchi; Alfieri V. [Korrektur D.R.], Oreste; Maffei S., Merope. (op. cit., 50 f.) Unter den genannten Texten sind Cuore von De Amicis, die Komödien Carlo Goldonis und Auszüge aus den Promessi sposi noch heute aktuell und teilweise in den Lehrplänen erwähnt (s.-u.). Ganz ähnliche Inhalte werden in dem zweiten umfassenderen überlieferten Italie‐ nisch-Lehrplan verzeichnet, namentlich dem der Höheren Mädchenschulen/ Frauenschulen in Bayern aus dem Jahr 1911. Hier werden für das erste mit drei Wochenstunden versehene Lernjahr folgende Lesestoffe nahegelegt: […]. Lektüre: Im Anfang ausschließlich das Lehr- und Lesebuch, später ein leichteres Erzählungs‐ werk, wie z. B. De Amicis, La Vita militare; Cuore, La Carrozza di Tutti; Barrili, Capitan Dodèro. (op. cit., 51) Für das zweite Lernjahr, das wiederum mit drei Wochenstunden versehen ist, heißt es im Bereich „Lese-, Sprech- und Schreibübungen“: „Sprechübungen im Anschluß an Erzäh‐ lungen, die auf das tägliche Leben Bezug nehmen, in Anlehnung an Anschauungsbilder oder an die Klassikerlektüre (Inhaltsangaben, Charakteristiken usw.)“ (op. cit., 51), und im Bereich „Lektüre“ werden folgende der klassischen italienischen Literaturtradition zuzurechnenden Texte explizit genannt: «Manzoni, I promessi Sposi (in Auswahl), Goldoni, Il vero Amico, Un curioso Accidente, D’Azeglio, Ettore Fieramosca; Dante, L’inferno (in Auswahl). (op. cit., 51 f.) Für die humanistischen Gymnasialkurse, aber auch die Realgymnasialkurse der Höheren Mädchenschule sehen die gleichzeitig veröffentlichten Lehrpläne jeweils nur zweistündige 230 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="231"?> Kurse vor, wobei im ersten Lernjahr mit Nachdruck die Lektüre von De Amicis nahegelegt wird: Lektüre: Schon im Sommersemester ist tunlichst ein leichter Schriftsteller zu behandeln, wie z. B. De Amicis, La Vita militare; Cuore, La Carrozza di Tutti. (op. cit., 52) Für das zweite Lernjahr werden im Bereich der „Lese-, Sprech- und Schreibübungen“ (ebd.) entsprechend den Vorgaben für die Frauenschule Inhaltsangaben und Charakteristiken im Anschluss u. a. an die Klassikerlektüre empfohlen, der vorgeschlagene Lektürekanon ist entsprechend dem Anspruch des humanistischen Gymnasialkurses (freilich auch des Real‐ gymnasialkurses) trotz niedrigerer Stundenzahl umfangreicher als für die Frauenschule: Lektüre: Zur Auswahl eignen sich: Carcano, La Nunziata; Barrili, Capitan Dodèro; Goldoni, Il vero Amico, Un curioso Accidente; Manzoni, I Promessi sposi (in Auswahl); Dante, L’inferno; Tasso, La Gerusalemme liberata; Maffei, Merope; Alfieri, Oreste; D’Azeglio, Ettore Fieramosca. (op. cit., 52) Für die „Höheren Lehranstalten“ - Humanistisches Gymnasium, Realgymnasium, Reform‐ realgymnasium, Oberrealschule - sind in Christ/ Rang 1985, IV erstmals Lehrpläne aus Bayern aus dem Jahr 1914 überlieftert (op. cit., 53). Diese sehen in zwei aufeinander aufbauenden Lehrgängen Unterricht im Umfang von je zwei Wochenstunden vor. Es wird darauf verwiesen, dass „im allgemeinen dieselben Grundsätze wie für den Unterricht in der französischen Sprache [gelten]“ (ebd.), und zugleich der frühe Einsatz literarischer Texte nahe gelegt: „Die Schriftstellerlektüre kann hier schon im 2. Halbjahr beginnen“ (ebd.). Die Lektüreliste enthält dann aus den bereits untersuchten Lehrplänen bekannte Lesestoffe, darüber hinausgehend aber bereits für das erste Lernjahr auch noch einige weitere Texte: Lektüre: De Amicis, La Vita Militare; Cuore; La Carrozza di Tutti; D’Azeglio, Ettore Fieramosca; Niccolì de’Lapi; I miei ricordi; Barrili, Capitan Dodèro; Cantù, La Madonna d’Imbrevera; I Grossi; Carcano, La Nunziata; Castelnuova, Scelta di racconti e bozzetti; Farina, Scena e caratteri; Goldoni, Il vero Amico; Il ventaglio; Un curioso Accidente; Maffei, Merope; Morandi, Racconti; Sacerdote, Nel bel paese; Verga, Novelle rusticane. (op. cit., 53) Für das zweite Lernjahr waren weitere klassische Texte vorgesehen: Lektüre: Dante, L’Inferno; Il Purgatorio; Lombardo, Su e giù per l’Italia; Manzoni, I Promessi sposi; Pellico, Francesca da Rimini; Sacerdote, Letture italiane; Tasso, La Gerusalemme liberate u. dgl.. (op. cit., 53) Bemerkenswert ist, dass der preußische und die bayerischen Lehrpläne gemeinsam auf Goldonis Komödien Il vero amico und Un curioso accidente verweisen, zwei Stücke, die heute eher nicht im Vordergrund der Goldoni-Rezeption stehen. Allerdings handelt es sich um zwei sprachlich über weite Strecken einfache und daher gut lesbare Texte, die um das Schicksal junger, unverheirateter Frauen kreisen, weshalb sie aus damaliger Perspektive als an der primären Zielgruppe der besagten Lehrpläne ausgerichtet gelten dürfen. Selbiges gilt auch für das historische Drama Una partita a scacchi von Giuseppe Giacosa aus dem Jahr 1873, das zur Zeit der Entstehung der Lehrpläne noch zur jüngeren Gegenwartsliteratur gerechnet werden durfte. Sowohl in den nördlichen als auch den südlichen Lehrplänen ist ferner Edmondo De Amicis etabliert, und zwar gleichermaßen mit seinem früheren, noch 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 231 <?page no="232"?> die militärischen Facetten der italienischen Einigungsbewegung thematisierenden La vita militare und mit dem späteren Cuore. Aus heutiger Perspektive gilt es zu beachten, dass Cuore (erschienen 1886) damals gerade erst zwanzig Jahre alt war - auch die Aufnahme dieses Werks in die Lehrpläne Preußens und Bayerns aus den Jahren 1908 und 1911 lässt diese also, unabhängig vom schnellen nationalen und internationalen Erfolg des Buches, durchaus der Gegenwartsliteratur gegenüber offen erscheinen. Ansonsten werden sowohl im Norden als auch im Süden, in Preußen allerdings nur für „sehr rasch [fortschreitende]“ Lerngruppen (s. o., op. cit., 51), u. a. die Klassiker Maffei mit mythologischem Stoff, Alfieri und Manzoni benannt. Nur in Bayern findet sich indes Dante auf dem Programm - dies scheint bedauerlich, begründet aber eine Traditionslinie in den Lehrplänen des Italienischen, die sich bis heute fortsetzt (wobei Sachsen und Thüringen inzwischen dem süddeutschen Beispiel folgen, s. u.). Insgesamt zeugen die Lehrpläne der Jahre 1908 und 1911 ff. von zeitgeschichtlicher Aktualität und von einer guten Kenntnis der italienischen (auch Gegenwarts-)Literatur in den damaligen Kommissionen. Berücksichtigt werden aus dem 19. Jahrhundert v. a. Texte aus der Tradition des Risorgimento, aber auch jüngere Sozialstudien aus der Zeit nach der Einigung wie die Novelle rusticane (1883) von Giovanni Verga. Weitere Hinweise zu kulturellen Inhalten werden außer zu den Lesestoffen in den historischen Lehrplänen nicht gegeben. Die letzten auch auf das Italienische bezogenen Lehrpläne vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sind auf den 29.01.1938 datiert und betreffen die Sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch in gleicher Weise. Dabei werden kaum konkrete Inhalte genannt, allerdings wiederum auf die lernerleichternde Wirkung vorgelernter Sprachen (hier insbesondere des Lateinischen) eingegangen sowie wesenskundliche und durch Zeitungslektüre aktualitätsbezogene Inhalte nahegelegt - aus heutiger Perspektive ist offenkundig, wie diese Lehrpläne im Sinne des Regimes mit Inhalten gefüllt werden sollten. Als zweite lebende Fremdsprache der Oberschule kommen in erster Linie die drei wichtigsten romanischen Sprachen in Betracht. Das Ziel dieses Unterrichts ist eine Einführung in den Aufbau der Sprache und die Erlangung der Fähigkeit, sie mündlich und schriftlich zu gebrauchen. Die Übungsstoffe des Lehrbuches und die Lesestoffe müssen in das Wesen des fremden Volkes, sein Land und seine Geschichte und seine Aufgaben in der Gegenwart einen Einblick geben. Im Spanischen ist Südamerika zu berücksichtigen. Zeitungen sind ausgiebig heranzuziehen. Die Erreichung dieses Zieles wird wesentlich dadurch erleichtert, daß 1. die Schüler und Schülerinnen die Sprache erst in einem reiferen Alter beginnen, 2. nur sprachlich Befähigte daran teilnehmen und 3. in den Jungenschulen auf der Grundlage der lateinischen Sprachkenntnisse aufgebaut wird. Ausführliche Anweisungen werden erst ergehen, wenn ausreichende Erfahrungen über diesen Unterricht vorliegen, besonders über die Verwertbarkeit der im Lateinunterricht erworbenen Grundlagen. […]. (Christ/ Rang 1985, III, 165 f.) Spätere spezifisch auf das Italienische bezogene Lehrpläne sind bis 1945 nicht überliefert (Rang/ Christ 1985, IV, 53 f.). Nach 1945 wurde Italienisch zwar zunehmend als Schulfach implementiert (vgl. Kap. 2.1.2.9 und 2.1.2.10), doch fand eine systematische Lehrplanent‐ 232 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="233"?> wicklung nach frühen Unterrichtsempfehlungen und ersten Richtlinien - z. B. in NRW 1973 bzw. 1981 (vgl. Neumeister 1999, 25 bzw. Christ 1998; Jung 2001, 41; Reimann 2009b, 37) oder in Bayern die Lehrpläne für den Elementarkurs bis zum Grundkurs als spät beginnende Fremdsprache aus dem Jahr 1975 (vgl. Bräu 1980, 54, 59, Anm. 2, Dorner 1995, 328, Reimann 2009b, 29) - erst verhältnismäßig spät statt, vereinfacht gesprochen gibt es Lehrpläne für Italienisch als reguläres Unterrichtsfach erst seit Mitte der 1980er (Baden-Württemberg, vgl. Heinz 1988, 92) - bzw. sogar erst seit den 1990er Jahren (z. B. in NRW ab 1993 für die Sekundarstufe I des Gymnasiums, ab1998/ 99 für die Sekundarstufe II und ab 2001 für die Sekundarstufe I der Gesamtschule (Christ 1998, Bogdanksi 1998, 12, Reimann 2009b, 37), in Bayern erstmals mit den Lehrplänen der frühen 1990er Jahre (Reimann 2009b, 29)). Die kulturellen Horizonte, die sich in den Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen von 1981 abzeichneten, lassen sich mit Ingeborg Christ wie folgt resümieren: [Die italienische Sprache wurde in ihrer Funktion als Brücke zu einer Kultur gezeigt, deren Beiträge in Musik, Malerei, Skulptur, Architektur, Philosophie und Dichtung und deren politische und soziale Geschichte die Wirklichkeit Europas in hohem Maße geprägt haben […]. Als Ziele und In‐ halte für den Anfangsunterricht wurden alltägliche Situationen des Italienreisenden umschrieben, der auch komplexere Situationen des Hörens und Sprechens im Kontext der sozio-kulturellen Wirklichkeit meistern muss. Aktuelle und jugendgemäße Themen wurden zusammengetragen, ferner auch Situationen von Arbeitnehmern in der Bundesrepublik vorgestellt. (Christ 1998, 8) Exemplarisch für die Richtlinien- und Lehrplangeneration der 1970er/ 1980er sollen die Baden-Württembergischen Bildungspläne von 1972/ 1973 in ihrer für das Italienische konkretisierten Revisionsfassung von 1984/ 85 betrachtet werden. Sie sehen u. a. folgende literarische Inhalte vor: […] zwei literarische Werke des 19./ 20. Jahrhunderts, z. B. den frühen Buzzati, Autoren des Neorealismus (Elio Vittorini, Beppe Fenoglio, Italo Calvino), Vertreter der Literatur Süditaliens (Leonardo Sciascia, Ignazio Silone, Corrado Alvaro, Carlo Levi, Giuseppe Tomasi di Lampedusa), außerdem Alberto Moravia, Pier Paolo Pasolini, Primo Levi, Elsa Morante, Natalia Ginzburg, Piero Chiara, Fulvio Tomizza, Gavino Ledda und Carlo Sgorlon. […] Für das Drama werden Pirandello und Fo vorgeschlagen. In der Lyrik soll der Schüler einige Gedichte von Montale, Quasimodo, Ungaretti und Saba kennenlernen. […]. (Heinz 1988, 93) Im Bereich der „Landeskunde“ ist für die ersten Jahrgänge ein „Einblick in das italienische Alltagsleben“ (Heinz 1988, 93) vorgesehen, für die Oberstufe stehen folgende Themen auf dem Programm: Parteien, Massenmedien, Bildungswesen, Kirche, Regierungssystem, Migrazione interna und Emigrazione, Risorgimento, Faschismus - Resistenza, sprachliche Minderheiten, berühmte Per‐ sönlichkeiten […] das Verhältnis Italien - Deutschland. (ebd.) Während die bayerischen Lehrpläne bereits des Jahres 1975/ 76 für den Grundkurs als spät beginnende Fremdsprache ein literarisch anspruchsvolles Programm vorsahen, u.a. Dante: Ausschnitte aus der Divina Commedia, z.B.: - Inferno: Canto V, 73-142 (Paolo e Francesca) - Inferno: CantoXXXIII, 1-78 (Il conte Ugolino) 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 233 <?page no="234"?> Boccaccio: Ausschnitte aus dem Decamerone, z.B.: - VI, 4 (Il cuoco Chichibio) Petrarca: z.B. - Sonett XXXV: „Solo e pensoso …” - Canzone CXXVI: „Chiare, fresche e dolci acque … (zit. nach Heinz 1988, 93) enthalten in Baden-Württemberg erst die Lehrpläne der 1990er Jahre für den Leistungskurs vertiefte literarische Inhalte: ● Überblick über wichtige Epochen der italienischen Literatur ● Auszüge aus e i n e m der folgenden Werke: ● Dante Alighieri: La Divina Commedia, z.B. Inferno I, V, X ● Giovanni Boccaccio: Il Decameron, z.B. Il giudeo Melchisedech (I,3), Andreuccio da Perugia (II,5), Ricciardo Manardi (V,4) ● Francesco Petrarca: Canzoniere, z.B. Benedetto sia ’l giorno (LXI), Chiare fresche e dolci acque (CXXVI), Italia mia (CXXVIII), Di pensier in pensier (CXXIX) ● ein Werk aus dem 18. oder 19.-Jahrhundert, [… z. B.] Auszüge aus einer Komödie von Carlo Goldoni sowie Novellen des italienischen verismo ● ein Werk aus dem 20. oder 21.-Jahrhundert [prospektiv], Auf einen Katalog moderner Autorinnen und Autoren wird verzichtet. […] ● einige Gedichte/ canzoni, z.B. von Palazzeschi, Ungaretti, Montale, Saba, Pavese, Quasimodo, Luzi u.-a. […] Lieder italienischer cantautori. (Ministerium für Kultus und Unterricht (Hrsg.) (1994): Bil‐ dungsplan Gymnasium. Stuttgart, 175) Im Bereich „Landeskundliche Themen“ werden erwähnt: ● Entwicklungstendenzen in der modernen italienischen Gesellschaft ● Rolle der Medien, Entwicklung der Familie, Jugendliche in Italien, politische Veränderungen, Italien als Mitgliedsland der EU, Bedeutung der Wirtschaft (il Made in Italy), Einblick in das aktuelle Tagesgeschehen ● Nord-Süd-Gegensatz und Migrationsbewegungen ● Historische Hintergründe der Binnenwanderung; Vergleich zweier Regionen; Phasen und Motive der Aus- und Einwanderung (Italiani all’estero, extra-comunitari) ● Die Mafia in Italien ● Entstehung der Mafia; Bedeutung für Sizilien und Italien; Internationalisierung des Phäno‐ mens; Bekämpfung des organisierten Verbrechens ● Überblick über eine der folgenden Epochen der italienischen Geschichte: Risorgimento und Einigung Italiens, Faschismus und Resistenza ● Personaggi celebri italiani, Präsentation besonderer Leistungen italienischer Persönlichkeiten aus Kultur, Kirche, Wissenschaft und Wirtschaft. (Ministerium für Kultus und Unterricht (Hrsg.) (1994): Bildungsplan Gymnasium. Stuttgart, 176) 234 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="235"?> 4.3.4 Exemplarische Lehrplanbetrachtungen - gegenwartsbezogen: Aktuelle Lehrpläne für Französisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch Vor dem Hintergrund der grundlegenden Ausführungen in Kap. 4.3.2 und den exemplari‐ schen historischen Analysen in Kap. 4.3.3 sollen nun exemplarisch Auszüge aus folgenden aktuellen Lehrplänen betrachtet werden: 1. Französisch als 2. Fremdsprache, Jahrgangsstufe 6, Bayern (LehrplanPLUS, seit 2017/ 2018), 2. Spanisch als 3. Fremdsprache, Schleswig-Holstein (ab 2015/ 2016), 3. Italienisch als 3. Fremdsprache, Jahrgangsstufe 9, Nordrhein-Westfalen (ab 2009 bzw. ab 2020), 4. Portugiesisch als 3. Fremdsprache, Jahrgangsstufen 11/ 12, Baden-Württemberg (ab 2016). Der sukzessive seit 2017/ 2018 in Kraft tretende bayerische LehrplanPLUS orientiert sich in den Fachlehrplänen Französisch für das Gymnasium konsequent am Kompetenzmodell der Bildungsstandards, ergänzt dieses schon für die ersten Lernjahre um explizit ausgewiesene Text- und Medienkompetenzen und integriert Hinweise und Anregungen zu möglichen Inhalten, mit denen die Kompetenzziele erreicht werden können, zeichnet sich also durch eine Verbindung von Kompetenz- und Inhaltsorientierung aus. Außerdem enthält der LehrplanPLUS eine explizite „Linkebene“ zu Aufgaben, übergreifenden Zielen und Materialien in einzelnen Bereichen. Die Fachlehrpläne sind für je eine Jahrgangsstufe konzipiert. So weist der Jahrgangsstufenlehrplan für Französisch als 2. Fremdsprache in Jahrgangsstufe 6 (erstes Lernjahr) folgende Gliederung auf: 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 235 <?page no="236"?> Abb. 40a: Auszug aus dem Lehrplan für Französisch als 2. Fremdsprache, Jahrgangsstufe 6, Bayern (LehrplanPLUS) (1) (https: / / www.lehrplanplus.bayern.de/ fachlehrplan/ gymnasium/ 6/ franzoesisch/ 2 -fremdsprache, 18.01.2019) Im Bereich Sprechen beispielsweise werden die „Kompetenzerwartungen und Inhalte“ für das erste Lernjahr wie folgt benannt: 236 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="237"?> Abb. 40b: Auszug aus dem Lehrplan für Französisch als 2. Fremdsprache, Jahrgangsstufe 6, Bayern (LehrplanPLUS) (2) (https: / / www.lehrplanplus.bayern.de/ fachlehrplan/ gymnasium/ 6/ franzoesisch/ 2 -fremdsprache, 18.01.2019) Schließlich werden folgende „Themengebiete und Inhalte zu den Kompetenzen“ aufgeführt: 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 237 <?page no="238"?> Abb. 40c: Auszug aus dem Lehrplan für Französisch als 2. Fremdsprache, Jahrgangsstufe 6, Bayern (LehrplanPLUS) (3) (https: / / www.lehrplanplus.bayern.de/ fachlehrplan/ gymnasium/ 6/ franzoesisch/ 2 -fremdsprache, 18.01.2019) Als weiteres Beispiel seien die Fachanforderungen Spanisch für allgemeinbildende Schulen des Landes Schleswig-Holstein (hier speziell Sekundarstufe I) betrachtet (online ein‐ sehbar: <https: / / fachportal.lernnetz.de/ sh/ fachanforderungen/ spanisch.html, 10.05.2023). In Schleswig-Holstein ersetzen so genannte Fachanforderungen sukzessive die Lehrplan‐ generation der späten 1990er Jahre (1997/ 98ff., vgl. https: / / lehrplan.lernnetz.de/ index.p hp? wahl=5, 18.01.2019). Die Fachanforderungen Spanisch für die Sekundarstufe I sind ab 2015/ 2016 in Kraft getreten. Sie stellen „Rahmenvorgaben“ dar (2015, 34), die durch schulinterne Fachcurricula konkretisiert werden sollen. Daher benennen sie die „als Regelanforderungen“ am Ende der Sekundarstufe I nach ca. 14-16 Jahreswochenstunden Spanischunterricht anzustrebenden Kompetenzen (vgl. 2015, 20). Sie enthalten nach einem fächerübergreifenden allgemeinen Teil (2015, 6-12) umfangreiche grundlegende Hinweise 238 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="239"?> zum Spanischunterricht (2015, 13-19), benennen dabei u. a. die an den verschiedenen Schularten in den unterschiedlichen Ausbildungszügen angestrebten Niveaustufen des GeR (2015, 13) und führen „Didaktische Leitlinien“ für den Spanischunterricht der Sekundarstufe I ein (2015, 17 f.) Darüber hinaus geben sie Hinweise zur Ausgestaltung schulinterner Curricula (2015, 34) sowie zur Leistungsbewertung (2015, 35-37). In ihrem zentralen Teil (2015, 20-33) nehmen die Fachanforderungen unmittelbar Bezug auf die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss. Für den Bereich des Hör- und Hörsehverstehens gestaltet sich die Darstellung beispielsweise wie folgt (2015, 21): 21 FachanForderungen S PanI Sch unter II. 2.2 ebenfalls kompetenzorientiert aufgeführt. Die Fachanforderungen beschreiben Kompetenzerwartungen, die die Schülerinnen und Schüler erreichen und in Kommunikationssituationen nachweisen sollen. Der Unterricht ist so zu gestalten, dass die Ausbildung der Kompetenzen und Strategien möglich ist. Dabei sind die Kompetenzen nicht isoliert zu sehen, sondern greifen ineinander und ermöglichen Üben und Anwenden in verschiedenen Kontexten. In den Abschnitten zu den jeweiligen teilkompetenzen wird zunächst der am GeR orientierte Standard genannt, der von den Schülerinnen und Schülern bis zum ende der Sekundarstufe I zu erreichen ist. Dieser weist das niveau A2+ / B1 aus. In der linken Spalte wird aufgefächert, wie sich die teilkompetenz realisiert. Dabei werden alle Anforderungsebenen berücksichtigt. In der mittleren Spalte werden mögliche Kommunikationsanlässe und Unterrichtssituationen genannt, in denen diese Realisierungen stattfinden können. Die rechte Spalte zeigt exemplarisch auf, über welche Strategien die Schülerinnen und Schüler dazu verfügen sollen. Alle Punkte, die typographisch nicht hervorgehoben werden, sind grundlegende Anforderungen, die sowohl für den ersten allgemeinbildenden Schulabschluss als auch für den Mittleren Schulabschluss und für den Übergang in die Oberstufe gelten. Darüber hinaus sind die grau unterlegten Zusätze für den Mittleren Schulabschluss verbindlich. Die grau unterlegten und fettgedruckten Zusätze sind zusätzlich verbindlich für den Übergang in die Oberstufe. 2.1.1 Hör- und Hörsehverstehen Am ende der Sekundarstufe I entnehmen die Schülerinnen und Schüler Hauptaussagen und einzelinformationen aus längeren Äußerungen mit vertrauter thematik, wenn in Standardsprache gesprochen wird. Die Schülerinnen und Schüler können Geeignete Kommunikationsanlässe und Unterrichtssituationen: Estrategias ejemplares: · dem einsprachigen Unterricht folgen und angemessen reagieren. · auch komplexere Redebeiträge, erzählungen, Berichte und Präsentationen verstehen. · wesentliche Aspekte in sehr einfachen, klar formulierten und gering verschlüsselten auch authentischen Hör- und Hörsehtexten verstehen. · sehr einfachen didaktisierten und authentischen Filmsequenzen folgen, deren Handlung durch die Art der Darstellung gestützt und deren Sprache klar ist. · el español en clase, presentaciones, juegos de roles, relatos, cuentos, noticias, reportajes, entrevistas, canciones, publicidad, vídeos, películas, cortos, trailers · comprender la clase de E / LE, trabajar con materiales auténticos de interés temático en general: · hacer hipótesis: preguntarse algo · fijarse en la situación, los ruidos, los personajes... · tomar apuntes: estructurar la información, p.ej. en una tabla, en un mapa de ideas etc. de comprensión visual y / o auditiva: · comprensión global: trabajar con las preguntas qué, quién, cuándo etc., marcar en una lista si la información sale en el texto o no, relacionar imágenes y lengua · comprensión selectiva: marcar respuestas en una lista de selección múltiple, sacar palabras clave, juntar informaciones sobre un tema especial · comprensión detallada: reconstruir el texto, realizar tareas de “correcto”-“falso” Abb. 41a: Auszug aus den Fachanforderungen Spanisch als 3. Fremdsprache, Schleswig-Holstein (1) (https: / / fachportal.lernnetz.de/ sh/ fachanforderungen/ spanisch.html) Es werden also auch - als Hilfestellung für die Lehrkräfte in spanischer Sprache - Anre‐ gungen zu Inhalten und Strategien gegeben. Auf die Darstellung der Kompetenzinhalte folgen konkretere Angaben zu möglichen „Themen und Inhalten des Unterrichts“ (2015, 31 ff.), bezogen auf die drei Themenbereiche „Ich und die anderen“, „Jugendliche in ihrem unmittelbaren Erfahrungsbereich“ und „Gesellschaftliches und kulturelles Leben“. Die Ausführungen zu letzterem Punkt seien exemplarisch wiedergegeben (2015, 33): 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 239 <?page no="240"?> 33 FachanForderungen S PanI Sch Themenbereich 3: Gesellschaftliches und kulturelles Leben Jahrgänge 6 (7) bis 9 (10) (2. Fremdsprache) oder 8 (9) und 9 (10) (3. Fremdsprache) Thema Mögliche Inhalte Kommunikation und Medien · Mediennutzung: Printmedien, elektronische Medien · Umgang mit neuen Medien Kultur und Sport · Menschen, über die man spricht · Kunstschaffende aus Gegenwart und Vergangenheit und ihre Werke Natur und Umwelt · natur, Landschaft · Wetter, Klima · Umweltschäden, naturgewalten · Umweltschutz Soziales Miteinander · Zusammenleben von Menschen: unterschiedliche Kulturen oder Generationen · multikulturelle Gesellschaft: Chancen und Probleme · Wertvorstellungen · soziales und gesellschaftliches engagement Spanien und die spanischsprachige Welt · Spanien und die Länder Lateinamerikas: - geografische Orientierung - Städte und Sehenswürdigkeiten - Regionen und Landschaften · politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Aspekte Spaniens und ausgewählter Länder Lateinamerikas: - Charakteristika ausgewählter Metropolen - Lebensbedingungen - für die Gegenwart bedeutende historische Momente - Migrationsbewegungen - autonome Regionen und Sprachenvielfalt - tourismus Abb. 41b: Auszug aus den Fachanforderungen Spanisch als 3. Fremdsprache, Schleswig-Holstein (2) (https: / / fachportal.lernnetz.de/ sh/ fachanforderungen/ spanisch.html) In Nordrhein-Westfalen wiederum wurden bereits seit 2008 so genannte „Kernlehrpläne“ für die romanischen Sprachen Französisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch vorge‐ legt (für die Sekundarstufe II je 2014, online zugänglich unter https: / / www.schulentwick lung.nrw.de/ lehrplaene/ lehrplannavigator-s-i/ gymnasium-g8/ index.html bzw. https: / / ww w.schulentwicklung.nrw.de/ lehrplaene/ lehrplannavigator-s-ii/ gymnasiale-oberstufe/ (Sek. II), jeweils 18.01.2019). Die Kernlehrpläne beschreiben zu erwartende Kompetenzprofile jeweils am Ende bestimmter Jahrgangsstufen, namentlich am Ende der Jahrgangsstufen 6, 8 und 9, im Falle des Italienischen für die Ausbildungszüge Italienisch ab Jahrgangsstufe 5 (1. Fremdsprache), 6 (2. Fremdsprache) und 8 (3. Fremdsprache). Auch die Kernlehrpläne NRW rekurrieren auf das Kompetenzmodell der Bildungsstandards (2009, 18). Dieses wird insofern leicht modifiziert, als „Verfügbarkeit von sprachlichen Mitteln und sprachliche Korrektheit“ auf eine Ebene mit „kommunikativen Kompetenzen“ (den Fertigkeiten der Bildungsstandards), „interkulturellen Kompetenzen“ und „methodischen Kompetenzen“ gestellt werden und die methodischen Kompetenzen explizit auch auf die traditionellen vier Fertigkeiten Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben bezogen werden. In den Kompe‐ 240 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="241"?> tenzerwartungen für das Italienische als 3. Fremdsprache in Jahrgangsstufe 9 liest man beispielsweise zur Sprachmittlung (2009, 51): Sprachmittlung Die Schülerinnen und Schüler können in vertrauten Begegnungssituationen des Alltags so weit vermitteln, dass Informationen grundlegend verstanden werden. Sie können • in der jeweils anderen Sprache das Wesentliche von einfacheren Äußerungen sinngemäß wiedergeben und - vor allem bei der Vermittlung vom Italienischen ins Deutsche - ggf. notwendige Erläuterungen hinzufügen • Kernaussagen klar strukturierter deutsch- oder italienischsprachiger Informationsmaterialien (u.-a. Broschüren, Programme, Anleitungen) in der jeweils anderen Sprache sinngemäß zusammenfassen und - vor allem bei der Vermittlung vom Italienischen ins Deutsche - ggf. notwendige Erläuterungen hinzufügen. Abb. 42a: Auszug aus dem Kernlehrplan von 2009 für Italienisch als 3. Fremdsprache, Jahrgangsstufe 9, Nordrhein-Westfalen Auch in den 2019 ff. sukzessive veröffentlichten Kernlehrplänen der folgenden Lehrplan‐ generation finden sich die entsprechende Gliederung, orientiert am Kompetenzmodell der Bildungsstandards, und sehr ähnliche Formulierungen wieder (z. B. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 für Italienisch auf der Sekundarstufe I). Allerdings werden die Jahrgangsstufen noch weiter zusammengefasst und z. B. für Italienisch als 3. Fremdsprache nur noch die Kompetenzerwartungen am Ende der Sekundarstufe I ausgewiesen; auch werden zusätzlich jeweils die Kompetenzbe‐ reiche „Sprachlernkompetenz“ und „Sprachbewusstheit“, die den Bildungsstandards für die Sekundarstufe II entlehnt sind, aufgenommen und immer wieder, zumindest ansatzweise, „fachliche Konkretisierungen“ angeboten, z. B. für Italienisch als 3. Fremdsprache am Ende der Sekundarstufe I: 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 241 <?page no="242"?> Abb. 42b: Auszug aus dem Kernlehrplan von 2020 für Italienisch als 3. Fremdsprache, Jahrgangsstufe 9, Nordrhein-Westfalen (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2020, 40, https: / / www.schulentwicklung.nrw.de/ lehrplaene/ lehrplan/ 225/ g9_i_klp_3418_2020_06_17.pdf) Baden-Württemberg zählt mit Nordrhein-Westfalen zu den wenigen Bundesländern, an denen Portugiesisch als Schulfach zumindest punktuell bis in die Oberstufe etabliert ist. Seit 2016 ersetzt hier der Bildungsplan die vorausgehenden „Bildungsstandards“ (Baden-Württemberg hatte 2004 ff. als einziges Bundesland seine Lehrpläne so benannt). Auch der Bildungsplan für Portugiesisch (online einsehbar: http: / / www.bildungsplaene-b w.de/ ,Lde/ LS/ BP2016BW/ ALLG/ GYM/ PORT3, 18.01.2019) folgt ganz klar dem Kompetenz‐ modell der Bildungsstandards der KMK, das allerdings graphisch etwas anders dargestellt wird (2016, 4). Nach allgemeinen „Leitgedanken zum Kompetenzerwerb“ (2016, 3-9) folgen kurze Ausführungen zu den „prozessbezogenen Kompetenzen“ Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz (2016, 10), bevor „Standards für inhaltsbezogene Kompetenzen“ 242 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="243"?> im Wesentlichen dem fremdsprachlichen Kompetenzmodell der Bildungsstandards folgen (11-39). Für die Oberstufe wird dabei folgende Gliederung vorgenommen (2016, 1): Abb. 43a: Auszug aus dem Bildungsplan Portugiesisch als 3. Fremdsprache, Jahrgangsstufen 11/ 12, Baden-Württemberg (1) (https: / / www.bildungsplaene-bw.de/ site/ bildungsplan/ get/ documents/ lsbw/ export-pdf/ depot-pdf/ ALLG/ BP2016BW_ALLG_GYM_PORT3.pdf) Für den Bereich „Verfügen über sprachliche Mittel: Wortschatz“ wird dabei wie folgt formuliert (2016, 35): 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 243 <?page no="244"?> Abb. 43b: Auszug aus dem Bildungsplan Portugiesisch als 3. Fremdsprache, Jahrgangsstufen 11/ 12, Baden-Württemberg (2) (https: / / www.bildungsplaene-bw.de/ site/ bildungsplan/ get/ documents/ lsbw/ export-pdf/ depot-pdf/ ALLG/ BP2016BW_ALLG_GYM_PORT3.pdf) Die Verweise sind dabei folgendermaßen zu verstehen (2016, 43): 244 4 Rahmenbedingungen des gegenwärtigen Fremdsprachenunterrichts <?page no="245"?> Abb. 43c: Auszug aus dem Bildungsplan Portugiesisch als 3. Fremdsprache, Jahrgangsstufen 11/ 12, Baden-Württemberg (3) (https: / / www.bildungsplaene-bw.de/ site/ bildungsplan/ get/ documents/ lsbw/ export-pdf/ depot-pdf/ ALLG/ BP2016BW_ALLG_GYM_PORT3.pdf) Man sieht hier deutlich - gerade auch im Kontrast zum am Ende des Kap. 4.3.3 betrach‐ teten inhaltsorientierten baden-württembergischen Lehrplan der 1990er Jahre -, dass Baden-Württemberg sich anders als andere Bundesländer wie etwa Bayern oder Nord‐ rhein-Westfalen (s. o.), aber auch z. B. Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen oder Thüringen, immer noch nicht von den ausschließlich kompetenzorientierten Lehrplänen abgewandt hat und den Lehrkräften nicht einmal punktuell inhaltliche Hilfestellungen in den Rah‐ menrichtlinien bietet. Aus einem vergleichenden Blick in die aktuellen Lehrpläne aus vier verschiedenen Bundesländern wird deutlich, dass diese zwar teilweise einer anderen Systematik folgen, unterschiedlich strukturiert sind (jahrgangsstufenweise/ jahrgangsstufenübergreifend) und in unterschiedlichem Maße fachspezifische Anregungen zu Inhalten und Themen geben, sich letztlich jedoch alle an den fremdsprachlichen Kompetenzmodellen der Bildungsstan‐ dards für den Mittleren Schulabschluss bzw. für die Allgemeine Hochschulreife orientieren. 4.3 Rahmensetzungen auf Länderebene - Lehrpläne 245 <?page no="247"?> 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung Der Begriff „(Unterrichts-)Methode“ wird uneinheitlich gebraucht und ist dabei oft nicht präzise definiert (zur Definition von Methode und Methodik/ Methodologie als wissen‐ schaftliche Disziplin s. o. Kap. 1.2.1, zur Geschichte der Unterrichtsmethoden s. Kap. 2.3). In Anlehnung an Richards/ Rodgers 1986 könnte man in einem ersten Schritt eine „Methode“ für den Fremdsprachenunterricht mithilfe der folgenden drei Komponenten beschreiben, die gemeinsam eine Methode konstituieren: „approach“ (umfassende Theorie zu Sprache und (Fremd-)Sprachenlernen), „design“ (das sich aus den theoretischen Grundannahmen ergibt und sich in Lehrplänen und Lehrwerken sowie in den Grundannahmen über Schüler- und Lehrerrollen manifestiert) sowie „procedure“, womit die Ebene der Manifes‐ tationen von „approach“ und „design“ im konkreten unterrichtlichen Geschehen, mithin die Unterrichtstechniken, gemeint sind (Richards/ Rodgers 1986, 14-30). Marcus Reinfried entwickelt ausgehend von dieser Grundlage ein Methodenmodell, das die drei Ebenen Makroebene (theoretische Annahmen), Mesoebene (Unterrichtsziele und Organisation des „didaktischen Felds“) sowie Mikroebene (konkrete Unterrichtstechniken) umfasst, die ihrerseits den drei Ebenen „approach“, „design“ und „procedure“ im Wesentlichen entsprechen (Reinfried 2001, 2 f.): Makroebene theoretische Annahmen Mesoebene Unterrichtsziele und Organisation des ‚ didaktischen Felds ‛ Mikroebene konkrete Unterrichtstechniken Bezüge zur • Sprachtheorie • Lernpsychologie • u.a. Bezugswissenschaften Entscheidung über • Lernziele • Inhalte • Lehr- und Lernkonzepte • Lehr- und Lernmaterialien • Rolle der Lehrenden und Lernenden Festlegung von • Lehr- und Lerntechniken • Interaktionsmustern • Übungsformen Abb. 44: Mehrebenenmodell der Unterrichtsmethodik nach Reinfried (Reinfried 2001, 3) <?page no="248"?> Bezüglich der methodischen Makroebene nach Reinfried (Reinfried 2001, 2 f.) bewegt sich der gegenwärtige Unterricht der romanischen Sprachen im staatlichen Schulsystem in Deutschland innerhalb des neokommunikativen Paradigmas (s. o. bes. Kap. 2.3, vgl. Abb. 25, vgl. auch Kap.-1.2.2.4, bes. Abb. 8). Im Folgenden Kapitel soll systematisch in Fragen der Unterrichtsplanung und der Un‐ terrichtsmethoden eingeführt werden. Dabei wird wie folgt vorgegangen: In einem ersten Schritt wird versucht, die umfassende pädagogische Literatur zu Unterrichtskonzeptionen, Unterrichtsprinzipien und Unterrichtsmethoden zu systematisieren, indem bestehende Taxonomien auswahlartig vorgestellt werden und ein Stufenmodell der Unterrichtsme‐ thodik für den Fremdsprachenunterricht vor allgemein-schulpädagogischem Hintergrund vorgeschlagen wird (Kap. 5.1). In der Folge werden schul- und allgemeinpädagogische, für den Fremdsprachenunterricht relevante Fragen von Unterrichtskonzeptionen, Unterrichts‐ prinzipien und Unterrichtsqualität diskutiert (Kap. 5.2), bevor konkrete fremdsprachendi‐ daktische Fragestellungen der Unterrichtsplanung und der Unterrichtsorganisation wie etwa der Aufbau einer Unterrichtsstunde (Kap. 5.3 bis 5.5) in den Blick genommen werden werden. Darauf wird auf der Mikroebene eine Einführung in konkrete Unterrichtstechniken gegeben, wobei auch Hinweise auf Lexeme und Phraseme zur Unterrichtsgestaltung auf Französisch, Italienisch und Spanisch gegeben werden (jeweils zwei zweisprachige Glos‐ sare), gefolgt von einer subjektiven Auswahl von 20 Unterrichtsverfahren und -techniken für einen kommunikationsorientierten und nachhaltigen Fremdsprachenunterricht (Kap. 5.6). Das Kapitel wird von Hinweisen und Beobachtungsbögen für die Unterrichtsbeobach‐ tung beschlossen - und zwar mit Blick auf die Unterrichtsbeobachtung in Schulpraktika, mit Blick auf die Beobachtung des eigenen Unterrichts durch Prüfende und mit einem Ausblick auf die wissenschaftliche Unterrichtsbeobachtung (Kap. 5.7). 5.1 Taxonomien und Modelle der Unterrichtsgestaltung Bezogen auf die konkrete Unterrichtsgestaltung unterscheidet man häufig aus schulpäda‐ gogischer bzw. allgemein-didaktischer (vgl. oben Kap. 1.4.1) sowie aus fachdidaktischer Perspektive zwischen folgenden Bereichen, die hier in einem fünfstufigen Modell der Unterrichtsmethodik für den Fremdsprachenunterricht in einem allgemein-schulpädago‐ gischen Kontext zusammengeführt werden sollen: 1. Unterrichtskonzeptionen, sozusagen die methodische Makro-Ebene oder die „großen Methoden“ bzw. Konzeption auf schulpädagogischer und allgemein-didak‐ tischer Ebene wie Anschauungsunterricht, Gesamtunterricht, arbeitsschulmäßiger Unterricht, exemplarischer Unterricht, programmierter Unterricht, wissenschaftso‐ rientierter Unterricht, zielorientierter Unterricht, wertorientierter Unterricht, schü‐ lerorientierter Unterricht, offener Unterricht, kompetenzorientierter Unterricht (vgl. Schröder 1996, 108-154), 2. Unterrichtsprinzipien oder Unterrichtsgrundsätze als grundlegende, übergeordnete Orientierungen von Unterricht (z. B. Motivierung, Veranschaulichung, Aktivierung, 248 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="249"?> Differenzierung, Erfolgsbestätigung, Erfolgssicherung, vgl. Schröder 1996, 154-197, Glöckel 1990, 273-309, Wiater 2020a), die auch mit Qualitätsmerkmalen von Unter‐ richt zusammenfallen können (vgl. z.-B. Helmke 2017, bes. 168-271), 3. didaktisch-methodische Prinzipien des (Fremdsprachen-) Unterrichts. Daneben gibt es die Perspektive der 4. Organisation von Unterricht, die sich am besten in der Dy- oder Triade von Aktionsbzw. Arbeitsformen einerseits und Sozialformen andererseits, ggf. ergänzt um einzelne Formen offenen Unterrichts, beschreiben lässt. Nicht zuletzt werden für einzelne Unterrichtsschritte, sozusagen auf der Mikro-Ebene der Methodik, als 5. Unterrichtstechniken zu bezeichnende Verfahren benannt (z.-B. Lerntempoduett). Dabei entstehen jedoch Schnittmengen und die Zuordnung eines Unterrichtsverfahrens zu einem der genannten Bereiche ist nicht immer eindeutig, (aus schulpädagogischer Perspektive vertieft überblickend in jüngerer Zeit z. B. Baumgartner 2014, einführend vgl. auch Meyer 2020b ( 1 1987)): Die Bereiche (1) und (2) beschreiben fächerübergreifend wirkende Grundsätze auf schulpädagogischer und allgemein-didaktischer Ebene, die Be‐ reiche (3) bis (5) deren spezifische Ausgestaltung oder zumindest Wirkung auf Ebene des Fremdsprachenunterrichts. In den Methodenmodellen des Fremdsprachenunterrichts nach Richards/ Rodgers 1986 und Reinfried 2001 bewegen sich daher die Ebenen (1) und (2) außerhalb der fremdsprachendidaktischen Methodensphäre im engeren Sinn, wirken jedoch auf deren „approach“ bzw. Makroebene (und zwar insbesondere der hier Ebene (1) genannte Bereich) sowie auf deren „design“ bzw. Mesoebene (bes. die Ebene (2)) ein. Der hier Ebene (3) genannte Bereich, der an der Schnittstelle allgemein-didaktischer und fremd‐ sprachendidaktischer Grundprinzipien situiert ist, wirkt unmittelbar auf die Mesoebene fremdsprachendidaktischer Modellbildung ein, während sich (4) und (5) auf der Ebene der „procedures“ bzw. der Mikroebene der fremdsprachendidaktischen Methodenmodelle bewegen. Im Folgenden sollen, nach einem kurzen Einblick in die einschlägigen schulpädagogi‐ schen und allgemein-didaktischen Unterrichtskonzeptionen und -prinzipien (Kap. 5.2), vor allem die spezifisch fremdsprachendidaktischen Perspektiven auf Unterricht dargestellt werden. Dabei sollen besonders die Ebenen (3) (fremdsprachen-)didaktisch-methodische Prinzipien, (4) Organisationsformen von Unterricht und (5) Unterrichtstechniken für die systematische Beschreibung einer fremdsprachendidaktischen „Unterrichtsmethodik“ in den Fokus genommen werden (Kap. 5.3ff.). 5.1 Taxonomien und Modelle der Unterrichtsgestaltung 249 <?page no="250"?> 360 Stufenmodell der Unterrichtsmethodik für den Fremdsprachenunterricht vor allgemein-schulpädagogischem Hintergrund schulpädagogische / allgemeindidaktische Ebene Ebene 1: Unterrichtskonzeptionen z.B. Lehrer- und schülergesteuerter Unterricht Ebene 2: Unterrichtsprinzipien/ Unterrichtsgrundsätze (vgl. Qualitätsmerkmale von Unterricht), fundierende Unterrichtsprinzipien, z.B. Schülerorientierung regulierende Unterrichtsprinzipien, z.B. Differenzierung fachdidaktische Ebene Ebene 3: didaktisch-methodische Prinzipien des (Fremdsprachen-) Unterrichts z.B. Aufgabenorientierung Ebene 4: Organisation von Unterricht Aktions- und Arbeitsformen, Sozialformen, Formate offenen Unterrichts, z.B. Gruppenarbeit, Lernzirkel Ebene 5: Unterrichtstechniken z.B. One-Minute-Talk Abb. 45: Fünfstufiges Modell der Unterrichtsmethodik für den Fremdsprachenunterricht vor allge‐ mein-schulpädagogischem Hintergrund nach Reimann (eigene Darstellung) 250 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="251"?> 5.2 Schulpädagogische und allgemein-didaktische Perspektive: Unterrichtskonzeptionen, Unterrichtsprinzipien und Unterrichtsqualität Als gegenwartsorientierte Taxonomie der Unterrichtskonzeptionen der oben eingeführten Ebene (1) schlägt Werner Wiater vor (Wiater 2020a, 98-127): 1. Lehrergesteuerter Unterricht: 2. reformierter Frontalunterricht, 3. lehrgangsorientierter Unterricht, 4. lehrzielorientierter Unterricht, 5. wissenschaftsorientierter Unterricht. 6. Offener Unterricht: 7. materialgeleitetes Lernen/ Freiarbeit, 8. Wochenplanarbeit, 9. Lernzirkel/ Stationenlernen, 10. Werkstattunterricht, 11. gemeinwesenorientierter Unterricht. 12. Lehrer- und schülergesteuerter Unterricht: 13. Projektunterricht, 14. phänomen- und problemorientierter Unterricht, 15. wertorientierter Unterricht. 16. Schülergesteuerter Unterricht: 17. -- Lernen durch Lehren, 18. Referat, 19. Einzelarbeit, 20. individuell-autonomes Lernen. Die Unterrichtsprinzipien der oben genannten Ebene (2) wiederum unterteilt Wiater in fundierende (hier: Ebene 2.1) und regulierende Unterrichtsprinzipien (hier Ebene 2.2) und benennt dabei als fundierende Unterrichtsprinzipien (2.1): ● Schülerorientierung, ● Sachorientierung, ● Handlungsorientierung, ● Werteorientierung (Wiater 2020a, 131-133, Wiater 2020b, 22-31), sowie als regulierende Unterrichtsprinzipien (2.2): ● Selbsttätigkeit, ● Differenzierung (einschließlich Individualisierung und Kooperation), ● Veranschaulichung (einschließlich Digitalisierung), ● Motivierung, ● Ganzheitlichkeit und Mehrperspektivität, ● Zielorientierung und Zielverständigung, ● Strukturierung, 5.2 Schulpädagogische und allgemein-didaktische Perspektive 251 <?page no="252"?> ● Ergebnis- und Lernerfolgssicherung, Feedback und Nachhaltigkeit. (Wiater 2020a, 134-139, Wiater 2020b, 32-130) Zu Unterrichtsprinzipien werden häufig solche grundlegenden Orientierungen erhoben, die (ggf. empirisch begründet) als Merkmale von Unterrichtsqualität angenommen werden (allgemein einführend zur Unterrichtsqualität aus der Perspektive der Schulpädagogik und der Bildungswissenschaften vgl. z. B. Gröschner/ Kleinknecht 2013, Riecke-Bau‐ lecke/ Liebsch/ Jesper 2021, vertiefend z. B. Helmke 2017). Es hat in der Geschichte der Schulpädagogik und der allgemeinen Didaktik verschiedene „Kriterienkataloge guten Unterrichts“ gegeben. Jüngere Merkmalslisten basieren in der Regel auf Metastudien, die in Einzelstudien errechnete Effektstärken bestimmter Unterrichtsmerkmale im Hinblick auf verschiedene Zielvariablen bündeln (vgl. Seidel/ Shavelson 2007, Gröschner/ Kleinknecht 2013, 169). Eine mögliche Kritik daran ist, dass die aufgrund des Bezugs zu unterschiedlichen Unterrichtszielen errechneten Effekte nicht unmittelbar miteinander vergleichbar sind. Außerdem ist es ohnehin schwierig, aus Metastudien oder sogar Meta-Metastudien, die ganz verschiedene Einzelstudien einbeziehen, Schlüsse zu ziehen, da letztlich immer „Äpfel mit Birnen“ verglichen werden - im Falle internationaler Metastudien bleibt nicht zuletzt die extreme Feldgebundenheit eines jeden unterrichtlichen Lehr-/ Lernprozesses außen vor, aufgrund derer infolge anderer Lehr-/ Lerntraditionen ein- und dieselbe Unterrichts‐ methode selbst zwischen zwei verschiedenen Bundesländern zu unterschiedlich positiven Ergebnissen führen kann (von der Abhängigkeit von der jeweiligen Lerngruppe bzw. vom einzelnen Individuum ganz zu schweigen). ● Dennoch kann es zur Wahrnehmungsschulung gerade in der ersten Phase der Ausbil‐ dung hilfreich sein, sich solche „Kriterienkataloge guten Unterrichts“ als Koordinaten der eigenen Beobachtung und ggf. Unterrichtsplanung zu vergegenwärtigen. Bekannte Kriterienkataloge stammen von Hilbert Meyer (Meyer 2004, zuletzt 15 2020), Frank Lipowsky (2009) und Andreas Helmke (zuletzt 2017): Meyer 2020a Lipowsky 2020 - Helmke 2017 • klare Struktu‐ rierung • hoher Anteil echter Lern‐ zeit • lernförderli‐ ches Klima • inhaltliche Klarheit • sinnstiftendes Kommuni‐ zieren • Methodenviel‐ falt • individuelles Fördern • intelligentes Üben • Strukturiert‐ heit • inhaltliche Klarheit und Kohärenz • Feedback • kooperatives Lernen • Üben • kognitive Ak‐ tivierung • metakognitive Förderung • unterstüt‐ zendes Unter‐ richtsklima • innere Diffe‐ renzierung, Individualisie‐ - • effiziente Klas‐ senführung und Zeitnut‐ zung • Klarheit und Strukturiert‐ heit • Konsolidie‐ rung/ Siche‐ rung • Aktivierung • Motivierung • lernförderli‐ ches Klima • Schülerorien‐ tierung • Kompetenz‐ orientierung • Passung 252 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="253"?> Meyer 2020a Lipowsky 2020 - Helmke 2017 • transparente Leistungser‐ wartungen • vorbereitete Umgebung rung, forma‐ tives Assess‐ ment und scaffolding • lernwirk‐ samer Unter‐ richt für „Risi‐ koschüler“ • Umgang mit Heterogenität • Angebotsviel‐ falt Abb. 46: Merkmale guten Unterrichts (aktualisiert in Anlehnung an eine Tabelle in: Haag/ Streber 2013, 226) Als „Schnittmenge“ (in mindestens zwei der drei Listen genannt) fallen folgende Aspekte auf: ● Klarheit und Strukturiertheit, ● Klassenführung, ● Klima, ● Schülerorientierung und individuelle Förderung, ● Methodenwechsel, ● inhaltlich sinnvolles und kognitiv anspruchsvolles Üben und Wiederholen, ggf. ein‐ schließlich Hausaufgaben, ● Transparenz der Leistungserwartungen und Feedback. In den TIMSS-Studien seit 1995 (s. o., Kap. 4.2.1) wurden verschiedene schon damals vorliegende Kriterien in drei „Qualitätsdimensionen“ von Unterricht gebündelt, die sich auch gut als nochmals konzentrierte, prägnante Zusammenfassung der oben genannten Kriterien eignen: 1. Klassenführung und Strukturierung, 2. Schülerorientierung und Unterstützung, 3. Kognitive Aktivierung. Dabei ist unter „Klassenführung und Strukturierung“ eine störungspräventive Klassenfüh‐ rung im Sinne eines classroom management (aus fremdsprachendidaktischer Perspektive einführend z. B. Thaler 2014a) zu verstehen, bei der durch die Souveränität der Lehrkraft Störungen gar nicht erst aufkommen und der Unterricht daher effizient verläuft. Von zen‐ traler Bedeutung für die Störungsprävention ist dabei die Strukturierung des Unterrichts, und zwar sowohl im Hinblick auf die Inhalte als auch im Hinblick auf den Verlauf (z. B. Transparenz der Ziele, der Arbeitsschritte usw.). Gerade schwächeren Schülerinnen und Schülern kommt eine transparente Strukturierung zugute. „Schülerorientierung und Unterstützung“ beinhalten wiederum sowohl eine pädagogi‐ sche als auch eine didaktische Dimension: In pädagogischer Hinsicht ist ein „positives Lehrer-Schüler-Verhältnis“ (Gröschner/ Kleinknecht 2013, 171) gemeint, in didaktischer Hinsicht v. a. die Ausrichtung der Unterrichtsinhalte und der Methoden an den Bedürf‐ nissen der Lernenden. In diesem Zusammenhang sind auch die „[domänenspezifische] Diagnose von Lernschwierigkeiten“, der „[geduldige] Umgang mit individuellen Schwie‐ 5.2 Schulpädagogische und allgemein-didaktische Perspektive 253 <?page no="254"?> rigkeiten und Fehlvorstellungen“ (ebd.), das konstruktive Lehrerfeedback und Techniken des scaffolding im Sinne sukzessive zurückzunehmender kleinschrittiger Hilfestellungen (im Fremdsprachenunterricht beispielsweise von Redemitteln/ Sprachfunktionenlisten) be‐ deutsam. Mit „kognitiver Aktivierung“ ist gemeint, dass die von der Lehrkraft initiierten Arbeits‐ prozesse auf „ein eigenaktives und anspruchsvolles Lernen zielen und vertiefte Denkpro‐ zesse ermöglichen“ (Gröschner/ Kleinknecht 2013, 172; zu diesen Aspekten insgesamt vgl. Gröschner/ Kleinknecht 2013, 170-173, mit weiterführender Bibliographie, aus fremdspra‐ chendidaktischer Perspektive einführend vgl. Thaler 2014b). Für den Bereich des Fremdsprachenunterrichts sind nach wie vor die Ergebnisse der DESI-Studie (vgl. Kap. 4.2.1) grundlegend. Dort heißt es: In erfolgreichen Klassen ● kommen Schülerinnen und Schüler häufig zum Sprechen […] ● warten Lehrerinnen und Lehrer mindestens drei Sekunden auf Schülerantworten ● ist bei Unterrichtsgesprächen Englisch die überwiegende Unterrichtssprache ● erhalten Schülerinnen und Schüler Gelegenheit zur Selbstkorrektur ihrer Fehler ● gibt es vergleichsweise wenige „Ein-Wort-Sätze“ ● kommt es zu Lehrer-Schüler-Dialogen (mehrere Gesprächsstationen, über einfache Frage-Antwort-Sequenzen hinaus. (Helmke et al. 2008, 361, vgl. Wilden 2021, 214) Daneben liegt mit Prusse-Hess/ Prusse 2018 inzwischen eine Dokumentation vor, die ver‐ sucht, aus schriftlichen Experteninterviews mit Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern sowie erfahrenen Unterrichtspraktikerinnen und -praktikern (insgesamt 18, neun aus jeder der beiden Gruppen) Merkmale wirksamen Englischunterrichts zu eruieren. In Anlehnung an Thaler 2019 können aus diesem Projekt zehn Merkmale wirksamen Englischunterrichts, die für den Fremdsprachenunterricht insgesamt relevant sind, abgeleitet werden: ● hohe Sprachkompetenz der Lehrkraft, ● Methodenvielfalt, ● Balance zwischen offenen und geschlossenen Lernformen, ● differenzierte Arbeitsaufträge/ Aufgaben, ● Zielsprache als Unterrichtssprache, ● anspruchsvolle und kommunikationsfördernde Aufgaben, ● sorgfältige Unterrichtsplanung ● vielfältiger Medieneinsatz, ● bilingualer Sachfachunterricht, ● „[e]ine angemessene Repräsentation der Breite des Wissensgebiets“. (Thaler 2019, 5) Weitere Einblicke in Unterrichtsqualität aus (retrospektiver) Schülersicht bietet auf der Grundlage einer umfassenden Datenbasis die Dokumentation Butzkamm 2005 (vgl. auch Kap. 7.1). Darüber hinausgehend gibt Eva Wilden in ihrem Beitrag „Fachspezifische Aspekte der Unterrichtsqualität im Schulfach Englisch“ (Wilden 2021) einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Englischdidaktik, der aufzeigt, dass die fremdspra‐ chendidaktische Diskussion und Forschung zur Unterrichtsqualität insgesamt noch in den Kinderschuhen steckt. Insbesondere hebt sie die Erweiterung der „kognitiven Aktivierung“ 254 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="255"?> zur „kommunikativ-kognitivierende[n] Aktivierung“ nach Thaler 2014b bzw. generell die „kommunikative Aktivierung“ als ein Spezifikum des Fremdsprachenunterrichts hervor (Wilden 2021, 214, 216). Für den Unterricht der romanischen Sprachen darf angenommen werden, dass sich Unterrichtsqualität über die genannten, für Fremdsprachenunterricht insgesamt relevanten Kriterien gerade auch darin manifestiert, dass dem jeweiligen Ausbildungszug als 1., 2., 3. oder spät beginnende Fremdsprache Rechnung getragen wird. Insbesondere im Bereich der häufigen Position als 3. und spät beginnende Fremdsprache werden dann das Anknüpfen an strategisch-methodische Kompetenzen, insbesondere auch das sprachen‐ vernetzende Lernen und damit einhergehend eine steilere Progression zu Merkmalen von Unterrichtsqualität. Im Falle der spät beginnenden Fremdsprache tritt noch deutlicher die Integration eines noch niedrigen sprachlichen Niveaus mit einer fortgeschrittenen kognitiven Entwicklung der Lernenden etwa durch ansprechende und komplexe Inhalte, z. B. in überwiegend rezeptiv ausgerichteten Phasen, als ein entscheidendes Kriterium guten Unterrichts hinzu. 5.3 Fremdsprachendidaktische Perspektive: Didaktisch-methodische Prinzipien Als didaktisch-methodische Prinzipien speziell des Fremdsprachenunterrichts (vgl. die o. g. Ebene (3)) werden in verschiedenen Veröffentlichungen unterschiedliche Aspekte angeführt. Reinfried 2017c etwa benennt folgende sechs grundlegende „[d]idaktisch-methodische Prinzipien heute“: ● Handlungsorientierung, ● Lerner- und Prozessorientierung, ● Inhaltsorientierung, ● Aufgabenorientierung, ● Ganzheitlichkeit. (Reinfried 2017c, 74-84) Plikat 2018 postuliert folgende fünf „gegenwärtige Leitkonzepte“: ● Aufgabenorientierung, ● Bildungsanspruch und Inhaltsorientierung, ● Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik, ● Sprachbewusstheit, ● Heterogenität und Differenzierung. (Plikat 2018, 131-150) Weiterhin finden sich etwa bei Müller/ Rohling 2016 (29-35) folgende Prinzipien: ● Lernerorientierung, ● Kompetenz- und Outputorientierung, ● Handlungs- und Kommunikationsorientierung, ● funktionale Zwei- oder Mehrsprachigkeit. 5.3 Fremdsprachendidaktische Perspektive: Didaktisch-methodische Prinzipien 255 <?page no="256"?> Krechel 2016c (19-25) nennt seinerseits folgende Prinzipien: ● funktionaler Einsatz von Fremdsprache und Muttersprache, ● sensibler, flexibler und nachhaltiger Umgang mit Fehlern, ● Anwendungsorientierung, ● Aufgabenorientierung in Zusammenhang mit Outputorientierung, ● Schülerorientierung, ● Handlungsorientierung, ● Rituale. Steveker 2019 (23-48) nennt vier Prinzipien (Lerner-, Handlungs-, Prozess-, Standard‐ orientierung), wobei nur „Prozessorientierung“ über die bereits genannten hinausführt und Standardorientierung eine weitere Facette der Kompetenz- und Outputorientierung darstellt. Man erkennt bei einem Vergleich dieser fünf Veröffentlichungen, dass sich in der fremdsprachenmethodisch ausgerichteten Literatur überwiegend Grundprinzipien der Ebene (2) wiederfinden, die - auch auf bildungspolitische Veranlassung - unmittelbar auf den Fremdsprachenunterricht übertragen werden. (fremdsprachen-)didak‐ tisch-methodische Prinzi‐ pien (Ebene 3) Krechel 2016c Müller/ Rohling 2016 Plikat 2018 Rein‐ fried 2017c Ste‐ veker 2019 Lernerorientierung/ Schüler‐ orientierung X X - X X Differenzierung - - X - - nachhaltiger Umgang mit Fehlern X - - - - Handlungsorientierung X X - X X Kommunikationsorientie‐ rung - X - - - Anwendungsorientierung X - - - - Aufgabenorientierung X - X X - Kompetenzorientierung - X - - - Standardorientierung - - - - X Outputorientierung X X - - - Prozessorientierung - - - X X Inhaltsorientierung, Bil‐ dungsanspruch - - X X - funktionale Zwei- oder Mehr‐ sprachigkeit X X - - - Mehrsprachigkeit/ Mehrspra‐ chigkeitsdidaktik - - X - - 256 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="257"?> (fremdsprachen-)didak‐ tisch-methodische Prinzi‐ pien (Ebene 3) Krechel 2016c Müller/ Rohling 2016 Plikat 2018 Rein‐ fried 2017c Ste‐ veker 2019 Sprachbewusstheit - - X - - Ganzheitlichkeit - - - X - Rituale X - - - - Abb. 47: Aktuelle didaktisch-methodische Prinzipien (Ebene 3) des Fremdsprachenunterrichts in diversen Überblicksdarstellungen (eigene Darstellung) Solche Konzepte aufgreifend, aber um weitere Spezifika des Fremdsprachenunterrichts ergänzt haben die Lehrplankommissionen Französisch, Spanisch und Italienisch des Mi‐ nisteriums für Schule und Berufsbildung bzw. Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein in Zusammenarbeit mit dem Verfasser für die 2015-2018 verabschiedeten Lehrpläne (Fachanforderungen) jeweils zehn (Französisch, Spanisch) bzw. dreizehn (Italienisch) didaktisch-methodische „Leitlinien“ formuliert. Für Französisch und Spanisch sind dies: ● Kompetenzorientierung, ● Kommunikationsorientierung, ● Inhaltsorientierung, ● funktionale Einsprachigkeit, ● funktionale Fehlertoleranz, ● Kriterienorientierung, ● Authentizität, ● Individualisierung/ Differenzierung, ● Methodenvielfalt, ● Mehrsprachigkeitsschulung/ Sprachvernetzung. Für Italienisch - letztlich aber auch auf die anderen Sprachen übertragbar - wurden noch folgende Aspekte ergänzt bzw. nuanciert: „integrative Spracharbeit“ - gemeint ist hier eine Beachtung der Bedeutung der sprachlichen Mittel bei Anerkennung ihrer dienenden Funktion für die übergeordneten kommunikativen Fertigkeiten und Kompetenzen (mit im‐ plizitem Blick auf die besondere Situation der dritten und spät beginnenden Fremdsprache) -, „Lernen am anderen Ort“ - hier wird die Einbeziehung außerschulischer Lernorte einschließlich internationaler Kontakte besonders betont -, „Produktion“ und „Rezeption von Texten und Medien“, sowie „Selbständigkeit und Eigenverantwortung“ mit Blick auf die Entwicklung von Sprachlernkompetenz und auf lebenslanges Fremdsprachenlernen; im Bereich „Kommunikationsorientierung“ wird für Italienisch ein noch stärkerer Fokus auf Mündlichkeit gelegt als in den Lehrplänen für Französisch und Spanisch. An dieser Stelle sollen, die Leitlinien für Französisch und Spanisch ergänzend, die drei Bereiche aus den Fachanforderungen Italienisch in einen Gesamtkatalog integriert werden, die für den Fremdsprachenunterricht allgemein und den Unterricht der romanischen Sprachen im Besonderen im Sinne grundlegender Prinzipien als besonders relevant und im Vergleich zu 5.3 Fremdsprachendidaktische Perspektive: Didaktisch-methodische Prinzipien 257 <?page no="258"?> anderen Schulfächern als charakteristisch gelten dürfen. Hieraus ergeben sich insgesamt dreizehn didaktisch-methodische Grundprinzipien für den Unterricht der romanischen Schulsprachen in der ersten Hälfte des 21.-Jahrhunderts: Prinzip Erläuterung Kompetenzorientierung - Der Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht vermittelt fremdsprachliches, interkulturelles und methodisches Wissen und bietet vielfältige Gelegenheiten, dieses Wissen in Performanzsi‐ tuationen handelnd anzuwenden, wodurch die entsprechenden Kompetenzen entwickelt und gefördert werden. Die Unterrichts‐ planung stellt die angestrebten Kompetenzen ins Zentrum, z.-B. durch die Arbeit mit komplexen Lernaufgaben. Kommunikationsorien‐ tierung Zentraler Bestandteil des Französisch-/ Spanisch-/ Italienischun‐ terrichts ist der Ausbau der mündlichen Kommunikationsfähig‐ keit. Bei der Wahl der Unterrichtsmethoden ist daher darauf zu achten, dass ein möglichst hoher Sprechanteil der Schülerinnen und Schüler im Unterricht erreicht wird und sprachlich anspruchs‐ volle und inhaltlich adäquate Sprechanlässe geboten werden. Im Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht erfolgt tatsächliches Interagieren, das sich in einem zielgerichteten und kommunika‐ tionsbezogenen Gebrauch des Französischen/ Spanischen/ Italieni‐ schen manifestiert. Der Unterricht orientiert sich am Sprachge‐ brauch der alltäglichen Kommunikation, in der Sprechen und Hören dominieren. Dem Mündlichen wird daher der Vorrang vor dem Schriftlichen gegeben. Dies spiegelt sich im unterrichtlichen Geschehen, bei der Text- und Materialwahl, in den Aufgabenstel‐ lungen und bei der Leistungsbewertung wider. Inhaltsorientierung Der Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht stellt die Kom‐ munikation über Themen und Inhalte ins Zentrum; diese ergeben sich weitestgehend aus dem an der Schule eingeführten Lehrwerk, dessen Inhalte nur als Angebote zu verstehen sind, und orientieren sich an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Spracharbeit erfolgt stets integrativ; die sprachlichen Mittel erfüllen in diesem Sinne eine „dienende Funktion“. -Integrative Spracharbeit - Die sprachlichen Mittel (Wortschatz, Grammatik, Aussprache, Intonation, Orthografie) haben dienende Funktion. Sie sollten aus‐ gehend von situativ angelegten Sachinhalten prinzipiell induktiv erarbeitet werden. Da die Schülerinnen und Schüler bereits über Sprachlernstrategien verfügen, kann aber auch eine deduktivere Herangehensweise zur Erschließung sprachlicher Strukturen ge‐ winnbringend sein. Die sichere Beherrschung sprachlicher Mittel ermöglicht die erfolgreiche Realisierung von Kommunikationsab‐ sichten, wie sie typischerweise in alltäglichen sowie sach- und problembezogenen Kommunikationssituationen auftreten. Funktionale Einspra‐ chigkeit Der Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht orientiert sich am muttersprachlichen Vorbild. Bei der Vermittlung des Spa‐ nischen stehen das Kastilische und die lateinamerikanischen Varianten gleichberechtigt nebeneinander, wobei die Lehrkraft eine Norm konsequent anwendet. Unterrichtssprache ist Franzö‐ sisch/ Spanisch/ Italienisch. Die deutsche Sprache wird in Ausnah‐ mefällen zielführend eingesetzt, z.-B. bei methodenorientiertem Arbeiten. 258 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="259"?> Prinzip Erläuterung Funktionale Fehlertole‐ ranz Im Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht werden Fehler als Teil des Lernprozesses verstanden. Der Umgang mit ihnen erfolgt reflektiert und mit angemessenem, nach Lernstand und Anspruchsniveau differenziertem Vorgehen. Ziel ist primär die Aufrechterhaltung der Kommunikation, nicht die Fehlerfreiheit der Aussage. Zugleich erhalten die Schülerinnen und Schüler die für den Lernfortschritt erforderliche Orientierung. Kriterienorientierung Im Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht wird zwischen Lern- und Leistungssituationen unterschieden. Die Anforde‐ rungen in den Lernsituationen und bei der Überprüfung des Lern‐ zuwachses in mündlichen und schriftlichen Leistungssituationen sind an transparenten Kriterien ausgerichtet, zu deren Erreichen die Lehrkraft den Schülerinnen und Schülern im Sinne einer Lernhilfe explizit Rückmeldung gibt. Authentizität Im Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht begegnen die Schülerinnen und Schüler einer größtmöglichen Breite an al‐ tersgemäßen authentischen Texten im Sinne eines erweiterten Textbegriffs, ggf. in didaktisierter Form. Im Laufe der Sekundar‐ stufe I wird mindestens eine Lektüre behandelt. Die Lernsituati‐ onen werden auf der Basis anschaulicher Materialien möglichst lebensnah gestaltet. Der Einsatz von Materialien und Medien bietet Lerngelegenheiten für den selbstständigen, kritischen und kreativen Umgang mit ihnen. Lernen am anderen Ort - Außerschulische Lernorte und vorhandene internationale Kon‐ takte werden zielführend und unterstützend in den Unterricht eingebunden. Individualsierung/ Diffe‐ renzierung Der Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht berücksichtigt die Erkenntnis, dass Lernen ein individueller Aneignungsprozess ist. Er zielt auf die kognitive Aktivierung aller Schülerinnen und Schüler ab und berücksichtigt deren individuelle Lernvorausset‐ zungen. Dies bedingt die Vermittlung von fachbezogenen Lern‐ strategien und die Bereitstellung von differenzierten Lernhilfen. Methodenvielfalt Der Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht ist ein metho‐ disch vielfältiger Unterricht mit variablen Organisationsformen, in denen sich individuelle, kooperative und plenare Arbeitsphasen finden. Der Unterricht lässt auch Raum für offenes und fächer‐ übergreifendes Lernen. -Selbstständigkeit und Ei‐ genverantwortung - Die Schülerinnen und Schüler werden dazu befähigt, zunehmend Verantwortung für den eigenen Lernprozess und Spracherwerb zu übernehmen, und über die Sprache und den eigenen Sprachlern‐ prozess zu reflektieren. Selbstständigkeit und Eigenverantwor‐ tung zum lebenslangen Sprachenlernen werden gefördert. 5.3 Fremdsprachendidaktische Perspektive: Didaktisch-methodische Prinzipien 259 <?page no="260"?> Prinzip Erläuterung Mehrsprachigkeitsschu‐ lung/ Sprachvernetzung Der Französisch-/ Spanisch-/ Italienischunterricht nutzt Kennt‐ nisse und Fertigkeiten, die die Schülerinnen und Schüler bereits in weiteren Fremdsprachen erworben haben, zeigt Verbindungen zwischen Sprachen (auch verschiedenen Erstsprachen) auf, regt zu sprachenvernetzendem Lernen an und bereitet durch die Vermitt‐ lung von Strategiewissen auf das Erlernen weiterer Fremdspra‐ chen vor. Es wird grundsätzlich für Varietäten sensibilisiert. Abb. 48: Vorschlag dreizehn didaktisch-methodischer Prinzipien (Ebene 3) für den schulischen Un‐ terricht der romanischen Sprachen (auf der Grundlage von Ministerium für Schule und Berufsbildung 2015a und b, 17 f. bzw. 16 sowie Ministerium für Bildung, issenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein 2018, 13-15) 5.4 Unterrichtsplanung 5.4.1 Grundlagen der Unterrichtsplanung im Fremdsprachenunterricht Die Unterrichtsplanung orientiert sich in der Sprachaneignungsphase realistischerweise häufig am Lehrwerk, in der Oberstufe an den Rahmenthemen, die durch die Lehrpläne vorgegeben sind. Dabei ist für die Oberstufe darauf zu achten, dass ein enger umgrenztes Thema in der Regel nicht mehr als zwei bis drei, in Ausnahmefällen bis maximal vier Wo‐ chen lang bearbeitet werden sollte, um Überdruss und Langeweile seitens der Schülerinnen und Schüler zu vermeiden. Das Rahmenthema als solches kann aber durchaus auch mehr Zeit innerhalb eines Schulhalbjahres in Anspruch nehmen. In den meisten Fällen ergibt sich die Planung solcher Unterrichtsreihen - aber auch der Stoffverteilung in der lehrwerkgestützten Phase - weitgehend von selbst, d. h., man sollte von einer (Halb-)Jahresplanung ausgehen, bei der man den vorgesehenen Stoff (z. B. die vorgesehenen Rahmenthemen, aber auch die Zahl der zu behandelnden Lektionen in der Lehrwerkphase) auf die Zahl der Wochen eines Halbjahres verteilt. Von einer solchen (Halb-)Jahresplanung ausgehend kann man Wochenpläne erstellen, innerhalb derer dann Einzelstunden detailliert geplant werden können. Diese (Einzel-)Stundenplanung stellt vor allem Anfängerinnen und Anfänger vor große Herausforderungen - und bietet ihnen zugleich gerade in der Ausbildungs- und Berufseinstiegsphase eine wertvolle Stütze. 5.4.2 Aufbau einer Unterrichtsstunde und das Prinzip der Aufgabenorientierung Ganz vereinfacht gesprochen kann man häufig von einer Dreiteilung einer Unterrichts‐ stunde in eine Einführung, einen Hauptteil und einen Schluss ausgehen. Als Berechnungs‐ grundlage kann man den drei Teilen in einem ersten Schritt jeweils gleiche Zeitanteile beimessen, wobei Einführung und Schluss in der Regel etwas kürzer ausfallen werden und der Hauptteil entsprechend gedehnt wird. Im heute in verschiedenen Bundesländern häufig postulierten aufgabenorientierten Unterricht, aber auch in Phasen des offenen 260 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="261"?> Unterrichts kann eine Abweichung von diesem Grundschema angezeigt sein. Am Anfang der Ausbildungsphase kann ein solches Schema jedoch hilfreiche Orientierung leisten. Für die zeitliche Planung einer Unterrichtsstunde - aber auch für die inhaltliche Ausgestaltung - ist dann entscheidend, wie viele Minuten eine Unterrichtsstunde umfasst: traditionellerweise gehen die Stundentafeln für die Sekundarstufen noch immer von 45-Mi‐ nuten-Stunden aus, in einzelnen Bundesländern bzw. an einzelnen Schulen werden die Stundenpläne für die einzelnen Klassen aber z.-B. im Doppelstundenprinzip gestaltet oder der Schultag in 60- oder 67,5-Minuten-Stunden aufgeteilt. Dies eröffnet viele Möglichkeiten für Verfahren des offenen Unterrichts, des kooperativen Lernens usw., für die in klassischen 45-Minuten-Stunden häufig die Zeit fehlt, zugleich verringert es die Frequenz des Kontakts mit der Fremdsprache und die Zahl der möglichen häuslichen Nach- und Vorbereitungen (hier kommt weiterhin der Gestaltung des Schultags als Vormittags- oder Ganztagsschule eine für den Fremdsprachenunterricht nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu). Sieht etwa die Stundentafel nur drei Unterrichtsstunden pro Woche für eine Fremdsprache vor (was gerade im Fall der zweiten und dritten Fremdsprachen in vielen Bundesländern in mehreren Jahrgangsstufen der Fall ist), so heißt das, dass pro Woche 3 x 45, mithin 135 Minuten z. B. Französischunterricht vorgesehen sind. Im Falle eines grundlegend nach Doppelstunden organisierten Schulalltags kann dies z. B. zwei Doppelstunden in einer Woche und nur eine Doppelstunde in der jeweiligen Folgewoche bedeuten (z. B. „A-Woche“ und „B-Woche“ genannt, ein Prinzip, bei dem die Schülerinnen und Schüler wochenweise nach zwei unterschiedlichen Stundenplänen unterrichtet werden). D.h., jede zweite Woche hätten die Schülerinnen und Schüler nur eine Begegnung mit dem Französischen, was im Grunde nicht dem Wesen eines Kernfachs entspricht, sondern eher einem Kurs etwa der Erwachsenenbildung an einer Volkshochschule. Im Falle von 67,5-Minuten-Stunden, wie sie z. B. in Nordrhein-Westfalen nicht unüblich sind, haben die Schülerinnen und Schüler im oben beschriebenen Fall (formal drei Stunden pro Woche) jede Woche nur zweimal z. B. Französischunterricht (2 x 67,5 Minuten = 135 Minuten). Aus den - ohnehin schon wenigen - drei ursprünglich vorgesehenen Begegnungen mit der Fremdsprache pro Woche werden so regelmäßig nur zwei Begegnungen, was - bei aller Intensivierung, die durch die längere Dauer jeder Einzelstunde möglich sein mag - nicht besser ist als das Resultat des Doppelstundenprinzips: zwei Begegnungen wöchentlich bedeuten nur zweimal die Möglichkeit zu Input/ Intake und Output im Sinne etwa von Input- und Output-Hypothesen zum Fremdsprachenlernen (vgl. Band II, Kap. 2.1.5), aber auch nur zweimal Lerngelegenheiten durch Hausaufgaben etwa zum Vokabellernen - der Wortschatz muss so in jeweils größeren Portionen vermittelt und erlernt werden - und zur schriftlichen oder auch mündlichen Auseinandersetzung mit dem Lernstoff. Ganztagsschulbetrieb kann sich darüber hinaus insofern negativ auf fremdsprachliche Lernprozesse auswirken, als hier die Möglichkeiten zur häuslichen Nachbereitung häufig noch eingeschränkter sind (Konzentration und Kraft der Jugendlichen nach einem langen Schultag, teils formale Verbote von Hausaufgabenstellungen). Ähnlich gestaltet es sich beim 60-Minuten-Prinzip, das häufig derart ausgestaltet wird, dass einzelne Fächer in je einem Schulhalbjahr gar nicht oder - im Falle der Fremdsprachen - mit reduzierter Wochenstundenzahl unterrichtet werden, was auf längere Sicht den gleichen Effekt wie 5.4 Unterrichtsplanung 261 <?page no="262"?> 67,5-Minuten-Stunden mit sich bringt (weniger Begegnungen mit der Fremdsprache, weniger Gelegenheit zur häuslichen Nachbereitung über einen längeren Zeitraum hinweg). Fremdsprachenlehrkräfte - gerade auch der romanischen Sprachen - sollten also unbe‐ dingt darauf achten und sich auch politisch dafür einsetzen, dass die Stundenkontingente der zweiten und dritten sowie der spät beginnenden Fremdsprachen nicht weiter gekürzt werden - dann würde der Fremdsprachenunterricht an Schulen kaum mehr anderes bieten können als Kurse der Erwachsenenbildung, die für ihren Bereich natürlich einen wesentlichen Beitrag zum Bildungswesen leisten (s. u. Kap. 7.3.2.1). Über den politischen Aspekt der Stundentafeln hinaus sollten sich Lehrkräfte der romanischen Sprachen für die schulinterne Ausgestaltung des Schultages überlegen, ob sie die Vorteile längerer Stunden (60 Minuten, 67,5 Minuten, 90 Minuten) mit den daran gebundenen Nachteilen oder aber die Vorteile kürzerer Stunden mit den wiederum daraus resultierenden Nachteilen für gewichtiger einschätzen, und sich innerhalb der Schule entsprechend positionieren. - Vorteile Nachteile 45-Minuten-Stunde • häufigere Kontakte mit der Fremdsprache • öfter Hausaufgaben (bes. auch Wortschatz‐ lernen und -wieder‐ holen) • kürzere Dauer, Schwie‐ rigkeit, Formen koope‐ rativen Lernens und des offenen Unterrichts zeit‐ lich umzusetzen 60/ 67,5-Mi‐ nuten-Stunde/ Doppelstun‐ denprinzip -- • bessere zeitliche Mög‐ lichkeiten zur Umset‐ zung von Formen des kooperativen Lernens, des offenen Unterrichts und der Aufgabenorien‐ tierung • nur ein bis zwei Begeg‐ nungen mit der Fremd‐ sprache pro Woche • entsprechend nur ein bis zwei Mal häusliche Lerngelegenheiten Abb. 49: Vor- und Nachteile von 45-Minuten- und 60/ 67,5-Minuten-/ Doppelstunden im Fremdspra‐ chenunterricht (eigene Darstellung) Ein vereinfachtes, archetypisches Ablaufschema einer Unterrichtsstunde in der Sprach‐ aufbauphase (i. d. R. Lehrwerkphase) kann, ausgehend von einer klassischen 45-Mi‐ nuten-Schulstunde, etwa wie folgt aussehen: 262 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="263"?> 377 Aufbau einer Unterrichtsstunde in der Sprachaufbauphase Zeit Phase 0 - 15 0 - max. 5 ca. 5 - 15 Begrüßung, Anwesenheitskontrolle ggf. Einstieg, z.B. * motivierende Bild-Folie, kurzes Video als Sprechanlass zum Thema der Vorstunde * Mini-Maxi, handlungsorientierte Grammatikübung auf Folie, ggf. erst in Partnerarbeit, dann im Plenum Rechenschaftsablage * ggf. Abfrage, Stegreifaufgabe * Besprechung der Hausaufgabe 15 - 30 Neudurchnahme, oft: * (a) Wortschatz und Text oder * (b) Grammatik bei (a) Semantisierung ausgewählter Wörter des Textes, Präsentation des Textes als Hör- oder Leseverstehen, etappenweise Erschließen des Textes, vom Globalzum Detailverstehen, ggf. Semantisierung weiterer Wörter/ Erschließen weiterer Wörter durch die Schüler, Transferphase/ Aufgaben: Umsetzung als Rollenspiel, Weiter-/ Umschreiben usw. bei (b) (im Grunde auch bei (a), doch bei (b) deutlicher nachvollziehbar): vgl. Phasenmodell des kognitivierenden Sprachunterrichts nach Zimmermann Präsentation / Erarbeitung => Übung / Kognitivierung => Transfer => Anwendung daher: fließender Übergang in die dritte große Phase der Stunde: 30 - 45 Transfer und Anwendung: Aufgaben z.B. (a) Umsetzung eines Textes als Rollenspiel (in Gruppen), Weiter-/ Umschreiben des Textes (in Partnerarbeit) (b) Entwicklung eines Rollenspiels/ Textes unter Berücksichtigung aus der Neudurchnahme hervorgehender sprachlicher „contraintes“ (aber: Inhaltsorientierung focus on content! ) Stellung der Hausaufgabe (schriftlich an der Tafel ! ) Wünschenswert: Abrundender Schluss (z.B. Folie o.Ä.) Abb. 50: Vereinfachtes Ablaufschema einer Unterrichtsstunde in der Sprachaufbauphase (eigene Darstellung) Legt man die oben angesprochene Dreiteilung einer Stunde zugrunde, würden für jeden der drei Teile ca. 15 Minuten zur Verfügung stehen (so ist es in einem ersten Schritt in der Tabelle vermerkt). Es kann aber durchaus sinnvoll sein, für den Hauptteil, in dem die Neudurchnahme erfolgt, und/ oder für den abschließenden Teil, in dem Transfer und/ oder 5.4 Unterrichtsplanung 263 <?page no="264"?> Anwendung erfolgen, mehr Zeit einzuplanen. Man sollte also - gerade als Anfänger/ in - darauf achten, dass der einleitende Teil maximal 15 Minuten umfassen (Ausnahme: etwas ausführlicherer unangekündigter Test/ Stegreifaufgabe), und man sich keinesfalls in der Einstiegsphase verlieren sollte. Die Einstiegsphase soll motivierend und ansprechend, aber immer zielführend und eben zeitlich kompakt ausgestaltet werden, um direkt zum Hauptteil der Stunde zu führen. Ein weiterer grundlegender Hinweis für angehende Lehrkräfte kann sein, dass das Ziel der Stunde unbedingt erreicht und das Ende für die Schülerinnen und Schüler erkennbar abgerundet sein sollte. Die Stellung der Hausaufgabe sollte noch vor Erklingen des Gongs/ der Schulglocke als Zeichen des Stundenendes erfolgen. Zu diesem Zweck wird man sich bei der Stundenplanung gerade als Anfänger/ in immer auch Gedanken machen und auf der schriftlichen Unterrichtsvorbereitung markieren, an welchen Stellen man ggf. eine Aktivität streichen kann, um zu einer abgerundeten Stunde und einem pünktlichen Stundenende zu gelangen. Fatal wäre beispielsweise, wenn eine Stunde mit der Neudurchnahme, schlimmer noch, mitten in der Neudurchnahme, enden würde, ohne dass wenigstens eine einmalige Einübung des neu zu Erlernenden stattgefunden hätte. Unschön ist, wenn die Hausaufgabenstellung erst nach dem Stundensignal erfolgt; dies kann z. B. zur Folge haben, dass die Hausaufgabenstellung bzw. das vorgesehene Stundenende insgesamt „untergeht“, d.-h., nicht mehr von allen Schülerinnen und Schülern wahrgenommen wird. Unter Beachtung dieser Hinweise könnte eine auf der Grundlage des oben stehenden Schemas geplante Stunde in der Sekundarstufe I, aber auch in der spät beginnenden Fremdsprache in der Sekundarstufe II, etwa wie folgt verlaufen: Auf die Begrüßung folgt eine Anwesenheitskontrolle; diese wird sich in der Sekundarstufe I häufig auf einen Blick ins Klassenbuch und die dort verzeichneten Absenzen im Abgleich mit der Anwesenheit im Klassenraum beschränken können, in der Oberstufe zunehmend den Charakter einer echten Anwesenheitskontrolle annehmen. Vor allem aber zeichnet sich die erste Phase dadurch aus, dass man mit einem motivierenden Einstieg die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf das aktuelle Fach und auf das Thema der Vorund/ oder der aktuellen Stunde lenkt. Dies kann z. B. durch eine Realie, durch eine Bildfolie, durch ein über Beamer bzw. das interaktive Whiteboard projiziertes Bild oder auch durch ein kurzes Video - mit oder ohne Ton - geschehen. Hierdurch soll die Aufmerksamkeit fokussiert und ein erster Sprechanlass geschaffen werden. Will man unter den Vorzeichen der Mündlichkeit in den ersten Minuten möglichst vielen Schülerinnen und Schülern einen Sprechanlass bieten, ist es denkbar, einen entsprechenden Input zunächst in Partnerarbeit besprechen zu lassen, bevor das Unterrichtsgespräch wieder ins Plenum überführt wird. Gerade im absoluten Anfangsunterricht, wenn freies Sprechen ausgehend von einem bloßen Impuls noch kaum möglich ist, bietet es sich an, mit sprachliche Hilfe bietenden Maßnahmen des scaffolding zu arbeiten, also z.-B. vorstrukturierten Textbausteinen. Alternativ oder ergänzend sind auch andere kurze Aktivitäten zum Stundeneinstieg denkbar, wie etwa „Mini-Maxi“, eine Art Reizwortgeschichte bzw. -dialog, bei der bzw. dem einzelne Stichwörter (v. a. Lexeme des für die fragliche Stunde zu wiederholenden bzw. zu erlernenden Wortschatzes) an Tafel, Beamer oder Whiteboard, verteilt auf die zwei oder drei Rollen eines den Schülerinnen und Schülern aus der Vorstunde bekannten Dialogs, vorgegeben werden und der Dialog so reproduziert werden soll (vgl. z. B. ISB 2005, 173); oder auch Verfahren handlungsorien‐ 264 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="265"?> tierter Grammatikarbeit, bei der in einem vorstrukturierten Dialog mehr oder weniger Lücken gelassen werden (vgl. z. B. Leupold 2002, 132). Auch diese Aktivitäten können erst ca. drei bis fünf Minuten in Partner- oder Kleingruppenarbeit vorbereitet werden, bevor z. B. drei Paarungen ihre Lösungen im Plenum vortragen. Es gibt auch Ansätze, solche kommunikativen Stundeneinstiege, bei denen alle Schülerinnen und Schüler auf jeden Fall schon einmal zum Sprechen gebracht werden, als eine Art Ritual an den Beginn der Stunde und vor den eigentlichen Einstieg in die Stunde zu stellen, ohne dass ein inhaltlicher Bezug zur folgenden Stunde bestehen muss (z. B. Azadian 2016, 21). Hier ist vor allem der Zeitfaktor zu bedenken, d. h., bei einer 60- oder 67,5-Minuten-Stunde lässt sich das leichter realisieren als in einer 45-Minuten-Stunde. Nach dem unmittelbaren Einstieg in die Stunde erfolgt die z. B. in Bayern so genannte Rechenschaftsablage, d. h. das Aufgreifen des Stoffes der Vorstunde in Form einer Bespre‐ chung von Hausaufgaben und ggf. die Evaluation von Leistungen einzelner Schülerinnen und Schüler oder der gesamten Lerngruppe. Neben der Besprechung der schriftlichen Hausaufgabe ist hier die benotete „Abfrage“, „Ausfrage“ usw. - je nach schulrechtlichen Voraussetzungen im fraglichen Bundesland und nach Vereinbarungen in der jeweiligen Schule und/ oder Fachschaft - etwa zu dem Wortschatz, der für die fragliche Stunde zu wiederholen war, oder auch ein kurzer, unangekündigter Test (z. B. „Stegreifaufgabe“, „Extemporale“) denkbar. Außer im letztgenannten Fall (hier wird man realistischerweise häufig bereits etwa in der 20. Minute angelangt sein, kann dabei freilich unter Umständen auf die oben beschriebene Einstiegsphase verzichten), sollte man anstreben, spätestens ab der 15. Minute mit der Neudurchnahme zu beginnen, damit für diese und die anschließende Einübung, idealerweise auch den Transfer ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Die Neudurchnahme stellt in gewisser Hinsicht den Kern einer jeden Unterrichtsstunde dar, es sollte in der Regel auch nur ein neues Thema im Zentrum einer Stunde stehen, auch wenn man als Anfängerin/ Anfänger bisweilen dazu tendiert, den Schülerinnen und Schülern im Einzelfall vielleicht sogar zwei kleine neue Aspekte zuzumuten. Im Sinne einer solchen Konzentration wird man in der Sprachaufbau- oder Lehrwerkphase, bei einer häufig noch immer üblichen Trennung von Wortschatz und Grammatik, in der Regel entweder eine Neudurchnahme von Wortschatz oder eine Neudurchnahme von Grammatik zum zentralen Thema der Stunde machen, wobei Wortschatz sinnvollerweise und häufig mit der Neudurchnahme eines Lehrbuchtextes verbunden werden kann (vgl. (a) und (b) im Schema). Im Falle von (a) wird man in der Regel in folgenden Schritten vorgehen: (a.1) Semantisierung ausgewählter Wörter des neu durchzunehmenden Textes: Erfahrungs‐ gemäß neigen Anfängerinnen und Anfänger dazu, zu viele Wörter vorab einzuführen, was einerseits zu viel Zeit in Anspruch nimmt, andererseits von den Schülerinnen und Schülern ohnehin nicht kurzfristig verarbeitet werden kann (vgl. zum so genannten Arbeitsgedächtnis Band II, bes. Kapitel 1.2.8). Eine Konzentration auf fünf „plus/ minus zwei“ Wörter reicht erfahrungsgemäß oft aus. Als Auswahlkriterien kann man ansetzen: Welche Wörter 1.) sind für das Verständnis des Textes unabdingbar UND 2.) können von den Lernenden nicht aus der Zielsprache selbst (intralingualer Transfer) oder aus einer anderen ihnen bekannten Sprache (interlingualer Transfer) abgeleitet werden? Wenn man den neu durchzunehmenden Text oder Textabschnitt und den entsprechenden Lernwortschatz 5.4 Unterrichtsplanung 265 <?page no="266"?> daraufhin kritisch untersucht, wird man sehr häufig auf die oben genannte Zahl von nur etwa fünf vorab zu klärenden Wörtern gelangen. Auch bei den Verfahren der Semantisie‐ rung gilt bisweilen: „weniger ist mehr“. Natürlich gibt es eine verlockend große Zahl attraktiver, auch zeitaufwändiger, Verfahren der Semantisierung von Wortschatz (vgl. z. B. Band II, Kap. 3.3), doch müssen nicht alle Verfahren in einer Stunde zum Tragen kommen. Mitunter - wenn etwa eine grundsätzlich erstrebenswerte einsprachige Semantisierung im Anfangsunterricht nicht möglich ist - kann auch eine Zuhilfenahme der unterrichtlichen Metasprache Deutsch aus lern- und zeitökonomischen Gründen sinnvoll sein. (a.2) Präsentation und Erarbeitung des Textes als Hör- oder Leseverstehen, je nachdem, welche Kompetenz man in der fraglichen Unterrichtseinheit fördern möchte (s.-o. Jahres-, Halbjahres-, Wochenplanung), mithilfe der entsprechenden Verfahren (vgl. Band II, Kap.4.3 bzw. 4.4), tendenziell vom Globalzum Detailverstehen. Währenddessen oder im Anschluss erfolgt ggf. die Semantisierung weiterer Wörter, idealerweise als Autosemantisierung durch die Schülerinnen und Schüler selbst. Im Falle von (b) wird man sich häufig auf die Neudurchnahme des fraglichen Grammatik‐ phänomens beschränken, um den Rahmen einer Unterrichtsstunde nicht zu sprengen. Wenn das entsprechende Phänomen nicht absolut verständnisrelevant ist, wird sich eine nach der Variante (b) ausgestaltete Stunde häufig an die erste Begegnung mit Wortschatz und Text nach (a) anschließen. Ist das Phänomen für das Textverständnis essentiell, kann man ggf. für die Rezeption erforderliche Hinweise vorab geben und dann in einer Folgestunde entsprechend (b) vertiefen. Bei der Neudurchnahme von Grammatik kann man sich noch immer am Ablaufschema des sog. kognitivierenden Fremdsprachenunterrichts nach Zimmermann (vgl. Zimmermann 1977, Zimmermann 1988) orientieren, d. h., auf eine Begegnung mit dem neuen Phänomen, die auch induktiv und durch die Schülerinnen und Schüler erschließend erfolgen kann, und eine weiterführende, verständnissichernde Erarbeitung wird in vielen Fällen zunächst eine Phase der formorientierten Einübung folgen. Sei es bei der Präsentation, sei es bei der Einübung, wird sodann häufig auch eine Kognitivierung im Sinne einer Regelvermittlung erfolgen, die etwa im Grammatikheft oder -hefter von den Schülerinnen und Schülern fixiert wird (vgl. Band II, Kap. 3.4). Sowohl in einer nach Variante (a) als auch in einer nach Variante (b) strukturierten Stunde sollte anschließend eine Phase des Transfers und der Anwendung folgen, in denen die Schülerinnen und Schüler zu produktivem Sprachhandeln - gerade auch mündlich - geführt werden. Dies sollte idealerweise spätestens ab Minute 30 erfolgen. Sofern dies z. B. wegen einer längeren Textdurchnahme nicht möglich ist, sollte z. B. darauf geachtet werden, dass wenigstens eine kurze Phase der exemplarischen Produktion folgt und in einer der Folgestunden produktiver Transfer und Anwendung unbedingt im Zentrum der Stunde stehen. Eine typische Transferphase würde etwa die Umsetzung eines Textes als Rollenspiel, gerade auch in Kleingruppen, oder das Weiter-/ Umschreiben eines Textes in Partnerarbeit vorsehen (vgl. Band II, Kap. 4.3.1.4ff., 4.4.4ff., 4.5.3ff., 4.6.6ff. zu Aktivitäten des Hörens, Lesens, Sprechens und Schreibens sowie Band III, Kap. 3.3.2f., 3.4, zu Verfahren der Textarbeit). Im Fall einer Stunde mit dem Schwerpunkt (b) könnte diese produktive Aktivität um den Auftrag ergänzt werden, ein bestimmtes sprachliches, v. a. grammatika‐ 266 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="267"?> lisches, Phänomen in einer bestimmten Anzahl von Fällen in den zu erstellenden Text zu integrieren. Für die Endphase der Stunde, die nicht länger als zwei bis vier Minuten dauern muss, aber, wie oben angedeutet, unbedingt vor dem Stundensignal erfolgen sollte, ist vor allem die Stellung einer Hausaufgabe, idealerweise auch ein abrundender Schluss vorzusehen. Die Stellung der Hausaufgabe - häufig drei bis fünfteilig - sollte unbedingt schriftlich an der Tafel erfolgen, um sicherzustellen, dass alle Lernenden die Hausaufgabe zur Kenntnis nehmen und gerade in der Sekundarstufe I auch in ihr persönliches Hausaufgabenheft übertragen. Eine Hausaufgabe in der Lehrbuchphase kann z. B. folgende Punkte umfassen: 1. Wiederholung Wortschatz Seiten xxx-yyy im Wortschatzverzeichnis (ca. 4 Seiten, kontinuierlich, von Anfang bis zur jeweils aktuellen Seite, dann von vorne begin‐ nend, ggf. als Gegenstand einer benoteten Wortschatz-Abfrage in der Folgestunde). 2. Lernen Wortschatz Seite zzz, von Wort x bis Wort y 3. Wiederholendes Lesen (z. B. mit Ziel des lauten Lesens im Anfangsunterricht) des Texts Seite X ODER Lernen Grammatikneudurchnahme im Grammatikheft, bzw. im grammatischen Beiheft zum Lehrwerk S. X, § Y 4. Schriftlich Aktivität(en) Seiten XYZ, Nr. a, b, c (je nach Länge) im Lehrbuch oder häufig auch im lehrwerkbegleitenden Arbeitsbuch bzw. eine kurze schriftliche oder auch mündliche (z.-B. aufzunehmende) Textproduktion. Die kontinuierliche, auch abstrakte Wiederholung von Wortschatz im Rahmen der Haus‐ aufgabe und deren regelmäßige Überprüfung ist für eine gesicherte Fremdsprachenaneig‐ nung sinnvoll. Nach Stellung der Hausaufgabe kann idealerweise ein abrundender Schluss erfolgen, der etwa in einem Bild, das einen kurzen Gesprächsanlass bietet, oder in einer Karikatur, usw. das Thema der Stunde nochmals abschließend aufgreift. In besonderen Fällen ist auch denkbar, hier Kurioses aus der Sprachgeschichte zu berichten, exemplarische Etymologien aufzuklären usw. Als Anfängerin/ Anfänger kann man sich darüber hinaus als so genannte „didaktische Reserve“ oder umgangssprachlich als „Puffer“ auch eine weitere Aktivität notieren, die man am Ende der Stunde in dem Falle durchnehmen könnte, dass man mit den anderen Aktivitäten schneller fertig ist als geplant. Dies kommt bei einer guten Planung gerade bei 45-Minuten-Stunden eher selten vor (anders sieht es etwa bei Doppelstunden aus, die in ihrem Gesamtverlauf weniger minutengenau planbar sind). Der häufigere Fall ist sicherlich wie oben beschrieben der, dass man sich zu viel vornimmt oder aber die - oft wirklich auch unvorhersehbar - auftretenden Schülerfragen, Störungen z. B. durch Durchsagen etc. in ihrem Umfang nicht absehen konnte usw. Dennoch vermittelt es einem als Anfänger/ in ein Gefühl der Sicherheit, wenn man weiß, was man noch tun könnte, wenn man „zu viel Zeit“ hätte. Der beschriebene Stundenablauf kann Anfängerinnen und Anfängern eine Orientierung geben, um Stunden zu beobachten und eigene Stunden zu planen. Es ist sinnvoll, in der Praxis der Wochenplanung von diesem Grundschema abzuweichen und sich zu vergegen‐ 5.4 Unterrichtsplanung 267 <?page no="268"?> wärtigen, ob der Schwerpunkt der Stunde im Bereich der Erarbeitung, der Einübung oder der Anwendung/ des Transfers liegen soll. Entsprechend würde sich folgende Grobstruktur der Stunden anbieten (ausgehend von/ in Anlehnung an Azadian 2016, 21): Erarbeitungsstunde Übungsstunde Anwendungs-/ Transferstunde Erarbeitung neuer Inhalte, Texte, sprachlicher Struk‐ turen usw. Festigung des Erarbeiteten in komplexeren Übungszusam‐ menhängen Anwendung von Fertig‐ keiten und Kompetenzen in sinnvollen Kontexten (vgl. Lernaufgaben) (ggf. kommunikativer Stundeneinstieg, unabhängig vom eigentlichen Thema der Stunde, s.-o.) Einstieg Erarbeitung - - Anwendung/ Transfer Sicherung - Übung (steigende Progression) - Präsentation Übung - - Evaluation Sammlung von Ergebnissen - Würdigung - Kurzreflexion - Ausblick - Stellung der Hausaufgabe - Abb. 51: Unterschiedliche Grobstruktur von Stunden mit verschiedenem Schwerpunkt (Erarbei‐ tungs-, Übungs- und Anwendungs-/ Transferstunden) im Fremdsprachenunterricht (ausgehend von/ in Anlehnung an Azadian 2016, 21) Grundsätzlich werden Aspekte der Stundenkonzeption - ggf. auch mit abweichenden Vorgaben - vertieft in der zweiten Phase der Lehrerausbildung an den Studienseminaren, Zentren für schulpraktische Lehrerbildung usw. vermittelt. So wird z. B. heute häufig der so genannte „aufgabenorientierte Unterricht“ postuliert, der grundsätzlich ein anderes Ablaufschema vorsieht. Hier wird idealtypischerweise die Bewältigung einer konkreten Aufgabe (im Grunde häufig vergleichbar mit der früheren Transfer- oder Anwendungs-Ak‐ tivität am Ende der Sequenz) an den Anfang einer Unterrichtseinheit gestellt und als Ziel formuliert, so dass die Lernenden idealerweise selbst erkennen, dass bestimmte, neu anzueignende sprachliche Mittel und Kompetenzen erforderlich sein werden, um die Aufgabe zu bewältigen (das „? “ im folgenden Schema). In vielen Fällen werden dann, gerade im schulischen Kontext, auch im aufgabenorientierten Fremdsprachenunterricht die explizite Präsentation und/ oder Erarbeitung neuen Sprachmaterials, vor allem aber eine formbezogene Übungsphase notwendig sein, bevor die Aufgabenbewältigung tatsächlich möglich ist. Während das traditionelle Ablaufschema des kognitivierenden Fremdspra‐ chenunterrichts eher dem lehrerzentrierten Paradigma der Instruktion zuzuordnen ist, will aufgabenorientierter Unterricht dezidiert lernerorientiert und konstruktivistisch sein (vgl. z. B. Manno 2012, 129 f., Bär 2013b, 9). Es zeigt sich allerdings, dass Postulate der Aufga‐ 268 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="269"?> benorientierung - ein Konzept, das wie viele alternative Methoden in Kontexten entwickelt wurde, in denen die Zielsprache des Fremdsprachenunterrichts auch Umgebungssprache ist - sinnvollerweise nur bedingt auf schulische Kontexte in anderssprachigen Gebieten (hier z. B. auf Französischunterricht in Deutschland) übertragen werden können. Echte, zumal die häufig geforderten „komplexen“, Lernaufgaben im Sinne der anglophonen task-Konzepte (bes. z. B. Willis 1996) sind bei genauerem Hinsehen im Anfangsunterricht nur schwer zu bewältigen, im Unterricht mit fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern impliziert andererseits z.-B. Projektlernen in der Regel ohnehin auch die Bewältigung von (Lern-)Aufgaben. Die Binnenstruktur aufgabenorientierter Unterrichtseinheiten gerade für den Unterricht der Sprachaufbauphase ähnelt also häufig durchaus der des traditionellen kognitivierenden Fremdsprachenunterrichts (vgl. auch Band II, Kap. 3.4 zur Grammatik, bes. Kap. 3.4.5). Abb. 52: Kognitivierender und aufgabenorientierter Fremdsprachenunterricht im Vergleich (eigene Darstellung) Bei der Aufgabenorientierung (Französisch l’approche par les tâches, Spanisch el enfoque por tareas, Italienisch l’approccio basato sui compiti/ l’approccio per compiti) handelt es sich um ein grundlegendes didaktisch-methodisches Prinzip (vgl. Kap. 5.3), das v. a. seit den 1980er, schwerpunktmäßig seit den 1990er Jahren im anglophonen Raum entwickelt wurde (vgl. z. B. Nunan 1989, Willis 1996, Ellis 2003). Es versteht sich als konsequente Fortführung der kommunikativen Methode (vgl. z. B. Mertens 2017, 9, Bechtel/ Rein-Sparenberg 2020, 85) unter lernerorientierten, konstruktivistischen Vorzeichen. Die Aufgabenorientierung wurde vor allem seit den 2000er Jahren auch für den deutschsprachigen Fremdsprachen‐ unterricht intensiv rezipiert, einerseits, weil sie im GeR von 2001 eine zentrale Position einnimmt (vgl. z. B. Leupold 2007a, 38), andererseits, weil sie als hochgradig kompatibel mit 5.4 Unterrichtsplanung 269 <?page no="270"?> dem Prinzip der Kompetenzorientierung im Sinne der Bildungsstandards gilt (einführend z. B. Hallet 2011, bes. 145-163, Manno 2012, Bär 2013b, Mertens 2017, vgl. Themenhefte wie Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 84, 2006 (Task-based language learning), Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 96, 2008 (Themenheft Lernaufgaben konkret), Der fremdsprachliche Unterricht 41, 2013 (Themenheft Lernaufgaben), Praxis Fremdspra‐ chenunterricht 4, 2013 (Themenheft Aufgaben konstruieren); umfassendere Einführungen in monographischer Form bzw. in Sammelbänden sind z. B. Hallet/ Krämer 2012 zum Englischen und Lücke/ Hobbelink 2018 zum Niederländischen, speziell zu den romanischen Sprachen vgl. Tesch 2010 zum Französischen, Bär 2013a zum Spanischen, Bechtel 2015a zum Französischen und Spanischen sowie Hirzinger-Unterrainer 2023 zum Italienischen). Vereinfacht und grundlegend formuliert ist eine Lernaufgabe (Französisch la tâche, Spanisch la tarea, Italienisch il compito) eine ● komplexe Aktivität, die ● sprachliches Handeln im Sinne eines zielgerichteten Einsatzes der Sprache zur Lösung eines Problems verlangt und idealerweise einen ● Bezug zur außerschulischen Lebenswirklichkeit verlangt und dabei sprachliche Lernprozesse befördert (vgl. z. B. Leupold 2008, 4 f.). Für die Definition essentiell ist dabei auch, dass das ● Ziel der Aufgabe von vornherein bekannt ist (sog. „Zielaufgabe“). Daniela Caspari formuliert in Anlehnung an Thonhauser 2010 drei „Kernelemente“ von Lernaufgaben, die verschiedene Konzeptionen von Lernaufgaben (s. u.) gemeinsam ist und die im Wesentlichen die genannten Kriterien widerspiegeln: 1. Lernaufgaben werden von den Schülerinnen und Schülern als authentisch, als relevant oder zumindest als interessant wahrgenommen. Das geschieht vor allem dadurch, dass sie kommunikative Situationen schaffen und Aktivitäten verlangen, die in der realen Welt vorkommen könnten, bzw. echte Kommunikation zwischen den Schülerinnen und Schülern anstoßen. 2. Lernaufgaben stoßen sprachliche Lernprozesse an, die für die Bewältigung der Aufgabe notwendig sind. Das bedeutet, dass die Aufgaben nicht mit dem bei den Schülerinnen und Schülern bereits vorhandenen sprachlichen Wissen und Können (sprachliche Strukturen, Lexik und Redemittel, Textsortenwissen etc.) und neue oder verbesserte (Teil-)Kompetenzen und Strategien benötigen. 3. Lernaufgaben verlangen ein greifbares Endergebnis, ein Produkt. Dabei kann es sich um in Hinblick auf die Textsorte ganz unterschiedliche Ergebnisse handeln: von einer Rede über ein Interview oder eine Podiumsdiskussion bis zu einer Klangcollage, von einem Blogeintrag über einen Bericht oder einen Zeitungsartikel bis hin zu einem Drehbuch, von einer Broschüre über einen Hypertext bis hin zu einer Filmepisode. (Caspari 2019, 216) In ihrem einführend-überblickenden Beitrag über verschiedene Konzeptionen der Aufga‐ benorientierung erfasst und vergleicht Daniela Caspari folgende fünf „Konzepte von Lernaufgaben“: 270 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="271"?> ● Framework von Willis (1996), ● Szenariendidaktik von Piepho (2003/ 2005), ● Kompetenzorientierte Lernaufgaben des IQB (2008 ff.), ● Lernaufgabenparcours von Leupold (2008), ● Lernaufgabenzirkel von Schinke/ Steveker (2013), ● Komplexe Kompetenzaufgabe von Hallet (2013). (Caspari 2019, 216-224) Im deutschen Kontext besonders wirkmächtig sind aus heutiger Sicht die Konzeptionen der „kompetenzorientierten Lernaufgabe“ (IQB) und der „komplexen Kompetenzauf‐ gabe“ (Hallet) einerseits sowie Lernaufgabenparcours (Leupold) und Lernaufgabenzirkel (Schinke/ Steveker) andererseits. Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humbold-Universität zu Berlin hat in den 2000er Jahren das Konzept der „kompetenzorientierten Lernaufgaben“ vorgeschlagen, welche die Förderung einzelner, isolierter (z. B. Schreiben) oder auch integrierter Kompetenzen (z. B. interaktionale Kom‐ petenz, Sprachmittlung) fokussieren (einführend z. B. Caspari/ Kleppin 2008 mit zahlreichen Beispielen, Caspari/ Grotjahn/ Kleppin 2010, hier bes. 49; letztgenannter Beitrag enthält auch detaillierte Ausführungen zu Funktionen und Gütekriterien von Lernaufgaben (50- 54)). Wolfgang Hallet hat seinerseits den Begriff der „komplexen Kompetenzaufgabe“ vorgeschlagen, mit dem er über den eher funktional angenommenen fremdsprachlichen Kompetenzbegriff hinaus den komplexen Kompetenzbegriff nach Weinert (vgl. Kap. 4.2.1) und die von ihm postulierte fremdsprachige Diskursfähigkeit als „übergeordnete[s] Bil‐ dungsziel“ bezeichnet (Hallet 2011, 152, vgl. Bär 2013b, 13, weiterführend Hallet 2012, dort auch eine Liste von Merkmalen komplexer Kompetenzaufgaben nach Hallet (12 f.) und detaillierte Darstellung des Modells der komplexen Kompetenzaufgabe (14-18)). Unter den oben genannten unterschiedlichen Konzeptionen von Lernaufgaben bzw. Aufgabenorientierung werden im Folgenden zwei Konzepte kurz eingeführt, die in der romanistischen Fachdidaktik entwickelt wurden und für den Unterricht der romanischen Sprachen gerade auch als zweiten, dritten und spät beginnenden Fremdsprachen in beson‐ derem Maße praktikabel scheinen. Eynar Leupold entwirft einen „Lernaufgabenparcours“, der von einem Input (Text) über Übungen zu Lernaufgaben des Typs 1 und schließlich zu übergeordneten Lernaufgaben des Typs 2 führt. Er definiert die unterschiedlichen Kategorien dabei wie folgt: Übungen ● bilden gezielt bestimmte sprachliche Fertigkeiten aus; ● umfassen vor allem formbezogene Elemente wie Lexik, Grammatik, Orthografie etc.; ● geben dem Lerner eine Grundsicherheit in der Formbeherrschung sprachlicher Strukturen. Lernaufgabentyp 1 ● bindet die sprachlichen Fertigkeiten in einen situativen Rahmen ein; ● bezieht im Gegensatz zu Übungen die Inhalts- und Bedeutungskomponente ein. Lernaufgabentyp 2 ● ist eine offene Aufgabe mit Entscheidungsinstanzen für den Lerner; ● fordert zu realen, kommunikativen Aktivitäten auf; 5.4 Unterrichtsplanung 271 <?page no="272"?> ● fordert in seiner Bearbeitung den Einsatz unterschiedlicher Kompetenzen; ● verbindet prozessorientierte Arbeit mit einer Produkterstellung und -präsentation[; ] ● bietet dem Lerner die Möglichkeit, in freier Form sprachlich zu agieren. (Leupold 2008, 7, vgl. weiterführend Leupold 2007a, 111-122) Ein komplexeres und dennoch praktikables Verständnis von Lernaufgaben schlagen Schinke/ Steveker 2013 vor. Dabei knüpfen sie im Grunde an den Lernaufgabenparcours von Leupold an, entwickeln diesen aber weiter. Sie resümieren zunächst den Kerngedanken der Aufgabenorientierung im engeren Sinn und begründen, weshalb diese in Reinform im deutschen Fremdsprachenunterricht kaum umsetzbar zu sein scheint: Ein an diesem Ansatz [i.e. der Aufgabenorientierung] ausgerichteter Fremdsprachenunterricht besteht nicht mehr aus der Vermittlung sprachlicher Strukturen in einer gestaffelten Progression, sondern aus einer „losen“ Abfolge realitätsnaher Aufgaben, zu deren Bewältigung in der Ziel‐ sprache gehandelt werden muss. […] Auch die Abfolge der Unterrichtsschritte weicht stark von der im Fremdsprachenunterricht üblichen Vorgehensweise „Einführen - Üben - Anwenden“ ab und ist in pre-task ([…] die Vorbereitung der Lernaufgabe), task cycle ([…] die Arbeit an der Lernaufgabe selbst, meist in Partner- oder Gruppenarbeit) und language focus ([…] Spracharbeit) unterteilt. […] Das Modell hat im deutschen Sprachraum - zumindest an weiterführenden Schulen - nicht Fuß fassen können. Zu groß scheint der Widerspruch zu curricularen Vorgaben (die ja allesamt auf der Annahme einer logischen linguistischen Progression basieren, gleich ob es sich um die alten „Lehrpläne“ oder die neuen „Kerncurricula“ handelt), zu groß die Beliebigkeit beim Grammatik- und Wortschatzaufbau, zu wenig ausgeprägt das Üben und Wiederholen, zu hoch die Anforderungen an die Selbständigkeit der Lerner. (Schinke/ Steveker 2013, 5) Das von ihnen empfohlene Modell einer praktikablen, vereinfachten Aufgabenorientierung beschreiben Simone Schinke und Wolfgang Steveker dann wie folgt: In den letzten Jahren ist daher in der Praxis eine pragmatische Form der Aufgabenorientierung ent‐ standen, in der Lernaufgaben in die tradierte Progression der S[ekundarstufe] I - Lehrwerke bzw. die Unterrichtssequenzen der S[ekundarstufe] II sozusagen „eingepasst“ werden. Zur Bewältigung der Aufgaben sind nun machbare Zwischenschritte mit Phasen der Instruktion, vielfachem Üben und Wiederholen vorgesehen […]. Gemein ist allen Ausprägungen dieser praxisorientierten Vari‐ ante des Lernmodells, dass das Unterrichtshandeln auf eine sinnhafte, realitätsnahe Projektaufgabe am Ende einer Lehrbuchlektion (S I) oder einer Unterrichtssequenz (S II) zuläuft. (Schinke/ Steveker 2013, 5) Die Darstellung in Abb. 52 spiegelt dieses praktikable Konzept von Aufgabenorientierung. Die detailliertere Binnenstruktur eines solchen „Lernaufgabenzirkels“ kann in Anlehnung an Schinke/ Steveker 2013 (7) wie folgt veranschaulicht werden: 272 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="273"?> 393 (komplexe) Lernaufgabe / Zielaufgabe: Aufgabenstellung / Produkt Aufgabe im situativen Kontext Übung Übung Übung Übung Aufgabe im situativen Kontext Übung Übung Übung Übung Aufgabe im situativen Kontext Übung Übung Übung Übung Abb. 53: Lernaufgabenzirkel in Anlehnung an Schinke/ Steveker 2013, 7 (adaptiert) Mit „Übung“ werden dabei in erster Linie sprachform- und sprachstrukturbezogene oder auch strategiebezogene Aktivitäten verstanden. Unter „Aufgabe im situativen Kontext“ (sc. der übergeordneten (komplexen) Lernaufgabe) sind hingegen ansatzweise komplexere Aktivitäten zu verstehen, auf die in Übungen hingearbeitet wird bzw. deren sprachliche Mittel in den Übungen vertieft werden und die zur abschließenden Bewältigung der über‐ geordneten, komplexen Lernaufgabe erforderlich sind, also sozusagen eine (einfachere) Aufgabe als Teilschritt (Schinke/ Steveker 2013, 7, Beispiele für Aufgaben im situativen Kontext sind z. B. eine Mindmap erstellen, eine Person vorstellen oder ein Interview vorbereiten mit Blick auf die Durchführung eines (fiktiven) Interviews als Lernaufgabe, vgl. Schinke/ Steveker 2013, 9). Die Aufgabe im situativen Kontext kann in etwa mit Leupolds Aufgabe vom Typ I (s.-o.) gleichgesetzt werden. Die übergeordnete Lernaufgabe wird in der jüngeren Forschung, entsprechend ihrer Funktion als Ziel (eines Lernaufgabenzirkels, usw., je nach Konzeption der Aufgabenori‐ entierung) auch als „Zielaufgabe“ bezeichnet (z. B. Caspari 2013, 6, Bechtel 2015b, 57, Bechtel/ Rein-Sparenberg 2020, 86 f., in den beiden letztgenannten Beiträgen jeweils auch zehn Merkmale einer Zielaufgabe nach Bechtel). Wer seinen Unterricht im Rahmen des Möglichen aufgabenorientiert gestalten will, kann sich bei der Planung einer Unterrichts‐ sequenz, über das oben aufgezeigte Ablaufschema für einzelne Unterrichtsstunden hinaus, am Schema der Abbildungen 49 und 50 orientieren. Bei der Ausgestaltung von Lernaufgaben etwa im Sinne des Lernaufgabenzirkels nach Schinke/ Steveker können folgende elf Kriterien hilfreich sein, die von der Fachdidaktik des Niederländischen sehr praxisnah entwickelt wurden (Lücke 2014, bes. 230 f., erweiternd überarbeitet in Lücke/ Hobbelink 2018, bes. 20). Da es sich auch beim Niederländischen häufig um eine dritte oder spät beginnende Fremdsprache handelt und Aspekte der mehr‐ 5.4 Unterrichtsplanung 273 <?page no="274"?> sprachigen Bildung hier besonders zum Tragen kommen (vgl. z. B. Lücke/ Hobbelink 2018, 10), scheint dieser Katalog für die Fachdidaktik der romanischen Sprachen als zweite, dritte und spät beginnende Fremdsprachen in besonderem Maße anschlussfähig. Lücke-Hobbe‐ link 2018 bezeichnen ihr Konzept der Lernaufgaben als „NL-Aufgaben-Prinzip“ und führen es als „theorie- und erfahrungsbasierte[s] Prinzip“ ein, es habe seine „Umsetzbarkeit - gemessen an den Maßstäben konkreter Unterrichtspraxis - erwiesen“ (Lücke/ Hobbelink 2018, 10). Es schreibt daher die acht grundlegenden Prinzipien zur Aufgabenerstellung in Caspari 2011 (bes. 333 f.) konkretisierend fort und führt diese mit Gütekriterien der Unterrichtsqualität etwa nach Lücke 2014, 230) zusammen Das „NL-Aufgabenprinzip“ wird hier in leicht adaptierter Form aufgegriffen, um Kriterien für die Entwicklung von Lernaufgaben (und für die Einschätzung bestehender Lernaufgaben) im Unterricht der ro‐ manischen Sprachen vorzuschlagen (die Adaption betrifft vor allem die systematisierende Umstellung der einzelnen Elemente, sprachliche Adaptionen in der hier neu eingeführten Spalte „Eigenschaften“ und die tabellarische Darstellung als solche): Eigenschaften Beschreibung (Zitate aus Lücke/ Hobbelink 2018, 20, ohne Hervorhe‐ bungen) authentisch -- „[sie] werden anhand möglichst authentischer Texte, Materialien und (digitaler) Medien ausgeführt“ adressaten- und situationsbe‐ zogen bzw. lebensweltorien‐ tiert - „die Art der Sprachverwendung in der Lernaufgabe entspricht dem Kommunikationsverhalten außerhalb des Klassenzimmers“ - lernproduktorientiert - „sie […] steuern Lernsituationen mit einem möglichst konkreten Ergebnis bzw. Handlungsprodukt, welches das Geleistete sichtbar macht“ - interaktions- und zielspra‐ chenorientiert - „[sie] fördern die Entwicklung der [fremdsprachlichen] Kommu‐ nikationsfähigkeit durch zielsprachliche Interaktion“ - inhaltsbezogen - „die Spracharbeit [hat] im Wesentlichen dienende Funktion und [resultiert] aus einem kommunikativen Bedürfnis und Interesse auf Seiten der Lernenden“ - kulturorientiert - „[sie] ermöglichen kulturelle Lernprozesse, d. h. die Schülerinnen und Schüler lernen die Fremdsprache kulturell adäquat einzu‐ setzen und entwickeln die Fähigkeit zur kritischen Bewertung fremd- und eigenkultureller Sichtweisen, Praktiken und Pro‐ dukte“ - lernerorientiert - „[sie] beziehen sich auf realitätsnahe, lebensweltlich relevante und somit lernerorientierte Themen“ - 274 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="275"?> Eigenschaften Beschreibung (Zitate aus Lücke/ Hobbelink 2018, 20, ohne Hervorhe‐ bungen) sprachen- und sprachlernin‐ tegrativ -- „sie fördern die Sprach(en)reflexion, nutzen den Vergleich als Brücke und Lernhilfe zwischen Sprachen sowie die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten Tertiärsprachenlernender und - so‐ weit möglich - die etymologische Verwandtschaft [hier: der romanischen Sprachen] mit zuvor gelernten Sprachen“ - (sprach)lernprozessorientiert - „[sie fördern die] selbständig[e] Lern- und Sprach(en)bewusst‐ heit“ - kooperativ und individuell - „[sie] integrieren Phasen des individuellen und gemeinsamen bzw. kooperativen Lernens“ - differenzierend und individua‐ lisierend - „[sie]“ enthalten Maßnahmen zur Differenzierung und Individua‐ lisierung, die unterschiedliche Lernausgangslagen und Lernpo‐ tenziale in (fremd-)sprachlicher, kultureller, psychologischer und sozialer Hinsicht berücksichtigen, u. a. durch den systematischen Erwerb der [sc. zielsprachlichen] Bildungssprache [sc. bei Schü‐ lerinnen und Schülern mit zielsprachlichem Hintergrund]“ - Abb. 54: Prinzipien und Kriterien für Lernaufgaben im Unterricht zweiter, dritter und spät begin‐ nender Fremdsprachen (eigene Darstellung auf der Grundlage von Lücke/ Hobbelink 2018, 20) Aufgabenorientierte Settings eignen sich gut als Rahmen für eine differenzierende Unter‐ richtsgestaltung (vgl. Kap. 6), insofern z. B. Ausgangstexte/ -materialien, zu erarbeitende Lö‐ sungen/ Produkte und Hilfestellungen entsprechend den Bedürfnissen einzelner Lernender bzw. einzelner Gruppen von Lernenden divergieren können (vgl. z. B. Caspari 2013, 7, Bär 2013c, bes. 104-107). Grundsätzlich sind Lernaufgaben von Testaufgaben zu unterscheiden: Während erstere die Entwicklung von Kompetenzen anstoßen sollen, diagnostizieren letztere den Stand der Entwicklung von Kompetenzen (vgl. Abendroth-Timmer/ Bär/ Roviró/ Vences 2011b, 22, mit weiterführender Bibliographie). Oder, mit Blick auf die Erstellung von Lernbzw. Testaufgaben: Während Lernaufgaben die Schülerinnen und Schüler grundsätzlich „überfordern“ sollen, um einen Lernzuwachs zu ermöglichen, müssen sich Testaufgaben darauf beschränken, zur Bewältigung genau die Kompetenzen einzufordern, über die die Lernenden zum fraglichen Zeitpunkt potentiell verfügen können (zu einer einführenden Gegenüberstellung vgl. Caspari/ Grotjahn/ Kleppin 2010, zu Testaufgaben vgl. Band II, Kap. 5). 5.4.3 Schriftliche Unterrichtsplanung und -vorbereitung Die schriftliche Unterrichtsplanung und -vorbereitung wird gerade in der Ausbildungs‐ phase ausführlicher ausfallen als im späteren Unterrichtsalltag. Mit Blick auf den Nach‐ weis der Unterrichtsplanung und gerade auch mit Blick auf detailliert zu planende 5.4 Unterrichtsplanung 275 <?page no="276"?> „Prüfungsstunden“ im Referendariat (Lehrprobe, benoteter Unterrichtsbesuch, usw., je nach Bundesland) wird das einzelne Bundesland bzw. sogar das einzelne Studienseminar genaue Vorgaben machen, wie eine solche Planung aussehen soll. Daher sollen hier nur einige allgemeine, beispielhafte Hinweise gegeben werden, die für Anfängerinnen und Anfänger hilfreich sein können, um erste einzelne Unterrichtsstunden, vielleicht sogar eine Unterrichtsreihe zu planen. Schriftliche Unterrichtsplanungen erfolgen in der Regel in tabellarischer Form, um übersichtlicher zu sein. Auch bei einer (groben) Jahresplanung ist etwa denkbar, die Wochen eines Schuljahres auf einer DIN-A-4-Seite in einer Tabelle zu verzeichnen und z. B. die Lektionen eines Lehrwerks, die für die Jahrgangsstufe vorgesehen sind, nach ihrem Umfang und ihrer Gewichtung einzutragen; Entsprechendes gilt für die Themen eines Oberstufenlehrplans. In der Regel umfasst ein Schuljahr in Deutschland 38 Schulwochen, effektiv ergeben sich abzüglich diverser Unterrichtsausfälle, Prüfungen, Projektwochen, Klassenfahrten usw. häufig nicht mehr als gut 30 Wochen für den regulären Fachunterricht - auch dies sollte man bei der Jahresplanung berücksichtigen. Die schriftliche Planung einer einzelnen Unterrichtsreihe erfolgt dann in detaillierterer und konkreterer Form. Eine entsprechende Tabelle könnte wie folgt aussehen: Unterrichtsreihe: z.-B. Geschichte Spaniens im 20.-Jahrhundert - Transición - geplante Dauer: ____ Unterrichtsstunden, -von ___.___.20__ bis ___.___.20___ - Datum - Inhalt Kompe‐ tenz-schwer‐ punkt Medieneinsatz Bezug zu überge‐ ordneten Bildungs- und Er‐ ziehungszielen (laut Lehrplan) - - - - - - - - - - Abb. 55: Beispiel der Planung einer Unterrichtsreihe (eigene Darstellung) Die Planung einer Einzelstunde ist dann noch detaillierter, und umfasst häufig folgende Kategorien (vgl. z.-B. Krechel 2016d, 56): 276 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="277"?> Inhalt/ Thema der Stunde: - Stundenziel/ Kompetenzschwerpunkt: - Phase - Inhalte/ Unterrichts-ver‐ lauf Sozialform/ Methode Medium ggf. ergänzende Bemerkungen - - - - - - - - - - - - - - - - Hausaufgabe: - Abb. 56: Beispiel der Planung einer Unterrichtsstunde (eigene Darstellung, ausgehend von Krechel 2016d, 56) Als Phasen des Unterrichts werden häufig genannt: ● Einstieg, ● Hinführung/ Überleitung zum Stundenthema, ● Erarbeitung, ● Sicherung, ● Transfer/ Anwendung, ● Stellung der Hausaufgabe. Mitunter werden hier auch Begriffe wie Übung (die letztlich der Sicherung dient), Wie‐ derholung, Systematisierung, Vertiefung, Methodenreflexion usw. genannt (z. B. Krechel 2016c, 56, 69, Müller/ Rohling 2016, 27 f.). Für Prüfungsstunden (z. B. in Bayern „Lehrproben“ genannt) oder in der Dokumentation für das Studienseminar wird während des Referendariats häufig eine noch ausführlichere Darstellung einzelner Stunden erwartet. Diese wird dann im Stile einer Hausarbeit eine Darstellung der gesamten geplanten Unterrichtsstunde in einem Fließtext enthalten. Dabei werden - wiederum je nach Bundesland und ggf. sogar je nach (Fach-)Seminar unterschiedlich - in der Regel etwa folgende Aspekte berücksichtigt (Beispiel aus Nord‐ rhein-Westfalen): ● Thema der Stunde, ● Lernziele/ Kompetenzziele, ● Analyse der Lernausgangslage (mit einer Beschreibung der Lerngruppe einschließlich pädagogisch-psychologischer und leistungsdiagnostischer Hinweise bezogen auf das jeweilige Fach), ● Sachanalyse, ● didaktisch-methodische Analyse (mit einer Zusammenführung von Thema der Stunde, Sachanalyse, Lernbzw. Kompetenzziel und der Lernausgangslage in der didaktischen Analyse sowie entsprechenden Hinweisen zur geplanten Unterrichtsmethodik), 5.4 Unterrichtsplanung 277 <?page no="278"?> ● didaktisch-methodische Planung, ● Verlaufsplan, ● Bibliographie und Anhang. (z. B. Tafelbilder, Arbeitsblätter) (vgl. Krechel 2016d, 60-69) Alternativ könnte eine solche Stundendarstellung auch wie folgt aufgebaut sein (Beispiel aus Bayern): ● pädagogisch-psychologische Vorüberlegungen: Anmerkungen zur Klasse X, ● methodisch-didaktische Vorüberlegungen: ● Einordnung der Stunde in den Unterrichtszusammenhang, ● Vorgaben des Fachlehrplans und Bezug zu übergeordneten Lehrplanebenen, ● Lernziele und Lerninhalte bzw. Kompetenzziele der Lehrprobenstunde, ● methodische Überlegungen zum Stundenverlauf, ● geplanter Stundenverlauf, ● Bibliographie, ● Anlagen. Als drittes Beispiel sei der Fall Berlins genannt: Hier wird derzeit im Handbuch Vorbe‐ reitungsdienst aus dem Jahr 2021 folgender „Orientierungsrahmen“ für entsprechende Unterrichtsentwürfe nahegelegt (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie 2021, 27 f.): ● Thema der Unterrichtsstunde und Einordnung in eine Unterrichtsreihe ● (ggf. in Tabellenform); ● fachlich-inhaltlicher Schwerpunkt, u.-a. mit Blick auf ● „Bildungsgehalt“ und ● „Bezug des Themas bzw. der Materialien zur Lebenswirklichkeit oder zu den kognitiven Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler“ (Senatsverwaltung 2021, 27); ● Standard des Rahmenlehrplans/ angestrebte Kompetenzentwicklung (unter Bezug‐ nahme auf Rahmenlehrplan und schulinternes Curriculum); ● längerfristig angestrebte Kompetenzentwicklung der Lerngruppe ● (unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen Lernvoraussetzungen einer Lern‐ gruppe); ● Zielvorstellungen für die konkrete Unterrichtsstunde (vor dem Hintergrund von Rahmenlehrplan und schulinternem Curriculum); ● Beschreibung der Lerngruppe: ● „äußere Unterrichtsbedingungen“: Beschreibung der Lerngruppe als Ganze mit Blick auf Heterogenität, Besonderheiten in der Gruppenzusammensetzung usw., ● „innere Unterrichtsbedingungen“: Beschreibung der Lerngruppe mit Blick auf die Individuen und Prognosen für die Kompetenzentwicklung ausgewählter einzelner Schülerinnen und Schüler: In diesem Zusammenhang werden Prognosen für ausgewählte Schülerinnen und Schüler un‐ terschiedlicher Lernpersönlichkeiten getroffen, die exemplarisch für leistungsdifferenzierte Teil‐ gruppen der gesamten Lerngruppe sein können, die aber auch andere Differenzierungsaspekte berücksichtigen können. […] Mögliche - präventive und/ oder reaktive - Maßnahmen werden 278 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="279"?> dargelegt, die flexibel zum Einsatz kommen können, um die Entfaltung der Lernprozesse zu befördern. (Senatsverwaltung 2021, 28) ● Darlegung und Begründung der didaktisch-methodischen Entscheidungen: ● ggf. Sachanalyse, ● Begründung der Lehr-/ Lernstruktur bzw. der didaktisch-methodischen Entschei‐ dungen (vgl. Azadian 2016, 195); ● Verlaufsplanung u.-a. zu folgenden Aspekten: ● Phase, ● geplante Aktivitäten, ● erwartete Ergebnisse/ erwartetes Schüler/ innenverhalten, ● Sozialformen, ● Medien, ● didaktisch-methodische Kommentare; ● Anlagen (z. B. Arbeitsblätter, wenn für das Verständnis erforderlich, auch aus den vorausgegangenen Stunden, geplantes Tafelbild, Sitzplan). (vgl. Senatsverwaltung 2021, 27 f.; ergänzend und konkretisierend kann für den Fall Berlins auf Azadian 2016, 193-195 verwiesen werden). Der einem solchen Stundenentwurf beigegebenen Verlaufsplan ist eine tabellarische Darstellung des geplanten Verlaufs der Stunde, die noch detaillierter ist als die oben beschriebene (vgl. Abb. 53). In Nordrhein-Westfalen wird beispielsweise derzeit zumeist ein ergänzender „didaktisch-methodischer Kommentar“ erwartet. Ein entsprechender - sinnvollerweise im Querformat DIN-A-4 zu fertigender - Verlaufsplan kann folgende Spalten umfassen (vgl. z.-B. Krechel 2016d, 69): Inhalt/ Thema der Stunde: - Stundenziel/ Kompetenzschwerpunkt: - Zeit - Phase Inhalte/ Unterrichtsverlauf Sozialform/ Methode Medium didak‐ tisch-methodi‐ scher Kom‐ mentar - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Hausaufgabe: - Abb. 57: Beispiel für den Verlaufsplan einer Prüfungsstunde („Lehrprobe“ usw., vgl. Krechel 2016d, 69) 5.4 Unterrichtsplanung 279 <?page no="280"?> Aus schulpädagogischer und allgemein-didaktischer Perspektive kann vertiefend zur Un‐ terrichtsplanung z.-B. auf Wiater 2020a, 192-233 verwiesen werden. Die Unterrichtsvorbereitung für eine Einzelstunde einer erfahrenen Lehrkraft wird häufig, gerade in der Lehrwerkphase, nur noch auf einem oder mehreren DIN-A-5-Blättern, die in das Buch gelegt werden können, handschriftlich gefertigt werden. Dies wirkt u. a. auf die Schülerinnen und Schüler, verbunden mit einem sich daraus ergebenden flüssigen Verlauf der Stunde, ganz offensichtlich souveräner, als wenn die Lehrkraft in einem allzu ausführlichen Stundenkonzept suchen und nachlesen muss, was als nächstes geplant ist. Eine knappere Stundenplanung erfordert und erlaubt mehr Konzentration auf den tatsäch‐ lichen Verlauf der Stunde, lässt mehr Freiheiten und lässt die Stunde so insgesamt häufig den Schülerinnen und Schülern gerechter werden als eine zu detailliert geplante Stunde. Für angehende Lehrkräfte kann eine detaillierte Stundenplanung allerdings sinnvoll sein, da sie zu einer vertieften Reflexion über das unterrichtliche Handeln führt und Sicherheit geben kann. Kurzskizzen einer Unterrichtsstunde beinhalten häufig nur noch Hinweise zu Inhalten, Sozialformen/ Methoden und Medien und integrieren diese in eine Spalte der Aufzeichnungen. Bei einer solch knappen Stundenplanung sollte dennoch, neben dem Verlauf der Stunde im zentralen Teil, z. B. eine schmalere rechte Spalte enthalten sein, in der oben rechts die Klasse (also z. B. „F 7c“ für „Französisch in Klasse 7c“), das Datum und die zu stellende Hausaufgabe vermerkt sind. Außerdem sollte in einer solchen Randspalte Raum vorgesehen sein für Notizen zur Evaluation einzelner Schülerinnen und Schüler z. B. in der individuellen Abfrage oder in der Unterrichtsbeobachtung (vgl. Band II, Kap. 5, bes. auch Kap. 5.1, 5.2.1). Diese Notizen werden dann zu Hause in das persönliche Notenbuch bzw. das Schulverwaltungsprogramm eingespeist. Außerdem sollten im zentralen Teil zum Unterrichtsverlauf Notizen gefertigt werden, was tatsächlich durchgenommen wurde, sowie Besonderheiten im Verlauf kurz skizziert werden. Aus der Reflexion über solche Notizen bei der Nachbereitung des Unterrichts und der Vorbereitung der Folgestunden ergeben sich Anhaltspunkte für eine Verbesserung der künftigen Planung und des künftigen unterrichtlichen Handelns. In den ersten Dienstjahren können z. B. zu den einzelnen Punkten der Unterrichtsplanung noch Zeitmarken (z. B. bis min. ___ oder bis __: __ Uhr) gesetzt und die tatsächlichen Zeiten vermerkt werden, um das Gefühl für den Zeitaufwand einzelner Aktivitäten weiter zu schärfen. Für die sehr anschauliche, exemplarische Aufarbeitung einer Lehrwerk-Lektion für den Anfangsunterricht kann, mit einigen Einschränkungen (z. B. bezogen auf die methodische Analyse der verschiedenen Einführungsmöglichkeiten sowie die Aktualität) grundlegend noch immer auf die sehr detaillierte Darstellung Schiffler 1995 verwiesen werden (ausge‐ hend von der Analyse des Bedingungsfeldes werden hier verschiedene Aspekte der Analyse des Entscheidungsfeldes detailliert auf ca. 60 Seiten dargelegt). 5.5 Unterrichtsorganisation: Sozial- und Arbeitsformen, Offener Unterricht, Balanced Teaching Bei der Beschreibung der Organisation von Unterricht auf der oben in Kap. 5.1 eingeführten Ebene (4) haben sich schwerpunktmäßig seit den 1970er Jahren, aus der Pädagogik bzw. 280 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="281"?> der Allgemeinen Didaktik entlehnt, die Kategorien Aktionsbzw. Arbeitsformen und Sozialformen als einander ergänzende Dimensionen unterrichtlichen Geschehens etabliert. Im Wesentlichen versteht man unter Aktionsbzw. Arbeitsformen und Sozialformen Folgendes: Aktions- und Arbeitsformen beziehen sich auf den Grad der Steuerung des Unterrichtsdiskurses und der Interaktion im Unterricht, vom Lehrervortrag als einem und der Diskussion bzw. Debatte als anderem Extrempol. Dazwischen stehen als relativ stark von der Lehrkraft gelenkte Form der Interaktion das so genannte gelenkte Unterrichtsge‐ spräch sowie, in Richtung der freieren Rede der Schülerinnen und Schüler tendierend, das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch in einem Dreischritt von Frage - Antwort - Evaluation/ Feedback (vgl. Tenorth/ Tippelt 2012, 256). Mit der Kategorie „Sozialform“ wird erfasst, „welche Kooperationsformen der Schüler mit dem Lehrer und der Schüler untereinander möglich sind“ (Tenorth/ Tippelt 2012, 669). Dabei unterscheidet man grundlegend folgende vier Typen: Frontalunterricht (auch Klas‐ senunterricht), als stark von der Lehrkraft gelenkten Unterricht (z. B. in den Aktionsformen Lehrervortrag oder gelenktes Unterrichtsgespräch), Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Einzelbzw. Stillarbeit (vgl. Schulz 1965, 32). Der Begriff und die Reflexion über Sozialformen wurde von der Reformpädagogik geprägt (Tenorth/ Tippelt 2012, 669, zum Begriff des Frontalunterrichts vgl. Petersen/ Petersen 1954 (in der Sache wurde der Frontalunterricht als Lösungsansatz, viele Schüler gleichzeitig zu unterrichten, im 16./ 17. Jahrhundert u. a. von Comenius eingeführt, vgl. Wiater 2020b, 102), zur Einzelarbeit früh z. B. Michael 1963, zur Gruppenarbeit, z. B. Petersen/ Vogt 1958, Meyer 1970, zu kooperativem Lernen im Unterricht der neueren Sprachen insgesamt Arnold/ Pasch 1971). Gerade Gruppenarbeit wird v. a. seit den 1960er Jahren postuliert. Man unterscheidet zwischen arbeitsteiliger Gruppenarbeit, bei der mehrere Gruppen je eine andere Aufgabenstellung bearbeiten, wodurch sich ergänzende Resultate erarbeitet werden, und arbeitsgleicher Gruppenarbeit, bei der alle Gruppen dieselbe Aufgabe bearbeiten. Der Mehrwert arbeitsgleicher Gruppenarbeit liegt daher vor allem im Bereich des Erwerbs sozialer Kompetenzen und des kooperativen Lernens. Üblicherweise ist Gruppenarbeit in eine eröffnende und eine abschließende Phase im Plenum eingebettet, in denen die Aufgabenstellung eingeführt bzw. die Lösungen vorgestellt werden; das klassische Ablaufschema ist also Plenum - Gruppen - Plenum (einführend z.-B. Böhm 2005, 264 ff.) Die beiden Kategorien Aktionsbzw. Arbeitsformen und Sozialformen werden verstärkt seit den 1980er/ 1990er Jahren um Formen des Offenen Unterrichts ergänzt (grundlegend bereits Bönsch/ Schittko 1979), die im Grunde vor allem die Kategorie der Sozialformen erweitern, meistens aber nicht als solche bezeichnet, sondern eben als eigene, neue Dimen‐ sion geführt werden: „Die Schüler sollen sich selbst Ziele und Aufgaben setzen und eigene Lernwege finden und erproben“ (Böhm 2005, 474). Ein prototypisches Beispiel für offenen Unterricht wäre etwa die Wochenplanarbeit. Auch Stationenlernen, Expertenpuzzle/ Grup‐ penpuzzle, Rollenspiel, Talkshow, Standbilder, Vierecken-Methode, Lernen durch Lehren usw. werden als Verfahren des offenen Unterrichts bezeichnet (z. B. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung 1997, Lin-Klitzing/ Roth 2005). Seit etwa den 2000er Jahren wird gerade in sich eher progressiv gebenden Kontexten verstärkt auch die Kategorie des „kooperativen Lernens“ propagiert. Begriff und Sache des kooperativen Lernens sind allerdings - auch bezogen auf den Fremdsprachenunterricht 5.5 Unterrichtsorganisation: Sozial- und Arbeitsformen, Offener Unterricht, Balanced Teaching 281 <?page no="282"?> - schon länger belegt (s. o., z. B. Arnold/ Pasch 1971). Dabei stellt das Konzept des „kooperativen Lernens“ eher eine Perspektive auf bestehende Sozial- und Aktionsbzw. Arbeitsformen dar, als eine neue Dimension zu schaffen (es bestehen vor allem Schnitt‐ mengen zum so genannten „offenen Unterricht“, aber auch z. B. Partner- und Gruppenarbeit stellen Formen des kooperativen Lernens dar). Im Folgenden wird eine Übersicht über Aktions- und Arbeitsformen sowie Sozialformen, ergänzt um ausgewählte Formen des offenen Unterrichts, gegeben und mit Blick auf die spezifischen Anforderungen des Fremdsprachenunterrichts die jeweiligen Vor- und Nachteile kurz reflektiert: - - Aktions-/ Arbeitsformen - Sozialformen - Formen Of‐ fenen Unter‐ richts - - - - - - - - - Lehrervortrag - - Frontalunter‐ richt - z.B. Stationen‐ lernen Vorteile im FU --- - • zeitökonomi‐ sche Vermitt‐ lung von Wissen - • Ökonomie/ Zielorientie‐ rung, auch bei der indi‐ viduellen Förde‐ rung (z.-B. ge‐ zieltes Aufrufen Schwächerer) • Kontrolle der Lernersprache - • v.a. materialge‐ stütztes Ar‐ beiten (indivi‐ duell/ in Kleingruppen), • Differenzie‐ rung möglich Nachteile im FU --- - • geringer Schü‐ lersprechanteil - • hoher Lehrers‐ prechanteil, • kaum realisti‐ sche Kommu‐ nikationssitua‐ tionen - • eher für Wie‐ derholungs‐ phasen ge‐ eignet/ • kaum Progres‐ sion in der Fremdsprache möglich - - - - - - - - - gelenktes Un‐ terrichtsge‐ spräch - Partnerarbeit - Wochenplanar‐ beit Vorteile im FU --- - • zielorientierte Einführung und Wiederho‐ lung - • hoher Schüler‐ sprechanteil - • hochgradig selbständiges Arbeiten • wissenschaft‐ spropädeuti‐ sches Arbeiten in der Ober‐ stufe möglich 282 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="283"?> - Aktions-/ Arbeitsformen - Sozialformen - Formen Of‐ fenen Unter‐ richts Nachteile im FU - - • kaum freies Sprechen - • Schüler/ innen auf sich alleine gestellt, • kaum Kon‐ trolle und Hilfen möglich - • eher für in‐ haltsorien‐ tiertes Ar‐ beiten geeignet • weniger für die Sprachaneig‐ nungsphase geeignet - - - - - + - - - fragend-entwi‐ ckelndes Unter‐ richtsgespräch - Gruppenarbeit - szenisches Spiel Vorteile im FU --- - • s. gelenktes U., weniger stark ausgeprägt - s. Partnerarbeit - • in hohem Maße die Aus‐ sprache und die fluency för‐ dernd • hoher Schüler‐ sprechanteil Nachteile im FU --- - • s. gelenktes U., weniger stark ausgeprägt - s. Partnerarbeit • ggf. Ungleich‐ gewicht stär‐ kere/ schwä‐ chere SuS innerhalb einer Gruppe - • ggf. Zeitauf‐ wand, an‐ sonsten prak‐ tisch keine Nachteile (ggf. Abstriche im Bereich accu‐ racy) - - - - - - - - - Diskussion/ Debatte - - Einzel-/ Stillar‐ beit - Lernen durch Lehren (LdL) Vorteile im FU - - • hoher Schüler‐ sprechanteil, • freies Spre‐ chen - • hohes Maß an individueller Auseinander‐ setzung mit Sprache (z.-B. Wort‐ schatz-„Lern-“ Phase im Un‐ terricht) - • hohes Maß an Schülerakti‐ vierung • hoher Schüler‐ sprechanteil Nachteile im FU --- - • erst bei fortge‐ schrittenen Lernenden rea‐ listisch - • kein Sprechen • kaum Kon‐ trolle und Hilfen möglich • ggf. als Be‐ schäftigung der Lern‐ gruppe wäh‐ rend individu‐ - • intensive Kon‐ frontation mit ggf. fehler‐ hafter Aus‐ sprache an‐ derer SuS • oft Frontalun‐ terricht durch SuS 5.5 Unterrichtsorganisation: Sozial- und Arbeitsformen, Offener Unterricht, Balanced Teaching 283 <?page no="284"?> - Aktions-/ Arbeitsformen - Sozialformen - Formen Of‐ fenen Unter‐ richts eller Beratung einzelner Schüler/ innen denkbar Abb. 58: Übersicht über ausgewählte Grundbegriffe der Unterrichtsorganisation (Aktions-/ Arbeits‐ formen, Sozialformen, offener Unterricht) und ihre Vor- und Nachteile für den Fremdsprachenunter‐ richt (eigene Darstellung) Ausgehend von einer ausführlichen, vor allem hermeneutisch fundierten Auseinanderset‐ zung mit offenen „Lernarrangements“ im Fremdsprachenunterricht (hier exemplifiziert am Englischunterricht) gelangt Engelbert Thaler 2008 zum Postulat eines Balanced Teaching im Sinne eines ausgewogenen Mittelwegs zwischen eher geschlosseneren und eher offeneren Formen des Fremdsprachenunterrichts (Thaler 2008, bes. 305-316). Dabei lehnt er sich an das Konzept des balanced thinking an, das in der vergleichenden Bildungsforschung die Balance des Denkens zwischen Operationen wie „ordnen, strukturieren, systematisieren“ auf der einen und „verstehen, kreieren, expandieren“ auf der anderen Seite in Einklang zu bringen versuche (Thaler 2008, 307, vgl. Schaefer/ Yoshioka 2000). Die Ausgewogenheit des Balanced Teaching kann sich, über die Organisationsformen des Unterrichts hinaus, auch auf die verschiedensten Aspekte des Fremdsprachenunterrichts beziehen (in Anlehnung an Thaler 2010, 19 f.): Bereiche Balance zwischen … Zieldimensionen Kompetenzen und Inhalten Kompetenzspektrum verschiedenen Kompetenzen und Fertigkeiten Themen Fremdsteuerung (Staat, Lehrer) und Selbststeuerung (Lernende) Aktivitäten Lernaufgaben und Übungen Fokus bei der Sprachaneig‐ nung fluency und accuracy (vgl. Band II, Kap. 4.5.4) Anforderungsniveau leichten, mittleren und schwierigeren Aktivitäten Klassenzimmerdiskurs innerhalb des Schemas Impuls - Reaktion - Feedback Lehrerrolle Lernberater und Vermittler Schülerrolle Wissen, Können und Handeln Gender weiblichen und männlichen Bedürfnissen Unterrichtszeit 45-Minuten-Stunden und Doppelstunden Raumarrangement innerhalb einer „Fremdsprachenwerkstatt“ 284 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="285"?> Bereiche Balance zwischen … Lehrwerk Lehrwerk und weiteren Materialien/ Medien Medien analogen und digitalen Medien Evaluation u.a. sprachformbezogenen und kommunikativen, einzelne As‐ pekte fokussierenden und integrativen Testaufgaben, zwischen Fremd- und Selbstevaluation Abb. 59: Balanced Teaching nach Thaler (vgl. Thaler 2010, 19 f.) Im Sinne eines ausgewogenen unterrichtlichen Handelns, das möglichst vielen Schüle‐ rinnen und Schülern in ihren unterschiedlichen individuellen Bedürfnissen Rechnung zu tragen versucht, bietet es sich an, als Lehrkraft die im Grunde naheliegende Vermitt‐ lungsposition des Balanced Teaching einzunehmen und auf ein möglichst ausgeglichenes Verhältnis von eher offenen und eher geschlossenen Phasen und Aktivitäten im Unterricht hinzuarbeiten (ggf. innerhalb einer Einzelstunde, vor allem aber über ein gesamtes Schul‐ jahr hinweg betrachtet). 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 5.6.1 Unterrichtsmethoden und -techniken - Allgemeine Hinweise Grundlegende, praxisorientierte Einführungen in die Unterrichtsmethodik aus schulpäda‐ gogischer und allgemein-didaktischer Sicht sind z. B. Meyer 2020b oder Wiater 2020a. Auch die Einführungsdarstellung des Englischdidaktikers Wolfgang Hallet Didaktische Kompetenzen (Hallet 2006) verfolgt eine allgemein-didaktische Zielsetzung. Über die Jahre sind zahlreiche auch fachspezifische Veröffentlichungen zu Unterrichts‐ methoden für den Fremdsprachenunterricht entstanden, von denen einige, überwiegend aktuellere, hier erwähnt werden sollen, um Studierenden und angehenden Lehrkräften Hinweise auf „Fundgruben“ für die Unterrichtspraxis zu geben. Bei vielen dieser Veröffent‐ lichungen handelt es sich um kleine Bändchen, die zu sehr günstigen Preisen auch für Studierende und Referendarinnen und Referendare erhältlich sind und einen schnellen Überblick erlauben. Umfassendere unterrichtsmethodisch ausgerichtete Darstellungen sind beispielsweise: Krechel, Hans-Ludwig (Hrsg.) (2016b, 1 2007): Französisch-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen. Azadian, Ramin (2016): Erste Hilfe für das Referendariat und die Berufseinstiegsphase Spanisch. Stuttgart: Schmetterling. Sommerfeldt, Kathrin (Hrsg.) (2019a, 1 2011): Spanisch-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen. Insbesondere der Band Sommerfeldt 2019a darf sprachenunabhängig als gelungene Einfüh‐ rung in die Methodik des Fremdsprachenunterrichts gelten. Die beiden dem Spanischen gewidmeten Bände enthalten z. B. auch Einführungen in die Lehrwerkarbeit im Fremdspra‐ 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 285 <?page no="286"?> chenunterricht (z. B. Sommerfeldt 2019b, Azadian 2016, 83-106, vgl. weiterhin z. B. Praxis Fremdsprachenunterricht - Basisheft und Französisch 1, 2014 (Themenheft Arbeit mit dem Lehrwerk)). Für Spanisch kann auch auf die von Bär/ Franke 2016 ( 2 2019) herausgegebene Spanisch-Didaktik verwiesen werden, die als Praxisbuch für die Sekundarstufe I und II eben‐ falls neben der wissenschaftlich-didaktischen Grundlegung immer die Unterrichtspraxis mit im Blick hat. Für das Italienische wurde in Ermangelung einer entsprechenden Italienisch-Methodik in der Einführung Michler/ Reimann 2019 darauf geachtet, neben der wissenschaftlichen Grundlegung einer Fachdidaktik Italienisch immer auch die unterrichtsmethodische Per‐ spektive mit zu berücksichtigen. Weiterhin kann auf unterrichtsmethodische Anregungen in Reimann 2009a verwiesen werden. Aus wissenschaftlicher Sicht nur bedingt empfehlenswert und auch für die Praxis nur bedingt weiterführend als die bereits genannten Veröffentlichungen sind die hier nur der Vollständigkeit halber erwähnten, sich ebenfalls der Methodik verschreibenden Darstellungen wie Französisch-Didaktik (Krechel 2015), Französisch unterrichten (Krechel 2014) und Spanisch unterrichten (Mandler 2017), wobei unter den genannten noch am ehesten für das Französische Krechel 2014 als Ergänzung zu Krechel 2007/ 2016b einen ergänzenden „Methodenkoffer“ zu liefern vermag. Auf allgemein-didaktischer, fächerübergreifender Ebene gibt es zahllose Sammlungen kleinerer Aktivitäten auf der oben eingeführten Ebene (5) der Unterrichtstechniken, aus denen einzelne Aktivitäten auch mit Gewinn auf den Fremdsprachenunterricht übertragbar sind. Exemplarisch seien an dieser Stelle z. B. Klippert 22 2018 ( 1 1994) oder Mattes 2011 erwähnt. Konkret für den Unterricht der romanischen Sprachen erstellte kleinere Samm‐ lungen einzelner Aktivitäten auf der Ebene (5) der Unterrichtstechniken sind z.B.: Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 44, 2014: Methodenkarten. Zum Basisartikel Sommerfeldt. Knoll, Vera (2017b): 55 Methoden Französisch. Augsburg: Auer. Kuhlmeier, Dennis (2016): 55 Methoden Spanisch. Augsburg: Auer. Sobel, Martina (2014): Das schnelle Methoden 1 x 1 Französisch. Berlin: Cornelsen. Steveker, Wolfgang (2014): Das schnelle Methoden 1 x 1 - Spanisch. Berlin: Cornelsen. Die genannten Werke bieten Anregungen zu interessanten Methoden und Techniken, wobei festzustellen ist, dass Steveker 2014 und Kuhlmeier 2016 für Spanisch oder auch Knoll 2017b für Französisch eher auf derzeit als Standard geltende Methoden abzielen als beispielsweise der Band Sobel 2014, der interessante, aber ausgefallenere methodische Anregungen enthält, und daher ggf. für Anfängerinnen und Anfänger, die eine erste Orientierung suchen, weniger geeignet zu sein scheint. Weiterhin gibt es Sammlungen von Materialien und Anregungen, die entweder auf bestimmte Unterrichtsphasen oder bestimmte Arbeitsformen, gerade auch des offenen Unterrichts, abzielen, oder aber auch speziell für die Gestaltung von Vertretungsstunden konzipiert sind. Schlussendlich enthalten aber auch diese Sammlungen methodische Bausteine, die teilweise auch in anderen Unterrichtsphasen eingesetzt werden können. Exemplarisch seien genannt: ● Stundeneinstiege: Pugliarelli, Sibylle (2011): 55 Stundeneinstiege Italienisch. Donauwörth: Auer. 286 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="287"?> Stubenrauch-Böhme, Juliane (2012a): 55 Stundeneinstiege Französisch. Donauwörth: Auer. Stubenrauch-Böhme, Juliane (2019, 1 2013): 55 Stundeneinstiege Spanisch. Augsburg: Auer. Vgl. zu Stundeneinstiegen z.-B. auch Azadian 2016, 67-73. ● Schwerpunkt Formen kooperativen Lernens: Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 44, 2014 (Kooperatives Lernen) Grieser-Kindel, Christin/ Henseler, Roswitha/ Möller, Stefan (2013): Le guide des méthodes. 33 Methoden für einen kooperativen und individualisierenden Französischunterricht in den Klassen 5-12. Pader‐ born: Schöningh. ● Vertretungsstunden: Beckmann, Heiko/ Beckmann, Kirsten (2001): Toujours prêt. Kopiervorlagen Französisch. Franken‐ berg/ Köln: Aulis. Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 57/ 59, 2002 (Doppelheft Vertretungsstunden). Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 37, 2012 (Themenheft Vertretungsstunden). Großkopf, Regina (2001): Arbeitsblätter für Vertretungsstunden Französisch, 1.-5. Lernjahr. Stuttgart et al.: Klett. Stubenrauch-Böhme, Juliane (2012b): Die schnelle Stunde - Französisch. 30 originelle Unterrichts‐ stunden ganz ohne Vorbereitung. Donauwörth: Auer. Stubenrauch-Böhme, Juliane (2013a): 45 Vertretungsstunden Französisch für das 1.-4. Lernjahr. Berlin: Cornelsen. Stubenrauch-Böhme, Juliane (2013b): Die schnelle Stunde - Spanisch. 30 originelle Unterrichtsstunden ganz ohne Vorbereitung. Donauwörth: Auer. ● „Fundgruben“ für kleinere Aktivitäten (auch, aber nicht nur für Vertretungsstunden): Gauthey, Sylvie/ Spiekermann, Danielle ( 3 1998, 1 1994): Die Fundgrube für den Französischunterricht. Berlin: Cornelsen. Stubenrauch-Böhme, Juliane/ Pugliarelli, Sibylle (2015): Fundgrube Französisch. Sekundarstufe I. Berlin: Cornelsen. Kolmer-Kurtz, Katrin (2009): Fundgrube Spanisch - Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen. Kolmer-Jurtz, Katrin (2014): Fundgrube Spanisch - Sekundarstufe I. Berlin: Cornelsen. Weiterführend geben folgende Bände zahlreiche Anregungen für die praktische Unter‐ richtsgestaltung und für kürzere Aktivitäten: Sion, Christopher (1993a): 88 Unterrichtsrezepte Italienisch. Stuttgart et al.: Klett. Sion, Christopher (1993b): 88 Unterrichtsrezepte Französisch. Stuttgart et al.: Klett. Sion, Christopher (1994): 88 Unterrichtsrezepte Spanisch. Stuttgart et al.: Klett. Ur, Penny/ Wright, Andrew (1994a): 111 Kurzrezepte für den Französischunterricht. Stuttgart: Klett. Ur, Penny/ Wright, Andrew (1994b): 111 Kurzrezepte für den Spanischunterricht. Stuttgart: Klett. Ur, Penny/ Wright, Andrew (1994c): 111 Kurzrezepte für den Italienischunterricht. Stuttgart: Klett. Krieb, Anika/ Mockenhaupt, Jennifer (2017): 99 Tipps für Französisch. Berlin: Cornelsen. Sommerfeldt, Kathrin/ Fitting, Anke/ Berger, Stephanie/ Mailand, Britta (2017): 99 Tipps für Spanisch. Berlin: Cornelsen. Der Band Krieb/ Mockenhaupt 2017 gliedert seine Tipps vor allem nach Kompetenzschwer‐ punkten (Wortschatz, Grammatik, Sprechen, Schreiben, Sprachmittlung), nach Art des 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 287 <?page no="288"?> Medieneinsatzes (Texte, Filme und Chanson) sowie nach den übergeordneten Dimen‐ sionen Differenzierung, Leistungsbewertung und Motivation. Sommerfeldt/ Fitting/ Berger/ Mailand 2017 ist nach Arbeitsschritten und Stundenphasen gegliedert und enthält die folgenden Kapitel: Organisation und Planung, Einstiege, Handwerkszeug (für Lehrkräfte), Übungsideen, Differenzierung, Korrektur und Bewertung, Überlebensstrategien, Horizont‐ erweiterung. Beide Bände versammeln recht kleinschrittig kurze und bisweilen auch eigentlich selbstverständlich wirkende Tipps. Sie bieten insgesamt für (angehende) Lehr‐ kräfte, die sich schon eine erste, systematische Orientierung in Sachen Unterrichtsplanung und -gestaltung verschafft haben, Anregungen für die verschiedensten Bereiche des unterrichtlichen Handelns. Für Anfängerinnen und Anfänger interessante, dezidiert kommunikativ ausgerichtete methodische Handreichungen finden sich auch immer wieder für den Bereich der Erwach‐ senenbildung (v. a. Volkshochschulen), nicht zuletzt, da hier traditionellerweise mit einer großen Zahl von „Quereinsteigern“ als Dozierenden gearbeitet wurde und wird, für die Dinge verschriftlicht wurden, die an den Schulen tendenziell eher mündlich im Rahmen der Seminarausbildung tradiert wurden. Erwähnenswert mit Blick auf die Entwicklung eines methodischen Fundus ist z.B.: Kooperation der Volkshochschulen am Niederrhein (Hrsg.) ( 2 2009): Leitfaden für Sprachkursleiter. Ismaning: Hueber. Eine sehr umfassende Sammlung von Aktivitäten (beinahe 300 Aktivitäten) für den Fremdsprachenunterricht ist: Häussermann, Ulrich/ Piepho, Hans-Eberhard (1996): Aufgabenhandbuch. Deutsch als Fremdsprache. Abriß einer Aufgaben- und Übungstypologie. München: iudicium. Einen allgemein-didaktischen, wissenschaftlichen Entwurf für eine Systematik der Unter‐ richtsverfahren liefert Baumgartner 2014. Wissenschaftlich fundierte Hinweise gerade auch zu kooperativen und handlungsorientierten Lernformen bietet darüber hinaus die Darstellung: De Florio-Hansen, Inez (2014): Fremdsprachenunterricht lernwirksam gestalten. Mit Beispielen für Englisch, Französisch und Spanisch. Tübingen: Narr (bes. 126-148). Auch die einschlägigen Fachzeitschriften (vgl. Kap. 7.2.2.2) bieten immer wieder Themen‐ hefte mit unterrichtsmethodischen Schwerpunkten (abgesehen davon, dass sie implizit natürlich in den zahlreichen unterrichtspraktischen Beispielen, die sie liefern, immer auch Beispiele für die Anwendung verschiedener methodischer Verfahren bzw. Techniken enthalten). Erwähnt seien an dieser Stelle exemplarisch folgende für Anfängerinnen und Anfänger besonders relevante Ausgaben: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 126, 2013 (Standardsituationen), mit den Themen: Unter‐ richtseinstiege, Lektionseinführungen, Unterrichtsgespräche führen, Fehlerkorrektur im Münd‐ lichen, Grammatikeinführung, Die Arbeit mit literarischen Texten, Semantisierungsverfahren, Vokabeltests, Filme im Französischunterricht, Hausaufgaben. 288 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="289"?> Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 63, 2018 (Standardsituationen), u.-a. mit den Themen: Stundenanfänge gestalten, Arbeitsaufträge und Abläufe visualisieren/ classroom management, Verfahren der Wortschatzarbeit usw. Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 67, 2019 (Actividades cortas). Weiterhin können folgende Themenhefte von Lehrerzeitschriften mit unterrichtsmethodi‐ schem Fokus exemplarisch erwähnt werden: Praxis Fremdsprachenunterricht - Basisheft und Französisch 6, 2019 (Wirksamer Fremdsprachenunter‐ richt) Praxis Fremdsprachenunterricht - Basisheft und Französisch 1, 2010 (Frontalunterricht) Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 44, 2014 (Kooperatives Lernen) Praxis Fremdsprachenunterricht - Basisheft und Französisch 4, 2013 (Aufgaben konstruieren), bes. mit den grundlegend einführenden Beitrag Caspari 2013 Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 96, 2008 (Lernaufgaben konkret) Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 41, 2013 (Lernaufgaben) Praxis Fremdsprachenunterricht - Basisheft und Französisch 4, 2020 (Unterrichtsdiskurs), vgl. bes. den grundlegenden Artikel Mertens 2020 („Répondez aux questions! Was sind gute Arbeitsanwei‐ sungen? “). Zunächst ebenfalls vor allem für den Bereich der Volkshochschulen, zwischenzeitlich zunehmend auch für den schulischen Bereich, sind vor allem seit den späten 1970er Jahren zahlreiche Sammlungen von Spielen für den Fremdsprachenunterricht vorgelegt worden. In vielen Fällen sind natürlich die Übergänge von kurzen Aktivitäten mit spielerischem Cha‐ rakter zu Spielen im engeren Sinne fließend. Auch enthalten verschiedene Handbücher zu Methoden und Aktivitäten im Fremdsprachenunterricht explizit spielerischen Aktivitäten gewidmete Abschnitte (z.-B. Häussermann/ Piepho 1996, Kapitel 14, 467-491, Vences 2019, 147 ff.). Dennoch seien an dieser Stelle, ergänzend zu den genannten Sammlungen, folgende dezidiert spielerischen Aktivitäten im Fremdsprachenunterricht gewidmete Veröffentli‐ chungen genannt. Bei der Auswahl wurden ältere, grundlegende Veröffentlichungen einerseits und jüngere Veröffentlichungen andererseits besonders berücksichtigt: Augé, Hélène/ Borot, Marie-France/ Vielmas, Michèle (1984): Kommunikative Lernspiele für den Fran‐ zösischunterricht. Ismaning: Hueber. Bruchet Collins, Janine (2013a): 77 kommunikative Spiele - Französische Grammatik in 10 Minuten. Stuttgart: Klett. Bruchet Collins, Janine (2013b): 77 kommunikative Spiele - Französischer Wortschatz in 10 Minuten. Stuttgart: Klett. Bruchet Collins, Janine (2017a): 77 kommunikative Spiele - Französische Aussprache in 10 Minuten. Stuttgart: Klett. Bruchet Collins, Janine (2017b): 77 kommunikative Spiele - Interkulturelle Kompetenz in 10 Minuten: Französisch. Stuttgart: Klett. Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 15, 2006 (Themenheft Spielen). Französisch heute 1, 2012 (Themenheft Spiele im Französischunterricht). Französisch heute 2, 2023 (Themenheft Jeux et énigmes). Kohl, Bert ( 2 2018, 1 2015): 66 Spielideen Französisch. Augsburg: Auer. 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 289 <?page no="290"?> Kuhlmeier, Dennis (2017): 66 Spielideen Spanisch. Augsburg: Auer. Leonie, Ute/ Kühn, Olaf/ Pelz, Manfred/ Wissebacher-Wagner, Hildegard (1988): Spiele & Rezepte. Materialien zur Motivation im Französischunterricht an weiterführenden Schulen. Frankfurt am Main: Diesterwerg. Leupold, Eynar (2007b): Spielerische Aktivitäten im Französischunterricht. Rätsel, Lieder, Reime, Spiele. Seelze: Kallmeyer. Macedonia, Manuela ( 5 2007, 1 2000): Sprachspiele. Tipps & Ideen zum Sprachenlernen. Englisch, Franzö‐ sisch, Italienisch, Spanisch, Deutsch. Wien: Veritas. Moreno, Teresa/ Rojas Riether, María Victoria (2016): 77 kommunikative Spiele - Interkulturelle Kompetenz in 10 Minuten: Spanisch. Stuttgart: Klett. Praxis Fremdsprachenunterricht - Basisheft und Französisch 3, 2016 (Themenheft Spiele). Rinvolucri, Mario/ Davis, Paul (1996a): 66 Grammatikspiele Französisch. Stuttgart: Klett. Rinvolucri, Mario/ Davis, Paul (1996b): 66 Grammatikspiele Spanisch. Stuttgart: Klett. Rinvolucri, Mario/ Davis, Paul (1996c): 66 Grammatikspiele Italienisch. Stuttgart: Klett. Rojas Riether, María Victoria (2015a): 77 kommunikative Spiele - Spanische Grammatik in 10 Minuten. Stuttgart: Klett. Rojas Riether, María Victoria (2015b): 77 kommunikative Spiele - Spanischer Wortschatz in 10 Minuten. Stuttgart: Klett. Rojas Riether, María Victoria (2017): 44 kommunikative Spiele - Spanische Aussprache in 10 Minuten. Stuttgart: Klett. Schmitt, Udo ( 5 1994, 1 1981): Buchstabensalat. 60 Lernspiele für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning: Verlag für Deutsch. Schütz, Wolfgang (2017): 27 Spiele für den Französischunterricht. Hamburg: Persen. Thierfelder, Prisca (2016): Spiele für den Französischunterricht. Kerpen: Kohl-Verlag. Darüber hinaus gibt es natürlich zahlreiche Spielesammlungen für die Arbeit mit Kinder- und Jugendgruppen, von denen sich etliche auf den Fremdsprachenunterricht übertragen lassen. Exemplarisch kann hier genannt werden: Baer, Ulrich ( 27 2016, 1 1994): 666 Spiele für jede Gruppe für alle Situationen. Seelze: Kallmeyer. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Spiel im Fremdsprachenunterricht: Hansen, Maike/ Wendt, Michael (1990): Sprachlernspiele. Grundlagen und annotierte Auswahlbiblio‐ graphie unter Berücksichtigung des Französischunterrichts. Tübingen: Narr. Kleppin, Karin (1980): Das Sprachlernspiel im Fremdsprachenunterricht. Untersuchungen zum Lehrer- und Lernerverhalten in Sprachlernspielen. Tübingen: Narr. Klippel, Friederike (1980): Spieltheoretische und pädagogische Grundlagen des Lernspieleinsatzes im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang. Zu Spielen mit besonderem Fokus auf Bewegung sowie zu bewegtem Lernen allgemein sei auf Band II, Kap. 1.2.9 (bes. 1.2.9.1) verwiesen. Dramapädagogische Ansätze im engeren Sinn werden ebenfalls in Band II, Kap. 1.2.9 (bes. 1.2.9.2) vorgestellt (vgl. weiterhin Band III, bes. Kap. 3.7 zum Einsatz dramatischer Texte im Unterricht der romanischen Sprachen). An dieser Stelle sollen daher nur folgende Material- und Aktivitätensammlungen zum szenischen Spiel im Unterricht der romanischen Sprachen erwähnt werden (darüber hinaus 290 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="291"?> grundlegend zum Schulspiel z. B. Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen 1997): Bergfelder-Boos, Gabriele/ Berger, Pascale/ Stolle, Ulrike: Theaterwerkstatt Französisch. Stuttgart: Klett 2004. Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 7, 1992 (Du jeu de rôle au théâtre), Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 36, 1998 (Le rideau se lève), Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 111, 2011 (Theaterpraktische Methoden) Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 42, 2013 (Szenisches Spiel) Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 61, 2018 (Sketche). 5.6.2 Unterricht in der Zielsprache - Grundlagen und 30 ausgewählte Ausdrücke auf Französisch, Italienisch und Spanisch Man bemüht sich heute in der Regel, den Unterricht in der Zielsprache zu gestalten, d. h., Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler sollten im Laufe eines Sprachlehrgangs zunehmend mehr und möglichst viel in der Fremdsprache interagieren, auch auf der Ebene der unterrichtlichen Metakommunikation. Daher ist es unabdingbar, dass angehende Lehr‐ kräfte sich grundlegend mit der Unterrichtssprache in der Zielsprache vertraut machen. Allerdings ist man heute davon abgekommen, den Unterricht „zwanghaft“ von Beginn an ausschließlich in der Zielsprache durchführen zu wollen, wie das in Deutschland etwa in der Folge der Direkten Methode über Jahrzehnte und insbesondere auch unter dem Schlagwort „Prinzip der Einsprachigkeit“ seit den 1950er Jahren der Fall war (vgl. die historische Darstellung in Butzkamm 1973, v. a. 25-91, hier 65). Noch 1970 konzipiert etwa Freudenstein die audio-linguale Methode seiner Prägung nach dem Prinzip der „absoluten Einsprachigkeit“ (Butzkamm 1973, 97) und bis weit in die 2000er Jahre konnten sich in den Studienseminaren teilweise strikt einsprachig-zielsprachliche Ansätze erhalten. Für den gegenwärtigen Fremdsprachenunterricht könnte man indes in Anlehnung an Wolfgang Butzkamm von einer „aufgeklärten Einsprachigkeit“ sprechen, die heute häufig auch als „funktionale Einsprachigkeit“ bezeichnet wird und, wie in Kap. 5.3 gezeigt wurde, als ein grundlegendes didaktisch-methodisches Prinzip des Fremdsprachenunter‐ richts gelten kann. Es kann beispielsweise an die dort zitierten Fachanforderungen des Landes-Schleswig-Holstein für die romanischen Sprachen der Jahre 2015 bis 2018 erinnert werden, in denen wie folgt formuliert wird: Funktionale Einsprachigkeit: […] Unterrichtssprache ist Französisch/ Spanisch/ Italienisch. Die deutsche Sprache wird in Ausnahmefällen zielführend eingesetzt, z. B. bei methodenorientiertem Arbeiten. (Ministerium für Schule und Berufsbildung 2015a und b, 17 f bzw. 16 sowie Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein 2018, 13) Dieser auch in diesem Handbuch vertretene Ansatz der „aufgeklärten“ oder „funktionalen“ Einsprachigkeit wurde von Wolfgang Butzkamm bereits 1973 postuliert (Butzkamm 1973) und über die Jahre weiterentwickelt (z. B. Butzkamm 1980, 2004, Butzkamm/ Caldwell 2009). Unter „funktionaler Einsprachigkeit“ versteht man die Tatsache, dass ein einspra‐ chig-zielsprachlicher Unterricht angestrebt wird, im Bedarfsfall aber punktuell auf Deutsch als unterrichtliche Metasprache zurückgegriffen werden kann (z. B. für die Erklärung eines 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 291 <?page no="292"?> grammatikalischen Phänomens oder für die Vermittlung komplexeren soziokulturellen Orientierungswissens im ersten Lernjahr). Frequenz und Dauer der Einsätze der Umge‐ bungssprache Deutsch sollten dabei tendenziell mit Fortschreiten eines Sprachlehrgangs abnehmen. Die Zielsetzung des Einsatzes der vertrauteren Umgebungssprache Deutsch ist zunächst auf kognitiver, mittelbar aber auch auf emotionaler Ebene zu verorten: Es geht einerseits um Verständnissicherung, der Einsatz des Deutschen kann den Lernenden gerade im ersten Lernjahr aber andererseits auch ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, so dass sie dem Unterricht in einer für sie neuen Fremdsprache weiterhin gerne beiwohnen und nicht den Eindruck haben, diesem schon zu einem frühen Zeitpunkt nicht mehr folgen zu können. Butzkamm weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Bedeutung der emotionalen Komponente hin und unterstreicht die Bedeutung der Atmosphäre (vgl. auch Kap. 1.4.1, 6.1.3) bzw. eines „positiven Arbeitsklimas“ im Fremdsprachenunterricht (vgl. Butzkamm 2004, 273-327). Dieses kann - neben zahlreichen anderen, vielfach von der Lehrperson abhängigen Faktoren wie etwa Freundlichkeit, Fairness und Strenge (vgl. Butzkamm 2004, 322-326) - u. a. auch durch den wohldosierten Einsatz der Umgebungssprache Deutsch mit geprägt werden (Stichworte: Gefühl der „Sicherheit“, des „Mitkommens“ gerade auch im Anfangsunterricht; Butzkamm führt dies unter den Schlagwörtern: „Muttersprache: Nestwärme, Geborgenheit, Vertrauen“ weiter aus, Butzkamm 2004, 278 f.). Als ein tragfähiges Verfahren, eine „aufgeklärte Einsprachigkeit“ im Fremdsprachenun‐ terricht auch beiläufig zu realisieren - z. B. bei Verständnisschwierigkeiten im Bereich des Wortschatzes -, hat Butzkamm immer wieder auf das von ihm so genannte „Sand‐ wich-Verfahren“ hingewiesen, das aus folgendem Dreischritt in der Lehrersprache besteht: (1) Äußerung in der Zielsprache - (2) Übersetzung eines Lexems/ Satzteils usw. auf Deutsch - (3) Wiederholung der Äußerung in der Zielsprache und Fortsetzung der unterbrochenen Äußerung (z. B. Butzkamm 2004, 15-17). Dies führt dazu, dass die Lehrperson eine sprach‐ liche Hilfestellung auf Deutsch geben kann, ohne dass sie ihren Redebeitrag unterbrechen müsste: Beispiele in den romanischen Sprachen wären etwa (in Anlehnung an Butzkamm 2004, 15): Lehrkraft: Tu as sauté une ligne. Eine Zeile übersprungen. Tu as sauté une ligne. Relis donc à partir de … , s’il te plaît. Vamos a hablar sobre los problemas de sequía en la Doñana. Probleme der Trockenheit. Vamos a hablar sobre los problemas de sequía en la Doñana y por eso, para empezar, vamos a … Quest’anno faremo uno scambio. Einen Schüleraustausch. Quest’anno faremo uno scambio e per questo dobbiamo organizzare alcune cose. Trotz dieses Plädoyers für den „aufgeklärten“, „funktionalen“ Einsatz der Umgebungs‐ sprache Deutsch gerade im Anfangsunterricht der zweiten und dritten Fremdsprachen sollte eine Lehrkraft es sich und den Schülerinnen und Schülern natürlich nicht durch übermäßigen Rückgriff auf das Deutsche „zu einfach machen“ und ein zunehmender, überwiegender und später beinahe ausschließlicher Gebrauch der Zielsprache angestrebt werden. Hier sind Fingerspitzengefühl und Disziplin gleichermaßen erforderlich, um 292 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="293"?> einerseits das Gefühl der Geborgenheit zu sichern, andererseits so früh wie möglich größtmögliche Teile des Unterrichts in der Zielsprache gestalten zu können. Für die Vorbereitung und die Durchführung von Unterricht in der Zielsprache sei daher auf folgende Publikationen verwiesen, die sich speziell der unterrichtlichen Metasprache in den einzelnen romanischen Sprachen widmen: Fagnani, Maria Letizia/ Pugliarelli, Sibylle (2019): Unterricht - Italiano/ Italiano - Unterricht. Unterricht sicher in der Zielsprache gestalten. Berlin: Cornelsen. Imedio Murillo, María Eloísa/ Arencibia Guerra, Lastenia ( 3 2019, 1 2015): Unterricht - Español/ Español - Unterricht. Unterricht sicher in der Zielsprache gestalten. Berlin: Cornelsen. Lamers-Etienne, Aurélie (2015): Unterricht - Français/ Français - Unterricht. Unterricht sicher in der Zielsprache gestalten. Berlin: Cornelsen. Der Inhalt dieser Bändchen sei für die jeweils eigene(n) romanische(n) Fremdsprache(n) zur Verinnerlichung empfohlen, da die sprachpraktische Ausbildung an den meisten Hochschulen noch immer keine spezifische Ausbildung in Eigenheiten der unterrichtlichen Metasprache beinhaltet. Ausführlicher, aber nicht mehr ganz so aktuell (bes. auch Begriffe der Kompetenzorien‐ tierung und des Medieneinsatzes betreffend) sind: Boisson, Anne/ Reumuth, Wolfgang (1995): Unterrichtssprache Deutsch - Französisch. Wilhelmsfeld: Egert. Chiaro, Maria Grazia/ Reumuth, Wolfgang (1994): Unterrichtssprache Deutsch - Italienisch. Wilhelms‐ feld: Egert. Einsprachig-zielsprachliche Glossare zu Fachdidaktik und Fremdsprachenunterricht finden sich im Internet, wobei solche Glossare eben oft nicht den Spezifika des deutschen Bildungswesens und des Fremdsprachenunterrichts im deutschen Sprachraum Rechnung tragen. Gleichwohl sei zumindest für das Spanische und das Italienische auf zwei wertvolle Ressourcen verwiesen, namentlich die frei zugänglichen digitalen Fassungen auch in Printform existierender Nachschlagewerke zur Fremdsprachendidaktik. Für das Spanische ist dies der Diccionario de términos clave de ELE auf den Seiten des Centro Virtual Cervantes (https: / / cvc.cervantes.es/ Ensenanza/ biblioteca_ele/ diccio_ele/ default.htm, 03.12.2020), für das Italienische der Nozionario di glottodidattica auf den Seiten des Projekts „Itals“ der Universität Venedig (https: / / www.itals.it/ nozion/ noziof.htm, 03.12.2020) (vgl. die Druckfas‐ sungen Martín Peris et al. 2008 bzw. Balboni 1999). Für Spanisch kann darüber hinaus in Buchform auf Palacios Martínez 2007, für Französisch grundlegend auf Cuq 2010 und Robert 2008 hingewiesen werden. Im Folgenden werden für Französisch, Spanisch und Italienisch je dreißig Ausdrücke zur Gestaltung des Unterrichts in der Zielsprache gegeben. Diese können für Anfänge‐ rinnen/ Anfänger hilfreich sein, um sich auf die unterrichtliche Interaktion in der Ziel‐ sprache vorzubereiten, die im sprachpraktischen Studium häufig nicht gezielt fokussiert wird. Zugleich eignen sich diese sehr reduzierten Listen auch, um sie Schülerinnen und Schülern auszuhändigen, damit auch diese möglichst früh möglichst viel in der Zielsprache kommunizieren können, gerade auch bezogen auf die unterrichtliche Meta-Kommunika‐ tion bzw. Interaktion im Klassenraum. 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 293 <?page no="294"?> Ausdrücke zur zielsprachlichen Interaktion im Französischunterricht Expressions utiles pour l´interaction en classe , s´il te plaît , s´il vous plaît } bitte (Du / Sie, Ihr) E -> E = les élèves entre eux E -> P = les élèves s´adressant au professeur P -> E = le professeur s´adressant aux élèves E -> E Plus fort, s´il te plaît. - Lauter bitte. Pourrais-tu répéter, (Matthias)? - Könntest Du das wiederholen, (M.)? Aide-moi, (Christina), s´il te plaît. - Hilf mir bitte, (C.). Continue, (Mario), s´il te plaît. - Mach bitte Du weiter, (M.). Moi, je le sais. - Ich weiß es. Je peux répondre / - Darf ich antworten/ / Puis-je continuer? weitermachen? E -> P Plus lentement, s´il vous plaît. - Langsamer bitte. Je ne sais pas. - Ich weiß es nicht. (Non,) je n´ai pas compris. - (Nein), ich habe nicht verstanden. Pourriez-vous répéter, s´il vous plaît? - Könnten Sie das bitte wiederholen? Pourriez-vous expliquer ... - Könnten Sie ... erklären? ce mot / cette phrase / cette règle? dieses Wort/ diesen Satz/ diese Regel commment fonctionne ... / wie ... funktioniert comment on forme ...? wie man ... bildet Excusez-moi, (mais ...) - Ich bitte um Entschuldigung, aber ... J´ai une question. - Ich habe eine Frage. Je peux / Puis-je aller aux toilettes? - Darf ich auf die Toilette gehen? Comment on dit en français «...»? - Wie sagt man «...» auf Französisch? Qu´est-ce que veut dire «...» - Was heißt «...» en allemand? auf Deutsch? 294 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="295"?> P -> E On va contrôler les présences. - Wir führen die Anwesenheitskontrolle durch. Fais attention à la prononciation! - Achte auf die Aussprache. Attention à la forme! - Achte auf die Form. Complétez (le texte). - Vervollständigt (den Text). Mettez les formes correctes. - Setzt die richtigen Formen ein. C´est vrai ou c´est faux? - Ist das richtig oder falsch? Viens au tableau/ - Komm an die Tafel/ au rétroprojecteur an den OHP au tableau interactif. ans interaktive Whiteboard. Prends la craie / - Nimm die Kreide/ le feutre / le stylet. den Filzstift / Whiteboard- Stift. Écris au tableau - Schreib an die Tafel sur le transparent. auf die Folie. Écrivez dans vos cahiers. - Schreibt in eure Hefte. A toi, (Maria). - Jetzt ist (M.) an der Reihe. Travaillez à deux. - Arbeitet zu zweit. Travaillez en groupes de (trois) (personnes)- Arbeitet in (Dreier-) gruppen. Travaillez en silence. - Arbeitet still. Ausdrücke zur zielsprachlichen Interaktion im Spanischunterricht Expresiones útiles para la interacción en el aula , por favor bitte , porfa } (-> Du) A -> A = los alumnos entre ellos A -> P = los alumnos dirigiéndose a la profesora / al profesor P -> A = la profesora / el profesor dirigiéndose a los alumnos A -> A Más fuerte, por favor. - Lauter bitte. ¿Puedes repetir, (Matthias)? - Könntest Du das wiederholen, (M.)? Ayúdame, (Christina), por favor. - Hilf mir bitte, (C.). Continúa, (Mario), por favor. - Mach bitte Du weiter, (M.). Yo (lo) sé. - Ich weiß es. ¿Puedo contestar/ - Darf ich antworten/ continuar? weitermachen? 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 295 <?page no="296"?> A -> P Más despacio, por favor. - Langsamer bitte. No sé. - Ich weiß es nicht. (No,) on lo he entendido. - (Nein), ich habe nicht verstanden. ¿Puede / podría repetirlo, por favor? - Könnten Sie das bitte wiederholen? ¿Puede / podría explicar ... - Könnten Sie ... erklären? esta palabra / oración / regla? dieses Wort/ diesen Satz/ diese Regel cóme funciona .../ cóme se forma ...? wie man ... bildet Perdone / Discuple, (pero ...) - Ich bitte um Entschuldigung, aber ... Tengo una pregunta. - Ich habe eine Frage. ¿Puedo ir al baño / a los servicios? - Darf ich auf die Toilette gehen? ¿Cómo se dice en español «...»? - Wie sagt man «...» auf Spanisch? ¿Qué significa «...» en alemán? - Was heißt «...» auf Deutsch? P -> A Vamos a controlar la asistencia. - Wir führen die Anwesenheitskontrolle durch. Cuidado con la pronunciación! - Achte auf die Aussprache. Atención a la forma! - Achte auf die Form. Completad (el texto). - Vervollständigt (den Text). Poned las formas correctas. - Setzt die richtigen Formen ein. ¿Es correcto o no / errado? - Ist das richtig oder falsch? Ven a la pizarra / - Komm an die Tafel/ al retroproyector an den OHP a la pizarra interactiva. ans interaktive Whiteboard. Toma la tiza / - Nimm die Kreide/ el rotulador. den Filz- / Whiteboard- Stift. Escribe en la pizarra - Schreib an die Tafel en la lámina. auf die Folie. Escribid en el cuaderno. - Schreibt in eure Hefte. Es tu turno, (Maria). - Jetzt ist (M.) an der Reihe. Vamos a trabajar en parejas. - Ihr arbeitet zu zweit. Vamos a trabajar en grupos de (tres) - Arbeitet in (Dreier-) gruppen. (personas). Trabajad / Vais a trabajar en silencio. - Arbeitet still. Ausdrücke zur zielsprachlichen Interaktion im Italienischunterricht Espressioni utili per l´interazione in classe , per favore , per cortesia } bitte , per piacere 296 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="297"?> S -> S = studenti tra di loro S -> P = studenti rivolgendosi alla professoressa / al professore P -> S = professore rivolgendosi agli studenti S -> S Più forte, per favore. - Lauter bitte. Potresti ripetere, (Matthias)? - Könntest Du das wiederholen, (M.)? Aiutami, (Christina), per favore. - Hilf mir bitte, (C.). Continua, (Mario), per cortesia. - Mach bitte Du weiter, (M.). Io lo so. - Ich weiß es. Posso rispondere (io)/ - Darf ich antworten/ continuare (io)? weitermachen? S -> P Più piano, per favore. - Langsamer bitte. Non lo so. - Ich weiß es nicht. (No,) Non ho capito. - (Nein), ich habe nicht verstanden. Potrebbe ripetere, per favore? - Könnten Sie das bitte wiederholen? Potrebbe spiegare ... - Könnten Sie ... erklären? questa parola/ frase/ regola? dieses Wort/ diesen Satz/ diese Regel come funziona .../ come si forma ...? wie man ... bildet Chiedo scusa, (ma ...) - Ich bitte um Entschuldigung, aber ... Ho una domanda. - Ich habe eine Frage. Posso andare al bagno? - Darf ich auf die Toilette gehen? Come si dice in italiano «...»? - Wie sagt man «...» auf Italienisch? Che cosa vuol dire «...» in tedesco? - Was heißt «...» auf Deutsch? P -> S Facciamo l´appello. - Führen wir die Anwesenheitskontrolle durch. Attento / a alla pronuncia! - Achte auf die Aussprache. Attenzione alla forma! - Achte auf die Form. Completate (il testo). - Vervollständigt (den Text). Mettete le forme giuste. - Setzt die richtigen Formen ein. E´ corretto o sbagliato? - Ist das richtig oder falsch? Vieni alla lavagna/ - Komm an die Tafel/ alla lavagna luminosa an den OHP alla lavagna elettronica ans interaktive Whiteboard. / alla LIM(lavagna interattiva multimediale) Prendi il gesso/ - Nimm die Kreide/ la penna. den Filz- / Whiteboard- Stift. Scrivi alla lavagna - Schreib an die Tafel sul lucido. auf die Folie. Scrivete sul quaderno. - Schreibt in eure Hefte. Tocca a (Maria). - Jetzt ist (M.) an der Reihe. Lavorate a coppie. - Arbeitet zu zweit. Lavorate in gruppi di (tre) - Arbeitet in (Dreier-) gruppen. persone. Lavorate in silenzio. - Arbeitet still. Abb. 60: 30 Ausdrücke für die zielsprachliche Interaktion im Unterricht der romanischen Sprachen (Französisch/ Spanisch/ Italienisch) 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 297 <?page no="298"?> Weitere wichtige Wörter und Ausdrücke für die zielsprachliche Interaktion, die Anfänge‐ rinnen und Anfängern mitunter nicht sofort präsent sind, sind beispielsweise: Weitere nützliche Ausdrücke für die Gestaltung des Unterrichts in der Zielsprache (Französisch, Spanisch, Italienisch) - Deutsch Französisch Spanisch Italienisch Klassenbuch le cahier de classe el registro (de clase) el libro de clase il registro wir fangen an mit/ zu on commence par (+ Subst./ Infinitiv) empezar con/ por empezar + ge‐ rundio cominciare/ iniziare con/ cominciare/ ini‐ ziare a + Inf. Aufwärmphase - l’échauffement/ la phase d’ el calentamiento/ la fase de il riscaldamento/ la fase di - Brainstorming - le remue-méninge la lluvia de ideas il brain storming Hausaufgaben - les devoirs los deberes i compiti Übung - l’exercice el ejercicio l’esercizio Lernaufgabe - la tâche la tarea il compito Helfersystem/ scaffolds le support linguistique, le système d’appui el sistema de apoyo, el andamio il supporto linguis‐ tico, il sistema di appoggio Arbeitsblatt la fiche de travail la hoja de trabajo, la ficha de trabajo la scheda di lavoro - (die Lücken) ausfüllen - remplir (les espaces) rellenar (los espa‐ cios) riempire (gli spazi) (die richtige Antwort) an‐ kreuzen cocher (la bonne ré‐ ponse) marcad con una cruz (la repuesta correcta) segnate con una croce (la risposta corretta) … und … zuordnen/ kom‐ binieren (z.-B. Bilder und Text) combiner (images et texte). combinar/ empa‐ rejar (imágines y texto) combinare/ abbinare (immagini e testo/ le immagini al testo) Macht Euch Notizen! - Prenez des notes. Tomad notas. Prendete appunti. Lückentext le texte à trous el texto con hu‐ ecos, de relleno, el cloze los espacios en blanco il cloze il testo con lacune, il testo di riempimento 298 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="299"?> Weitere nützliche Ausdrücke für die Gestaltung des Unterrichts in der Zielsprache (Französisch, Spanisch, Italienisch) - Multiple-Choice-Aktivität le questionnaire à choix multiple (le QCM) la (actividad de) se‐ lección múltiple l’attività a scelta mul‐ tipla Laufdiktat la dictée en mouve‐ ment/ à courir el dictado en movi‐ miento il dettato in movi‐ mento Zeile - la ligne la línea la riga One-Minute-Talk la présentation minute, l’exposé minute la charla de un mi‐ nuto la relazione di un mi‐ nuto Kugellager la discussion carrousel, le (jeu du) roulement à billes el tiovivo, el (juego del) roda‐ miento il (gioco del) cusci‐ netto a sfere Omniumkontakt/ Markt‐ platz la place du marché, la conversation prome‐ nade el mercado la fiesta il gioco della piazza del mercato Rollenspiel Sonderform: Talkshow le jeu de rôle le talk-show el juego de roles el talk show il gioco di ruolo il talk show Rollenkarte la carte de rôle la ficha de rol, la tarjeta de rol la scheda di ruolo, la carta per il gioco di ruolo stilles Schreibgespräch la conversation/ la dis‐ cussion silencieuse la discusión silen‐ ciosa la conversazione si‐ lenziosa Platzdeckchen - le set de table el placemat il placemat Museumsrundgang la promenade au musée el paseo por el museo/ por la ga‐ lería, la galería, el gallery walk il giro per il museo, la visita al museo, il gallery walk Standbild le tableau figé la estátua, la escultura la statua, la tecnica della la scultura, Beobachtungsbogen - la fiche d’observation la hoja de observa‐ ción la scheda di osserva‐ zione Lerntempoduett/ Bus stop - l’arrêt de bus la parada del au‐ tobús la fermata dell’au‐ tobus Stationenlernen - l’atelier tournant el aprendizaje por etapas l’apprendimento per tappe zu zweit/ in Partnerarbeit arbeiten travailler à deux, travailler en binôme trabajar en parejas lavorare in due, lavorare in coppie Think-Pair-Share -- penser/ réfléchir - par‐ tager/ échanger - pré‐ senter el método 1 - 2 - 4 el método “piensa, trabaja en pareja, (/ y) comparte il metodo think - pair - share, 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 299 <?page no="300"?> Weitere nützliche Ausdrücke für die Gestaltung des Unterrichts in der Zielsprache (Französisch, Spanisch, Italienisch) - il metodo “pensa - coppia/ discuti - con‐ dividi”, il metodo “penso - scambio - condivido” in Gruppen arbeiten - travailler en groupes (de quatre) trabajar en grupos (de cuatro) lavorare in gruppi (di quattro) Expertenpuzzle la classe en puzzle, le mosaïque de groupes el puzle de ex‐ pertos, el método jigsaw il mosaico di esperti, il metodo del jigsaw Stammgruppe le groupe de recherche/ d’appren‐ tissage el grupo original il gruppo casa Expertengruppe - le groupe d’experts el grupo de ex‐ pertos il gruppo esperti Trau Dich! - Courage! Venga, ¡atrévete! Su, coraggio! gut, sehr gut! Bien! , Très bien! ¡Bien! , ¡Muy bien! Brava! / Bravo! Hai fatto molto bene! Glückwunsch! - Félicitations! ¡(Muchas) felicid‐ ades! Complimenti! Stegreifaufgabe/ Extem‐ porale (v.-a. Bayern) le testel test, la tarea improvi‐ sada il test, l’estemporanea Klassenarbeit l’interrogation écrite, l’interro el examen, la prueba escrita il compito in classe der Beamer - le projecteur el cañón il (video)proiettore (große) Pause - la récré(ation) el recreo l’intervallo Schüleraustausch l’échange (scolaire) el intercambio (escolar, de alumnos) lo scambio (di stu‐ denti), il gemellaggio Abb. 61: Weitere nützliche Ausdrücke für die Gestaltung des Unterrichts in der Zielsprache (Fran‐ zösisch, Spanisch, Italienisch) (in der Auswahl ausgehend von Lamers-Etienne 2015, Imedio Mu‐ rillo/ Arencibia Guerra 2019 und Fagnani/ Pugliarelli 2019, ergänzt um eigene Recherchen) Der Imperativ für Arbeitsanweisungen scheint ein traditionelles, deutsches Phänomen zu sein. In der gesprochenen Unterrichtsinteraktion wird man daher eher auf Aussagen in der ersten oder zweiten Person Plural im Indikativ zurückgreifen vom Typus „(Maintenant) vous allez/ nous allons (faire) …“, „(Ahora) vais a …“, „Adesso facciamo …“, Überleitungen kann 300 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="301"?> man mit dem Verb „passer à“, „pasar a“, „passare a“ (übergehen zu) markieren. Viele der ge‐ nannten Begriffe z. B. zu kooperativen Arbeitsformen sind inzwischen international belegt und etabliert, zumindest in einigen der hier relevanten romanophonen Bildungssystemen, in anderen Fällen handelt es sich bei den in der Liste genannten Lexemen um Adaptionen der entsprechenden deutschen Begriffe. In romanophonen unterrichtsmethodischen Texten findet man immer wieder auf metasprachlicher Ebene den vorangestellten Begriff „la technique de/ la técnica de/ la tecnica di + bestimmter Artikel“ (z. B. „la tecnica della statua“ für „Standbild“) . Vielfach wird man die Aktivitäten mit „(maintenant) on va faire …“, „(ahora) vamos a hacer …“, „(adesso) facciamo …“ einleiten, und ggf. statt dem für die Schülerinnen und Schüler sehr abstrakten Begriff des Verfahrens oder der „Technik“ eher ein (in romanophonen Texten auch belegtes) „jeu de …“, „juego de …“, „gioco di …“ ergänzen, also z. B. „Ahora vamos a hacer el juego de las estátuas“ (Standbilder), „adesso facciamo il gioco del cuscinetto a sfere“ (Kugellager) oder den Ausdruck einfach in einen idiomatisch möglichen Satz wie „facciamo un giro per il museo“ (Museumsrundgang) einbetten. Über diese Listen und Hinweise hinausgehend sei insbesondere an die oben genannten umfangreicheren Glossare Lamers-Etienne 2015, Imedio Murillo/ Arencibia Guerra 2019 und Fagnani/ Pugliarelli 2019 erinnert, sowie dazu ermutigt, sich in den sprachpraktischen Übungen des Studiums eigene Übersichten zur Verwendung der unterrichtlichen Meta‐ sprache durch die erstsprachlichen Lektorinnen und Lektoren zu erstellen. Auch sollte man sich im Laufe der Berufstätigkeit innerhalb der Fachschaften, auch schulübergreifend z. B. auf Landesebene, immer wieder Gedanken machen, wie man z. B. neue Lerntechniken in der Fremdsprache wiedergeben kann. Mitunter ist dies nicht ganz einfach, da bestimmte - v. a. administrative - Begriffe landes- oder zumindest z. B. deutschlandspezifisch sind und eine Wiedergabe in der Zielsprache nicht immer möglich bzw. sinnvoll ist, da sie ohnehin nicht verstanden würde. Entsprechende Überlegungen können z. B. bei Schüleraustauschen im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen überprüft werden. 5.6.3 Unterrichtstechniken - Auswahl einer „Top 20“: 20 Unterrichtsverfahren für einen kommunikationsorientierten und nachhaltigen Fremdsprachenunterricht Es folgt eine natürlich subjektive und im Umfang bewusst auf 20 Verfahren (und ihre Vari‐ anten) begrenzte Auswahl von Unterrichtsverfahren, die der Verfasser auch aufgrund seiner eigenen Unterrichtspraxis in den Sekundarstufen I und II für besonders empfehlenswert erachtet - wobei der Einsatz natürlich immer mit der eigenen Lehrpersönlichkeit und vor allem mit der jeweiligen Lerngruppe und -situation kompatibel sein muss. Letztlich können und sollen die hier skizzierten Grundformate ausgewählter Aktivitäten und Techniken nur dazu anregen, der eigenen Kreativität bei der Unterrichtsgestaltung einige Impulse zu geben: Im Anpassen, Kombinieren, Variieren und Weiterentwickeln solcher Formate auch in anderen als den genannten unterrichtlichen Kontexten und im Erschließen und Erfinden neuer Formate für den Fremdsprachenunterricht besteht ein Aspekt des großen kreativen Potentials, das den Beruf der Lehrkraft so interessant und lebendig macht und durch das andererseits wiederum der Fremdsprachenunterricht selbst innovierend weiterentwickelt wird. 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 301 <?page no="302"?> 1. Kommunikative Stundeneinstiege (z.-B. Mini-Maxi) Bemüht man sich um einen schüleraktivierenden, mündlichkeits- und kommunikations‐ orientierten Fremdsprachenunterricht, kann es sich anbieten, an den Stundenanfang als „Aufwärmphase“, beinahe wie ein Ritual, in Partnerarbeit zu bearbeitende „kommunikative Stundeneinstiege“ zu stellen. Dadurch haben während der ersten zwei, drei Minuten alle Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, zumindest kurz in der Fremdsprache zu sprechen. Es folgt eine Präsentation der Lösungen im Plenum durch zwei bis drei Zweiergruppen. So kann man innerhalb von maximal fünf Minuten eine alle Schülerinnen und Schüler aktivierende, auf die Fremdsprache einstimmende Aufwärmphase vorschalten, die auch zur Wiederholung von Inhalten der Vorstunde geeignet ist. Denkbar sind u. a. das Format des „Mini-Maxi“, einer Art Reizwortgeschichte, die in einen Dialog münden soll und bei der (z. B. auf Folie, per Beamer, usw.) in zwei Spalten für jede der zwei beteiligten Personen je ca. 5 Wörter aus dem aktuellen Lern- oder Wiederholungswortschatz vorgegeben werden, um die herum ein bekannter, ggf. für die fragliche Stunde zu wiederholender, Dialog (re-)konstruiert werden kann und muss (ISB 2005, 173). Weiterhin bietet sich für dieses ritualisierte Verfahren z. B. die „handlungsorientierte Grammatikarbeit“ (vgl. Leupold 2002, 132) an, bei der Zahl und Umfang der Lücken in einem Dialog sich nicht nur auf die aktuellen Grammatikphänomene, sondern z. B. auch auf den Wortschatz beziehen und in zunehmendem Maße die freie, kreative Ausgestaltung und Fortsetzung des Dialogs anregen. Dieser vorgegebene Dialog kann in seiner Grundstruktur schon im Anfangsunterricht recht bald ein offenes Ende haben. Gerade bei 67,5 Minuten-Stunden oder Doppelstunden kann es sich anbieten, ein solches kommunikatives Ritual auch ans Ende einer Stunde zu stellen (hierzu vgl. Alonso Muñiz 2019). 2. Schülerinnen und Schüler sich gegenseitig aufrufen lassen Eine weitere Möglichkeit, den Schülersprechanteil zu erhöhen, besteht darin, die Schüle‐ rinnen und Schüler sich gegenseitig aufrufen zu lassen. Es ist darauf zu achten, dass sich die Schülerinnen und Schüler nicht nur mit dem Namen aufrufen, sondern zumindest an den Namen ein „s’il te plaît“, „por favor“, „per favore“ anhängen, idealerweise aber auch weitere sprachliche Mittel verwenden, die mit entsprechenden Glossaren zur Interaktion im Unterricht eingeführt werden sollten (s. o. Kap. 5.6.2). Denkbar sind bereits im Anfangsun‐ terricht z. B. im Französischen „Continue XY, s’il te plaît“, „C’est à qui? “, „Qui veut continuer? “ usw. Dies kann, gerade in jüngeren Klassen und sofern eine Aktivität in einem Kreis durch‐ geführt werden kann, mit dem Zuwerfen eines kleinen Balles o.Ä. untermauert werden (z. B. Softball, Wollknäuel, idealerweise ein nicht verspringender Gegenstand). Hierdurch wird ein spielerisches Element des bewegten Lernens (vgl. hierzu Band II, Kap. 1.2.9) in den Fremdsprachenunterricht integriert. Weitere Varianten beim Aufrufen von Schülerinnen und Schülern in Übungsphasen im Plenum, die zu einem schnellen Ablauf der Aktivitäten beitragen, vor allem aber auch dazu, dass alle Lernenden aktiviert werden, sind die Formate der Kettenübung, der Zickzackübung und der Kreuzfeuerübung. Bei der Kettenübung kommt ein/ e Schüler/ in nach der anderen an die Reihe, man kann hier alle Lernenden aktivieren und die mögliche 302 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="303"?> Dominanz leistungsstärkerer Lernender unterbinden, zugleich ist die Reihenfolge vorher‐ sehbar und ggf. eine lange Wartezeit für die/ den letzten in Kauf zu nehmen (bei großen Klassen daher ggf. zwei Ketten parallel in Gang setzen). Insofern eignet sich das Format der Kettenübung besonders für Aktivitäten mit wenig umfangreichem Output und vor allem dazu, an einem bestimmten Punkt in der Stunde bei einer eher formbezogenen und daher im Plenum konzipierten Aktivität alle Schülerinnen und Schüler einzubeziehen. Bei der Zick‐ zackübung, für die mehr noch als für die Kettenübung eine kommunikative Sitzordnung in U-Form sinnvoll ist, gilt Ähnliches. Bei der Kreuzfeuerübung wiederum rufen sich die Lernenden gegenseitig durch Zuwerfen eines Balles auf (hierzu s. o.), es kommt also ein Überraschungsmoment hinzu, weiterhin wie oben beschrieben der Aspekt des bewegten Lernens. Um die Sprachproduktion der Schülerinnen und Schüler und die Aufmerksamkeit aller zu erhöhen, sollte darauf geachtet werden, dass die Aufgabenstellung, das Aufrufen (s. o.) usw. bereits formuliert sind, bevor der Ball geworden wird (zu diesen Formaten vgl. Kooperation der Volkshochschulen am Niederrhein 2013, 32 f.). 3. Schülerinnen und Schüler Aktivitäten selbst erstellen und/ oder besprechen und korrigieren lassen (vgl. „Lernen durch Lehren“, „reziprokes Lehren“) Mit sich entwickelnden fremdsprachlichen Kompetenzen im Laufe eines Sprachlehrgangs kann es sich anbieten, die Schülerinnen und Schüler in zunehmendem Maße und zuneh‐ mender Komplexität selbst mit Teilen der „Lehrerrolle“ zu betrauen: Schon früh können Schülerinnen und Schüler zum Beispiel ihr Lieblingslied in der Fremdsprache für den Unterricht aussuchen und z. B. als Textpuzzle (Umstellen der abgedruckten Strophen, die dann beim Hören in die richtige Reihenfolge gebracht werden sollen) oder mit Lücken an Stellen, die die Mitschülerinnen und -schüler aufgrund des Lernstands ausfüllen können, versehend einfach „didaktisch-methodisch“ aufbereiten und ggf. auch den Hörvorgang und die Besprechung selbst anleiten. Im weiteren Verlauf eines Sprachlehrgangs kann man Schülerinnen und Schüler ggf. darüber hinaus dazu anhalten, Übungen selbst zu entwickeln und auch die Besprechung im Unterricht selbst zu übernehmen. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass die ent‐ sprechenden Aktivitäten und Lösungen im Vorfeld durch die Lehrkraft korrigiert werden, dass also eine gewisse Logistik in der Vorbereitung erforderlich ist, so dass Aktivitäten immer rechtzeitig zur Verfügung stehen. Einfacher realisierbar ist z. B. die durch eine Schülerin/ einen Schüler angeleitete Besprechung einer Hausaufgabe im Plenum gerade auch im Anfangsunterricht z. B. dann, wenn dieser Schülerin/ diesem Schüler ein Lösungs‐ schlüssel durch die Lehrkraft zur Verfügung gestellt wird. Dann erzielt man zwar keine vertiefte Durchdringung des Stoffes durch die Schülerin/ den Schüler, die/ der jeweils die Lehrerrolle übernimmt, aber der Schülersprechanteil während der Stunde wird insgesamt erhöht und auch die häufig in Form des Frontalunterrichts stattfindende Besprechung einer Hausaufgabe wird so nicht lehrer-, sondern letztlich schülerzentriert durchgeführt. Dieses Verfahren eignet sich vor allem für tendenziell geschlossene, formorientierte Übungen (z. B. einfache Lückentexte). In fortgeschrittenen Kursen der Oberstufe ist in Phasen der Grammatik-Wiederholung denkbar, ein für das Selbststudium in der Erwachsenenbildung konzipiertes Grammatik-Übungsbuch für fortgeschrittene Lernende einzusetzen, und die entsprechenden Phasen der Besprechung einzelner Kapitel z. B. einmal pro Woche komplett 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 303 <?page no="304"?> durch eine Schülerin/ einen Schüler anleiten und durchführen zu lassen (z. B. Jahrgangsstufe 11 in G9 der 2. oder 3. Fremdsprache, Jahrgangsstufen 12/ 13 in G9 in der spät beginnenden Fremdsprache). Diese Elemente der Übernahme der Lehrerrolle durch einzelne Schülerinnen und Schüler finden ihre Ursprünge in dem Verfahren „Lernen durch Lehren“ („LdL“), das seit den späten 1970er und den frühen 1980er Jahren innerhalb der Französischdidaktik von einer ganzen Reihe von Lehrkräften und Seminarlehrern um den Eichstätter Fachdidaktiker Jean-Pol Martin entwickelt wurde (bes. Martin 1985, 1994) und vom Französischunterricht her kommend in den 1990er und 2000er Jahren unter den Vorzeichen der Lernerautonomie und Schülerorientierung in den verschiedensten Fächern stark rezipiert wurde. Setzt man LdL konsequent um, wird der gesamte Unterricht in wechselnder Besetzung durch die Schüle‐ rinnen und Schüler gestaltet, die Aktivität der Lehrkraft verlagert sich schwerpunktmäßig auf die intensive Begleitung der Unterrichtsvorbereitung durch die jeweils beauftragten Schülerinnen und Schüler, der Lehrkraft kommt im Unterrichtsverlauf nur noch unterstüt‐ zende Funktion zu. Letztlich anthropologisch und pädagogisch begründet (vereinfacht gesprochen: Bedürfnis nach und Erziehung zur Selbständigkeit) bietet das Verfahren - über den genannten pädagogischen Aspekt hinaus - gerade für den Fremdsprachenunterricht - den Vorteil einer immensen Erhöhung des Schülersprechanteils. Ein Nachteil bei der kon‐ sequenten Umsetzung des Verfahrens besteht aber ebenfalls genau hierin, nämlich insofern, als den Schülerinnen und Schülern das sprachliche Vorbild einer idealtypischerweise mit einer near-native (Aus-)Sprache agierenden Lehrperson weitgehend fehlt - wie auch darin, dass ausgebildete Lehrkräfte als Erklärende und Lehrende letztlich besseren Unterricht gestalten sollten als Kinder und Jugendliche gerade in Unter- und früher Mittelstufe. Dennoch ist LdL auf starke Resonanz gestoßen und trotz dieser Einwände kann der Einsatz von Elementen aus LdL, wie er oben angedeutet wurde, den Grad der Schüleraktivierung und der Schülermotivierung erhöhen (einführend zu LdL aus unterrichtspraktischer Sicht bezogen auf den Französischunterricht z.-B. auch Knoll 2017b, 50). Vom Grundprinzip verwandt mit dem vor allem in (Süd-)Deutschland entwickelten Verfahren des „Lernens durch Lehren“ ist das dem internationalen Kontext entstammende Konzept des „reziproken Lehrens“ („reciprocal teaching“, Palincsar/ Brown 1984), das sich vor allem als „reziprokes Lesen“ manifestiert und - neben den empfohlenen „Versatz‐ stücken“ von LdL - als weiteres Element schüleraktivierenden, kommunikations- und handlungsorientiertem Fremdsprachenunterrichts eingesetzt werden kann. Allerdings ist es vor allem für den Unterricht mit fortgeschrittenen Lernenden bei der Erarbeitung längerer Texte geeignet. Die Texterschließung findet zunächst in Kleingruppen statt (in der Regel je vier Schülerinnen und Schüler). Der Text wird idealerweise in vier (oder ein Vielfaches davon) Abschnitte unterteilt. Jede/ r einzelne Schüler/ in erhält für je einen Abschnitt einen der folgenden Aufträge: (1) W-Fragen an den Text stellen, (2) den Text zusammenfassen, (3) wichtige und ggf. schwer verständliche Wörter, Ausdrücke und ggf. Passagen klären, (4) eine Vorhersage über den weiteren Verlauf des Textes treffen. Nach einer durch die Lehrkraft vorgegebenen Zeit werden die Ergebnisse dieser Einzelarbeit in Form von Fragen an die anderen (v. a. Auftrag (1)) bzw. kurzen Statements innerhalb der Gruppen eingebracht und von den anderen beantwortet bzw. vertieft und diskutiert. Für den sich anschließenden Textabschnitt können die Zuständigkeiten, die beispielsweise auf 304 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="305"?> Kärtchen mit Arbeitsanweisungen fixiert werden, z. B. im Uhrzeigersinn weitergereicht werden, so dass bei einem aus vier Abschnitten bestehenden Text jede/ r einmal jede Art von Bearbeitung des Textes von (1) bis (4) absolviert hat. Eine abschließende Ergebnissicherung im Plenum kann sicherstellen, dass der Text in allen Gruppen tatsächlich inhaltlich und sprachlich erschlossen werden konnte (einführend z. B. aus wissenschaftlicher Perspektive De Florio-Hansen 2014, 139-141, aus unterrichtspraktischer Sicht Sobel 2014, 11 f.). 4. Sprachliche Hilfestellungen und Lernplakate („scaffolding“) Um die Schülerinnen und Schülern schon früh im Anfangsunterricht zu weitgehend freien mündlichen Produktionen zu ermutigen und ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, bietet es sich an, zu einzelnen sprachlichen Handlungen und Situationen (z. B. Beschreibung einer Person) entsprechende Redemittel zur Verfügung zu stellen. Das kann z. B. auf einem Arbeitsblatt erfolgen, das die Schülerinnen und Schüler anfänglich in ihre Produktionen einbeziehen dürfen, später tendenziell nur noch zu Wiederholungszwecken zur Hand nehmen werden. Auch kann es sich anbieten, Redemittel für bestimmte Sprechakte und -handlungen bzw. pragmatische Kategorien (z. B. etwas erbitten, danken, Komplimente machen; verbale Höflichkeit), sprachliche scripts bzw. Ablaufschemata von typischen Dia‐ logen in bestimmten Situationen und entsprechende sprachliche Mittel usw. zur Verfügung zu stellen (vgl. bes. Band II, z. B. Kap. 4.2, 4.4.9, 4.5.4, 4.5.6). Auch für den inhaltsorientierten Unterricht mit Fortgeschrittenen bietet es sich an, (sprachliche) Stützen bereitzustellen: sei dies Fachvokabular, seien es Marker zum Aufbau und zur Gliederung von Redebeiträgen, schriftlichen Beiträgen innerhalb verschiedener Textsorten, usw. Entsprechende Maßnahmen werden heute häufig als „scaffolding“ bezeichnet, also als das Angebot eines „Gerüsts“, mit dessen Hilfe die Lernenden ein gestecktes Ziel leichter erreichen können. Der Begriff stammt ursprünglich aus der interaktionalistischen Spracherwerbsforschung der 1970er/ 1980er Jahre u. a. in der Folge Bruners (vgl. Band II, Kap. 2.1.3 und 2.1.5) und wurde dann für Didaktik und Methodik des Fremdsprachen‐ unterrichts zunächst mit Blick auf den bilingualen Sachfachunterricht erschlossen, wo bekanntlich bereits früh die Aufgabe entsteht, komplexe inhaltliche Sachverhalte in der Fremdsprache zu verstehen und auszudrücken (aus fremdsprachendidaktischer Perspektive einführend Thürmann 2013, weiterhin mit Blick auf die Unterrichtspraxis Klewitz 2017, aus unterrichtspraktischer Perspektive am Beispiel des Französischen kurz einführend vgl. auch Krieb/ Mockenhaupt 2017, 45 f.). Solche Hilfestellungen können auch in Form von Lernplakaten mit der Klasse selbst entwickelt und durch Aufhängen dauerhaft im Klassenraum zur Verfügung gestellt werden. Solche Lernplakate sind in verschiedener Hinsicht empfehlenswert: Indem sie durch die Schülerinnen und Schüler selbst gestaltet werden, findet eine vertiefte, handlungsori‐ entierte Kognitivierung zum jeweiligen sprachlichen Lerngegenstand statt. Weiterhin dienen sie der identitätsstiftenden Klassenraumgestaltung. Anders als sonstige, auf die Fremdsprache bezogene Poster etwa aus dem jeweiligen nationalen Tourismus-Büro sind sie aber funktional und jederzeit verfügbar, d. h., Lernende können aus eigener Initiative oder auf Hinweis der Lehrkraft auf die entsprechenden Hilfen zurückgreifen (einführend aus unterrichtspraktischer Perspektive vgl. Krieb/ Mockenhaupt 2017, 17-19, Beispiele für Lernplakate zum Bereich der Aussprache finden sich in Band II, Kap. 3.1.2.2). 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 305 <?page no="306"?> 5. Regelmäßige Wortschatz- und Grammatik-Wiederholung und -Testung Regelmäßige Wiederholung von Wortschatz und Grammatik sollte fester Bestandteil der Hausaufgabe sein (vgl. oben, Kap. 5.4.2). Es bietet sich an, hierzu mit dem Vokabelver‐ zeichnis und dem grammatischen Beiheft zum Lehrwerk zu arbeiten, am Anfang des Schuljahres ab einem bestimmten Moment z. B. je Hausaufgabenstellung von Beginn des Verzeichnisses an eine Seite im Vokabelverzeichnis wiederholen zu lassen bis der Wiederholungsvorgang abgeschlossen ist, dann von vorne erneut beginnen zu lassen und jeweils zwei Seiten zu wiederholen aufzugeben usw., bis maximal vier Seiten pro Hausaufgabenstellung angesetzt werden können. Bei der Wiederholung von Grammatik wird man sich am Umfang der einzelnen Phänomene orientieren und ggf. nur punktuellere Wiederholungen ansetzen. Allerdings können gerade die Formen unregelmäßiger Verben immer wieder systematisch wiederholt und die entsprechenden Kenntnisse ggf. auch abgeprüft werden. Sinnvoll ist auch, die Wortschatzarbeit regelmäßig zu überprüfen. Auf jede erteilte Hausaufgabe sollte eine Evaluation z. B. in Form der mündlichen Rechenschaftsablage zumindest einer Schülerin/ eines Schülers folgen. Diese darf aus zeitökonomischen Gründen - vor allem im Fall von 45-Minuten-Stunden - anders als in mancher didaktisch-metho‐ discher Literatur postuliert durchaus auch als Einzelwort-Abfrage in der Sprachrichtung Deutsch à Fremdsprache erfolgen, beispielsweise 6 Wörter mit dem Bewertungsschlüssel 6 Richtige = sehr gut, 5 Richtige = gut, usw., oder 10 Wörter und bis 9 Richtige = sehr gut, 8 Richtige = gut, usw. Dieses Verfahren ist in einem ansonsten kommunikativ ausgerichteten Fremdsprachenunterricht, in dem der Wortschatz in anderen Unterrichtsphasen im Kontext verwendet wird, durchaus vertretbar. Die extrinsische Motivation der Leistungsabnahme, bei der auch schwächere Schülerinnen und Schüler durch Fleiß gute Noten erzielen können, trägt langfristig zu einem gefestigten und umfangreichen Wortschatz bei. Gerade bis dahin in der Fremdsprache schwächere Schülerinnen und Schüler erhalten durch die klein‐ schrittige Wiederholung, die aufgrund der jederzeit erwartbaren Leistungskontrolle auch tatsächlich vollzogen wird, eine reale Chance auf Entwicklung ihres Kompetenzprofils. In der Oberstufe kann darüber hinaus, insbesondere, wenn mit der Lerngruppe abgespro‐ chen und von dieser selbst gewünscht, das regelmäßige Ansetzen eines Vokabel-Tests - z. B. einmal in der Woche an einem bestimmten Tag auf der Grundlage so genannter Wortkunde-Arbeit - eine sinnvolle Fortsetzung solch intensiver Wortschatz-Arbeit in Unter- und Mittelstufe darstellen. Auch bei diesen Vokabeltests ist auf transparente und zeitökonomische, im Zweifelsfall sogar einfach zweisprachige, Verfahren zu achten (zur Wortschatzarbeit allgemein vgl. Band II, Kap. 3.3, zur Evaluation von Wortschatz z. B. auch Kap. 5.3.4.2). Je nach Motivationslage und Zeitbudget kann es sich anbieten, solche Vokabel-Tests auch in Quiz- oder Rätselform anzubieten. Hierzu stehen einerseits zahlreiche Materialien, die ursprünglich v. a. für das Selbststudium in der Erwachsenenbildung konzipiert wurden und ggf. leicht adaptiert werden müssten, zur Verfügung (z. B. unter den Suchbegriffen „Rätsel“, „Sprachrätsel“ usw. + (Sprache) für die drei großen romanischen Schulsprachen von verschiedenen Anbietern leicht auffindbar). Andererseits können solche Formate mit diversen digitalen Tools schnell und leicht selbst erstellt werden (hierzu vgl. einführend Band III, Kap.-1, bes. auch Kap.-1.3.4). 306 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="307"?> Mit derselben Intention - einer zeitökonomisch in den Unterricht integrierten systema‐ tischen Festigung der grundlegenden Verfügung über die sprachlichen Mittel - können gerade im Anfangsunterricht wiederholt „Mini-Diktate“ im Umfang etwa von drei Sätzen aus einem bekannten Lektionstext geschrieben und gemeinsam korrigiert werden. Dies bietet sich z. B. auch als die Stunde abrundender Schluss an. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um bekannte Texte handelt, fühlen sich die Schülerinnen und Schüler dabei tendenziell sicherer und haben bessere Chancen, im Sinne der Output-Hypothese (vgl. Band II, Kap. 2.1.5) durch korrekte Sprachverwendung zu einer gesicherten Orthographie zu gelangen. Wird der Unterricht ansonsten inhaltlich und methodisch vielfältig und ansprechend gestaltet, um außerschulische Lernorte bereichert usw., so sind Schülerinnen und Schüler aller Jahrgangsstufen durchaus bereit, regelmäßige, auf die Verfügung über die sprachlichen Mittel zielende, Wiederholungs- und Testungsphasen, die aus Gründen der Zeitökonomie zugunsten der anderen Aktivitäten auch sehr einfach strukturiert sein dürfen, mitzutragen - ja sie erachten sie im Sinne einer Authentizität der schulischen Lernsituation gerade bei regelmäßiger und konsequenter Umsetzung durchaus als begrüßenswert: Schülerinnen und Schüler kommen in die Schule, um zu lernen (s.-u., Kap. 7.1). 6. Lektüren schon ab dem 1. Lernjahr Während in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts Literatur und die Behandlung von Ganzschriften einen großen Stellenwert eingenommen hatte (vgl. Kap. 2.3 sowie Band III, Kap. 3), werden heute vielfach selbst in der Oberstufe immer weniger so genannte Ganzschrift-Lektüren, also Lektüren eines ganzes Buches, von den Lehrplänen eingefordert und von den Lehrkräften durchgeführt. An dieser Stelle soll dafür plädiert werden, dieser Tendenz zum „Verschwinden“ von Literatur und von Ganzschriften aus dem schulischen Fremdsprachenunterricht gerade auch mit Blick auf die bildende Wirkung des Unterrichts der romanischen Sprachen (vgl. Kap. 3) entgegenzutreten, und zwar in der Form, dass man sich als Lehrkraft bemühen sollte, bereits ab dem ersten Lernjahr in jeder Klasse eine kleine, didaktische Lektüre mit den Schülern zu behandeln. Die Auswahl sollte mit der Lerngruppe abgestimmt werden. Die verschieden Schul‐ buchverlage und Fremdsprachenverlage für die Erwachsenenbildung bieten inzwischen zahlreiche kleine Ganzschriftlektüren ab Niveau A1 des GeR an, teilweise gibt es sogar lehrwerkbegleitende Lektüren (für diese Form der lehrwerkbegleitenden Lektüre spricht die genaue Passung zu den jeweils angegebenen Lehrwerklektionen, dagegen die häufig auch inhaltliche Nähe zu den Lehrwerkgeschichten, die kein Erschließen neuer literarischer „Welten“ erlaubt, was indes einen großen Reiz einer Lektüre ausmachen kann). Mitunter gibt es neben didaktischen Lektüren - also solchen Texten, die eigens für den Unterricht der jeweiligen Sprache als Fremdsprache verfasst wurden - auch didaktisierte Texte, d. h. ver‐ einfachte Fassungen kanonischer, teilweise schon mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte, bereits ab Niveau A1 (z. B. des Lazarillo de Tormes oder aus Boccaccios Decamerone) (zu den Kategorien von Lektüren vgl. Band III, Kap. 3.8, weiterführend Reimann 2012). Eine solche Lektüre kann intensiv als Block etwa während zwei oder drei Schulwochen oder aber extensiv z. B. in einer Stunde pro Woche über einen längeren Zeitraum hinweg gelesen werden. Gerade letzteres Verfahren lässt - über die sonstige kreative und mündliche Auseinandersetzung mit dem Text hinaus - regelmäßige Inhaltszusammenfassungen des 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 307 <?page no="308"?> bisher Gelesenen, z. B. ausgehend von Tafelbildern zu jedem einzelnen Kapitel, zu münd‐ lichen Sprechanlässen werden. In der Praxis kann man beobachten, dass Schülerinnen und Schüler schon das haptische Moment, „ein richtiges Buch in der Hand zu halten“, und sei dieses auch noch so dünn, sehr zu schätzen wissen, und dass es sie mit Freude, vielleicht auch ein bisschen Stolz erfüllt, im ersten Lernjahr „schon ein Buch zu lesen“ (zu einer Empfehlung aus unterrichtspraktischer Sicht vgl. auch Krieb/ Mockenhaupt 2017, 66). 7. One-Minute-Talk und Klausurbogentechnik Als Hinführung zum freien Sprechen ist inzwischen (seit etwa 2005) die Form des One-Mi‐ nute-Talk etabliert (in weiter fortgeschrittenen Lerngruppen auch als Two-, Three-, Fourusw. Minute-Talk) (vgl. z. B. ISB 2005, 47 f.) (z. B. Französisch la présentation minute/ l’exposé minute, Spanisch la charla de un minuto, Italienisch la relazione di un minuto). Es handelt sich um eine Art Kurz- oder Kürzestreferat, bei dem einzelne Schülerinnen und Schüler zu je einem (in der Regel zu Hause vorbereiteten) Thema vortragen (in fortgeschrittenen Lern‐ gruppen ggf. auch als spontanes freies Sprechen zu einem bestimmten Thema denkbar). Angestrebt wird dabei ein vollkommen freier Vortrag, bei den ersten Versuchen kann man aber unter Umständen Hilfestellungen zulassen (s. u.). Es bietet sich an, gerade in den ersten Lernjahren die Themen frei wählen zu lassen, ggf. zu einer übergeordneten Kategorie (z. B. „Mein/ e Lieblings- …“ Sportverein, Sportler, Musiker, usw.). So kann die Motivation erhöht werden und aufgrund der Vertrautheit mit der selbst gewählten Thematik fällt es vielen Lernenden leichter, frei vorzutragen. Es ist auch denkbar, in Wiederholungsphasen am Ende eines Schuljahres oder am Beginn eines neuen Schuljahres die Lektionstexte eines Buches in Form von One-Minute-Talks resümieren zu lassen, in der ausgehenden Mittel- und Oberstufe Kürzestreferate zu bestimmten soziokulturellen oder literarischen Themen in dieser Form zu vergeben usw. Meist wird man die Durchführung von One-Minute-Talks dergestalt organisieren, dass jede Schülerin jeder Schüler auf einer Klassenliste ein Thema notiert (oder umgekehrt, jede/ r sich in einer Themenliste für ein Thema einträgt) und dann an einem festgesetzten Termin vorträgt. Denkbar ist z. B., gerade bei einer allerersten Begegnung mit dem Format in einer bestimmten Sprache, dies durchaus kompakt z. B. innerhalb von drei Wochen anzusetzen, so dass sich jeden Tag ein bis zwei Schülerinnen und Schüler in diesem neuen Format üben können. Später wird man ggf. jede Woche nur in einer Stunde einen One- (Two-, Threeusw.)Minute-talk ansetzen. Es bietet sich an, den One-Minute-Talk als eine Leistung im Rahmen einer komplexen mündlichen Leistungsfeststellung (vgl. Band II, Kap. 5, bes. 5.3) vorzusehen. Für die ausgehende Mittelstufe und die Oberstufe geeignete Formate, die letztlich Varianten von One-Minute-Talk und Kurzreferaten darstellen, sind etwa die „Presseschau“ oder auch kurze Buchvorstellungen (vgl. z. B. ISB 2005, 49 f.). Bei letzterer können die Schülerinnen und Schüler ein (zielsprachliches) Lieblingsbuch vorstellen oder auf eine Buchauswahl der Lehrkraft zurückgreifen. Bei der Presseschau ist je eine Schülerin/ ein Schüler einmal in der Woche (z. B. freitags oder montags) dafür verantwortlich, als revue de la presse, revista de la prensa oder rassegna stampa drei ihr/ ihm bedeutsam scheinende Pressemeldungen z. B. aus dem Online-Auftritt einer zielsprachlichen Tageszeitung aus 308 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="309"?> der vergangenen Woche vorzustellen und dazu drei bis fünf den anderen möglicherweise unbekannte, vor allem auch themenspezifische Vokabeln vorzustellen. Als Hilfestellung zunächst auch für den One-Minute-Talk, der später dann wirklich frei vorgetragen werden sollte, aber gerade auch für seine genannten Spielarten sowie für weitere Formate von Kurzreferaten, Referaten und sonstigen Vorträgen hat sich die so genannte „Klausurbogentechnik“ bewährt (vgl. z. B. Steveker 2014, 22 f., Französisch la technique/ l’asctuce/ le truc de la feuille pliée, Spanisch la técnica/ el truco de la hoja doblada, Italienisch la tecnica/ il trucco del foglio piegato). Bei ihr wird entweder tatsächlich ein liniierter Klausurbogen mit weißem Rand verwendet oder von einem anderen Blatt ein etwa fünf Zentimeter breiter Rand „abgeknickt“. Dann wird auf dem größeren Teil des Blattes zunächst der ganze Vortrag als Fließtext ausformuliert. An den rechten Rand werden ausgewählte Stichwörter aus dem Text/ Vortrag notiert. Vor dem Vortrag wird das Blatt entlang des Randes gefaltet, so dass die Schülerin/ der Schüler während des Vortrags nur den schmalen Teil mit den einzelnen Stichwörtern sichtbar vor sich hat und diese Stichwörter einsehen kann. Gerät eine Schülerin ein Schüler ins Stocken oder „aus dem Konzept“, darf sie/ er den Bogen komplett auffalten und eine Passage wörtlich ablesen, bis sie/ er sich wieder sicher genug fühlt, um im freien Vortrag fortzufahren. 8. Trois minutes à deux und Tandembögen Bei trois minutes à deux (Spanisch tres minutos en dos, Italienisch tre minuti in due) handelt es sich um eine Spielart des One-Minute-Talks, die auch das interaktive Sprechen einbezieht und stärker als der One-Minute-Talk ohne Vorbereitung auf ein bestimmtes Thema realisiert werden kann. Je zwei Schülerinnen und Schüler bereiten sich drei Minuten lang in Partnerarbeit auf den Vortrag zu einem Thema vor, das ggf. auch spontan erarbeitet werden kann. In der Folge tragen einzelne Schüler/ innen ihre Entwürfe vor (vgl. Knoll 2017b, 26). Trois minutes à deux ist also an der Schnittstelle von monologischem und dialogischem Sprechen zu verorten und gut als Aktivität für einen kommunikativen Stundeneinstieg (s.-o., 1.) geeignet. Als - hochgradig gelenkte - Vorbereitung auf das freie dialogische Sprechen in der Interaktion bieten sich Tandem-Bögen an (Französisch fiche tandem, Spanisch hójas tándem, Italienisch foglio tandem): Hier erhalten je zwei Partner/ innen aufeinander abgestimmte Versionen eines Dialogverlaufs als Arbeitsblätter (es gibt also jeweils zwei verschiedene Tandembögen/ Arbeitsblätter, z. B. Version „A“ und „B“). Auf den Arbeitsblättern sind jeweils nur Impulse für die Sprachäußerungen vorgegeben, die man selbst tätigen muss. Für die Redebeiträge der Partnerin/ des Partners sind Musterlösungen vorgegeben, so dass jede/ r Schüler/ in seine Partnerin/ seinen Partner unterstützen und ggf. korrigieren kann (z.-B. Steveker 2014, 75-78). 9. Kugellager Eine weitere kooperative und kommunikative Aktivität, die sich inzwischen bewährt hat, ist das so genannte Kugellager (Französisch le (jeu du) roulement à billes/ la discussion carrousel, Spanisch el tiovivo/ el (juego del) rodamiento, Italienisch il (gioco del) cuscinetto a sfere). Hier wird dialogisches, interaktionales Sprechen in - je nach Aktivität mehr oder weniger - gelenkter Form gefördert. Die Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe stellen sich in 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 309 <?page no="310"?> zwei Kreisen auf, einem größeren Außen- und einem kleineren Innen-Kreis, so dass sich jeweils eine Schülerin/ ein Schüler aus Außen- und Innenkreis gegenüberstehen. Nach je einer Interaktion drehen sich entweder einer der beiden Kreise oder aber beide Kreise in entgegengesetzte Richtung, so dass bei jeder Interaktion jeweils zwei andere Schülerinnen und Schüler miteinander sprechen. Das Kugellager bietet sich im Fremdsprachenunterricht für Sprechhandlungen ver‐ schiedenster Komplexität an: Von Grammatik-Übungen mit minimal freier Interaktion bis zu einem echten Informations- und Meinungsaustausch in der Oberstufe ist alles denkbar. So könnten beispielsweise auf Kärtchen Satzanfänge vorgegeben werden, die von einer Schüler/ in vorgelesen werden und von der jeweiligen Partnerin/ dem jeweiligen Partner vervollständigt werden müssen. Für inhaltlich anspruchsvolleres Arbeiten in der Oberstufe können von je einem Kreis Impulse zu komplexeren Stellungnahmen zu verschiedenen Themen gegeben werden (einführend mit Beispielen z. B. Steveker 2014, 28-30, Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 82-88). Ein denkbares Anwendungsbeispiel wäre etwa für den etwas fortgeschrittenen Gramma‐ tikunterricht die Vorgabe von Satzanfängen, die jeweils abwechselnd durch den Außen- und Innenkreis vervollständigt werden sollen, etwa vom Typus: Si j’étais riche …, Cuando yo sea grande, … Quando ero piccolo, … usw. Dabei erhalten sowohl die Schülerinnen und Schüler des Außenals auch die des Innenkreises jeweils mindestens ein Kärtchen mit einem entsprechenden Satzanfang, ggf. auch mit Informationen zu möglichen Fehlerquellen, um die jeweilige Partnerin/ den jeweiligen Partner im Bedarfsfall möglichst eigenständig unter‐ stützen zu können. Für den Oberstufenunterricht sind z. B. am Ende einer Unterrichtsreihe Fragen zu einem bestimmten historischen Thema, das zuvor verhandelt wurde, möglich, oder auch - wiederum tendenziell am Ende einer Unterrichtssequenz, wenn entsprechendes Hintergrundwissen verfügbar ist - Impulse zur Meinungsäußerung vom Typ „Wenn ich Staatsoberhaupt von XY wäre, …“ etc. Darüber hinaus bietet sich das Kugellager für jede Form der Partnerarbeit an, die nicht mit den unmittelbaren Sitznachbarn ausgeführt werden soll. Denkbar sind also auch Leseübungen mit gegenseitiger Korrektur, die Vorbereitung von Präsentationen oder One-Minute-Talks usw. (vgl. z. B. Müller/ Rohling 2016, 41 f.) Wie auch eine Partnerarbeit, so bietet das Kugellager einen relativ geschützten Rahmen der Einübung. Anders als bei der Partnerarbeit mit der Banknachbarin/ dem Banknachbarn hat man jedoch unterschiedliche Gesprächs- und Korrekturpartner, die Interaktionsfähigkeit wird also gleichzeitig gestärkt. Weiterhin bietet die Aktivität einen dynamischen Rahmen, der im weitesten Sinne einen kleinen Beitrag zum bewegten Lernen leistet (vgl. Band II, Kap.-1.2.9). 10. Omniumkontakt/ Marktplatz Eine weiteres Format, bei dem die Schülerinnen und Schüler in einem weitgehend ge‐ schützten Raum zum freien Sprechen geführt werden können, stellt die Aktivität „Omni‐ umkontakt“ (vgl. lat. Genitiv Plural „von allen“) oder „Marktplatz“ (auch „Gespräche im Gehen“, auf Französisch z. B. place du marché/ conversation promenade, Spanisch mercado/ fi‐ esta, Italienisch gioco della piazza del mercato o.Ä.) dar. Bezüglich der Gelenktheit/ Offenheit, mithin der Nähe zum freien Sprechen steht sie zwischen dem Kugellager (9.) und dem Rollenspiel (11.), wobei es Letzterem durchaus nahekommen kann. 310 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="311"?> Beim Marktplatz oder Omniumkontakt bewegen sich die Lernenden frei im Raum und tauschen sich mit wechselnden Gesprächspartner/ inne/ n über ein vorgegebenes Thema aus. Ggf. können es auch mehrere Themen sein, über die sich die verschiedenen, sich spontan bildenden Paarungen oder Gruppierungen austauschen. Unter Umständen können auch an verschiedenen Orten im Raum unterschiedliche Themen vorgegeben sein. Ein typischer situativer Rahmen für die Aktivität „Omniumkontakt“, die sich auch an ein häufig im ersten Lernjahr vorkommendes Lehrbuchthema anschließen lässt, ist der einer Geburtstagsfeier. Die Schülerinnen und Schüler können dann gebeten werden, sich in diesem Rahmen anderen Gästen vorzustellen, über die eigenen Hobbies zu sprechen, nach den Hobbies der anderen zu fragen usw. (je nachdem, welche Sprachfunktionen bis zum fraglichen Zeitpunkt des Sprachlehrgangs bereits angeeignet wurden). Für die Oberstufe ist am Ende eines thematischen Unterrichtsdossiers z. B. die situative Vorgabe denkbar: „Ihr seid im Schülercafé und sprecht über die bevorstehende Klausur im Fach Französisch. Einige haben Stunden versäumt, andere Teile des Themas nicht verstanden. Ihr tauscht Euch über das Thema X aus.“ (z.-B. Reimann 2006c, 38 f.). Auch der Einsatz von Fragebögen im Sinne einer Mini-Befragung zur Erstellung eines Meinungsbilds innerhalb der Lerngruppe ist ein privilegiertes Anwendungsfeld des For‐ mats (vgl. z.-B. Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 168, Müller/ Rohling 2016, 41). Besonders motivierend wirkt das Format auf die Schülerinnen und Schüler, wenn punktuell der situative Rahmen möglichst authentisch gestaltet wird. Beim erstgenannten Beispiel einer Geburtstagsfeier bietet es sich etwa an, im Hintergrund Musik aus dem jeweiligen Sprachraum laufen zu lassen und ggf. von einem eigenen Auslandsaufenthalt oder aus einem speziellen Lebensmittelgeschäft Kekse, Knabbereien, Säfte o.ä. aus dem jeweiligen Sprachraum mitzubringen (Ernährungsgewohnheiten und Unverträglichkeiten müssen bekannt sein oder erfragt und beachtet werden). Die Schülerinnen und Schüler wissen einen solchen Einsatz der Lehrkraft in der Regel sehr zu schätzen und sind dann auch wieder bereit, in anderen Stunden konzentriert beispielsweise an Fragestellungen im Bereich der sprachlichen Mittel zu arbeiten. Bei Bedarf kann man die Bewegung im Raum, die Paarbildung und die Sprechphasen dadurch steuern, dass man akustische Signale gibt (etwa Stoppen der Hintergrundmusik), die zum Anhalten bzw. zum Weiterlaufen anregen sollen (vgl. z. B. Steveker 2014, 31; vertieft einführend in das Format mit Beispielen für Varianten und Redemittel, die im Sinne des Scaffolding mit auf den Weg gegeben werden könnten (hier im Französischen), vgl. Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 168-176). 11. Rollenspiel und Talkshow Mit Blick auf das freie interaktionale Sprechen ist das Rollenspiel sicherlich eines der bekanntesten, aber noch immer auch bewährtesten Formate (Französisch le jeu de rôle, Spanisch el juego de roles, Italienisch il gioco di ruolo). Es handelt sich letztlich um ein sehr einfaches dramapädagogisches Verfahren (vgl. Band II, Kap. 1.2.9). In einer vorgegebenen Situation nehmen zwei oder mehrere Schülerinnen und Schüler bestimmte Rollen ein. Je nach Vertrautheit mit dem Kontext (z. B., wenn ein Lehrbuchtext oder eine Szene einer Lektüre spielend reproduziert bzw. rekonstruiert werden sollen) und je nach interaktionaler Kompetenz der Lernenden (z. B. in der Oberstufe) können sich die Vorgaben mehr oder 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 311 <?page no="312"?> weniger auf Angaben zur Situation beschränken und weitere Angaben bzw. Hilfestellungen entfallen. Andernfalls bietet es sich gerade im Anfangsunterricht an, so genannte Rollen‐ kärtchen bzw. Rollenspielkärtchen auszugeben, auf denen für jede Rolle z. B. biographische Hinweise, vor allem aber Hinweise zu den Positionen und Anliegen der fraglichen Person angegeben werden (Französisch la carte de rôle, Spanisch la ficha/ tarjeta de rol, Italienisch la scheda di ruolo/ la carta per il gioco di ruolo). Dies hilft den Lernenden besonders in den ersten Lernjahren, Rollenspiele mit einer gewissen Komplexität zu entwickeln. Es können - je nach Vertrautheit mit dem Thema des Rollenspiels, nach Leistungsniveau der Lerngruppe und der erwarteten Dauer und Komplexität der Rollenspiele - entweder mehr oder weniger improvisierte Rollenspiele angesetzt werden, oder aber auch eine Vorbereitungsphase in Gruppenarbeit eingeplant werden. In dieser können entweder nur mündliche „Proben“ des Rollenspiels stattfinden oder - gerade im Anfangsunterricht oder bei erwarteter höherer Komplexität der Produkte - auch schriftliche Vorbereitungen zugelassen werden, die von einzelnen Stichpunkten bis zur vollständigen Ausformulierung reichen können. Im abschließenden Vortrag vor der Lerngruppe sollte natürlich, mit dem Ziel der Förderung der freien Interaktion, ein möglichst freier Vortrag erfolgen. Ggf. kann man den Schülerinnen und Schülern gerade in den ersten Lernjahren die Verwendung von Stichwortzetteln (ggf. im Sinne der oben eingeführten Klausurbogentechnik, vgl. 7.) zugestehen. Eine Sonderform des Rollenspiels stellt die Inszenierung einer Talkshow dar (Französisch le talk-show, Spanisch el talk show, Italienisch il talk show). Dieses Format ist den Lernenden in der Regel spätestens ab der ausgehenden Mittelstufe bekannt, wird daher oftmals als attraktiv wahrgenommen und eignet sich besonders gut, um verschiedene Positionen im Gespräch gegeneinander abwägen zu lassen. Insofern eignet sich die Talkshow gerade auch im Rahmen thematischer Dossiers zu kontroversen Themen (z. B. Tourismus vs. Umwelt in Spanien) oder auch zur Inszenierung von Konflikten in literarischen Texten, bei denen verschiedene Positionen vertreten werden (z. B. Saint-Exupéry, Le Petit Prince). Ein weiterer Vorteil des Formats „Talkshow“ ist, dass anders als beim traditionellen Rollenspiel alle Mitglieder einer Lerngruppe an der Szene beteiligt werden können: neben der Moderatorin/ dem Moderator oder ggf. den Moderator/ inn/ en und den Vertreter/ innen der verschiedenen Positionen können auch alle anderen, die das Publikum darstellen, eben als Publikum in der Debatte intervenieren. Beide Formate fördern in besonderem Maße Empathiefähigkeit, Perspektivenwechsel und Perspektivenkoordination durch das Einnehmen einer bestimmten Rolle und die Auseinandersetzung mit den jeweils anderen Positionen (vgl. Lin-Klitzing/ Roth 2005, 228, 234). Insofern stellen Rollenspiel und Talkshow, unabhängig vom gewählten Thema, letztlich immer auch einen Beitrag zum inter- und transkulturellen Lernen dar (vgl. Band III, Kap. 2). 12. Sprachendorf und Simulationen In Hinblick auf die funktional-kommunikativen und impliziten inter- und transkulturellen Ziele mit den genannten Verfahren (v. a. Omniumkontakt (10.) und Rollenspiel (11.)) verwandt sind das „Sprachendorf“ und „Simulationen“ (im Extremfall: simulation globale) (Französisch le village des langues, Spanisch el pueblo/ la aldea de las lenguas, Italienisch il vil‐ laggio delle lingue bzw. Französisch la simulation (globale), Spanisch la simulación (global), 312 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="313"?> Italienisch la simulazione (globale)). Beim Sprachendorf werden in einem bestimmten Zeitrahmen - z. B. 90 Minuten - ggf. in mehreren Räumen, verschiedene Stationen aufgebaut, die sich in einem Dorf befinden können (z. B. Geschäfte, Schulen, Praxen) und mit mehr oder weniger sprachlichem Input versehen (z. B. sprachliche Hilfestellungen, Dialogmuster zum jeweiligen Thema). Die Schülerinnen und Schüler „durchlaufen“ das Sprachendorf und tauschen sich an den verschiedenen Stationen aus. Je nach zeitlichen und sonstigen organisatorischen Möglichkeiten kann ggf. auch mit Verkleidungen gearbeitet werden - insbesondere auch, wenn ein Sprachendorf z. B. im Rahmen eines Projekt- oder Sprachentags auch in einem größeren Rahmen, etwa kursübergreifend innerhalb einer Jahrgangsstufe, durchgeführt wird (eine exemplarische Falldarstellung liefert z. B. Brosig 2019). Das Sprachendorf hat sich zwischenzeitlich als beliebte Aktivität im schulischen Fremdsprachenunterricht etabliert. Die Simulation, insbesondere die simulation globale, stellt dagegen ein schon in den 1970er Jahren in Frankreich entwickeltes höchst aufwändiges handlungsorientiertes Ver‐ fahren dar (einführend z. B. Yaiche 1996). Es handelt sich sozusagen um ein Rollenspiel im großen Stil, das in seiner Reinform den ganzen Sprachlehrgang umfasst. D.h., jegliche Form der Sprachaneignung ist dem Spiel innerhalb einer Simulation untergeordnet. Ein solcher Rahmen kann etwa eine Hausgemeinschaft in einem Mietshaus sein: Jede/ r Lernende nimmt eine Rolle ein (Mieter aus dem 1. Stock, Mutter und Ehefrau einer vierköpfigen Familie aus dem 4. Stock, Hausmeister, usw.) und trifft in unterschiedlichen Situationen und in unterschiedlichen Konstellationen mit den anderen zusammen. Das Haus belebt sich allmählich, kann von den Spieler/ innen eigenständig weiter ausgestaltet und selbständig um (Begegnungs-) Situationen ergänzt werden. Die Spielleiterin/ der Spielleiter (d. h. die Lehrkraft) steuert das jeweils erforderliche Sprachmaterial bei und kann neue Ereignisse usw. einbringen. Realistischeweise wird man eine simulation globale im allgemeinbildenden schulischen Fremdsprachenunterricht kaum konsequent über ein komplettes Schuljahr realisieren können, sondern allenfalls projektartig über mehrere Wochen durchführen. In diesem Rahmen kann das Format aber durchaus erfolgreich angewandt werden (z. B. Würth 2009, Zimmermann 2010). 13. Bewegte Abstimmungen und Vier-Ecken-Gespräch Mit Blick auf Perspektivenwechsel und Perspektivenkoordination, die für inter- und transkulturelles Lernen grundlegend sind (vgl. Band III, Kap. 2), bietet sich die Technik der „bewegten Abstimmungen“ an, die, wie die hier gewählte Bezeichnung andeutet, zugleich einen Beitrag zum bewegten Lernen darstellt (vgl. Band II, Kap. 1.2.9) (Französisch le sondage en mouvement, Spanisch el sondeo en movimiento, Italienisch il sondaggio in movimento). Dafür ist Platz im Klassenraum erforderlich, der z. B. durch Beiseitestellen der Tische und Stühle gewonnen werden kann; denkbar ist bei gutem Wetter auch eine Durchführung im Pausenhof. Durch ein Kreppband oder ein Seil wird eine fiktive Skala in der Mitte des Freiraums markiert, und definiert, durch welches Ende der Skala absolute Zustimmung und durch welches absolute Ablehnung zu bestimmten Aussagen markiert werden. In der Folge tätigt die Lehrkraft verschiedene Aussagen, die Schülerinnen und Schüler sollen je nach ihrer Zustimmung oder Ablehnung im wörtlichen Sinne ihre Position einnehmen. So 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 313 <?page no="314"?> wird den Schülerinnen und Schülern vor Augen geführt, dass sie je nach Inhalt ggf. mit anderen Mitschülerinnen und -schülern übereinstimmen, zu abweichenden Meinungen gelangen (einführend z. B. Vatter/ Zapf 2012, 55-57, Montiel Alafont/ Vatter/ Zapf 2014, 58-60, Reimann 2020 f, 39). Ein ähnliches Verfahren, das eher für in der Fremdsprache fortgeschrittene Lernende geeignet ist, stellt das so genannte Vier-Ecken-Gespräch dar (F les quatre coins, Sp las cuatro esquinas, It i quattro angoli). Auch hier werden Stellungnahmen durch Bewegung vollzogen, sollen aber in der Folge auch verbal begründet werden. Die Lehrkraft befestigt an vier Ecken im Klassenzimmer z. B. Thesen, Zitate, Bilder, die miteinander kontrastieren, und bittet die Schülerinnen und Schüler, sich in die Ecke zu begeben, mit deren Meinung, Zitat, Bild usw. sie sich am ehesten identifizieren können. In den sich so bildenden Kleingruppen soll sodann diskutiert werden, weshalb man sich an die fragliche Stelle begeben hat. Die gemeinsame Haltung der jeweiligen Kleingruppe wird danach von einer/ m Sprecher/ in im Plenum erläutert. Denkbar ist auch, das Verfahren für inhaltliche Vertiefungen zu nutzen, beispielsweise im Literaturunterricht zur vertiefenden Arbeit mit je einer Figur pro Ecke (z. B. Zitate oder Eigenschaften) (einführend vgl. Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 139-142, zu Varianten für den Literaturunterricht bes. 141 f.). 14. Stummes/ Stilles Schreibgespräch und Platzdeckchen Stummes (so derzeit etabliert, aber im Grunde besser und auch durch Pendants in der Romania gestützt: Stilles) Schreibgespräch (F conversation/ discussion silencieuse, Sp discu‐ sión silenciosa, It conversazione/ discussione silenziosa) und Platzdeckchen (F set de table, Sp el placemat, It il placemat) sind weitere Techniken zum Einholen von Meinungsbildern und Meinungen, die in der Folge z. B. in Kleingruppen und/ oder im Plenum diskutiert werden können. Sie eignen sich auch zur (Re-)Aktivierung von Vorwissen mit Blick auf die thematische Dossierarbeit in der Oberstufe (z.-B. als Einstieg in eine Klassenlektüre, wenn Vorwissen etwa zu Epoche, Autor/ in, bestimmten Inhalten o.Ä. zu erwarten sind). Insofern stellt das Stille Schreibgespräch eine gute Alternative zum traditionellen „Brainstorming“ (F remue-méninge, Sp lluvia de ideas, It brain storming) dar. Beim Stillen Schreibgespräch werden Plakate beispielsweise im DIN-A-3-Format oder größer an bestimmten Stellen im Kursraum ausgelegt oder befestigt, ein groß gedrucktes Stichwort, ein Satz oder auch eine Abbildung geben den Impuls, zu dem die Lernenden dann - ohne zu sprechen - auf dem Plakat Notizen anfertigen sollen. Dabei ist vorgesehen, dass die Schülerinnen und Schüler sich von einem zum anderen Plakat begeben (die Reihenfolge der Bearbeitung ist freigestellt) und bei jeder Station einen schriftlichen Beitrag leisten (alternativ zur völlig freien Bewegung der Schülerinnen und Schüler im Raum ist es auch möglich, zunächst festen Kleingruppen je ein Plakat zur Bearbeitung zuzuweisen). Eine Variante besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler in einer zweiten Arbeitsphase erneut umhergehen und zu den Einträgen der anderen Antworten geben, Stellung beziehen usw. (vgl. Steveker 2014, 65 f., bes. 66). Dieses Vorgehen bietet sich besonders dann an, wenn die Schülerinnen und Schüler zunächst in „stillen“ Kleingruppen nur je ein Plakat und den entsprechenden Auftrag bearbeitet haben: Nunmehr werden die Plakate im Klassenzimmer verteilt, alle gehen herum, sehen sich die Lösungen der anderen an und kommentieren 314 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="315"?> diese. Abschließend werden die erzielten Ergebnisse im Plenum besprochen (weiterführend vgl. z.-B. z.B. Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 90-94). Während beim Stillen Schreibgespräch in der Regel auf eine oder zwei Phase/ n der Einzelarbeit ein Übergang ins mündlich interagierende Plenum erfolgt, sieht die Methode des Platzdeckchens als dezidiert kooperative Lernform bereits in einer zweiten Phase den Schritt von der Einzelarbeit zu einer mündlich-interaktiven Arbeit in Kleingruppen vor. Die Lerngruppe wird in Vierergruppen eingeteilt, die sich an je einem Tisch um ein Blatt Papier im DINA3-Format oder größer positionieren. Dieses Blatt Papier oder „Platzdeckchen“ wird in fünf Bereiche aufgeteilt: einen großen Innenbereich (rund oder rechteckig) sowie davon ausgehend vier durch Schrägstriche vom Innenbereich in je eine Ecke weisende Linien. Zunächst schreiben die Schülerinnen und Schüler in (häufig, gerade in weniger fortgeschrittenen Lerngruppen, arbeitsgleicher) Einzelarbeit still ihre Bearbeitung eines Arbeitsauftrags in das ihnen nächst liegende Feld (z. B. ähnlich wie beim Stillen Schreibgespräch Aktivierung von Vorwissen, Wiederholung von Kenntnissen, Stellungnahmen zu einer These o.ä.). Dann wird das Platzdeckchen so oft gedreht, bis jede/ r die Einträge aller anderen lesen konnte. Dann werden die Lösungen in der Gruppe diskutiert und ein gemeinsamer Lösungsvorschlag erarbeitet, der sodann im großen Feld in der Mitte notiert wird. Diese Lösungen können dann im Plenum ergänzt (v. a. bei arbeitsteiligen Aufträgen) oder verglichen werden. Es erfolgt also ähnlich wie beim Stillen Schreibgespräch in einem ersten Schritt eine Einzelarbeit (in der Regel als Stillarbeit), aus dieser ergibt sich aber anders als beim Stillen Schreibgespräch eine mündliche Interaktion, bevor eine kooperative Schreibproduktion die gemeinsamen (Gruppen-)Ergebnisse sichert. Auf dieser Grundlage können wiederum die einzelnen Gruppen in der gesamten Lerngruppe miteinander in Interaktion treten und sich über ihre Ergebnisse austauschen (einführend z. B. Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 207-210, Müller/ Rohling 2016, 43 f., zur Variante des „Ideensterns“/ carrusel escrito (vergleichbares Vorgehen ohne das mittlere Feld und die entsprechende Arbeitsphase) vgl. Steveker 2014, 52 f.). Sobel 2013 stellt ein anschauliches Beispiel vor, wie die Technik des Platzdeckchens auch zur Strukturierung der Erarbeitung literarischer Texte eingesetzt werden kann (z. B. mit Feldern wie „Qui? “, „Quoi? “, „Quand? “, „Où? “, Sobel 2013, 57-59). Beide Formate sind letztlich auch Maßnahmen zur Entwicklung der Schriftlichkeit. 15. Museumsrundgang Beim Museumsrundgang (F la promenade au musée, Sp el paseo por la galería, la galería, el gallery walk, It visita al museo, il gallery walk) werden zuvor erarbeitete und auf Postern dargestellte Ergebnisse beispielsweise aus Gruppenarbeiten (etwa auch aus dem Gruppenpuzzle, vgl. 20.) im Klassenraum verteilt aufgehängt und von den anderen Schü‐ lerinnen und Schülern betrachtet, ggf. im Austausch mit der Autorin/ dem Autor/ den Autor/ innen des Plakats diskutiert. In der Regel wird (ggf. in wechselnder Besetzung) je eine Schülerin/ ein Schüler aus jeder Gruppe am jeweiligen Poster stehen und für Gespräche mit den Betrachtern zur Verfügung stehen. Es bietet sich an, nach einem allgemeinen, freien „Museumsrundgang“, bei dem sich alle alles ansehen dürfen, die Schülerinnen und Schüler durch Losverfahren je einem „Exponat“ zuzulosen (z. B. bei insgesamt fünf Postern durch Verteilen der Zahlen 1-5 unter den verbleibenden Schülerinnen und Schülern, 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 315 <?page no="316"?> also z. B. bei 25 verbleibenden Schülerinnen und Schülern fünf Mal „1“, fünf Mal „2“ usw., vgl. Knoll 2017b, 32; eine zeitökonomische Variante stellt die Durchnummerierung der Gruppenmitglieder ähnlich dem Gruppenpuzzle dar, vgl. Steveker 2014, 56 f.) Die Betrachter/ innen sollten dann mit der jeweils das Poster (re-)präsentierenden Person interagieren, ggf. mit einem Beobachtungs- oder Feedbackbogen ausgestattet sein und sich zu je einem Exponat Notizen machen, so dass eine Grundlage für eine abschließende Besprechung im Plenum geschaffen werden kann (einführend z. B. Müller/ Rohling 2016, 44 f., Knoll 2017b, 32, ausführlicher mit Beispielen z. B. Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 186-194, Steveker 2014, 56-59). 16. Textpuzzle und Textentflechtung Mit Blick auf die aktive, motivierende Erarbeitung von Texten bieten sich zur Erstbegeg‐ nung mit einem Text (gerade auch z. B. mit Liedern und Gedichten, letztlich aber mit jeglicher Textsorte) Verfahren wie das Textpuzzle und die Textentflechtung an. Beim Textpuzzle (Französisch le puzzle de textes, Spanisch el puzzle de textos, Italienisch il puzzle di testi) erhalten die Lernenden den Text, der in der Folge vertieft besprochen werden soll, zerschnitten und/ oder in abgeänderter Reihenfolge vorgelegt und sollen versuchen, z. B. aufgrund eines Hörvorgangs (bes. bei Liedern) oder durch Erkennen von Gliederungs‐ signalen und Textinhalten die ursprüngliche Reihenfolge des Textes wiederherzustellen. Denkbar ist beispielsweise, den Text in (ggf. laminierte) Papierstücke zu zerschneiden und den Schülerinnen und Schülern, z. B. auch in Zweiergruppen, auszuhändigen, oder aber auf einem Arbeitsblatt die Textabschnitte durcheinander abzudrucken. Weitere technische Umsetzungsmöglichkeiten bieten Folienschnipsel auf dem Overheadprojektor und das interaktive Whiteboard, an dem die Umstellung dann vereinfacht möglich ist (einführend z.-B. Stubenrauch-Böhme 2012a, 57, Knoll 2017b, 16). Bei der Technik der Textentflechtung werden zwei Texte von überschaubarer Länge (z. B. zwei Gedichte) insofern miteinander verflochten, als alle Zeilen nacheinander so abgedruckt werden, als ob es sich um einen Text handelte (wiederzugeben z. B. als Französisch le démêlage de textes (verbal: démêler les textes), Spanisch el desenmaraña‐ miento/ desenredamiento de textos (verbal: desenmarañar/ desenredar los textos), Italienisch lo sgrovigliamento di testi (verbal: sgrovigliare i testi)). Dabei werden jeweils eine oder mehrere Zeilen aus einem Text nacheinander abgedruckt. Die Lernenden sollen dann, je nach Fortschritt im Sprachlehrgang und nach Anforderungsniveau, aufgrund vordergründig ersichtlicher Textsignale, oder aber aufgrund von latenten Textstrukturen, Isotopien usw. (Oberstufe) die beiden Texte entflechten. Letztere Aktivität ist auch als Wiederholung am Ende der Auseinandersetzung mit bestimmten Texten denkbar, um die Lernenden dazu anzuhalten, anhand bereits erarbeiteter Textsignale die beiden Texte zu „entflechten“ (z. B. bei verschiedenen Gedichten des dolce stil novo, aus Petrarcas Canzoniere usw., ggf. in Abgrenzung zu anderen Gedichten). 17. Standbild Das Standbild (Französisch le tableau figé, Spanisch la estátua/ la escultura, Italienisch la statua/ la scultura) stellt ein im weitesten Sinne dramapädagogisches Verfahren dar (hierzu 316 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="317"?> vgl. Band II, Kap. 1.2.9), das der vertieften Auseinandersetzung z. B. mit literarischen Texten dient und somit Textrezeption und Kreativität aufs engste verbindet. Ein Anwendungsbeispiel wäre etwa, am Ende einer Ganzschriftlektüre der Mittel- oder Oberstufe die Klasse in Gruppen aufzuteilen und jede Gruppe zu beauftragen, eine Schlüsselszene aus je einem Kapitel als Standbild darzustellen. Dabei werden ein oder mehrere Gruppenmitglieder von den anderen Gruppenmitgliedern so „geformt“, dass sie am Ende ca. eine Minute still in dieser Position verharren können. In der sich anschlie‐ ßenden zweiten Arbeitsphase im Plenum präsentiert je eine Gruppe still ihr Standbild, die jeweils anderen Gruppen stellen das Publikum dar. Das Publikum soll erraten, um welche Szene es sich handelt/ welche Figurenkonstellation dargestellt wird usw., und seine Entscheidung begründen. Weitere Sprechaktivitäten in der Fremdsprache können integriert werden, wenn in der einleitenden Arbeitsphase die Statue durch verbalen Input in der Zielsprache geformt wird oder wenn zusätzlich ein abschließendes Gespräch zwischen Darstellenden und Publikum integriert wird (einführend z. B. Lin-Klitzing/ Roth 2005, 232 f., Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 219-224). 18. Lerntempoduett/ Bus stop Das Lerntempoduett oder „Bus stop“ (in den romanischen Sprachen wörtlich als arrêt de bus, parada del autobús, fermata dell’autobus, z. B. konstruiert mit jouer à l’- - -, jugar a la - - -, fare il gioco della - - -) ist eine Maßnahme der Binnendifferenzierung z. B. bei der Ergebniskontrolle in Partnerarbeit. Lernende mit vergleichbarem Arbeitstempo werden durch diese Technik miteinander in Kontakt gebracht und arbeiten dann weiter an einer Aktivität. Während bei der Partnerarbeit mit der Banknachbarin/ dem Banknachbarn einerseits ein Ermüdungseffekt eintreten kann, weil immer wieder mit derbzw. demselben Inter‐ aktionspartner/ in gearbeitet wird, andererseits dann Schwierigkeiten entstehen können, wenn die beiden ein divergierendes Leistungsprofil aufweisen und Arbeiten in stark unterschiedlichem Tempo bearbeiten (besonders beim klassischen Dreischritt think - pair - share, also Einzelarbeit, Abgleich der Ergebnisse in Partnerarbeit und Besprechung im Plenum, F penser/ réfléchir - partager/ échanger - présenter, Sp método 1 - 2 - 4, método „piensa, trabaja en pareja y comparte/ , comparte, It metodo think - pair - share, pensa - coppia/ discuti - condividi, penso - scambio - condivido), kann die Technik des Lerntempoduetts oder der „Bushaltestelle“ dieses Problem zu umgehen helfen: Im Klassenzimmer werden mehrere Bushaltestellen ausgewiesen, eine Schülerin/ ein Schüler, die/ der einen in Einzelarbeit vorzubereitenden oder zu lösenden Auftrag erfüllt hat, begibt sich zu einer Bushaltestelle, an der entweder noch kein/ e andere/ r Schüler/ in steht oder aber an eine Bushaltestelle, an der erst eine Person steht. Die sich so findende Zweierpaarung hat die Arbeit in etwa im gleichen Tempo bewältigt und kann nun die jeweiligen Ergebnisse an einem im Vorfeld besprochenen, anderen Ort innerhalb oder außerhalb des Klassenraums abgleichen, bespre‐ chen usw. (je nach genauem Arbeitsauftrag). Für schnellere Paarungen sollten zusätzliche Aufgaben bereitgehalten werden (vgl. Krechel 2016c, 42), z. B. auch angenehme Aufgaben als „Belohnung“ wie ein thematisch passendes Quiz o.Ä. Ausführlicher einführend kann z.-B. auf Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2013, 18-25 verwiesen werden. 5.6 Unterrichtsmethoden und -techniken 317 <?page no="318"?> 19. Stationenlernen Ein ebenfalls inzwischen seit gut zwanzig Jahren gerade mit Blick auf individuelle Lernwege und differenzierende Lernangebote bewährtes Setting stellt das so genannten Stationen‐ lernen dar (Französisch atelier tournant, Spanisch aprendizaje por etapas, Italienisch appren‐ dimento per tappe). Hier werden von der Lehrkraft an verschiedenen Stationen (z. B. an zwei zusammengestellten Schülertischen im Klassenraum, in einer offenen Lernlandschaft usw.) Arbeitsmaterialien und -aufträge zur Verfügung gestellt, die dort von den Schülerinnen und Schülern in Einzelarbeit und/ oder in Kleingruppen bearbeitet werden. Die Reihenfolge der Bearbeitung ist in der Regel nicht vorgegeben, so dass weitgehend alle Stationen zu jedem Zeitpunkt besetzt sein sollten und auf jeden Fall alle Schülerinnen und Schüler zu jedem Zeitpunkt Zugang zu einer Aktivität haben. In inhaltlicher Sicht ist das Stationenlernen für Lerngegenstände jeder Art offen: Es bietet sich insbesondere auch für Wiederholungsphasen an (da hier die Reihenfolge der Bearbeitung der Stationen in der Regel nicht relevant ist), und kann mit Aktivitäten zur Grammatikwiederholung ebenso bestückt werden wie mit Aktivitäten zur inhaltlichen Wiederholung thematischer Dossiers und Unterrichtsreihen in der Oberstufe. Unter Um‐ ständen kann es auch in Erarbeitungsphasen eingesetzt werden, z. B. um im Rahmen einer komplexen Lernaufgabe voneinander unabhängige neue sprachliche Mittel zu erarbeiten oder aber auch, um voneinander unabhängige Inhalte zu einem Dossier, die in der Folge beispielsweise im Plenum systematisiert werden, erstmalig und grundlegend zu erarbeiten. Inzwischen liegen zu allen romanischen Sprachen zahlreiche publizierte Unterrichtsvor‐ schläge zum Stationenlernen vor, einführend sei z. B. auf Lin-Klitzing/ Roth 2005, 219-222 oder Themenhefte praxisorientierter Zeitschriften wie Der fremdsprachliche Unterricht 50, 2001 (Lernen an Stationen), 69/ 70, 2004 (Stationenlernen) oder Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 2, 2003 (Lernen an Stationen verwiesen. 20. Gruppenpuzzle Das Gruppenpuzzle (oder Expertenpuzzle) stellt eine inzwischen etablierte Variante der Gruppenarbeit dar (Französisch la classe en puzzle/ le mosaïque de groupes, Spanisch el puzle de expertos/ el método jigsaw, Italienisch il mosaico di esperti/ il metodo del jigsaw). Das Gruppen- oder Expertenpuzzle gliedert sich in drei Phasen: 1. arbeitsteilige Arbeit in den so genannten Stammgruppen (Französisch le groupe de recherche/ d’apprentissage, Spanisch el grupo original, Italienisch il gruppo casa) - hier erarbeitet jedes Gruppenmitglied einen anderen Arbeitsauftrag, z. B. einen anderen Abschnitt eines zu erschließenden längeren Textes. Dies geschieht in der Regel in Stillarbeit. 2. Arbeit in den so genannten Expertengruppen (Französisch le groupe d’experts, Spa‐ nisch el grupo de expertos, Italienisch il gruppo di esperti) - alle Schülerinnen und Schüler, die in Phase (1) z. B. Abschnitt 1 bearbeitet hatten, bilden eine Expertengruppe zu Abschnitt 1, alle, die Abschnitt 2 bearbeitet hatten, eine Expertengruppe zu Abschnitt 2 usw. Die einzelnen Schülerinnen und Schüler tragen ihre Ergebnisse aus Phase (1) zusammen, gleichen sie miteinander ab, verbessern und ergänzen sie und erstellen sozusagen eine Musterlösung zum Arbeitsauftrag aus Phase (1). 318 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="319"?> 3. erneute Arbeit in den Stammgruppen aus Phase (1): Nunmehr präsentieren die Experten in ihren jeweiligen Stammgruppen die mit den anderen Expert/ inn/ en abgeglichenen Lösungen ihres Arbeitsauftrags aus Phase 1. Unter Umständen ist zusätzlich eine Phase der Besprechung und Ergebnissicherung im Plenum angezeigt (einführend z. B. Lin-Klitzing/ Roth 2005, 215 f., Müller/ Rohling 2016, 45-47). 5.7 Unterrichtsbeobachtung 5.7.1 Unterrichtsbeobachtung im Praktikum Neben der theoretischen Auseinandersetzung mit Unterrichtsplanung, -methoden und -durchführung und eigenen praktischen Unterrichtsversuchen stellt die Beobachtung von Unterricht während der verschiedenen Praktika innerhalb eines Lehramtsstudiums eine sehr gute Möglichkeit für die eigene Professionalitätsentwicklung dar. Hier kann man erkennen, was welche Lehrkräfte wie machen, und idealerweise im Nachgang bei der Besprechung einzelner beobachteter Stunden auch die Hintergründe der jeweiligen Planungs- und Handlungsentscheidungen erfragen usw. Nach einer Phase ganz allgemeiner, ungesteuerter Unterrichtsbeobachtung in den ersten Tagen von Orientierungs-, Eignungsusw. -praktika, durch die erste Eindrücke von Unterricht aus einer externen Beobachterperspektive gesammelt werden sollen (Phase I), bietet es sich für die gezielte Unterrichtsbeobachtung gerade in den frühen Praktika an, nicht sofort zu versuchen, jeweils eine ganze Unterrichtsstunde zu erfassen und ggf. zu protokollieren, sondern jeweils nur Teilaspekte oder einzelne Phasen gezielt zu beobachten (Phase II). Man könnte z. B. über einen bestimmten Zeitraum hinweg nur Einstiegs- und Schlussphasen einer Unterrichtsstunde detailliert zu erfassen versuchen, nur Phasen der Wortschatzeinführung, usw. - und sich idealerweise innerhalb der Praktikumsgruppe und mit der betreuenden Lehrkraft der hochschulischen Begleitveranstaltung über die entsprechenden Beobachtungen austauschen. Für schulische Praktika ganz allgemein gibt es eine Vielzahl an einführenden Veröffent‐ lichungen vor allem im Bereich der Schulpädagogik. Exemplarisch für einen einführenden Text in monographischer Form sei Böhmann/ Schäfer-Munro 2008 (Kursbuch Schulprak‐ tikum. Unterrichtspraxis und didaktisches Grundwissen) erwähnt. Darüber hinaus liegen tendenziell portfolioartige Arbeitsbücher vor wie z. B. Stephan/ Thien 2009, Wiater 2014 ( 1 1994) oder Kiel 2020 ( 1 2007). Alle drei genannten Titel enthalten eine Vielzahl von Beobachtungsbögen, Checklisten usw., die gerade in allgemein-didaktischer Sicht für die ersten schulischen Praktika hilfreich sein können. In weiteren Praktika - in Bayern beispielsweise ab den Blockpraktika - kann man versuchen, ganze Unterrichtsstunden analytisch zu erfassen (Phase III). Für Praktika im Unterricht der romanischen Sprachen (hier am Beispiel des Italienischen) hat Christine Michler einen ausführlichen Bogen zur Unterrichtsbeobachtung entwickelt (Michler 2019, 40-42), der hier in auf alle romanischen Sprachen übertragbarer, abstrahierend-überar‐ beiteter Form aufgegriffen werden soll. Dabei kann es sich anbieten, bei den ersten 5.7 Unterrichtsbeobachtung 319 <?page no="320"?> Versuchen mit diesem Beobachtungsbogen - alleine, um sich mit dem Instrument vertraut zu machen - wiederum nur Teilaspekte zu fokussieren, z. B. die Aspekte von „Lernziel(e)“ bis „Unterrichtstempo“ in einer Stunde, „Lehrerverhalten“ bis „Einbeziehung weiterer Sprachen“ in einer weiteren Stunde, „Methodik insgesamt“ bis „Lehrwerk“ wiederum in einer anderen Stunde (Phase IIIa), bevor man abschließend versucht, wirklich vollständige Unterrichtsstunden protokollierend zu beobachten (Phase IIIb). 320 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="321"?> 468 Schule: Datum: Stunde: Fach: Ausbildungsgang (1./ 2./ 3./ spät beginnende FS), Lernjahr: Klasse Lehrkraft Stundenthema: LERN- UND KOMPETENZZIEL(E):  erkennbar  teilweise erkennbar  nicht erkennbar  erreicht  teilweise erreicht  nicht erreicht Raum für eigene Beobachtungen: 1) ____________________________________________________________ 2) ____________________________________________________________ 3) ____________________________________________________________ NIVEAU/ PASSUNG:  zu hoch  passend  zu niedrig ABLAUF DER UNTERRICHTSEINHEIT: Unterrichtsphasen:  deutlich erkennbar  wenig erkennbar  nicht erkennbar  binnendifferenzierende Maßnahmen  Abwechslung von mündlichen und schriftlichen Phasen Einzelschritte: 1) ____________________________________________________________ 2) ____________________________________________________________ 3) ____________________________________________________________ 4) ____________________________________________________________ 5) ____________________________________________________________ 6) ____________________________________________________________ 7) ____________________________________________________________ 5.7 Unterrichtsbeobachtung 321 <?page no="322"?> Stundeneinstieg: Bemühen um Motivation/ Schüleraktivierung erkennbar:  ja/  nein Raum für eigene Beobachtungen: ___________________________________________________________ Stundenende: Bemühen um Abrundung der Stunde erkennbar:  ja/  nein Raum für eigene Beobachtungen: ___________________________________________________________ Vorbereitung:  deutlich erkennbar  vermutlich unzureichend vorbereitet  improvisiert Raum für eigene Beobachtungen: ___________________________________________________________ Schüleraktivierung/ Mitarbeit:  hoch  mittel  eher gering  fast nicht erkennbar Raum für eigene Beobachtungen: ____________________________________________________________ UNTERRICHTSTEMPO:  zu behutsam  angemessen  rasch  zu rasch  öfter blockiert  Abschweifungen LEHRERVERHALTEN:  kontrolliert  sicher  verhalten  unsicher KLASSENKLIMA:  freundlich  harmonisches Zusammenarbeiten  kühl  schlecht  Einfluss bestimmter Gruppen erkennbar KOMMUNIKATION:  gut  mittel  sachlich  häufig unterbrochen 322 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="323"?> 470 LEHRTON:  übertrieben  variierend  wenig variierend  monoton  anbiedernd  schülernah freundlich  distanziert  zu kühl INTERAKTION: S-L:  vorhanden  kaum vorhanden  nicht vorhanden S-S:  vorhanden  kaum vorhanden  nicht vorhanden Raum für eigene Beobachtungen: ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ (S = Schüler/ in; L = Lehrkraft) LEHRERVORTRAG:  didaktisierend  orientiert an Zielsprache  stark muttersprachlich orientiert UNTERRICHTSSPRACHE  nur Zielsprache  entspricht dem Lernstand der Schüler  Wechsel ins Deutsche ist didaktisch begründet  S-S in Partner- und Gruppenarbeitsphasen: Zielsprache vorherrschend VERWENDUNG DER ZIELSPRACHE (Fokus auf Schüler/ innen): Schülersprechanteil:  hoch  mittel  gering Streuung:  alle beteiligt  viele beteiligt  nur wenige beteiligt Aussprache:  gut  ständig kontrolliert  wenig kontrolliert fluency  sehr ausgeprägt  deutlich erkennbar  erkennbar  wenig ausgeprägt Korrektheit:  sehr ausgeprägt  deutlich erkennbar  erkennbar  wenig ausgeprägt Schüler/ innen werden zum gegenseitigen Verbessern angehalten:  ja  nein 5.7 Unterrichtsbeobachtung 323 <?page no="324"?> 471 EINBEZIEHUNG WEITERER SPRACHEN:  schülerseitig initiiert  lehrkraftseitig initiiert  andere Schulsprachen, nämlich:  sonstige Sprachen, z.B. Herkunftssprachen, nämlich: Art der Einbeziehung: _____________________________________________________________ METHODIK insgesamt:  schülerzentriert  lehrerzentriert DIDAKTISCH-METHODISCHE PRINZIPIEN:  Kommunikationsorientierung  Kompetenz-/ Standardorientierung  Inhaltsorientierung und Bildungsanspruch  inter-/ transkulturelle Bildung  Mehrsprachigkeitsorientierung  lebensweltlicher/ außerschulischer Bezug  Handlungsorientierung  Umgang mit Heterogenität  Differenzierung  Individualisierung  Inklusion  Feedback/ Rückmeldungen/ Vermittlung von Erfolgserlebnissen UNTERRICHTSORGANISATION: Sitzordnung:  günstig für Interaktion S-S/ S-L  ungünstig, obwohl anders möglich  ungünstig, weil keine räumliche Möglichkeit Aktionsformen:  Lehrervortrag  gelenktes Unterrichtsgespräch  fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch  Diskussion/ Debatte 324 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="325"?> 472 Sozialformen und Formate offenen Unterrichts:  Frontalunterricht  Partnerarbeit  Gruppenarbeit  Einzelarbeit  offener Unterricht, nämlich: Raum für eigene Beobachtungen: ____________________________________________________________ ____________________________________________________________ Unterrichtstechniken:  deutlich kommunikativ orientierte Verfahren, nämlich:  kooperative Lernformen, nämlich:  spielerische Aktivitäten, nämlich:  bewegtes Lernen, nämlich:  dramapädagogische Verfahren, nämlich:  motivierend/ motivierende Wirkung nicht erkennbar Unterrichtsinhalte/ Kompetenzbereiche:  sprachliche Mittel  inter-/ transkulturelle Kompetenzen  Hör-/ Hörsehverstehen  Lesen  Sprachbewusstheit  Sprechen  Sprachlernkompetenz  Schreiben  Sprachmittlung  Mehrsprachigkeitskompetenz UNTERRICHTSMITTEL: (Stimmlage, Gestik, Mimik, Arbeitsblätter, Tafelbild, AV-Medien, digitale Medien)  aufwändig und zielgerecht  aufwändig, aber wenig fruchtbar  kaum technischer Aufwand,  zu geringer Einsatz der Mittel aber zielgerecht  Medien in ausreichender Zahl vorhanden  vorrangig authentisch zielsprachliche Materialien 5.7 Unterrichtsbeobachtung 325 <?page no="326"?> LEHRWERK: ___________________________________________________________ Dazugehörige Lehrmittel: _________________________________________________ Beurteilung insgesamt:  Schritte sinnvoll  verwirrend  Progression angemessen  Progression zu steil  Progression zu flach Abb. 62: Muster eines Beobachtungsbogens für Unterrichtspraktika (entwickelt ausgehend von Michler 2019) Aus spezifisch romanistisch-fremdsprachendidaktischer Perspektive können über die reine Unterrichtsbeobachtung hinaus Beobachtungen in folgenden Bereichen zu aufschlussrei‐ chen Erkenntnissen mit Blick auf die besondere Ausgestaltung von Fremdsprachenunter‐ richt, die (Fach-)Raumsituation, die Suche nach außerschulischen Lernorten, die Kommu‐ nikationsstrukturen innerhalb der Schule insgesamt usw. führen: ● Schulhaus und Lernlandschaften, ● Kommunikation in der Schulgemeinschaft, ● Lern- und Arbeitsklima, ● Schülerverhalten, ● Lehrerhandeln, ● Elternarbeit, ● eigene Unterrichtsversuche, ● eigene Beratungsinterventionen. Im Einzelnen könnten z.-B. folgende Beobachtungsaufträge verfolgt werden: - 1. Schulhaus und Lernlandschaften 1.1 Freiluft-Arenen und -klassenzimmer ● Erkunden Sie, ob es auf dem Schulgelände ● eine Freiluft-Arena ● ein Freiluft-Klassenzimmer gibt. ● Über welche Ausstattungsmerkmale (Tische, Tafeln usw.) verfügen sie? ● Erfragen Sie, ob Arena und/ oder Freiluft-Klassenzimmer für den Fremdsprachenunter‐ richt genutzt werden, ggf. auch, für welche Aktivitäten. 326 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="327"?> ● Überlegen Sie, für welche Aktivitäten Sie ein Freiluft-Klassenzimmer im Fremdspra‐ chenunterricht nutzen würden. Welches sind Vor-, welches Nachteile eines Unterrichts im Freiluft-Klassenzimmer? - - 1.2 Fachräume für Fremdsprachen 1.2.1 Sprachlabore und Multimedia-Labore ● Gibt es in der Schule noch ein Sprachlabor? ● Wenn ja: Über welche technische Ausstattung verfügt es, (wie) wird es genutzt? ● Wenn nein: Befragen Sie Lehrkräfte, die noch im Sprachlabor unterrichtet haben oder als Schüler(innen) gelernt haben. An welche Stärken der Arbeit mit dem Sprachlabor erinnern sich diese? ● Wie könnte man die diesbezüglichen, aus dem Verschwinden der Sprachlabore resul‐ tierenden, Defizite des heutigen Fremdsprachenunterrichts ausgleichen? ● Gibt es an Ihrer Praktikums-Schule ein ausschließlich für den Fremdsprachenunterricht reserviertes Multimedia-Labor? ● Wenn ja: über welche technische Ausstattung verfügt es? ● Beschreiben Sie ein Beispiel einer Unterrichtsstunde im Multimedia-Labor: - - 1.2.2 Fremdsprachen-Klassenzimmer und -prüfungsräume Fremdsprachen-Klassenzimmer ● Gibt es an Ihrer Schule weitere explizit als „Fremdsprachen-Klassenzimmer“ (o.Ä.) bezeichnete Fachräume? Wie werden diese ggf. bezeichnet? ● Möblierung: Mit welchen Möbeln ist der Raum ausgestattet (z. B. Dreieckstische, ggf. auf Rollen und Bremsen, „Wabentische“ usw.)? ● Technische und weitere Ausstattung: Über welche technische Ausstattung verfügt der Raum (z. B. interaktives Whiteboard, Lautsprecheranlage für Hörverstehen, Mi‐ krophon für die Lehrkraft, Wörterbuchsätze usw.)? Ist eine Ausstattung für inklusive Settings vorhanden oder möglich (z. B. Barrierefreiheit, Förderschwerpunkte Hören oder Sehen, usw.)? ● Von welchen Vor- und Nachteilen dieses Raumes berichten die Lehrkräfte? - Fremdsprachen-Prüfungsräume ● Welche Räume werden für die Prüfungen zum Hörverstehen genutzt (im Alltag/ im Abitur)? ● Welche Räume werden für mündliche Prüfungen und für die Prüfungsvorbereitung genutzt? ● Über welche Problematiken bezüglich der Prüfungsorganisation berichten die Lehr‐ kräfte? 5.7 Unterrichtsbeobachtung 327 <?page no="328"?> ● Welche Lösungs-Strategien wurden entwickelt (v. a. im Hinblick auf eine möglichst gerechte Bewertung und auf die Beaufsichtigung der übrigen Schüler/ innen während der Einzel-, Partner- oder Gruppenprüfungen)? 1.2.3 Fremdsprachen-Lehrerzimmer ● Gibt es ein eigenes Fremdsprachen-Lehrerzimmer? ● Wenn ja: Wie ist dieser ausgestattet, welche Materialien und Medien werden dort vorgehalten? - - 1.3 Fremdsprachen in offenen Lernlandschaften ● Gibt es Verfügungsräume zwischen den Klassenzimmern? ● Wenn ja, wie werden diese für den Fremdsprachenunterricht genutzt? ● Findet Fremdsprachenunterricht in offenen Lernlandschaften statt (z. B. Arbeitsflächen auf dem Gang u.-a.)? ● Worin besteht ggf. der Mehrwert für den Fremdsprachenunterricht? ● Inwieweit wird die Schul-Bibliothek in den Fremdsprachenunterricht einbezogen? ● Gibt es „Lernbüros“ mit Materialien zur selbstständigen, differenzierenden Vertiefung des Unterrichtsstoffs? ● Worin besteht ggf. der Mehrwert für den Fremdsprachenunterricht? - - 1.4 Fremdsprachenunterricht an außerschulischen Lernorten ● Findet Fremdsprachenunterricht an außerschulischen Lernorten statt? ● Geben Sie Beispiele, die Sie beobachten konnten oder von denen Sie durch die Lehrkräfte erfahren haben. ● Worin besteht ein Mehrwert für den Fremdsprachenunterricht? - - 1.5 Zusatzangebote in den Fremdsprachen ● Gibt es Zusatzangebote in den Fremdsprachen in Form von Gruppenunterricht (z. B. AGs zu weiteren Fremdsprachen, Konversationskurse, Förderunterricht für schwächere und/ oder stärkere Schülerinnen und Schüler, fremdsprachliches Theater, Schüleraustausch-/ Erasmus+-AG o.Ä.)? Wenn ja, welche? ● Welches dieser Angebote hat Sie besonders beeindruckt und warum? ● Gibt es Zusatzangebote in den Fremdsprachen in Form von Selbstlernangeboten (z.-B. „Lernbüros“, Zeiten für die selbstständige Nutzung von Multimedia-Arbeitsplätzen in Medienräumen oder Fremdsprachenzimmern)? ● Wenn ja, wie sind diese Angebote ausgestaltet und wie werden Sie nach Ihrer Einschätzung von den Schülerinnen und Schülern wahrgenommen? - 328 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="329"?> - 2 Kommunikation in der Schulgemeinschaft Holen Sie Informationen zu folgenden Fragestellungen ein: ● Wie ist die interne Kommunikation zwischen Schulleitung und Lehrerkollegium und im Kollegium organisiert (Papierform, Schwarzes Brett, Intranet, Plattform/ Server, Mail)? ● Welche Vor- und Nachteile der Kommunikationswege werden im Kollegium artiku‐ liert? ● Wie ist die Schülerdaten-/ Notenverwaltung organisiert? ● Welche Vor- und Nachteile der genannten Form der Schülerdaten-/ Notenverwaltung artikulieren die Lehrkräfte? ● Welche Kommunikationswege bestehen zum Austausch mit den Eltern? ● Welche weiteren Kommunikationswege für den Austausch mit den Eltern wünschen sich die Lehrkräfte/ ggf. Eltern, mit denen Sie ins Gespräch kommen? - - 3 Lern- und Arbeitsklima Beobachten Sie die Interaktion im Kollegium (z.-B. Lehrerzimmer): ● Welcher „Umgangston“ herrscht hier insgesamt? ● Welche Beobachtungen/ Episoden haben Sie als positiv wahrgenommen? ● Welche unangenehmen/ negativen Situationen haben Sie wahrgenommen, die Sie selbst zu vermeiden versuchen werden? ● Wie kann Ihrer Meinung nach ein freundlich-kollegiales Klima gefördert werden? ● Gibt es bauliche Einrichtungen und Ausstattungsmerkmale des Schulhauses, die ein angenehmes Klima im Kollegium und einen im Hinblick auf Lehrergesundheit ange‐ messenen Alltag befördern (z. B. mehrere Lehrerzimmer, Lehrer-Küche, Ruheräume für Lehrkräfte, Dachterrassen u.Ä.)? ● Wie werden diese ggf. von den Kolleginnen und Kollegen wahrgenommen und genutzt? - - 4 Elternarbeit ● Wie werden Eltern behandelt? ● Wie sind die Elternsprechzimmer ausgestattet? ● Welche Formen der Kommunikation mit den Eltern bestehen (über die Sprechstunden hinaus) gerade auch mit Blick auf den Fremdsprachenunterricht (z. B. bezogen auf außerschulische Lernorte)? ● Welche Vor- und Nachteile erkennen die Kolleginnen und Kollegen an weiteren Formen der Elternarbeit über die Sprechstunden hinaus? ● Werden die Eltern in das Schulleben besonders auch mit Blick auf den Fremdsprachen‐ unterricht einbezogen (z.-B. Schüleraustausch usw.)? 5.7 Unterrichtsbeobachtung 329 <?page no="330"?> ● Gibt es Angebote für die Eltern (z. B. Sprachkurse - durch Lehrkräfte oder durch Schülerinnen und Schüler)? ● Welche Maßnahmen könnten Ihrer Ansicht nach zu einer Optimierung der Arbeit mit den Eltern beitragen? Einführend in die Gestaltung von Schulgebäuden und Schulanlagen, Schulraumplanung und Konzeption von Lernlandschaften, aus pädagogischer wie auch architektonischer, baubiologischer und bauökologischer Sicht, kann z. B. auf Sprecher Mathieu 2010 und Bayerischer Philologenverband 2017 verwiesen werden. Zur Elternarbeit am Beispiel des Französischen vgl. die Untersuchung Knoll 2017a. 5.7.2 Unterrichtsbeobachtung durch Fachleiter/ innen - der Blick der Prüfenden Bei der Unterrichtsbeobachtung durch die Seminarlehrer/ innen bzw. Fachleiter/ innen, vorbereitend ggf. auch schon durch die Mentor/ innen, kommen ergänzend etwas andere Kriterien zum Tragen, namentlich Kriterien, die auf die Qualität des Unterrichts und des erzieherischen Wirkens der Lehramtskandidatin/ des Lehramtskandidaten zielen. Zur Vorbereitung auf das Referendariat kann es sinnvoll sein, sich mit solchen Kriterien frühzeitig vertraut zu machen. Ggf. ist auch denkbar, in Praktika zu versuchen, sich innerhalb einer Praktikumsgruppe gegenseitig mithilfe solcher Instrumente zu beobachten und sich entsprechendes peer-Feedback zu geben bzw. einzuholen. Auch bezüglich der im Folgenden vorgestellten Beobachtungsbögen gilt - wie für die oben angesprochenen Anforderungen an die Stundenentwürfe (vgl. oben Kap. 5.4.3) -, dass es zu Abweichungen zwischen Bundesländern und Seminaren kommen kann. Im Wesentlichen werden aber immer die beiden oben genannten Aspekte, oder anders formuliert, fachliche - vor allem didaktisch-methodische - sowie pädagogische Aspekte, zum Tragen kommen. Im Folgenden werden zwei Beobachtungsinstrumente vorgestellt, die von StD Rainer Steidel, dem langjährigen Fachberater für die Seminarausbildung im Fach Französisch beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, entwickelt und für diese Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurden. Die angelegten Kriterien werden vom ersten bis zum letzten Ausbildungsabschnitt differenzierter und natürlich auch strenger angelegt. Grundlegend umfassen beide Beobachtungs- und zugleich Kriterienkataloge aber folgende Aspekte in den übergeordneten Bereichen, die im vorliegenden Beispiel „didakti‐ sche Komponente“, „fachwissenschaftliche Komponente“, „methodische Komponente“ und „pädagogische Komponente“ genannt werden: Fachdidaktische Komponente Lernziele - Lernstoffaufbereitung - Unterrichtsökonomie - Lerngruppenadäquatheit - Abb. 63a: Mögliche Kriterien im Bereich fachdidaktische Kompetenz (eigene Darstellung) In diesem Bereich werden Festlegung und tatsächliche Erreichung der Lernziele, die für die Lerngruppe angemessene Aufbereitung des Lernstoffs sowie die Zielstrebigkeit, mit 330 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="331"?> der Lernstoff vermittelt und Kompetenzziele verfolgt werden, beobachtet. Gerade bei fortgeschrittenen Referendarinnen und Referendarin wird in diesem Bereich auch darauf geachtet, inwieweit Grundwissen berücksichtigt wird und inwieweit fächerübergreifende Lern- und Kompetenzziele verfolgt werden. Fachwissenschaftliche Komponente Fremdsprachenkompetenz (v.-a. Aussprache, Sprechfertigkeit, Korrektheit) - Fachkompetenz (im sprachlichen, landes‐ wissenschaftlichen, ggf. literaturwissenschaftlichen Bereich) - Abb. 63b: Mögliche Kriterien im Bereich fachwissenschaftliche Kompetenz (eigene Darstellung) Im als „fachwissenschaftliche Komponente“ bezeichneten Bereich geht es in erster Linie um die fremdsprachliche Kompetenz der Lehramtskandidatin/ des -kandidaten, die vor allem an Aussprache, Ausdrucksvermögen und fluency, aber auch an der Korrektheit im Gebrauch der sprachlichen Mittel gemessen wird. Zugleich geht es im Bereich der Fachkompetenz, je nach Jahrgangsstufe und Inhalt der Stunde, um Fragen der Beherrschung und korrekten Darbietung des Stoffes der sprachlichen, landeswissenschaftlichen oder auch literaturwis‐ senschaftlichen Ebene und um die angemessene Verwendung wissenschaftlicher bzw. metasprachlicher Fachtermini. (Unterrichts-) Methodische Komponente Stundenplanung/ Stundenaufbau - Arbeits- und Sozialformen - Unterrichtstechniken - Medieneinsatz - Ergebnissicherung - Feedback/ Kontrollfragen/ Zusammenfassung - Hausaufgabe - Abb. 63c: Mögliche Kriterien im Bereich (fach-) methodische Kompetenz (eigene Darstellung) Im zentralen unterrichtsmethodischen Bereich werden die oben in Kap. 5.4 und 5.5 beschriebenen Aspekte der Unterrichtsplanung und -methodik in ihrer Durchführung beobachtet und bewertet. Zentrale Kriterien sind hier der Aufbau der Stunde, der vielfältige, aber gezielte und sachdienliche Einsatz von unterschiedlichen Arbeits- und Sozialformen sowie von Unterrichtstechniken (umgangssprachlich häufig mit dem Schlagwort „Metho‐ denwechsel“ bezeichnet), der ebenfalls sachlich begründete Einsatz von Medien usw. Besonders bedeutend - und für Anfänger/ innen wichtig zu beachten - sind Aspekte der Ergebnissicherung (also z. B. eine Zusammenfassung, die Erstellung eines Tafelbildes o.Ä., sowie die Tatsache, dass gerade in Unter- und früher Mittelstufe Zeit gelassen wird, eine Tafelanschrift ins eigene Heft zu übertragen, usw.). Damit verbunden sind Aspekte der laufenden Evaluation und des Feedbacks an die Schülerinnen und Schüler. Weiterhin wird in diesem Bereich den die Stunde vor- und nachbereitenden Hausaufgaben Beachtung geschenkt, d. h., die Art der Hausaufgabenkontrolle/ des Feedbacks zur Hausaufgabe sowie Art und Umfang der Hausaufgabenstellung am Ende der Stunde werden erfasst. 5.7 Unterrichtsbeobachtung 331 <?page no="332"?> Pädagogische Komponente Altersstufenadäquatheit - Passung - Motivation - Streuung - Eingehen auf Schülerbeiträge - Engagement - Zielstrebigkeit - erzieherisches Auftreten und Wirken - Unterrichtsstil - Kontakt zur Klasse - Disziplin - Abb. 63d: Mögliche Kriterien im Bereich pädagogische und erzieherische Kompetenz (eigene Dar‐ stellung) Der Übergang von der methodischen zur pädagogischen Ebene ist fließend. Die Berück‐ sichtigung einer „pädagogischen Ebene“ auch auf Ebene des Fachunterrichts ist darin be‐ gründet, dass schulischer (Fach-)Unterricht ja immer auch erzieherisch und bildend wirken soll. Dies wird im vorliegenden Beobachtungsbogen u. a. durch folgende Aspekte erfasst: Altersstufenadäquatheit sowie insgesamt Passung hinsichtlich Niveau, Sozialstruktur usw. der Lerngruppe, Umgang mit Schülerbeiträgen, Streuung im Sinne einer Einbeziehung möglichst aller Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen, Unterrichtsstil, erzieherisches Auftreten und Wirken, Kontakt zur Klasse und zu einzelnen Schülerinnen und Schülern usw. Für die Beobachtung fortgeschrittener Referendarinnen und Referendare wird das u.-a. weiter ausgeführt in die Aspekte: ● motivierende Unterrichtsführung, ● Schaffung von Sprechanreizen, ● Einräumen von Denkpausen, ● Reaktion auf Schülerantworten, ● Vermittlung von Erfolgserlebnissen, ● Flexibilität, Reaktions- und Improvisationsvermögen (also der Umgang mit nicht vorhersehbaren Ereignissen im Stundenverlauf), ● Anregungen zu Arbeitsverfahren, Lerntechniken und selbständigem Arbeiten. Das erzieherische Wirken wird in folgende Aspekte aufgegliedert, wobei die beschrei‐ benden Adjektive jeweils nur Orientierungshilfen bieten sollen und im Beobachtungsbogen durch „usw.“ signalisiert wird, dass hier auch weitere Charakteristika auftreten und erfasst werden können. Als Orientierung können sie jedoch auch Praktikant/ inn/ en und Referendar/ inn/ en zur Kenntnis gebracht werden: ● Haltung: bestimmt/ zaghaft, steif/ lässig, unruhig/ gelassen, ● Unterrichtsstil: anregend, nüchtern, langweilig, ● Lehrton: freundlich, humorvoll, autoritär, ● Kontakt zur Lerngruppe und Eingehen auf einzelne Schüler/ innen, ● Einwirken auf die Arbeitshaltung: Lob/ Tadel, Geduld/ Ungeduld, ● Disziplin, Erkennen und Lösen von Konflikten. Parallel dazu wird die Seminarlehrerin/ der Seminarlehrer bzw. die Fachleiterin/ der Fach‐ leiter eine Stunde auch immer in ihrem chronologischen Gesamtverlauf beobachten und zu erfassen versuchen, um abschließend zu einem ganzheitlichen Blick auf die Stunde gelangen zu können. Dies erfolgt in den vorliegenden Beobachtungsbögen in der rechten Spalte. Im Folgenden wird zunächst der Beobachtungsbogen, der für erste Unterrichtsbe‐ 332 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="333"?> suche und Lehrproben im ersten Ausbildungsabschnitt konzipiert ist, wiedergegeben, danach der detailliertere Bogen, der für den Unterricht von fortgeschrittenen Referenda‐ rinnen und Referendaren konzipiert wurde. 5.7 Unterrichtsbeobachtung 333 <?page no="334"?> 483 . Unterrichtsbesuch im Fach Französisch bei StRef . AA in Klasse Schüler am . Stunde besprochen am GIMP 1. Didaktische Komponente Chronologischer Ablauf Lernziele Lernstoffaufbereitung Unterrichtsökonomie Lerngruppenadäquat 2. Fachwissenschaftliche Komponente Aussprache, intonation, accent Ausdrucksvermögen, Korrektheit Fachkompetenz 3. Methodische Komponente Methoden, Arbeitsu. Sozialformen Medieneinsatz Stundenaufbau u. Lernschritte Ergebnissicherung (mündl./ schr./ Tafel/ Heft) Kontrollfragen/ Zusammenfassung Hausaufgabe 4. Pädagogische Komponente Altersstufenadäquat Leistungsadäquat/ über-/ unterfordert Motivation Behandlung von Schülerbeiträgen Zielstrebigkeit Engagement Streuung Erzieherisches Auftreten Fazit Unterrichtsstil Kontakt zur Klasse Disziplin Sonstiges Abb. 64a: Beobachtungsbogen für Unterrichtsbesuche im ersten Ausbildungsabschnitt des Referen‐ dariats (Beispiel: Französisch) nach StD Rainer Steidel 334 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="335"?> 485 Unterrichtsbesuch im Fach Französisch bei StRef .AA Datum Klasse .Stunde Besprochen am 1. Didaktische Komponente Chronologischer Ablauf Erreichen der Lernziele Angemessene Aufbereitung der Lerninhalte Aufnahmefähigkeit der Lerngruppe, Kenntnisstand/ sprachliches Niveau Unterrichtsökonomie Exemplarisches Arbeiten, Medieneinsatz Beiträge zum Aufbau des Grundwissens (Jgst. übergreifend auf Jgst. bezogen) Beiträge zum Aufbau von Kompetenzen Gesamteindruck der Stunde: 2. Fachwissenschaftliche Komponente Verwendung der Fremdsprache Phonetik: Aussprache, Intonation und Sprachrhythmus Sprechfertigkeit: Ausdrucksvermögen, sprachliche Korrektheit Fachkenntnisse (Umfang und Tiefe des Sachwissens) Angemessene Verwendung wissenschaftlicher Begriffe Beherrschung des Stoffs im sprachlichen/ literarischen/ landeskundlichen Bereich Korrektheit der Sachinformation Erkennen von Zuzsammenhängen, Einordnen und Vergleichen von Sachverhalten 3. Methodische Komponente Verwendung adäquater Methoden Unterrichtsformen und Übungsformen Methodenvariation Sachgerechter und effizienter Medieneinsatz Strukturierung der Unterrichtsstunde Abfolge, Umfang, Gewichtung, Dauer der Lernschritte Verwendung von Fremd- und Muttersprache Einbeziehung der gesamten Lerngruppe Ergebnissicherung Mündliche und schriftliche Objektivierung von Arbeitsergebnissen Fixierung durch Tafelanschrift, Projektion, Hefteintrag usw. Überprüfung der Ergebnisse durch Kontrollfragen und Zusammenfassung Sicherung durch Einübung, Wiederholung und Transfer Kontrolle und Stellung der Hausaufgabe 4. Pädagogische Komponente Berücksichtigung von Altersstufe, Sozialstruktur, Kenntnisstand, Leistungsniveau Motivierende Unterrichtsführung Wirksamkeit des Einstiegs Zielstrebigkeit, engagiertes Auftreten Lebendigkeit der Darstellung Schaffung von Sprechanreizen Einräumen von Denkpausen Improvisationsvermögen, Flexibilität, Reaktionsvermögen Ratschläge zu Arbeitsverfahren, Selbstständigkeit Streuung Reaktion auf Schülerantworten Vermittlung von Erfolgserlebnissen Erzieherische Wirksamkeit Haltung: bestimmt/ zaghaft, steif/ lässig, unruhig/ gelassen usw. Unterrichtsstil: anregend, nüchtern, langweilig usw. Lehrton: freundlich, humorvoll, autoritär usw. Kontakt zur Lerngruppe und Eingehen auf ein zelnen Schüler Bemühen, der Schülerindividualität gerecht zu werden Einwirkung auf die Arbeitshaltung: Lob/ Tadel, Geduld/ Ungeduld Übersicht: Disziplin, Erkennen und Beilegen von Konflikten Abb. 64b: Beobachtungsbogen für Unterrichtsbesuche im letzten Ausbildungsabschnitt des Referen‐ dariats (Beispiel: Französisch) nach StD Rainer Steidel 5.7 Unterrichtsbeobachtung 335 <?page no="336"?> Innerhalb der romanistischen Fachdidaktik(en) liegt inzwischen eine beachtliche Zahl von Veröffentlichungen zur beruflichen Selbstreflexion angehender Fremdsprachenlehre‐ rinnen und -lehrer im Allgemeinen (z. B. Melo-Pfeifer 2019), zur Fremdsprachenlehrerbil‐ dung in der ersten Phase der Ausbildung insgesamt (z. B. Abendroth-Timmer 2011, 2013, 2017, Bechtel/ Mayer 2019, Mayer 2020b, Mayer/ Rudolph 2020, Bechtel/ Mayer 2021, gerade auch zur Funktion von Videographie u. a. mit Blick auf Reflexionskompetenz), sowie zu den verschiedenen Formen von Praktika im Besonderen vor. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Untersuchungen zum Praxissemester in Nordrhein-Westfalen von Koch 2015 und Bürgel/ Koch 2019 und auf die Studie zum fünfwöchigen Fach-Blockpraktikum in Niedersachsen von Birgit Schädlich (vgl. Schädlich 2015, 2016, 2019) verwiesen. Darüber hinaus kann auf das große Kompendium zu Praxisphasen in der Ausbildung romanischer Fremdsprachenlehrender von Christoph Oliver Mayer verwiesen werden (Mayer 2020a), in dem wissenschaftliche Erkenntnisse und Best-practice-Beispiele zu folgenden Bereichen miteinander in Bezug gesetzt werden: „Praxisphasen in der Lehramtsausbildung - ein Überblick“ (mit Beispielen zu Praktika in den romanistischen Lehramtsstudiengängen an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Dresden und der Ludwig-Maximilians-Universität München), „Zur Vorbereitung auf Praxisphasen“, „Unter‐ richtsvideos zur Stärkung der Praxisausrichtung“, „Schulpraktische Übungen“, „Praxisse‐ mester“, „Praxisförderung durch universitäre Projekte“, „Praxisphasen online? “ (vgl. Mayer 2020a, 5-8). 5.7.3 Ausblick: Wissenschaftliche Unterrichtsbeobachtung Wiederum andere Erkenntnisziele verfolgt die wissenschaftliche Unterrichtsbeobachtung. Sie verfolgt das Ziel, Unterricht mit Blick auf eine ganz spezielle Fragestellung zu be‐ forschen. Sie wird daher im Falle einer teilnehmenden Beobachtung häufig ebenfalls mit Beobachtungsbögen arbeiten, die aber - im Gegensatz zu den oben vorgestellten Beobachtungsinstrumenten für Praktikum und für die Evaluation von Unterricht - oft nicht ganze Unterrichtsstunden in ihrer Gesamtheit und in möglichst vielen ihrer Facetten, dabei aber zugleich relativ oberflächlich erfassen, sondern einen ganz speziellen Aspekt sehr detailliert zu erfassen versuchen (z. B. Umgang mit mündlichen Fehlern, Einsatz verschiedener Sprachen im Unterricht, usw.) (s.-u. Kap. 8.4.2). 336 5 Unterrichtsplanung und Unterrichtsmethoden: Prinzipien, Planung, Techniken, Qualitätssicherung <?page no="337"?> 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen Heterogenität, Differenzierung, Individualisierung und Inklusion sind wichtige Arbeits‐ felder der gegenwärtigen pädagogischen Forschung, die zwischenzeitlich auch im fremd‐ sprachendidaktischen Diskurs etabliert sind. Im folgenden Kapitel werden daher zum einen zentrale theoretische Aspekte von Heterogenität, Differenzierung und Individuali‐ sierung sowie Inklusion für die Fachdidaktiken der Romanistik erschlossen, zum anderen praktische Umsetzungsmöglichkeiten exemplarisch aufgezeigt. Für die romanischen Schul‐ sprachen ist etwa die Interessensdifferenzierung grundlegend relevant, insofern dem Besuch des Unterrichts einer romanischen Sprache in der Regel, je nach Altersstufe und Alternativen, eine mehr oder weniger bewusste Wahlentscheidung vorausgeht. Zugleich kommen im Unterricht der romanischen Sprachen Aspekte der Binnendifferenzierung etwa im Sinne der Leistungsdifferenzierung zum Tragen. Daneben sind die individuellen bzw. gruppenspezifischen Sprachenbiographien eine wesentliche Lernvoraussetzung, auf die im Sinne der Differenzierung eingegangen werden sollte. Immer wieder werden auch Fragen der Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen relevant. Dieses Kapitel nähert sich den skizzierten Fragestellungen wie folgt: Zunächst wird ein Überblick über für das Fremdsprachenlernen relevante individuelle Lernervariablen gegeben, die den Hintergrund für jegliche Bemühung um Differenzierung und Individua‐ lisierung bis hin zur Inklusion darstellen (Kap. 6.1). Es folgen Hinweise auf das besondere Konstrukt der „kognitiven Stile“ und ihre Relevanz für das Fremdsprachenlernen (Kap. 6.2), bevor in den Heterogenitäts-Diskurs mit Blick auf den Unterricht in den romanischen Sprachen eingeführt wird (Kap. 6.3f.). Hieran schließt sich die Darstellung unterrichtsprak‐ tischer Beispiele für differenzierende Settings im Unterricht der romanischen Sprachen an (Kap. 6.5). Abschließend erfolgt eine Einführung in die Thematik der Inklusion im Französisch-, Italienisch- und Spanischunterricht, wobei u. a. Zusammenstellungen bisher angenommener Verfahren für die Unterstützung in einzelnen Förderschwerpunkten vor‐ gelegt werden (Kap. 6.6). 6.1 Individuelle Lernervariablen Will man Maßnahmen der Differenzierung und Individualisierung zielgerichtet ergreifen, ist den so genannten „individuellen Lernervariablen“ wie etwa Alter, Geschlecht/ Gender oder Einstellung Rechnung zu tragen. Diese individuellen Lernervariablen sind für den fremdsprachendidaktischen Bereich bisher nur unzureichend erforscht. Im Folgenden soll ein Überblick über die Lernervariablen, die man bisher ausgemacht hat, sowie über ein‐ schlägige diesbezügliche Forschungsergebnisse vermittelt werden. Man kann, vereinfacht gesprochen, zwischen drei Faktorenkomplexen unterscheiden, namentlich den biologi‐ schen, den kognitiven und den sozio-affektiven Faktoren. Zur erstgenannten Gruppe zählen Alter und Geschlecht, zu den kognitiven Faktoren die Intelligenz sowie, soweit messbar, <?page no="338"?> die in den letzten Jahren wieder zunehmend thematisierte Sprachlerneignung. Die Gruppe der sozio-affektiven Faktoren umfasst etwa Motivation, Einstellung, Persönlichkeitsfak‐ toren sowie Lernemotionen (vgl. Edmondson/ House 2006, 171-212). Zu den individuellen Lernervariablen kann man weiterhin die in den Unterricht der romanischen Sprachen ‚mitgebrachten‘ Sprachen, also Familiensprachen und vorgelernte Sprachen, zählen. Auch sind soziokulturelle Faktoren (z. B. Eltern, Familie) nicht zu vernachlässigen; gerade im Falle der romanischen Sprachen können familienbedingte Aufenthalte etwa in Frankreich, Italien oder Spanien - sei es bei Schülerinnen und Schüler mit im weiteren Sinne französischer, italienischer oder spanischer Herkunft, sei es in Form von Urlaubsaufenthalten - eine nicht zu vernachlässigende Größe für die Lernprozesse darstellen. Im Folgenden werden Problemfelder und Forschungsergebnisse zu ausgewählten individuellen Lernervariablen resümiert (bezüglich des Faktors Intelligenz - vgl. Kap. 6.1.2 - sei auf die allgemeine (schul)psychologische Literatur verwiesen). Individuelle Lernervariablen im Fremdsprachenunterricht - - - -- individuelle Lernervariablen Alter Geschlecht / Gender kognitive Faktoren sozio‐affektive-Faktoren- Intelligenz Sprachlerneignung Motivation Einstellung Persönlichkeitsfaktoren Lernemotionen Familiensprachen- und- vorgelernte- Sprachen- biologische-- Faktoren- soziokulturelle- Faktoren,-- v.a.-auch Eltern/ Familie Abb. 65: Individuelle Lernervariablen beim Fremdsprachenlernen (eigene Darstellung) 6.1.1 Biologische Faktoren Alter Die Rolle des Fakors Alter beim Fremdsprachenlernen erscheint aus heutiger Sicht weniger eindeutig als noch vor wenigen Jahrzehnten: ging man in der Vergangenheit davon aus, dass Fremdsprachenlernen ab der Pubertät nur noch erschwert möglich sei (critical-period-hy‐ 338 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="339"?> pothesis), lassen Beobachtungen sprachlicher Leistungen so genannter später Bilingualer wie auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse eine solch vereinfachende Sicht nicht mehr zu. Vielmehr spielen Motivation und Sprachlerngelegenheiten eine zentrale Rolle bezüglich des Niveaus, das erzielt werden kann. Sich dies zu vergegenwärtigen ist für die romanischen Sprachen, wenn sie als dritte oder sogar als spät beginnende Fremdsprachen erlernt werden, essentiell. Unbestritten ist, dass späte Mehrsprachige im Bereich der Aussprache tendenziell größere Schwierigkeiten haben, sich an ein muttersprachliches Niveau anzunähern, als simultan Mehrsprachige. Vereinfacht lässt sich also in Bezug auf die neurophysiologische Grundlegung der (Fremd) Sprachenaneignung resümieren, dass dynamische Sprachfunktionen, die als schwerpunktmäßig im Broca-Areal verortet gelten (Syntax, Aussprache), mit fortschreitendem Alter tatsächlich schwerer erlernbar werden als Sprachfunktionen, die schwerpunktmäßig im Wernicke-Areal lokalisierbar sind (Spracherkennung, Lexik/ Semantik) (vgl. Band II, Kap. 1.2). Dennoch sind auch hier hervorragende Ergebnisse möglich. An diese Erkenntnisse anknüpfend können für den Unterricht der romanischen Sprachen u.-a. folgende Schlüsse gezogen werden: 1. Wird eine romanische Sprache früh gelernt, so sollte eine intensive Ausspracheschu‐ lung erfolgen, was Lehrkräfte mit einer sehr guten Aussprachekompetenz voraussetzt. 2. Für das spät einsetzende Fremdsprachenlernen ließe sich ein Primat der Wortschatz‐ vermittlung in dem Sinne ableiten, dass späte Mehrsprachige durch herausragende Wortschatzkenntnis Defizite in den Bereichen Aussprache und Syntax in gewisser Hinsicht kompensieren können. 3. Aussprache und Morphosyntax („Grammatik“) können in den spät beginnenden Fremdsprachen eher kognitivierend vermittelt werden. Letztgenanntes Postulat begründet sich insofern, als klassische Stufen der kognitiven Entwicklung nach Piaget nach wie vor Gültigkeit beanspruchen dürfen und eine kogniti‐ vierende Vermittlung hier Einsichten entstehen lässt, die etwa im Rahmen von Immersi‐ onsansätzen in dieser Altersgruppe ohnehin nicht mehr intuitiv erfolgen können. Daraus leiten sich u.-a. folgende unterrichtsmethodische Folgerungen ab: 1. Eine romanische Sprache muss anders unterrichtet werden, je nachdem, ob sie als erste, zweite oder dritte oder als spät beginnende Fremdsprache unterrichtet wird. 2. Auch die vermeintlich methodisch ähnlicher zu bedienenden dritten und spät begin‐ nenden Fremdsprachen müssen jeweils anders unterrichtet werden. Geschlecht und Gender Auch bezüglich des Geschlechts gibt es wenig gesicherte Erkenntnisse. Die wenigen vorlie‐ genden empirischen Daten belegen zum einen den Alltagsbefund, dass tendenziell Mädchen die erfolgreicheren Fremdsprachenlernenden sind, was u. a. darauf zurückzuführen sein könnte, dass sie umfassenderen Gebrauch von sprachbezogenen metakognitiven Strategien machen (Green/ Oxford 1995) sowie größeres Unbehagen über eigene Fehler empfinden (Coleman 1996). Die nicht repräsentative, qualitative Untersuchung Neveling/ Stoffel 2021 weist jedoch auch für Schulen im deutschsprachigen Raum darauf hin, dass Stereotypen bezogen auf das Französische (wahrgenommen als „weibliche Sprache“) mit dem Erfüllen stereotypisierter Gender-Rollen durch Jungen einhergehen: 6.1 Individuelle Lernervariablen 339 <?page no="340"?> Die Beliebtheit von Französisch konnte nur bei einigen Jungen mit unmarkierter Genderperfor‐ manz ermittelt werden, also von Jungen, deren Äußerungen im Interview nicht den klassischen männlich hegemonialen Männlichkeitsbildern folgten, d. h. klassisch männliche Merkmale wie „stark, sportlich, ehrlich, extrovertiert, aggressiv, rebellisch“ oder klassisch männliche Berufe nannten. (Neveling/ Stoffel 2021, 34) Jungenförderung ist im Sinne der Differenzierung mithin ein zentrales Thema für den Unterricht der romanischen Sprachen. Zwar zeigt die Alltagswahrnehmung, dass es bezüglich des Italienischen oder des Spanischen weniger aus Gender-Rollen resultierende negative Einstellungen zu geben scheint als im Falle des Französischen (hierzu einleitend Bonin 2009 und die bereits erwähnte Untersuchung Neveling/ Stoffel 2021, mit Blick auf die Praxis z. B. auch Braun/ Schwemer 2013 sowie insgesamt das Themenheft Jungen fördern der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht Französisch (122, 2013)), dennoch kann es im bei Jungen nach allgemeiner Alltagswahrnehmung beliebteren Italienisch- und Spanischunterricht ebenfalls hilfreich sein, punktuell gezielt auf deren Bedürfnisse einzugehen. Dies kann auf inhaltlicher wie auf methodischer Ebene geschehen. Beispiele wären, auf inhaltlicher Ebene, für den Anfangsunterricht Ausspracheübungen mit den Namen von Fussballspielern, auf methodischer Ebene ist jeder Einsatz der digitalen Medien auch ein Beitrag zur Jungenförderung. Auch bei der Kontextualisierung komplexer Lernaufgaben sollte immer wieder darauf geachtet werden, den besonderen Interessen von Jungen zumindest punktuell Rechnung zu tragen. Inzwischen werden Geschlechterrollen grundsätzlich differenzierter gedacht; hiervon zeugen beispielsweise die Dissertation Grein 2022 oder das praxisnahe Themenheft der Zeitschrit Hispanorama „La diversidad de género en la clase de ELE“ (Hispanorma 179, 2023). 6.1.2 Kognitive Faktoren Sprachlerneignung Sprachlerneignung ist eine schon früh, aber insgesamt wenig erforschte Variable. Bereits in den 1950er Jahren wurde ein Testinstrument zum Erfassen der Sprachlerneignung entwickelt (MLAT - Modern Language Aptitude Test, Carroll/ Sapon 1959). In ihm werden vier kognitive Fähigkeiten getestet: 1. phonetische Fähigkeit (Identifikation und Behalten von neuen Lauten), 2. grammatische Fähigkeit (Erkennen grammatischer Funktionen von Wörtern in Sätzen), 3. Wörterlernen, 4. Fähigkeit, grammatische Regeln selbst zu erkennen. Die Bemühungen, diesen grundlegenden, aber schwer fassbaren kognitiven Faktorenkom‐ plex zu ergründen, wurden indes nicht vertieft weiterverfolgt. Erst in jüngerer Zeit hat man sie wieder verstärkt in den Blick genommen (vgl. z. B. Schlak 2008, Riemer 2009). Weitere empirische Forschungen wären erforderlich, um dieses schwer greifbare Konstrukt zu verstehen und ihm in einem weiteren Schritt vermittlungsmethodisch Rechnung zu tragen. Hierfür dürfte der MLAT nach wie vor als Referenzwerk wichtige Anhaltspunkte bieten. 340 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="341"?> Solange es keine gesicherten Erkenntnisse gibt, kann auf den Faktor „Sprachlerneignung“ in Beratung und Vermittlung indes nur weitgehend intuitiv, ggf. unter Berücksichtigung von Beobachtungen zu den o.-g. Fähigkeiten, eingegangen werden. 6.1.3 Sozio-affektive Faktoren Motivation Auch bezüglich der Motivation gibt es ein fremdsprachenbezogenes Messinstrument, namentlich die AMTB - „Attitudes and Motivation Test Battery“ (Gardner/ Lambert 1972, Gardner 1985). Motivation für das Fremdsprachenlernen wurde bereits wiederholt, keines‐ wegs jedoch abschließend untersucht (exemplarisch seien für die romanischen Sprachen erwähnt: Bigalke 1981 zum Italienischen, Reinfried 2002, Küster 2007b und Schuster 2008 zum Französischen). Insbesondere im Bereich der spät beginnenden Fremdsprache stellt der Faktor Moti‐ vation die Lehrkraft immer wieder vor neue Herausforderungen, da man hier, z. B. in Bayern, den Bedürfnissen einerseits höchst sprachinteressierter Schülerinnen und Schüler, andererseits aber auch so genannter „Latein-Flüchtlinge“ entgegenkommen muss. In an‐ deren Bundesländern finden sich in der spät beginnenden Fremdsprache unter Umständen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, für die es sich um die dritte oder vierte Fremdsprache handelt, neben Schülerinnen und Schülern, die von einem anderen Schulzweig auf den Gymnasialzweig gewechselt sind und für die es sich bei der spät beginnenden Fremdsprache um die zweite (für das Abitur obligatorische) Fremdsprache handelt. Einstellung Eine ebenfalls bedeutsame, aber bis vor kurzem wenig erforschte Variable ist die der Einstel‐ lung. Sie ist in engem Zusammenhang mit der Motivation zu sehen - daher werden auch von der AMTB beide Variablen gemeinsam erfasst (s. o.) -, darf aber als grundlegendere Variable gelten: Während sich Motivation auch in einer konkreten Situation akut manifestieren kann, betrifft Einstellung die grundlegende Haltung gegenüber einer fremden Kultur und einer Fremdsprache. Eine Modellierung des Konstrukts Einstellung und eine Untersuchung am Beispiel des Französischen hat Venus 2017 vorgelegt. Kleinere bzw. weniger überzeugende Studien sind Schumann/ Poggel 2008 und Weis 2009, beide zum Französischen. Schumann/ Poggel 2008 gelangen zu dem Ergebnis, dass deutsche Französischschülerinnen und -schüler über ein recht differenziertes, problembewusstes und positives Frankreichbild verfügen. Dieses Ergebnis ist allerdings u. a. insofern zu relativieren, als ausschließlich Schülerinnen und Schüler, die das Fach Französisch belegen, mithin in irgendeiner Form gewählt haben, befragt wurden. Eine weitere jüngere, methodisch nicht gänzlich überzeugende quantita‐ tive Untersuchung zum Frankreichbild deutscher Schülerinnen und Schüler, welches als Spiegel ihrer Einstellung zur Sprache und zum Unterrichtsfach gelten darf, ist Weis 2009. Die deutsche Teilstudie in der derzeit größten europäischen Studie zu Einstellungen zum Fremdsprachenlernen - Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen (MES) (Beckmann/ Meißner/ Schröder-Sura 2008) - weist insbesondere in Bezug auf das Französische im Kontrast zum Englischen relevante Ergebnisse auf. Die 6.1 Individuelle Lernervariablen 341 <?page no="342"?> Daten zum Spanischen und Italienischen können nicht als repräsentativ gelten. Die Studie Venus 2017 gelangt u.-a. zu folgenden Ergebnissen: ● Französisch gilt als schwere (Fremd)Sprache. ● Der dem Französischen zugeschriebene Nützlichkeitswert bleibt hinter dem Englischen zurück, Anwendungsmöglichkeiten werden kaum wahrgenommen. ● Die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zum Französischunterricht und zur französischen Sprache werden maßgeblich durch die Lehrkraft geprägt. ● Jungen weisen in allen untersuchten Einstellungsbereichen negativere Einstellungen auf als Mädchen. ● Schüleraustausch geht mit positiveren Einstellungen zum Französischen einher. ● Schülerinnen und Schüler mit Französisch als 1. und 3. Fremdsprache weisen positivere Einstellungen auf als Schülerinnen und Schüler mit Französisch als 2. Fremdsprache. (vgl. Venus 2019, 4, 6) Für das Italienische und Spanische zeigt bis auf weitere Studien die Alltagserfahrung praktizierender Lehrkräfte, dass im Allgemeinen von einer sehr positiven Einstellung ge‐ genüber Einstellungsobjekten wie Sprache, Sprechern der Sprache, kulturellen Inhalten und gegenüber dem Italienischbzw. Spanischunterricht selbst auszugehen ist. Weitere Studien, z. B. auch zur Einbeziehung fremder Kulturen in den Alltag in Zeiten transkultureller Identitätsentwürfe, sind unabdingbar, um der grundlegenden Lernervariable „Einstellung“ künftig im Fremdsprachenunterricht Rechnung tragen zu können. Lernemotionen: Auch Lernemotionen sind eine nicht zu vernachlässigende, individuell unterschiedliche Größe, die bei der Fremdsprachenvermittlung berücksichtigt werden sollte. Unter Lern‐ emotionen versteht man diejenigen Emotionen, die bei der Auseinandersetzung mit einem bestimmten Lerngegenstand empfunden werden, wie etwa Freude, Angst oder Langeweile. Eine diesbezügliche, für den fremdsprachlichen Bereich einschlägige Pilotstudie ist die Dissertationsschrift von Hanna Cronjäger (Cronjäger 2009, vgl. Cronjäger 2007 und Beermann/ Cronjäger 2011). Eine wesentliche Erkenntnis aus den Untersuchungen Hanna Cronjägers (Cronjäger 2007) ist, dass die - bekannterweise lernhinderliche - Emotion Angst im Anfangsunterricht Französisch am stärksten im Bereich des Hörverstehens ausgeprägt zu sein scheint. Das könnte dafür sprechen, beim Einführen in Hörverste‐ hensaufgaben im Anfangsunterricht mit besonderer Behutsamkeit vorzugehen, mittelbar könnte man hiermit auch einen verstärkten Rückgriff auf die so genannte „aufgeklärte Einsprachigkeit“ gerade in den ersten Monaten eines Fremdsprachenkurses mit dem Ziel, eine gute Lernatmosphäre im Sinne eines Gefühls der Geborgenheit und des gesicherten Verständnisses zu schaffen, begründen (vgl. den nicht unbegründeten Abschnitt „Ein positives Arbeitsklima schaffen“ in Butzkamm 2004, 273-327; weiterhin etwa auch Butz‐ kamm/ Caldwell 2009 und Schiffler 2012, bes. 26-29). Persönlichkeitsfaktoren Auch bezüglich grundlegender Persönlichkeitsdispositionen wie Introvertiertheit/ Extro‐ vertiertheit oder Ängstlichkeit liegen wenig gesicherte Erkenntnisse vor, da diese in ver‐ 342 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="343"?> schiedenen Kontexten und in verschiedener Ausprägung zu unterschiedlichen Wirkungen auf den Lernerfolg führen. So kann etwa das Persönlichkeitsmerkmal „Ängstlichkeit“ in einem moderaten Maß eher zu erhöhtem Lernerfolg gerade auch im Bereich Aussprache führen, da mit ihr eine selbstkritische Haltung und das Bemühen um Präzision einhergehen. Ist die Disposition so stark ausgeprägt, dass ständig Angst im Spiel ist, treten die aus der Psychologie hinlänglich bekannten, lernhemmenden Folgen der Lernemotion Angst ein. Solange gesicherte empirische Erkenntnisse fehlen, bleibt Lehrkräften nichts anderes übrig, als sich empathisch auf ihr eigenes „Fingerspitzengefühl“ zu verlassen und zu versuchen, jedem einzelnen Schüler auch in seinen individuellen Persönlichkeitsdispositionen gerecht zu werden. 6.1.4 Soziokulturelle Faktoren - Eltern/ Familie Es ist hinlänglich bekannt, dass im deutschen Schulsystem trotz aller Bemühungen um Chancengleichheit offensichtlich Zusammenhänge zwischen Schulerfolg und familiärem bzw. weiter gefasst sozialem Hintergrund bestehen (vgl. einführend z. B. van Ackeren/ Klein 2014 unter Bezug auf die einschlägigen großen Schulleistungsvergleichsstudien bis Mitte der 2010er Jahre sowie van Ackeren/ Klemm/ Kühn 2015, bes. 79-90, jeweils mit weiterfüh‐ render Bibliographie; populärwissenschaftlich und teilweise polarisierend, aber letztlich auf fundierter wissenschaftlicher Grundlage vgl. auch El-Mafaalani 2021, bes. 65-95, ebenfalls mit weiterführender Bibliographie). Besonders relevant scheinen kulturelles und ökonomisches Kapital (d. h., vereinfacht gesprochen, Bildung bzw. Einkommen/ Vermögen) des Elternhauses zu sein (vgl. z. B. El-Mafaalani 2021, 67, 273 f.). Solche Unterschiede haben sich mit Schulschließungen und Distanzunterricht im Kontext der Covid-19-Pandemie eher verschärft als nivelliert (vgl. z. B. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2020, Endberg/ van Ackeren 2020, mit weiterführender Bibliographie). Für den Fremdsprachenunterricht gibt es wenige einschlägige Studien zur Auswirkung soziokultureller Faktoren als individuelle Lernervariablen. Im Zuge der Implementierung der Bildungsstandards (vgl. Kap. 4.2) wurden beispielsweise im Jahr 2009 bundesweit 36.000 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 9 in den Fächern Deutsch und Englisch (als erste Fremdsprache) getestet (Böhme et al. 2010). Die Ergebnisse wurden in Köller/ Knigge/ Tesch 2010a im Auftrag des IQB als Sprachliche Kompetenzen im Ländervergleich vorgestellt. Auffallend ist zunächst, dass die Ergebnisse der bayerischen Schülerinnen und Schüler in der Fremdsprache Englisch sowohl im Leseals auch im Hörverstehen signifikant über dem Mittelwert der anderen Bundesländer lagen (im Leseverstehen allein, im Hörverstehen gemeinsam mit Baden-Württemberg, Leucht/ Frenzel/ Pöhlmann 2010, 98). Auch in dieser Untersuchung konnte ein Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Leistungen in den getesteten Teilkompetenzen Lesen und Hören im Fach Englisch festgestellt werden (sozialer Gradient, auf der Grundlage des sozioökonomischen Index HISEI, dem jeweils höchsten ISEI - International Socio-Economic Index of Occupational Status im Elternhaus, vgl. z. B. Knigge/ Leucht 2010, 186, hier z. B. 191). Für das Englische konnten diese Ergebnisse in den Jahren 2010 und 2012 auch in weiteren großen Untersuchungen in Nordrhein-Westfalen bestätigt werden (wiederum bezogen auf die Bereiche Lese- und Hörverstehen). Schülerinnen und Schüler mit größerem kulturellen Kapital (hier definiert 6.1 Individuelle Lernervariablen 343 <?page no="344"?> als Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler zur Zahl der Bücher im heimischen Haushalt: mehr/ weniger als 100 Bücher) wie auch solche mit größerem ökonomischem Kapital (hier bestimmt über das Familieneinkommen) erzielten in beiden Bereichen die besten Leistungen (vgl. Ritter/ Jäkel/ Meister/ Lewandowska 2015, bes. 306-309, 311-313, 320 f.). Es ist anzunehmen, dass die genannten Faktoren im Grundsatz auch für den Unterricht der romanischen Sprachen eine Rolle spielen. So ist der über den schulischen Kontakt mit der jeweiligen Fremdsprache hinausgehende Zugang zu den fraglichen romanischen Sprachen sowohl eine Frage des ökonomischen als auch des kulturellen Kapitels (z. B. Bücher, Sprachkurse usw. in der jeweiligen Sprache im Elternhaus). Insbesondere ist mit Blick auf soziokulturelle Faktoren und Elternhaus sicherlich auch zu berücksichtigen, inwieweit eine romanische Sprache herkunftsbedingt in einer Familie präsent ist (vgl. auch Kap. 6.1.5). Darüber hinaus dürfte ganz entscheidend sein, mit welchen Einstellungen über die verschiedenen Sprachen und Sprachräume, aber auch den Unterricht in den fraglichen Sprachen als solchen (z. B. negative Vorurteile über den Französischunterricht) die Schülerinnen und Schüler im Elternhaus konfrontiert werden, inwieweit ihnen die entsprechenden Sprachräume z. B. durch Reisen schon vor der Wahl einer schulischen Fremdsprache zugänglich waren, inwieweit sie die Sprachen auf Reisen mit den Eltern anwenden können usw. (zu Einstellungen exemplarisch zum Französischunterricht vgl. die bereits erwähnte, umfassende Studie Venus 2017 und mit Blick auf die Praxis den Beitrag Venus 2019, zum Bezug der Personengruppe Eltern zum Französischunterricht vgl. die Untersuchung Knoll 2017a). 6.1.5 Herkunfts-/ Familiensprachen und vorgelernte Sprachen Es ist hinlänglich bekannt, dass alle einem Individuum verfügbaren Sprachen die Aneig‐ nung weiterer Sprachen beeinflussen. Hierfür gibt es zahlreiche empirische Belege, und es wurden viele theoretische Konzepte und unterrichtspraktische Anregungen vorgelegt, wie vorhandene Fremdsprachen für die Aneignung weiterer Sprachen fruchtbar gemacht werden können und zugleich, wie jede Sprache auf die Aneignung weiterer Sprachen vorbereiten kann. Diese Erkenntnisse und Vorschläge werden ausführlich in Band II Sprachdidaktik gewürdigt, und zwar insbesondere in Kapitel 1 „Anthropologische und neurobiologische Grundlagen“ und Kapitel 2 „Erstpracherwerb, Mehrsprachenerwerb und Mehrsprachigkeitsdidaktik“. Bei der Art des Einflusses auf so genannte „nachgelernte“ Sprachen spielen vor allem (1) der Grad der Beherrschung und (2) die typologische und für die Schülerinnen und Schüler wahrnehmbare Nähe der vorhandenen Sprachen zur neu anzueignenden Sprache eine Rolle. Im Falle der romanischen Sprachen sind im Sinne individueller Lernervariablen also idealerweise Herkunfts- oder Familiensprachen der Schülerinnen und Schüler einer Lern‐ gruppe bekannt und es wird zumindest punktuell individuell bzw. binnendifferenzierend darauf eingegangen. Einen Sonderfall stellen die Schülerinnen und Schüler mit zielsprach‐ lichem Hintergrund dar, d. h., Schülerinnen und Schüler beispielsweise einer zweiten Einwanderergeneration aus dem franko-, hispano- oder italophonen Raum, die mehr oder weniger bilingual aufgewachsen sind oder zumindest z. B. durch Urlaube bei den Großeltern 344 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="345"?> Kontakt zu diesen Sprachen haben (vgl. z. B. Reimann 2020e, 2021c, 2022), aber auch Schülerinnen und Schüler mit einem längeren Auslandsaufenthalt, sei es im Rahmen des Phänomens der so genannten Transmigration (vgl. Band III, Kap. 2), sei es im Rahmen der Arbeitsmigration der Eltern, sei es im Rahmen eines individuellen Schulbesuchs im Ausland in der Oberstufe. Auch Schülerinnen und Schüler mit einer anderen romanischen Sprache als der Zielsprache des jeweiligen Fremdsprachenunterrichts (also z. B. Schülerinnen und Schüler mit italophonem oder rumänischsprachigem Hintergrund im Spanischunterricht) verdienen punktuell besondere Behandlung (vgl. z. B. Reimann 2020e, 231 f. Reimann 221c, 177-179, vgl. auch Kap. 6.6.3.8 zu weiterführenden Sprachkenntnissen aus der Perspektive der Inklusion). Im Unterricht der romanischen Sprachen kommen darüber hinaus insbesondere natür‐ lich auch Vorkenntnisse in anderen Schulsprachen zum Tragen. Diese werden immer dann als individuelle Lernervariablen relevant, auf die zumindest binnendifferenzierend, ggf. auch individualisierend eingegangen werden kann, wenn Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Sprachenfolgen in einer Lerngruppe gerade der dritten oder spät beginnenden Fremdsprache zusammenkommen. Hier zwei Beispiele aus dem bayerischen Schulsystem, in dem die Sprachenfolgen im bundesweiten Vergleich noch relativ eng vor‐ gegeben sind (z.-B. 2. Fremdsprache nur entweder Englisch oder Latein oder Französisch), das aber dennoch große Flexibilität bietet und zu den unterschiedlichsten Sprachenfolgen führen kann: Italienisch als 3. Fremdsprache, Schule mit folgenden Sprachenfolgen (im sprachlichen Zweig): E - L - It/ E - L - F/ E - F - It : Teil-Gruppen von Schülerinnen und Schülern 1. Fremdsprache 2. Fremdsprache 3. Fremdsprache z.B. S01-S13 Englisch Französisch Italienisch z.B. S14-S20 Englisch Latein Italienisch Abb. 66a: Unterschiedliche schulische Sprachenfolgen als individuelle Lernervariable (Beispiel 1) Hier kommen also Schülerinnen und Schüler mit Lateinbzw. Französischkenntnissen im Italienischunterricht zusammen, die je nach vorgelernter Sprache über andere Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen (z. B. anderer Wortschatz, historische und daher nähere oder weiterentwickelte Stammformen der Verben, usw.). Noch vielfältiger wird das Bild, wenn man die spät beginnende Fremdsprache betrachtet: Spanisch als spät beginnende Fremdsprache, Schule mit folgenden Sprachenfolgen (im (altbzw. neu-) sprachlichen Zweig bzw. in einem nicht-sprachlichen Zweig): L - E - Gr, L - E - F, L - E - It, L - E: 6.1 Individuelle Lernervariablen 345 <?page no="346"?> Teil-Gruppen von Schülerinnen und Schülern 1. Fremdsprache 2. Fremdsprache 3. Fremdsprache spät begin‐ nende Fremd‐ sprache z.B. S01-S08 Latein Englisch Griechisch Spanisch z.B. S09-S17 Latein Englisch Französisch Spanisch z.B. S18-S24 Latein Englisch Italienisch Spanisch z.B. S24-S30 Latein Englisch - Spanisch Abb. 66b: Unterschiedliche schulische Sprachenfolgen als individuelle Lernervariable (Beispiel 2) Die spät beginnende Fremdsprache Spanisch ist für einige Schülerinnen und Schüler in diesem Fall also erst ihre dritte Fremdsprache insgesamt, darunter die zweite moderne Fremdsprache (S24-S30). Für andere ist sie ebenfalls erst die zweite moderne Fremdsprache, diese Schülerinnen und Schüler verfügen aber zusätzlich über Kenntnisse und Sprachler‐ nerfahrungen (Alt-)Griechischen (S01-S08). Für diese beiden Teilgruppen der Lerngruppe stellt Spanisch wiederum die erste romanische Sprache dar, sie verfügen aber an dieser Schule über fundierte Lateinkenntnisse. Für wiederum andere Schülerinnen und Schüler ist Spanisch bereits die dritte moderne Fremdsprache, darunter die zweite romanische (S09-S24), wobei die einen über vorgelerntes Französisch (S09-S17), die anderen über vorgelerntes Italienisch (S18-S24) verfügen. Es wird anhand dieser Beispiele deutlich, über welch vielfältige schulische Sprachbiographien die Schülerinnen und Schüler in einer Lerngruppe verfügen können - dabei sind etwaige weitere im Sprachenrepertoire einzelner Schülerinnen und Schüler vorhandenen Herkunftssprachen (s. o.) noch nicht mitberücksichtigt. Die Vielfalt der denkbaren Sprachenfolgen vergrößert sich, wenn in anderen Bundeslän‐ dern zahlreiche weitere Sprachenfolgen möglich sind, etwa wenn Spanisch oder Italienisch auch als zweite Fremdsprachen, ggf. auch vor Latein oder vor Französisch, angeboten werden. So können an ein und derselben Schule beispielsweise Latein, Französisch und Italienisch jeweils als zweite und als dritte Fremdsprache gewählt werden und sich daraus zahlreiche verschiedene Sprachenkombinationen ergeben. In allen Fällen sind die vorhan‐ denen Sprachenrepertoires der Schülerinnen und Schüler als individuelle Ressourcen mit zu berücksichtigen. 6.2 Kognitive Stile und Fremdsprachenunterricht Im Zusammenhang mit kognitiven Faktoren des Lernens wurde immer wieder das Konzept der kognitiven Stile für den Fremdsprachenunterricht thematisiert (grundlegend z. B. Kogan 1971, Sternberg/ Spear-Swerling 1997, einführend z. B. Krohne/ Hock 2007, 337- 347). Unter kognitiven Stilen versteht man theoretische Konstrukte, die interindividuelle Divergenzen bei der Informationsverarbeitung beschreiben (vgl. Krohne/ Hock 2007, 337). Grundlegende Kriterien sind dabei, dass 1. die entsprechenden Strategien nicht nur bei schulischen Aktivitäten angewandt werden und somit als Teil der Persönlichkeit erachtet 346 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="347"?> werden können und 2. sich die Stile im zeitlichen Verlauf als stabil erweisen (Messick 1976, 5, Meneghetti 2016, 109 f.). Im Laufe der Jahre wurde versucht, verschiedenen ko‐ gnitiven Stilen unterschiedliche Methoden und Techniken des Fremdsprachenunterrichts zuzuordnen, so dass bei einer bewussten Auswahl und Variation der Unterrichtsmethoden im Fremdsprachenunterricht verschiedenen Bedürfnissen Rechnung getragen werden könnte (z. B. Meneghetti 2016). Im Folgenden werden verschiedene kognitive Stile und ausgewählte Unterrichtsmethoden und -verfahren vorgestellt, die diesen in besonderem Maße entgegenkommen sollen (in Anlehnung an Meneghetti 2016, 111-115, weiterführend und erklärend zu einzelnen Unterrichtsmethoden und -techniken s.-o. Kap. 5): Stil Kurzdefinition nach Krohne/ Hock 2007, 338 (außer konvergent/ di‐ vergent und Multimodalität) Unterrichtsmethoden und -verfahren (Beispiele) Feldabhängigkeit: global - analytisch globales vs. analytisches Herangehen an dargebotene Information feldabhängige Wahrnehmung (à globales Herangehen): Brainstorming, Zusammenfassung, Aktivi‐ täten zum Globalverstehen, skimming, Rol‐ lenspiel; kooperative Arbeitsformen feldunabhängige Wahrnehmung (à analytisches Herangehen): Strukturübungen (pattern drills), Aus‐ wahlübungen, „odd-man-out“-Übungen, Anordnungsübungen, Puzzle, Aktivitäten zum Detailverstehen, scanning; Einzelar‐ beit Reflexivität - Impul‐ sivität Geschwindigkeit, mit der bei Problemen mit hoher Ant‐ wortunsicherheit Lösungs‐ hypothesen in Entschei‐ dungen umgesetzt werden impulsiv: Brainstorming, Total Physical Response, Aktivitäten mit zeitlicher Be‐ grenzung (ggf. mit Spiel-/ Wettbewerbscha‐ rakter), Rollenspiele reflexiv: Aktivitäten zur Anordnung sprachlicher Elemente, analytisches Lesen, Aktivitäten zum Auswendiglernen konvergent - diver‐ gent konvergentes Denken ist zielgerichtet, geht von be‐ kannten Grundlagen aus und führt zu vorherseh‐ baren Ergebnissen, diver‐ gentes Denken führt ohne vertieften Rückgriff auf Be‐ kanntes zu neuen, kreativen Lösungen konvergent: Auswahlübungen, Multiple-Choice, Richtig-Falsch-Aktivitäten, Informationen in einen zeitlichen Verlauf einordnen divergent: Brainstorming, eine Erzählung weiter‐ schreiben, einen alternativen Schluss zu einem Text entwickeln Multimodalität: vi‐ suell - verbal visuelle und verbale En‐ kodierung neuer Informa‐ tionen visuell: Zuordnung Text - Bild, Mind-Maps, Entwicklung eines story board verbal: Zusammenfassung, Paraphrase, Überset‐ zung, Erzählen und Berichten Abb. 67: Mögliche Kompatibilitäten von Lernstilen und Unterrichtsverfahren (eigene Darstellung) 6.2 Kognitive Stile und Fremdsprachenunterricht 347 <?page no="348"?> 6.3 „Standardisierungs-Paradox“ und Heterogenitäts-Diskurs Obwohl Bildungsstandards zunächst nur für die Erste Fremdsprache ausformuliert vor‐ lagen, strahlen sie seit Mitte der 2000er Jahre auf den gesamten Fremdsprachenunterricht aus (vgl. Kap. 4.2). Mit ihnen ist ein Paradigmenwechsel vom Input zum Output bzw. zum Outcome eingeleitet worden. Damit soll der Lernende in den Mittelpunkt gestellt werden, womit dem inzwischen wenigstens im fünften Jahrzehnt zentralen Postulat der Lernerorientierung Rechnung getragen würde. In der Praxis wird das Erreichen der besagten Output-Standards häufig durch Vergleichstests überprüft, die letztlich in ihrer Umsetzung - z. B. Heranziehen der Ergebnisse in der Evaluierung von Schulen etc. - zu einer Nivellierung auf ein „Standard-Niveau“ zu führen drohen. Immer häufiger tritt folglich das Phänomen des so genannten „Teaching to the test“ an die Stelle der eigentlich auch durch die Bildungsstandards intendierten Lernerorientierung - was zum in der Überschrift formulierten „Standardisierungs-Paradox“ führt (vgl. Reimann 2010; zu einer prägnanten In-Bezug-Setzung von Standardisierung und Individualisierung vgl. z.-B. auch Bär 2013c). Abb. 68: Das „Standardisierungs-Paradox“ (eigene Darstellung) Es ist eine der großen Herausforderungen für den gegenwärtigen Fremdsprachenunter‐ richt, vor dem Hintergrund der Standardorientierung dem gleichzeitig immer virulenteren Heterogenitäts-Diskurs Rechnung zu tragen. Dieser ist im Bereich der romanischen Schulsprachen aufs engste mit der Frage nach mehrsprachiger Bildung und transkultureller kommunikativer Kompetenz verwoben (vgl. Band II, Kap. 2 bzw. Band III, Kap. 2), insofern zum einen individuelle, mehrsprachige transkulturelle Identitäten (Migrationserfahrung, unterschiedliche Sprachenbiographien) die Heterogenität der Lerngruppen bedingen, zum anderen gerade in den so genannten dritten und spät beginnenden Fremdsprachen (z. B. Spanisch, Italienisch, Portugiesisch) schulisch beförderte mehrsprachige transkulturelle Identitäten entstehen. 348 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="349"?> 6.4 Heterogenität - Lernerorientierung - Differenzierung - Individualisierung In diesem Abschnitt sollen zunächst grundlegende Begriffsbestimmungen, auch in histori‐ scher Perspektive, vorgenommen werden. 6.4.1 Heterogenität Heterogenität bildet im Wesentlichen den Oberbegriff, auf dessen Grundlage Differenzie‐ rung, Individualisierung und Lernerorientierung - wie auch Inklusion (vgl. Kap. 6.6) - als Maßnahmenbündel gesehen werden können, um der Heterogenität der Lerngruppen Rechnung zu tragen. Im Grunde interagieren unter dem Oberbegriff bzw. Befund der Heterogenität also mehrere Sphären, die nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden können bzw. Schnittmengen aufweisen. Vereinfacht kann dieser Befund wie folgt darge‐ stellt werden: Abb. 69: Lernerautonomie, Differenzierung, Individualisierung und Inklusion als interagierende Sphären (eigene Darstellung) 6.4.2 Lernerorientierung Die heute verstärkt zutage tretende Differenzierungs- und Individualisierungs-Debatte kann an die Bemühungen um Lerner- und Schülerorientierung v. a. der 1980er und 1990er Jahre anknüpfen. Diese Bemühungen lassen sich auf das Konzept der Lernerautonomie zurückführen, dessen Ziel der selbständige, zu lebenslangem Lernen fähige Schüler bzw. Lerner ist. Es wurde im fremdsprachendidaktischen Bereich seit Ende der 1970er Jahre in Frankreich ausgehend vom Centre de Recherches et d’Applications Pédagogiques en Langues (CRAPEL) der Université de Nancy entwickelt und bezog sich zunächst, befördert durch den Rat für kulturelle Zusammenarbeit beim Europarat, v. a. auf den Bereich der 6.4 Heterogenität - Lernerorientierung - Differenzierung - Individualisierung 349 <?page no="350"?> Erwachsenenbildung. Eine grundlegende Veröffentlichung in diesem Kontext ist Autonomie et apprentissage des langues étrangères von Henri Holec (Strasbourg: Conseil de l’Europe 1980). Lernerorientierung war ein zentraler Topos der Sprachlehrforschung (vgl. Kap. 1.2.3, vgl. retrospektiv kritisch z. B. Königs 2014). In den 1990er Jahren avancierte Lernerorien‐ tierung zusammen mit Interkulturalität und Mehrsprachigkeit zu einem der dominanten Paradigmen des „neokommunikativen“ Ansatzes (Meißner/ Reinfried 2001, s. o., bes. Kap. 2.3). 6.4.3 Differenzierung Unter Differenzierung versteht man die Art der Organisation von Lernprozessen, um der Heterogenität von Lerngruppen gerecht zu werden. Der Begriff wird in der jüngeren Geschichte der Erziehungswissenschaften seit der Jahrtausendwende zunächst in der Pädagogik verstärkt diskutiert, bevor er auch von der Fremdsprachendidaktik zunehmend rezipiert wird. Nach Manfred Bönsch etwa kann man folgende grundlegende Typen der Differenzierung unterscheiden (Bönsch 2009b, vgl. IV-VIII): ● Schulsystemdifferenzierung, ● Intragruppendifferenzierung (innere -, Binnen-), ● Interlerngruppendifferenzierung (z.-B. Leistungs-/ Interessens-/ Zusatz-), ● Individualisierung. Daraus wird deutlich, dass sich Differenzierung keineswegs nur auf innere Differenzierung beschränkt. So darf nicht vergessen werden, dass bereits ein mehrgliedriges Schulsystem wie z. B. das bayerische mit seiner Leistungsdifferenzierung ein Instrument ist, um der Individualität der einzelnen Schülerinnen und Schüler entgegenzukommen. Weitere Möglichkeiten der Leistungs-, aber auch der Interessensdifferenzierung, bieten z. B. Inten‐ sivierungs-, Förderstunden usw. Ebenso ist es ein nicht zu unterschätzendes - und schüt‐ zenswertes - Instrument der (Interessens-)Differenzierung, mithin der Lernerorientierung, wenn in einem Schulsystem sowie an einzelnen Schulen möglichst viele verschiedene Sprachenfolgen zugelassen sind. Gerade der Unterricht der romanischen Sprachen, die vielfach als dritte oder spät beginnende Fremdsprache erlernt werden, ermöglicht hier die Entwicklung mehrsprachiger Lernbiographien transkultureller Individuen. Anforderungen - aber auch Chancen - der Differenzierung, gerade auch der sog. inneren oder Binnendifferenzierung, kommen auf den Unterricht in den romanischen Sprachen in allen Bundesländern verstärkt zu. Verschieden zu behandeln sind z.-B. ● Lerngruppen mit verschiedenen Sprachenfolgen (z. B. in Bayern Italienisch als 3. Fremdsprache nach Englisch/ Französisch vs. nach Englisch/ Latein, Italienisch als spät beginnende Fremdsprache am musischen Gymnasium (i.e. de facto als zweite moderne Fremdsprache aufbauend auf Englisch/ Latein) vs. als spät beginnende Fremdsprache am sprachlichen Gymnasium nach Englisch/ Französisch/ Spanisch (also de facto als vierte Fremdsprache und als dritte romanische (Fremd) Sprache); in noch gravierender Form trifft das in Bundesländern zu, in denen Italienisch als neu einsetzende Fremd‐ sprache beim Übergang aus einer Haupt- oder Realschule als zweite für das Abitur erforderliche Fremdsprache belegt wird, 350 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="351"?> ● Lerngruppen mit verschiedenen Perspektiven in Jahrgangsstufe 10/ 11: Wahl oder „Abwahl“ der romanischen Sprache ab Jahrgangsstufe 11/ 12, ● Lerngruppen mit verschiedenen Perspektiven in Jahrgangsstufe 11/ 12: schriftliches oder mündliches Abitur nach Jahrgangsstufe 12/ 13. Das Bemühen um Differenzierung, insbesondere auch um Binnendifferenzierung, kann u.-a. durch folgende methodische Maßnahmen verfolgt werden: ● Ausgabe unterschiedlicher Arbeitsblätter, ● Variabilität der Lernzeiten, Übungs- und Arbeitsformen, Hilfestellungen, ● kooperatives Lernen im Rahmen von Projektarbeit, ● individuelle Freiarbeit. (vgl. Hoffmann 2019) Alexander Kraus stellt „Differenzierungsmöglichkeiten“ für den Fremdsprachenunterricht vor, die er nach Bereichen der Differenzierung - nach Aufgaben und Arbeitsformen, Sozialform und Methode bzw. classroom management - unterteilt (Kraus 2009, 4). In Anlehnung an seinen (Hinweis „[K]“) Katalog sollen, diesen zugleich punktuell erweiternd (Spiegelstriche ohne Hinweis), an dieser Stelle genannt werden: • Aufgaben/ Arbeitsmaterialien: • zusätzliche Aufgaben für stärkere Schülerinnen und Schüler [K], • zusätzliche Vorabinformationen/ Hilfestellungen für schwächere Schülerinnen und Schüler z.-B. bei Hör- und Leseverstehen [K], • Wahlmöglichkeiten (z. B. alternative (Haus-)Aufgabenstellungen - z. B. auch an Gruppen: kreative Vertiefung eines literarischen Textes durch Weiterschreiben und alternativ durch Umsetzung in ein Standbild oder Rollenspiel in Gruppenarbeit), • Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Stillarbeitsphasen (z.-B. freiwilliger Vokabeltest in Jahr‐ gangsstufe 10/ 11 für Schülerinnen und Schüler, die eine Fremdsprache vertieft weiterführen wollen, vs. einfache Quiz und Rätsel für Schülerinnen und Schüler, die das Fach „abgewählt“ haben), • Wahlmöglichkeiten innerhalb offener oder digital gestützter Unterrichtsdesigns (z.-B. Stationenlernen, WebQuests, usw.). • Sozialformen und Unterrichtsorganisation: • Stillarbeit mit verschiedenen Angeboten, • Wahlmöglichkeit, ob eine Aktivität in Still- oder in Partnerarbeit durchgeführt werden soll [K], • Gruppenzusammenstellung nach pädagogischen und didaktischen Gesichtspunkten [K] (z.-B. o.-g. Wahl-/ „Abwahl“-Perspektiven in den romanischen Sprachen), • offener, ggf. durch digitale Medien gestützter Unterricht als privilegierter Rahmen der Differenzierung, in dem z.-B. unterschiedliche Arbeitsaufträge vergeben werden können. • classroom management: 6.4 Heterogenität - Lernerorientierung - Differenzierung - Individualisierung 351 <?page no="352"?> • Ausstattung des Klassenzimmers mit Lernplakaten [K], auf die im Bedarfsfall von einzelnen Schülern oder Gruppen zurückgegriffen werden kann (z.-B. Plakate zur Illustration der Aussprache, mit Redemitteln, Konjugationen etc.), • Ausstattung des Klassenzimmers mit Arbeitsmaterialien, z.-B. Wörterbücher, auf die im Bedarfsfall selbstbestimmt zurückgegriffen werden kann [vgl. K] Abb. 70: Formate der Binnendifferenzierung im Unterricht der romanischen Sprachen (eigene Darstellung in Anlehnung an Kraus 2009, 4) Systematische Klassifikationen (binnen-)differenzierender Aufgabengestaltung schlagen darüber hinaus z. B. Caon 2016a, 29 und D’Annunzio 2016, 146 vor. Sie stellen je eine weniger komplexe und eine komplexere Variante desselben Aufgabentyps gegenüber. Diese Klassifikationen sollen im Folgenden, auf Deutsch übertragen, vorgestellt werden. Sie können bei der Entwicklung von Aktivitäten der Differenzierung, auch im inklusiven Klassenzimmer (s.-u., Kap. 6.6), hilfreich sein: weniger komplexe Textaufgabe komplexere Textaufgabe ausführliche Kontextualisierung reduzierte Kontextualisierung kurzer Text langer Text vertrautes Thema weniger vertrautes/ unbekanntes Thema einfaches Thema komplexes Thema einfache Syntax komplexe Syntax hohe Redundanz geringe Redundanz erkennbare Strukturierung des Textes weniger deutliche Strukturierung des Textes chronologische Abfolge im Text erkennbar keine chronologische Abfolge enthalten hochfrequente Lexik wenig frequente Lexik deskriptive, narrative oder normative Texte argumentierende oder erklärende Texte explizite Informationen implizite Informationen ein Sprecher mehrere Sprecher geringe Dichte des Textes: wenige Fakten, Ereig‐ nisse, Personen höhere Dichte des Textes: mehrere Fakten, Er‐ eignisse, Personen einteilige Aufgabenstellung mehrteilige Aufgabenstellung 352 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="353"?> weniger komplexe Textaufgabe komplexere Textaufgabe mehr Bearbeitungszeit weniger Bearbeitungszeit Abb. 71: Differenzierende Textaufgaben: Kriterien für Textauswahl und Aufgabestellung (in Anleh‐ nung an Caon 2016a, 29) weniger komplexe Aktivität komplexere Aktivität eine oder wenige Informationen erschließen oder merken mehrere oder unterschiedliche Informationen erschließen oder merken Hauptthema oder einfache Informationen er‐ schließen (z.-B. Namen, Orte, Daten) Bezüge zwischen Themen und Informationen herstellen konkrete und explizite Informationen er‐ schließen abstrakte und/ oder implizite Konzepte er‐ schließen Lückentexte mit in Wortspeicher vorgegebenem Material Lückentexte ohne weitere Vorgaben/ Hilfen Zuordnungsübungen, Mind-Maps, Zusammen‐ fassungen Texte selbständig erstellen Wörter, Strukturen, Aussagen vervollständigen oder umformen Wörter, Strukturen, Aussagen mit einem be‐ stimmten Ziel selbst produzieren Abb. 72: Differenzierende Aufgabenstellungen im Fremdsprachenunterricht (in Anlehnung an D’An‐ nunzio 2016, 146) Haß/ Kieweg 2012 (257-275) schlagen folgende Systematik von Maßnahmen der Differen‐ zierung (mit Beispielen zum Englischunterricht) vor: ● Differenzierung in den Lernzielen (bei Entwicklung sprachlicher Mittel, Textrezeption, Textproduktion, Hausaufgaben), ● Differenzierung in der Unterrichtsorganisation (methodische Großformen, Sozial‐ formen), ● Differenzierung in den Lernwegen, ● Differenzierung in den Unterrichtsmedien. Bei der - hochgradig differenzierenden, vor allem auch in inklusiven Settings individuali‐ sierenden - Lernzieldifferenzierung unterscheiden sie folgende vier grundlegende Typen, bei denen der Grad der Differenzierung vom ersten zum vierten stets zunimmt: ● gleicher Inhalt - gleiches erwartetes Verhalten - differenzielle Unterstützungssysteme, ● gleicher Inhalt - differenzielle Ausprägung des erwarteten Verhaltens - differenzielle Unterstützungssysteme, ● differenzielle Inhalte - gleiches erwartetes Verhalten - differenzielle Unterstützungs‐ systeme, ● differenzielle Inhalte - differenzielles erwartetes Verhalten - differenzielle Unterstüt‐ zungssysteme. (Haß/ Kieweg 2012, 260) 6.4 Heterogenität - Lernerorientierung - Differenzierung - Individualisierung 353 <?page no="354"?> Derartige systematische Zusammenstellungen sind hilfreich für die Konzeption differen‐ zierenden (Fremdsprachen-)Unterrichts. In letzter Konsequenz wäre auch eine differenzierte Korrektur und Bewertung (nicht nor‐ mativ) von Fehlern anzustreben (ebd.). Während Erstere in der Praxis durchaus umgesetzt werden kann, stößt man bei einer differenzierenden Bewertung schnell an schulrechtliche Grenzen. Wichtig ist daher, dass Lehrkräfte die juristisch bedenkenlosen Formen der differenzierenden Korrektur etwa durch wertschätzende Korrekturbemerkungen und Kom‐ mentare zur Schülerleistung sowie das Potential des individuellen Feedbacks im Rahmen der Möglichkeiten ausschöpfen (Beispiel s.-u. Kap. 6.5.3). Aus schulpädagogischer Sicht grundlegend ein- und weiterführend zur Differenzierung sei besonders an die Arbeiten von Manfred Bönsch erinnert, bes. Bönsch 2009a und b sowie Bönsch 2014. Weiterhin grundlegend-einführend ist z. B. Klippert 2010. Aus fachdidakti‐ scher, auch fremdsprachendidaktischer Perspektive kann auf Eisenmann/ Grimm 2011 ver‐ wiesen werden, aus anglistisch-fremdsprachendidaktischer Perspektive sind insbesondere die Arbeiten von Maria Eisenmann einschlägig (Eisenmann 2011, Eisenmann 2019). Neben inzwischen zahlreichen Themenheften deutscher Zeitschriften für Lehrkräfte romanischer Sprachen (z. B. Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 28, 1997 (Individualisierung), 128, 2014 (Individualisiertes Lernen), 171, 2021 (Differenzierung), Der fremdsprachliche Un‐ terricht Spanisch 28, 2010 (Individualisierung), Französisch heute 46, 2, 2015 (Differenzierung im Französischunterricht), 47, 1, 2016 (Heterogenität als Thema im Französischunterricht), Hispanorama 145, 2014 (Heterogenität)) sei insbesondere auch auf das Themenheft Différen‐ ciation dans l’enseignement des langues der Schweizerischen Zeitschrift Babylonia (1/ 2019) verwiesen. Einen kritischen Blick auf Möglichkeiten und Grenzen der Differenzierung wirft aus erfahrener (romanistisch-) schulpraktischer Sicht Fredershausen 2021. 6.4.4 Individualisierung Individualisierung ist im Grunde die letzte, auf den einzelnen Schüler als Individuum bezogene, Konsequenz der Bemühungen um Differenzierung. Ziel ist es, dem individuellen Charakter einer jeden Fremdsprachenaneignung Rechnung zu tragen. Dies manifestiert sich in der Berücksichtigung der jeweils einzigartigen Sprachlernbiographie gerade in der dritten oder spät beginnenden Fremdsprache bzw. - unter Berücksichtigung der Herkunftssprachen - der jeweiligen Sprachenbiographie. Methodische Implikationen des Bemühens um Individualisierung sind etwa das Ver‐ ständnis von ● Unterricht als Lernangebot, ● Lehrkräften als Helfer und Berater, ● offenem Unterricht als zentralem Prinzip. (z.-B. Königs 2019) In Anlehnung an eine umsichtige Zusammenstellung von Wolfgang Steveker kann man etwa folgende Handlungsfelder der Individualisierung erwähnen: im individualisierenden Unterricht sollte auf: ● Vorwissen und ● Lerntempo 354 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="355"?> eingegangen werden, mithin sollten ● Lernziele und ● Lernhilfen auf die jeweiligen Bedürfnisse angepasst und alle Lernenden aktiviert werden (Steveker 2010, 5). Als privilegierte Organisationsformen für individualisierenden Fremdsprachen‐ unterricht nennt auch er „kooperatives Lernen“, worunter er u. a. „Tandem, Gruppenarbeit, Expertenpuzzle“ versteht, und offenen Unterricht, insbesondere Stationenlernen, Lern‐ theke, Freiarbeit (ebd.). Im weiteren Verlauf seiner einführenden Darstellung unterscheidet Steveker 2010 (5 ff.) zwischen gemäßigt und stark individualisierenden Verfahren. Einige davon sollen hier - weiter systematisiert und teilweise ergänzt (vgl. Reimann 2013b) - erwähnt werden: gemäßigt individualisierend stark individualisierend - • Stundeneinstig mit Bildern (OHP, Beamer, Interactive Whiteboard) • Partnerarbeit (z.-B. Partner-Interview, Tandembögen) • „Think-Pair-Share“ (Stillarbeit, Besprechung in Partnerarbeit, Dis‐ kussion im Plenum) • Gruppenarbeit (z. B. Vorbereitung von Rollenspielen, Erstellung von (Lern-)Postern, Wandzeitungen etc., Grup‐ penpuzzle/ Expertengruppen) • Stationenlernen, WebQuest • Stilles Schreibgespräch • Lernmaterial selbst erstellen (z. B. Lückentext erstellen, Fragen zu einem Text formulieren) • Lernmaterial ergänzen (z.-B. Texte weiter-/ umschreiben etc., i.e. Ver‐ fahren des kreativen Umgangs mit Texten, Filmen, Liedern usw.) • Mitschreibetechniken entwickeln • „One-/ Twoetc. Minute-Talk“ • „Bus stop“ (zu „Bus stop“ und weiteren auch der Individualisierung dienenden Ver‐ fahren vgl. Grieser-Kindel/ Henseler/ Möller 2009 und 2013). • Kugellager • Rollenspiel und weitere Formen szenischen Spiels • Einsatz digitaler Medien in Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit • Stillarbeit • Lerntheke • Lesekoffer, Lesezirkel (und damit verbundene Aktivitäten wie Leseta‐ gebuch) • Freiarbeit • Wochenplanarbeit • Simulation • Projektarbeit • Lerntagebuch • Portfolio-Arbeit 6.4 Heterogenität - Lernerorientierung - Differenzierung - Individualisierung 355 <?page no="356"?> gemäßigt individualisierend stark individualisierend - z.B. eigene Gestaltung eines „Hefteintrags“ in Laptop/ I-Pad-usw.-Klassen, Selbstbestimmung über Zahl- und Art der herangezogenen Quellen, Wortschatzhilfen (sei es, auf der DVD eines Hörbuchs offline, sei es, in Online-Wörterbü‐ chern etc.), ggf. Anpassung der Vorspiel-/ Hörge‐ schwindigkeit etc. • Selbstevaluation anhand vorgegebener Kri‐ terien Abb. 73: Verfahren der Individualisierung im Fremdsprachenunterricht (in Anlehnung an Steveker 2010, 5 ff.) 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen Im Folgenden sollen ausgewählte Unterrichtsbeispiele zum Französischen, Spanischen und Italienischen in verschiedenen Jahrgangsstufen vor allem der Sekundarstufe I, die der Differenzierung und Individualisierung dienen, kurz beschrieben werden. Es handelt sich im Einzelnen um Anregungen, mit Blick auf individuelle Sprachenbiographien vorge‐ lernte Sprachen einzubeziehen (Kap. 6.5.1), Jungenförderung in den Fokus zu nehmen, individuelles Feedback zur Aussprache zu geben (Kap. 6.5.2) sowie eine individuelle Auseinandersetzung mit Klassenarbeiten zu veranlassen (Kap. 6.5.3). 6.5.1 Vorgelernte Sprachen/ Mehrsprachigkeitsdidaktik Um dem Faktor „individuelle Sprachenbiographie“ Rechnung zu tragen, können immer wieder punktuell Verweise auf vorgelernte oder herkunftsbedingt angeeignete Sprachen erfolgen. Es ist aber auch denkbar, für das spätere Erlernen anderer Sprachen zu motivieren, indem in den laufenden Sprachenlehrgang „Module“ in einer anderen Sprache integriert werden. Dies kann ganz einfach dadurch geschehen, dass beispielsweise im Italienischun‐ terricht - etwa in der Mitte eines Schuljahres - ein bis zwei Wochen lang (etwa vier Stunden) die erste Lektion z. B. eines Spanisch- oder Portugiesischlehrwerks komplett erarbeitet wird. Wichtig ist, hier auch die sprachproduktiven Übungen zu integrieren, um die Motivation der Schüler/ innen zum Sprechen und Sprachenlernen zu bedienen. Daran können sich ein bis zwei einstündige Einheiten anschließen, in denen einzelne Schülerinnen und Schüler, die über weitere Erstsprachen neben dem Deutschen und den gelernten Fremdsprachen verfügen, nach dem Vorbild der „Kurzlektion Spanisch/ Portugiesisch“ eine kurze Einführung in ihre Sprache geben (z. B. Tschechisch, oder auch eine andere romanische Sprache wie Rumänisch). Dies ist für die fragliche Schülerin/ den fraglichen Schüler ebenso motivierend wie für die übrigen Schülerinnen und Schüler der Klasse, der Fremdsprachenunterricht kommt u. a. seiner Verpflichtung zur Friedenserziehung und der Erziehung zur Mehrsprachigkeit nach, auf pädagogischer Ebene wird hier einerseits 356 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="357"?> der Heterogenität der Lerngruppe Rechnung getragen und andererseits die Individualität einzelner Schülerinnen und Schüler honoriert. Ein anderes Beispiel, punktuell auf eine weitere romanische Sprache einzugehen und somit für die individuellen Lernvoraussetzungen beim Erlernen einer weiteren Fremd‐ sprache im Sinne der language awareness zu sensibilisieren, wird exemplarisch im Kapitel zu den kommunikativen Fertigkeiten (Abschnitt Sprachmittlung, Band II, Kap. 4.7) vorgestellt. Der entsprechende Unterrichtsentwurf (etwa 3. Lernjahr in Italienisch als 3. Fremdsprache, ab 2. Lernjahr in Italienisch als spät beginnende Fremdsprache) soll im Folgenden kurz beschrieben werden (vgl. Band II, Kap. 4.7.6): Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Kopie eines Flyers mit Formular, mit dem die italienische Raststättenkette Autogrill in Spanien Personal zu rekrutieren versucht. Da die Unterrichtseinheit in den Italienischunterricht integriert ist, sind die Arbeitsanweisungen in italienischer Sprache verfasst. Zunächst sollen sich die Schülerinnen und Schüler die erste Seite des Faltblatts ansehen und herausfinden, was das Thema des Flyers ist (1 - „Secondo te, qual è lo scopo di questo annuncio? “). Aufgrund des Weltwissens - Wahrneh‐ mung der Abbildung offensichtlich zufriedener Menschen, die durch Namensschilder und Kleidung eindeutig als Mitarbeiter eines Dienstleistungsunternehmens zu erkennen sind - und des Erkennens einzelner aus dem Italienischen oder Lateinischen bzw. als Interna‐ tionalismen zu erschließender Schlüsselwörter („tú“, „equipo“) können die Schülerinnen und Schüler folgern, dass es sich um ein Dokument zur Personalakquise handelt. Im Sinne einer (Binnen-)Differenzierung „nach oben“ können im weiteren Verlauf von Schülerinnen und Schülern mit weitergehenden Kultur- und Sprachkenntnissen einerseits Autogrill als italienische Kette von Autobahn-Raststätten, andererseits weitere Lexeme und Syntagmen wie z. B. puedes (von Lateinschülern < potes, ggf. aufgrund der Satzstellung auch aus morphologisch entfernterem italienischem puoi oder französischem peux, von Schülern mit Zuwanderungsgeschichte ggf. aus portugiesischem podes), formar parte de (z. B. It fare parte di, Pg fazer parte de, F faire partie de), nuestro (z. B. L noster, nostru m , It nostro, F notre, Pg nosso) erkannt bzw. erschlossen werden. Gute Schülerinnen und Schüler identifizieren ferner in empleo entweder englisches employ(ment), französisches emploi oder italienisches impiego (ggf. Pg emprego), dem Slogan „La calidad por encima de todo“ entnehmen sie zumindest anhand der Schlagwörter „calidad“ und „(de) todo“, dass es sich um ein Qualitätsversprechen handelt. Somit können hier sprachstärkere und -schwächere Schülerinnen und Schüler differenzierend ihr Vorwissen einbringen, unter Umständen wird sogar im Sinne der Individualisierung auf den Sprachenschatz von Schülerinnen und Schülern mit weiteren Erstsprachen eingegangen. Der zweite Arbeitsauftrag besagt, dass die Schülerinnen und Schüler in der als Bewer‐ bungsformular konzipierten zweiten Seite des Faltblatts diejenigen Wörter heraussuchen sollen, die sie nicht verstehen (2 - „Leggi il modulo sulla pagina seguente: quali parole n o n capisci? “). Er zielt zum einen darauf ab, in relativ kurzer Zeit - es handelt sich ja um eine auf eine Unterrichtsstunde angelegte Einheit - eine Grundlage für Vokabelerklärungen zu erhalten, die im Hinblick auf die sich anschließenden produktiven Tätigkeiten notwendig sind, zum anderen gelangen die Schülerinnen und Schüler indirekt zu der Erkenntnis, dass sie auch die zweite Seite des Flyers weitgehend verstehen. Ggf. kann diese Arbeit in Partner- oder Gruppenarbeit durchgeführt werden, so dass sich die Schülerinnen und Schüler 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen 357 <?page no="358"?> schon gegenseitig mit ihren sprachlichen (Vor-)Kenntnissen stützen können. Lexeme und Syntagmen, die im Unterrichtsgespräch üblicherweise als nicht verstanden geklärt werden müssen, sind z. B. queremos (cf. L quaerimus, Pg queremos) - wir wollen, también - auch (cf. Pg também), [que] te sumes a (cf. L summa) - [dass] Du Dich anschließt, limpieza - Reinigung (cf. It limpido, limpidezza, F limpide, limpidité, Pg limpeza vs. limpidez, limpo vs. límpido), retribución según Convenio - Bezahlung nach Tarifvertrag (cf. L convenit (de pace [inter duces])), a cargo de la empresa - auf Kosten des Unternehmens (cf. It a carico di, Pg a cargo de), la estancia - der Aufenthalt (cf. Pg estância, estadia, auch It stanza < L *stantia < stans/ stare), apellidos - Nachnamen (cf. L appellare), fecha de nacimiento - Geburtsdatum (< carta fecha/ hecha [am Tag XY]), barra - Theke, solicitud (de empleo) - Bewerbung (cf. F solliciter, Pg solicitar, solicitaç-o, It sollecitare un posto, aber sollecitazione: eher „Mahnung“). Die übrigen Wörter und Ausdrücke können sich die meisten Schülerinnen und Schüler selbst erschließen. In Teilaufgabe 3 sollen sich die Schülerinnen und Schüler in die Situation versetzen, dass sie für eine Raststättenkette in Spanien arbeiten wollen und deshalb das Formular ausfüllen müssen (3 - „Vorresti lavorare per „Autogrill“ in Spagna. Compila il modulo“). Damit wird die Aufgabe zur Sprachrezeption in eine einfache produktive Aufgabe überführt, die praktisch ohne Spanischkenntnisse korrekt absolviert werden kann. Lediglich die Staatsangehörigkeit ist unter „nacionalidad“ einzutragen (häufig: „alemán“). Sodann wird - mehr spanische Sprachproduktion ist in einer Stunde der Sensibilisierung für vorhandene rezeptiven Fertigkeiten kaum möglich - eine tatsächliche freie Sprachpro‐ duktion in italienischer Sprache angeregt, insofern, als in der Fiktion ein Bewerbungsge‐ spräch im italienischen Mutterhaus der Schnellrestaurantkette in Form eines Rollenspiels in italienischer Sprache zu inszenieren ist. Ziel dieser Unterrichtseinheit ist wiederum die Sensibilisierung für die Existenz weiterer romanischer Sprachen, die Erkenntnis, dass die Sprachrezeption innerhalb der romanischen Sprachfamilie relativ einfach ist und dass andererseits aus dieser Rezeption unmittelbar, auch bei erstmaliger Konfrontation mit der ,neuen‘ Fremdsprache (hier Spanisch), eine minimale Produktion auf einfachstem Niveau möglich ist. Insofern am Ende eine Akti‐ vität in italienischer Sprache angeregt wird, handelt es sich auch um eine Aufgabe zur Sprachmittlung zwischen Fremdsprachen. Entsprechende Settings können auch für andere Sprachenkombinationen ausgehend von einfachen Formularen entwickelt werden. 6.5.2 Jungenförderung und individuelles Feedback zur Aussprache im Anfangsunterricht Im Folgenden soll ein Beispiel vorgestellt werden, wie die im Anfangsunterricht der romanischen Sprachen häufig vernachlässigte konsequente Ausspracheschulung (vgl. Band II, Kap. 3.1) mit Anforderungen der Differenzierung und Individualisierung, die gerade auch in diesem Bereich durch die heterogene Zusammensetzung der Lerngruppen verstärkt zutage treten, verbunden werden kann. Denn gerade Aussprache ist eine, u. a. physiologisch bedingte, höchst individuelle Kompetenz, die im Klassenverband etwa durch ,klassische ‘ Nachsprechübungen im Chor oder aber durch oft als Bloßstellung empfundenes Einzel‐ nachsprechen kaum ideal gefördert werden kann. Das hier ausgeführte Beispiel ist im 358 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="359"?> Kontext einer gezielten Jungenförderung durch einfache, punktuelle Maßnahmen verortet. Etwa nach einer grundlegenden Einführung in besondere Laute sowie Phonie-Graphie-Ent‐ sprechungen kann zu Beginn der Folgestunde eine Wiederholung der korrekten Aussprache nicht nur anhand von geographischen Namen auf Landkarten o.Ä. stattfinden, sondern auch anhand der Namen aktuell bekannter Fußball-Mannschaften bzw. -Spieler (z. B. Champions-League-Spiel des Vorabends o.Ä.). Ein weiteres Beispiel - zum individuellen Feedback zur Aussprache - wird im Kapitel zu den sprachlichen Mitteln (Abschnitt Aussprache) vorgestellt (vgl. Band II, Kap. 3.1.2.2) und hier aus der Perspektive der Individualisierung näher beschrieben. Die Problemlage kann wie folgt umrissen werden: im Frontalunterricht, aber auch in Gruppen- oder Partnerarbeit wie auch in Formen offenen Unterrichts können individuelle Ausspracheschwierigkeiten von der Lehrkraft oft nur punktuell wahrgenommen und häufig nicht individuell bearbeitet werden. Dabei ist gerade die Aussprache ein Bereich, in dem sehr früh die Weichen für eine korrekte Artikulation der Einzellaute wie auch für eine angemessene prosodische Reali‐ sierung gestellt werden sollten. Das hat physiologische, aber auch motivationale und entwicklungspsychologische Gründe. Das für die Artikulation maßgebliche Organ, die Zunge, besteht überwiegend aus Muskelgewebe. Bewegungsabläufe der Zunge - d. h., gerade auch für einzelne Sprachen typische Lautfolgen - müssen und können genauso trainiert werden wie Bewegungsabläufe im Sport, etwa im Rahmen einer komplexen Turn‐ übung. Dieser Hintergrund kann den Schülerinnen und Schülern auch explizit, in diesem oder einem vergleichbaren Bild, vermittelt werden. Zugleich ist es für Schülerinnen und Schüler frustrierend, wenn man sie in einer fortgeschrittenen Phase ihres Sprachlehrgangs - etwa zu Beginn eines Leistungskurses - mit der Tatsache konfrontieren muss, dass sie z. B. fünf Jahre lang grundlegende Aussprachefehler begangen haben, ohne dass eine Kollegin oder ein Kollege sie darauf hingewiesen hätte. Nicht zuletzt kann es für junge Erwachsene eben aufgrund des individuellen und physiologischen Charakters der Aussprache eher peinlich sein, wenn man sie auf individuelle Ausspracheschwierigkeiten hinweist, während jüngere Schülerinnen und Schüler in den fremdsprachlichen Anfangsklassen damit oft keinerlei Schwierigkeiten haben. Weiterhin ist die Aussprache für die Wahrnehmung durch Muttersprachler häufig ein entscheidenderer, da störenderer Faktor als etwa lexikalische Schwierigkeiten („deutscher Akzent“), so dass sich die Zeit, die hier in Grundlagenarbeit investiert wird, in jeder Hinsicht auszahlt (vgl. Band II, Kap. 3.1, bes. 3.1.1). Ergänzend zu in jedem Fall auch indizierten aussprachebezogenen Aktivitäten im Klassenverband bietet es sich daher an, Zeit auf die individuelle Ausspracheberatung zu verwenden. Dazu sind z. B. Intensivierungs- oder Förderstunden geeignet. Diese Stunden müssen insofern binnendifferenzierend angelegt werden, als die Lerngruppe als solche mit in Still-, Partner- oder Gruppenarbeit zu absolvierenden Lernaufträgen versehen werden muss, während sich die Lehrkraft entweder am Pult oder aber im Rahmen offener Lernlandschaften z. B. auf dem Gang jeweils der Aussprache einer Schülerin/ eines Schülers widmet. Zur Vorbereitung der Aktivität sollen alle Schülerinnen und Schüler einen bereits besprochenen Lehrbuchtext im Hinblick auf eine Ausspracheübung zu Hause zum laut gelesenen Vortrag vorbereiten. Jede Schülerin/ jeder Schüler liest sodann der Lehrkraft 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen 359 <?page no="360"?> den Text - der nicht zu kurz sein sollte, um eine Diagnose zu ermöglichen - vor, diese vermerkt auf den im Folgenden abgedruckten Feedbackbögen eventuelle Aussprache‐ schwierigkeiten, aber auch die korrekte Aussprache einzelner Laute und Phänomene durch die jeweilige Schülerin/ den jeweiligen Schüler. Es schließt sich eine Besprechung an, in der auf die individuellen Ausspracheschwierigkeiten, aber auch auf bereits vorhandene Stärken hingewiesen werden sollte. Ungenauigkeiten in der Aussprache sollten den Schülerinnen und Schülern in der korrekten Realisierung vorgesprochen und von diesen nachgesprochen werden. Sodann sollten den Schülerinnen und Schülern neben einer globalen Einschätzung ihrer aktuellen Aussprachekompetenz für ihre individuellen Schwierigkeiten relevante Aussprachehinweise mit auf den Weg gegeben werden. Dabei kann z. B. auf die im Ab‐ schnitt zur Aussprache wiedergegebenen „Aussprachetipps zu den romanischen Sprachen“ zurückgegriffen werden (vgl. Band II, Kap. 3.1.2.1, weiterhin vgl. z. B. Reimann 2016c, 39 f.). Die Schülerinnen und Schüler werden angehalten, die Evaluationsbögen in ihren Unterlagen zur jeweiligen romanischen Sprache zu archivieren. Je nach den Bedürfnissen der Lernenden kann eine derartige Evaluation der Aussprache wiederholt durchgeführt werden, wobei die jeweils erzielten Ergebnisse verglichen werden können. 360 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="361"?> La prononciation nom: date: - texte: - - - Bien ! - Attention ! Exemples [t], [k], [p] - - - ci/ ce/ cé, gi/ ge - - - gui/ gue - - - [s] vs. [z] - - - [ʃ] vs. [ʒ] - - - gn - - - [ʀ] - - - [ɥ] - - - [w] - - - [i] - - - [y] - - - [e] vs. [ε] - - - [o] vs. [ɔ] - - - [Ø] vs. [Œ] - - - Nasal [-] - - - Nasal [ɛ̃] - - - Nasal [ɔ̃] - - - - - 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen 361 <?page no="362"?> Morphosyn‐ taktisch be‐ dingte/ resul‐ tierende Aussprache‐ fehler: Konju‐ gation der Verben (Per‐ sonen) Morphosyn‐ taktisch be‐ dingte/ resul‐ tierende Aussprache‐ fehler: Accord von Adjektiven - - - Morphosyn‐ taktisch be‐ dingte/ resul‐ tierende Aussprache‐ fehler: Accord von Partizipien - - - Wortakzente - - - Intonation/ Prosodie - - - liaison - - - Andere stö‐ rende Phäno‐ mene - - - Évaluation/ conseils: ____________________________________ 362 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="363"?> La pronunciación nombre: fecha: - texto - Bien ! ! ! ¡ Cuidado ! Ejemplos [t], [k], [p] - - - [ƀ] - - - [đ] - - - [θ] - - - [ǥ] - - - ci/ ce, gi/ ge - - - gui/ gue - - - ch - - - [x] - - - ll - - - ñ - - - [r] - - - [r: ] - - - los diptongos - - - el acento - - - la entonación - - - otros fenó‐ menos: - - - evaluación/ consejos: ___________________________________ 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen 363 <?page no="364"?> La pronuncia per: data: - testo: - Brav__ ! ! ! Attenzione ! Esempi [t], [k], [p] - - - - - [kw] - - - - ci/ ce, gi/ ge - - - - chi/ che, ghi/ ghe - - - - gn - - - gl - - - [s]/ [z] - - - [r] - - - le consonanti doppie - - - i dittonghi - - - l’accento - - - l’intonazione - - - altro: - - - valutazione/ consigli: ____________________________________ Abb. 74a-c: Individuelles Feedback zur Aussprache im Anfangsunterricht Französisch, Spanisch und Italienisch - Evaluationsbögen mit sprachenspezifischen Hinweisen (eigene Darstellung, vgl. Reimann 2016c, 62-65) 364 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="365"?> La prononciation nom: date: - texte: Attention ! - Phénomène: Exemples: - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Bien ! - Phénomène: Exemples: - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Évaluation/ conseils: ____________________________________ 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen 365 <?page no="366"?> La pronunciación nombre: fecha: - texto ¡ Cuidado ! - Fenómeno: Ejemplos: - - - - - - - - - - - - - - - - - - - ¡ Bien ! - Fenómeno: Ejemplos: - - - - - - - - - - - - - - - - - - - evaluación consejos: ___________________________________ 366 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="367"?> La pronuncia per: data: - testo: Attenzione ! - Fenomeno: Esempi: - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Sei particolarmente brav __: - Fenomeno: Esempi: - - - - - - - - - - - - - - - - - - - valutazione/ consigli: __________________________________ Abb. 75a-c: Individuelles Feedback zur Aussprache im Anfangsunterricht Französisch, Spanisch und Italienisch - offene Evaluationsbögen (eigene Darstellung, vgl. Reimann 2016c, 66-68) 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen 367 <?page no="368"?> 6.5.3 Individuelles Feedback zu Klassenarbeiten Im Rahmen derselben Organisationsform der Intensivierungs- oder Förderstunden, grund‐ sätzlich natürlich auch in regulären Unterrichtsstunden, können die Schülerinnen und Schüler auch ein individuelles Feedback zu Klassenarbeiten erhalten. Dazu wird ihnen mit der korrigierten Schulaufgabe bzw. Klassenarbeit ein Formular ausgehändigt, auf dem sie zunächst als Hausaufgabe ihre eigene Arbeit analysieren sollen (auto-évaluation, autoevaluación, autovalutazione), bevor sie diese und das Formular zusammen mit der Lehrkraft im Rahmen einer persönlichen Beratung nochmals besprechen. Dadurch lassen sich für jeden einzelnen Schüler Maßnahmen zur Leistungssteigerung finden. Der hier vorgestellte vierseitige Bogen ist für eine zweite Schulaufgabe in den Fächern Französisch, Spanisch bzw. Italienisch als 3. Fremdsprache an bayerischen Gymnasien (seinerzeit Jahrgangsstufe 8) konzipiert worden und muss natürlich an den Aufbau der jeweiligen Schulaufgabe/ Klassenarbeit angepasst werden. Im fraglichen Fall war die Schulaufgabe dreigeteilt: Diktat - Grammatik - Textproduktion. Ähnlich wie im Bereich der Aussprache scheint es - gerade bei den mit einer relativ einfachen Rechtschreibnorm versehenen Sprachen Spanisch und Italienisch - sinnvoll, bereits früh solide Grundlagen zu legen und in Hinblick auf die ersten beiden Schulaufgaben eine intensive Schreibschulung zu betreiben, welche dann auch Gegenstand der ersten beiden großen Leistungsnachweise sein kann; Hör- und Leseverstehen werden im weiteren Verlauf des Sprachlehrgangs in komplexerer und damit sinnvollerer Form abgeprüft werden, als dies in den ersten beiden Schulaufgaben möglich wäre. Wichtig ist, dass die Schülerin/ der Schüler in der häuslichen Vorbereitung der Einzelbe‐ sprechung mit dem Lehrer ihre/ seine Fehler genau analysiert, aber nicht in der falschen Form abschreibt. Die mittlere Spalte, die von der Schülerin/ dem Schüler selbst auszufüllen ist, ist aus diesem Grund auch die zentrale und breiteste des Formulars. Deshalb sollen entweder - bei den formbezogenen Aufgaben wie hier dem Diktat und der Grammatik - die fraglichen Wörter oder Syntagmen in der korrekten Form aufgeschrieben werden (Erreurs et fautes (dans la forme corrigée), Errores y faltas (en la forma correcta), Errori e sbagli (nella forma corretta)), im Bereich der (gelenkt) freien Textproduktion die jeweils zugrundeliegende sprachliche Idee in deutscher Sprache und die aus der Korrektur her‐ vorgehende korrekte italienische Formulierung fixiert werden (Erreurs et fautes/ Errores y faltas/ Errori e sbagli: ich wollte sagen (auf Deutsch) àich hätte schreiben müssen). Das erspart z. B. das traditionelle Abschreiben des kompletten Textes bei gleichzeitiger Fokussierung auf die Fehlerschwerpunkte, gerade auch im Hinblick auf die Vorbereitung späterer Klassenarbeiten (s.-u.). Sodann - und auch dies geht über die in der Vergangenheit übliche alleinige Fehler‐ korrektur bei der Besprechung („Verbesserung“) von Klassenarbeiten hinaus - sollen die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Schwierigkeiten in der Spalte Auto-évaluation/ Autoevaluación/ Autovalutazione interpretieren sowie versuchen, einerseits zu eruieren, ob sie selbst Fehlerschwerpunkte erkennen können, und andererseits, ihre eigene Teilleistung in dem fraglichen Anforderungsbereich einzuschätzen; auch die in die pädagogische Diskussion immer wieder eingebrachte Kompetenz zur Selbsteinschätzung kann hiermit geschult werden (Fehlerschwerpunkte? Gesamtbewertung, z. B. ganz gut, könnte besser sein, etc.). Auf dieser Grundlage sollen die Schülerinnen und Schüler in einem dritten Schritt 368 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="369"?> versuchen, ggf. Maßnahmen zur Verbesserung ihrer eigenen (Teil-)Leistung festzulegen (Mesures/ Medidas/ Misure - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig) (z. B. einmal wöchentlich einen Text mit ca. 60 Wörtern abschreiben, o.Ä.)). Dieses dreischrittige Verfahren wird für jeden Teilbereich des Leistungsnachweises angesetzt, bevor in einer globalen „Gesamtbewertung“ versucht werden soll, eine Selbsteinschätzung vorzunehmen, Fehlerschwerpunkte, die sich durch die gesamte Arbeit ziehen zu identifizieren und ggf. umfassende Maßnahmen zu überlegen. In der Einzelbesprechung wird die Lehrkraft sodann im Vergleich der Arbeit mit dem (Selbst-)Einschätzungsbogen der Schülerin/ des Schülers ggf. in der rechten Spalte Ergän‐ zungen oder Modifikationen in den Bereichen Fehler und Selbsteinschätzung vornehmen sowie ggf. weitere Maßnahmen anregen. Die Aufzeichnungen sollen im Hinblick auf die individuelle Vorbereitung späterer Leistungsnachweise aufbewahrt werden. 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen 369 <?page no="370"?> 537 Auto-évaluation de la …. épreuve de français Auto-évaluation de l’élève co-évaluation du professeur Dictée Erreurs et fautes (dans la forme corrigée): Auto-évaluation (Fehlerschwerpunkte? Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Mesures - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig) (z.B. einmal wöchentlich einen Text mit ca. 60 Wörtern abschreiben, o.Ä.): Grammaire Erreurs et fautes (dans la forme corrigée): Auto-évaluation (Fehlerschwerpunkte, Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Mesures - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig) Production écrite Erreurs et fautes ich wollte sagen (auf Deutsch)  ich hätte schreiben müssen: Auto-évaluation (Fehlerschwerpunkte? Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Mesures - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig): Gesamtbewertung Selbsteinschätzung, z.B. hervorragend, aber kein Grund, übermütig zu werden; ganz gut, könnte besser sein, ... etc.: Fehlerschwerpunkte: Mesures - Maßnahmen zur Verbesserung: Signature de l’élève Signature du professeur 370 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="371"?> 538 Autoevaluación del …. examen de español Autoevaluación del alumno/ de la alumna Covaluación del profesor Dictado Errores y faltas (en la forma correcta): Autoevaluación (Fehlerschwerpunkte? Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Medidas - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig) (z.B. einmal wöchentlich einen Text mit ca. 60 Wörtern abschreiben, o.ä.): Gramática Errores y faltas (en la forma correcta): Autoevaluación (Fehlerschwerpunkte, Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Medidas - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig) Producción escrita Errores y faltas ich wollte sagen (auf Deutsch)  ich hätte schreiben müssen: Autoevaluación (Fehlerschwerpunkte? Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Medidas - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig): Gesamtbewertung Selbsteinschätzung, z.B. hervorragend, aber kein Grund, übermütig zu werden; ganz gut, könnte besser sein, ... etc.: Fehlerschwerpunkte: Medidas - Maßnahmen zur Verbesserung: Firma del alumno/ de la alumna Firma del profesor 6.5 Beispiele für Differenzierung und Individualisierung im Unterricht der romanischen Sprachen 371 <?page no="372"?> 539 Autovalutazione del … compito in classe Autovalutazione dell’alunno/ alunna Covalutazione dell’insegnante Dettato Errori e sbagli (nella forma corretta): Autovalutazione (Fehlerschwerpunkte? Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Misure - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig) (z.B. einmal wöchentlich einen Text mit ca. 60 Wörtern abschreiben, o.ä.): Grammatica Errori e sbagli (nella forma corretta): Autovalutazione (Fehlerschwerpunkte, Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Misure - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig) Produzione scritta Errori e sbagli ich wollte sagen (auf Deutsch)  ich hätte schreiben müssen: Autovalutazione (Fehlerschwerpunkte? Gesamtbewertung, z.B. ganz gut, könnte besser sein, etc.): Misure - Maßnahmen zur Verbesserung (wenn nötig): Gesamtbewertung Selbsteinschätzung: z.B. hervorragend, aber kein Grund, übermütig zu werden; ganz gut, könnte besser sein, … etc. Fehlerschwerpunkte: Misure - Maßnahmen zur Verbesserung: Firma dell’alunno/ dell’alunna Firma del professore Abb. 76a-c: Arbeitsbögen zu Selbstevaluation und individuellem Feedback zu Klassenarbeiten in den Fächern Französisch, Spanisch und Italienisch 372 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="373"?> 6.6 Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen 6.6.1 Theoretische Grundlagen In den vergangenen Jahren ist, sozusagen in Fortschreibung des Diskurses um Heteroge‐ nität, Differenzierung und Individualisierung, Inklusion zu einem zentralen Themenfeld der Pädagogik und einzelner Fachdidaktiken geworden (zu einer historischen Kontextua‐ lisierung in der Fremdsprachenforschung z. B. Reimann 2018, bes. 150-152). Grundidee der Inklusion ist, dass alle Schülerinnen und Schüler Zugang zu Bildung haben müssen und grundsätzlich auch den Anspruch haben, gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern ohne Förderbedarf unterrichtet zu werden. Anlass für die Bemühungen um Inklusion im letzten Jahrzehnt war die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (Vereinte Nationen 2007) durch die Bundesrepublik Deutschland und eine entsprechende Empfeh‐ lung der KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister 2011), die von den Bundesländern sukzessive und in verschiedenem Maße, u. a. im Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (Landtag NRW 2013), umgesetzt wird (allgemein einführend in eine inklusive (Fach-)Didaktik z. B. Moser 2012, Reich 2014, Amrhein/ Dziak-Mahler 2014, Langner 2018, Frohn/ Brodesser/ Moser/ Pech 2019a, aus allgemein-fremdsprachendi‐ daktischer Perspektive z. B. das Themenheft „Inklusion“ der Zeitschrift für Fremdsprachen‐ forschung (32, 1, 2021) einschließlich einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) zum inklusiven Fremdsprachenunterricht (3-9), die The‐ menhefte „Differenzierung im Fremdsprachenunterricht“ und insbesondere „Spezifische Bedürfnisse“ der Zeitschrift Babylonia (1, 2019 bzw. 2, 2021), aus spezifisch-romanistischer Perspektive z. B. Schlaak 2015, 21-38 sowie 2019, Plötner/ Schlaak 2017, 7-22, Reimann 2019e, Kräling/ Pachale/ Wieland 2020; weiterführend sei für Leserinnen und Leser mit zumindest rezeptiven Italienischkenntnissen an dieser Stelle auch auf den Manuale di neuropsichiatria infantile. Una prospettiva psicoeducativa von Franco Fabbro (Fabbro 2021) hingewiesen: Es handelt sich um eine wissenschaftlich fundierte, allgemeinverständliche Einführung in die Neuropädiatrie, von einem Neurologen und Neuropädiater eigens für die Zielgruppe der Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte verfasst - eine Publikation, die im deutschsprachigen Raum bisher kein Pendant kennt und die zur wissenschaftlichen Grundlegung eines jeden inklusiven (Fremdsprachen-) Unterrichts herangezogen werden kann (mit den Schwerpunkten Entwicklung, neurologische Erkrankungen, kinder- und jugendpsychiatrische Störungsbilder)). Bei einem eng gefassten Inklusionsbegriff werden in diesem Rahmen Schülerinnen und Schüler mit besonderen Förderbedarfen („special needs“) berücksichtigt. Dabei werden in den verschiedenen Bundesländern teilweise unterschiedliche Klassifizierungen vorge‐ nommen, wobei traditionellerweise in einem ersten Schritt grundsätzlich folgende Förder‐ schwerpunkte angenommen werden: 6.6 Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen 373 <?page no="374"?> Förderschwerpunkte - körperliche und moto‐ rische Entwicklung - Sprache Lernen emotionale und soziale Entwicklung Abb. 77: Übergeordnete Förderschwerpunkte (eigene Darstellung) Die KMK hat 2016 aussagekräftige Zahlen zu Schülerinnen und Schülern mit besonderen Förderbedarfen vorgelegt. Aus der folgenden Tabelle geht die prozentuale Verteilung der Fälle einzelner Förderschwerpunkte an Förderschulen einerseits und an allgemeinbil‐ denden Schulen andererseits hervor (KMK 2016, XX und 17): Förderschwerpunkt Förderschulen Allgemeine Schulen Gymnasien Lernen 34,59 43,64 11,0 Sehen 1,44 1,81 10,8 Hören 3,20 24,51 22,3 Sprache 9,49 13,44 4,6 Körperliche und motorische Entwicklung 7,33 6,29 18,1 Geistige Entwicklung 322,30 4,15 3,6 Emotionale und soziale Ent‐ wicklung 11,55 24,79 24,1 Förderschwerpunkt übergrei‐ fend bzw. ohne Zuordnung 3,59 0,85 2,3 Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung (LSE) 3,38 0,00 nicht ausgewiesen Kranke 3,12 0,53 3,2 Insgesamt 100 100 100 Abb. 78: Prozentuale Verteilung der Förderschwerpunkte an Förderschulen, allgemeinbildenden Schulen und Gymnasien im Vergleich (KMK 2016, XX und eigene Darstellung auf der Grundlage von KMK 2016, 17) Zeilen rechte Spalte bitte auf Höhe der Spalten in der Abbildung links schubsen; Falls Abb. links besser benötigt wird, bitte Word-Datei mit Hinweisen konsultieren Unter den Inklusionsschülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen stellt die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen mithin die größte Gruppe dar (ca. 44 %). Betrachtet man indes die Zahlen für die Schulart Gymnasium, an der die romanischen Sprachen weit überwiegend erlernt werden, stellen sich diese 374 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="375"?> deutlich anders dar: Hier stellen Lernende mit den Förderschwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung (24,1%) sowie Hören (22,3%) bundesweit die größten Gruppen dar, vor der ebenfalls gegenüber den allgemeinbildenden Schulen insgesamt deutlich stärker repräsentierten Gruppe von Schülerinnen und Schülern mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen (18,1%). Auch die Gruppe der Lernenden mit Förderschwerpunkt Sehen (10,8%) ist im Verhältnis stärker repräsentiert als an den allgemeinbildenden Schulen insgesamt. Diese an den Gymnasien häufigsten Förderschwerpunkte können vereinfacht wie folgt beschrieben werden: Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung haben Schwierigkeiten im Bereich der Konzentration, Motivation und Anstrengungsbereitschaft, fühlen sich überfordert von ihrer Umwelt und reagieren mit Aggression oder Rückzug. Sie brauchen Unterstützung bei der Entwicklung ihres Selbstwertgefühls und bei der veränderten Wahrnehmung der Umwelt. […] Diese Gruppe ist heterogen, mit Lernenden mit Angststörungen, AD(H)S, Depressionen oder Autismus(spektrumsstörungen) […]. (Vogt 2018, 6) Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Hören sind gehörlos oder haben eine schwere Hörbeeinträchtigung; in der Regel nutzen sie Hörgeräte und/ oder Cochlea-Implantate, im Unterricht kommen zudem teilweise Mikrophone bzw. Mikro‐ port-Anlagen zum Einsatz (vgl. Vogt 2018, 6). Lernende mit Schwerpunkt Sehen sind blind oder in ihrer Sehkraft unterschiedlich beeinträchtigt; auch hier kommen technische Hilfs‐ mittel (bes. Rechner mit Möglichkeit zu vergrößerter Darstellung) zum Tragen (vgl. Vogt 2018, 6). Bei Schülerinnen und Schülern mit körperlichen Beeinträchtigungen ist es vom Einzelfall abhängig, welche Form technischer, personeller und unterrichtsmethodischer Hilfsmittel erforderlich sind (vgl. auch Vogt 2018, 6). Beispielsweise kann bei Beeinträch‐ tigung der Schreibmotorik die vergrößerte Kopie von auszufüllenden Arbeitsmaterialien hilfreich sein usw. (vgl. Hengst 2012, 106). Etwas weiter als in den oben genannten Klassifikationen gefasst können im Unterricht an Regelschulen weiterhin und spezifisch u. a. folgende „special needs“ zum Tragen kommen: ● andere Sprachen ● Lernschwierigkeiten ● herausforderndes Verhalten ● geistige Behinderung ● körperliche und motorische Behinderung ● Sprachbehinderung ● Begabung ● Autismus ● Sehschädigung ● Gehörlosigkeit/ Schwerhörigkeit ● Schwerste Einschränkungen ● Traumata. (Mittendrin 2012, 146 ff.) Realistischerweise kommen - mit Ausnahme des Bereichs „andere Sprachen“ - schwerste Beeinträchtigungen im Unterricht der romanischen Sprachen als dritte und spät begin‐ nende Fremdsprache wenig vor (hier sind in der Regel allenfalls die zweiten Fremdsprachen 6.6 Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen 375 <?page no="376"?> betroffen). Vor allem die Förderschwerpunkte „emotionale und soziale Entwicklung“, Legasthenie/ LRS oder Seh- und Hörschädigungen, für die bis zum Einsetzen einer dritten und spät beginnenden Fremdsprache weitgehend Maßnahmen ergriffen worden sein sollten, kommen hier noch wiederholt zum Tragen. In einem das Grundanliegen des inklusiven Ansatzes konsequent weiterdenkenden weit gefassten Inklusionskonzept setzt etwa Kersten Reich folgende Standards der Inklusion an: ● ethnokulturelle Gerechtigkeit, ● Geschlechtergerechtigkeit, ● Diversität sozialer Lebensformen, ● soziökonomische Gerechtigkeit, ● Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung. (vgl. Reich 2014, 31-36) Dabei wird deutlich, dass der Unterricht der romanischen Sprachen, bei einem weit gefassten Konzept von Inklusion in vielerlei Hinsicht inklusiv arbeitet, insofern er u. a. auf die Entwicklung und Förderung mehrsprachiger und plurikulturell kompetenter Individuen hinarbeitet (vgl. z.-B. Reimann 2016b, Melo-Pfeifer/ Reimann 2018b). Im Rahmen des durch die Qualitätsoffensive Lehrerbildung geförderten Projekts „Fach‐ didaktische Qualifizierung Inklusion angehender Lehrkräfte an der Humboldt-Universität zu Berlin“ (FDQI-HU) wurde ein „Didaktisches Modell für inklusives Lehren und Lernen“ (DiMiLL entwickelt, das Bedingungsfaktoren von Inklusion gerade auch mit Blick auf Fachunterricht zu erfassen versucht (vgl. die Veröffentlichung Frohn/ Brodesser/ Moder/ Pech 2019a). Es stellt einen geeigneten Rahmen dar, um Gelingensbedingungen auch des inklusiven Fremdsprachenunterrichts zu reflektieren. Das Modell basiert auf der kritisch-konstruktiven Didaktik Klafkis und dem „Hamburger Modell“ von Wolfgang Schulz (z. B. Frohn/ Brodesser/ Moser/ Pech 2019b, 10) (zu diesen Modellen vgl. Kap. 1.4.1 und 3.2.5) und erweist sich damit als in hohem Maße an bekannte Modelle anschlussfähig. Im Unterschied zu diesen Modellen kennt es aber keine übergeordnete Zielformulierung etwa von „Unterrichtszielen“, sondern die zentrale Zieldimension ist die individuelle Kompetenzentwicklung (vgl. Frohn 2019, 31, s. u.). Die vereinfachte (z. B. Frohn 2019, 31, 32) Darstellung des DiMiLL erfasst folgende Aspekte inklusiven Unterrichts auf vier verschiedenen Ebenen: „Fundamente“, „Prozessmerkmale“, „Rahmenbedingungen“ und „Strukturelemente“ (in Abb. 78 von außen nach innen abgebildet). Als - letztlich den beiden genannten didaktischen Modellen entlehnte - „Modellierungsgrundlage“ werden „ethische Grundlagen inklusiven Lehrens und Lernens“ sowie „Selbst- und Weltverhältnis schulbezogen Handelnder“ angenommen, womit letztlich traditionelle Bildungstheorien evoziert werden, die Bildung als Veränderungen des Verhältnisses zu sich selbst und zur Welt konzipieren (vgl. Kap. 3): Demnach sollen ethisch reflektierte (Bildungs-) Situationen geschaffen werden, in denen sich Neugestaltungen des Verhältnisses von Selbst und Welt ereignen und vollziehen können, die den Ausgangs- und Endpunkt transformatorischer Bildungsprozesse darstellen (Koller, 2012). (Frohn 2019, 29) Als „Prozessmerkmale“ inklusiven (Fach-)Unterrichts werden Partizipation, Kooperation, Kommunikation und Reflexion angesetzt (vgl. Frohn 2019, 29 f.). Rahmenbedingungen, 376 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="377"?> die auf inklusiven Fachunterricht einwirken, lassen sich auf gesamtgesellschaftlicher, auf schulorganisatorischer und auf fachdidaktischer Ebene verorten (Frohn 2019, 29 f.). Die im Modell angenommenen vier Strukturelemente inklusiven Unterrichtens, namentlich Ausgangslage, Themen und Inhalte, Methoden und Medien sowie Erfolgskontrolle, sind dem „Hamburger Modell“ von Wolfgang Schulz entlehnt (Frohn 2019, 30 f.), wobei, wie oben angedeutet, dessen Gleichsetzung von Inhalten und Themen mit Unterrichtszielen zugunsten eines neuen, zentral konzipierten, Strukturelements „individuelle Kompetenz‐ entwicklung“ aufgehoben wird (Frohn 2019, 31): FDQI-HU trennt die Kategorie der Ziele von Themen und Inhalten, da dem Projektverständnis zufolge Ziel und Intention inklusiven Unterrichts in der individuellen Kompetenzentwicklung der Schüler*innen liegt. Demnach steht die individuelle Kompetenzentwicklung im Zentrum des Modells und illustriert die Absicht, alle Schüler*innen in unterschiedlichen Kompetenzdi‐ mensionen zu fördern. Dabei wird Kompetenzorientierung nicht verkürzt mit der Ausrichtung an kognitiven Bildungsstandards […] gleichgesetzt; stattdessen wird der Kompetenzbegriff - abgeleitet aus der vielzitierten Definition von Franz E. Weinert (2001) - in die Dimensionen der individuellen, kognitiven, motivationalen, sozialen, ethisch-normativen und performativen Kompetenzentwicklung aufgefächert, um allen dem Kompetenzbegriff innewohnenden Facetten Rechnung zu tragen […]. (Frohn 2019, 31, ohne Hervorhebung, zum Kompetenzbegriff bei Weinert vgl. Kap. 4.2.1). Eine detaillierte Beschreibung des Modells findet sich in Frohn 2019; es wird dort wie folgt graphisch dargestellt: 6.6 Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen 377 <?page no="378"?> dargestellt und in einen Deutungszusammenhang gebracht werden So wurde zunächst ein allgemeindidaktisches Modell im Sinne einer am Menschenrecht auf Bildung orientierten Theorie konzipiert, die sowohl fachdidaktische Konkretisierung (siehe Kapitel 2 in diesem Band) als auch empirische Validierung (siehe Ausblick in diesem Band) ermöglicht Abb. 1: Das Didaktische Modell für inklusives Lehren und Lernen (DiMiLL) Im Kern ist das DiMiLL stark an die didaktischen Modelle von Wolfgang Klafki und Wolfgang Schulz (siehe Einführung in diesem Band) angelehnt, die neben didaktischen Grundsätzen auch bildungstheoretische Zeugnisse ihrer Zeit abgeben Anders als die Bildungsreformen der Abb. 79: Das Didaktische Modell für inklusives Lehren und Lernen (DiMiLL) (Frohn 2019, 28) 6.6.2 Prinzipien und Bausteine inklusiven Fremdsprachenunterrichts Bezogen auf den eng gefassten Inklusionsbegriff, betreffend den Reich’schen Standard „Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung“, können nach heutigem Kenntnisstand folgende allgemeinen methodische Prinzipien einen Rahmen für die Unterrichtsplanung und -gestaltung bieten (vgl. Planck 2016, 40-44, jeweils mit weiterführender Bibliographie, sowie Mendez 2012a, 37, Hengst 2012, bes. 106): ● Prinzip der Konzentration auf Kerninhalte (Hengst 2012, 109), ● Tendenz zur Konzentration auf Hören und Sprechen, ggf. „Landeskunde“ (Hengst 2012, 112, bezogen auf Englisch v.-a. im Bereich der Sek. I), ● kooperative Lernformen, außer ggf. bei Autismus-Spektrum-Störungen oder AD(H)S, ggf. mit reduzierter Sprachproduktion seitens der Lernenden (z. B. Kugellager, dies auch bei Autismus-Spektrum-Störung, Total Physical Response), ● halboffene und offene Aktivitäten (z.-B. Beschreibung, Erzählung), ● offener Unterricht, z.-B. Freiarbeit, Wochenplanarbeit, Stationenlernen, ● Spiele, ● Musik, 378 6 Differenzierung und Inklusion im Unterricht der romanischen Sprachen <?page no="379"?> ● dramapädagogische Ansätze, ● Strukturierung und Ritualisierung des Unterrichts. Folgende „Bausteine“ inklusiven Fremdsprachenunterrichts finden sich in Klein-Landeck 2014 (z. B. 3, hier bezogen auf Englisch): Rituale, Sprechgesänge, Songs, Total Physical Response, Lernspiele, Handlungsorientierung und Aktivierung, Schulspiel, Bücherkoffer, Lerntheke und Freiarbeit, Freiarbeit, kooperative Lernformen, Klassenlektüre, Projektar‐ beit. Plötner/ Schlaak 2017 benennen mit Beispielen zum Spanischen zusätzlich Visualisie‐ rung und Arbeit mit Bildern (76-88), Aufgabenor