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Denkstile und Paradigmen im literarischen Wandel

1127
2023
978-3-3811-0362-1
978-3-3811-0361-4
A. Francke Verlag 
Hermann Gätje
10.24053/9783381103621

Die Studie diskutiert die Übertragbarkeit der aus der Wissenschaftsgeschichte stammenden Theoriemodelle des Denkstils (Ludwik Fleck) und des Paradigmas (Thomas S. Kuhn) auf den literarischen Wandel. Anhand exemplarischer Untersuchungen, die Gegenstände der Neueren deutschen Literatur vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart behandeln, werden Linien literarischer Entwicklungsprozesse aufgezeigt, die Strukturen des Zusammenwirkens von kollektiven Denk- und Schreibmustern einerseits sowie Innovation und Individualität andererseits erkennen lassen. Gattungs- und Epochenbegriffe, Autorinnen und Autoren, Texte wie deren Genese und Rezeption werden in den einzelnen Kapiteln im Hinblick auf Wandel und Konstanz im literarischen Feld betrachtet, um idealtypisch signifikante Elemente in der Literaturgeschichte zu konzeptualisieren.

HERMANN GÄTJE Denkstile und Paradigmen im literarischen Wandel 08 Denkstile und Paradigmen im literarischen Wandel Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 8 Hermann Gätje Denkstile und Paradigmen im literarischen Wandel DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783381103621 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2512-8841 ISBN 978-3-381-10361-4 (Print) ISBN 978-3-381-10362-1 (ePDF) ISBN 978-3-381-10363-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 I. 25 I.1 26 I.2 34 I.3 37 I.4 39 I.5 51 I.6 57 I.7 62 I.8 66 I.9 69 I.10 71 II. 81 III. 99 III.1 99 III.2 104 III.3 110 III.4 115 III.5 123 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze . . . . Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen Gemeinsamkeiten der Modelle von Kuhn und Fleck . . . . . . . . Thomas S. Kuhns Modell im kritischen Diskurs . . . . . . . . . . . . Heuristische Perspektiven und Grenzen der Begriffe Denkstil und Paradigma zwischen Tatsache und Phänomen . . . . . . . . . Die Problematik der Begriffe Denkstil und Paradigma in ihrer Anwendung in der Praxis - Zwischenresumée und Ausblick Thomas S. Kuhn über das Paradigma in der Kunst . . . . . . . . . Möglichkeiten und Grenzen des Paradigmenmodells im literarischen Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehensweise und Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ähnlichkeit, Vergleich und Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt - Ein Text an der Epochenschwelle zwischen Humanismus und Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels in der deutschen Literatur und Geistesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herder als paradigmatischer Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundlegung von Herders Denkstil in seinen frühen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Deus sive Natura“ - Die Identität von Gott und Natur in Spinozas Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herders Rezeption und Modifikation von Spinozas Lehre als philosophisches und literarisches Paradigma . . . . . . . . . . . . . . Aspekte eines denkstilorientierten Zugangs zu Herders Werk IV. 135 IV.1 135 IV.2 140 IV.3 144 IV.4 148 IV.5 152 IV.6 154 V. 159 V.1 159 V.2 164 V.3 168 V.4 172 VI. 181 VI.1 181 VI.2 186 VI.3 206 VII. 223 VII.1 224 VII.2 243 VII.2.1 243 Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur . . . . . . . Das marxistische Verständnis von Literatur als Denkstil . . . . Karl Marx über die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georg Büchner aus marxistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . Literatur und Literaturdoktrin im ‚real existierenden Sozialismus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postmarxismus und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstanten und Variablen des marxistischen Literaturbegriffs im Prozess der Denkstilmutation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Heinrich von Kleists und Georg Büchners im Zuge der 1968er Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertung und Deutung klassischer literarischer Texte im Denkstilwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die deutschen Klassiker im sozialistischen Literaturverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Schlöndorffs Kleist-Verfilmung Michael Kohlhaas - Der Rebell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Schneiders Büchner-Adaption Lenz als Ausdruck eines Denkstilwandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradigmen der Literatur der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postmoderne und postmoderne Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren am Beispiel dreier stilbildender Texte im Vergleich (Umberto Eco: Der Name der Rose; Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit; Patrick Süskind: Das Parfum) . . Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradigma Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt VII.2.2 248 VII.2.3 251 251 253 255 257 261 263 VII.3 264 277 291 293 I. 293 II. 297 III. 307 IV. 307 Das Foto in der Literatur als heuristisches ‚Grenzobjekt‘ Aspekte des Diskurses Fotografie und Literatur in exemplarischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Handke: Die Reise nach La Défense (1974) . . . . . . . . . . . . Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall (1986) . . . . . . . . . . Wilhelm Genazino: Aus der Ferne. Texte und Postkarten (1993) Rainald Goetz: Celebration. 90s, Nacht, Pop. Texte und Bilder zur Nacht (1999); Andreas Neumeister / Marcel Hartges (Hrsg.): Poetry! Slam! . Texte der Pop-Fraktion (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . Kenah Cusanit: Babel (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Heimat“-Romane der Gegenwart im aktuellen Identitätsdiskurs ‒ Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) und Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung (2019) . . . Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ - Literaturgeschichte als Paradigmengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur und Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachliteratur und Forschungsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 1 Jurij Tynjanov: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur. Frankfurt am Main 1967, S.-7. Einleitung Was ist Literatur? Was ist Gattung? Jedes Lehrbuch der Theorie der Wortkunst, das etwas auf sich hält, beginnt mit der Beantwortung dieser Fragen. Hartnäckig mit der Mathematik wetteifernd, versucht sich die Theorie der Wortkunst in überaus klumpigen und selbstbewußten Defini‐ tionen. Sie vergißt, daß die Mathematik zwar auf Definitionen basiert, daß jedoch in der Literaturtheorie Definitionen keineswegs Grundlage sind, sondern ein sich stets veränderndes evolutionierendes literarisches Faktum: eine Folgeerscheinung. 1 Mit dieser grundlegenden Feststellung beginnt der programmatische Aufsatz Das literarische Faktum des russischen Formalisten Jurij Tynjanov aus dem Jahr 1924, der in knappen Worten das Konzept der „Evolution in der Literatur“ darlegt und exemplifiziert, welches von ihm in einer Gruppe strukturalistisch orien‐ tierter russischer Formalisten mitentwickelt wurde. Diese haben grundsätzlich festgehalten, dass der Begriff der Literatur und die an ihn gekoppelten Defini‐ tionen keine statischen Gesetze sind, sondern etwas zeitbedingt Wandelbares im Gegensatz zu den universell gültigen mathematischen Sätzen. Die Schwierigkeit des Terminus der Evolution spiegelt die wesentlichen Grundfragen, die den Ausgangspunkt meiner Studie bilden. Infolge der Polyse‐ mantik und Konnotationen von ‚Evolution‘ signalisiert der in der deskriptivfaktischen Bedeutungsdimension analoge Begriff ‚Wandel‘ mehr Sachlichkeit. Literatur und Mathematik trennt Tynjanov systematisch voneinander ab, seine Erklärung ist evident und bringt das angesprochene Problem schlüssig zum Ausdruck. Doch zugleich werfen seine Thesen neue Fragen auf, indem sie über‐ kommene Selbstverständlichkeiten der literarischen Praxis wie kanonisierte Literaturgeschichten und Texte grundsätzlich infrage stellen. Auch wenn sein Begriff der Evolution hier als neutral beschreibbar ist und nicht mit den wertenden Implikationen von Weiterentwicklung oder Fortschritt gedeutet werden muss, gibt er - überspitzt gesagt - mehr Rätsel auf, als er auflöst. Eine auf Wertung beruhende Literaturwissenschaft gibt nominalästhetisch vor, was Literatur ist, und schließt dabei Formen wie etwa Kitsch, Kolportage oder Groschenhefte aus. Sie legt den Gegenstand fest, so dass schon ein bestimmter Textträger oder Distributionsweg die Verbannung literarischer Erzeugnisse 2 Der Begriff „Klassiker“ bzw. „klassisch“ ist auf die deutsche Literatur bezogen seman‐ tisch unklar. An dieser Stelle wird er nicht im Sinne der enggefassten Bedeutung im Sinne der „Weimarer Klassik“ verwendet, sondern steht allgemein für überlieferte, durch die Literaturgeschichte kanonisierte Texte aus der Vergangenheit. aus dem Forschungsfeld bedingen kann. Orientiert man sich an Tynjanovs Ver‐ gleich, tritt das Paradox zutage, dass die Literaturwissenschaft, je stärker sie dem Anspruch der ‚objektiven‘ Mathematik folgt und Definitionen festlegen will, selbst immer weniger objektiv wird. Sie objektiviert das Subjektive, indem sie die übereinstimmenden Auffassungen bestimmter dominanter Geschmacksträger in einem gewissen Toleranzrahmen zu einer literarischen Norm festlegt. Je enggefasster und damit überschaubarer das kanonisierte literarische System ist, desto kleiner dieser Bewertungsspielraum. Dieses grundsätzliche Problem beschäftigt in unterschiedlichen Facetten die philosophische Auseinandersetzung mit Literatur respektive Kunst seit der Antike. In allen Kulturen finden sich Zeugnisse, die der Frage nachgehen, ob Eigenschaften eines universellen Ideals fassbar sind oder ob die ästhetische Wertung persönlichkeits-, gesellschafts- oder zeitbedingt ist. Dabei variieren die Antworten und Gewichtungen, die kanonisierten Epochen und Stile zeichnen sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie basale Identitäten von Literatur unterschiedlich akzentuieren. Für die deutsche Literatur erscheint bemerkens‐ wert, dass diese Fragen besonders in Zeiten sogenannter Epochenschwellen oder -wenden aufgegriffen wurden. Tynjanov bringt in seinem Aufsatz ein damit gekoppeltes Problem zum Ausdruck. Selbst wenn die Geschichte einer Literatur nicht geordnet, also niedergeschrieben ist, so impliziert die Gegenwart sämtliche Vergangenheit, alle bisherigen literarischen Phänomene. Diese Feststellung ist diffus, doch ist am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur eindeutig aufzuzeigen, dass diese die bisherige deutsche Literatur, deren Geschichte und Gattungstheorie in irgendeiner Weise mitdenkt. Jede Zeit der deutschen Literatur hat Adaptionen von als Klassikern anerkannten Werken hervorgebracht, schon wenn eine Autorin oder ein Autor sich als Romantiker charakterisiert, ist eine solche Referenz erkennbar. 2 Die klassische Literatur unterliegt dabei einem Wandel, sie wird vom literarischen System einer Zeit immer wieder neu interpretiert und adaptiert. Jeder klassische Text muss vom Horizont seiner Zeit und in der Folge seiner jeweiligen Rezeption in den verschiedenen Gegenwarten betrachtet werden. Auch hier findet eine Evolution statt, die eine Doppelstruktur evoziert. Einerseits ist ein Text als solcher zwar empirisch vorgegeben, doch bereits in den Eingriffen und der Aufbereitung durch einen Editor findet eine Anpassung und damit Deutung statt. 10 Einleitung 3 Vgl. dazu den instruktiven Sammelband: Claudia Liebrand / Rainer J. Kaus (Hrsg.): Interpretieren nach den „turns“. Literaturtheoretische Revisionen. Bielefeld 2014. Der Diskurs über und die vielschichtige Problematik um den literarischen Wandel haben verschiedene Modelle seiner Beschreibung hervorgebracht. Diese hinterfragen die tradierte Literaturgeschichte und entwickeln Konzeptionen, die zum Teil nicht vereinbar sind, da sie unterschiedliche Referenzrahmen vorgeben und verschiedene Perspektiven fokussieren. Einerseits ist Literaturgeschichte subjektiv und unzureichend, andererseits braucht man sie und einen Kanon von Texten, um überhaupt systematisch mit Literatur zu arbeiten. Zahlreiche unter dieser Prämisse entstandene alternative Literaturgeschichten und Ka‐ nones haben zwar auf der einen Seite für das Problem sensibilisiert, auf der anderen Seite aber das literarische Feld diffundiert und den Diskurs zunehmend erschwert. Je verschiedener das Literaturverständnis und die Leseerfahrung Einzelner sind, umso weniger ist ein Gespräch über Literatur möglich, da eine breite übereinstimmende Leseerfahrung als gemeinsame Kommunikationsbasis fehlt. Die Literaturwissenschaft befindet sich in einem Dilemma: Je mehr sie diese Bereiche ausdifferenziert, ausmisst und erforscht, umso schwieriger lassen sie sich in eine Ordnung fügen und systematisieren. Das literarische Feld ist in mehrfacher Hinsicht unübersichtlicher geworden. Die wesentlichen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts haben unter unter‐ schiedlichen Prämissen die Literatur mitbehandelt. Systemtheorie oder Post‐ strukturalismus haben mit verschiedenen Ansätzen den literarischen Sektor untersucht, wobei die Positionen oft nicht miteinander vereinbar sind, da sie auf strukturell divergenten Ebenen denken oder abweichende Begriffe von Literatur verwenden. So treten in den in immer kürzer werdenden Intervallen erscheinenden ‚turns‘ der letzten fünfzig Jahre alternierend antagonistische Denkmuster hervor. 3 Es wechseln Strömungen, die mehr das Ästhetische und den Eigenwert der Literatur akzentuieren, mit solchen, die die Referenz der Literatur zu äußeren Bereichen für unerlässlich halten. Zahlreiche Denk‐ richtungen prononcieren die Abwesenheit des Autors im literarischen Text, denen stehen Konzeptionen gegenüber, die ihn für unhintergehbar halten. Aus diesen basalen Faktoren bilden sich Identitäten, die innerhalb der literarischen Gemeinschaften zeitlich und räumlich unterschiedliche Wertungen und Nuan‐ cierungen erfahren. Literarischer Wandel und Literaturgeschichte bilden nicht die Entwicklung eines völlig Neuen ab, sondern vielmehr die neu formulierte Ausdeutung bestimmter basaler Grundelemente von Literatur. Einleitung 11 4 Erstausgabe: Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962. Hier verwendete Ausgabe: Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolu‐ tionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage. Von Hermann Vetter revidierte deutsche Übersetzung. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1979. In bestimmten Fällen ziehe ich das Original in der Ausgabe letzter Hand heran: Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Fourth Edition. With an Introductory Essay by Ian Hacking. Chicago / London 2012 (E-Book). 5 Erstausgabe: Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Basel 1935. Hier verwendete Ausgabe: Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaft‐ lichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. 9. Aufl. Frankfurt am Main 2012 (Erste Auflage 1980). Der Text ist im Original in deutscher Sprache. 6 Zu Verhältnis, Einordnung, Wirkung von Fleck und Kuhn exemplarisch: Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Erweiterte Ausgabe. Berlin 2016 (Erste Auflage 2014), S. 184: „Mit Ludwik Flecks Reaktivierung durch Thomas Kuhn und Wilfrid Sellars sowie W. V. O. Quines Kritik am Empirismus ist eine ganze Phalanx überzeugender Kritiken der Unmittelbarkeit im 20. Jahrhundert aufgetreten, die zu einer Re-Kantianisierung und inzwischen - via [Robert B.] Brandom - zu einer Re- Hegelianisierung der anglo-amerikanischen Philosophie geführt hat.“ Meine Studie diskutiert diese Fragen auf der Basis zweier theoretischer Ansätze, für die ich thesenhaft annehme, dass sie als Modelle heuristisch systematisch viele dieser disparaten Positionen relativierend, ausgleichend und vermittelnd erfassen können. Thomas Kuhns (1922 bis 1996) in seinem Hauptwerk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) dargelegte Theorie besagt, dass sich wissenschaftlicher Fortschritt nicht allein durch kontinuierliche Verän‐ derung und Wissensakkumulation ergibt, sondern dass jeder praktizierten Wissenschaft temporär statisch gültige Erklärungsmodelle zugrunde liegen, die in einem revolutionären Prozess abgelöst werden. 4 Kuhns Thesen wurden in der wissenschaftlichen Gemeinschaft breit und kontrovers diskutiert. Seine Grundannahmen fußen in wesentlichen Teilen auf den Arbeiten von Ludwik Fleck (1896 bis 1961), insbesondere dem Hauptwerk Entstehung und Entwick‐ lung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935). 5 Flecks wissenschaftstheoretische Arbeiten blieben außer in engen Fachkreisen weitgehend unbeachtet, bis sie durch den Diskurs um Kuhn wiederentdeckt wurden. 6 Fleck geht von der These aus, dass eine wissenschaftliche Tatsache nicht rein empirisch sein kann, sondern immer mehr oder weniger subjektive Implikationen hat. Er postuliert die Unmöglichkeit der Erfassbarkeit einer absoluten Objektivität, da die menschliche Wahrneh‐ mungsfähigkeit allein schon eine Grenze setzt. Für Fleck wird wissenschaftliche Arbeit durch einen bestimmten Denkstil geprägt, der Grundannahmen und Erklärungsmuster impliziert. Auch wenn beide Theorien ausgewiesen auf den 12 Einleitung 7 Hans Robert Jauß: Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft. In: Linguistische Berichte 1969, 3. Jg., S. 44-56; Hans Ulrich Gumbrecht: Paradigmawechsel und Nonkon‐ formismus - mehr als eine Tautologie? In: Merkur 2011, Heft 748/ 749, S. 912-922; Nor‐ bert Groeben: Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft: Paradigmadurch Methodendiskussion an Untersuchungsbeispielen. 2. Aufl. Tübingen 1980. Diese und weitere Beiträge zeigen, dass das Paradigmenmodell in der Literaturwissenschaft mit starkem Fokus auf dem rezeptionsästhetischen Ansatz diskutiert wurde. Der von Kuhn inspirierte Paradigmenbegriff fand im literarischen Sektor vor allem im Zuge der „rezeptionsästhetischen Wende“ in der deutschen Germanistik durch die „Konstanzer Schule“ um 1970 Resonanz. Franco Moretti greift Kuhns Theorie in seinem Essay Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte (dt. Ausg. Frankfurt am Main 2009, 2. Aufl. 2017) im Zuge seines empirisch fundierten Ansatzes einer quantitativen graphischen Darstellung der temporären Verbreitung bestimmter Genres prononciert auf: „Das System verändert sich also nicht fortwährend ein wenig, sondern verharrt über Jahrzehnte hinweg auf einer Stelle und wird dann abrupt transformiert. Die Formen ändern sich schlagartig quer über das gesamte Feld hinweg und halten sich dann für zwei bis drei Jahrzehnte; in Analogie zu Kuhns Begriff der ‚Normalwissenschaft‘ nach einer wissenschaftlichen Revolution könnte man also von Phasen der ‚Normalliteratur‘ sprechen. Oder man könnte mit Jauß an einen ‚Erwartungshorizont‘ denken […]“ (S.-27f.). Wissenschaftsbereich fokussiert sind, lassen sie sich in ihren wissenssoziologi‐ schen und denktheoretischen Grundsätzen auf den literarischen Sektor über‐ tragen. Vereinfacht ausgedrückt stellt sich die Frage, ob literarische Strömungen, ästhetische Wertungen, literarische Gattungsdefinitionen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten literarischen Gemeinschaften aus bestimmten Erklärungs‐ mustern heraus definiert werden. Die Wahrnehmung von etwas als ‚schön‘ unterliegt nicht nur dem persönlichen Geschmack eines Einzelnen, sondern ergibt sich auch aus seinen sozialen Beziehungen und internalisierten Werten. Thomas Kuhns Schrift Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen entfaltete seit ihrem Erscheinen 1962 bis in die Siebziger und Achtziger Jahre eine immense Wirkung und wurde im Wissenschaftsbetrieb ausgiebig thematisiert. Auf den literarischen Wandel speziell bezogen fand sie relativ geringe Resonanz, auch wenn mit Hans Robert Jauß, Hans Ulrich Gumbrecht, Norbert Groeben oder Franco Moretti namhafte Literaturwissenschaftler in der Übertragung des Pa‐ radigmawechsels auf Literatur- und Kulturwissenschaften eine Sinnhaftigkeit und Anwendung des Modells für die Literatur andeuteten. 7 Kuhns Schrift nimmt in essenziellen Aspekten die Gedanken von Ludwik Fleck auf und führt diese weiter im Hinblick auf einen historischen Prozess. Die Anwendbarkeit von Kuhns Ideen auf die Geisteswissenschaft und die Kunst ist umstritten und es ist nicht Ziel dieser Studie, dies zu hypostasieren. Doch vor allem unter Berücksichtigung der basalen Ideen Flecks lässt sich aufzeigen, dass viele struk‐ turelle Elemente der Theorie Kuhns als Modelle Skalierungsmöglichkeiten für Einleitung 13 Prozesse des literarischen Wandels generieren. Anhand von Flecks Definition des Denkstils sowie Kuhns Begriffen des Paradigmas und der wissenschaftlichen Revolution lassen sich bestimmte Aspekte des literarischen Wandels erkennen. Da Literatur und Denken miteinander verknüpft sind, ist es evident, dass es in der Literatur Denkstile und Paradigmen gibt, die kollektive Gültigkeit besitzen und Wirkung entfalten. Um dies zu belegen, nimmt meine Studie zwei Perspektiven ein. Wegen der Schwierigkeiten mit den Theorien im Bereich der Geisteswissenschaft widmet sie sich der Diskussion und Kritik dieser Ansätze und stellt methodische Möglichkeiten vor, die eine erkenntnisgewinnende Anwendung in der Literatur eröffnen. Die Untersuchungen einzelner Texte, Epochen, Gattungen oder Stilmittel sollen mit den Theorien korrespondierende Phänomene herausarbeiten. Flecks Ansatz spiegelt auf den Leser als Teil der literarischen Kommunika‐ tion bezogen das wesentliche Moment, dass jedes Buch anders verstanden wird. Gleichzeitig ist ein Text auf der primären Wahrnehmungsebene eine empirische Realität. Tynjanov gebraucht den Begriff des literarischen Faktums, der verschiedene Implikationen hat. Bei aller Mehrdeutigkeit lässt sich diese Feststellung auf ein zweifelsfreies Merkmal reduzieren: Bestimmte Teile des literarischen Feldes sind als Tatsachen zu begreifen. Ein literarischer Text ist eine Realie, bestimmte formale Gestaltungsmerkmale wie das Metrum oder der Reim sind empirisch fassbar. Die Autorin oder der Autor eines Buches ist eine existierende Person und bei aller Diskussion um den „Tod des Autors“ ist dieser somit auf bestimmten Ebenen unhintergehbar. Doch auch aus der Sichtweise einer Textrealität ist Literatur bereits ambivalent, denn in ihr drückt sich in der Spannung aus eigentlichem und uneigentlichem Sprechen die semantische Diversität der Sprache exzeptionell aus. Dieser Grenzbereich lässt sich durch die Theorien von Fleck und Kuhn spiegeln, denn sie stellen basal die These auf, dass eine wissenschaftliche Tatsache subjektive Implikationen hat, sinnliche Wahrnehmung und Deutung bereits ineinanderfließen können. Ein literarischer Text kann als Tatsachendokument angesehen werden. Dies wird in der Praxis besonders evident, wenn ein fiktionaler Text gerichtlich wegen als zweifelsfrei erachteter Persönlichkeitsverletzungen verboten wird. Ein Beispiel bildet hier die Diskussion um Thomas Bernhards Roman Holzfällen im Jahr 1984. Auch wenn die Figuren verschlüsselt sind, wurden die Anspielungen von Gerichten 14 Einleitung 8 Vgl. Thomas Bernhard: Werke 7. Holzfällen. Hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main 2007. Die ausführliche Dokumentation des Skan‐ dals um das Buch im Anhang dieser Edition (S. 203-275) eröffnet einen differenzierten Blick auf diese grundsätzliche Diskussion. zu faktisch eindeutigen Referenzen auf reale Personen und damit zu Tatsachen erklärt. 8 Tynjanov differenziert systematisch zwischen Literatur und Mathematik. Typologisch ist dies einleuchtend, die Mathematik beruht auf logisch fassbaren Sätzen und die Literatur auf Ideen. Doch die Arbeit eines Mathematikers kann auch ästhetische Komponenten implizieren, wenn etwa die Schönheit bestimmter Funktionen herausgestellt wird. Ebenso denken Literaten rational, nicht nur wenn sie eine Realität abbilden wollen, sondern auch wenn sie z. B. Texte nach mathematischen Strukturen entwickeln. Systematisch heuristisch kann man die Perspektiven trennen, aber man muss auch den Zusammenhang erkennen, Schnittmengen festlegen und somit auch beide Ebenen gemeinsam in den Kontext des Denkens allgemein stellen. Fleck und Kuhn haben diesen gemeinsamen Punkt in der Wahrnehmung von Tatsachen beschrieben und Faktoren umrissen. Fleck greift mit seinem Terminus Denkstil das Moment auf, dass sich das Denken nicht völlig in rational und irrational, bewusst und unbewusst, von außen beeinflusst und aus innerem Antrieb heraus aufteilen lässt. Diese Fragen gewinnen vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Diskurses, der den literarischen mitprägt, eine große Bedeutung. Zunehmend spielen subjektive Wirklichkeiten eine hervorgehobene Rolle. Solche Erschei‐ nungen gewinnen unabhängig davon, ob sie real sind, eine große Bedeutung, weil sie oftmals als Tatsachen angesehen werden. Die Frage nach faktischer Wirklichkeit und subjektiver Wahrheit ist spätes‐ tens seit der Moderne eine der Kardinalfragen der Literaturwissenschaft, die sich besonders im Diskurs um die Literarizität autobiographischen Schreibens niederschlägt. Zunehmend wurde das Paradigma der faktischen Richtigkeit von Autobiographien angezweifelt, aber niemals wurde die Referenz vom Text zu einer Wirklichkeit als solches völlig infrage gestellt. Unabhängig von bewusster Veränderung von Tatsachen und kunstvoll intendierter literarischer Stilisierung wurde zunehmend die Frage thematisiert, wie persönliche Erlebnisse in ihrer faktischen Dimension von der Wahrnehmung und der Erinnerung bereits verklärt werden. In der privaten Lebensdeutung können sie dann symbolisch überladen werden, indem die singulären biographischen Fakten kontextualisiert und neu bewertet werden. Darin weist der literarische Diskurs eine bemerkens‐ werte Affinität zu Flecks Thesen zur Subjektivität einer Tatsache auf. Einleitung 15 9 Iris Hanika: Echos Kammern. Graz / Wien 2020 (E-Book), Pos. 2790. In der Literatur unserer Gegenwart ist die Frage nach Wirklichkeit und Wahrheit ein häufig wiederkehrendes Motiv. Indem dies in Texten selbst thematisiert wird, gewinnen diese eine autoreferentielle Dimension, da der Wirklichkeitsdiskurs der Literatur generell poetisiert wird. Z. B. spielt Iris Ha‐ nikas vielbeachteter Roman Echos Kammern aus dem Jahr 2020 in der Referenz auf den Mythos von Echo und Narziss unter anderem auf die „Echokammern“ respektive Meinungsblasen der Gegenwart an und lässt in der Fokalisierung die Wahrnehmung von Realitäten bei den beiden Protagonistinnen und eine Tatsächlichkeit in der Diegese bewusst im Unklaren. Wiederkehrend kontras‐ tiert die adverbiale Bestimmung „in Wirklichkeit“ deren Gedanken, und lässt die eine resümieren: „Die Wirklichkeit war ihr Wahn, die Wahrheit aber, daß er ihr vollkommen bewußt war und sie darum einen Weg fand, sich aus ihm zu befreien, ihn aufzulösen.“ 9 Doch nicht nur auf der Ebene der Diegese bzw. ihrer Inhalte ist die Lite‐ ratur als Faktum ein grundlegendes Problem der Literaturwissenschaft, auf das die zugespitzten Diskussionen der Gegenwart rekurrierbar sind. In der Tatsache, dass literarische Texte existent sind, sich jedoch einer verbindlichen Definition in der Art mathematischer Sätze entziehen, liegen die mannigfaltigen Diskurse begründet, die das Zeitgemäße und Wandelbare des Ästhetischen ausdiskutieren. Thesen von der völligen Ablösung des Texts vom Verfasser, von der Unmöglichkeit der Literaturgeschichte, von der Unvereinbarkeit von Literatur und Faktum haben in ihren Verzweigungen dazu geführt, dass eine Diskursspirale entstanden ist. In zahlreichen ‚turns‘ wurden im Wesentlichen bekannte Gegensätze immer wieder neu austariert, in griffigen Topoi wie dem „Tod des Autors“ zwar pointiert vereinfacht, aber in der Sache zunehmend ausgeweitet und in immer kompliziertere Bedeutungskontexte eingebettet. Die Dekonstruktion der Literaturgeschichte in ihre unauflöslichen Wider‐ sprüche zwischen Ästhetik und Geschichte darf nicht ignoriert werden. Ein Text aus dem 16. Jahrhundert kann heute kaum ohne das Wissen um sein historisches Umfeld verstanden werden. Das Denken und die Ästhetik seiner Gegenwart können jedoch nicht völlig rekonstruiert bzw. erfasst werden. Die Kategorien Denkstil und Paradigma bieten heuristisch Möglichkeiten, diese Diskrepanzen relativierend zu erfassen und Darstellungs- und Interpretations‐ räume zu eröffnen. Schon allein der Begriff Literatur weist eng- und weitgefasste Dimensionen auf, die sich nicht mit der faktischen Eindeutigkeit eines mathematischen Satzes begreifen lassen. Zunehmend problematisch wird dies bei den Erklärungsmo‐ 16 Einleitung 10 Tynjanov: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur 1967, S.-7. 11 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hrsg. von Peter Engelmann. Graz / Wien 1986 [Edition Passagen] (Original: La condition postmoderne. Paris 1979), bes. S.-96‒122. 12 Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie 2016, S. 37: „Denn anders als im An‐ schluß an Lyotard vielfach behauptet wurde, sind die großen Erzählungen gar nicht verschwunden. Sie hausen jedoch nicht mehr in philosophischen Systemen, sondern sind ausgewandert und werden jetzt an anderen Orten und vor allem in anderen Kontexten als denen der philosophischen Akademien gepflegt.“ „Lyotard hat diese großen Erzählungen übersehen, weil er an den falschen Stellen gesucht hat: bei den Theoriebildungen der doktrinären Philosophie und nicht bei den strategischen Kriegs- und Wirtschaftswissenschaften.“ (ebd. S.-42) 13 Lyotard: Das postmoderne Wissen 1986, S. 112: „In der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur, also der postindustriellen Gesellschaft, der postmodernen Kultur, […] stellt sich die Frage der Legitimierung in anderer Weise. Die große Erzählung hat dellen von Literaturgeschichtsschreibung und Gattungen, da jede Zuordnung sich einen bestimmten Literaturbegriff ableitet, der umstritten sein kann. Es gibt zwar in Regelpoetiken festgelegte Strophenformen, doch aus diesen klärt sich nicht das Wesen des Lyrischen. Zur Literaturforschung gehört der Ver‐ such, aus anthropologischer Perspektive Formen der Literatur als naturhaft fundierte Ausdrucksbzw. Erzählformen des Menschen zu betrachten. Dies ist einleuchtend, wenn man z. B. in Lebens- oder Erlebnisberichten bestimmte für Literatur charakteristische Formen der Stilisierung erkennt. Literatur ist sicher mehr als das geplante Verfassen von Texten mit einem Kunstanspruch. Schon die Legenden und Sagen der ersten Zivilisationen werden heute retro‐ spektiv in ihrer kompensatorischen psychologischen und sozialen Funktion gedeutet. Diese Interpretation akzentuiert die Literatur in Dependenz zu den kollektiven Denkmustern einer Zeit. Tynjanov kritisiert die seiner Ansicht nach weitverbreitete Annahme vom substanziellen Konnex zwischen Poesie und Denken, denn „Poesie ist nicht Denken, das Denken in Bildern nicht Poesie.“ 10 Doch ohne Denken kann keine Poesie entstehen. Einerseits kann man Literatur nicht mithilfe dieser Formel definieren, wie Tynjanov richtig formuliert, doch kann man sie andererseits nicht von Denkstilen trennen, da aus ihnen Gattungsdefinitionen und literarische Paradigmen entstanden sind. Jean-François Lyotard prägte in seinem Entwurf der „Postmoderne“ den Topos vom „Ende der großen Erzählungen“. 11 Auch wenn dieser Gedanke viel‐ fach dahingehend kritisiert wurde, dass lediglich die alten großen Erzählungen durch neue ersetzt wurden, 12 ist es meines Erachtens angesichts des heutigen Diskurses und seiner Verzweigungen plausibel, analog von einem ‚Ende der großen Theorien‘ zu sprechen. 13 Ein Problem stellt die wachsende Menge an Erklärungsmodellen und literarischen Produkten dar, die mit verursacht, dass Einleitung 17 ihre Glaubwürdigkeit verloren, welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird. Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation.“ Menschen zunehmend unterschiedliche Texte lesen und immer mehr soziale Echoräume entstehen. Daraus entwickelt sich ein Dilemma: Zu Recht fragt man sich, ob ein literarischer Kanon gerechtfertigt ist und wer die Legitimation hat, ihn zu erstellen. Andererseits kann es ohne Kanon keinen Austausch, keine sinnvolle Auseinandersetzung über die Frage nach Literatur geben, da eine gemeinsame Lektüre die Basis der Diskussion ist. Zunehmende literarische Produktion und wissenschaftliche Publikation haben möglicherweise dazu geführt, dass Diskurse vereinfacht werden. Die Diskussionen sind weniger fundiert, werden oberflächlicher und zugespitzter. Das Defizit an gemeinsamen Erfahrungen führt dazu, dass Meinungen sich stärker an einem vorgefassten Paradigma orientieren. Je weniger man die Möglichkeit hat, sich von den Dingen selber ein Urteil zu bilden, desto eher ist man in einem vorgegebenen Denkraster verhaftet. Wenn Lyotard in gewissem Sinne zu Recht vom Ende der ‚großen‘ Er‐ zählungen spricht, der Geschichtsschreibung der Feldherren und Staatsmänner, so hat sich jedoch erwiesen, dass die pluralistische Informationsgesellschaft nicht die erhoffte Diversität gebracht hat, sondern nur eine Vielfalt neuer Erzählungen, die kategorisch vertreten werden und untereinander unvereinbar sind. Doch bietet die Literatur die Möglichkeit, diese Situation zu spiegeln, mit ihren Mitteln darzustellen und im Gedankenbild zu poetisieren oder in der Fiktion zu simulieren. Zahlreiche kontingente Faktoren spielen bei der Entstehung und Rezeption von Texten eine Rolle, doch liegt ihnen immer eine zumindest informelle Ein‐ stellung von dem zugrunde, was man unter Literatur versteht. Das schöpferische Individuum steht nie isoliert von seiner Gesellschaft. Der äußere Einfluss auf das Textschaffen kann bewusst wie unbewusst erfolgen. Desgleichen verhält es sich bei Leserinnen und Lesern, ihre ästhetische Wahrnehmung des Texts ist eine Koinzidenz individuell-psychologischer wie sozial bedingter Faktoren. Die Grundgedanken der russischen Formalisten lassen sich mit denen von Fleck und Kuhn verbinden. Die Formalisten haben die Wandlungen der Lite‐ ratur in der Form sehr eingehend beschrieben. Tynjanov illustriert in dem angesprochenen Aufsatz grundlegend die Konstanz und Verschiebung einer Gattungsnorm. Dabei legt er dezidiert dar, dass der Wandel nicht stetig, sondern eher in einer „gebrochenen Linie“ abläuft. Ein strukturelles Merkmal eines literarischen Textes ist für ihn ein „literarisches Faktum“. Literarische Fakten sind variabel, sie wandeln sich, verschwinden oder tauchen neu auf. Idealtypisch kann Literatur auf der synchronen Ebene als die Gesamtheit der literarischen 18 Einleitung 14 Tynjanov: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur 1967, S. 15f. Fakten gefasst werden. Doch diese ändern sich und damit wandelt sich der Gesamtbegriff von Literatur. Meine Studie greift als heuristisches Modell den von Tynjanov gebrauchten Begriff der „gebrochenen Linie“ des Verlaufs solcher Wandlungsprozesse auf und versucht an Beispielen aus mehreren Zeitphasen jeweils konkret solche Linien auf mehreren Ebenen zu beschreiben: Die Person des Autors ist kein statisches System; es ist dynamisch wie die literarische Epoche, mit der und in der er sich bewegt. Sie gleicht nicht einem in sich geschlossenen Raum, der dieses und jenes enthält, sondern eher einer gebrochenen Linie, deren Brüche und Richtungen die literarische Epoche bestimmt [sic! ]. 14 Ein literarisches Werk ist Teil einer Linie, einerseits beruht es auf Dagewesenem, andererseits ist es etwas Neues und wirkt weiter. Das Ziel dieser Arbeit ist es, diesen Prozess der literarischen Produktion und Rezeption aus mehreren Perspektiven zu erfassen. Die Begriffe Evolution und Revolution tauchen im Diskurs um den literari‐ schen Wandel häufig auf und bedürfen einer terminologischen Klärung. Sie un‐ terliegen einer ausgeprägten Polysemantik, was häufig zu Missverständnissen bei ihrer konkreten Anwendung führt, wie die Rezeption von Kuhns wissen‐ schaftlichen Revolutionen prägnant belegt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass beide Begriffe mit einer starken Metaphorik und Symbolik behaftet sind. Vor allem im Terminus Revolution schwingen seine Ästhetisierung und Emotiona‐ lisierung mit. Er ist bis heute im kulturellen Bereich zumeist positiv besetzt im Sinne einer Erneuerung, der Ablösung des Alten und Überkommenen. Friedrich Schlegel sprach von der „ästhetischen Revolution“, in Johann Gottfried Herders Schriften taucht der Begriff häufig auf als konstituierendes Element eines historischen Wandels. Leo Trotzki formulierte in seinem programmatischen Buch Literatur und Revolution (1923) die Funktion der Literatur im totalitären Entwurf der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft. Die Verwendung dieser beiden Begriffe spielt in meinen Ausführungen eine wesentliche Rolle, denn Tynjanov und die russischen Formalisten machen die „literarische Evolution“ zu einer essenziellen Kategorie, Thomas Kuhn prononciert die „wissenschaftliche Revolution“ bereits im Titel seiner basalen Schrift. Kuhn hebt mit dem Begriff die Abgrenzung von der Vorstellung hervor, dass die Geschichte der Wissenschaft eine stetige Akkumulation von Wissen darstellt. Wenn man Evolution als einen langsamen stetigen Prozess im Ge‐ gensatz zu einem Umsturz versteht, grenzt sich der Begriff wesenhaft von dem der Revolution ab. Tynjanov gebraucht beide Begriffe nicht kontradikto‐ Einleitung 19 15 Ebd., S.-11. risch. Auch wenn die Theorie der literarischen Evolution in anderen Schriften weitergeführt wurde, fungiert der Terminus in dem hier angeführten basalen Aufsatz zur sachlichen Charakterisierung des temporären Entwicklungsablaufs. ‚Revolution‘ drückt in dem Beitrag eine Art und Weise innerhalb dieses Prozesses aus. Deutlich wird dies, wenn Tynjanow schreibt, dass „manch alternde[r] Zeitgenosse […] mehr als eine literarische Revolution überlebt hat“. 15 Meine Studie fragt nach Strukturen literarischer Evolution im sachlichen Sinn. Die Literaturhistorie legt den Eindruck nahe, dass es sowohl Tendenzen des Umsturzes wie die zahlreichen Avantgarden, aber auch auf Bewahrung bei gleichzeitiger Weiterentwicklung beruhende Prinzipien gab. Es gab intendierte programmatische Entwicklungen in der Literatur wie auch unbewusste, an zeitbedingte Faktoren gekoppelte Reaktionen im literarischen Feld. In diesem Spannungsfeld, einem Kontinuum aus Zufall und Notwendigkeit lassen sich typische, wiederkehrende Strukturen und Linien erkennen, die strukturelle Elemente literarischer Entwicklung aufzeigen. Es stellt sich die Frage, ob man von einem Fortschritt in der Literatur sprechen kann und wie man diesen definiert. In dieser Hinsicht können die wissen‐ schaftsbzw. denktheoretischen Ansätze von Fleck und Kuhn Perspektiven eröffnen, da sie auf die Frage nach Literatur und Wissen projizierbar sind. Gesellschaftlicher kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt wird seit dem Ende des Mittelalters mit Bildung und damit auch Lesefähigkeit assoziiert. Welche Implikationen bringt das für die Literatur mit sich? Stellt Literatur eine Wiederkehr des Gleichen dar oder entwickelt sie sich stetig weiter? Hierin zeigt sich eine signifikante Mehrdeutigkeit. Einerseits ergibt sich Literatur immer aus dem, was schon geschrieben ist. Autorinnen und Autoren sind durch ihre Lektüren so beeinflusst, dass sie eine Vorbildung haben, aus der eine Intertextualität resultiert, die mittelbar auf allem, was je an Literatur geschrieben wurde, beruhen muss. Weiterhin gibt es gewisse Schreibstile oder formale Regeln, die konstant sind und sich von Zeit zu Zeit nur in ihrer Akzentuierung ändern. Und schließlich existiert eine Vorstellung des Neuen, der Innovation, die mit Literatur verbunden ist. Wie definiert man dies, ist es eine subjektive Größe, kann es nichts wirklich Neues geben, ist das Neue eine Kombination und Kompilation von schon Dagewesenem in einer noch nicht vorgekommenen Zusammenstellung? Die Frage nach dem Neuen betrifft auch die Frage nach der literarischen Wertung, so konnten sich nach Auflösung starrer Regeln und Unterteilungen wie der Hoch- und der Trivialliteratur neue Formen herausbilden. Die ästhetische wie die historische Komponente spielen 20 Einleitung hier eine Rolle. Z. B. die sogenannte Epigonenliteratur des 19. Jahrhunderts wurde zu ihrer Zeit als Vollendung einer Form gelobt, heute wird sie als Kopie und Rückschritt kritisiert. Ich möchte mich all diesen Fragen in ausgewählten Analysen von charakteristi‐ schen Texten bestimmter historischer Phasen annähern. Es ist der Versuch, eine Linie zu ziehen, die sich mit den von Kuhn und Fleck geschilderten Prozessen des Denkstilwandels und Paradigmenwechsels assoziieren lässt. Texte sollen mit Epochen in Verbindung gebracht werden. Sie sollen jedoch nicht auf gängige Epochenbegriffe fixiert werden. Es soll ausdifferenziert werden, wie sie einer‐ seits in Denkstilen und Paradigmen ihrer Gegenwart verankert sind, und wie sie andererseits etwas Individuelles oder Neues aufweisen. Diese Prozesse sind von vielen zufälligen Faktoren mitbestimmt und verlaufen zu unterschiedlich, um sinnvoll in eine strukturelle Gesetzmäßigkeit gefasst zu werden. Dennoch finden sich gewisse Konstanten und signifikante Kontingenzrahmen, die sich beschreiben lassen. In jeder der Analysen wird versucht, ein Zusammenwirken von individuellen Faktoren und strukturellen Bedingungen von Literatur in einer Zeit zu erfassen. Meine Abhandlung stellt exemplarisch Untersuchungen von Autoren, Texten, Epochenbzw. Gattungsparadigmen, Denkrichtungen und ihrer Zu‐ sammenhänge vor, die einen Zeitraum vom frühen 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart umfassen. Dabei sollen auf mehreren Ebenen konstituierende Ele‐ mente einer Evolution in der Literatur typologisch entwickelt werden. Lineare Strukturen solcher Wandlungsprozesse können sich in einer literarischen Ge‐ meinschaft öffentlich im Diskurs vollziehen, aber auch in einzelnen Texten und ihrer Entstehungsgeschichte sowie Rezeption lassen sich Signale erkennen, die sie markieren. Die Beobachtungen werden in Referenz zu den Grundgedanken von Fleck und Kuhn gesetzt, indem zu ihnen signifikant affine Momente und Entwicklungslinien im Hinblick auf Genese, Inhalt oder Rezeption exemplarisch dargelegt werden. Die erste Textuntersuchung widmet sich Theobald Hock, einem weitgehend unbekannten Schriftsteller des Frühbarocks. In seiner Lieder- und Gedicht‐ sammlung Schönes Blumenfeld (1601) zeigen sich in literarischer Ausführung wesentliche Momente eines markanten kollektiven Denkstilwandels bzw. Pa‐ radigmenwechsels. In den Texten fließen Kritik am Überkommenen und For‐ derungen nach Erneuerung mit der Adaption überlieferter Muster wie des Petrarkismus und Gedanken des Humanismus zusammen. Zugleich stellt Hock mit seinen Texten ein poetisches Prinzip in deutscher Sprache vor. Er positio‐ niert sich explizit für die deutsche Sprache als Literatursprache und entwickelt Einleitung 21 durch die Ausführung bereits vor Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) mögliche formale literarische Paradigmen. Das darauf folgende Kapitel widmet sich Johann Gottfried Herder. Sein Leben fällt in eine Zeit manifester politischer, sozialer und kultureller Wandlungspro‐ zesse. Herder hat diese Umbrüche selbst wahrgenommen und thematisiert. Der Entwurf seiner Geschichtsphilosophie weist in der Formulierung von Struk‐ turen des historischen Wandels einige Affinitäten zu den Ideen von Thomas Kuhn auf. Indem er die räumliche und zeitliche Bedingtheit von Literatur unter diesen Prämissen postuliert, bettet er sie in den allgemeinen Geschichtsprozess ein. Herder hat sich ebenso intensiv mit der Wissenschaftsgeschichte beschäf‐ tigt. Die Frage nach der Subjektivität wissenschaftlicher Tatsachen taucht bei ihm häufiger auf, denn er stellt für seine Zeit heraus, dass es zahlreiche Phänomene gebe, die noch nicht naturwissenschaftlich erklärt werden können und daher transzendenten Deutungsmustern unterliegen. Für Herders diesbe‐ zügliche Gedanken ist seine Rezeption des Philosophen Baruch de Spinoza signifikant. Daran lässt sich Herders Denken im Spannungsfeld zwischen Altem und Neuen, Gefühl und Vernunft, Theologie und Naturwissenschaft, Idealismus und Empirismus vermessen. Karl Marx und die sich auf seine Ideen berufenden unter dem Sammelbegriff „Marxismus“ firmierenden sehr disparaten Denkstile haben trotz aller politi‐ schen Umbrüche und Wandel bis heute Präsenz im literarischen Diskurs. Die Betrachtung skizziert ausgehend von Karl Marx’ Literaturverständnis Wand‐ lungsprozesse vor dem Hintergrund der sozialistischen und kommunistischen Auslegungen seiner Programme. Der totalitäre Gesellschaftsentwurf muss ein Verständnis von Literatur implizieren und ordnet ihr eine Funktion im Zuge der teleologischen Vorstellung von der Etablierung einer klassenlosen Gesellschaft zu. Normative Paradigmensysteme wie der sozialistische Realismus zeigen auf, wie sich die Auslegung von Marx in poetologischen Formeln niederschlägt. Dabei sind jedoch sehr unterschiedliche literarische Formen entstanden. Aktu‐ elle literarische Strömungen wie der Postmarxismus berufen sich zwar auf Marx, doch hinterfragen sie statische gesellschaftliche und literarische Normen. Das Kapitel stellt die literarische Evolution unter der Prämisse des Marxismus als Wandel eines Denkstils und fundamentaler Paradigmenwechsel dar, in denen dennoch ein konstanter Kern und eine bestimmte traditionelle Überlieferung enthalten sind. Die im Sinne Tynjanovs „gebrochenen Linien“ dieser Entwick‐ lungen zeigen auf, wie diffizil solche Prozesse ablaufen. Das literarische Verständnis der Studentenbewegung von 1968 steht in Korrespondenz zu Karl Marx, da sie in dem diffusen Feld des unter ‚links‘ subsumierten politischen Spektrums verortet wird. Das Kapitel greift das in 22 Einleitung diesem Kontext bedeutsame Phänomen auf, dass Klassiker jeweils nach den literarischen Paradigmen ihrer Zeit neu gedeutet werden. Die markanten Zeugnisse der Rezeption und Adaption von Heinrich von Kleist und Georg Büchner stellen dies exemplarisch dar. Vor allem ist es bemerkenswert, dass bei den Literaten der 1968er selbst ein Paradigmenwechsel stattfand, der sich auch in Projektionen auf Klassiker vollzog. Der Terminus „Postmoderne“ beschreibt keine Denkrichtung als Entität, sondern ist vielmehr als Sammelbegriff für eine Kohärenz aus teilweise sehr unterschiedlichen Ideen und Strömungen zu verstehen. Auch wenn seine Definition umstritten und diffus ist, assoziiert er tiefgehende Wandlungspro‐ zesse in der Literatur wie etwa die Auflösung bestimmter Gattungsnormen und die Etablierung von Elementen der Unterhaltungsliteratur in Texten mit literarischem Anspruch. Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (1980) gilt hier als stilbildend und paradigmatisch. Ausgehend von diesem Text werden einige Entwicklungslinien bis in die heutige Gegenwart skizziert. Die letzte Untersuchung betrachtet literarische Diskurse unserer Gegenwart im Hinblick auf literarische Evolution. Drei Themenbereiche werden aufge‐ griffen. Seit Jahren spielt der Coming-of-Age-Roman in der deutschen Literatur eine maßgebliche Rolle. Anhand von Wolfgang Herrndorfs Romanerfolg Tschick (2010) soll aufgezeigt werden, wie ein Gattungsparadigma und Romanvorbilder einfließen und zugleich etwas Neues entsteht, das wiederum weiterwirkt. Einige Betrachtungen zum Thema „Fotografie und Literatur“ beleuchten den Bereich der Intermedialität und strukturelle Entwicklungen im Zusammenspiel von Literatur und anderen Medien. Die Diskussion um „Identität“ ist derzeit dominierend im Literaturbetrieb. Am Beispiel zweier Romane der Gegenwart (Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung und Raphaela Edelbauer Das flüssige Land), die den Heimatbegriff akzentuieren, wird untersucht, wie ein mit Ste‐ reotypen behaftetes Gattungsparadigma neu definiert und bewertet wird, aber einige Grundmerkmale dennoch erhalten bleiben. Einleitung 23 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze Die unter dem Begriff des literarischen Wandels oder Paradigmenwechsels zusammengefassten Aspekte und Beziehungen sind Teil eines übergeordneten allgemeinen Diskurses über Denken, Wissen und Erkenntnis. Die Frage nach dem Werden, Wandel und Vergehen von Ideen schwingt zwar in allen wirkungs‐ reichen philosophischen und soziologischen Lehren und Theorien mit, doch Untersuchungen, die auf dieses Problem in seinem Wesen allgemein und nicht in einem speziellen Fachkontext Bezug nehmen, sind relativ selten. Der Grund dafür liegt in dem genuin transdisziplinären Charakter der Materie, die in ihren anthropologischen Implikationen grundlegend Wissen und Erkenntnis und damit alle Wissenschaften betrifft, seien es empirische oder verstehende Disziplinen. Die wissenschaftstheoretischen Ansätze von Fleck und Kuhn, die beide von Haus aus Naturwissenschaftler waren, haben solche Phänomene ins Zentrum ihrer Ausführungen gestellt und bieten sich als methodische Grundlage für Untersuchungsmodelle literarischer Fragen an. Ludwik Fleck versucht, kollektiv gültige Ideen bzw. Denksysteme zu erfassen, die das Handeln der Mitglieder einer Gemeinschaft maßgeblich mitbestimmen. Thomas Kuhns Thesen postulieren einen durch revolutionäre Umwälzungen bestimmten Ent‐ wicklungsprozess in der Wissenschaft, der das in der Wissenschaftsgeschichts‐ schreibung verbreitete Narrativ des linearen Fortschritts durch Wissensakku‐ mulation kritisch hinterfragt. Fleck entwickelt und systematisiert grundlegend die wissenssoziologischen Kategorien des Denkstils und des Denkkollektivs. Kuhns Arbeiten bilden eine Weiterführung von Flecks Theoremen, indem sie dessen Ideen und Kategorien aufgreifen, begrifflich modifizieren, um daraus die zu stehenden Wendungen gewordenen Begriffe vom „Paradigmenwechsel“ und der „wissenschaftlichen Revolution“ abzuleiten. Kuhn fokussiert auf die Frage nach der Etablierung und Ablösung solcher Denkmuster, er nennt sie Paradigmen. Fleck diskutiert deren Wandel nicht in solch exponierter und systematisierter Weise. In dieser Frage deutet sich eine wesentliche Differenz zwischen den beiden Ansätzen an. Während Fleck einen im Ganzen eher evolutionären schrittweisen Wandel durch „Denkstilmutati‐ 16 Vgl. z. B. Fleck: Entstehung und Entwicklung 1980, S. 122: „Jede empirische Entdeckung kann also als Denkstilergänzung, Denkstilentwicklung oder Denkstilumwandlung aufge‐ faßt werden.“ Kursivierung im Original. 17 Ein instruktiver Abriss über Flecks Leben findet sich in der Einleitung der Neu‐ ausgabe von Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Lothar Schäfer / Thomas Schnelle: Einleitung. In: Fleck: Entstehung und Entwicklung 1980, S.-X-XVII. onen“ postuliert, 16 sieht Kuhn strukturell Revolutionen vergleichbare Prozesse am Wirken. I.1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache 1935 veröffentlichte der Immunologe Ludwik Fleck seine Schrift Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Das Werk hat seitdem eine wechselvolle Rezeption nach sich gezogen, die zum Teil bedingt ist durch Flecks Biographie. 17 Fleck wurde 1896 im galizischen Lemberg (damals Österreich-Un‐ garn, heute Ukraine) geboren und entstammte einer jüdisch-polnischen Familie. Er studierte Medizin und spezialisierte sich auf Serologie und Bakteriologie. Nachdem Lemberg 1941 in die Hände der Deutschen geriet, musste Fleck im jüdischen Getto der Stadt leben, wo er seine Forschungen fortsetzte und an einem Impfstoff gegen Typhus arbeitete. Die SS wurde auf ihn aufmerksam, verhaftete und deportierte ihn und seine engere Familie. Er musste in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald an der Herstellung eines Typhusimpfstoffs arbeiten, konnte jedoch die Arbeit geschickt sabotieren. Nach der Befreiung Buchenwalds kehrte er zunächst nach Polen zurück und lehrte als Mediziner an mehreren Universitäten, 1956 wanderte er, gesundheitlich bereits stark angeschlagen, nach Israel aus, wo er 1961 verstarb. Flecks Theorie basiert auf den Erfahrungen seiner medizinischen Arbeit und stellt die theoretische Reflexion seiner eigenen Forschungen dar. In Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache fasst er seine Beobachtungen und Schlüsse zusammen und entwickelt ein komplexes Modell seiner Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Neben dieser Monographie von 1935 hat Fleck bereits vorher einige seiner Thesen in zahlreichen kleineren Schriften dargelegt, verteidigt, konkretisiert und auf andere Felder übertragen sowie auf kritische Reaktionen geantwortet. Die Herausgebenden der Neuausgaben seiner Werke heben hervor, dass Flecks innovative Entwürfe zu Lebzeiten des Autors keine große Rezeption erfahren haben. Dies sei zu einem signifikanten Teil auf äußere 26 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 18 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S. 8. Vgl. Sylwia Werner / Claus Zittel: Einleitung: Denkstile und Tatsachen. In: Ludwik Fleck: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hrsg. von Sylwia Werner und Claus Zittel unter Mitarbeit von Frank Stahnisch. 2. Aufl. Berlin 2014 (Erstauflage 2011), S. 9-38, hier S. 9-16. Die Herausgebenden skizzieren die Rezeptionsgeschichte von Flecks Theorie und stellen Publikationen, Forschungsprojekte und Initiativen vor, die zeigen, dass Flecks Theorie im heutigen Wissenschaftsbetrieb eine maßgebliche Rolle spielt. Umstände zurückzuführen: Flecks Wirkungsstätte Lemberg lag fernab von den Zentren des Wissenschaftsbetriebs, die politischen Verhältnisse lähmten den wissenschaftlichen Diskurs und Fleck wurde zum Opfer des NS-Terrors. Seit den 1980er Jahren bis heute erlebt die Rezeption Flecks eine zunehmende Renaissance im Wissenschaftsbetrieb. Dies ist eine unmittelbare Folge der großen Wirkung der Schriften Thomas Kuhns, der Fleck explizit im Vorwort seines Buches Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen als maßgebliche Inspiration anführt. 18 Die relativ geringe Wirkung Flecks ist jedoch nicht allein durch äußere und zeitimmanente Widrigkeiten begründet. Die Thesen sind schwer zugänglich, vor allem das Hauptwerk stellt Leserinnen und Leser durch seine Terminologie vor Probleme. Dies ist meiner Meinung nach dadurch bedingt, dass Fleck in der Gesamtdarstellung in Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, die seine Beobachtungen in eine zusammenhängende Struktur fassen will, bisweilen Unübersichtlichkeit erzeugt. In der auf das Gesamtkonzept ausgerichteten Perspektive kommt häufig die Fokussierung und präzise Erläute‐ rung eines einzelnen Gesichtspunkts zu kurz. Viele Aspekte lassen sich anhand einiger kleinerer Texte Flecks schlüssiger erläutern, da manches Moment, in diesen für sich isoliert, konkreter und verständlicher zum Ausdruck kommt. Die folgende Darstellung von Flecks Theorie wird dies im Kontext darlegen und in Einzelaspekten einige seiner Aufsätze und Vorträge heranziehen. Seine Un‐ tersuchungen sind zwar auf die Naturwissenschaften bezogen, doch inkludiert sein Wissenschaftsbegriff in der Abkehr vom reinen Empirismus mitredend Geisteswissenschaften. Doch da beide Wissenschaftstypen andere Denkstile pflegen, entsteht das Paradox, dass sich Flecks Theorie in manchen inneren Widersprüchen auf einer anderen Begriffsebene zugleich bestätigt. Flecks schon im Titel der Monographie mitschwingender Grundgedanke besagt, überspitzt ausgedrückt, dass eine naturwissenschaftliche Tatsache keine Objektivität besitzt, sondern eine einer kollektiven Denkart entspringende intersubjektive Konstruktion darstellt. Er berührt damit grundsätzliche Fragen der Philosophie im Hinblick auf die Existenz von Wirklichkeit und die Möglich‐ keit ihrer Konstitution durch sinnliche Wahrnehmung. In seinem bereits 1929 I.1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache 27 19 Fleck: Denkstile und Tatsachen 2014, S.-41. 20 Ebd., S.-52. veröffentlichten Aufsatz Zur Krise der Wirklichkeit formuliert er seine Zweifel am empiristisch begründeten Wirklichkeitsbegriff. Mit dieser Grundannahme stellte sich Fleck gegen die seinerzeit einflussreichen Auffassungen des vor allem durch den Wiener Kreis repräsentierten logischen Empirismus. Flecks Thesen sind vor allem in ihrer praktischen Dimension innovativ, weil sie die im Wissenschaftsbetrieb allgemein akzeptierte systematische Trennung zwischen empirischen Naturwissenschaften und geisteswissenschaftlicher Metaphysik kritisch hinterfragen und auflösen, indem sie prononcieren, dass ersteren eine phänomenologische Komponente inhärent ist. Es ist offensichtlich, dass Flecks Prämissen grundsätzliche polarisierende Standpunkte des philosophischen Diskurses berühren wie die Wirklichkeits‐ frage oder den Nominalismusstreit. Er vertritt ontologische Positionen, die anderen Denkrichtungen diametral gegenüberstehen, was auf einer Metaebene seinen Ausführungen jedoch Plausibilität verleiht. Unabhängig davon, ob man seine Grundprämissen teilt, hat sein Ansatz unter mehreren Aspekten einen hohen epistemischen Wert, wenn man ihn operativ als Modell oder Analogie begreift und heuristisch anwendet. Fleck als Naturwissenschaftler nähert sich dem Gegenstand aus der Perspek‐ tive eines Empirikers und Praktikers, der seine eigenen Methoden hinterfragt. Dies formuliert er bereits 1927 in einem Vortrag Über einige spezifische Merkmale des ärztlichen Denkens: Ich bitte Sie, sich nur bewußt zu machen, wie gesondert, wie anders der Naturwis‐ senschaftler im Vergleich mit dem Geisteswissenschaftler denkt, selbst wenn der Gegenstand im Grundsatz derselbe ist: wie anders, in einem anderen Stil, ohne Möglichkeit, sie unmittelbar zu verbinden, sieht z. B. die Psychologie aus, wenn man sie entweder als Natur- oder als philosophische Wissenschaft betrachtet. 19 Für Fleck sind die empirische Wahrnehmung und die Herausbildung von Wissen immer mit den jeweiligen sozialen und kulturellen Bedingungen des Umfelds, in dem dieser Erkenntnisprozess stattfindet, verbunden und dadurch mitbestimmt. Er legt dar, dass „unsere Kenntnisse viel mehr aus dem Erlernten als aus dem Erkannten bestehen“. 20 Kritik erfuhr er dafür vor allem von Vertretern des Neopositivismus, die ihm vorhielten, dass er die Existenz einer Wirklich‐ keit anzweifelt. Doch ist Flecks Theorie niemals derart intendiert, dass sie durch Intersubjektivität bestätigte Fakten anzweifelt, vielmehr relativiert er den Begriff der Tatsache im Hinblick auf subjektive Implikationen, die sich 28 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 21 Fleck: Entstehung und Entwicklung 1980, S.-130. Kursivierung im Original. auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren können. So lässt sich aus seiner Theorie unabhängig von der Akzeptanz gewisser Annahmen ein heuristisches Modell bilden, dass zwischen Empirismus und Konstruktivismus moderiert und die objektiven und subjektiven Aspekte einer Tatsache typologisch erfasst und Analogien bilden kann. Auf der Basis seiner Auffassungen zur Konstitution von Wirklichkeit entwirft er in der Monographie ein wissenschaftstheoretisches und -historisches System. Schlüsselbegriffe und Ausgangspunkte seines Theoriemodells sind zwei Kate‐ gorien: Denkstil und Denkkollektiv. Flecks Grundprämisse ist, dass Denken nie als rein individuell zu begreifen ist, jegliches Denken des Menschen ist von seiner sozialen Umgebung geprägt. Ein Denkstil wäre konkret, vereinfacht gesagt, ein in gewissen Eigenschaften gemeinsames, kollektives Denken. Dessen potentielle Inhalte bilden ein sehr inhomogenes Feld, das z. B. Wertvorstel‐ lungen, soziale Vorgaben, politische Ansichten, Weltanschauungen, ästhetische Muster enthalten und kombinieren kann. Bezieht man diese Termini auf die Literatur, ist schon die Vorstellung, was Literatur überhaupt ist, Teil eines Denkstils. Wenn beispielsweise eine Autorin einen Roman schreibt, schwingt eine kollektive Vorstellung von dem, was ein Roman ist, mit. Fleck bezieht seine Ausführungen auf einen naturwissenschaftlichen Gegenstand, die Geschichte und Erforschung der Syphilis. Er definiert seine Begrifflichkeiten nicht a priori, sondern entwickelt sie jeweils aus dem von ihm gewählten Beispiel. Die Definition der beiden Kategorien stellt zugleich eines der Hauptprobleme in seiner Theorie dar, weil schon der Ausgangsbegriff Denkstil verschiedene Assoziationen erweckt und auf unterschiedlichen Ebenen begriffen werden kann: Sind die eingeführten Kategorien als Wesenheiten oder Entitäten zu verstehen? Flecks Vorgehensweise ist dadurch gekennzeichnet, dass er diese Frage zunächst ungeklärt lässt und seine Ausführungen einen Erkenntnisprozess zur Formulierung des Begriffs abbilden. Er entwickelt in seinem Buch erst relativ spät eine systematische Definition, doch führt er den Terminus Denkstil grob umrissen am Anfang ein. Dies entspricht seiner Argumentationslinie, dass er seine Thesen an Beispielen entwickelt und die Definitionen seine Schlüsse sind. Dadurch entsteht eine gewisse Begriffsunklarheit, die jedoch bei differen‐ zierter und relativierender Betrachtung aufgelöst werden kann. Fleck definiert Denkstil als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“. 21 Diese Beschreibung gibt dem Begriff eine passive Dimension, indem sie das Denken auf den Aspekt des I.1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache 29 Wahrnehmens richtet. Erst unter dieser Prämisse ist eine Übertragung der Theorie auf den Bereich der Literatur sinnvoll. Literarische Denkstile sind nicht an objektive Wirklichkeiten gekoppelt, ihre Akzeptanz ist subjektiv. Dennoch ist die Erkenntnis einer wissenschaftlichen Tatsache psychologisch mit der Anerkennung eines literarischen Paradigmas vergleichbar. Bestimmte Werke oder Autoren werden kollektiv in einer solchen Weise ohne Widerspruch als Literatur anerkannt, dass dies auf der Wahrnehmungsebene mit der Akzeptanz einer unumstößlichen Tatsache vergleichbar ist. Ein Leser eines Buches nimmt dieses mit einer bestimmten sozial bedingten Vorstellung von Literatur wahr, diese beeinflusst unterbewusst sein ästhetisches Empfinden. Seine individuellen Gedanken und Erwartungen bilden sich als Konglomerat unterschiedlichster Faktoren. Persönliche Wertvorstellungen orientieren sich häufig an vorgege‐ benen Rastern, haben ihren Ursprung nicht allein in der individuellen Sphäre. Manche Grundannahme von Flecks Theorie bedarf weiterer Differenzierung, vor allem die Annahme gemeinschaftlichen Denkens. Auf der empirischen, physiologischen Ebene ist Denken ausschließlich als ein individueller Akt be‐ schreibbar. Kollektives Denken hingegen ist eine abstrakte Größe. Menschliches Denken in gemeinsamen Eigenschaften wie Denkmustern oder Ideen ist nur abstrahierend typologisch beschreibbar. Flecks Arbeit lässt sich als eine Theorie der Theorie verstehen, die das ‚Bild im Bild‘ (‚mise en abyme‘) evoziert, weil sie zum Gegenstand ihrer selbst wird. Sie ist autoreferentiell, denn aus der Logik der Ausführungen ergibt sich, dass die Beschreibung des Denkstils selbst von einem Denkstil beeinflusst sein muss. Flecks Theorie ist geprägt von einem allgemein gültigen naturwissenschaftlichen Forschungsverständnis, dessen Grundethos seit der Aufklärung auf Empirismus und Objektivität basiert. Seine eigene Theorie impliziert die Relativität, die er der Wissenschaft grundsätzlich unterstellt. Fleck selbst hat sich konsequenterweise gegen Hypostasierung und Substanzialisie‐ rung seiner Kategorien positioniert. Denkstil und Denkkollektiv müssen als Abstraktion bzw. Idealtyp und nicht als Entität bzw. Realtyp begriffen werden. Im Verlauf des Texts ist Flecks Terminologie bisweilen jedoch unpräzise, was die eindeutige Trennung von Entitäten und Wesenheiten betrifft. Dies erschwert das Verständnis seiner Gedanken. Am Beispiel der zentralen Kategorie des Denkkollektivs lässt sich dies veranschaulichen. In dem Kapitel Einführende Bemerkungen über das Denkkollektiv heißt es: Definieren wir ‚Denkkollektiv‘ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaus‐ tausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger 30 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 22 Ebd., S.-54f. Kursivierung im Original. 23 Ebd., S.-135. 24 Ebd. geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles. 22 Genau gelesen lässt sich diese Aussage Flecks als vorläufig gemeinte Definition erkennen. Doch erweckt sie den Eindruck, dass ein Denkkollektiv im empiri‐ schen Sinn als Personengruppe gefasst werden kann. Das Denkkollektiv beschreibt Fleck in der späteren Definition als „[d]en ge‐ meinschaftlichen Träger des Denkstils“ 23 . Er verweist nun ausdrücklich darauf, dass es sich beim Denkkollektiv, auch wenn es als Entität der sozialen Bedingt‐ heit des Denkens gesehen wird, nicht um eine fest umreißbare Personengruppe oder Gesellschaftsklasse handele. „Es ist sozusagen mehr funktioneller als sub‐ stanzieller Begriff, dem Kraftfeldbegriffe der Physik z. B. vergleichbar.“ 24 Diese Kategorie erinnert an die soziale Beziehung in Max Webers Terminologie des sozialen Handelns. Der Denkstil lässt sich als soziales Denken klassifizieren, er bestimmt den Zusammenhang individuellen Denkens bzw. eines individuellen Denkakts mit dem Denken anderer. Das Denkkollektiv ist die soziale Beziehung, es ist die Abstraktion, die gemeinsame Elemente dieser individuellen Denkakte bzw. -zustände typologisch fasst. Die von Fleck eingeführte Kategorie des Denk‐ stils impliziert lediglich die Annahme einer typologischen Beschreibbarkeit des Denkens einer oder mehrerer Personen und nicht die Bildung einer sozialen Gruppe. Flecks Ausführungen mögen auf den ersten Blick nicht für eine geisteswis‐ senschaftlich orientierte Untersuchung geeignet sein, doch das Gegenteil ist der Fall. Sein Ansatz ermöglicht die Reduktion auf wesentliche Elemente wis‐ senschaftlicher Arbeit, die alle Disziplinen tangieren. Die von ihm entwickelten Kategorien und die daraus ableitbaren Analogien bilden ein heuristisches Modell für eine systematische Betrachtung kollektiven Denkens. Ein Naturwissenschaftler unterliegt psychischen oder ethischen Disposi‐ tionen, wie auch ein Geisteswissenschaftler in seiner Arbeit empirische Ver‐ fahren nicht völlig ignorieren darf. Der von Fleck ausgewählte konkrete Gegenstand, die Syphilis, ist exemplarisch, da diese sexuell übertragbare Infek‐ tionskrankheit einerseits ein Naturphänomen darstellt, andererseits als Sinnbild mythisch verklärt wird und in der Literatur eine tropische Rolle einnimmt, z. B. in Thomas Manns Dr. Faustus. Fleck beobachtet und führt sehr hellsichtig aus, wie diese beiden Deutungssphären sich gegenseitig beeinflussen. Der Mediziner, der sich mit Syphilis beschäftigt, kann von den Mythen entsprechend I.1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache 31 beeinflusst sein, seine Arbeit ist davon mitbestimmt und er verrichtet diese daher mit einer anderen Motivation, als wenn er sich z. B. der Grippe widmen würde. Auch wenn er dies nicht expliziert, hat Fleck die Syphilis als Exempel für seine Darlegungen wohl auch unter dieser Prämisse gesehen. Aus seinen Schilderungen wird ersichtlich, wie Wertvorstellungen und Legenden das Bild von dieser Krankheit und damit auch die Entstehung von Tatsachen beeinflusst haben. Fleck pointiert seine Ausführungen, indem er einer „Tatsache“ nicht unbe‐ schränkte Faktizität verleiht, sondern auch sie als denkstilgebunden klassifiziert. Dass Forschungstätigkeit und -ziel zahlreichen individualpsychologisch und sozial bedingten Faktoren unterliegen, ist nachvollziehbar, doch die Realität von Tatsachen als solches in Frage zu stellen, ist weniger evident. Aber auch dieses Moment lässt sich erklären, wenn man die eigentliche Tatsache von der angenommenen Tatsache unterscheidet. Fleck zweifelt das Faktische nicht an, sein Modell akzentuiert weniger die Tatsache als solches, sondern stellt ihre Wahrnehmung, den Weg ihrer Ermittlung und ihre subjektive Akzeptanz in den Mittelpunkt. Dabei ist es zunächst einmal unerheblich, ob sie real ist. Fleck zeigt, dass es auch angenommene Tatsachen gibt, die nicht der Wirklichkeit entspre‐ chen, aber als solche gelten. Dieser Aspekt ist in Bereichen wie der Literatur schlüssiger, gibt es doch hier Vorgaben, wie Literatur zu sein hat, manche Norm wird einer Tatsache gleich wahrgenommen. In unserem literarischen Denkstil gilt Goethe als der Klassiker schlechthin, selbst Kritiker seiner Person oder seiner Schriften akzeptieren dieses als Faktum. Im literarischen Feld werden solche ‚Tatsachen‘ gewissermaßen durch Denkkollektive geschaffen. Denkkollektive lassen sich nicht exakt umreißen und beschreiben. Es gibt übergeordnete Denkstile; Untergruppen, Personen können sozial an mehreren und in unterschiedlicher Ausprägung partizipieren, die Beschreibung und Formulierung erfasst oft divergente Ebenen. Am Beispiel der Übertragung auf literarische Phänomene lässt sich dies illustrieren, dabei zeigt sich, wie hilfreich die Kategorien Flecks für die Deutung und Einordnung literarischer Texte sein können. Eine Tatsache als solches ist noch keine Tatsache, erst in der Wahrnehmung des Menschen wird sie dazu. Es mag viele Tatsachen geben, die noch nicht be‐ kannt sind, aber sie werden nicht als solche wahrgenommen. Solche Tatsachen spielen in Flecks Ausführungen keine Rolle, denn er entwickelt keine Lehre der Tatsache an sich, sondern eine der Bewusstwerdung von Tatsachen, und stellt fest, dass ihrer Wahrnehmung und Ermittlung Auswahlprozesse zugrunde liegen und dass es Tatsachen geben kann, die zwar als solche wahrgenommen werden, aber eventuell z. B. durch neuere Forschungen auch wieder revidiert 32 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze werden können. Fleck stellt naturwissenschaftliche Tatsachen nicht in Frage, er weist lediglich auf ihre Relativität hin. Die Kritik an Flecks Theorie ist meines Erachtens zu einem großen Teil in einem Missverständnis seiner Auffassungen begründet, z. T. auch in einer unklaren und bisweilen mehrdeutigen Verwendung bestimmter Kernbegriffe zu sehen. Fleck verwendet in der Studie Begriffe, bevor er sie systematisch definiert, zugleich bleiben einige Begriffe völlig unerklärt. Da die basalen Kategorien bereits abstrakt sind, erscheinen die von ihnen abgeleiteten Kategorien in beson‐ derem Maße problematisch. So bleibt beispielsweise die im Grunde schlüssige Unterscheidung in aktive und passive Koppelungen unscharf. Unter passiven Koppelungen (an einen Denkstil) sind die allgemein anerkannten Tatsachen zu verstehen, während aktive Koppelungen neue Gedanken bezeichnen, die sich aber in irgendeiner Weise an dem Denkstil orientieren. Doch diese Zuordnung ist bereits zu konkret, grundsätzlich kann man von einer aktiven und einer passiven Komponente eines Denkstils sprechen, wie sie sich in der Literatur im Verhältnis Autor-Leser zeigt. Dass es hier auch Zwischenformen gibt und dialektische Prozesse, zeigt sich in der Existenz von Literaturwissenschaft, Literaturkritik und vielem mehr. Die von Fleck gezogene Grenze zwischen esoterischem (innerem) und exoterischem (äußerem) Kreis eines Denkkollektivs ist die abstrakte Typisierung einer abstrakten Kategorie. Diese Schwierigkeiten sind vermutlich auch der Grund, warum die Heraus‐ geber der Neuausgabe dem eigentlichen Text Flecks eine umfangreiche Einlei‐ tung vorangestellt haben, die neben der Biographie eine Zusammenfassung der Theorie umfasst. Die relativ spät im Text erscheinende systematische Definition der Schlüsselbegriffe, die viele Missverständnisse klärt, begründet sich aber auch in der Schwierigkeit der Materie. Flecks Theorie ist auf unterschiedlichen Denk- und Begriffsebenen wirksam, die jeweils unterschiedliche Qualitäten haben. In dem Text wird nicht explizit dargelegt, dass „Tatsache“ zwei grundsätzlich verschiedene Komponenten beschreibt. Auf der einen Ebene haben wir die eigentliche Tatsache, auf der anderen das, was als Tatsache angesehen wird. Fleck verweist zu Recht darauf, dass Tatsache ein relativer Begriff ist. Vertreter des Positivismus und Empirismus haben seine Ausführungen dahingehend kritisiert, dass er die Existenz naturwissenschaftlicher Tatsachen prinzipiell abstreite. Dies tut Fleck allerdings nicht, in seiner Terminologie ist die Tatsache vielmehr als kollektive subjektive Vorstellung zu verstehen, die in einem sozialen Kontext entsteht. Die Anwendung von Flecks Theorie führt aber nicht in eine Beliebigkeit, die grundsätzlich die Existenz einer Tatsache anzweifelt und einen radikalen Konstruktivismus vertritt. Vielmehr ist sein Verweis für die wissenschaftliche Arbeit essentiell, wenn man das eigentlich Faktische von der I.1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache 33 Gültigkeit einer Tatsache typologisch differenziert. Er weist zu Recht daraufhin, dass nicht alle als Tatsachen geltenden Sachverhalte auch wirklich solche sind, denn eine Tatsache entsteht auch in der Wahrnehmung. Die Existenz Gottes wurde von gewissen Denkkollektiven als unbestreitbare Tatsache ange‐ nommen. Für den einzelnen Teilhabenden an diesem Denkkollektiv hat dieser Sachverhalt die gleiche Gültigkeit wie ein naturwissenschaftlich bewiesenes Faktum oder eine Formel, da er im Rahmen der sozialen Intersubjektivität und menschlichen Wahrnehmung als real gilt. Die große erkenntnisfördernde Bedeutung von Flecks Theorie liegt darin, dass sie stichhaltig darauf verweist, dass die Grenze zwischen Glauben und Fakten fließend ist und subjektiven Faktoren unterliegt. Dass sie nicht auf allen Bezugsebenen systematisierbar sind, heißt nicht, dass Flecks Ansätze falsch sind. Er zeigt an Beispielen, die unterschiedliche Aspekte betreffen, wie subjektive und sozial bedingte Momente die naturwissenschaft‐ liche Erkenntnis beeinflussen. Er verweist darauf, dass schon die Auswahl des Forschungsgegenstandes subjektiv ist. Diese Erkenntnis hat nichts mit der eigentlichen Tatsache zu tun, sondern beschreibt den Weg, wie man zu deren Erkenntnis gelangt. Man muss in diesem Kontext bedenken, dass Tatsachen existieren, die noch nicht ermittelt wurden, weil sie nicht wahrgenommen wurden bzw. kognitiv nicht wahrnehmbar sind. Auf einer anderen Ebene, aber ebenso erhellend, ist Flecks Darstellung, wie die Wissenschaftsgeschichte Legenden schreibt: Aus einem langwierigen Forschungsakt wird eine einmalige Idee, eine im Team und Zusammenwirken entstandene Erkenntnis wird in einer Entdeckerfigur personifiziert. In diesem narrativ-verdichtenden Moment der Wissenschaftsgeschichtsschreibung liegt eine Affinität zur Literatur. I.2 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen Thomas Samuel Kuhn wurde 1922 in Cincinnati/ Ohio geboren und studierte an der Harvard-Universität Physik, entwickelte aber auch großes Interesse an wissenschaftstheoretischen Fragen und belegte Kurse in Philosophie und Literatur. Er war seit 1956 Professor für Wissenschaftsgeschichte an mehreren renommierten Universitäten der USA. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, 1991 wurde er emeritiert, 1996 ist er verstorben. Seine Thesen gehören zu den einflussreichen wissenschaftstheoretischen Ansätzen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dies belegt die große Menge an Literatur, die sich mit seiner Theorie auseinandersetzt und deren Schlüsselbe‐ 34 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 25 Fleck erfasst dieses Moment äquivalent, jedoch auf einer anderen Verständnisebene, mit dem Begriff „Widerstandsaviso“ (Fleck: Entstehung und Entwicklung 1980, S. 111‒129). Dieser Terminus ist doppeldeutig und bringt ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen Tatsachenwahrnehmung und Einordnung in einen Denkstil zum Ausdruck: Einerseits orientieren sich Forschende an einem Denkstil, um ihre empirischen Be‐ obachtungen, ihr „chaotisches anfängliches Denken“ (Ebd., S. 124, Kursivierung im Original) zu ordnen. Andererseits kann die Faktenwahrnehmung dem „Denkstil“ respektive „Denkzwang“, dem sie folgen, widersprechen und die Denkmuster entspre‐ chend verändern. 26 Auch Fleck verweist auf Beharrungstendenzen: „Ist ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem, das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht, einmal geformt, griffe zu stehenden Wendungen geworden sind, die über den eigentlichen Wis‐ senschaftskreis hinaus gebraucht werden. Ihre schlagwortartige Verwendung im populären Diskurs steht im Gegensatz zu den differenten und komplizierten Implikationen von Kuhns Thesen. Sein wissenschaftshistorischer Ansatz besagt, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht linear verlaufe. Das Modell basiert auf einer Kritik an der Vorstellung, dass sich Wissen kumulativ vermehre und so eine stetige Erweiterung von Erkenntnis stattfinde. Kuhn postuliert dagegen ein zyklisches Prinzip. Eine Wissenschaftsgemeinschaft einer Zeit unterliege in ihrem Denken und ihrer Forschungsarbeit einem Leitbild, das bestimmte Prinzipien, Grundannahmen, Methoden und Denkmuster vorgebe. Dieses Kon‐ tinuum bezeichnet er mit dem Begriff Paradigma. Der Terminus stammt von dem griechischen Wort parádeigma ab, das ein Bedeutungsspektrum von einem singulären Ding oder einer Idee als Muster bis hin zu einer Weltanschauung impliziert. In der Neuzeit geht die Verwendung des Begriffs auf Georg Christoph Lichtenberg zurück, er fand in seiner Folge mit differenten Bedeutungen in zahlreichen wissenschaftlichen Diskursen Verwendung. Die unter diesem do‐ minierenden Leitbild praktizierte Forschung nennt Kuhn Normalwissenschaft, sie wird in Lehrbüchern und Universitäten dem Nachwuchs vermittelt. Die Aufgaben und Probleme werden durch das Paradigma vorgegeben und begrenzt. Kuhn räumt jedoch ein, dass diese Paradigmen nicht unbeschränkte Gültigkeit haben. Er formuliert dies so, dass ihnen ein „Element der Willkür“ innewohne. 25 Ein herrschendes Paradigma kann in eine existentielle Krise geraten, wenn die Normalwissenschaft nicht mehr funktioniere, z.-B. auftauchende Probleme mit deren Mitteln nicht mehr gelöst werden können oder angenommene Prämissen widerlegt werden. Die Ablösung eines Paradigmas analogisiert Kuhn mit dem Begriff der Revolution. Erweist sich das vorherrschende Paradigma als falsch, wird es in einem umsturzartigen Vorgang abgelöst. Kuhn impliziert in diesem Kontext irrationale Elemente wie Beharrungstendenzen bei den Vertretern des alten Paradigmas. 26 In seinem wissenssoziologisch geprägten Denken gibt es I.2 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 35 so beharrt es beständig gegenüber allem Widersprechenden.“ (Fleck: Entstehung und Entwicklung 1980, S.-40) 27 Vgl. dazu Uwe Rose: Thomas S. Kuhn: Verständnis und Mißverständnis - Zur Ge‐ schichte seiner Rezeption. Diss. Göttingen 2004 (https: / / ediss.uni-goettingen.de/ bitstr eam/ handle/ 11858/ 00-1735-0000-0006-AEF0-8/ rose.pdf ? sequence=1 [zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023]), S. 11: „Die meisten Aufsätze, die Kuhn nach Structure veröffentlichte, sind der Sache nach Ergänzungen und Präzisierungen dieses Zentralwerkes - etwas überpointiert könnte man behaupten: Die konstruktive und produktive Verteidigung von Structure gegenüber seinen Kritikern avancierte zu Kuhns Lebensaufgabe.“ Rose zeigt in der Studie sehr erhellend die zahlreichen Varianzen und Verschiebungen der Bedeutungen der Schlüsselbegriffe von Kuhns Theorie auf. keine relevante Wissenschaft ohne Paradigma, so verschwindet das alte erst, wenn sich ein neues etabliert hat. Als idealtypische Beispiele für solche Revolu‐ tionen nennt Kuhn fundamental von vorherigen Grundannahmen abweichende bahnbrechende Forschungsergebnisse wie die von Nikolaus Kopernikus, Isaac Newton, Antoine Laurent de Lavoisier oder Albert Einstein. Dabei darf man jedoch die eigentliche Entdeckung nicht mit der Etablierung des von ihnen abgeleiteten Paradigmas gleichsetzen. In diesem Kontext ist Kuhns Kritik am Verständnis einer kumulativen Erweiterung von Wissen evident, mit der Ablö‐ sung eines Paradigmas werden bislang gültige Grundannahmen verworfen, in dem sie völlig durch neue ersetzt und nicht um sie ergänzt werden. Dies führt zu einem weiteren zentralen Begriff von Kuhns Terminologie. Er spricht von einer Inkommensurabilität zwischen konkurrierenden Paradigmen, d. h. gewisse Grundinhalte sind nicht miteinander vereinbar, oft haben sie unterschiedliche Verständnisse von Begriffen. Diese Annahme mag im Hinblick auf die von Kuhn angeführten Musterbeispiele plausibel erscheinen: Das ptolemäische geozentrische Weltbild ist mit Kopernikus’ heliozentrischem Weltbild nicht vereinbar. Doch in vielen Einzelfällen und in einer detaillierten Untersuchung der Wissenschaftsgeschichte und ihrer Verzweigungen und Verwicklungen er‐ scheint es problematisch, Kuhns Modell kategorische Gültigkeit zuzusprechen. Kuhns Thesen wurden heftig diskutiert und kritisiert, er hat sie zeit seines Lebens immer wieder erklärt, differenziert und modifiziert. 27 Diese Studie greift seine Gedanken auf und versucht zu hinterfragen, ob die von ihm skizzierten Kategorien und Prozesse sich als Hypothesen auf die Literatur und ihre Geschichte übertragen lassen. Es geht hier ausdrücklich nicht darum, Kuhns Thesen als richtig oder falsch zu beurteilen, sondern aus seinen Kate‐ gorien ein systematisches Untersuchungsmodell zu entwickeln, das die Frage erörtert, inwieweit diese Prozesse auf das literarische Feld anwendbar sind, sei es textinterpretatorisch, rezeptionsästhetisch, literaturgeschichtlich bzw. literatursoziologisch. 36 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 28 Jürgen Habermas hat diese Wendung Anfang der 1980er Jahre geprägt. Vgl. Jürgen Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a.-M. 1985. Die Fokussierung von Kuhns Ansatz auf die Literatur eröffnet aus mehreren Perspektiven Untersuchungshorizonte. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in den Geisteswissenschaften von zahlreichen „turns“ bzw. „Wenden“ ge‐ prägt. In diese Zeit fällt das vielzitierte „Ende der Moderne“ und die Etablie‐ rung des Begriffs der Postmoderne, der als Ordnungskategorie widersprüch‐ lich scheint, denn er versucht gattungstypologisch eine zeitgemäße Stil- und Formenvielfalt zu fassen. In dieser „neuen Unübersichtlichkeit“ 28 nimmt die Frage nach Ordnung und Kontingenz einen zentralen Raum ein. Kollektive Denkmuster vom Streben nach Sinn, Funktionalität und Ordnung prägten im Wesentlichen den Diskurs der Moderne seit der Jahrhundertwende. Nach dem Chaos der sozialen und politischen Experimente und zweier Kriege stand die Frage im Raum, ob sich das Streben nach Ordnung in einer negativen Dialektik entfaltet hat. Im philosophischen Diskurs stellte sich das Problem, ob die vom Strukturalisten Ferdinand de Saussure entwickelte Darstellung der Sprache als schlüssiges System von Syntax und Semantik dem Forschungsgegenstand adäquat ist, denn die Rhetorik wurde im Herrschaftsdiskurs von totalitären Strömungen in einer Weise genutzt, die unter der Prämisse einer systematischen linguistischen Trennung von Form und Bedeutung kaum erfassbar ist. Die Debatten um die Literatur sind nachhaltig geprägt von dem Poststrukturalismus nahestehenden Denkern wie Michel Foucault und Jacques Derrida, die die philo‐ sophischen Ordnungsmodelle und das Wesen der Sprache kritisch hinterfragen. Kuhns Theorie ist seit ihrem Erscheinen Anfang der 1960er Jahre integraler Bestandteil dieses Theoriediskurses und allein ihre generelle Wirkmächtigkeit im interdisziplinären Diskurs über das Denken lässt die Problemstellung dieser Studie plausibel erscheinen, um nach möglichen Zusammenhängen im kol‐ lektiven Denken zu fragen. All diese hier nur knapp umrissenen Prozesse, Bedeutungen und Begriffe spielen im Diskurs um seine Theorie eine wesentliche Rolle. I.3 Gemeinsamkeiten der Modelle von Kuhn und Fleck Der skizzierte Kontext des aktuellen Theoriediskurses lässt sich zu Flecks Be‐ griffen in Beziehung setzen. Da die von Kuhn umrissene Bedeutungsdimension des Paradigmas typologisch vorherrschende Denkmuster impliziert, die sich in ihrer Summe als „Denkstil“ begreifen lassen, liegt es nahe, dass Kuhns Modell I.3 Gemeinsamkeiten der Modelle von Kuhn und Fleck 37 29 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-8. 30 Thomas S. Kuhn: Foreword (1976). In: Ludwik Fleck: Genesis and Development of a Scientific Fact. Chicago / London 1979 (E-Book), S. vii-xi, hier S. viii-ix. sich in vielen Punkten mit Flecks Ausführungen parallelisieren lässt. Flecks Thesen sind strukturalistisch nicht so weit systematisiert wie Kuhns Modell, doch seine Grundannahmen bilden gewissermaßen ein „Paradigma“ für Kuhns Theorie. Eine Reduktion Kuhn’scher Theoreme auf Flecks zentrale Thesen ist daher heuristisch fruchtbar und erleichtert das Verständnis von Kuhns „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ im diskursgeschichtlichen Kontext. Im Vorwort seiner Monographie schreibt Kuhn, dass Flecks „fast unbekannte Monographie […] viele meiner eigenen Gedanken vorwegnimmt.“ 29 Diese Er‐ wähnung Flecks in Kuhns Vorwort wird in der Forschung häufiger angeführt und die Herausgebenden der Neuausgaben der Texte Flecks verweisen auf den originären Beitrag des ‚vergessenen‘ Fleck zu den verbreiteten Thesen Kuhns. In der Abhandlung selbst geht Kuhn jedoch an keiner Stelle weiter auf Fleck ein, so dass er keinen konkreten Bezug zwischen dessen Werk und seiner eigenen Studie herausstellt. In einem Vorwort zur englischen Übersetzung von Flecks Monographie 1976 skizziert er sein Verhältnis zu diesem ausführlicher und begründet auch, warum er in seiner Monographie nicht auf ihn eingegangen ist: Reading the citation, I immediately recognized that a book with that title was likely to speak to my own concerns. Acquaintance with Fleck’s text soon confirmed that intuition and inaugurated my never-very-systematic campaign to introduce a wider audience to it. One of those to whom I showed it was James Bryant Conant, then President of Harvard but shortly to become the U.S. High Commissioner for Germany. A few years later he reported with glee the reaction of a German associate to his mention of the title: “How can such a book be? A fact is a fact. It has neither genesis nor development.” That paradox was, of course, what had drawn me to the book. I have more than once been asked what I took from Fleck and can only respond that I am almost totally uncertain. Surely I was reassured by the existence of his book, a nontrivial contribution because in 1950 and for some years thereafter I knew of no one else who saw in the history of science what I was myself finding there. Very probably also, acquaintance with Fleck’s text helped me to realize that the problems which concerned me had a fundamentally sociological dimension. That, in any case, is the connection in which I cited his book in my Structure of Scientific Revolutions. But I am not sure that I took anything much more concrete from Fleck’s work, though I obviously may and undoubtedly should have. 30 38 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 31 Thomas S. Kuhn: The Copernican Revolution: Planetary Astronomy in the Develop‐ ment of Western Thought. Cambridge 1957. Deutsche Übersetzung: Die kopernikani‐ sche Revolution. Braunschweig 1980. 32 Vgl. dazu Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1996, bes. S. 596: „Ich möchte hier dem von Th. S. Kuhn vorgeschlagenen Konzept des ‚Paradigmawechsels‘ nicht folgen. Mein Zweifel bezieht sich auf die Vernachlässigung der Kontinuität als Voraussetzung jeder möglichen Diskontinuität. Ich bevorzuge daher die Vorstellung der ‚Umbesetzung‘ eines intakt bleibenden und funktional vorausgesetzten Stellenrahmens, der partielle Veränderungen nicht nur ‚erträglich‘, sondern vor allem ‚plausibel‘ macht. Schon Aristoteles hatte seine Kritik an der platonischen Akademie nur so erfolgreich durchsetzen können, weil er den Unter‐ schied von Realität und Idealität nicht revolutionär beseitigte, sondern innerhalb der Realität seines Kosmos selbst konservierte. Er gab dem realen Himmel die Eigenschaften des idealen Kosmos. Eine solche Umbesetzung wiederholte sich in der umgekehrten Ablösung des scholastischen Aristotelismus durch den zumeist selbsternannten ‚Plato‐ nismus‘ der frühneuhochzeitlichen Naturwissenschaft. / Kopernikus ließ auch die Erde in die ‚Idealität‘ aufrücken und erzeugte durch ihre vollkommene Bewegung noch einmal die nach Aristoteles begrifflich notwendige ‚ideale‘ Zeit.“ Gemeinsam ist Fleck wie Kuhn die basale Auffassung, dass wissenschaftliches Denken und Arbeiten nicht unabhängig ist von vorgeprägten Denkmustern, sondern sogar maßgeblich von ihnen beeinflusst wird. Im Unterschied zu Fleck fällt auf, dass Kuhn in der Monographie nicht die eigentliche anthropologische Frage thematisiert, ob es überhaupt möglich ist, eine objektive Wirklichkeit wahrzunehmen. Dass er sich dessen bewusst ist, dass Tatsachen insofern relativ sind, als sie auf Wahrnehmung beruhen, bringt er in der oben zitierten Passage des Vorworts zur englischen Ausgabe von Flecks Monographie jedoch deutlich zum Ausdruck. I.4 Thomas S. Kuhns Modell im kritischen Diskurs Kuhn verwendet den Begriff der Revolution in Anlehnung an Kopernikus und dessen Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium von 1543. Die koperni‐ kanische Wende bildet für Kuhn exemplarisch seine eigenen Vorstellungen von einer wissenschaftlichen Revolution ab. Mit dem Begriff verbindet sich nicht allein Kopernikus’ Entdeckung, sondern er steht für den Beginn der modernen Naturwissenschaft im neuzeitlichen Sinne. Kuhn hatte bereits vor seiner grund‐ legenden Arbeit Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen eine Studie über Kopernikus veröffentlicht, und darin viele seiner Thesen antizipiert. 31 Er sieht Kopernikus als exemplarischen Realtyp seines Modells. Doch wie die Theorie als solches ist selbst die Klassifizierung dieses Idealtyps einer „wissenschaftlichen Revolution“ nicht unumstritten. 32 Kritiker führen an, dass Kopernikus’ Theorie I.4 Thomas S. Kuhns Modell im kritischen Diskurs 39 33 Gotthold Ephraim Lessing: Lessing’s Werke. Erster Theil. Gedichte und Fabeln. Berlin 1868, S.-95. zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht zu einer Wende des alten Weltbilds geführt habe, sondern die alten Auffassungen teilweise neben den neuen existiert hätten. Erst im zwanzigsten Jahrhundert, also rückwirkend mit historischer Distanz und Kenntnis, sei dieser komplexe Prozess zum Narrativ eines bereits bald nach seiner Entdeckung stattgefundenen Umsturzes verdichtet worden. Den mathematischen Nachweis für die Richtigkeit von Kopernikus’ Modell erbrachte Johannes Kepler erst nach dessen Tod Anfang des 17. Jahrhunderts, direkt bewiesen wurde die Erdrotation sogar erst 1851 durch das Foucaultsche Pendel. Kopernikus’ Thesen wurden noch lange Zeit nach ihrer Verbreitung angezweifelt, exemplarisch belegt dies Gotthold Ephraim Lessings Gedicht Der neue Welt-Bau: Der neue Welt-Bau - - Der Wein, der Wein macht nicht nur froh, - Er macht auch zum Astronomo. - Ihr kennt doch wol den großen Geist, - Nach dem der wahre Welt-Bau heißt? Von diesem hab’ ich einst gelesen, Daß er beim Weine gleich gewesen, - Als er der Sonne Stillestand, - Die alte neue Wahrheit fand. - - - Der Wein, der Wein macht nicht nur froh, - Er macht auch zum Astronomo. - Hört! hört, Ihr Sternenfahrer, hört, - Was mir der Wein, der Wein gelehrt! So kann der Wein den Witz verstärken! Wir laufen selbst, ohn’ es zu merken, - Von Osten täglich gegen West! - Die Sonne ruht.---Die Welt steht fest! 33 Die Kirche wehrte sich lange beharrlich gegen das heliozentrische Weltbild. Von daher handelt es sich um einen komplexen Prozess von der Entwicklung der Theorie, ihrem empirischen Beweis bis hin zu ihrer allgemeinen Gültigkeit im Sinne des Paradigmas. Insofern kann je nach Perspektive im Fall Kopernikus geschlossen werden, dass das alte und das neue Paradigma über einen sehr langen Zeitraum nebeneinander ohne eindeutige Dominanz einer Seite im 40 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 34 Vgl. Fleck: Entstehung und Entwicklung 1980, S.-71-74. Schäfer / Schnelle: Einleitung. In: ebd., S. XXXIIIf.: „Fleck ist nur konsequent, wenn er von seinem kollektivistischen Ansatz her die Historiographie der Wissenschaften angreift, die ihren Verlauf wesent‐ lich an die Leistungen einzelner Forscher bindet. Die Leistung, die als Durchbruch einem Forscher zugeschoben wird, ist oft nur Resultat einer ‚Rationalisierung‘, die nichts mit dem tatsächlichen Hergang zu tun hat. Ideen entstehen für Fleck im Denkver‐ kehr eines Wissenschaftler-Kollektivs, womit er dem Typus neuzeitlicher, organisierter Forschung gerechter wird als eine ‚monumentalische‘ Geschichtsauffassung, die in Kuhns Konzept durchaus noch fortwirkt.“ Wissenschaftsbetrieb existiert haben und gegenseitig umstritten waren. Diese Deutung widerspricht der Zuordnung in Kuhns Modell insofern, als dieser die Möglichkeit der parallelen Existenz gegensätzlicher Paradigmen innerhalb einer Wissenschaftsgemeinschaft bezweifelt. Diese Einschätzung ist jedoch davon abhängig, wie man eine Wissenschaftsgemeinschaft soziologisch als Personengruppe definiert. Dieser Diskurs verweist mittelbar auf einen der zentralen Fragenkomplexe dieser Studie: Deuten und verstehen heutige Zeitgenossen klassische literari‐ sche Werke aus zurückliegenden Epochen mit den Paradigmen aus deren Entstehungszeit oder ihrer Gegenwart und findet dabei möglicherweise eine anachronistische Vermengung statt? Man muss gewiss differenzieren zwischen der eigentlichen Idee und ihrer Eta‐ blierung, z. B. auf der politischen Ebene zwischen den theoretischen Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels und der Praxis der russischen Revolu‐ tion. Kuhn räumt ein, dass die Durchsetzung des Modells von Kopernikus lange nach dessen Tode erfolgte, und verweist auf die einflussreichen religiös motivierten Widerstände. Fleck behandelt solche Abläufe weitaus offener, differenzierter, aber gleichzeitig auch zurückhaltender, seine Begrifflichkeiten sind abwägender. Er konstatiert in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung eine Tendenz, dass bestimmte Entdeckungen und Erfindungen im Rückblick häufig auf eine Person und auf einen entscheidenden Moment fokussiert werden. In der populären Wahrnehmung hat sich bei vielen Ereignissen der Wissenschaft wie der Historie ein stilisiertes Bild bzw. Narrativ durchgesetzt, welches bis hin zur Legendenbildung vornehmlich in literarischen Texten, besonders Wis‐ senschafts- und Geschichtsromanen, aufgegriffen und weiter verdichtet wurde. In diesem Zusammenhang weist Fleck darauf hin, dass in Wirklichkeit oft mehrere Personen maßgeblich an einer Entdeckung oder Erfindung beteiligt sind. Neuerungen seien in langwierigen, widersprüchlichen Prozessen und kollektiven Denkstilkontexten entstanden und etabliert worden. 34 Auch wenn Kuhn die Komplexität solcher Prozesse durchaus bewusst ist, erweckt die Hervorhebung der Revolution die Assoziation einer abrupten, I.4 Thomas S. Kuhns Modell im kritischen Diskurs 41 plötzlichen Änderung. Die exponierte Aufnahme des Begriffs in den Titel der Monographie lenkt m. E. vom substantiellen Gehalt und der prinzipiellen Plausibilität seiner Ausführungen ab. Wenn man aus heutiger Perspektive auf die 1960er Jahre zurückblickt, liegt die Annahme nahe, dass die romantisierende und ästhetisierende Konnotation des Wortes „Revolution“ dem damaligen Zeitgeist geschuldet ist und in der Rezeption von Kuhns Monographie bis heute mitschwingt. Kuhns Theorie besteht aus zwei Grundannahmen. Zum einen setzt sie die Gültigkeit eines Paradigmas voraus, zum andern impliziert sie, dass die Ablösung der Paradigmen in einem einer Revolution vergleichbaren Prozess abläuft. Nach der Kausalität seines Modells ist die Akzeptanz der Existenz von Paradigmen oder zumindest einer typologisch analogen Kategorie zur Annahme der Hypothese einer wissenschaftlichen Revolution Grundbedingung. Doch kann man die erste Annahme, also das Modell des Paradigmas, teilen, und gleichzeitig den revolutionären Charakter des wissenschaftlichen Wandels abstreiten. Kuhns Ansatz ist erkenntnistheoretisch sinnvoll, wenn man ihn als mo‐ dellhaftes Konstrukt begreift, das auf singuläre Vorgänge beziehbar ist und ermöglicht, Strukturen des wissenschaftlichen Wandels nachzuvollziehen und schematisch darzustellen. Träger des Paradigmas ist die soziale Kategorie der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die sich aus den Fachleuten einer Disziplin zusammensetzt. Deskriptiver könnte man die Gruppe als die am Fachdiskurs Beteiligten definieren. Wie Fleck, der vom esoterischen und vom exoterischen Kreis spricht, unterscheidet Kuhn zwischen Wissenschaftlern und Laien. Auch diese Abtrennung ist auf der konkreten Ebene des wissenschaftlichen Para‐ digmas plausibel, jedoch verlagert dies den Fokus weg von einem zentralen Problem des Ansatzes. Allein die Komplexität und Vielschichtigkeit des eigent‐ lichen Wissenschaftsbetriebs verdeutlicht, dass die postulierten Personenkreise als typologische Konstrukte und nicht als geschlossene Entitäten begriffen werden müssen. Wissenschaftler gehören oft nicht nur einem Fachkreis an, sondern je nach Ausrichtung ihrer Disziplin partizipieren sie an mehreren wissenschaftlichen Teilgemeinschaften. Die Wissenschaft bzw. Vorstellungen der Wissenschaft sind geknüpft an soziale, religiöse, politische Ideen einer Zeit, an das grundsätzlich herrschende Welt- und Menschenbild. Wissenschaft‐ liche Paradigmen sind davon abhängig, in totalitären Gesellschaften mehr, in offenen weniger. Insofern sollten die Modelle der Wissenschaftsgeschichte als Teil einer ihnen übergeordneten Art ‚Denkgeschichte‘ begriffen werden. Paradigmen verschiedener Disziplinen können untereinander gekoppelt sein, es kann Querverbindungen, Zusammenhänge geben. 42 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze Dieser Aspekt lässt sich illustrieren, wenn man ihn heuristisch auf den Bereich der Literatur überträgt. Vorausgesetzt, dass für die Literaturwissen‐ schaft als Disziplin das Paradigmenmodell Gültigkeit hat, tangieren deren Paradigmen zugleich den allgemeinen Literaturbetrieb, die Leserschaft, das Verlagswesen einer Zeit. Im Sinne der von Fleck gebrauchten Metapher des Kraftfeldes könnte man hier von einer paradigmatischen Struktur sprechen, in der Interdependenzen von der einen in die andere Richtung vorhanden sind. Für Kuhns Theorem gilt (ebenso wie für Flecks Ansatz): Wenn man es nicht hypostasiert und zu einer absoluten Wahrheit macht, sondern versucht, mit seinen plausiblen Parametern typologisch wesentliche Eigenschaften von Wandlungsprozessen in ihren konstanten und variablen Aspekten strukturell zu beschreiben, lässt es sich hilfreich als skalierendes Modell zur Untersuchung von einzelnen Phänomenen anwenden. Kuhn wie Fleck widersprechen einem empiristisch-realistischen Weltbild, nach dem Wissenschaft nur den Fakten unterliegt, die ‚wirklich‘ sind und nicht von sozialen Mustern oder kognitiven Faktoren bedingt sind. In diesem Punkt kann man auf Flecks Argumentation verweisen, die impliziert, dass die Wirklichkeit gar nicht vollständig wahrnehmbar ist. Karl Popper hat in seinem Denkmodell eines „kritischen Rationalismus“ versucht, eine Synthese zu finden und Thesen eines relativierenden Positivismus zu formulieren. Gültige Sätze können nach seiner Terminologie nicht verifiziert werden, sondern sich nur „bewähren“ und gegebenenfalls falsifiziert werden. Auch hier muss der Unterschied zwischen Tatsache und angenommener Tatsache berücksichtigt werden. Kuhn bringt sehr viele Beispiele aus dem naturwissenschaftlichen Bereich, die für den nicht in diesen Wissenschaften versierten Leser oft nur sehr schwer nachvollziehbar sind. Paradigmen in Geistes- und Sozialwissenschaften finden sich praktisch nicht dargestellt. Doch gerade dort, wo das Empirische per se beschränkt ist, müssen nach dieser Logik Paradigmen wirksam sein, die Vor‐ stellungen und Formulierungen des Metaphysischen bilden. Man muss zwar den unterschiedlichen Sphären von Natur- und Geisteswissenschaften Rechnung tragen, doch vor dem Hintergrund des Diskurses um die transzendente Elemente enthaltenden Kategorien Denken und Wissen, die basale Elemente jeder Wis‐ senschaft sind, kann man sie nicht auseinanderdividieren. Ebenso wenig kann man den Wissenschaftsbetrieb von anderen sozialen Bereichen ausgliedern. Wissenschaft wirkt wissenssoziologisch und wird in ihren Zielsetzungen, ihrer Ethik auch von außen beeinflusst. Kuhn intendiert in seinen Ausführungen im Verständnis von Wissenschaft ausdrücklich auf die exakten Naturwissenschaften. Seine Grundannahme ist, dass keine Wissenschaft ohne Überzeugungen auskommt, die anerkannt, aber I.4 Thomas S. Kuhns Modell im kritischen Diskurs 43 35 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-18f. 36 Ebd., S.-19. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. nicht empirisch bewiesen sind. Beobachtung und Erfahrung allein könnten kein „bestimmtes System solcher Überzeugungen festlegen.“ 35 Kuhn spielt darauf an, dass jede Wissenschaftsgemeinschaft Antworten auf ungeklärte Fragen impliziert hat. Pointiert macht er das an der Frage nach den Grundbausteinen des Universums fest. Er spielt darauf an, dass trotz Säkularisierung die einst im religiösen Element repräsentierten Teile einer Wissenschaftsgemeinschaft nicht durch reinen Empirismus ersetzt wurden. Für ihn liegt allem eine auf Glauben beruhende Weltanschauung zugrunde, eine als relativ zu begreifende Größe, die von der ein oder anderen Gemeinschaft unterschiedlich hinterfragt werden kann. Er sieht die Antworten auf diese Fragen jedoch „tief im wis‐ senschaftlichen Denken“ einer wissenschaftlichen Gemeinschaft verankert. 36 Daraus generieren sich notwendig „Begriffsschubladen“, 37 in die die Forscher nach ihrer Ausbildung die Erkenntnisse „hinein[]zwängen“. 38 Es erschwert das Verständnis von Kuhns Theorie, dass die Grenze zwischen Überzeugung und Empirie sich nur unscharf verorten lässt. Hier lässt sich eine Parallele zu Fleck ziehen, der sich differenzierter ausdrückt. Dieser postuliert eine Wahrneh‐ mung, welche determiniert ist von bestimmten Überzeugungen - ähnlich den korrespondierenden Kategorien Kuhns - und im Gesamtkomplex die Auswahl und Beobachtung eines Forschungsgegenstandes steuert. Diese Aussage ist plausibel, denn es gibt unter den Faktoren, die sichtbare Naturerscheinungen ursächlich mitbeeinflussen können, zahlreiche, welche der Mensch (noch) nicht wahrnehmen kann (z. B. Vorgänge im Nanokosmos), sondern lediglich deduktiv auf sie schließen kann. Eine Vorstellung des Nichtwahrnehmbaren schwingt in der Forschung häufig mit, sei es in Form eines heuristischen Modells, einer Abstraktion oder einer Hypothese. Einfach formuliert könnte man sagen, dass es keine Erfahrung, keine Urteile ohne Vorurteile geben kann. Doch trotz der vorgegebenen Überzeugungen ist nach Kuhn jeder wissen‐ schaftlichen (Paradigma-)Gemeinschaft „[e]in offenbar willkürliches Element“ eigen. 39 Auch dieser Begriff ist dehnbar. Er lässt sich mit der Kontingenz assoziieren und entspricht m. E. dem zufälligen Element jeden Denkens, jeder Idee bzw. jeden Ideensystems. Dieses „willkürliche Element“ ist Voraussetzung jeder Revolution. Kuhn wendet die klassische Dialektik aus Beharrung und Innovation auf seine Systematik an. Eine wissenschaftliche Gemeinschaft wehrt sich in der Regel dagegen, wenn Grundüberzeugungen durch neue Erkenntnisse 44 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 40 Ebd., S.-20. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 21: „Es ist jedoch die Grundthese dieser Abhandlung, daß sie [die grundsätzli‐ chen Charakteristika einer wissenschaftlichen Revolution] auch beim Studium vieler anderer nicht so offensichtlich revolutionärer Episoden gefunden werden können.“ infrage gestellt werden, das Neue werde unterdrückt. 40 Doch häufig tritt das „willkürliche Element“ dieser Glaubenssätze hervor, das sie von religiösen Dogmen unterscheidet. In der Naturwissenschaft heißt dies im Wesentlichen, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft entsprechend ihres Selbstverständ‐ nisses, das auch Bestandteil des Paradigmas ist, nicht in der Lage ist, evidente Realitäten zu ignorieren. So tritt durch die neuen Erkenntnisse eine Krise des überkommenen Weltbilds hervor. Neues bewirkt Anomalien: Probleme können nicht mehr gelöst werden, da die Gültigkeit der Prämissen angezweifelt werden muss. Dann beginnt ein Prozess der „außerordentlichen Untersuchungen“, 41 die Kuhn als Teil der wissenschaftlichen Revolution beschreibt. Das Grundver‐ ständnis einer Wissenschaftsgemeinschaft ändert sich. Das Ganze erscheint in seiner Komplexität und Verschachtelung auf den ersten Blick diffus. Worin liegen Konstanten und Varianten in solchen Pro‐ zessen? Kuhns Fixierung auf den Revolutionsbegriff ist irreführend, denn es gibt singulär ganz unterschiedliche Abläufe solcher Prozesse: Evolutionen, Reformen, sanfte Revolutionen. Kuhn exemplifiziert seine Thesen mit den „wichtigsten Wendepunkten“ Kopernikus, Newton, Lavoisier und Einstein. 42 Ungeachtet der oben angeführten Relativierung des Prozesses am Beispiel Kopernikus, handelt es sich in der Tat um außergewöhnliche Entdeckungen, die nicht nur das Grundverständnis der Wissenschaft, sondern auch das gesamte Weltverständnis des Menschen veränderten. Doch wenn Kuhn konzediert, dass einige Revolutionen „deutlicher“ 43 als andere seien, verweist er darauf, dass es sich um graduelle Kategorien handelt. Er macht die Bedeutung einer Revo‐ lution signifikant von der Größe des Fachkreises abhängig. In kleineren Wis‐ senschaftsgemeinschaften finden die „nicht so offensichtlich revolutionäre[n] Episoden“ statt, die aber dennoch nach dem gleichen Muster ablaufen. 44 Es stellt sich grundlegend die Frage, ob Kuhns systematisiertes Modell von Abläufen und Begriffen die Diversität solcher Prozesse fassen kann. Ein weiterer zentraler Begriff von Kuhns Theorie ist die Inkommensurabilität von Paradigmen. Dieses Postulat rief den größten Widerspruch hervor. Proble‐ matisch ist der Terminus bereits, weil er konsekutiv an Kuhns Verständnis von Paradigma gekoppelt ist. Der Begriff ist zwar der Mathematik entlehnt, I.4 Thomas S. Kuhns Modell im kritischen Diskurs 45 45 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Berlin 2011 [Deut‐ scher Klassikerverlag im Taschenbuch, Bd.-50], S.-433 (13. Februar 1831). jedoch als Terminus im logischen Sinne paradox, denn die ‚Nichtmessbarkeit‘ ist nicht messbar, die ‚Nichtvergleichbarkeit‘ nicht vergleichbar. Somit stellt sich die Frage, ob wir es mit einer Analogie, einem idealtypischen Begriff oder einer Metapher zu tun haben. Kuhn antwortete seinen Kritikern, dass er damit nicht prinzipiell die Unvergleichbarkeit von Paradigmen meine, sondern allenfalls eine über die Nichtvereinbarkeit hinausgehende Nichtmessbarkeit von Theorien untereinander. In seinem Modell erscheint der Begriff logisch, wenn man bedenkt, dass er davon ausgeht, dass das Wissen sich nicht kumulativ bildet, sondern in Konkurrenz. Ein abgelöstes Paradigma kann nicht neben dem neuen gelten, da sie sich gegenseitig ausschließen. Dies entspräche aus der Perspektive des Subjekts dem Satz vom Widerspruch. Im deutschen Sprachraum ist das Verständnis des Begriffs der Inkommensu‐ rabilität sehr eng an einen häufig zitierten Satz von Goethe gekoppelt. Ecker‐ mann spricht Goethe auf die Dialektik zwischen der In-sich-Geschlossenheit der einzelnen Szenen des Faust und der Heterogenität des Werks als Gesamtes an: „Sie haben vollkommen recht, sagte Goethe; auch kommt es bei einer solchen Komposition bloß darauf an, daß die einzelnen Massen bedeutend und klar seien, während es als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber eben deswegen, gleich einem unaufgelösten Problem, die Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder anlockt.“ 45 Diese viel und kontrovers diskutierte Aussage Goethes lässt sich gedanklich mit der Frage nach der paradigmatischen Inkommensurabilität in Beziehung setzen. Sie kann auch für einzelne Teile eines Paradigmas gelten, wenn diese miteinander verknüpft sind, ohne in einem logisch-kausalen Zusammenhang zu stehen. Auf einer anderen Ebene stehen die Paradigmen nebeneinander, es gibt unvereinbare Positionen (z. B. Schöpfungs- oder Evolutionskosmologie), doch bilden sie als Ganzes die Geschichte des Wissens und Denkens der Menschheit, stehen anthropologisch in einem Kontext. Die Gültigkeit von Kuhns Thesen ist eng an das Verständnis seiner Begriffs‐ auslegungen geknüpft. Dass hier jedoch Unklarheiten herrschen, belegen die Diskussionen und Erklärungen in der Folge ihrer Publikation, unabhängig davon, ob dies auf eine unklare Darstellung Kuhns zurückzuführen ist oder auf Missverständnisse in der Rezeption. 46 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 46 Vgl. Benjamin Nelson: Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivili‐ sationsprozeß. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt am Main 1986, S. 125: „Das ‚Paradigma‘ hat auch den Charakter einer ‚zwingenden Metapher‘, die sich dem Geist einer Vielzahl von zu einer Zeit arbeitenden Denkern aufprägt. / Das hier beigetragene Material impliziert, daß der Kuhnschen Diskussion ein Element hinzuzufügen ist. Ein wissenschaftliches Paradigma ist lediglich ein Element in einer Reihe kultureller Perspektiven, die der Veränderung bedürfen, wenn der geistige Gehalt einer Periode eine durchgreifende Neu-Instrumentierung erfahren soll. Neue Paradigmen können nur dann Erfolg haben, wenn das kulturelle Klima ihnen günstig ist. […] Wissenschaftliche Seine Theorie erfuhr in der Fachwelt eine starke Resonanz und prägt den wissenschaftlichen Diskurs seit ihrem Erscheinen nachhaltig. Die Kritik an seinem Werk, auf die er in neuen Auflagen entgegenkommend und argumen‐ tativ antwortete, bezog sich vor allem auf die Vieldeutigkeit der Kategorien Paradigma, Revolution und Inkommensurabilität. Im Hinblick auf den Revolu‐ tionsbegriff stellt sich die Frage, ob die Kategorien Revolution, Reform und Evolution komplementär abgrenzbar sind oder ob sie vielmehr relative Ver‐ ortungen auf einer graduellen Skala darstellen. Der komplexe Vorgang der Änderung eines wissenschaftlichen Paradigmas ist nur schwer als singuläre Entität zu fassen. Häufig sind solche Prozesse eng verknüpft mit politischsozialem Wandel. Die von Max Weber als „Entzauberung der Welt“ titulierte Entwicklung der Rationalisierung durch die Naturwissenschaften ist in diesem Sinne ein übergeordneter Prozess, der sich seit der Vor- und Frühgeschichte auf mehreren gesellschaftlichen Ebenen sukzessive vollzogen hat. Im Kontext der Neuzeit stellt sich die Frage, ob die Bedeutung der Religion schwand, weil der Fortschritt immer mehr metaphysische Bereiche in die Physik der Wahrnehmbarkeit überführen konnte oder ob grundsätzlich die Gedanken der Aufklärung paradigmatische Änderungen hervorbrachten, so dass bestimmte wissenschaftliche Entdeckungen erst ermöglicht wurden. Für Kuhns Modell gilt m.-E. Ähnliches wie für das von Fleck. Es ist erkennt‐ nistheoretisch sehr wertvoll, wenn man es nicht hypostasiert, wenn man Paradigma, wissenschaftliche Revolution und auch Inkommensurabilität nicht als normative Kategorien sondern als Typen auf einer Bewertungsskala definiert und beschreibt. Der Begriff des Paradigmas ist wie der des Denkstils epistemologisch sinnvoll, wenn man ihn zur typologischen Charakterisierung von konkreten Fällen plausibel anwenden kann. Dieses Prinzip muss dann konsequenterweise auf die Literatur übertragbar sein. Man kann in einer solchen die Struktur des Denkens an sich betreffenden Frage nicht den wissenschaftlichen Sektor isoliert betrachten. 46 Wissen als solches ist Bestandteil einer Gesellschaft bzw. einer sozialen Entität und von daher steht die Wissenschaftsgemeinschaft hier in I.4 Thomas S. Kuhns Modell im kritischen Diskurs 47 Theorien mit der Kraft von Paradigmen können kaum unabhängig von philosophischen Grundlagen behandelt werden.“ 47 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-22. 48 Ebd., S.-21. 49 Z.B. in Karl Popper: Die Normalwissenschaft und ihre Gefahren. In: Imre Lakatos / Alan Musgrave (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft, London 1965, Band 4. Braun‐ schweig 1974, S. 51-57, hier S. 55: „Kuhns Logik ist nämlich die Logik des historischen Relativismus.“ (Kursivierung im Original) einer Korrelation. Zwischen dem exoterischen Kreis und dem esoterischen Kreis gibt es Wechselwirkungen. Dies lässt sich auch auf die Literatur übertragen, sie bezieht sich auf Themen und Personen, die zu ihr unmittelbar in keiner Relation stehen. Die Diskussionen um Kuhns Modell evozieren einige Zirkelschlüsse. Sein Verständnis von Wissenschaft, Paradigma und Revolution bildet dessen Prä‐ misse. Die Beweisführungen erscheinen nur logisch, wenn man seine Begriffs‐ definitionen und -implikationen akzeptiert. In den Repliken auf seine Kritiker modifiziert er seine Termini so, dass sie seine Theorie bekräftigen. Fleck ist hier wesentlich offener, er stellt die Relativität seiner Kategorien stärker heraus und entwickelt kein fest umrissenes Verlaufsmodell des Denkstilwandels. Die Ähnlichkeit Kuhns mit Fleck zeigt sich besonders in der Grundannahme Kuhns, dass man eine wissenschaftliche Tatsache niemals isoliert von sozialen Implikationen sehen darf: Wissenschaftliches Faktum und wissenschaftliche Theorie lassen sich nicht streng trennen […]. Darum ist eine unerwartete Entdeckung in ihrer Bedeutung nicht einfach eine Tatsache, und deshalb wird die Welt des Wissenschaftlers durch grundlegende Neuerungen - auf dem Gebiet der Theorie oder der Tatsachen - ebenso qualitativ umgewandelt wie quantitativ bereichert. 47 Dieser Leitgedanke ist auch in seiner Argumentation erkennbar, er differen‐ ziert klar zwischen der eigentlichen wissenschaftlichen Entdeckung und ihren wissenschaftssoziologischen Implikationen. Er verweist darauf, dass die Durch‐ setzung und Akzeptanz bestimmter Neuentdeckungen einem „umfangreichen Prozeß“ gleichen. 48 Kuhn stellt jedoch weniger als Fleck die grundsätzliche Relativität von Tatsachen heraus, er ist sichtlich bemüht, nicht den Anschein des Relativismus zu erwecken. Gegen entsprechende Kritik 49 hat er sich immer entschieden verwahrt. Ein weiteres Problem ergibt sich aus Kuhns Differenzierung zwischen nor‐ maler und revolutionärer Wissenschaft, was wiederum zu der schwierigen Frage der Abgrenzbarkeit der Paradigmen innerhalb der Disziplinen und dieser 48 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 50 Vgl. Lakatos / Musgrave: Kritik und Erkenntnisfortschritt 1974. Dieser Band enthält neben anderen jeweils mehrere Beiträge von Kuhn, Popper, Lakatos und Feyerabend. Die Konzeption des Bandes als Gemeinschaftswerk unterstreicht trotz starker Kontro‐ versen über Kuhns Thesen die gemeinsame Basis und Affinität ihrer Gedanken. Ebenso spiegeln sich im Diskurs die Unterschiede. Im Hinblick auf die Denkstiltheorie erscheint das Buch aufschlussreich, da man aus den verschiedenen Beiträgen strukturell Muster eines Paradigmas typisieren kann, indem man modellhaft sowohl die gemeinsame Basis als auch die Varianten und Differenzen der Ideen abstrahiert. untereinander führt. Grundsätzlich ist der Unterschied zwischen der Geistes‐ wissenschaft und der Naturwissenschaft evident. Vornehmlich im Erkenntnis‐ zusammenhang hat die Naturwissenschaft zweifelsfrei eine metaphysische Komponente, schon allein in der Frage, aus welchem Grund etwas erforscht wird. Bei allem Bemühen um Objektivität kann dieser Aspekt nicht eliminiert werden, denn die Grenzen der Objektivität sind erreicht, wo der Forscher keine Möglichkeit hat, auf objektiver Basis notwendige Entscheidungen zu treffen. Hierbei spielen Hypothesen eine Rolle, die Wahl der Methoden kann möglichst objektiv durch Abwägen und Zusammentragen von Indizien sein, doch es liegt in der Natur des Menschen, dass er etwas übersieht oder Fehler macht. Kuhns Gedanken stehen in einem Dialog und in ihrer Basis im Kontext zu den wissenschaftstheoretischen Arbeiten von Karl Popper, Imre Lakatos oder Paul Feyerabend, denen bei allen Unterschieden gemeinsam ist, dass ihr Denken geprägt ist von einer relativen Wirklichkeitsanschauung. 50 Kuhn betont an mehreren Stellen Gemeinsamkeiten mit Poppers Auffassungen und erwähnt in seinen Schriften an einigen Stellen Feyerabend, dessen zentrale Gedanken zum Methodenpluralismus wiederum von Kuhns Ausführungen mitbeeinflusst sind. In einer Entwicklungslinie von Popper über Kuhn hin zu Feyerabend zeigt sich, wie eine Idee aufgegriffen und variiert wird, ohne in ihren Grundsätzen aufgegeben zu werden. Der wesentliche Unterschied zwischen Kuhn und Feyerabend besteht darin, dass Feyerabend sich in seinem zum Relativismus neigenden Wissenschaftsverständnis jeder Systematisierung verweigert, indem er als Konsequenz von Schlüssen, die denen Kuhns ähneln, einen Methodenanarchismus postuliert. In dieser Gemeinsamkeit und Unter‐ schiedlichkeit spiegelt sich repräsentativ ein zentraler Konnex zwischen den Denkweisen der Moderne und der Postmoderne. Für die Literatur ließe sich Kuhns Ansatz mit den normativen Stilvorgaben parallelisieren, wie sie in den Phasen der Literatur bis zur Moderne weitgehend verbreitet waren, während die Postmoderne (paradigmatisch) einen Stilpluralismus propagiert, in dem die Synthese von Trivial- und Hochliteratur einen zentralen Aspekt ausmacht. Die erkenntnistheoretische Komponente von Kuhns Modell weist Bezüge zu der von Karl Popper geprägten Bewährungsmaxime auf. Wesentlicher Bestand‐ I.4 Thomas S. Kuhns Modell im kritischen Diskurs 49 teil des von Popper entwickelten Konzepts des Kritischen Rationalismus ist die Annahme, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis und der daraus abgeleitete Satz niemals als ‚wahr‘ bezeichnet werden können. Er grenzt sich damit von der Terminologie des neopositivistischen Wiener Kreises ab, auch wenn seine Ideen im Kern dessen Denkmodellen entsprechen. Während die Terminologie des Wiener Kreises formuliert, dass wissenschaftliche Hypothesen verifiziert werden können, spricht Popper umgekehrt davon, dass dies nicht möglich sei und sie sich nur bewähren können. Sollten neue Erkenntnisse die gültigen Sätze widerlegen, sind diese falsifiziert. Popper versucht mit seinem Ansatz, eine plausible Synthese zwischen der vom Menschen empfundenen intersubjektiv vermittelbaren Wirklichkeitswahrnehmung und der relativistischen Annahme, dass es keine absolute Wirklichkeit geben kann, zu finden. Ein Paradigma im Sinne von Kuhns Modell sowie die unter ihm gültigen Tatsachen müssen sich in der Praxis bewähren. Kuhn betont jedoch in Ergänzung zu Popper, dass die Falsifikation eines Paradigmas allein nicht zu dessen Aufgabe führe, vielmehr müsse erst ein neues formuliert sein. Die Falsifikation zentraler Bestandteile eines Paradigmas ist nach Kuhns Terminologie als Anomalie und Krise der normalen Wissenschaft zu verstehen. In diesem Zusammenhang ist noch einmal zu betonen, dass die Ermittlung und Wahrnehmung von Fakten wiederum von der Zugehörigkeit zu einem Denkkollektiv geprägt sind, das einem bestimmten Paradigma folgt. Von diesem und seiner entsprechenden sozialen Verankerung hängt es ab, inwieweit das willkürliche Element Spielraum für Falsifikationen bietet. Exemplarisch für dieses subjektive Moment tritt in der Naturwissenschaft die Auswahl des Untersuchungsgegenstands zutage. Was nicht erforscht wird, kann auch keine wissenschaftliche Tatsache oder empirisch bestätigte Wirklichkeit evozieren. Stellen sich der Wissenschaft Fragen nach den nicht untersuchten Bereichen oder Phänomenen, kann diese nur Indizien oder Spekulationen aufgrund des Be‐ kannten äußern, die gewissermaßen als vorläufig gültige Tatsachen gelten. Der Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft korrespondiert mit dem künstlerischen Wahrheitsbegriff. Wo a priori keine Objektivität möglich ist wie bei Kunst oder Literatur, nehmen auf kollektiv anerkannten Wertmaßstäben beruhende Urteile eine Position ein, die auf der Verständnisebene einer allgemein anerkannten Tatsache entspricht. Ein Beispiel dafür sind die Werke des literarischen Kanons einer Zeit, die weitgehend unbestritten als sog. Hochliteratur klassifiziert werden. Kuhn hat die Übertragung seiner Ideen auf andere Bereiche, wie sie hier vorgenommen wird, sehr skeptisch gesehen. Die vorliegende Studie setzt sich mit dem Alten und Neuen in der Literatur auseinander und dabei sollen 50 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze die Modelle Flecks und Kuhns auf einer primären Stufe als Denkmodelle zugrunde liegen. Es ist dabei weniger von Bedeutung, Argumente für oder gegen die Theorien vorzubringen, vielmehr soll ihr erkenntnistheoretischer Wert in einer diskursiven Auseinandersetzung unterstrichen werden. Die Theorie von Kuhn ist m. E. nur sinnvoll, wenn sie auch auf andere Bereiche übertragen werden kann, natürlich entsprechend modifiziert. Es geht darum zu fragen, ob in der Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung Phänomene und Vorgänge existieren, die in ihrem Wesen Analogien zu Kuhns Verständnis von Paradigmen, Krisen, Anomalien und Revolutionen aufweisen. Auch die Frage nach Inkommensurabilität, die im Diskurs von Kuhns Schriften eine Begriffskonfusion evoziert hat, gewinnt in der Übertragung auf andere Bereiche Evidenz. In der Literatur gelten gewisse Merkmale einer Stilrichtung inkommensurabel zu jenen anderer. Es stellt sich die Frage, welche Maßstäbe der literarischen Wertung dafür entscheidend sind, wo bestimmte Merkmale korrespondieren und wo sie als unvereinbar respektive inkommensurabel gelten. I.5 Heuristische Perspektiven und Grenzen der Begriffe Denkstil und Paradigma zwischen Tatsache und Phänomen Die Ansätze von Fleck und Kuhn stehen im Spannungsfeld des ontologischen Diskurses um die Frage, ob die Realität sinnlich objektiv wahrnehmbar oder selbst das Faktische eigentlich eine Konstruktion des menschlichen Geistes ist. Fleck und Kuhn nehmen jeder für sich eine bemerkenswerte Zwischenposition ein, da sie eine Relativität der Fakten postulieren, sie gewissermaßen als Kompositum zwischen einer objektivierbaren Realität und der menschlichen Wahrnehmung definieren. Diese Grundfrage steht in der vorliegenden Studie nicht im Fokus, doch berührt sie die Untersuchung insoweit, als die Problematik als solches für das Verständnis der Theorien von Fleck und Kuhn von Bedeutung ist. Da sich beide auf die empirischen Wissenschaften beziehen und ihre Zwischenposition essentieller Bestandteil ihrer Konzepte ist, muss sie bei der hier vorgenommenen Übertragung des Ansatzes auf die Literatur entsprechend berücksichtigt werden. Es stellt sich in Konsequenz die Frage, inwieweit die Lektüre und Rezeption von literarischen Texten erkenntnistheoretisch eine Tatsachenwahrnehmung darstellt. Kuhn hat darauf hingewiesen, dass die von ihm ausgearbeitete Theorie sich speziell auf die strukturell institutionalisierten, normierten Naturwissen‐ I.5 Heuristische Perspektiven und Grenzen der Begriffe Denkstil und Paradigma 51 51 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-27. 52 Ebd., S.-25-36. 53 Thomas S. Kuhn: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschafts‐ geschichte. Hrsg. von Lorenz Krüger. Übersetzt von Hermann Vedder. Frankfurt am Main 1978, S.-318. 54 Thomas S. Kuhn: Bemerkungen zu meinen Kritikern. In: Lakatos / Musgrave: Kritik und Erkenntnisfortschritt 1974, S.-223-269, hier S.-236. schaften respektive die exakten empirischen Disziplinen seit der Kopernika‐ nischen Wende bezieht. Er schließt dabei die vorneuzeitliche Wissenschaft ausdrücklich aus: „Keine Zeit von der Antike bis zum Ausgang des siebzehnten Jahrhunderts besaß eine einheitliche, allgemein anerkannte Anschauung über das Wesen des Lichts. Es gab vielmehr eine Anzahl miteinander streitender Schulen und Zweigschulen, […].“ 51 In Kapitel II. Der Weg zur normalen Wis‐ senschaft von Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen skizziert er seine Auffassung von der Entwicklung der Wissenschaften im Verlauf der Mensch‐ heitsgeschichte. 52 Zu verschiedenen Zeitpunkten vollzogen einzelne Fächer den Wandel zu „reifen Wissenschaften.“ 53 Kuhn meint damit, dass sie eine analytische rationale, auf Objektivität zielende Vorgehensweise entwickelten, die im Gegensatz zu metaphysischer Spekulation steht. Er unterscheidet sie von den später von ihm so genannten „Proto-Wissenschaften“, zu denen er die Vorstufen der „normalen Wissenschaft“ zählt und indirekt auch die Künste: In der Antike und der Renaissance lieferten eher die Künste als die Wissenschaften die Paradigmen des Fortschritts. Einige Philosophen finden prinzipielle Gründe auch noch dafür, warum ihr Fach nicht ständig vorwärtsgeht, obwohl manche es bemängeln, daß dies in der Tat nicht der Fall ist. Auf alle Fälle: es gibt solche Fachgebiete - ich werde sie als Proto-Wissenschaften bezeichnen -, in denen die Praxis zu überprüfbaren Konklusionen führt, und die dennoch, ihren Entwicklungsmustern nach, eher die [sic! ] Philosophie oder den Künsten als den wohlbegründeten Wissenschaften ähnlich sind. 54 Diese Äußerung unterstreicht einige grundsätzliche Probleme von Kuhns Argu‐ mentation. Einerseits postuliert er Objektivität, andererseits impliziert sein Mo‐ dell subjektive Elemente, wie etwa die Relativität der Tatsachenwahrnehmung, die auch in den „wohlbegründeten Wissenschaften“ wirksam sein müssen. Die zwischen Deskription und Wertung diffuse Kategorie Fortschritt bereitet m. E. sehr große Schwierigkeiten. Es ist plausibel, dass sie in ihrer kollektiven Gültigkeit als normatives Paradigma gedeutet wird. Auch in der Bewertung von Künsten oder Literatur schwingt eine Vorstellung von Fortschritt mit, so wie die Philosophie einen Erkenntnisfortschritt anstrebt. Da ich Kuhns 52 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze Theorie besonders im Hinblick auf diese Grenzbereiche für heuristisch wertvoll halte, akzentuiere ich in der Deutung und Anwendung auf diesen denk- und wissenstheoretischen basalen Konnex und nicht auf die spezielle Gültigkeit seines Modells für den von ihm umrissenen Bereich der Naturwissenschaften seit der Neuzeit. Meine Ausführungen gehen hypothetisch davon aus, dass sich Kuhns Modell in seiner Essenz nicht auf den naturwissenschaftlichen Bereich beschränken lässt, denn Geistes- und Naturwissenschaften sind in zahlreichen Aspekten wissenssoziologisch und methodisch verwoben. Kuhns Ansatz, wie er ihn für die Naturwissenschaften skizziert und mit entsprechenden konkreten Bei‐ spielen unterlegt, ist gewiss nicht spiegelbildlich auf Sozial-, Geisteswissen‐ schaften, Künste und Literatur übertragbar, da diese sich in ihrer Denk- und Vorgehensweise grundlegend von den auf Empirismus fundierten Disziplinen unterscheiden. Doch kann das Modell m. E. nicht plausibel sein, wenn man nicht gewisse Aspekte transferieren kann, denn Kuhns Thesen rekurrieren auf bestimmten angenommenen sozialpsychologischen Konstanten des menschli‐ chen Denkens und Handelns, die nicht auf Naturwissenschaften isoliert bezogen werden können. Die von ihm postulierte Komponente des Ordnens von Wissen und Erkenntnis nach Paradigmen beruht nicht auf Kognition, sondern impliziert vorgegebene Denk- und damit auch Wertmuster. Aufgrund dieser und anderer sozialpsychologischer Implikationen wäre sein Modell daher anachronistisch, wenn man es nicht auf andere Bereiche anwenden könnte. Wenn Kuhn (wie Fleck) auf die Grenzen des Empirismus in den Naturwissenschaften hinweist, muss sein Modell logischerweise auch psychologische und philosophische Komponenten tangieren, die ihnen inhärent sind. Daraus folgt, dass sich keine klare Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaft ziehen lässt und sein Modell wäre wenig erkenntnisfördernd, wenn es sich nicht heuristisch auf die anderen Disziplinen wie auch die Künste übertragen ließe, da auch diese eine Qualität von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wissen des Menschen betreffen. Kuhns Hypothesen postulieren in ihrer sozialpsychologischen Dimension eine anthropologische Konstante im Denken, die sich nicht auf einen Bereich beschränken lässt. Wenn auch modifiziert und in gewissen Aspekten dem Unterschied der Disziplinen geschuldet anders, muss das Modell als Denk- und Handlungsmuster in zentralen Punkten auf den geisteswissenschaftlichen bzw. den Kunst- und Literaturbetrieb übertragbar sein. Die Schwierigkeit der Reduktion der Naturwissenschaft auf die Empirie lässt sich veranschaulichen, wenn man auf ihre Grenzen verweist. Im Weltraum oder im Mikrokosmos gibt es Dinge und Phänomene, die zweifellos existieren, aber nicht oder nur partiell beobachtbar, nicht empirisch nachweisbar und in ihrer I.5 Heuristische Perspektiven und Grenzen der Begriffe Denkstil und Paradigma 53 Form und Beschaffenheit nicht beschreibbar sind. Aus dem ihnen Bekannten ermitteln Naturwissenschaftler Hypothesen. Diese sollen auf rationaler Basis erstellt werden und nach den vorhandenen Daten plausibel sein, sie sind jedoch nicht beweisbar. Auch in einem ganz anderen Bereich, der empirischen Sozialforschung, zeigt sich offenkundig, wie sich bei der Erhebung von Daten die Grenze zwischen Faktizität und Interpretation verwischen kann. Der Bereich des der Empirie nicht Zugänglichen steht mit der Konstitution der menschlichen Psyche in Zusammenhang. Die Grundfragen nach dem Sinn des Lebens, der Beschaffenheit der Seele stehen seit jeher im Zentrum des Denkens. Die Geisteswissenschaften und Künste sind der Versuch, das nicht em‐ pirisch Fassbare zu erklären und zum Ausdruck zu bringen. Die heute vollzogene systematische Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gibt es erst seit der Neuzeit. Wegen dieser Klassifizierung und ihrer Wirksamkeit lassen sich Argumente für die Plausibilität von Kuhns Paradigmenbegriff darlegen. Es liegt im Wesen des Menschen, dass er seine Beobachtungen mit Vorstellungen von der Welt, bestimmten Ideen, Überzeugungen verknüpft. Diese Annahme ist Grundlage aller Mythentheorien und Ausdruck davon ist in allen Kulturen die Rolle der Religion. Die im Zuge des technischen Fortschritts vollzogene „Entzauberung der Welt“ bedeutet, dass durch die Zunahme des durch Empirie ermittelten Wissens die spekulativen metaphysischen Deutungen zunehmend verdrängt wurden, allerdings nicht völlig ersetzt. Es ist evident, dass solche Verbindungen wiederum die Wahrnehmung bzw. Erkenntnispsychologie beein‐ flussen. Die Beobachtung ist in gewissen Fällen bereits Interpretation und Deutung. Die öffentlichen Debatten der letzten Jahre um „alternative Fakten“ bzw. Interpretation von Fakten betreffen im Kern dieses Problem, schon die Auswahl von Meldungen für eine Nachrichtensendung impliziert bereits eine Deutung. Aus der semiotischen Perspektive sind Tatsachen Zeichen, und Texte sind auch Zeichen, beides wird im Bewusstsein des Menschen vermittelt und dieses wiederum greift auf Zeichen und Begriffe zurück, denen eine Bedeutung inhärent ist. Wichtig erscheint mir in diesem Kontext daher die Differenzierung zwischen der eigentlichen Tatsache und ihrer Interpretation, wozu auch die Etablierung bzw. Akzeptanz einer Tatsache zählt. Kuhns Verwendung des Begriffs der Tatsache in seinen Ausführungen ver‐ weist darauf, dass er die Existenz von ermittelten Fakten voraussetzt. Sein Wirklichkeitsbegriff fundiert auf einer Intersubjektivität von Logik und Beob‐ achtung. Er begreift in diesem Sinne empirische Tatsachen als Realität. In dem Aufsatz Logik oder Psychologie der Forschung? erläutert er systematisch Gemein‐ samkeiten und Differenzen seiner Positionen mit denen von Karl Popper: 54 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 55 Kuhn: Die Entstehung des Neuen 1978, S.-357f. Kursivierung im Original. 56 Kuhn spricht den spekulativen Disziplinen allerdings die Wissenschaftlichkeit ab. Vgl. ebd., S. 364: „Betrachtet man die schwierigen Fälle, etwa die Psychoanalyse oder die marxistische Geschichtsschreibung, für die, wie uns Sir Karl [Popper] mitteilt, sein Kriterium [Pseudowissenschaft] ursprünglich gedacht war […], so stimme ich ihm bei, daß man sie heute nicht als Wissenschaft bezeichnen kann.“ Dass das marxistische Ge‐ schichtsbild paradigmatisch als wissenschaftliche Tatsache angesehen und Grundlage eines Literaturverständnisses wurde, wird in Kap. IV dieser Studie herausgearbeitet. Es geht uns beiden um den dynamischen Vorgang der wissenschaftlichen Erkenntnis und nicht um die logische Struktur der Ergebnisse; als die relevanten Daten betrachten wir beide die Tatsachen und auch den Geist des wissenschaftlichen Lebens, und oft suchen wir sie in der Geschichte. […] und beide behaupten wir, die Wissenschaftler könnten durchaus versuchen, Theorien zu erfinden, die beobachtete Erscheinungen erklären, und zwar anhand realer Gegenstände, was auch immer dies bedeuten mag. 55 Kuhn differenziert in diesen Ausführungen systematisch zwischen angenom‐ mener und tatsächlicher Wirklichkeit. Die Relativität einer Tatsache ist für ihn tendenziell weniger durch die psychologische Wahrnehmungsebene verortet, sondern mehr in den normativen sozialen Komponenten im Zuge der Ermittlung der Tatsache, etwa der Zielgebundenheit der Wissenschaft. Er verweist auf Bereiche, die der Empirie nicht zugänglich sind, von denen jedoch Hypothesen und Vorstellungen entwickelt werden, die Bestandteil einer Weltsicht sein können. 56 Kuhn legt im ersten Kapitel seines Zentralwerks schlüssig dar, dass die Annahme der Möglichkeit einer Wissenschaft auf rein empirischer Basis unmöglich ist. Sein Ansatz wurde deswegen, wie schon erwähnt, als relativistisch kritisiert, wogegen er sich verwahrte. Seine Position lässt sich in der Tat als Versuch einer Vermittlung zwischen positiven und metaphysischen Konzeptionen charakte‐ risieren. Kuhns Untersuchungsgegenstand berührt die Schnittstellen zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, er versucht die Denkprinzipien zu ergründen, die der naturwissenschaftlichen Forschung zugrunde liegen. Hierbei erscheint die Selbstreferentialität seines Ansatzes bemerkenswert, denn die von ihm formulierten Prozesse müssen konsequenterweise auch auf seine Ausführungen anwendbar sein. Die Grundannahme der Theorie Kuhns besteht darin, dass die Wissenschaft bzw. das wissenschaftliche Arbeiten Paradigmen unterliegt, die sich im histori‐ schen Prozess wandeln. Die jeweils gültige, von einem etablierten Paradigma bestimmte Ausprägung bezeichnet Kuhn mit dem Terminus „normale Wissen‐ schaft“. Auf dieser basieren die Lehrbücher, sie wird dem Nachwuchs gelehrt und impliziert durch das Paradigma vorgegebene Methoden und Forschungs‐ I.5 Heuristische Perspektiven und Grenzen der Begriffe Denkstil und Paradigma 55 57 Ebd., S.-357f. 58 Kuhn hat in seinen späten Jahren Parallelen zwischen der Wissenschaftsgeschichte und der biologischen Evolution prononciert, vor allem im Hinblick auf Auslese von Ideen und einer Vervielfachung der Disziplinen, ‚Arten‘ von Wissenschaft. Vgl. dazu einen Auszug aus einem Interview: Thomas Kuhn über Wissenschaftsdynamik. https: / / / ww w.youtube.com/ watch? v=NBn20UZWzOI&t=4s (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). ziele. Diese akzeptierte Wahrheit entspricht sinngemäß dem, was Fleck als „passive Koppelungen“ umschreibt. Paradigma ist bei Kuhn ein sehr abstrakter, heterogener Begriff, der ähnlich wie Flecks Terminus Denkstil wegen seiner Kombination aus empirischen und metaphysischen Implikationen nicht genau beschrieben werden kann. Es kann als Typisierung bestimmter wesentlicher Axiome, Denkmuster, Wert- und Zielvorstellungen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft skizziert werden, die in einem organischen Zusammenhang weitgehend Gültigkeit besitzen. Ein solches Paradigma einer Wissenschaft gerät in eine „Krise“, wenn „Anomalien“ auftreten, z. B. wenn die „normale“ Schulwissenschaft bestimmte Probleme nicht mehr lösen kann. Werden bis‐ herige fundamentale Wahrheiten infrage gestellt oder erweisen sie sich als falsch aufgrund neuer Erkenntnisse, „wenn die ältere Theorie an gewissen Problemen der Logik oder des Experiments und der Beobachtung scheitert“, 57 gerät das Paradigma ins Wanken und wird durch ein neues abgelöst. Kuhn geht davon aus, dass dieser Prozess einer Revolution gleicht. Der Begriff Revolution bezeichnet gemeinhin einen abrupten Wandel, ist dabei aber nur graduell abgrenzbar. Die Schwierigkeit der typologischen Abgrenzung von Revolution zu anderen Formen des Wandels wie Reform und Evolution stellt meines Erachtens ein Problem von Kuhns Theorie dar. Zudem ist ein Wandlungsprozess so heterogen, dass er unterschiedliche Aspekte enthalten kann, was Fleck mit seinem Terminus „Denkstilmutationen“ zum Ausdruck bringen möchte. 58 Es ist oft sehr graduell, inwieweit ein neues Paradigma Elemente des vorherigen enthält und aufnimmt. Auf einer anderen Verständnisebene pointiert sich die Frage, ob wissenschaftlicher Fortschritt ein kumulativer Prozess der Wissens‐ vermehrung ist, oder eben ein revolutionärer, d. h., Wissensinhalte werden durch andere abgelöst. In diesem Zusammenhang könnte man sogar von einer Art Wissenstransfer sprechen. Das in den empirischen Naturwissenschaften in der Praxis verworfene Wissen wird als Teil der Kulturgeschichte Bestandteil der Geisteswissenschaften. Als Beispiel seien bestimmte Mythen genannt, die in früheren Zeiten als Erklärungsmuster galten. Teile eines Paradigmas können zwar tatsächlich radikal verändert werden, doch andere gleichzeitig erhalten oder modifiziert werden. Man kann die Gül‐ tigkeit von Kuhns Annahme relativierend akzeptieren, wenn ein revolutionäres 56 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze Element signifikant diesem Wandel inhärent ist. Kuhn geht tendenziell von einer radikalen Änderung der Paradigmen aus, in einer relativ kurzen Zeit etabliert sich ein neues. Der Begriff der Revolution verengt den Blick auf die Ursachen des Wandels, eine Änderung wissenschaftlicher Paradigmen kann sowohl mit Absicht, wenn soziale Bedingungen neue Normen schaffen, als auch durch zufällige wissenschaftliche Entdeckungen herbeigeführt werden. Zudem stellt sich die Frage, ob Kuhn den Begriff im eigentlichen Sinne oder als Metapher im Rekurs auf den populären politischen Gehalt versteht. I.6 Die Problematik der Begriffe Denkstil und Paradigma in ihrer Anwendung in der Praxis - Zwischenresumée und Ausblick Die Darlegung der Theorien von Fleck und Kuhn hat aufgezeigt, wie umstritten beide Ansätze in mehrfacher Hinsicht sind. Ein wesentliches Problem liegt in dem unterschiedlichen Bedeutungsverständnis einiger Schlüsselbegriffe. Dabei ist Flecks Theorie viel offener, er vermeidet in seinen Schilderungen die Formulierung von Identitäten. In seiner Begriffsbildung ist er vorsichtig, in der Darstellung um Präzision und Berücksichtigung aller Unwägbarkeiten bemüht. Dabei entwickelt er seine abwägenden Begriffe und Bezeichnungen aus seinen Darlegungen heraus, immer wieder akzentuiert er deren Grenzen und Relativität. Kuhn hingegen hat Begriffe entwickelt, die eine klar umrissene Bedeutung evozieren. Diese stellt er a priori in den Raum, und vollzieht auf ihrer Basis seine Ausführungen und seine Argumentation. Revolution, Paradigma, Inkommensurabilität lassen sich im Duktus seiner Ausführungen als Entitäten begreifen. Er hat in der Diskussion um seine Theorie diese Begriffe zunehmend präzisiert, kontextualisiert und variiert, was die Verständnisoptionen seiner zentralen Monographie zunehmend veränderte und teilweise erschwerte. Damit geht er in der Gesamtsicht auf die Entwicklung seiner Lehre einen Flecks Duktus diametral gegenüberstehenden Weg. Kuhns Begriffe sind in der hier formulierten heuristischen Anwendung im Rahmen der Darstellung der beiden Theorien jedoch sehr hilfreich und bilden die Basis der dargelegten Untersuchungen und Textanalysen. Dies entspricht einer Position, die in der Einleitung zu dem 2014 erschienenen Sammelband Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften formuliert wird. Die Herausgebenden gehen pointiert resümierend auf die Rezeption von und die Kritik an Kuhns Thesen ein, doch halten sie zu Beginn ihrer Ausführungen fest: „Kuhns Buch ist und bleibt ungeachtet aller Anfechtungen der Referenzpunkt I.6 Die Problematik der Begriffe Denkstil und Paradigma in ihrer Anwendung 57 59 Andrea Sakoparnig / Andreas Wolfsteiner: Einleitung. In: Andrea Sakoparnig / An‐ dreas Wolfsteiner / Jürgen Bohm (Hrsg.): Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften. Berlin / Boston 2014, S.-7-17 hier S.-7. Kursivierung im Original. 60 Vgl. dazu Margaret Masterman: Die Natur eines Paradigmas. In: Lakatos / Musgrave: Kritik und Erkenntnisfortschritt 1974, S. 59-88, hier S. 61: „Natürlich macht Kuhn in seinem halb-poetischen Stil das Paradigma-Erklären für den oberflächlichen Leser wirklich schwer. Nach meiner Zählung benützt er das Wort ‚Paradigma‘ in nicht we‐ niger als 21 Bedeutungen in [Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen].“ Masterman listet diese erläuternd auf und vertieft die Problematik des Begriffs hin zum Versuch seiner logischen Charakterisierung. Sie steht Kuhns Ansatz grundsätzlich zustimmend gegenüber. Im in der deutschen Ausgabe enthaltenen Postskriptum - 1969 antwortet Kuhn auf ihre seiner Ansicht „[b]esonders überzeugende Kritik“ (Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-237). sämtlicher Debatten, die sich mit dem Begriff des Paradigmas auseinandersetzen - so auch im vorliegenden Band.“ 59 Wie die meisten Kommentare zu Kuhns Theorie, verweisen sie auch darauf, dass sein Begriff des Paradigmas unscharf bleibt. 60 In dieser Hinsicht stellt sich die Frage, ob das, was er als Phänomen beschreiben möchte, als gedankliche Ein‐ heit so komplex ist, dass es sich, auch wenn es sich um ein Kontinuum handelt, nicht in einen klaren Begriff fassen lässt. Die verschiedenen Bedeutungen spie‐ geln grundverschiedene Qualitäten. Das Dilemma von Kuhns Ausführungen zeigt sich darin, dass das Phänomen, das er als Klasse bzw. Aggregat zusam‐ menfassen will, so vielschichtig und von ihm wesenseigenen kontingenten Ei‐ genschaften durchsetzt ist, dass es gar nicht möglich ist, es sprachlich mit einem einheitlichen substanziellen Begriff treffend zu bezeichnen. Das Paradigma impliziert Reales, Gedanken, Prozesse, Strukturen, die sich kaum als eine Entität zusammenfassen lassen. Fleck bringt dieses Moment in seinen Ausführungen sehr konzise zum Ausdruck, in dem er das Denkkollektiv metaphorisch als Kraftfeld charakterisiert. Diese Differenz zwischen Fleck und Kuhn illustriert ein grundsätzliches methodisches Dilemma. Fleck wird in seiner Darstellung der Vielschichtigkeit des Prozesses gerecht, lässt sich aber in seinen diffizilen Implikationen nur schwierig als Erklärungsmodell in einem breiteren Diskurs anwenden, weil die topologischen Begriffe fehlen. Kuhns Modell wirkt hingegen unterkomplex, wenn man die häufig schlagwortartige Anwendung seiner Termini auf unter‐ schiedlichen Ebenen betrachtet. Ohne diese wären seine Thesen aber kaum in den sie essentiell tangierenden disziplinenübergreifenden Fachkreis gelangt, geschweige denn in die öffentliche Diskussion. Hierin spiegelt sich die von beiden hervorgehobene soziologische Kategorisierung des wissenschaftlichen Fachkreises und der allgemeinen Öffentlichkeit. Auch diese Trennung ist flie‐ ßend, da sich in der Praxis die Diskursteilnehmer aufgrund ihrer Kenntnisse und 58 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 61 Robert Misik: Die falschen Freunde der einfachen Leute. Berlin 2019 (E-Book), Pos. 79. 62 Ebd., Pos. 127. Zugehörigkeit zu entsprechenden Fachkreisen kaum dichotom in den von Fleck typisierten esoterischen Kreis der Fachwissenschaftler und den exoterischen Kreis der interessierten Außenstehenden einordnen lassen. Dieses Problem lässt sich für die in dieser Studie behandelte Literatur evident exemplarisch illustrieren. Das literarische Feld vereint so unterschiedliche Gruppen wie Lite‐ raturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, Fachbibliothekarinnen und Fachbibliothekare, Kritikerinnen und Kritiker, Autorinnen und Autoren, Leserinnen und Leser, die schon soziologisch auf unterschiedliche Weise im Li‐ teraturbetrieb verwurzelt sind, von den individuellen Faktoren wie Fachwissen und Einstellungen zur Literatur ganz zu schweigen. Einerseits ist die Vereinfachung des Theorems durch die überhöhende be‐ griffliche Abstraktion nötig, um dieses Denkmodell in den Diskurs zu lancieren, andererseits verlieren sich im öffentlichen Gebrauch der Termini ihre diffizilen Implikationen. Für die diskursive Deutung und Verbreitung der Schlüsselbe‐ griffe „Paradigma“ und „Wissenschaftliche Revolution“ lassen sich sehr ähnliche Konsequenzen feststellen, wie sie der Journalist Robert Misik für die Termini „Volk“ und „Bevölkerung“ im Hinblick auf eine Definition der sozialen Kategorie „das einfache Volk“ formuliert: „Nun kann man natürlich sagen: Es gibt kein Volk, sondern nur Bevölkerung. Das ist zwar einerseits richtig, wird aber andererseits nicht alle überzeugen“. 61 Die schnelle Analyse, die nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig ist, lautet, dass die sozialmoralischen Großmilieus, die man mit dem Begriff der „einfachen Leute“ unscharf zeichnet, die Träger dieser Revolte [gemeint ist der Rechtspopulismus] sind. Das ist, wie gesagt, halb richtig und halb falsch. 62 Während Bevölkerung eine empirisch erfassbare Personengruppe umfasst, impliziert der Begriff Volk innere Einstellungen, bestimmte „Denkstile“. Er kann mit Flecks Begriff des „Denkkollektivs“ assoziiert werden und verweist zugleich auf alle Schwierigkeiten der hier behandelten Thematik. Kuhns Terminus der „Normalwissenschaft“ ist beispielsweise essentiell an den diffusen Begriff der „Normalität“ gekoppelt. Begriffe wie „Paradigma“ oder „wissenschaftliche Revolution“ entfalteten im öffentlichen Diskurs eine suggestive Kraft, die die bis in die Populärkultur reichende Wirkung von Kuhns Modell maßgeblich förderte. Dass daraus auch anregende Denkfiguren resultieren können, belegt eine Folge aus Staffel 2 der aktuellen Science-Fiction-Serie The Expanse. Indem I.6 Die Problematik der Begriffe Denkstil und Paradigma in ihrer Anwendung 59 63 The Expanse (Fernsehserie). Alcon Entertainment, The Sean Daniel Company, Amazon Prime (Produktion). 2015-heute. sie den Titel Paradigmenwechsel trägt, 63 greift sie Kuhns Ansatz im griffigen Motto auf. In der zentralen Szene der Episode erklärt ein Wissenschaftler einer Regierungsvertreterin, dass ein General ein unerklärliches Phänomen nicht als außerirdische Lebensform in Erwägung zieht (als die es sich tatsächlich entpuppt), weil diese Option in seinem Denkraster überhaupt nicht vorhanden ist. Eine immer mitschwingende Frage ist die nach den Grenzen der Empirie. Die Untersuchungen und Feststellungen von Fleck und Kuhn stellen die Relativität der Wirklichkeit erschöpfend dar. Sie verfallen beide nicht in einen radikalen Subjektivismus der Beliebigkeit, der jede Beobachtung oder These als Illusion dekonstruiert. Die in eine plausible argumentative Darlegung gefasste Feststellung, dass es keine völlige Objektivität gibt, ist vor allem Flecks großer Verdienst. Aus seinen Schlüssen folgt, dass man als Basis aller menschlichen Kommunikation eine intersubjektive Konsensualität voraussetzen muss, die trotz aller Relativität eine Realität der äußeren Natur übereinstimmend wahrnehmen und formulieren kann. Es ist die Essenz von Flecks Studie, dass er prononciert, dass es keine reine Empirie gibt, sondern allem ein subjektives Element innewohnt. Doch entbindet dies den Wissenschaftler nicht von der Aufgabe, gewisse Regeln einzuhalten, den subjektiven Faktor zu formulieren und zu reflektieren. Ein essentieller Wesenskern der Intersubjektivität ist es, bestimmte sinnliche Wahrnehmungen kollektiv übereinstimmend zweifelsfrei als Wirklichkeit zu konstituieren. Sie mögen als absolute Objektivität wahrgenommen werden, aber dass jeder Ein‐ zelne Fakten durch sein Bewusstsein als solche interpretiert, verweist auf den subjektiven Aspekt dieses Aktes. Die äußere Natur als solches existiert für den Menschen nur in der Transformation durch sein Bewusstsein, sei es primär in der persönlichen Wahrnehmung oder sekundär durch Medien, die vom Rezipienten dann wieder primär wahrgenommen werden. Diese Transforma‐ tionen teilt der Mensch seiner Umwelt in Zeichen, vorwiegend in Form von gesprochener und geschriebener Sprache, mit. Die Diskussion um Kuhn rekurriert auf grundlegende Probleme, die in unter‐ schiedlichen Denksystemen und mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten immer wieder auftauchen. Dabei treten zahlreiche Momente zutage, die auf einer anderen Ebene wieder auf sein Modell zurückführen. In der Tat gibt es Denk‐ weisen, Modelle, Klassenbildungen, die mit anderen kaum vergleichbar sind, weil entsprechende Parameter nicht existieren. Dies wiederum kann auf der 60 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 64 Interessant ist m. E. beispielsweise die Frage nach Affinitäten zwischen dem ‚Para‐ digma‘ und Immanuel Kants Kategorie des ‚synthetischen Urteils a priori‘. 65 Gunnar Hindrichs: Paradigma und Idealtyp. In: Sakoparnig / Wolfsteiner / Bohm: Pa‐ radigmenwechsel 2014, S.-21-51, hier S.-27. einen Seite Kuhns Annahme eines geschlossenen Denkmusters, das mit anderen inkommensurabel ist, bestätigen, auf der anderen Seite müssten diese anderen, pointiert formuliert, mit dem Paradigma im Sinne Kuhns unvergleichbar sein, könnten also strukturell gar nicht zu dem Modell in Relation gesetzt werden. Es gibt zahlreiche Begriffskonzeptionen, die Ähnlichkeiten mit Kuhns Kategorien aufweisen wie z. B. Dispositiv, Apriori, Sprachrahmen, Axiom, Bruch, die aber in grundlegend andere Denksysteme eingebunden sind. 64 Da auch diese Begriffe im Diskurs wirksam sind und die Deutung von Wandlungsprozessen mitgeprägt, diese vielleicht sogar beeinflusst haben, müssen sie mitgedacht und adäquat zu Kuhns Modell in Beziehung gesetzt werden, um zu ausgewogenen schlüssigen Urteilen zu gelangen. Es ist eine zentrale Einstiegsthese dieser Studie, dass die Literatur zur Erörte‐ rung und Reflexion dieser Problematik einen erhellenden Zugang bietet. Es geht unter diesem Gesichtspunkt nicht um die Anwendung von Kuhns oder Flecks Modellen auf den diachronen literarischen Wandel, sondern um die Literatur als Schnittstelle von Realität und Gedankenwelt. Im Zusammenhang mit der Fiktionstheorie rückt die Frage nach Wirklichkeit und literarischer Wahrheit ins Zentrum des Diskurses. Die Erzähltheorie sucht die Grenzen zwischen außer- und innertextlicher Welt. In der Literatur treffen sich Objektivität und Subjekti‐ vität sehr prägnant, weil in die Fiktion die Erscheinungsformen des Wirklichen, das Tatsächliche und das Mögliche, wie auch gedankliche Realitäten einfließen. Einerseits gibt es eine Textempirie, andererseits sind die Aussagen eines Textes, eines Gewebes von Sprache, vielschichtig. Die Metapher als zentrales Element literarischen Schaffens bringt die Differenz zwischen der eigentlichen und der übertragenen Bedeutung des Zeichens auf den Punkt. Die Bedeutungen, die den Zeichen jeweils gegeben werden, unterliegen einem Wandel. So verstanden ist auch die Sprache ein Paradigma: „Carnaps Sprachrahmen und Kuhns Paradigma bilden darum Formen eines relativen Apriori: Sie gelten a priori vor aller erfahrungswissenschaftlichen Überprüfung, aber zugleich nur im Bezug auf bestimmte Normalwissenschaften, deren Verfassung sich wandeln kann.“ 65 I.6 Die Problematik der Begriffe Denkstil und Paradigma in ihrer Anwendung 61 66 Sylwia Werner: Denkstil - Paradigma - Avantgarde. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in den Wissenschaftstheorien Ludwik Flecks und Thomas Kuhns. In: Sakoparnig / Wolfsteiner / Bohm: Paradigmenwechsel 2014, S.-53-66, hier S.-53. I.7 Thomas S. Kuhn über das Paradigma in der Kunst Um den Paradigmenbegriff zu operationalisieren und ihn sinnvoll auf litera‐ rische Phänomene zu beziehen, muss Kuhns Haltung zur Adaption seines Konzepts vertiefend und differenziert gedeutet werden. Auch wenn er den Terminus nicht selbst eingeführt hat, ist er im Diskurs an sein Theorem gekoppelt. Grundsätzlich hat sich Kuhn kritisch gegenüber der Verwendung seines Modells auf die Kunst verhalten: [D]er Ahnherr des ‚Paradigmen‘-Konzepts, der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn, hatte sowohl die Anwendung des ‚Paradigmen‘-Begriffs auf die Kunst abgelehnt als auch das Ideal eines wissenschaftlichen Fortschritts, welches dem ‚Avantgarde‘-Begriff notwendig anhaftet, attackiert. 66 Im Hinblick auf das Paradigma in der Kunst evozieren manche Äußerungen Kuhns Missverständnisse. Von einer kategorischen Negation der Anwendung des Prinzips auf andere Bereiche kann man nicht sprechen. Ohne Zweifel äußerte er sich gegen eine direkte Übertragung seines Konzepts als wirkenden Mechanismus. Er sah die Verschiedenheit der Disziplinen und räumte sachlich ein, dass seine Forschungen und die darauf fundierte Argumentation sich ausschließlich auf die Naturwissenschaft bezogen, und er sich in anderen Gebieten zu wenig auskenne, um Aussagen zu treffen. Die virulente Diskussion um diese Frage ergab sich aus der Popularität des Konzepts und seine in der wissenschaftlichen und publizistischen Praxis erfolgte Adaption. Die mannig‐ fache Transformation des Modells in fast alle Bereiche und seine Rezeption fasst Christoph Demmerling konzise zusammen: Obschon K. der Übertragung seiner Überlegungen auf andere Gebiete als dasjenige der Physik stets mit Zurückhaltung begegnet ist, verdankt sich die herausragende Wirkungsgeschichte seines Denkens insbesondere solchen Verallgemeinerungen. Vor allem den klassischen geisteswissenschaftlichen Fächern gab die K.sche Begrifflich‐ keit eine Handhabe, häufig anzutreffenden Minderwertigkeitskomplexen gegenüber der naturwissenschaftlichen Forschung zu entrinnen. Man hatte nun nicht nur ein theoretisches Vokabular, mit welchem sich gleichzeitig die Geschichte der beiden Kulturen abendländischen Wissens schreiben ließ, mehr noch: Ein gelernter Physiker selbst hatte darauf hingewiesen, daß auch in die Naturwissenschaften hermeneu‐ tische Elemente einwandern. So ist es kaum verwunderlich, daß der Begriff des 62 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 67 Christoph Demmerling: Artikel Kuhn, Thomas Samuel. In: Metzler Philosophen-Le‐ xikon, https: / / www.spektrum.de/ lexikon/ philosophen/ kuhn-thomas-samuel/ 185 (zu‐ letzt abgerufen am 12. Juli 2023). Paradigmenwechsels eine reichhaltige Anwendung in der Philosophie und Soziologie (etwa bei Richard J. Bernstein oder Jürgen Habermas), in der Literaturwissenschaft (Hans Robert Jauß) und vielen anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen erfuhr. K.s Arbeiten wirkten innerhalb der Philosophie auch auf anderen Gebieten als der Wissenschaftstheorie; zu denken ist an die Realismusdebatte innerhalb der analytischen Philosophie (Hilary Putnams internen Realismus) sowie die Kontroverse um einen postmodernen Relativismus (Richard Rortys Plädoyer für einen pragmati‐ schen Pluralismus). Galt K.s Werk, das auf eine weitgehend durch den logischen Empirismus und kritischen Rationalismus geprägte Diskussionslandschaft innerhalb der Wissenschaftstheorie traf, zunächst als subversiv, so gehört es heute zu den Klassikern der Wissenschaftsphilosophie. Innerhalb der Geschichtsschreibung der Wissenschaften hat es einer Diskussion den Weg bereitet, welche sich mehr und mehr von K. entfernt hat und seine Überlegungen an Radikalität überbietet: die feministische Wissenschaftstheorie Evelyn Fox-Kellers, die wissenschaftssoziologi‐ schen und -anthropologischen Arbeiten B. Latours oder Hans-Jörg Rheinbergers dem Dekonstruktivismus verpflichtete Theorie der Experimentalsysteme. 67 Demmerlings knapper Abriss verdeutlicht, dass die adaptierende Rezeption von Kuhns Theorie in unterschiedlichen Bereichen als Gegenstand ein unhintergeh‐ bares Faktum ist und allein dies rechtfertigt entsprechende Untersuchungen über die Sinnhaftigkeit der Anwendung seines Modells. Auch aus Kuhns Selbstäußerungen geht hervor, dass er mögliche Parallelen seiner Theorie zu Prozessen des Wandels in anderen Bereichen nicht ausschließt, dabei jedoch bei bestimmten Aspekten signifikante Unterschiede zu den Implikationen seines für die Naturwissenschaften gültigen Konzepts herausstellt. In seinem bezüglich dieser Fragen zentralen Text Bemerkungen zum Ver‐ hältnis von Wissenschaft und Kunst formuliert Kuhn explizit die für ihn we‐ sentlichen Unterschiede zwischen Wissenschaft und Kunst, aus denen sich die Konsequenzen und Implikationen für die Anwendbarkeit seiner Theorie in der Literatur schließen lassen. Kuhn bezieht sich in dem Beitrag auf die Bildende Kunst, doch lassen sich seine grundlegenden Ausführungen auch ohne Einschränkungen auf die Literatur übertragen. Als einzelne wie in Gruppen suchen die Künstler nach Neuem, das sie auf neue Weise ausdrücken möchten. Für sie ist Neuerung sehr wohl ein hervorragender Wert und war es schon, ehe ihm die Avantgarde institutionellen Ausdruck verlieh. Mindestens seit der Renaissance hat dieser Bestandteil der Kunstideologie (es ist nicht der einzige, I.7 Thomas S. Kuhn über das Paradigma in der Kunst 63 68 Kuhn: Die Entstehung des Neuen 1978, S.-459. und er verträgt sich auch nicht ohne weiteres mit den anderen) für die Entwicklung der Kunst etwas geleistet, was die inneren Krisen für die Förderung der Revolution in der Wissenschaft geleistet haben. Wenn man stolz behauptet, die Wissenschaft sei kumulativ und die Kunst nicht - so verkennt man die Entwicklungsformen auf beiden Gebieten. Trotzdem drückt diese oft wiederholte Verallgemeinerung vielleicht gerade den tiefliegendsten der von uns untersuchten Unterschiede aus: die grundverschiedene Bewertung der Neuerung um ihrer selbst willen durch die Wissenschaftler und die Künstler. 68 Kuhn reagierte mit diesem Beitrag auf die weitreichenden Verallgemeinerungen und Popularisierungen seiner Theorie, die er durch seinen programmatischen Duktus und die schlüssig wirkenden Begrifflichkeiten und Modelle allerdings mit hervorrief. Es liegt auf der Hand, dass seine Hypothesen zu einem we‐ sentlichen Teil grundlegende Fragen der Geschichtsschreibung und -deutung aufgreifen, die sich nicht auf den naturwissenschaftlichen Bereich reduzieren lassen, sondern sich strukturell auf die Methodologie der Historie beziehen. Die bei Fleck implizierte Auflösung der systematischen Trennung von empirischen und hermeneutischen Wissenschaften ist zentraler Bestandteil von Kuhns Studie, so dass logischerweise sein Prinzip in essentiellen Punkten auch für die Geisteswissenschaften gelten muss. Kuhn fokussiert auf die empirischen Naturwissenschaften, die vor allem in der Wahrheitsfrage evidente Daten liefern können. Doch stellt er selbst zu Recht fest, dass er in seiner Theoriebildung ein aus den Geisteswissenschaften respek‐ tive der Historie stammendes Prinzip auf die Naturwissenschaften überträgt. Sein zyklisches Entwicklungsmodell weist Ähnlichkeiten mit den geschichts‐ philosophischen Theorien von Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler auf. Dennoch können wissenschaftliche Disziplinen nicht eindeutig in beobach‐ tende und verstehende aufgeteilt werden. Jede empirische Naturwissenschaft impliziert Akte des Verstehens, was Fleck hinreichend dargelegt hat, und jede hermeneutisch akzentuierte Disziplin enthält beobachtende Akte. Die Geschichtsschreibung orientiert sich an der Beobachtung von Tatsachen, die sie in menschliches Handeln deutende Erklärungsmodelle einordnet. Nichts anderes vollzieht Kuhn in seiner Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Aus Kuhns Ausführungen geht hervor, dass seine Skepsis weniger der reflektierenden Analogisierung seines Modells gilt, denn er charakterisiert dezidiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Seine Kritik gilt vielmehr zahl‐ reichen geisteswissenschaftlichen Ansätzen, die das Prinzip vereinfacht und undifferenziert auf ihre Forschungsbereiche übertragen haben. 64 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 69 Werner: Denkstil - Paradigma - Avantgarde. In: Sakoparnig / Wolfsteiner / Bohm: Paradigmenwechsel 2014, S.-56. 70 Kuhn: Die Entstehung des Neuen 1978, S.-459. 71 Ebd. S.-459f. In dem Beitrag Bemerkungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst setzt er sich speziell mit der Beziehung seines Konzepts zur Kunst auseinander. Dabei stellt er einige Aspekte heraus, an denen er die Affinität und Differenz zur Kunst plausibel darlegt. Zwei zentrale Punkte fallen dabei auf. Zum einen sagt Kuhn, dass das Prinzip seines Paradigmenmodells, der Wandel von Grundverständ‐ nissen, in der Kunst Gültigkeit habe und auch akzeptiert sei, und er dieses auf die Naturwissenschaften übertragen habe. Als wesentlichen Unterschied stellt er jedoch zum anderen fest, dass in der Kunst mehrere Paradigmen nebeneinander im sozialen Diskurs Gültigkeit haben können. Auch Fleck vertritt hier einen sehr ähnlichen Ansatz. Er verweist darauf, dass er ein in der Kunst allgemein anerkanntes Prinzip auf die Wissenschaft übertrage: Nach Fleck ist die Wissenschaft ebenso wie die Kunst ein „Produkt geistiger Schöp‐ fung“, das durch ästhetische und psychologische Faktoren, wie „Denkstimmung“, „Denkzauber“, aber auch einen „Denkzwang“, d. h. „das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln“ bestimmt wird. 69 Kuhn hebt in diesem Kontext ausdrücklich hervor: „Paradigmen sind nicht vollständig mit Theorie gleichzusetzen.“ 70 Dabei stellt er den hybriden Charakter des Begriffs zwischen Theorie und Anwendung heraus: „Wenn der Begriff des Paradigma für den Kunsthistoriker von Nutzen sein kann, dann sind Bilder und nicht Stile die Paradigmen.“ 71 Diese Differenzierung trifft den Charakter des Terminus und verdeutlicht seine Problematik vor dem Hintergrund seiner Anwendung auf die Literatur. Der Begriff umfasst eine formelle und informelle Musterbildung in einem dialektischen Prozess auf mehreren Ebenen. Er impliziert theoretische Modelle, Normen und Denkweisen sowie exemplarische praktische Anwendungen, die sich im diachronen Prozess wechselseitig beeinflussen. In der Literatur beein‐ flussen allgemeine Stilmuster die Entstehung einzelner Texte, die ihrerseits wiederum allgemeine Akzeptanz erlangende poetologische Einstellungen initi‐ ieren können. Bestimmte Schreibweisen hatten über einen großen Zeitraum Bedeutung und wurden von anderen abgelöst. Es gibt in jeder Gegenwart zeitgemäße Texte. Die Literatur der Vergangenheit wird in jeder Zeit gemäß den Kriterien ihrer Epoche neu bewertet, kanonisiert oder vergessen. Diese Prozesse unterliegen zu einem beträchtlichen Teil kontingenten Faktoren, so I.7 Thomas S. Kuhn über das Paradigma in der Kunst 65 72 Zur Problematik der Epochenbildung vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt am Main 1996, bes. den Vierten Teil Aspekte der Epochenschwelle. Blumenberg geht dabei knapp auf Kuhn ein: „Die Theorie der ‚wissenschaftlichen Revolutionen‘ beschreibt weithin zutreffend den Zusammenbruch jeweils herrschender Systeme an ihrem immanenten Rigorismus, […] Diese Konzeption dessen, was Historiker gern ‚Niedergänge‘ genannt haben, mag von hoher Verallgemei‐ nerungsfähigkeit für geschichtliche Erscheinungen sein. Aber für alle daraufhin fälligen Akte neuer Begründungen, des Vorzugs des neuen ‚Paradigmas‘, hat dieses Konzept schlechthin keine Erklärung anzubieten.“ (S. 540f.) Die Herausgabe der deutschen Übersetzung von Kuhns The Structure of Scientific Revolutions bei Suhrkamp wurde vermutlich von Blumenberg initiiert: „Kuhns Buch habe er während eines Gesprächs am 2.2. 1966 vorgeschlagen, wie er stolz am 15.9.1977 an Unseld schreibt.“ (Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg - Eine intellektuelle Biographie. Berlin 2020 (E- Book), S.-665, s.a. S.-296. dass sich mechanische Gesetze des literarischen Wandels nicht formulieren, jedoch bestimmte Merkmale solcher Wechselprozesse typologisch fassen lassen. I.8 Möglichkeiten und Grenzen des Paradigmenmodells im literarischen Feld Wie die Adaptionen von Kuhns Modell mit sehr unterschiedlichen Auslegungen im Gesamtüberblick illustrieren, läuft man bei der Anwendung Gefahr, in Generalisierungen zu verfallen. Daher sollte umrissen werden, was diese Studie epistemologisch erreichen kann, wo ihre Grenzen liegen und wie sie dabei methodisch vorgeht. Die kritische Reflexion der Theorie hat gezeigt, dass Kuhns Terminologie Affinitäten zu Diskursen der Literaturwissenschaft aufweist. Die heuristische Deutung der Literaturgeschichte als Paradigmengeschichte erscheint schlüssig. Literaturgeschichten sind nach Epochen gegliedert. Auch wenn sie zu hinter‐ fragen sind und selbst auf Paradigmen beruhen, sind literarische Epochen und kanonisierte Texte als Teile eines allgemein akzeptierten Ordnungs- und Wertungsschemas literarische Fakten. Epochen bilden neben der zeitlichen Abgrenzung ein Kontinuum gemeinsamer Schreibweisen, Stilnormen, Inhalte oder Motive ab. 72 Eine Ähnlichkeit zum Paradigmenmodell liegt auf der Hand. Bei der Frage danach, was den literarischen Wandel ausmacht, ob die Epochen‐ wechsel bestimmten Regelmäßigkeiten unterliegen, erscheint die Terminologie des Paradigmenwechsels als ein vertiefendes, erklärendes Modell einleuchtend. Literarische Strömungen sind geprägt von bestimmten Mustern, die allgemeine Gültigkeit in einem breiten Kreis besitzen. Die empirische Bestandsaufnahme der Literaturgeschichte zeigt, dass diese Muster temporär sind. Irgendwann 66 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze werden sie durch andere, neue abgelöst. Obwohl Kuhn der Kunst im Gegensatz zur Wissenschaft einen originären Wunsch nach Innovation zuschreibt, stellt sich hypothetisch die Frage, ob sich eine ‚Normalliteratur‘ typisieren lässt, die in der Erfüllung dominanter inhaltlicher und stilistischer Normen mehr die Nachahmung einer Form als eine Erneuerung anstrebt. Solche Schreibweisen können eine ‚Krise‘ erfahren. Die Literaturgeschichte kennt zahlreiche Bewe‐ gungen wie den Sturm und Drang oder den Expressionismus, die sich in der offenen Gegenbewegung zu bestimmten allgemein anerkannten literarischen Standards befanden. Häufig gingen diese Prozesse des literarischen Wandels mit einem Generationswechsel einher. Die Widerstände gegen neue Formen und Inhalte in der Literatur weisen möglicherweise ähnliche Strukturen auf wie die von Kuhn intendierten Beharrungstendenzen bei den Vertretern des alten Paradigmas in der Wissenschaft. Einige programmatische literarische Theore‐ tiker haben die von Kuhn aufgegriffenen Begriffe lange vor ihm verwendet, so sprach Friedrich Schlegel von einer „ästhetischen Revolution“. Das Neue, ein zentraler Begriff bei Kuhn, spielt in der literarischen Wertung eine maßgebliche Rolle. Innovation gilt als entscheidendes positives Qualitätsmerkmal, damit verbunden die Kreativität als Potenzial, Neues zu schaffen. Doch darf man bei dem Primat des Innovativen in der Kunst und Literatur - das sich selbst als Paradigma charakterisieren lässt - nicht ignorieren, dass die Referenz zu etwas schon Vorhandenem konstituierendes Element aller Literatur ist. Jeder Text greift in irgendeiner Weise auf gültige Stil-, Motiv- oder Formmuster zurück, wenn er am Kommunikationsprozess im literarischen Feld teilhaben will. In der Terminologie Flecks ausgedrückt bedeutet dies, dass die Mitglieder eines literarischen „Denkkollektivs“ bestimmten „Denkzwängen“ unterliegen. Die Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten dieses Spannungsverhältnisses zu ergründen, ist eine der wesentlichen Fragen dieser Studie. Es ist schwierig, solche Phänomene zu systematisieren. Kuhns Kategorien eignen sich jedoch als Parameter einer methodisch konstruierten Messskala, um an Beispielen aus verschiedenen Bereichen solche Wirkungskräfte im literarischen Feld zu illustrieren und Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten typologisch zu fassen. Es ist offensichtlich, dass das Thema sich im Hinblick auf die Vielfalt der Literatur nicht in seiner Totalität behandeln lässt. Eine auf alle Phänomene anwendbare kausale Formel für den literarischen Wandel lässt sich nicht formulieren, dazu enthalten diese Prozesse in ihrer Gesamtheit zu viele Sin‐ gularitäten und kontingente Faktoren. Dennoch kann die hypothetisch heuris‐ tische Übertragung des theoretischen Modells Einblicke in den Prozess der Entstehung von Literatur im Zusammenspiel von individuell-psychologischen und sozial-kollektiven Elementen bieten. Ebenso lässt sich exemplarisch die I.8 Möglichkeiten und Grenzen des Paradigmenmodells im literarischen Feld 67 Wechselwirkung des Alten und des Neuen bei der Entstehung von Literatur graduell erfassen. Die einzelnen Textuntersuchungen dieser Studie sollen auf‐ zeigen, dass sich aus konkreten Fällen des literarischen Wandels, in denen sich signifikante Übereinstimmungen mit dem Paradigmen-Prinzip aufzeigen lassen, Rückschlüsse auf generelle Eigenschaften solcher Prozesse ziehen lassen. Kuhns Paradigmenwechsel wird zunächst hypothetisch als eine Möglichkeit formu‐ liert, die hilft, bestimmte wiederkehrende Muster des literarischen Wandels offenzulegen sowie individuelle und kollektive, determinierte und kontingente Faktoren zu differenzieren. Diese Studie untersucht daher im textanalytischen Teil repräsentativ literarische Texte aus unterschiedlichen Epochen der Lite‐ ratur seit der Frühen Neuzeit, die Referenzen zu der skizzierten Problematik aufweisen, indem sich von ihnen ausgehend signifikante Entwicklungslinien nachzeichnen lassen. Jede literarische Erzeugung kann im Hinblick auf diese Phänomene unter‐ sucht werden. Die Auswahl hier richtet sich speziell auf Texte, die Korrelationen zu den im Überblick formulierten Aspekten aufweisen. Doch diese lassen sich typologisch nicht in ein komplementäres Raster aufgliedern, vielmehr zeigen sich spezielle Affinitäten zum Thema in sehr unterschiedlichen Eigenschaften. So sind Texte, die an Epochenschwellen verortet werden, von großer Relevanz. Einen weiteren Bereich stellen Texte aus der Vergangenheit dar, die in jeder li‐ terarischen Gegenwart eine neue Wertung erfahren. Untersuchungsgegenstand sind auch solche, die in besonderer Weise als vorbildlich gelten und weitere literarische Werke initiiert haben, die signifikante intertextuelle Bezüge zu ihnen aufweisen. Diese Texte stellen zwar maßgebliche Innovationen dar, nehmen aber dennoch in irgendeiner Form Referenz auf das Vorhergehende, sei es in sogar ablehnender Reaktion. Kuhns Statement, dass Bilder und nicht Stile in der Kunst die Paradigmen seien, lässt sich aus diesen Gedanken als Fragestellung auf die Literaturwissen‐ schaft übertragen. Texte sind analog zu den Bildern in der Kunst die konkreten Hervorbringungen der Literatur. Bestimmte Stile, Gattungen, Themen, Motive konstituieren als wesenhafte Bestandteile die Auffassungen eines literarischen Denkkollektivs. Diese Dialektik weist auf ein Spannungsfeld im Kraftfeld Literatur hin. Wie entstehen aus Texten Stile, wie entstehen aus Gattungspara‐ digmen wiederum Texte. Ziel dieser Studie ist es, dieses sich zunächst unstruk‐ turiert und kontingent eröffnende Kontinuum modellhaft in seinen Kausalitäten und Unwägbarkeiten als einen dialektischen Prozess zu beschreiben. 68 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 73 Kia Vahland: Gemeinsame Sache. In: Süddeutsche Zeitung 8. Juli 2020 (digitale Aus‐ gabe), Meinung, Artikel 1. I.9 Vorgehensweise und Textauswahl Da sich ein literarisches Paradigma nicht als Entität fixieren lässt, ein allgemein‐ gültiger kausaler Mechanismus des literarischen Paradigmenwechsels nicht existieren kann, müssen Kategorien entwickelt werden, die einerseits in der Analyse von Texten im Hinblick auf die theoretischen Implikationen des Para‐ digmenkonzepts allgemeine Schlüsse ermöglichen, andererseits die Relativität und Kontingenz dieses literarischen Phänomens konzedieren. Unter diesen Voraussetzungen müssen adäquate Methoden und vor allem eine speziell auf das literarische Feld bezogene Beobachtungsperspektive entwickelt werden. Diese Studie kann angesichts der Mehrdimensionalität des Gegenstands nicht der auf den ersten Blick naheliegenden Vorgehensweise folgen, aus der kanonisierten Literaturgeschichte bestimmte Texte oder Stilrichtungen als Denkstile oder Paradigmen abzuleiten. Ein konsensualer Rahmen über die Geschichte der Literatur, literarische Tra‐ ditionen, Gattungen oder Stile, bildet die Grundvoraussetzung, gewissermaßen die Grammatik des literarischen Diskurses. Dies entspricht sinngemäß der von Michel Foucault geprägten Wendung von der „Ordnung der Dinge“, welche die unbewusst verinnerlichten Grundeinstellungen bzw. Prägungen umfasst. Dieser Referenzrahmen lässt Raum für Meinungsunterschiede auf mehreren Ebenen. Die Literaturgeschichtsschreibung ist wie jede Generalisierung un‐ scharf, allein weil sie in ihrer Entstehung kontingenten und subjektiven Fak‐ toren unterliegt. Dennoch ist sie notwendig, um die Arbeit des Literaturwissen‐ schaftlers zu strukturieren und als Basis der Kommunikation unter den am Diskurs Beteiligten zu fungieren. Auch wenn es in Teilen Differenzen gibt, kann man von einem gewissen Grundkonsens sprechen, der sich, um Poppers Terminologie der Basissätze aufzugreifen, „bewährt“ hat. Literarischer Kanon und Literaturgeschichte sind immer auch gegenwarts‐ bezogen: „In ihren Bildern und historischen Referenzpunkten verortet eine Gesellschaft sich selbst nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart.“ 73 Daher sind sowohl die Kanonisierung als auch die Geschichts‐ schreibung wandelbar und der Blick und die Deutung längst vergangener Epochen sind nie abgeschlossen, sie sind gekoppelt an den jeweiligen Zeit‐ geist. Dieses Moment bedingt, dass die Untersuchung nicht von der gegen‐ wärtigen Literaturgeschichtsschreibung kodifizierte Epochen und Strömungen als Grundvoraussetzungen annehmen und systematisch als Paradigmen formu‐ I.9 Vorgehensweise und Textauswahl 69 74 Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Epo‐ chenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Sprach- und Literaturhistorie. Hrsg. von Hans-Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2015 (Erste Auflage 1985), S.-11-33, hier S.-18. lieren möchte. Die jedem Literaturwissenschaftler durch die im Wesentlichen allgemein akzeptierten Epochen und Strömungen vorgegebene Ordnung nach der Literaturhistorie kann nicht neu formuliert werden, ihre angenommenen Gesetzmäßigkeiten müssen jedoch im Kontext dieser Arbeit immer hinterfragt werden. Die methodische Schwierigkeit besteht darin, dass meine Textanalysen von bestimmten Voraussetzungen respektive Paradigmen ausgehen, die sie selbst wiederum infrage stellen. Aus dieser Gemengelage von sich überlagernden Fragestellungen und unter‐ schiedlichen Perspektiven versucht die Studie, eine Systematik zu entwickeln, die das Erkenntnisziel in seinen verschiedenen Facetten erfassen will. Einerseits kann die geschriebene Literaturgeschichte nicht ignoriert werden, andererseits muss sie immer wieder hinterfragt werden. Primärer Untersuchungsgegenstand sind Texte, für die a priori hypothetisch angenommen wird, dass sie im literari‐ schen Sektor exemplarisch die um Kuhn und Fleck entstandenen Fragekomplexe beleuchten. Der Textkorpus mag auf den ersten Blick unzusammenhängend inhomogen erscheinen, doch steht alles in Referenz zu den formulierten Fra‐ genkomplexen, die den übergeordneten Rahmen bilden. Die ausgewählten Autoren und Texte repräsentieren jeweils wesentliche Aspekte der Theorien von Kuhn und Fleck. So stellt das Kapitel über Theobald Hock einen Dichter an der Schwelle zwischen den Epochen Humanismus und Barock vor, in dem sich die Transformation zwischen altem und neuem Denkstil exemplarisch spiegelt. Im Schaffen des Theologen, Philosophen und Dichters Johann Gottfried Herder lässt sich akkumuliert die Geistesgeschichte von der Aufklärung bis hin zu den Epochen des Vormärz und des Realismus nachzeichnen. Herder setzt sich intensiv mit der im Diskurs der Aufklärung zentral mitschwingenden Frage auseinander, wie sich das Paradigma der Vernunft mit dem Christentum und seiner Überlieferung vereinbaren lässt. Auf die Implikationen dieses Wand‐ lungsprozesses lassen sich allgemeine Ausführungen von Niklas Luhmann zu Epochenbildung und Evolutionstheorie beziehen: „So hat sich zum Beispiel die Religion der neuartigen Kontingenz politischer Herrschaft anzupassen, was auf eine moralische Disziplinierung der Götterwelt oder auch auf eine Privatisierung der Religionszuwendung hinauslaufen kann.“ 74 Für den religiösen Herder ist die Auseinandersetzung mit diesem soziokulturellen Prozess zugleich eine persönliche Verhandlung zwischen Vernunft und Gewissen. Er schlägt in seinem Werk eine Brücke zwischen den Geschichten des Alten Testaments 70 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze bis hin zu modernen Denkfiguren über Geschichtsschreibung, Sprach- und Literaturtheorie. Die Kapitel über Marxismus und Literatur sollen aufzeigen, wie bestimmte literarische Auffassungen an ein Denksystem gekoppelt sind und sich daraus literarische Normen und Schreibweisen entwickeln. Am Beispiel der Entwicklung von der Person Marx über den Marxismus bis zu heutigen Strömungen des Postmarxismus lässt sich ein literarischer Wandel in seinen Konstanten und Variablen nachzeichnen. Eng mit dem Marxismus verzahnt ist die Literatur der 1968er Bewegung, in der sich zeigt, wie anthropologisch bedingte Temperamente und zeitbedingte Faktoren literarische Texte sehr divergenter Art wie Agitprop oder neue Subjektivität generieren, die auf einer anderen Ebene wiederum Zeugnisse eines gemeinsamen Denkstils sind. Zugleich zeigt sich in der Literatur der 1968er markant, wie Klassiker eine Neu‐ interpretation erfahren, die sie auf die Fragen der Gegenwart transformiert, und nach welchen Mechanismen dieser Prozess ablaufen kann. Die Untersuchung postmoderner Romane und folgender aktueller Paradigmen sollen einen noch nicht abgeschlossenen Prozess aufgreifen und den im Diskurs stark themati‐ sierten, als Paradigmenwechsel prononcierten Übergang von der Moderne zur Postmoderne in literarischer Hinsicht beleuchten. In diesem Diskurs zeigt sich vor allem, wie ein neues Verhältnis zur Geschichte literarisch verarbeitet wird, wie eine Neubewertung der Dichotomie hoher und unterhaltender Literatur erfolgt. Die Rolle der Ironie nicht nur als literarischer Topos, sondern auch als gesamtgesellschaftliches Phänomen kann in diesem Komplex zusätzlich sehr aufschlussreich sein. Die exemplarische Betrachtung ausgewählter aktueller Gegenwartsdiskurse unternimmt den Versuch, einige noch nicht historisierte und als Entitäten formulierte Tendenzen der Literatur, die noch als Trends und Moden wahrgenommen werden, heuristisch in Strukturen (noch nicht abgeschlossener) paradigmatischer Prozesse zu konzeptualisieren. Dieser Ansatz evoziert die Frage, ob die jeweiligen Texte überhaupt ver‐ gleichbar sind, wobei ein zentraler Punkt berührt wird, der bei der Rezeption von Kuhn häufig zu Missverständnissen geführt hat: die Inkommensurabilität. I.10 Ähnlichkeit, Vergleich und Inkommensurabilität Es stellt sich angesichts der skizzierten Unschärfen das Problem, wie man methodisch sinnvoll die Fragestellung dieser Studie konkret auf einzelne Texte übertragen kann. Für ein epistemologisch geeignetes Denkmodell halte ich eine Orientierung an dem derzeit in der kulturtheoretischen Debatte diskutierten Begriff der Ähnlichkeit für praktikabel. Dieser hat insbesondere markante I.10 Ähnlichkeit, Vergleich und Inkommensurabilität 71 75 Werner: Denkstil - Paradigma - Avantgarde. In: Sakoparnig / Wolfsteiner / Bohm: Paradigmenwechsel 2014, S.-55. 76 Kuhn: Bemerkungen zu meinen Kritikern. In: Lakatos / Musgrave: Kritik und Erkennt‐ nisfortschritt 1974, S.-258. Anknüpfungspunkte zu dem von Kuhn gebrauchten Begriff der Inkommensu‐ rabilität. In dem Begriff der Ähnlichkeit spiegelt sich die Differenz zwischen Vergleich und Gleichsetzung, aus der immer wieder Dispute in kulturellen Fragen erwachsen. Der Begriff der Inkommensurabilität weist einige markante Affinitäten zum literarischen Sektor auf. Speziell dieser Terminus hat eine zugespitzt kontroverse Diskussion im Kontext von Kuhns Modell ausgelöst. Er weist ihm in seinem Konzept eine kategorische Rolle zu. Der Begriff stammt aus der Mathematik und wurde von Thomas Kuhn und Paul Feyerabend in die Wissenschaftstheorie eingeführt. Auch wenn bei Fleck der Begriff selbst nicht auftaucht, geht er von einer Unvereinbarkeit bestimmter Denkstile aus: Fleck geht - wie auch Kuhn - von der Inkommensurabilität verschiedener Denkstile aus, d. h. die Verständigung ist mit Angehörigen anderer Denkkollektive kaum oder überhaupt nicht möglich. Auch für Kuhn sind die verschiedenen Paradigmen miteinander inkommensurabel, wobei er nur wenige Paradigmen kennt und diese zur Bezeichnung langer wissenschaftlicher Epochen einsetzt. Solange Wissenschaftler in einem bestimmten Paradigma denken, ist für sie das Denken, das einem anderen Paradigma folgt, unverständlich. 75 Fleck fasst dieses Moment in seiner Theorie nicht in einen stehenden Begriff, vielmehr akzentuiert er den graduellen Charakter dieses Aspekts. Auch wenn Kuhn als Reaktion auf Kritiker ausdrücklich darauf verwiesen hat, dass die von ihm prononcierte Unvereinbarkeit nicht Unvergleichbarkeit bedeute, bleibt der Begriff unscharf. Die besondere Affinität des Begriffs zur Literatur zeigt sich darin, dass Kuhn seinen von ihm intendierten Gehalt anhand des Verhältnisses Sprache und Bedeutung expliziert: Beim Übergang von einer Theorie zur darauffolgenden verändern die Wörter ihre Bedeutungen oder die Bedingungen ihrer Anwendbarkeit auf eine ganz subtile Weise. [sic! ] Obwohl meistens dieselben Zeichen vor und nach der Revolution benützt werden - z. B. Kraft, Masse, Element, Zusammensetzung, Zelle -, hat sich dennoch die Art und Weise, wie diese Zeichen auf die Natur angewandt werden, irgendwie ver‐ ändert. Darum sagen wir, daß die aufeinanderfolgenden Theorien inkommensurabel sind. 76 72 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 77 Popper: Normalwissenschaft 1974, S. 52: „Es gibt in der Tat eine ‚Normalwissenschaft‘, wie Kuhn sie schildert. Es ist die Tätigkeit des nicht-revolutionären oder genauer: des nicht allzu kritischen Professionellen: des angehenden Wissenschaftlers, der das vor‐ herrschende Dogma des Tages akzeptiert; der das Dogma nicht bezweifeln will; […] Ich glaube, […], daß jeder Unterricht auf dem Niveau der Universität (und womöglich schon auf niedrigem Niveau) Training und Ermutigung zu kritischem Denken sein müßte. Der ‚Normalwissenschaftler‘, wie Kuhn ihn schildert, wurde schlecht unterrichtet. Man hat ihn in einem dogmatischen Geist erzogen; er ist ein Opfer der Unterweisung, die ihm zuteil wurde. Er hat sich die Technik angeeignet, die man anwenden darf, ohne nach den Gründen zu fragen […].“ Die Diskussion dieses Sachverhalts ist wichtig, weil sie grundsätzliche Fragen der Methodologie betrifft. Wenn man die Inkommensurabilität als absoluten Wert setzt, lassen sich tatsächlich bestimmte theoretische Ansätze nicht zuein‐ ander in Bezug setzen und auch nicht vergleichen. In Konsequenz würde unter dieser Prämisse auch in den Geisteswissenschaften gelten, dass unter einem entsprechend als Norm gültigen Paradigma bestimmte Meinungen als vereinbar oder unvereinbar klassifiziert werden. Religionen und Ideologien geben solche Maße vor. Eine offene Gesellschaft jedoch prononciert den Pluralismus der Ideen und strebt den Ausgleich unterschiedlicher Positionen an. Es verwundert nicht, dass Karl Popper als Exponent der Theorie einer offenen Gesellschaft sich so vehement gegen Kuhns Ansatz geäußert hat. 77 Aber keine Gesellschaft existiert ohne einen gewissen normativen Grundkonsens. Es ist innerhalb eines sachlichen Vergleichs sehr erkenntnisreich, Unvereinbarkeiten in diesem Sinne festzustellen und zu benennen. Denn die Diskussion der unterschiedlichen Theorien oder Paradigmen kann nur fruchtbar sein, wenn man ermittelt, wo diese unter divergenten Grundvoraussetzungen logisch unvereinbar sind und wo Parameter für einen Vergleich fehlen. Für die Literatur speziell bieten sich aus der Frage nach Inkommensurabi‐ lität sowohl auf der Ebene des Schreibens wie des Lesens einige erhellende Gedankenmodelle. Es scheint auf den ersten Eindruck einleuchtend, dass zwischen einem romantischen Gedicht und einem experimentellen Text Un‐ vereinbarkeiten bestehen. Im gesamten literarischen Feld bilden sich jedoch auf diachroner wie synchroner Ebene unterschiedliche Referenzrahmen, die einen sinnvollen Vergleich ermöglichen, auch wenn dieser abwegig erscheinen mag. Die Literatur der Postmoderne hat dezidiert das Spiel mit kodifizierten Unvereinbarkeiten zu einem ihrer signifikanten poetologischen Prinzipien erhoben. Sie kombiniert in Texten häufig als strukturell inkommensurabel geltende Stilmittel, Gattungen oder Schreibweisen miteinander. Das Spiel mit der Unvereinbarkeit ist zu einem Gestaltungsprinzip geworden, daher nimmt die postmoderne Literatur in dieser Studie eine exponierte Rolle ein. I.10 Ähnlichkeit, Vergleich und Inkommensurabilität 73 Im Hinblick auf eine poetologische Einstellung kann man die Polarität kom‐ mensurabel und inkommensurabel nicht als binäre Entscheidungskategorien, sondern als relative, graduelle Werteskala begreifen. Es geht im Vergleich nicht darum, ob zwei Auffassungen von Literatur oder Ansichten über einen Text als Ganzes jeweils vereinbar oder unvereinbar sind, sondern vielmehr in welchen Punkten und in welcher qualitativen und quantitativen Ausprägung sie inkommensurabel sind. In diesem Sinne ist es die Aufgabe eines Vergleichs, dieses zu beschreiben und zu ermitteln. Es kann für eine Diskussion fruchtbar und zielführend sein, festzustellen, wo genau die Grundannahmen unvereinbar sind. Inkommensurabilität ist insofern immer auch an den jeweiligen Referenz‐ rahmen gebunden. Von diesen Grundgedanken sind die in dieser Studie dargelegten Untersu‐ chungen geleitet. Im Hinblick auf die unter dieser Prämisse erstellten Analysen literarischer Phänomene eröffnet der Ähnlichkeitsbegriff einen schlüssigen Ansatz, da er einen systematischen Vergleich unter Berücksichtigung abstrakter Unschärfen heuristisch ermöglicht. Im Hinblick auf literarische Paradigmen und Intertextualität bietet er die Möglichkeit eines Operationsmodus, der konzise zwischen Vergleich und Gleichsetzung differenzierend vermitteln kann, indem er den jeweiligen Referenzrahmen besonders hervorhebt. Im Folgenden werde ich die aktuelle literaturwissenschaftliche Diskussion um den Begriff kurz skiz‐ zieren und mein daraus gefolgertes methodologisches Verständnis argumentativ erörtern. In den letzten Jahren hat der Begriff der Ähnlichkeit im Theoriediskurs zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ich halte diese Kategorie in Ergänzung zur Inkommensurabilität für geeignet, um die hier aufgezeigten Relationen zu operationalisieren. Ähnlich dem Begriffspaar kommensurabel - inkommensu‐ rabel bildet der Antagonismus Ähnlichkeit - Unähnlichkeit eine typologische Größe. Während bei der Entität des Kommensurablen jedoch eher der negative Pol einen signifikanten Begriff geprägt hat, wird bei der Entität Ähnlichkeit der positiv besetzte Pol dominant verwendet. Meine Arbeitshypothese ist es, dass sich Inkommensurabilität und Ähnlichkeit im hier geführten Diskurs in wesentlichen Aspekten diametral gegenüberstehen, auch wenn sie nicht völlig komplementär sind, sondern Überschneidungen aufweisen. Paradigmen können Ähnlichkeiten aufweisen und zugleich inkommensu‐ rabel sein. Das Kopernikanische und das Ptolemäische Weltbild sind strukturell auf einer konstituierenden Ebene logisch inkommensurabel: Die Erde kann sich entweder nur um die Sonne drehen oder die Sonne um die Erde. Dennoch weisen sie Gemeinsamkeiten respektive Ähnlichkeiten auf, indem sie beide die Erde als 74 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 78 Kuhn: Bemerkungen zu meinen Kritikern. In: Lakatos / Musgrave: Kritik und Erkennt‐ nisfortschritt 1974, S.-261. 79 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt am Main 1970. Kugel definieren, im Unterschied zur Vorstellung von einer flachen Erde oder Erdscheibe. Da literarische Texte wie Universalien sich nur bedingt unter logischen As‐ pekten vergleichen lassen, müssen typologisch Operatoren konstruiert werden, die systematische Betrachtungen und plausible Schlüsse ermöglichen. Die Re‐ ferenz der Kategorien der Inkommensurabilität und der Ähnlichkeit ist in dieser Hinsicht fruchtbar. Ich werde dies kurz exemplarisch im Hinblick auf die in dieser Studie zentrale Frage des Verhältnisses einer Gegenwart zu literarischen Texten aus früheren Epochen begründen. Dabei möchte ich die spekulative, idealistisch motivierte Frage nach zeitloser Schönheit, die aus anthropologi‐ schen Konstanten resultiert, zunächst ausklammern. Kuhn schreibt im Kontext seines Konzepts davon, dass er versuche, „ältere Theorien in moderne Termini zu übersetzen“. 78 Dieser Vergleich ist hinsichtlich der Literatur treffend, denn auch der Literaturwissenschaftler muss Texte aus der Vergangenheit in Relation zu seiner Gegenwart setzen und entsprechend transformieren. Dabei können die Komponenten der Inkommensurabilität und der Ähnlichkeit auf einer primären Beobachtungsebene eine epistemologische Basis bilden. Ein einfaches Beispiel: Die Sprache des Barocks ist mit dem heutigen linguistischen System in vieler Hinsicht inkommensurabel. Literarisches Schreiben in diesem Stil würde heute womöglich als Ironie aufgefasst. Dennoch weisen Texte aus dem Barock Ähnlichkeiten mit modernen Texten auf, markant beispielsweise zu visueller konkreter Poesie. Sie enthalten Passagen, die auch aus ihrer Zeit heraus als ironisch verstanden werden können, diese müssen jedoch quasi in die jeweilige Lesergegenwart übersetzt werden. Die Problematik entzieht sich einem strukturalistisch systematischen Raster aus Diachronie und Synchronie, diese Schwierigkeit hat Hans Robert Jauß in seinen Vorlesungen Literaturgeschichte als Provokation deutlich herausgestellt. 79 Um dieses komplizierte Relationsfeld zu erfassen, halte ich den skizzierten Ausgangspunkt heuristisch als Denkmodell für praktikabel, weil Inkommensu‐ rabilität und Ähnlichkeit keine statische Dichotomie darstellen, jedoch einen relativen Antagonismus dynamisch im literarischen Feld spiegeln. Zwischen der unter bestimmten Aspekten seiner Deutung vorhandenen Inkommensurabilität eines Textes aus der Vergangenheit für die heutige Gegenwart und seinen gleichermaßen vorhandenen Ähnlichkeiten und Affinitäten im gegenwärtigen Diskurs kann so differenziert werden. I.10 Ähnlichkeit, Vergleich und Inkommensurabilität 75 80 Jørgen Sneis: Ähnlichkeit und Vergleich. Bemerkungen zu einer aktuellen kulturtheo‐ retischen Diskussion. In: IASL 2019; 44(1), S. 132-145. Sneis rekapituliert in dem Beitrag vor allem eine Monographie von Dorothee Kimmich (Ins Ungefähre. Ähnlichkeit und Moderne. Konstanz 2017) und einen von dieser und Anil Bhatti herausgegebenen Sammelband (Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz 2015). Zu den Bemerkungen hier regte mich ein Vortrag von Jørgen Sneis auf einem Forschungskol‐ loquium vor Erscheinen des Aufsatzes an, wofür ich ihm herzlich danke. 81 Sneis: Ähnlichkeit und Vergleich 2019, S.-133. 82 Ebd., S.-132. 83 Zit. nach ebd., S.-135. Jørgen Sneis fasst in einem Aufsatz die wesentlichen Aspekte der aktuellen wissenschaftlichen Debatte um Ähnlichkeit konzise zusammen. 80 Einige von ihm hervorgehobene Punkte verdeutlichen den Zusammenhang mit der Dis‐ kussion um die hier behandelte Problematik. Sneis weist darauf hin, dass Ähnlichkeit „als etwas Ungenaues marginalisiert worden“ sei. 81 In den letzten Jahren gewinnt Ähnlichkeit als „kulturtheoretisches Paradigma“ 82 eine beson‐ dere Stellung, vor allem dient die Kategorie als ein Gegengewicht zum domi‐ nanten Differenzbegriff, der durch Strukturalismus, Poststrukturalismus und Systemtheorie im Diskurs der Moderne wie auch der Postmoderne prononciert wurde. Dabei wird konkret von Ähnlichkeit als einem Paradigma gesprochen. In diesem Sinn klassifiziert der Paradigmenbegriff deskriptiv Ähnlichkeit als heu‐ ristisches Muster. Sneis zitiert den Historiker Jürgen Osterhammel, der sich zwar fragt, ob man bei Ähnlichkeit schon von einem Paradigma sprechen könne - er unterstellt einem Paradigma einen bestimmten Grad an kodifizierter Verfasst‐ heit und kollektiver Gültigkeit, doch betont er: „Mit dem Ähnlichkeitsparadigma rennt man bei Historikern offene Türen ein.“ 83 Die Äußerung weist Affinitäten zu Kuhns Verwendung des Begriffs auf, der Begriff des Paradigmas dient als epistemologische Schnittstelle zwischen der synchronen und der diachronen Perspektive. Die Diskussion um den Ähnlichkeitsbegriff unterstreicht einige methodische Schwierigkeiten, die im Kontext dieser Untersuchung bereits erörtert wurden, zugleich eröffnet sie aber auch Perspektiven zu deren Auflösung. Eine relatio‐ nale Betrachtungsweise ist erst völlig schlüssig, wenn einer ausschließenden Kategorie wie der Differenz eine gleichrangige einschließende gegenübersteht. Bei geisteswissenschaftlichen Problemen ergibt sich aus der Feststellung dessen, was etwas nicht ist, nicht konsekutiv erhellend, was es ist. Aus der Erkenntnis der Relativität einer wissenschaftlichen Tatsache resultiert die Frage, wie sich Wirklichkeit konstituiert und wie man sie adäquat beschreiben kann. 76 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze 84 Ebd., S.-136. 85 Ebd., S.-138. Dies gilt in besonderem Maße für die hier prononcierte Literaturgeschichte. Die zahlreichen Probleme des skizzierten Textkorpus, der sich einer Systemati‐ sierung entzieht, zeigt, dass es kein strukturelles Modell gibt, das in Kausalitäten den Lauf oder die Entwicklung der Literaturgeschichte beschreiben kann. Auf der einen Seite sind Ähnlichkeiten zu „sortieren“, 84 also zu ordnen und typolo‐ gisch zu systematisieren, auf der anderen Seite ist es wichtig, Kontingenzen und Entropien zu erfassen. Ähnlichkeit hat eine ausgeprägte subjektive Komponente als Kategorie der Wahrnehmung, d. h., die Wahrnehmung einer Ähnlichkeit (vor allem im künstlerischen Bereich) ist vom Beobachter abhängig, und diese Phänomene müssen beschrieben und hermeneutisch untersucht werden. Auch der im Literarischen häufig auftretende Begriff der Assoziation verweist unter dieser Prämisse auf Ähnlichkeit. „Die Fähigkeit des Menschen, Kategorien zu bilden, hängt wesentlich mit seiner Fähigkeit zusammen, Ähnlichkeiten zu erkennen.“ 85 Aus diesem anthro‐ pologischen Phänomen haben sich die kodifizierten literarischen Gattungen und Schreibweisen entwickelt. Bei allen Differenzen weisen literarische Texte Gemeinsamkeiten auf, die sich nicht immer kategorisch fassen lassen, doch Lesenden in der Wahrnehmung auffallen. Die Evidenz von Ähnlichkeit zeigt sich für diese Studie ausgeprägt in der synchronen Perspektive auf Texte, die der Gegenwartsliteratur zugerechnet werden können. Diese Texte sind für heutige Leserinnen und Leser unmittelbar, da sie noch keinen weitgehenden literarhistorischen Rezeptions- und Kano‐ nisierungsprozess durchlaufen haben, und eine Referenz zur selbst erlebten Zeit aufweisen. Häufig fällt Lesenden bei neuen Texten auf, dass vieles schon einmal dagewesen ist, ohne dass man es exakt festmachen und formulieren kann. Dies hängt damit zusammen, dass eine literarische Gegenwart sich oft an bestimmten Themen und Moden orientiert. Dabei sind weniger festgeschrie‐ bene bzw. kodifizierte Normen oder Poetiken von Bedeutung, vielmehr bilden sich bestimmte informelle Topoi heraus, die bei Akzeptanz häufig wiederholt und vor allem variiert werden. So hat zum Beispiel Patrick Süskinds Roman Das Parfum zahlreiche Variationen erlebt. Man kann diese Texte nicht als Plagiate bezeichnen, aber dennoch hat Süskinds Text über einen mit einem außergewöhnlichen Geruchssinn begabten Menschen gewisse Ableger nach sich gezogen, indem zahlreiche Romane Personen mit der herausragenden Ausprägung anderer Sinneseindrücke in den Mittelpunkt stellten. Besonders markant ist dabei Marcel Beyers Roman Flughunde, der dieses Muster am I.10 Ähnlichkeit, Vergleich und Inkommensurabilität 77 86 Fleck: Entstehung und Entwicklung 1980, S. 35: „Viele wissenschaftliche, bestbewährte Tatsachen verbinden sich durch unleugbare Entwicklungszusammenhänge mit vorwis‐ senschaftlichen, mehr oder weniger unklaren verwandten Urideen (Präideen), ohne daß inhaltlich dieser Zusammenhang legitimiert werden könnte.“ 87 Sneis: Ähnlichkeit und Vergleich 2019, S.-139. Beispiel eines mit einem exzeptionellen Gehör ausgestatteten Menschen auf die in der deutschen Literatur topologisch ausgeprägte Thematisierung der NS- Vergangenheit transformiert hat. Ein anderes Beispiel ist der Boom von Comingof-Age-Romanen in der Folge von Wolfgang Herrndorfs Tschick. Nach dessen großem Erfolg erscheinen bis heute signifikant viele Romane, die sehr ähnlich sind und bestimmte Topoi und Motive speziell dieses Texts variieren, was kaum systematisierbar nachweisbar ist. Doch auch Herrndorf hat auf tradierte Muster zurückgegriffen, wie Süskind seine Idee auf der Prononcierung des Historischen aufgebaut hat, möglicherweise inspiriert durch den Erfolg von Umberto Ecos Der Name der Rose. Die Untersuchung solcher Beziehungen spielt in dieser Studie eine tragende Rolle. Da man nicht auf allen Ebenen genetische Verwandtschaften darstellen und nachweisen kann, ist Ähnlichkeit im Hinblick auf die Untersuchung von Intertextualitäten von Belang. Diese Kategorie bietet eine Möglichkeit, unscharfe Beobachtungen und Beziehungen zu untersuchen und standardisierte Halbwahrheiten zu hinterfragen und systematisch zu analy‐ sieren. Dies ist nicht unseriös, wenn man den entsprechenden Referenzrahmen und die Aussagekraft deutlich umreißt. Hier zeigen sich einige Affinitäten zu den basalen theoretischen Annahmen dieser Studie. Fleck entwickelt in seinen Ausführungen das Modell einer Uridee oder Präidee als Ausgangspunkt eines bestimmten Denkstils. 86 Diese Analogie ist hier sehr passend. Auch von bestimmten literarischen Texten gehen gewis‐ sermaßen Urideen aus, die modifiziert werden und ‚Mutationen‘ erfahren. In die Wahrnehmung von literarischen Texten fließen subjektive Einstel‐ lungen und kollektive verinnerlichte Betrachtungsmuster ein, die kaum sys‐ tematisch voneinander differenzierbar sind. Dies wird deutlich, wenn man sich einmal die Dimensionen und Implikationen des Leseakts beim Einzelnen vorstellt. Es bleibt unscharf, inwieweit die Auswahl der Lektüre und die Wahr‐ nehmung des Texts bereits durch äußere Faktoren beeinflusst sind. Solche für die Literatur wesentliche Phänomene entziehen sich einer syste‐ matisierten Betrachtungsweise und hier bieten sich Kategorien an, die ihre Schlüsse weder als kategorisch gültig verengen noch so weit fassen, dass sie beliebig sind. „In dieser Flexibilität und theoretischen Inklusionskraft besteht sicherlich eine große Attraktivität des Ähnlichkeitsbegriffs.“ 87 Die Argumentation, dass 78 I. Theoretische Vorüberlegungen: Wissenschaftstheoretische Ansätze Ähnlichkeit „etwas Ungenaues“ sei, lässt sich entkräften, indem man sie als heuristische Skalierung gebraucht und mit Hilfe von Ähnlichkeitsrelationen idealtypisch konstruierte Schlüsse formuliert. Solche Beobachtungen können Einblicke und Perspektiven eröffnen für Zusammenhänge, die sich nur im Verborgenen zeigen, für deren Plausibilität aber eine große Evidenz spricht. Man sollte solche Erscheinungen nicht aus der Forschung ausklammern, weil sie sich der Beobachtung entziehen. Indem man einen möglichst klar umrissenen Referenzrahmen formuliert, also auch die Unschärfen beim Namen nennt, kann man Methoden entwickeln, um solche Phänomene zu erfassen. Die nun folgenden Textanalysen werden das dargelegte Konzept exempla‐ risch anwenden, vertiefen und strukturieren. Die Untersuchung von Texten unter dieser Prämisse stellt zugleich eine Überprüfung der Relevanz einer solchen Betrachtungsweise dar. Aus den Ergebnissen heraus sollen in einem ar‐ gumentativen dialektischen Prozess mögliche typologisch fassbare Konstanten entwickelt werden, aus denen sich konstituierend Ansätze eines epistemo‐ logisch fruchtbaren denkstilbzw. paradigmenorientierten Interpretationsmo‐ dells für die Literatur konzeptualisieren lassen. I.10 Ähnlichkeit, Vergleich und Inkommensurabilität 79 88 Klaus Hanson (Hrsg.): Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“. Kritische Textausgabe. Bonn 1975 [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 194]. Die Edition enthält eine umfangreiche Abhandlung und Kommentierung von Hanson. Die Textstellen aus dem Schönen Blumenfeld werden im Folgenden aus dieser Ausgabe zitiert. Ein Sammelband mit Beiträgen zu Leben und Werk von Theobald Hock erschien 2019: Ralf Georg Bogner / Sikander Singh (Hrsg.): Theobald Hocks Schönes Blumenfeld (1601). Texte und Kontexte. Tübingen 2019 [Passagen, Bd. 4]. Der Band basiert auf den Beiträgen einer im März 2018 vom Lehrstuhl für Neuere Deutsche Philologie und Literaturwissenschaft der Fachrichtung Germanistik und dem Literaturarchiv Saar-Lor- Lux-Elsass an der Universität des Saarlandes veranstalteten Tagung zu Theobald Hock. Aus meiner Mitwirkung an diesem Projekt entstand die Idee, Hock unter dem Fokus der Frage nach literarischen Denkstilen und Paradigmen zu betrachten. Teilergebnisse dieses Kapitels wurden in folgendem Aufsatz vorab publiziert und in der vorliegenden Studie weitergeführt und ausgebaut: Theobald Hocks „Schönes Blumenfeldt“ - Eine performative Poetik? In: Bogner / Singh: Theobald Hocks Schönes Blumenfeld (1601) 2019, S.-325-338. 89 Zu Leben und Werk Hocks siehe: Achim Aurnhammer: Höck, Theobald. In: Wil‐ helm Kühlmann [u. a.]: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620. Literaturwissen‐ II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt - Ein Text an der Epochenschwelle zwischen Humanismus und Barock Theobald Hock (auch: Höck, Höckh, Hoeck, Hoeckh) ist ein in der kanoni‐ sierten Literaturgeschichte weitgehend unbekannter Autor, dessen Leben und Werk dennoch bemerkenswerte Forschungsarbeiten gewidmet wurden. 88 Sein überlieferter Lebenslauf weist Leerstellen auf. Er wurde 1573 in Limbach bei Homburg/ Saar geboren. Der Protestant Hock war seit 1600 Sekretär am Hof des böhmischen Adligen Peter Wok von Rosenberg. Wok hatte Hock in den Adelsstand erheben lassen und ihm zu günstigen Konditionen ein Landgut vermacht. Nach Woks Tod 1611 war Hock in mehrere Prozesse verwickelt, die vermutlich in Zusammenhang mit den in Böhmen zugespitzten konfessio‐ nellen Zwistigkeiten standen, welche den konkreten Anlass des Dreißigjährigen Krieges bildeten. Die katholischen Verwandten Woks bezichtigten Hock der Testamentsfälschung und Erschleichung eines Adelstitels. 1618 wurde er zum Tode verurteilt, kam jedoch im Zuge des Machtwechsels in Böhmen 1619 wieder frei. Er übernahm das Kommando einer böhmischen Einheit, danach verliert sich seine Spur. Die letzte dokumentarische Erwähnung verzeichnet ihn 1624 als Sekretär des Grafen Ernst von Mansfeld. 89 schaftliches Verfasserlexikon. Band 3: Glarean, Heinrich - Krüger, Bartholomäus. Berlin / Boston/ MA 2014, Sp. 354-365. 90 Zum Begriff der Epochenschwelle und seiner Problematik vgl. Blumenberg: Die Legi‐ timität der Neuzeit 1996, Vierter Teil: Aspekte der Epochenschwelle. 91 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-116f. 92 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hrsg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2001, S.-7. Hocks einzige literarische Veröffentlichung ist die Lied- und Gedichtsamm‐ lung Schönes Blumenfeldt, die er 1601 unter dem Anagramm Otheblad Oeckh veröffentlichte. Das Buch erfuhr schon zu seiner Zeit nur eine geringe Verbrei‐ tung. Die Texte sind nicht wegen herausragender schöpferischer Merkmale so interessant, vielmehr sind sie das literarische Dokument einer Zeit des Umbruchs, literaturgeschichtlich an einer Epochenschwelle verortet. 90 Der Gesamttext ist in seiner Vielschichtigkeit und Ambiguität ein aufschlussreiches Zeugnis für die Denkstile jener Zeit. In der Sammlung finden sich poetische Innovationen und banale Abschriften gleichermaßen. Dieses Kapitel betrachtet Hocks Schreiben und sein poetologisches Konzept exemplarisch als Ausdruck einer Epoche des Paradigmenwechsels von Sprache und Literatur im Zuge der Revolution von Informations- und Kommunikationstechnik nach der Erfindung des Buchdrucks sowie den Aus- und Nachwirkungen der Reformation. Dabei sollen im Wesentlichen zwei Aspekte aufgegriffen, zusammengeführt und an einigen Textstellen unterstrichen werden. Zum einen wird die Frage erörtert, ob und wie Hocks Werk im Schreiben literarische Paradigmen entwickelt, eine „performative Poetik“ darstellt. Das Schöne Blumenfeldt wurde häufiger als Antizipation der Poetik von Martin Opitz charakterisiert. Dass Hock selber auf Opitz wie auf die Poetologie des 17. Jahrhunderts eine unmittelbare Wirkung gehabt hat, ist auszuschließen, wie Hanson plausibel darlegt, 91 doch zeigt sich an einigen indirekt intertextu‐ ellen Analogien zwischen dem Schönen Blumenfeldt und Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey, dass sie in einem grundsätzlichen Denken ihrer Zeit verhaftet, Ausdruck eines kollektiv verbreiteten Denkmusters sind. Das Bedürfnis nach einer Poetik sei an ihn herangetragen, „an mich [] begehret“ worden, schreibt Opitz in der Einleitung seiner Poetik. 92 Dieser zeitgemäß verbreitete Wunsch, die deutsche Sprache in der Literatur zu verankern, und die Widerstände gewisser Personen und sozialer Gruppen dagegen werden in Hocks Versen thematisiert. Er formuliert im Text seine Positionen zur „deut‐ schen Poeterey“ zuweilen explizit und führt sie gleichzeitig in seinen Versen paradigmatisch aus. Daher wird Hocks Gedichtsammlung unter der Prämisse des Begriffs der „performativen Poetik“ pointiert zur Diskussion gestellt. 82 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt Aus diesem Kontext ergibt sich der zweite Aspekt. Da die Lebenszeit Hocks durch einen der großen Umbrüche der Informationstechnik, den Buchdruck, und die Reformation geprägt war, stellt sich die Frage, inwieweit sein Schaffen Aufschluss über die sprachtheoretischen und poetologischen Transformations‐ prozesse seiner Epoche gibt. Was heute im Rückblick unter Barockliteratur und ihren wesentlichen Eigenschaften subsumiert wird, war 1601, als Hocks Samm‐ lung erschien, noch nicht existent. Insofern ist der Text aus der Perspektive seiner Entstehungszeit von Interesse. Gerade weil er an einem solch markanten Wendepunkt der Literaturgeschichte situiert ist - man setzt rückblickend die zeitliche Epochenabgrenzung zwischen Humanismus und Barock um das Jahr 1600 an - ist das Verhältnis zwischen seiner Gegenwart sowie seiner nachträglichen Zuordnung wie Deutung spannungsreich. Hock wird als Dichter zwischen Humanismus und Barock verortet. Da solche Zuweisungen rückwirkend sind, halte ich es für aufschlussreich, in dem Text selbst nach Elementen zu suchen, die die eigene Zeit als eine des Umbruchs begreifen. Ein Charakteristikum von Texten, die Phasen der Epochenschwelle zugeordnet werden, liegt konsequenterweise darin, dass sich die Dialektik zwischen einem alten und einem neuen Denkstil in einer signifikanten Weise manifestiert. Es stellt sich in einem größeren kulturellen Kontext die Frage nach Signalen im Schönen Blumenfeldt, die auf die Phase des Paradigmenwechsels zwischen Latein und Deutsch als kanonisierter Literatursprache referieren sowie Korrelationen zur kommunikationsbzw. informationstechnischen Inno‐ vation des Buchdrucks erkennen lassen. Wenn auch Hock selbst als Autor praktisch nicht rezipiert wurde, so hat der literarische Diskurs seiner Gegenwart auf sein Denken und Schreiben signifikant gewirkt. In diesem Sinne kann er literaturpsychologisch und -soziologisch als Mitglied eines Denkkollektivs charakterisiert werden. Die Differenz zwischen der Gegenwart des Autors und seiner nachträglichen Zuordnung in die Literaturgeschichte wird in Czuckas Betrachtung der Rezep‐ tion Hocks durch die Literaturwissenschaft evident. Hock werde lediglich in eine Perspektive epochaler Entwicklung gestellt, die literarisch wie literaturhistorisch in Opitz kulminierte, so daß von vor- und nachopitzscher Zeit des Barock gesprochen werden kann. […] Sowohl Literaturgeschichte als auch Historie verdecken - nicht nur in diesem Fall, obwohl hier besonders deutlich - den Zugang zu Texten, indem sie entweder ein System der Epochen vorgeben, dem die Texte nur beiläufig einzuordnen sind, oder ein Interesse für die historische Person des Autors kultivieren. […] eine fast systematische Rezeptionsverweigerung zu betreiben, bleibt II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 83 93 Eckehard Czucka: Poetologische Metaphern und poetischer Diskurs. Zu Theobald Höcks „Von Art der Deutschen Poeterey“ (1601). In: Neophilologus 71 (1987), S. 1-23, hier S.-1f. umso befremdlicher, als Höck im Cap. 19 […] Kritik an der zeitgenössischen Poesie und Normen für die poetische Praxis zu formulieren versucht. 93 In der Tat kann die von Czucka kritisierte Fokussierung der Forschung die unmittelbare Schreibhaltung des Autors Hock nicht adäquat fassen. An der Rezeption von Hock lässt sich beispielhaft aufzeigen, wie sehr die Lektüre eines Texts von literarhistorischen Zuordnungen und Denkmustern beeinflusst werden kann. Das Schöne Blumenfeldt wurde fast ausschließlich deduktiv in Relation zu entsprechenden Prämissen gelesen; eine auf den Eigenwert des Texts und den schöpferischen Akt des Autors konzentrierte Lesart erschien inkommensurabel mit den kanonisierten Vorgaben. Von daher sollte man die historisierende Blickweise auf das Schöne Blumenfeldt relativieren und zwischen den unterschiedlichen Perspektiven differenzieren. Der Text entstand tatsäch‐ lich in einer Zeit, als - heuristisch weitgefasst formuliert - das humanistische Paradigma durch das barocke abgelöst wurde. Während sich aus Opitz’ Normpo‐ etik ein über eine lange Dauer weithin gültiges und bestimmendes literarisches Paradigma entwickelte, erscheint Hocks Zeit weniger von standardisierten Denk- und Schreibmustern geprägt. Es lassen sich einige offensichtliche Analogien zu Thomas Kuhns Paradig‐ menmodell formulieren, die heuristische Ansatzpunkte für das Verständnis des literarischen Diskurses zu Hocks Zeit bieten. Diese stand politisch-so‐ zial unter dem Eindruck der Reformation und Deutschland befand sich am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Hocks Lebenszeit fällt historisch in eine Phase des großen Umbruchs, in der der Großteil der bislang gültigen Vorstellungen infrage gestellt wurde, respektive sich radikal wandelte. Vor dem Hintergrund der Terminologie Kuhns ist die Frage interessant, ob Hocks Schönes Blumenfeldt charakteristische Merkmale einer Literatur der kollektiven Sinnkrise aufweist. Wenn man das Gesamtwerk als literarischen Ausdruck einer Übergangsphase fassen will, muss man Stellen finden, die signalisieren, dass sich der Text sowohl gegen einen als überkommen, nicht zeitgemäß empfundenen Kanon wendet als auch bereits Grundzüge eines neuen poetischen Paradigmas impliziert. Eine solche Perspektive bietet gleichermaßen Erklärungsansätze für den unfertigen, ungeordneten und disparaten Gesamtcharakter des Werks. Schönes Blumenfeldt umfasst eine Spanne von Eklektizismus bis zu originellen Formge‐ bungen. Einige Texte lassen sich intertextuell als Nacherzählungen bzw. -dich‐ 84 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 94 Vgl. dazu die detaillierten Darstellungen an Textbeispielen: Frédérique Renno: Theobald Hocks „Schönes Blumenfeldt“ (1601) im Kontext der zeitgenössischen Liedlyrik. In: Bogner / Singh: Theobald Hocks Schönes Blumenfeld (1601) 2019, S.-437-463. 95 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-259. 96 Ebd., S.-282. 97 Ebd., S.-398. 98 Ebd., S.-408. 99 Ebd., S.-538. tungen identifizieren, 94 andere hingegen präsentieren eigenständige Gedanken und autobiographische Reflexionen. In der Art der Adaption vielfältiger be‐ kannter Formen und Inhalte weist das Werk inhärente Strukturmerkmale auf, die erkennen lassen, wie aus dem Überlieferten heraus neue, dem Denken der Gegenwart adäquate literarische Muster transformiert werden. Bereits der Titel Schönes Blumenfeldt lässt sich als poetologischer Verweis deuten. Er signalisiert, dass durch unterschiedliche Texte und Themen die Vielfalt der Welt und der menschlichen Natur gespiegelt werden soll. Die Blumenmetaphorik selbst ist dabei nicht strukturbildend, sondern erscheint im Text nur sporadisch und nicht konzeptualisiert: z. B.: Cap. XVIII. Ach die maiden sonst an Cupidine: „Von Früchten süß und Blümblen seuberleichen“, 95 Cap. XXII. Was etlichen Völckern für Bulschafften gefallen: „Dfrantzösen die Lilien“, 96 Cap. XXVII. All ding zergengklich höre mich doch: „Der Blümlein zier“, Cap. L. An Riden Wendlen/ sonst an Lienl Bawrn im Gastey: „SO(ll) den ein grober Bawr von Art/ Ein solche Edle Rosen zart/ Abbrechen schier / das wer kein zier“, 97 Cap. LII. Die Zeit bringt Frucht/ nicht der Acker/ die Jebung macht gelert/ nicht der verstandt: „Ein Bluem/ sie wür erfrieren“, 98 Cap. LXXVIII. Von der Demüttigkeit: „Warum die tieffen Thal fruchtbar auff Erden/ Drin so vil Blümlein stehen“. 99 Doch die Konnotation von Vielfalt im titelgebenden Natur‐ bild ist vorausweisend für Hocks poetisches Programm, das sich in den Texten entfaltet. Auch wenn sich die Sammlung nicht als geschlossen angeordnete inhaltliche Einheit entschlüsseln lässt, ist sie nicht willkürlich komponiert, denn die Texte changieren zwischen Antagonismen wie Besinnlichkeit und Spott, Individualität und Allgemeinem, persönlicher und kollektiver Erfah‐ rung, klassischer Bildung und Volksweisheit, Erhabenheit und Grobianismus. Der nicht immer harmonische Vielklang der Stimmlagen kann als literarisches Konzept gedeutet werden, das der Autor hier umsetzen möchte. Er sucht nach sprachlichen Mitteln, dem adäquaten Ausdruck für den jeweiligen Inhalt. Es scheint, die Sammlung sei ein work in progress auf der Suche nach einer Ordnung in der Unüberschaubarkeit. Im Ganzen entfaltet der Autor ein Panorama seiner Zeit, auffallend ist das Zusammenspiel aus Persönlichem und Zeitgenössischem. Er tritt in einigen Gedichten sogar im lyrischen Ich II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 85 100 Ebd., S.-599. als Person hervor, besonders in Cap. VI. Der Autor beweint das Leben. In Bezug auf das Titelmotiv des „Blumenfeldts“ stellt sich die Frage, ob diese Begrifflichkeit als möglicherweise ironische Kontrapunktierung des griechi‐ schen „anthologia“ bzw. des lateinischen „florilegium“, die eine ausgewählte „Blütenlese“ meinen und damit Erhabenheit zum Ausdruck bringen, gedeutet werden kann. Das „Blumenfeldt“ assoziiert eher die natürliche vielfältige Totalität des Lebens, also ließe sich ein Bezug sowie eine Abgrenzung zum humanistisch-klassischen Ideal der Ordnung und komponierten Schönheit gleichermaßen konstatieren. Wenn man Opitz’ ausformulierte Regelpoetik heuristisch als Paradigma charakterisiert, das jahrelang eine entsprechende Wirkung entfaltete, kann man Hocks Text als eine Suche, ein Ausprobieren auf dem Weg zu einem solchen Normwerk hin ansehen, als eine Art Literaturwerkstatt oder Sprachlabor. Dadurch, dass bei ihm vieles, was Opitz formell ausgearbeitet hat, in der Ausführung noch unfertig erscheint, präsentiert sich Schönes Blumenfeldt als Ausdruck einer Übergangszeit. Hocks Schaffenszeit liegt zwischen zwei markanten, aus Deutschland stam‐ menden poetologischen Werken. Nach ihr erschien mit Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey die erste wegweisende Poetik der deutschsprachigen Lite‐ ratur, vor ihr entstand die Poetik des Frühhumanisten Konrad Celtis, den man wegen seiner kategorischen Standpunkte auch den deutschen Erzhumanisten nannte und der auch im Schönen Blumenfeldt (Cap. LXXXVIII. Vom ursprung der Deutschen Sprach) erwähnt wird: Wie wohl Lateinisch aber doch/ Frembdt Buchstab noch/ Die gleichen sich den alten/ Griechischen mehr/ alls eben (den) Lateinischen/ Der Celtis hats gehalten/ Für Göttisch gschlecht/ Lombardisch recht/ Nendts Ruxomag der rechten Knecht. 100 Celtis veröffentlichte 1486 seine Ars versificandi et carminum (Leipzig 1486, 1492). Ein Gedicht am Schluss des Werkes, in dem Apoll als Gott der Dichtkunst angerufen wird, bringt Celtis’ Programmatik pointiert zum Ausdruck: 86 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 101 Konrad Celtis: AD PHOEBVM, VT GERMANIAM PETAT. V. In: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann [u. a.]. Frankfurt am Main 1997 [Bibliothek deutscher Klassiker. Bd. 146; Bibliothek der frühen Neuzeit. Bd.-5], S.-68/ 70, hier S.-70. 102 Konrad Celtis: An Apollo, daß er Deutschland aufsuchen möge. In: ebd., S. 69/ 71, hier S.-71. Sic velis nostras rogitamus oras Italas ceu quondam aditare terras, Barbarus sermo fugiatque, vt atrum Subruat omne. 101 So mögest du, bitten wir dringlich, unsere Gegenden aufsuchen wie einst die italischen Länder, und die barbarische Sprache weiche, daß alles Dunkel vergehe. 102 Die Regelwerke von Celtis und Opitz illustrieren die konträren Positionen im Deutschland des 16. Jahrhunderts prägnant und spiegeln exemplarisch die Entwicklung und Etablierung der deutschen Sprache in der Literatur. Dieser Disput ist auch vor dem Hintergrund der ab 1450 durch die Erfindung des Buchdrucks initiierten Zeitenwende und deren sprachsoziologischen und -po‐ litischen Implikationen interessant. Die Reformatoren nutzten die vollkommen neue Technik der Informationsübermittlung rege, um ihre Ideen in die Öffent‐ lichkeit zu bringen. Mit dieser neuen Möglichkeit, das Wort zu verbreiten, wuchs die Zahl potentieller Leser bzw. Vorleser und die Literatur öffnete sich breiteren Schichten. Damit ergab sich konsekutiv eine stärkere Hinwendung zur deutschen Sprache. Celtis’ Gedicht ist als Reaktion auf diese Entwicklung zu verstehen: Er fordert ein Beharren auf dem bisherigen Paradigma. In dieser Phase setzen fundmentale Wandlungsprozesse ein, die die Literatur als solches betreffen wie auch das gesamte literarische Feld. Hocks Schönes Blumenfeldt als „performative Poetik“ ist als aktiv mitwirkender Teil dieser Transformation zu sehen. Hock wendet sich gegen die von Celtis propagierte humanistische Position, welche Griechisch und Latein als höhere Literatursprachen postuliert und dem Deutschen den potentiellen Charakter kategorisch abspricht. Seine Meinung formuliert er in einigen Gedichten direkt. Besonders markant ist dabei in poetologischer Hinsicht, dass er in seinen Versen zwar das Deutsche als Sprache der Dichtung propagiert, aber zugleich auch dieser Sprache inhärente Merkmale darlegt, die sie als Ausdrucksmittel für die Literatur erschweren. Bei diesem Aspekt fällt die Performanz des Schönen Blumenfeldts besonders ins Auge. Cap. XIX. Von Art der Deutschen Poeterey ist unter dieser Perspektive das wichtigste Gedicht der Sammlung. Darin heißt es unter anderem: II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 87 103 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-263f. 104 Ebd., S.-264. 105 Bernd Philippi / Gerhard Tänzer: Zu dieser Edition. In: Theobald Hock: Schönes Blumenfeld. Frühbarocke Gedichte. Hrsg. von Bernd Philippi und Gerhard Tänzer. Saarbrücken 2007, S.-208-212, hier S.-210. Den ander Nationen also bescheide/ Ihr Sprach vor andern loben und preisen weidte/ Manch Reimen drin dichten/ So künstlich schlichten/ Vnd zsammen richten. […] Warumb sollen wir unser Teutsche sprachen/ In gwisse Form und Gsatz nit auch mögen machen/ Vnd Deutsches Carmen schreiben/ Der Kunst zutreiben/ Bey Mann und Weiben. So doch die Deutsche Sprach vil schwerer eben/ Alß ander all/ auch vil mehr müh thut geben/ Drin man muß oberseruiren/ Die Silben recht führen/ den Reim zu zieren. […] 103 In sprachlich-formaler Hinsicht bringt dieser Text Hocks Poetik auf den Punkt. Bemerkenswert sind hier neben dem grundsätzlichen Plädoyer für das Deutsche als Literatursprache seine Überlegungen zu Klang und Wesen der deutschen Sprache. Er verweist indirekt darauf, dass das Lateinische oder die romanischen Sprachen aufgrund ihrer Syntax einfacher nach der klassischen Metrik zu handhaben seien. Hock fordert daher, dass die deutsche Sprache eigene poetische Ausdrucksformen und Regeln finden müsse: „Wir mögen new Reym erdencken/ “. 104 Er demonstriert dies in den unterschiedlichen Strophen, Metren, Reimen des Schönen Blumenfeldts. Dabei greift er auf traditionelle Formen zurück, modifiziert diese und entwickelt neue Muster. Es entspricht dem poetologisch experimentellen Charakter des Werks, dass viele Gedichte Hocks noch nicht ausgereift sind: „Hocks Verse holpern bisweilen zwar noch nach Art der Meistersinger, umso bewundernswerter aber erscheinen dann seine sauberen Jamben, sein kunstvolles Variieren der Strophenformen und seine Reimtechnik.“ 105 88 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 106 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-173. 107 Der Topos der unglücklichen Liebe findet sich in der mittelalterlichen Dichtung, be‐ sonders bei Walther von der Vogelweide. Charakteristisch ist er für Petrarca. Vgl. Heiko Ullrich: Poetologisches Propemptikon und grobianischer Transformationsschwank. Zur gattungspoetologischen Einordnung von Theobald Hocks „An die Satiren (Cap. III)“. In: Bogner / Singh: Theobald Hocks Schönes Blumenfeld (1601) 2019, S.-353-421. 108 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-175. 109 Ebd., S.-179. 110 Ebd., S.-179f. Das Schöne Blumenfeldt ist nicht nur in formaler Hinsicht programmatisch, sondern auch im Hinblick auf Inhalte und Themen. Wie auch zu sprachlichen Aspekten formuliert Hock in einigen Texten explizit seine grundsätzlichen Vorstellungen von Themen, Sinn und Zweck der Literatur und versucht glei‐ chermaßen, diese umzusetzen. Im Vorwort An den getrewen Leser formuliert er seine Ziele: „N e c h s t E r ‐ k a n d t n u ß d e r S e e l e n s ä l i g k e i t / […] die geheimbnussen diser vnserer Pilgerschaft recht wissen zu discerniren/ “. 106 Die Gedichte am Beginn der Sammlung lassen eine strukturierte Komposition in der Formulierung seiner poetologischen Intentionen erkennen. Im ersten Gedicht Cap. I. Vnglück thut die Augen auff deutet er seine persön‐ liche Schreibmotivation an. Eine unglückliche Liebe und die damit einherge‐ hende persönliche Lebenskrise bilden den Ausgangspunkt seines Dichtens. 107 „Da ich noch war ein ander mensch besunder/ Alls der ich bin jetzunder./ / Ja jhr die jhr mein ellends leben und wesen/ Mein Klag gedicht habt glesen/ “. 108 Aus dieser persönlichen Läuterung leitet er einen allgemeingültigen, didaktischen Charakter seiner Textsammlung ab, auf den er im zweiten Gedicht des Bandes Cap. II. Nach Erfahrenheit kombt Erkantnüß näher eingeht. Er formuliert dort seine Intentionen, die als Ausdruck seines Literaturverständnisses interpretiert werden können. Er verbindet die Überwindung seiner Lebenskrise mit seinem poetischen Prinzip. Indem er eine Analogie des Persönlichen zu den Missständen der Zeit insinuiert, evoziert er die seinem Gesamttext innewohnende Spannung einer Verknüpfung des Individuellen mit dem Allgemeinen: „Ich der ich vor gedichtet/ Von Lieb vnd liebes Art/ Manch wunder Reim geschlichtet/ […] Jetzt muß ich von der Welde/ Boßheit vnd vntrew groß/ […] Dichten so schwär vnd bloß./ […] Die Warheit rain vnd klar/ […] Doch wem ich znahent kumme/ Der besser sich darauß“. 109 Hock versteht seine Texte als Literatur für alle Schichten und grenzt sie von höfischer bzw. bildungselitärer Dichtung ab: „Wie wir ohn vnterscheide/ Solln erbar leben fürwar/ Vnd selig werden gar. […] Es ist gleich Paur und Adl/ “. 110 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 89 111 Ebd., S.-184f. 112 Zu den Freiherren von Tunkl (auch: Tunckel) siehe Ernst Heinrich Kneschke (Hrsg.): Neues allgemeines deutsches Adels-Lexikon. Neunter Band (Steinhaus-Zwierlein). Leipzig 1870 (Reprint Hildesheim [u. a.] 1996), S. 311; Constantin von Wurzbach: Tunkl, die Freiherren, Genealogie. In: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 48. Theil. Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei, Wien 1883, S. 113f. (http : / / www.literature.at/ viewer.alo? objid=11707&page=120&scale=3.33&viewmode=fullsc reen [zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023]). 113 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-192. 114 Ebd., S.-197. 115 Ebd. Es folgen drei Anrufungsgedichte mit jeweils unterschiedlichen Adressaten, die untereinander typologisch klassifizierbar sind und jeweils ein bestimmtes Element von Hocks poetischer Intension repräsentieren. Der Appell ist ein in der Dichtung seit der Antike charakteristisches Merkmal. Das Gedicht Cap. III. An die Satiren entspricht der klassischen Anrufung an die Musen. Es hat typischen autopoetologischen Charakter, der Dichter mahnt sich selbst durch die Anrufung zur Unbestechlichkeit: „Galäne[n]“, „Frawenzimmer“, „Cle‐ risey“ „Euch [die Satiren] werden auch antasten/ Doch last euch nichts jhr Litaney/ Anfechten noch/ jhr beschweren hoch/ […] Eim jeden sagt die Warheit rundt/ “. 111 Er formuliert in dieser Apostrophe eine Aufforderung zu einem poetischen Programm, das er auch ausführt, vor allem, wenn er gegen den Adel polemisiert. Das folgende Gedicht Cap. IV. richtet sich An Herrn Neidhart Tunckelgut. Möglicherweise handelt es sich um eine konkrete Person, vielleicht einen Angehörigen des böhmischen Adelsgeschlechts Tunkl, 112 was Hock hier zu dem im Schönen Blumenfeldt zahlreich erscheinenden Wortspiel aus „Neid“ und „Dünkel“ inspiriert haben könnte. Tunckelgut repräsentiert den im Schönen Blumenfeldt häufig zur Zielscheibe des Spotts gemachten abgehobenen und dekadenten Adel. Dies assoziiert Hock mit poetologischen Aspekten: „Geldt! du meinst sich nicht gebiert/ Das ich so Deutsch Poetisiert/ “. 113 Der Grundtenor dieses Gedichts ist polemisch. Das dritte Gedicht dieser Gruppe Cap. V. ist An den Leser gerichtet und der Autor wechselt zu einer freundlichen Tonlage. Die Aufforderung: „Probieret alls vnnd bhaltet/ Allein das guet/ das nimmermehr veraltet/ “ 114 lässt sich als Signal dafür deuten, dass Hock den Text des Schönen Blumenfeldts selbstreferentiell als ein poetisches Ausprobieren intendiert hat. Er verweist auf die Absicht des Werks im Kontext seines Literaturverständnisses: „So billich du das lisest/ […] Hierauß du vil mehr lernste/ Als auß dem Schimpff vnd Ernste/ “. 115 Die reihende Aufzählung von Werken und Autoren verweist auf seine Belesenheit und hat die Funktion, den Autor als kompetente Lehrinstanz auszuweisen. Das Narren‐ 90 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 116 Ebd., S.-198. 117 Ebd., S.-510. 118 Ebd., S.-514. 119 Z. B. Cap. LXXX. Von den Kriegsz Befelchsleuthen - Cap. LXXXI. An die schnarchische Soldaten; Cap. XL. Man macht vil Ordnung vnd niemandts helts - Cap. XLI. Man macht schiff, Fortunatus, Decamerone, Faust und Eulenspiegel werden u. a. angeführt, ebenso lateinische Dichter wie Plautus, Martial, Terenz, Iuvenal. Mit seinen Kenntnissen der Literatur und Sprachen bekräftigt er, dass sein poetologisches Konzept fundiert ist: „(Darumb) liß mich wirst spüren/ Das allerley Materi man kan führen/ Ins Deutsch so wol und artlich/ Als in das Wällisch vnd Frantzösisch zärtlich/ Straff nit mein müh vnd sachen/ Du küns denn besser machen.“ 116 Die drei Gedichte als Einheit antizipieren die hervorstechende Rolle, die die Symbolik der heiligen Zahl „Drei“ im Gesamttext spielt. Wie ein roter Faden ziehen sich Verweise durchs Schöne Blumenfeldt, z. B. Cap. XXX. Dienst/ Krieg/ vnd Lieb / das sein drey Dieb, Cap. XXXII. Drey Lehr des weisen Römers Catonis, Cap. LXVII. Drey Plagen jederman verlacht/ das Podagra/ den Eyffer vnd die Armut, Cap. LXXIV. Vergleichung auff einen Weisen Mann: „Gleich wie da Gottes Namen/ Einig vnd die Personen drey zusammen/ “, 117 Cap. LXXV. Vergleichung auff die Vernunfft/ die Affecten vnd Appetit: „Der [Mensch] durch drey weg und würckung wirdt/ Natürlich gführt/ “. 118 Nach den drei Anrufungen folgt Cap. VI. Der Author beweint das Leben; das Lied stellt performativ den Zusammenhang von Autobiographie und Dichtung in Hocks Literaturverständnis heraus. In diesem Gedicht tritt er als Person konkret hervor, am Beginn nennt er sein Geburtsjahr. Mit autobiographischen Verweisen gibt er Auskunft über sich selbst, seine Persönlichkeit und seinen sozialen Status. Es ist bemerkenswert, dass die Angaben zu seiner Person nicht in einem Paratext formuliert, sondern in ein Gedicht integriert sind. Hock projiziert sein poetologisches Verständnis von Autor und Autorschaft. Dichtung soll Lebenserfahrung spiegeln, sie dient dem Autor zur Reflexion und dem Leser als Beispiel. Dieses eher melancholisch gehaltene Gedicht illustriert im Vergleich zu anderen die Varianz der Stimm- und Tonlagen, die Mischung aus Spott und Besinnlichkeit, die das Schöne Blumenfeldt bestimmt. Einen thematisch geschlossenen Gesamtaufbau hat die Sammlung nicht, aber vielleicht ist diese eher zufällig wirkende Gesamtstruktur auch Teil des poetolo‐ gischen Prinzips. Es wäre anachronistisch, auf die Textsammlung den heutigen oder einen aus einer Epoche nach Hock tradierten Werk- und Textbegriff anzu‐ wenden, doch lassen sich einige intratextuelle Zusammenhänge erkennen, die auf eine in Ansätzen vorhandene Kohärenz verweisen: Manche Gedichte sind in der Textabfolge thematisch-sinnhaft miteinander verknüpft. 119 Zuweilen lassen II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 91 teglich vil Geldt/ noch wil keins erlecken; Cap. XXIII. Vil Ratsherrn sein im Land - Cap. XXIV. Von dem Gerichts Proces. 120 Z. B. Cap. LXII. bis Cap. LXV. und Cap. LXVIII. bis Cap. LXXIII. thematisieren „Liebe“; Cap. LI. bis Cap. LVIII. subsumieren auffällig Sprichwörter. 121 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-514. 122 Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informations‐ gesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Frankfurt am Main 2002, S. 217: „Weil man Gutenberg als ‚Deutschen‘ betrachten konnte, ließ sich seine Erfindung auch zur Stützung der nationalen Identität heranziehen. Diese im Vergleich zu anderen Nationen engere Bindung an den Buchdruck mag eine Ursache dafür sein, dass Deutschland in der Gegenwart nicht gerade zu den Nationen zählt, die eine Vor‐ reiterrolle bei der Einführung der neuen Informations- und Kommunikationstechniken spielt. […] Ein herausragendes Beispiel für die außerordentliche Verherrlichung der Werte der Buchkultur in Deutschland sind die seit 1640 regelmäßig stattfindenden Gutenbergfeiern.“ sich vage (manchmal jedoch unterbrochene) Themenfelder identifizieren. 120 Auffällig sind in diesem Kontext besonders der bereits behandelte Anfang und das Ende der Sammlung. In den letzten sieben Gedichten setzt Hock einen Akzent auf deutsche Geschichte und deutsche Sprache, Namen und Schrift. Hierdurch untermauert er sein poetologisches Konzept der deutschen Sprache argumentativ und rundet es ab. Bemerkenswert sind besonders die sprachhis‐ torischen und -theoretischen Ausführungen, die sein literarisches Programm fundieren. Das Gedicht Cap. LXXXVIII. Von ursprung der Deutschen Sprach hebt in der Schlussstrophe die bahnbrechende, zukunftsweisende Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks hervor, und unterstreicht den Status des Deutschen damit, dass diesen ein Deutscher erfunden hat: Tausent vier hundert vierzig frey/ Die Druckerey/ Zu Kayser Friderich zeiten/ Johannes Guttenberg der Mann/ Zu Maintz gar schon/ Erfunden hat mit frewden/ Vil guets ich sag und böses mag Gstiefft wern damit/ das ist am Tag. 121 Hocks Hervorhebung der Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks deckt sich mit Befunden des Sprach- und Kulturwissenschaftlers Michael Giesecke. Dieser betont, wie sehr Gutenbergs deutsche Herkunft in der Folge die Identität der Deutschen gestützt hat. 122 Giesecke stellt die Erfindung des Buchdrucks und die in unserer Gegenwart sich vollziehende Digitalisierung in ihrer Bedeutung als kommunikationstechnische Umwälzungen gleichrangig neben die Entwicklung 92 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 123 Michael Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorge‐ schichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main 1992, S.-66. 124 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-289. der Sprache und die der Schrift. Er konstatiert für beide Phasen eine „unver‐ meidliche[] Ideologisierung der neuen Medien“: Nachdenklich stimmt, mit welcher Absolutheit sowohl in der frühen Neuzeit als auch jetzt die neuen Medien die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich konzentrieren, wie stark die Identitätsbestimmung der sozialen Gemeinschaft von diesen Medien abhängig gemacht wird. Faktisch existieren in diesen Gesellschaften ja alle alten In‐ formations- und Kommunikationssysteme und deren Sprachen weiter. Man artikuliert weiter, man schreibt weiter, man druckt weiter. 123 Dies verdeutlicht, dass die Gedichte des Schönen Blumenfeldts als Ausdruck einer Zeit des Umbruchs mit den entsprechenden Implikationen interpretiert werden können. Hocks Klagen über Bürokratie, Vetternwirtschaft, Machtarro‐ ganz, Justiz oder Sittenverfall, hinzu die Forderung nach Rückbesinnung auf die wahren, eigentlichen, zeitlos tradierten Werte lassen an aktuelle Diskurse denken und unterstreichen die Beständigkeit bestimmter Topoi. Manches mag stereotyp wirken, doch muss man Hocks Text als authentischen Spiegel der Stimmung seiner Zeit verstehen. Das Schöne Blumenfeldt ist sowohl eine in Ansätzen konzeptualisierte perfor‐ mative Poetik als auch eine literarische Reaktion auf einen kulturellen Wandel. Zu der Frage, wie sich bei der Epochenbildung in der Literatur das Denken einer Gegenwart und die rückblickende historische Deutung zueinander verhalten, bietet der Text aufschlussreiche Einblicke, denn er signalisiert, dass dem Autor Hock bewusst ist, dass er in einer Zeit des Umbruchs lebt. Am Beispiel dreier Gedichte lässt sich illustrieren, wie deutlich sich Affinitäten zu den in dieser Studie verhandelten Diskursen des Denkstilwandels und Paradigmenwechsels zeigen. Hock reflektiert grundsätzlich die Frage nach dem Wesen des Neuen, er nimmt seine Gegenwart als Zeit der Krise wahr und hinterfragt bestimmte Denkmuster. In zahlreichen Gedichten der Sammlung spiegeln sich der Zwiespalt von Erwartung und Angst dem Neuen gegenüber sowie die Suche nach Stabilität im Bewährten und Zeitlosen, die ein typisches Muster menschlichen Verhal‐ tens darstellt. Vor dem Hintergrund dieses Gesamtkontexts lässt sich das Gedicht Cap. XXIII. Die Welt will stets Newzeutung hörn als selbstreferentiell charakterisieren: „Also gehts in der Welt jetzt zu/ Nach newem verlangt vns spat und fru/ Was wir haben schon/ ficht uns nicht an/ Wir wöllens auch nie spüren/ Alß/ biß wirs gleich verlieren.“ 124 Neugier und Geldgier werden II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 93 125 Ebd., S.-288. 126 Z. B. Cap. XXXVI. Wol dem der zu Hoff nichts zu Solicitieren hat; Cap. XXIIII. Vom Hoffleben. 127 Z. B. das Gemälde Venus, Mars und Amor (um 1505) von Piero di Cosimo. Vgl. das Kapitel Venus zähmt Mars. In: Erik von Grawert-May: Theatrum Belli. Zum Verhältnis von Theater, Krieg und Politik in der Neuzeit. Bd I: Form und Lüge. Norderstedt 2013, S. 31-36. Hier wird auf den Florentiner Humanisten und Neuplatoniker Marsilio Ficino (1433 bis 1499) verwiesen. Das Motiv der Zähmung des Mars durch die Venus - die Befriedung durch die Liebe - stellt einen Grundgedanken in dessen Schaffen dar. Konrad Celtis lernte den Kreis von Ficino auf einer Italienreise kennen und es finden sich Einflüsse. Vgl. Humanistische Lyrik (Anm. 12), S. 921, 946, 949, 955, 982, 1019 und Conrad Celtis: Oden / Epoden / Jahrhundertlied. Übersetzt und hrsg. von Eckart Schäfer. 2. überarb. Aufl. Tübingen 2012, S. 85: „In dieser Stellung wird Celtis dem Mars in den Armen der Venus ähnlich […]; vgl. das Gemälde ‚Venus und Mars‘ von Botticelli (1445-1510) in London.“ (Stellenkommentar des Herausgebers zu einem Liebesgedicht von Celtis). hier verspottet, vieles vermeintlich Neue sei nur Blendwerk: „New(e) Warn und Newzeutung vil/ Will haben die Welt stets zu j(h)rem Spiel/ Und bleib(e)t doch/ vorhin wie noch/ Im alten Thand und wesen/ Wie sie ist allzeit gwesen.“ 125 Viele Texte der Sammlung mögen in ihren Sprichwortweisheiten, ihrer Religiosität oder den Vanitas-Anklängen aus heutiger Perspektive als Gemein‐ plätze erscheinen, doch Hock kann in seiner Zeitkritik auch konkret sein. Als Symptom der Krise eines herrschenden sozialen Paradigmas kann Cap. LXXV. Vergleichung auff die Vernunfft/ die Affecten vnd Appetit gedeutet werden. Er geht hier auf die Ständeordnung ein, die er grundsätzlich als gottgewollt und sinnvoll erachtet, abgeleitet unter anderem aus der Dreifaltigkeit. Doch wird die Sozialkritik dezidiert formuliert: Jeder Stand habe seine Rechte und Pflichten, vor allem der Adel komme diesen Aufgaben nicht nach und bereichere sich auf Kosten der Untertanen. Dieses überhebliche und willkürliche Auftreten des Adels thematisieren einige Gedichte des Schönen Blumenfeldts. 126 Hock verurteilt dieses Verhalten und unter dieser Prämisse ist seine Hinwendung zur deutschen Sprache - auch im Kontext der Reformation - zu einem Teil zu verstehen. Wie das oben erwähnte Gedicht Cap. IV. An Herrn Neidhart Tunckelgut explizit dokumentiert, sind die Kritik am Adelsgebaren selbst und an der aristokratischen Ablehnung der deutschen Sprache als Idiom des einfachen Volkes, das für die Kunst nicht geeignet sei, miteinander verknüpft. Der Charakter von Hocks Werk als satirische Reaktion und konterkarierende Umdeutung von humanistischen Topoi und Motiven zeigt sich prägnant in dem Gedicht Cap. XXV. Venus und Mars gehörn zusammen. Venus nimmt in der Kunst der Renaissance eine exponierte, idealisierte Stellung ein. In zahlreichen Darstellungen wird evoziert, dass Venus Mars zähme. 127 Hock stellt hier das 94 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 128 Hanson: Theobald Höck „Schönes Blumenfeld“ 1975, S.-295. 129 Ernst Höpfner: Reformbestrebungen auf dem Gebiete der deutschen Dichtung des XVI. und XVII. Jahrhunderts. In: K[önigliches]. Wilhelms-Gymnasium in Berlin. VI. Jahresbericht. Berlin 1866. genaue Gegenteil heraus: Venus stachelt Mars an: „Es ist kein Wunder wenn in Krieg/ Gleich ziehen die Soldaten/ Das anfangs sie mit Venus Lieb/ Sich hitzen vnd beladen/ “. 128 Dieses Motiv hängt zwar nicht primär mit Hocks poetologischem Konzept einer deutschsprachigen Literatur zusammen, es lässt sich jedoch durch seine Verbindung zum humanistischen Weltbild mittelbar dazu in Beziehung setzen. Ausgangspunkt dieses Kapitels war die Frage, ob Hocks Schönes Blumenfeldt in einer Zeit ohne wirkende Poetik präsumtive basale Elemente einer solchen entworfen und zum Ausdruck gebracht hat. Dies wurde unter dem Aspekt diskutiert, dass der Text in einer Zeit entstand, die von einem markanten sozialen, politischen und kulturellen Wandel geprägt war. Auch wenn man Thomas Kuhns Modell des Paradigmenwechsels als Maßstab für solche Prozesse nicht hypostasieren und verallgemeinern darf, zeigen Hocks Texte, dass sich einige bemerkenswerte und aufschlussreiche Analogien herausstellen lassen. Hocks Werk blieb weitgehend unbekannt, erfuhr aber in germanistischen Fachkreisen von einzelnen Forschern, die den Text angesichts seiner markanten Position als Schnittstelle im Prozess der Literaturgeschichte verorteten, große Aufmerksamkeit. Die Bedeutung des Texts als Dokument eines Zeitenwandels im Sinne eines Denkstilwandels wurde oft akzentuiert. Der Berliner Oberlehrer Dr. Ernst Höpfner deutet in der Hervorhebung der autobiographischen Refe‐ renzen der Gedichte an, dass Hock auch einen Paradigmenwechsel im Hinblick auf das Verständnis vom Begriff des Autors respektive seiner Individualität repräsentiert: Ein Blick auf den Osten und den Norden Deutschlands wird uns […] zeigen, dass man auch dort den Zielen entgegenschritt, bei welchen die Opitzische Zeit anlangte. Zunaechst nimmt hier T h e o b a l d H o e c k, über den bereits 1845 Hoffmann von Fallersleben, aber unter anderem Gesichtspunkte, als der unsrige, geschrieben, mit seinem „Schönes Blumenfeldt“ betitelten Werkchen […] unsre Aufmerksamkeit in Anspruch. Als Vorbote eines neuen Zeitalters der Dichtung steht letzteres schon darum da, weil auf den zweiundneunzig Quartblättern desselben zum ersten Mal eine grössere Anzahl Gedichte von fast durchweg lyrischer Haltung für den Leser veröffentlicht wurden. Bedeutsamer war der Beginn einer neuen Kunstlyrik durch die Eigenthümlichkeit dieser Gedichte angekündigt, dass aus ihnen das Dichterindi‐ viduum mit seinem innerlich bewegten Leben auf das bestimmteste heraustrat. 129 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 95 130 Vgl. zu den verschiedenen Beiträgen Hoffmann von Fallerslebens Eckehard Czucka: Buch ohne Leser. Theobald Hocks Schönes Blumenfeld. Ein Forschungsbericht 1601 bis 2018. In: Bogner / Singh: Theobald Hocks Schönes Blumenfeld (1601) 2019, S. 15-241, hier S. 26-30. Czuckas profunder Forschungsbericht eröffnet im Gesamtüberblick der Rezeptionszeugnisse einen instruktiven vergleichenden Einblick und spiegelt anschau‐ lich die verschiedenen Denkstile und Paradigmen, unter denen Hocks Text betrachtet und gedeutet wurde. 131 Ebd., S.-26. 132 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Theobald Höck. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur. In: Literarhistorisches Taschenbuch 1845, 3. Jg., S. 399-422, hier S.-401. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben schenkte dem Werk besondere Beachtung und widmete ihm einige Beiträge. 130 „Die erste wissenschaftliche Beschäftigung mit Autor und Werk unternahm 1845 Hoffmann von Fallers‐ leben, der seinen Aufsatz ausdrücklich als Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur verstanden wissen wollte.“ 131 Hoffmann von Fallersleben greift den Epochenbegriff auf und stellt die Bedeutung Hocks heraus, indem er ihn als maßgeblichen Autor eines „Wendepunktes“, quasi einer im Kuhnschen Sinne ‚revolutionären Phase‘, charakterisiert, welcher der späteren Etablierung der von Opitz formulierten Poetik als Paradigma vorangegangen ist: Eine der merkwürdigsten, zugleich aber der dunkelsten und unbekanntesten Epochen unserer Literaturgeschichte ist diejenige, welche dem Eintritt der Opitzschen Schule zunächst vorhergeht. Die Bedeutung des Wendepunktes, welcher durch diese Schule selbst eingetreten, verkennt Niemand; […] Allerdings fehlt es dieser Epoche an großen Namen, an bedeutenden Werken, an poetischen Reichthümern; […] 132 Hoffmann von Fallersleben prononciert hier eine in seinem Sinne überzeitliche Struktur eines Wandlungsprozesses. Die Untertitelung des Aufsatzes als „Bei‐ trag zur Geschichte der deutschen Literatur“ insinuiert, dass Hoffmann von Fallersleben Hock in dessen Bemühungen um die deutsche Sprache in der Literatur auf seine eigene Gegenwart bezieht und die Herausstellung von Hocks Beitrag in affirmative Referenz zu seinem patriotischen Bekenntnis zu einer deutschen Staatsnation setzt. Die Bezüge auf die „dunkelste“ Epoche und den „Wendepunkt“ können als Parallelisierung auf die Gegenwart und motivierende Zukunftsverheißung interpretiert werden. Hierin zeigt sich exemplarisch, wie ein Text aus einer vergangenen Epoche in einen Gegenwartsdiskurs implemen‐ tiert wird und wie seine Deutung entsprechend angepasst wird. Czucka sieht Hoffmann von Fallerslebens Aufsätze zu Hock auch als Beitrag einer einem positivistischen Denkraster verhafteten Literaturwissenschaft an: 96 II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 133 Czucka: Buch ohne Leser 2019, S.-30. Der Beginn der Hock-Rezeption steht bei Hoffmann von Fallersleben ganz im Zeichen des methodischen Positivismus als Konzept der frühen Germanistik. Festzuhalten ist, dass es gerade bei der philologischen Genauigkeit bedauerliche Fehlleistungen gibt, während sich seine Kategorisierungen, also die Leben-Werk-Relation und das Interesse am „Inhalt“, dauerhaft etablieren. 133 Die Wiederentdeckung von Hock durch Hoffmann von Fallersleben ist von den Denkstilen und Paradigmen ihrer Zeit bedingt und die Deutung des Schönen Blumenfeldts davon geprägt. Sie fällt in die Periode des mit Lieder-, Sagen- und Märchensammlungen kulturell flankierten nationalen Aufbruchs im Deutsch‐ land des 19. Jahrhunderts. Die folgenden Kapitel dieser Studie greifen an einigen Stellen in diese Epoche zurück und versuchen, literarische Entwicklungen von der Aufklärung bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Wenn schon ein relativ unbekannter Autor wie Hock in das Denken einer späteren Gegenwart transformiert wird, lässt sich erahnen, welche Dimensionen dieses Moment erst im Rezeptionsprozess kanonisierter Autoren wie Heinrich von Kleist oder Georg Büchner annehmen kann. II. Theobald Hock: Schönes Blumenfeldt 97 134 Gerhard Sauder: Kein Herder-Bild. Studien zu einem Weimarer Klassiker. Hrsg. von Ralf Bogner. St. Ingbert 2018. III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels in der deutschen Literatur und Geistesgeschichte III.1 Herder als paradigmatischer Autor Weil Johann Gottfried Herder immer wieder die Relativität der Erkenntnis als solche sowie ihre Abhängigkeit von der historischen Zeit und dem jeweiligen Ort betont hat, weist sein Werk signifikante Bezüge zum Modell des literarischen Paradigmenwechsels auf. In seinem umfangreichen Schaffen hat Herder die wesentlichen in dieser Studie verhandelten Fragen in unterschiedlichen Zusam‐ menhängen thematisiert, dabei kardinale Probleme aufgegriffen und formuliert. Eine der fixen Konstanten seines vielgestaltigen Gesamtwerkes findet sich darin, dass die Frage der relativen Zeitbezogenheit von Literatur und Denken immer in seinen Ausführungen mitschwingt, z. B. in seiner Diskussion über die Aktualität der antiken Literatur oder bei seiner Deutung des Alten Testa‐ ments. Auch wenn Herders prominente Apotheose des Volksliedes mit dessen Ursprünglichkeit und Echtheit subjektiv und schwärmerisch wirken mag, un‐ terlässt er es nicht, seine theoretischen Positionen respektive Empfindungen kritisch rational zu hinterfragen. Seine Suche nach dem zeitlosen Wesen des Denkens und der Dichtung reflektiert er vor der Annahme, dass Literatur neben zeitbezogenen Faktoren einen absoluten anthropologisch begründeten Kern hat, den er in der authentischen Volksdichtung und der tiefen Menschenkenntnis Shakespeares hervorscheinen sieht. Kein Herder-Bild - so gleichermaßen rätselhaft und treffend ist die Sammlung der Herder-Aufsätze eines seiner besten Kenner betitelt. Dieser Band des Germanisten Gerhard Sauder beleuchtet in seiner Kompilation konzise die Bedeutung und zugleich die Schwierigkeit mit dem Philosophen, Theologen, Linguisten, Historiker und Literaten des ausgehenden 18. Jahrhunderts. 134 Schon der Untertitel des Bandes Studien zu einem Weimarer Klassiker verweist indi‐ rekt auf Herders Ambiguität. Durch sein Amt in Weimar und den geistigen Austausch dort mit Schiller, Goethe und Wieland kann er im literaturhistorisch- 135 Vgl. z. B. Brief Herder an Johann Heinrich Merck, Straßburg, Februar 1771. In: Johann Gottfried Herder: Briefe Gesamtausgabe 1763-1803. Erster Band April 1763-April 1771. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1977, S. 310: „Was kann ich aber dafür, daß das, was in mir dichtet, eine Mischung von Philosophie u. Empfindung empirischen Sinne des Begriffes als Klassiker angesehen werden. Aus einem idealisierten Verständnis von Klassik als einer künstlerisch vollendeten Mani‐ festation eines zeitlosen Geistes, welches im Wesentlichen später auf Goethes und Schillers Werk projiziert wurde, könnte man ihn jedoch aufgrund des zweifelnd-suchenden Gestus seiner Schriften thesenhaft zugespitzt eher als Anti-Klassiker bezeichnen. Es lässt sich kein homogenes Bild dieses Denkers erstellen, zu sehr schwankt sein Werk in sich in Widersprüchen und lässt sich auch interdisziplinär kaum in seiner Gänze erschließen. Herder hat kein konzeptuell-systematisches literarisches oder weltanschau‐ liches Programm entwickelt, daher ist sein Name auch nicht an eine konsistente Lehre gekoppelt. Als originär literarischer Autor ist er kaum hervorgetreten, jedoch durch seine Sammlung und Bearbeitung von Volksliedern im kollektiven Gedächtnis verhaftet. Dieser Aspekt seines Schaffens verweist auf seine mehr suchende und weniger mit eigenem Schöpfergenie behaftete Kreativität. Die Arbeit an den Volksliedern stellt den Versuch der Rekonstruktion eines univer‐ sellen poetischen Grundprinzips dar, das im einzelnen Charakter der jeweiligen Völker variiert. Herder stellt die alten Texte in den Kontext seiner Gegenwart, um zeitunabhängige Gültigkeit und temporäre Bedingtheit zu kontrastieren. Seine Philosophie stellt kein positives Welterklärungsmodell dar, vielmehr entwirft und vermittelt sie in seinen Denkstilanalysen eine Lehre über die Reflexion, des Denkens über das Denken. Vieles von dem, was Georg Wilhelm Friedrich Hegel später in seiner Dialektik entwickelt hat, hat Herder gedanklich bereits antizipiert. Er hat die Vernunftlehre der Aufklärung dezidiert auf ihre Widersprüche hinsichtlich der anthropologischen Dispositionen untersucht. Objektivismus und Empirismus hinterfragt Herder, indem er ihre menschliche und historische Bedingtheit herausstellt. In dieser Hinsicht weist sein Denken prägnante Ähnlichkeiten mit Kuhns Paradigmenmodell auf. Die Diversität seines Schaffens resultiert auf der persönlichen Ebene aus einem launenhaften Naturell, von dem seine Briefe unmittelbar Zeugnis geben. In Herders Schriften zeigt sich immer wieder die Spanne zwischen der bei ihm ausgeprägten Emotionalität, die sich in Schwärmereien und Wutausbrüchen manifestiert, und der intellektuellen analytischen Gabe, die ihn auf die Ratio der Aufklärung rekurrieren lässt. Diese persönlich an sich selbst empfundene Ambiguität prägte Herders intellektuelle Tätigkeit. 135 Er strebte eine Harmonie von Ratio und Gefühl an und suchte nach einer universellen Ästhetik, versuchte 100 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels ist, die beide an Bild hangen, u. die Ode so gern zum Ganzen eines solchen Bildes machen.“ 136 Charles Taylor: Zur philosophischen Bedeutung Johann Gottfried Herders. In: Stefan Greif / Marion Heinz / Heinrich Clairmont (Hrsg.): Herder Handbuch. Paderborn 2016, S. 13-22; Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. 2 Bde. Berlin 2019 (E-Book). Der Titel von Habermas’ Buch ist eine Anspielung auf Herders Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Habermas hebt Herders Be‐ deutung im Zuge eines fundamentalen Paradigmenwechsels und seine Wirkung bis heute ausdrücklich an mehreren Stellen hervor, z.-B. Bd. II, S.-374: „Die Versuche, Kants Begriff der subjektiven Vernunft zu detranszendentalisieren, ohne dieser die weltbildende und praktisch-gesetzgebende Spontaneität zu nehmen, markieren einen ‚Bruch im Denken des 19.-Jahrhunderts‘ (Löwith). Mit Friedrich Schleiermachers und Wilhelm von Humboldts pragmatischer Sprachtheorie kommt allerdings der von Herder vorbereitete Anstoß zum Paradigmenwechsel, professionell betrachtet, gewissermaßen von außen. Die Vernunft wird nicht mehr, wie in der idealistischen Tradition bisher, als reiner, von Materie oder Natur unterschiedener Geist konzipiert. Vielmehr verkörpert sich die Vernunft symbolisch in der Bedeutung intersubjektiv verständlicher Zeichensubstrate und in den kognitiven Operationen, die mit den sprachlich organisierten Zeichensystemen in Raum und Zeit ausgeführt werden; sie objektiviert sich in den Dispositionen, Handlungsorien‐ tierungen und Lebensgeschichten von Personen, in den Artefakten und den Praktiken ihrer Lebenswelten, in Techniken, Verfahren, Institutionen sowie in gesellschaftlichen Strukturen und im gespeicherten kulturellen Wissen.“ Bd. II, S. 421: „Aber zunächst möchte ich die Anstöße zu diesem Paradigmenwechsel mit jenen methodischen und sachlichen Weichenstellungen abschließen, mit denen Johann Gottfried Herder (1744‒ 1803) zum Begründer der Historik und im weiteren Sinne der ‚Historischen Schule‘ überhaupt geworden ist; er betont die Methode des Vergleichs und die individuelle Natur der geschichtlichen Phänomene, die in ihrem Eigenwert respektiert werden müssen und nicht aus der Perspektive auf das Ganze der Geschichte als bloße Stufen einer Entwicklung nivelliert werden dürfen.“ (Kursivierungen von H. G.) jedoch nicht, die Widersprüche mithilfe der Dichtung idealistisch überhöht zu stilisieren oder aufzulösen. In seinem dichterischen Werk fehlt die Entwicklung charismatischer Figuren wie Faust und Prometheus bei Goethe, Wallenstein und Don Carlos bei Schiller, durch die sich anschaulich und wirksam überhöht das anthropologisch bedingte zeitlose Drama des Menschen vollziehen soll. Die Aktualität Herders zeigt sich exemplarisch darin, dass mit Charles Taylor und Jürgen Habermas zwei der maßgeblichen Philosophen unserer Gegenwart nachdrücklich darauf verweisen, dass er ein Denker sei, der paradigmatisch gewirkt und einige grundsätzliche, heute noch gültige Denkmuster geprägt habe, die vor allem die Geschichtswissenschaft als Instanz der Deutung und Sinngebung von historischen Prozessen beeinflusst haben. 136 Herder wird dabei ausdrücklich nicht als Initiator eines philosophischen Systems oder einer Litera‐ turschule bzw. Regelpoetik betrachtet, sondern vielmehr in seiner dialektischen Denkweise als prägend für Diskurse angesehen, die in sich konträr sein können, jedoch eine gemeinsame basale Referenz evozieren. III.1 Herder als paradigmatischer Autor 101 137 Taylor: Zur philosophischen Bedeutung Johann Gottfried Herders 2016, S.-13. 138 Hans-Peter Nowitzki: I. Biographie. In: Herder Handbuch 2016, S.-23-38, hier S.-37. Herder gewinnt in einem solchen Bezugsfeld als Denker und literarisch Schaffender eine Bedeutung, die weit hinausgeht über die von Philosophen wie Marx und Nietzsche, über die von Literaten wie Goethe und Schiller, die in ihrer Öffentlichkeit und konkreten Wirkung vielleicht nachhaltiger erscheinen mögen. Er hat vielmehr einen Metarahmen entwickelt, der geistesgeschichtliche und poetologische Prozesse strukturell erfasst, eine Art Denksystem, aus dem sich die unterschiedlichen Wirkkräfte typologisch abstrahieren lassen. In seiner grundlegenden Schrift Zur philosophischen Bedeutung Johann Gott‐ fried Herders stellt Charles Taylor heraus, dass Herder als „unsystematischer Denker“ gilt. 137 Darin liegt für ihn die Ursache, dass sein maßgeblicher Einfluss auf das Paradigma des Menschenbildes der Moderne verkannt werde. Taylor stellt heraus, dass Herder zwar kein geschlossenes Konzept entwickelt habe, Hegel jedoch viele Ideen Herders in sein System übernommen habe. Aus dieser Perspektive heraus möchte ich im Folgenden Herder und seine Rolle als Teil eines strukturell ablaufenden universellen Prozesses im Zuge der Entstehung von neuen Paradigmen des Denkens deuten. Herder hat Ideen und Grundsätze der Aufklärung kritisiert und hinterfragt, immer vor dem Hintergrund der universellen Maxime, dass Vernunft nicht hypostasiert werden darf, sondern das Gefühl berücksichtigt werden muss. Von daher weist sein Denken Affinitäten zum großen Bogen dieser Studie auf. Er hinterfragt den Empirismus in einer vergleichbaren Weise, wie dies auch Fleck und Kuhn tun. Herders Zeit war geprägt von einer Krise der Religion und der Politik. Seine theologischen Schriften sind als Versuch zu verstehen, die […] Krise der christlichen Religion, die auch eine Krise der Aufklärungsphilosophie und des für sie maßgeblichen Gedankens der Harmonie von Vernunft und Offenbarung ist, in ihrem Ausmaß und in ihren Folgen zu begreifen und zugleich philosophisch-theologische Ansätze zu ihrer Bewältigung herauszuarbeiten. 138 Herder hat den Sturm und Drang als zeitgenössische Gegenbewegung zu reinem Vernunftdenken und Objektivismus mitgeprägt, zugleich hat er sich aber auch mit dem antiken und klassizistischen Paradigma auseinandergesetzt. Taylor betont die Aktualität seines Denkens. Herder hat viele heutige Stan‐ dards und Denkstile beeinflusst. In der Abkehr vom reinen Empirismus und Vernunftdenken und der Betonung von Gefühlen spiegelt und formuliert er eine seit der Aufklärung bis heute wirksame basale Fragestellung. 102 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 139 Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. 20. Auflage Stuttgart 2014 (E- Book), S.-78. Kurt Rothmann fasst in seiner Kleinen Geschichte der deutschen Literatur die Wirkung von Herders Denken auf die Literatur konzise zusammen: [Herder] griff die Idee von der schöpferischen Freiheit des Individuums auf. Gingen die Aufklärer davon aus, dass der Mensch im Grunde immer und überall das gleiche Ver‐ nunftwesen sei, so lehrte Herder, den Menschen als geschichtliches Wesen zu begreifen, für das die historisch-geographische Prägung ganz entscheidend ist. Geschichtlich bedingt ist also auch die Kunst des Menschen. Keinesfalls ist diese, wie die Aufklärer dachten, an feststehenden, zeitlosen Maßstäben irgendeiner normativen Regelpoetik zu messen, sondern ihr Verständnis verlangt geschichtliches Einfühlungsvermögen. 139 Indem Herder die historisch-geographische Prägung des Menschen, die histori‐ sche Bedingtheit von Kunst thematisiert, finden sich in seinem Werk Affinitäten zu basalen Elementen der theoretischen Ansätze von Fleck und Kuhn. Eine der grundlegenden Fragen der beiden Modelle, die nach der Spanne zwischen der Wahrnehmung des Individuums und dem ihm vorgegebenen historischen und soziokulturellen Rahmen, der das Denken maßgeblich mitdeterminiert, nimmt in Herders Werk eine zentrale Position ein. Auch wenn er im Hinblick auf den Entwurf eines geschlossenen philosophi‐ schen oder literaturtheoretischen Modells als „unsystematischer“ und nicht konzeptueller Denker charakterisiert wird, lässt sich für ihn dennoch ein auf konstanten zusammenhängenden Elementen fußender Denkstil typologisch abstrahieren. Anhand seiner Schriften lassen sich evident Tendenzen darlegen, die sowohl paradigmatische Konstanten als auch deren Modifikationen durch Umschwünge, neue Erkenntnisse und Ideen manifestieren. Dies liegt daran, dass Herder in seinen Schriften seine Gedankenfindung immer dezidiert reflektierte. Durch diese Offenheit in der Bewusstmachung der eigenen Denkwege eröffnet er Einblicke in Denkstrukturen und Entwicklungsprozesse von Denkstilen. Bemerkenswert ist dabei, dass er einerseits diese Prozesse für die Geschichte der Philosophie zentral in seinem Werk thematisierte, andererseits selbstreferentiell seine Person und seine Zeit in die Überlegungen mit einbezog. Er kann als ein Transformator von tradierten Denkstilen charakterisiert werden. Er griff diese auf, modifizierte sie für seine Zeit, reicherte sie mit eigenen Gedanken an, und wirkt mit diesen bis in die heutigen Diskurse. Seine Studien über das Alte Testament oder Spinoza lassen sich in unsere Zeit transponieren, gerade weil er sich darin reflexiv der Problematik der Zeitlichkeit widmete und diese Frage sein gesamtes Schaffen spiegelt. Er reflektierte die III.1 Herder als paradigmatischer Autor 103 Zeitbedingtheit seines eigenen Denkens. Im Gegensatz zu Schillers Idealismus, dem klassizistischen Streben nach einer von der Zeit gelösten verbindlichen Ästhetik, hat Herder nicht versucht, den Dualismus von universeller Wahrheit und Zeitlichkeit aufzulösen. Er hat indirekt dahingehend gewirkt, dass diese immerwährende Frage für jede Epoche neu definiert werden muss, und damit das Problem formuliert, dass auch das Schöne immer nur in seiner jeweiligen Gegenwart als solches gedeutet wird. Während einerseits Herder instruktive Einblicke in die Konstitution von Denkstilen als solchen ermöglicht, bietet andererseits der Blick auf die Struktur seines Denkens Möglichkeiten, Orientierungspunkte in der Vielfalt und Ganz‐ heit seines eigenen Schaffens zu markieren. Um diese Thesen zu unterstreichen und mit Beispielen zu belegen wird im Folgenden zunächst auf einige frühe Texte Herders genauer Bezug genommen. In diesen zeigt sich, wie er seine grundlegenden Positionen bereits in seinen Anfängen formulierte und somit seine späteren großen Projekte zur Theologie, Philosophie oder Literatur im Kern antizipierte. Sein wesentliches Denken, sein antagonistisch offenes Weltbild sowie sein Credo der Vermittlung zwischen Verstand und Gefühl, Historizität und Universalität lassen sich gedrängt in seiner Abhandlung Gott (1787) exemplifizieren, die sich mit den Thesen des niederländisch-jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632 bis 1677) aus‐ einandersetzt, zugleich aber im Kontext die epochenwirksamen Philosophien Descartes, Leibniz und Kants aus Herders Perspektive erörtert. Spinozas Lehre und ihre Interpretation durch Herder weisen in der Sicht auf die Naturwissenschaft und den Empirismus einige bemerkenswerte Analogien zu Fleck und Kuhn auf, die als Charakteristika eines Denkstils gedeutet werden können. Diese Denkart hat auch Herders Verständnis der Literatur geprägt. III.2 Die Grundlegung von Herders Denkstil in seinen frühen Texten Die Lebensthemen Herders und seine charakteristische Denkweise treten in den frühen Entwürfen und Texten aus den Jahren 1764 und 1765 bereits prägnant hervor. Die Systematik seiner Herangehensweise an ein Sujet und des Umgangs damit lässt sich am Beispiel einiger kleiner Schriften, die vor seinen ersten größeren Abhandlungen Über die neuere deutsche Literatur (1767) und Über den Ursprung der Sprache (1772) entstanden sind, aufzeigen. Da diese Texte auf einen speziellen überschaubaren Gegenstand anstatt auf einen Gesamtkomplex konzentriert sind, lassen sich Grundzüge von Herders Methodik exemplarisch 104 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels fassen. Hier antizipiert er gedanklich viele Elemente seiner wegweisenden Kon‐ zeptionen zur Anthropologie, Sprache oder Geschichte, die in den Großtexten seines späteren Werkes ausdifferenziert werden. Diese wiederum stellen sich komplizierter dar, weil sie aufgrund ihres disziplinübergreifenden Ansatzes von einer kumulativen Darstellungsweise und Themenvielfalt gekennzeichnet sind. Dies resultiert aus Herders außergewöhnlichem Begriffsvermögen, seinem ste‐ tigen Wissenszuwachs, seiner akribischen Darstellungsweise, die heuristische Vereinfachungen vermeidet. Durch seine verschränkte dialektische Argumenta‐ tionsweise, die bemüht ist, jedes signifikante Detail abzuwägen, werden die in ihren Querverbindungen und Widersprüchen belassenen diffizilen Folgerungen für den Leser oft nur schwer begreifbar. Seine Denkweise ist jedoch von Beginn an ganzheitlich, in heutigen Begrifflichkeiten könnte man ihn als Strukturalisten bezeichnen. Er setzt einen besonderen Akzent auf die Relationen der Dinge und betont grundsätzlich, dass nichts singulär, sondern nur im Zusammenwirken mit dem Anderen erklärt werden kann. Herder intendiert eine Ausbalancierung und Vermittlung zwischen Antagonismen wie Geist und Materie, Subjektivität und Objektivität, Religion und Naturwissenschaft, Gott und Mensch, Vernunft und Gefühl, Universalität und zeitlicher Bedingtheit. Der Begriff des Systems taucht öfter auf, z. B. in dem im Folgenden noch vertieft behandelten Text Gott. Indem Herder den Systembegriff von empirisch fassbaren Naturprozessen auf geistes‐ wissenschaftliche Fragen projiziert, antizipiert er Elemente des Systemdenkens des 20.-Jahrhunderts. Er hypostasiert dabei ausdrücklich nicht den Systembegriff, sondern betont den Modellcharakter solcher Ähnlichkeiten. Gewisse Konstanten treten singulär erkennbar hervor. Besonders in erhal‐ tenen Entwürfen lässt sich genetisch darlegen, wie Herder eine Art Koordina‐ tensystem entwickelt, in dem er seinen jeweiligen Gegenstand im Feld seiner basalen Ideen und Überzeugungen verortet und überdenkt. Seine Grundeinstel‐ lung, dass in einer gewissen Quantität alles historisch und räumlich bedingt ist, bildet meist den primären strukturellen Rahmen. In den Ausführungen zeigt sich dann, wie Deutung und Zuordnung bei den jeweiligen Untersuchungsgegen‐ ständen variieren. Man erkennt in Herders Gesamtwerk, wie er seine Grund‐ auffassungen sublim hinterfragt, einzelne Aspekte gegebenenfalls aufgrund von Erfahrungen korrigiert und präzisiert. Er überdenkt seine Positionen und vermisst sie in den stabilen Kategorien seiner grundsätzlichen Denkweise. Die Analyse und heuristische Fixierung solcher für ihn charakteristischen Disposi‐ tive bzw. Paradigmen bilden einen systematischen Zugang, um modellhaft einen Überblick oder eine Verortung von Herders gesamtem Werk zu gewinnen. Sein Credo von der historischen Bedingtheit tritt in dem Aufsatz Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten? unmissverständlich hervor. III.2 Die Grundlegung von Herders Denkstil in seinen frühen Texten 105 140 Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Band-1: Frühe Schriften 1764-1772. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985, S.-43. Kursivierung im Original. Der 1765 entstandene Text stammt aus seiner Zeit in Riga, wo er anlässlich der Einweihung eines neuen Gerichtshauses diesen Beitrag für eine Festschrift verfasste. Ohne es explizit zu formulieren, orientiert sich Herder an dem im Zuge der Aufklärung in Frankreich um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert initiierten Literaturstreit, der als „Querelle des Anciens et des Modernes“ bekannt ist und auch den deutschen Diskurs von Gottsched und Lessing bis zu Schiller und Friedrich Schlegel mitbestimmt hat. Es geht konkret um die Frage, ob bzw. inwieweit die antike Kunst und Literatur und damit ihr ästhetisches Paradigma in der damaligen Gegenwart noch Vorbildcharakter besitzen. Dieser Diskurs weist auf der Metaebene Parallelen zur Diskussion um Kuhns Modell des Paradigmenwechsels auf. Kunst und Literatur werfen das Problem auf, ob es eine universelle Ästhetik gibt, oder ob der Geschmack temporär wechselt. Dabei wird nicht nur eine Entscheidungsfrage prononciert, vielmehr betonen viele Denker die Relevanz beider Komponenten und gewichten die jeweiligen Aspekte und Faktoren unterschiedlich. Herder beleuchtet die Thematik in seiner Ansprache nicht von der textimma‐ nent-ästhetischen Ebene her, sondern im heutigen Sinne literatursoziologisch aus der Perspektive des Umfelds. Dabei ist bemerkenswert, dass er im Hinblick auf die antike Literatur die Frage nach dem Leser stellt. Er fragt rezeptionsäs‐ thetisch nach dem Publikum und daran gekoppelt nach dem soziokulturellen Rahmen. Der Hauptteil seiner Betrachtung ist systematisch, diesen Themen entsprechend, in zwei Teile gegliedert. In einer Exposition formuliert er die zentrale Thematik, ob das Publikum heute anders ist als früher. Sein Begriff des Publikums ist weit gefasst, impliziert aber ausdrücklich auch den literarischen Bereich. Er fragt nach dem kollektiven denkgeschichtlichen Rahmen, der dieses und dessen Geschmack beeinflusst. Herder akzentuiert dabei die Rolle der mit der jeweiligen historischen Lage einhergehenden Staatsform. Die soziale Organisationsweise einer Zeit sieht er in der multiplen Interdependenz zahlreicher Faktoren bedingt, dabei spielen sowohl natürliche Gegebenheiten wie das Klima als auch kulturelle Phänomene wie der technische Fortschritt eine Rolle. Pointiert stellt er die Frage, ob sich die Menschen oder die äußeren Umstände mit der Zeit verändert hätten: „Entweder haben sich also die Sachen der Beratschlagung oder das Volk geändert? / Beides! “ 140 Herder formuliert unter dieser Prämisse einen für seine Zeit bemerkens‐ werten literatursoziologischen Ansatz. Er koppelt die Disposition des Lesers an die Staatsform, in der dieser lebt. Er stellt die attische und römische Demokratie 106 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 141 Ebd., S.-48. Kursivierung im Original. 142 Ebd., S.-65. 143 Ebd., S.-63. der Antike seiner Gegenwart gegenüber und folgert, dass die Gesellschaft seiner Zeit zunehmend komplizierter geworden ist. Sinnvolles politisches Handeln setzt wie alle Berufe bestimmte Fertigkeiten und Kenntnisse voraus. Eine Volks‐ herrschaft, in der alle die Entscheidungen treffen, würde fatale Folgen mit sich bringen. Zugleich intendiert er aber dahingehend, dass es für die Philosophie wichtig ist, auch dem einfachen Volk verständlich zu sein. Herder unterscheidet dabei verschiedene Leserschichten, die, abhängig von ihrem sozialen Umfeld, unterschiedliche Voraussetzungen haben. Auf die mitschwingende selbstrefe‐ rentielle Komponente der Abhandlung speziell und der Thematik im Ganzen verweist er mit einer knappen Bemerkung am Schluss des Ersten Abschnitts: „Vielleicht haben sich einige meiner Leser schon satt gelesen, und denen zu Gefallen kein Wort mehr; auch sie gehören zum Publikum.“ 141 Speziell für den literarischen Bereich führt Herder diese Gedanken in der in Entwürfen und Fragmenten überlieferten Abhandlung Von der Ode (1764/ 1765) aus. Hier variiert er den Dualismus zwischen poetischen Naturformen und durch Zeit und Ort bedingten variablen Ausdrucksweisen der Dichtung. Dabei formuliert er das Problem, dass er später in größeren Schriften weiter und komplexer für das gesamte literarische Feld ausdifferenzieren wird, am Beispiel einer auf die Antike zurückgehenden Gedichtform, von der „[m]an sagt: die Ode drückt merklich reine Empfindungen aus“. 142 Dabei verhandelt Herder die Pole von einer zeitlosen anthropologischen Konstante der menschlichen Grundnatur, die essenziell in der Form der Ode enthalten ist und den ort- und zeitspezifischen Varianzen, die sich in unterschiedlichen regionalen und zeitlichen Ausführungen mehr oder weniger finden. Anhand ins Unreine ge‐ schriebener Skizzen und Entwürfe zu dieser Abhandlung lässt sich Herders Denkweise veranschaulichen: Ist Ode Sprache der Leidenschaft objektiv subjektiv: - natürlich und künstlich/ kann ein Genie die Dichtkunst bestimmen - nichts läßt sich schwerer als Ode etc. Hier ist Nachahmung und Ode am meisten vermischt Empfindung) nicht an sich; sondern in der Einbildungskraft und Beziehung auf die Vernunft: - Welche? Kunst, als Wissenschaft, zu erhöhen durch Künste: insonderheit bei den starken Empfindungen Ausdruck) nicht natürlich durch Sprache, sondern künstlich Bild - der Natur Ode) ist dramatisch künstlichen Ode) -ist perspektivisch, will rühren ist höchstens E<inbildungskraft> 143 III.2 Die Grundlegung von Herders Denkstil in seinen frühen Texten 107 144 Ebd., S.-149. 145 Ebd., S.-76. 146 Ebd. 147 Ebd., S.-96f. Einen wesentlichen Einflussfaktor sieht Herder dabei in der Herkunft der Menschen, was er in seiner Abhandlung Von der Verschiedenheit des Geschmacks und der Denkart unter den Menschen (1766) unterstreicht: Ein guter ehrlicher Mann, der die Welt nur vom Markte, vom Caffeehause her, und höchstens aus dem Hamburgischen Korrespondenten kennet, staunet so sehr, wenn er über eine Geschichte kommt, und findet, daß sich mit dem Klima, mit den Erdstrichen, und den Ländern Denkart und Geschmack ändern: ich sage, er staunet so sehr, als Paris sich bei dem Einzuge eines indianischen Prinzen nur immer wundern kann. 144 Aus diesem Prinzip erwuchs Herders großes Projekt der Sammlung von Volks‐ liedern aus den unterschiedlichen Kulturen. Sein frühes Werk wird unter der Prämisse subsumiert, dass er einer der theoretischen Wegbereiter der Sturm-und- Drang-Bewegung sei. Doch auch in dieser Hinsicht fällt eine eindeutige Zuord‐ nung schwer. Die Frage nach dem individuellen Schöpfer, dem Originalgenie, wird bei Herder diskutiert, doch ist bei ihm schon in den frühen Schriften die Formel eines kollektiven Genies präsent, die sich im Wesentlichen in seinen Gedanken zur Sprache und zum Volkslied manifestiert hat. Ein Resümee der Betrachtung einiger literarischer Formen in Von der Ode lässt erkennen, dass „Genie“ für Herder nicht nur ein einseitiger autorzentrierter Akt ist: Nach dieser Absteigerung nimmt auch das Genie ab, das erfodert wird, Gedichte zu empfinden und zu verfertigen. Zu den erstern [Ode, Drama, Epopee] wird im größern Grad Gefühl, zu den mittlern [Elegie, Idylle] schon mehr Geschmack und Kunst, und zum letzten [Schilderung, Lehrgedicht], dem am wenigsten poetischen, beinahe bloß Wissenschaft erfodert. - - 145 Herder hat sich vehement gegen einen gefühlskalten Rationalismus, den er bei einigen deutschen Aufklärern verbreitet sah, gewandt: Und eben daher sind die philosophischen Deutschen dem Lehrgedicht so treu ge‐ wesen; da der dicke Himmel, die Sklaverei, und der Mangel der lebhaftern Empfindung andre Gedichtarten ihnen schwer machte. 146 - - so ist unser Jahrhundert in Deutschland doch wenigstens das philosophische. […] Wer kein Poet sein kann: ein männlicher Philosoph mit einer kalten Leidenschaft, […] 147 108 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 148 Ebd., S.-124. 149 Vom Herausgeber des Bandes Ulrich Gaier angesetzter Titel. Vgl. ebd. Kommentar, S.-969-972. 150 Ebd., S.-101f. Kursivierung im Original. 151 Ebd., S.-103. Kursivierung im Original. Die für ihn vor allem mit Kants Lehre verbundene hypostasierte Vernunft lehnt Herder kategorisch ab, dennoch setzt er dem kein Prinzip des Irrationalismus entgegen. Ebenso vermeidet er es, schwärmerisch eine verlorene Naturnähe zurückzusehnen, vielmehr reflektiert er sinngemäß, dass er sich in einer be‐ stimmten kulturellen und historischen Lage befindet, die von einem bestimmten Denkparadigma geprägt ist, was gewisse unveränderbare Implikationen mit sich bringt. Das heißt nicht, dass innerhalb dieses Rahmens keine Gestaltungsmög‐ lichkeiten bestehen. Eine Grundeinstellung Herders ist es, dass Wissenschaft und Erkenntnis dem Wohle aller dienen sollen. Hier sieht er in seiner Zeit Defizite im Hinblick auf die Aufklärung: „Allerdings ist der Nutzen der Philosophen bisher für das Volk im ganzen klein“, 148 schreibt er in dem für seine Einstellung wegweisenden Traktat <Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann> (1765), eine im Nachlass überlieferte Skizze. 149 Der Text stellt eine Auseinandersetzung mit einer von Herder dezidiert angeprangerten elitären Gelehrtenphilosophie dar, wie vor allem aus Entwürfen hervorgeht, in denen er gängige Klischees notiert: [Philosophie] ist nicht fürs Volk […] hat es nicht nötig […] Logik ist nicht für das Volk […] zieht von Rührung ab […] [Das Volk] 1) hat es [Wissen] nicht nötig, zum Gehorchen, zum Befehlen,/ zum Raten/ glücklich in Unwissenheit - Irrtum u. Vorurteilen/ 2) ist schädlich, zieht vom Gehorchen ab, vom Handeln - von Ordnung - von der Hochachtung gegen Philosophie 150 Dem setzt Herder erste Ansätze eines Konzepts einer Popularphilosophie entgegen, die auf der Erkenntnis der menschlichen Natur beruht: „Erfahrung des Frauenzimmers: ist am meisten Volk […] Philosophie wird auf Anthropologie zurückgezogen/ nach den Gattungen des Volks modifiziert“. 151 In dem Traktat verweist er ebenfalls auf einen Aspekt, der sein weiteres Schaffen maßgeblich bestimmen wird, den Dualismus im Verhältnis von Mathe‐ matik und Philosophie: Selbst in einzelnen Männern hat ihr Geist nie zusammen bestehen können: in Spinosa [sic! ] und Cartesius ward die Philosophie ein Gewebe unglücklicher Hypothesen; Leibniz dichtete glücklicher; und Wolf - der große Sprecher seines Erfinders [Leibniz] III.2 Die Grundlegung von Herders Denkstil in seinen frühen Texten 109 152 Ebd., S.-106. 153 Gerhard Sauder: Herders neue Anthropologie: Identitätsbildung im Zuge der Verwirklichung von Humanität. In: Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.): Identitätskonzepte in der Literatur. Tübingen 2021 [Passagen, Bd.-6], S.-79-92, hier S.-84. 154 Baruch de Spinoza: Die Ethik. Übersetzt von Jakob Stern, revidiert von Michael Czelinsky- Uesbeck. Wiesbaden 2012 (E-Book), S. 20: „Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Wesen, d. h. die Substanz, die aus unendlichen Attributen besteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt.“ gab ihr die mathematische Schlachtordnung und Losungswörter, mit welchem Glück - Es weicht von meinem Zweck ab, hierüber zu urteilen: ich zeige bloß auf ein Thema, das vielleicht noch nicht beantwortet ist.- 152 Auf diesen Komplex hat Herder in seinen späteren Abhandlungen ausführlich re‐ kurriert, wobei er das hier anklingende Pauschalurteil über Spinoza stark relativiert hat. Spinozas Philosophie kann in mehrfacher Hinsicht als paradigmatischer Ori‐ entierungspunkt von Herders Denkstil und seiner Entwicklung markiert werden: „Sein Verständnis von Natur geht auf Spinoza zurück, den er in dieser Zeit [1770/ 71 u. Weimarer Zeit seit 1776] gemeinsam mit Goethe studiert hat[.]“ 153 III.3 „Deus sive Natura“ - Die Identität von Gott und Natur in Spinozas Ethik Herder hat sich mit Spinoza, vor allem dessen Schlüsselwerk Die Ethik (postum 1677 erschienen), in seinen Schriften immer wieder auseinandergesetzt. Basale Elemente von Spinozas Denkstil haben ihn in der Essenz seines Weltverständ‐ nisses und der Systematik seines Denkens so beeinflusst, dass sich sein gesamtes Schaffen trotz all seiner Diversität auf diese rekurrieren lässt. Diese Ideen können heuristisch als Paradigma und Referenzpunkt typologisiert werden. In der Schrift Gott von 1787 reflektiert Herder konkret in Form von Gesprächen Spinozas Modell. Dessen Denksystem hat durch Herder eine Diskussion und Modifikation erfahren, die paradigmatischen Einfluss auf Denken und Literatur seit Ende des 18.-Jahrhundert ausgeübt haben. Gott ist nach Spinoza die „Substanz“, 154 die Kraft, Ursache und Wirkung von allem. „Geist“ bzw. „Ideen“ und „Körper“ bzw. „Ausdehnung“ sind ihre Eigenschaften („Attribute“). Alle Erscheinungen der Welt, Lebewesen, Dinge sind „Modifikationen“ der „Substanz“, die über die Kategorien von Raum und Zeit hinweg ein absolut unendliches Dasein hat. Spinoza greift in seiner Terminologie zwar auf die von Descartes in den Diskurs seiner Zeit eingeführten und etablierten Begriffe zurück, doch definiert er diese Entitäten anders. Auch Descartes hat Gott 110 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels als „Substanz“ beschrieben, er ist für ihn jedoch ein selbstständig existierendes Subjekt. Spinozas Gottesbild, Gott als unendliche Wesenheit, die in allem ist, weicht explizit und radikal von Gottesbildern bei Descartes oder Leibniz ab. Auch letztere haben Modelle entwickelt, die tradierte religiöse und dogmatische Gottesbilder mit dem Kriterium der Vernunft hinterfragen, doch begreifen sie Gott als Schöpfer, ein in irgendeiner Weise intentional handelndes und denkendes, somit anthropomorphes Wesen. Sie situieren ihn extramundan, an einem Ort außerhalb unserer Welt. Spinozas Gott hingegen muss man sich als ein Wesen aller Dinge vorstellen, das somit in allem, in der gesamten Natur enthalten ist. Spinozas Begriff ist eine Abstraktion, deren Grundgedanke Hegels Entwurf vom Weltgeist und Marx’ Kategorien des historischen und dialektischen Ma‐ terialismus maßgeblich geprägt hat. Daraus wird schon ersichtlich, wie sehr Spinozas Vorstellungen von Gott als Denkstil, als Paradigma gewirkt haben. Er hat als erster nachhaltig eine Lehre konzeptualisiert und systematisiert, die dem eingreifenden und lenkenden Gott des Theismus konsequent einen Begriff von Gott als einer wirkenden Kraft gegenüberstellt. Spinoza lässt sich auch essentiell vom Deismus der Aufklärung abgrenzen, den Leibniz in seiner „Theodizee“ vertrat. Dieser allegorisiert mit dem „Uhrmacher“-Gleichnis einen Gott, der die Welt erschaffen hat, aber nicht mehr in deren Lauf eingreift. Spinozas Gott ist die Abstraktion eines letzten Grundes, einer unbedingten Notwendigkeit, der Essenz und des Wesens von allem. In diesem Verständnis entzieht sich Gott sowohl der empirischen Erfassbarkeit als auch der gedank‐ lichen Vorstellungskraft des Menschen, da dieser ihn mit seinen äußeren Sinnesorganen nicht erfassen, sich ihn nach den empirischen Kategorien von Raum und Zeit nicht vorstellen und auch nicht verstehen kann. Descartes unterschied systematisch zwischen Leib und Seele, lokalisierte deduktiv den Geist des Menschen in der Zirbeldrüse des Gehirns, die als Schnittstelle der beiden Kategorien fungierte. Sein organischer Ansatz ist eine auf einem Para‐ digma des naturwissenschaftlichen Empirismus fundierte Hypothese. Leibniz hat mit dem „Uhrmacher“-Gott ein transzendentes Wesen hypostasiert. Die Unvereinbarkeit von Spinozas Gottesbild mit anderen respektive der christli‐ chen wie der jüdischen Religion stellt ein einleuchtendes Beispiel dafür dar, was mit dem infolge von Thomas Kuhns Theorie heftig diskutierten Begriff inkommensurabel ausgedrückt werden soll. So verwundert es nicht, dass Spinoza neben dem Pauschalverdikt der Ketzerei sowohl Atheismus als auch Pantheismus vorgeworfen wurden. Gott ist bei ihm keine singuläre Entität, sondern in allem enthalten. Dadurch ist er auch kein transzendentes Phänomen. Je nachdem welche Vorstellung man von Gott hat, kann man schließen, dass, wenn alles Gott ist, Gott nicht ist. Doch Spinoza III.3 „Deus sive Natura“ - Die Identität von Gott und Natur in Spinozas Ethik 111 155 Ebd., S.-151. 156 Ebd., S.-76. 157 Ebd., S.-76f. folgert aus seinem Ansatz keine Sinnlosigkeit des menschlichen Handelns nach der Maxime, dass sowieso alles vorherbestimmt sei. Im Gegenteil, er leitet aus seinen Annahmen eine Lehre der menschlichen Affekte und eine dezidiert ausgeführte Ethik ab. Dabei macht er die Empfindung des Menschen von Gut und Schlecht zur obersten Maxime. Gott ist für Spinoza das Gute, das Schlechte beruht auf dem Unwissen des Menschen vom Wesen Gottes. Dadurch, dass man das Gute tut, kommt man dem Wesen Gottes immer näher. Spinoza stellt den Verstand über die Triebe. Die Teile der Ethik sind in Anlehnung an die Darstellungsweise von Euklids Geometrie in Definitionen, Axiome, Lehrsätze und Beweise gegliedert, was signalisiert, dass Spinoza seine Thesen logisch belegen möchte. Gelegentlich zieht er auch Vergleiche seiner Beweise zu geometrischen Formeln. Ein grundsätzliches Problem ist dabei, dass Spinozas Modell sich der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen entzieht. Er räumt selbst ein, dass der Mensch noch nicht in der Lage ist, wahrzunehmen und zu begreifen, dass Geist und Materie eins sind. Spinoza deduziert hypothetisch diese Einheit. Die Aufgabe der Wissenschaften sieht er darin, durch die Erforschung der Natur neue Erkenntnisse und Beweise diesbezüglich zu erlangen und damit Gott besser begreifen zu können. Indem Spinoza auf die subjektive Wahrnehmung des Menschen und ihre Begrenztheit verweist, zeigt sich ein wesentlicher Bezugspunkt zu den basalen Schriften dieser Studie von Fleck und Kuhn. Wie diese relativiert er den naturwissenschaftlichen Empirismus. Somit lassen sich vor allem wesentliche Ähnlichkeiten mit der von Fleck hervorgehobenen subjektiven „Entwicklung einer Tatsache“ konstatieren. Der Mensch kennt sich selbst nur durch die Erregung seines Körpers und die Ideen derselben. 155 Daraus folgt erstens, dass der menschliche Geist die Natur vieler Körper zugleich mit der Natur seines Körpers auffasst. […] Es folgt zweitens, dass die Ideen, die wir von äußeren Körpern haben, mehr die Verfassung unseres Körpers als die Natur der äußeren Körper anzeigt; […] 156 Wenn der menschliche Körper von einer Erregungsweise erregt ist, die die Natur eines äußerlichen Körpers in sich schließt, so wird der menschliche Geist diesen äußeren Körper als wirklich existierend oder als gegenwärtig betrachten, bis der Körper eine andere Erregung empfängt, die die Existenz dieses Körpers oder seine Gegenwart ausschließt. 157 112 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 158 Vgl. z. B. ebd., S. 54: „Aber während sie zu zeigen suchten, dass die Natur nichts vergebens (d. h., was für den Menschen keinen Nutzen hat) tue, haben sie, wie mir scheint, nichts anderes gezeigt, als dass die Natur samt den Göttern ebenso wahnwitzig sei wie die Menschen. Man sehe doch nur, wohin die Sache schließlich führte. Unter so vielem Nützlichen in der Natur mussten sie nicht wenig Schädliches bemerken, Stürme, Erdbeben, Krankheiten u.s.w.; und diese, behaupteten sie, seien deswegen da, weil die Götter erzürnt wären über die ihnen von den Menschen angetanen Kränkungen oder über die in ihrem Dienste begangenen Verfehlungen. Und obwohl die Erfahrung widersprach und durch unzählige Beispiele zeigte, dass den Frommen ebenso wie den Nichtfrommen bald Nützliches, bald Schädliches zuteil wird, gaben sie darum doch das eingewurzelte Vorurteil nicht auf. Denn es war ihnen leichter, dies unter anderes Unbekannte, dessen Nutzen sie nicht wussten, zu rechnen und so in ihrem wirklichen und angebornen Zustand der Unwissenheit zu verharren, als jenes ganze Gebäude einzureißen und ein neues auszudenken. Deshalb nahmen sie als gewiss an, dass die Absichten der Götter die menschliche Fassungskraft weit übersteigen; was sicherlich allein schon hätte verursachen können, dass die Wahrheit dem Menschengeschlecht in Ewigkeit verborgen geblieben wäre, wenn nicht die Mathematik, die sich nicht mit Zwecken, sondern nur mit dem Wesen und den Eigenschaften der Figuren beschäftigt, den Menschen eine andere Norm der Wahrheit gezeigt hätte. Neben der Mathematik können noch andere Ursachen gezeigt werden (deren Aufzählung hier überflüssig ist), Spinozas Entwurf fundiert auf diesen Grundgedanken. Er leitet seinen Gottesbe‐ griff aus einem als logisch angenommenen Denken ab, und setzt die tatsächliche Existenz der Substanz voraus. Diese entzieht sich aber dem menschlichen Fassungsvermögen, das auf die Kategorien Raum und Zeit begrenzt ist. Eine Schwierigkeit bei der Darstellung und Deutung von Spinozas Grundge‐ danken ist, dass man immer zwischen den Bezugsebenen differenzieren muss. Gott ist für Spinoza zwar vollkommen, doch auch das ‚Falsche‘ ist Bestandteil dieser Welt und somit auch Teil der Substanz. Das Falsche wie das Zufällige in der Welt respektive der menschlichen Wahrnehmung resultieren aus dem Unwissen des Menschen über Gottes Wesen. Je mehr der Mensch - durch eigene Wissensaneignung, Vernunft und Erkenntnisfortschritt - die Natur, also Gott, erkennt, desto mehr nähert er sich einem Idealwesen an und kann Falsches vermeiden. Spinoza geht in seiner Studie in diesem Kontext sehr detailliert auf Einzelphänomene ein. So setzt er sich mit der Frage nach den Ursachen von Naturkatastrophen und dem daraus resultierenden menschlichen Leid auseinander. Er argumentiert nicht fatalistisch, sondern legt dar, dass die Erforschung der Natur, das Wissen um die Substanz, praktisch helfen könne, solches zu vermeiden. Der Mensch seiner Zeit ist seiner Ansicht nach aber noch nicht so weit in seinem Wissen fortgeschritten, sondern verharre noch im naiven Glauben. Spinozas Gedanken lassen sich anhand der aktuellen Klimadiskussion anschaulich nachvollziehen. 158 III.3 „Deus sive Natura“ - Die Identität von Gott und Natur in Spinozas Ethik 113 die bewirkten, dass die Menschen auf diese gemeinen Vorurteile aufmerksam geworden sind und zur rechten Erkenntnis der Dinge geführt wurden.“ 159 Zur Kritik von Hirnforschern wie Wolf Singer und Gerhard Roth an Descartes’ Formel „Cogito ergo sum“ vgl. Durs Grünbein: René Descartes. Verteidigung des Erzverräters an der Natur. Spiegel Online 12. Juli 2008. https: / / www.spiegel.de/ wissenschaft/ mens ch/ rene-descartes-verteidigung-des-erzverraeters-an-der-natur-a-565130.html (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). Die moderne Neurobiologie untermauert ihre Positionen mit empirischen Befunden. Zu vielen Punkten lassen sich anhand von Flecks Darle‐ gungen zur Relativität einer Tatsache Gegenargumente formulieren. Inwieweit der Mensch nach diesem System determiniert ist und über keinen freien Willen verfügt, bleibt unklar. Auch hier betritt man einen Bereich, der dem menschlichen Begriffs- und Wahrnehmungsvermögen verschlossen ist. Dieser Diskurs weist signifikante Analogien zur gegenwärtigen Diskussion im Zusam‐ menhang mit den Neurowissenschaften auf. Protagonisten der Hirnforschung wie Wolf Singer und Gerhard Roth bezweifeln die Existenz des freien Willens. 159 Dieser wäre demnach eine Einbildung, vielleicht wäre die ganze Seele eine Illusion, da sie nur aus Reaktionen einer Molekülmasse bestehen würde. Denkt man diese Ansätze radikal zu Ende, so wäre die subjektive Existenzvorstellung letztlich eine reine Einbildung. Spinoza entwickelt aus seinen Gedanken keinen Nihilismus oder determinis‐ tischen Fatalismus, vielmehr versucht er in seiner Affektenlehre ein Programm zu formulieren, welches den Menschen in Sätzen anleiten soll, Gefühl und Vernunft auszugleichen. Das als gut Empfundene („adäquate Ideen“) definiert er als Übereinstimmung mit der Substanz, das Ungute („inadäquate Ideen“) als Abweichung. In seiner Ethik ist das als gut begriffene Handeln, das in wesentlichen Punkten auf den Maximen des Neuen Testaments aufbaut, eine Annäherung an Gott. Dabei spielt die Empfindung des Menschen, die sich im Affektengegensatz „Lust“ und „Unlust“ respektive Freude und Leid ausdrückt, eine wesentliche Rolle. Spinozas Modell impliziert weitere bemerkenswerte Anknüpfungspunkte zu den Modellen von Fleck und Kuhn. Die Idee von Gott in der Natur markiert eine ontologische Einheit von Geist und Natur, die in ihrem Wesen nur noch nicht erkannt ist. Mit dem Streben des Menschen nach der Erkenntnis der Substanz evoziert Spinozas Entwurf Vorstellungen vom wissenschaftlichen Fortschritt. Wenn er beim Menschen die Beharrung auf bestimmten Positionen zu einem natürlichen Affekt erklärt, so weist dies mit der in Kuhns Modell prononcierten irrationalen Beharrung von Wissenschaftlern auf einem Paradigma trotz empi‐ risch begründeter Einwände Ähnlichkeiten auf. 114 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 160 Herder: Werke in zehn Bänden. Band 5: Schriften zum Alten Testament. Hrsg. von Rudolf Smend. Frankfurt am Main 1993, S.-423. Kursivierung im Original. 161 Vgl. Reinhart Koselleck: Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichte [1972]: In: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt am Main 2000, S. 298-316, hier S. 302: „Eine Hypothese für unser Lexikon geschichtlicher Grundbegriffe besteht darin, daß III.4 Herders Rezeption und Modifikation von Spinozas Lehre als philosophisches und literarisches Paradigma Da sich Herders gedankliche Komplexität nicht vollkommen erfassen und systematisieren lässt, wird hier seine paradigmatische Wirkung fokussiert auf eine von Spinoza ausgehende Denklinie exemplifiziert. Vieles im Denken Herders, substantielle Elemente seiner Schriften gehen auf die Philosophie Spinozas zurück. Dessen Hauptwerk Ethik lässt sich heuristisch als Denkstil und Paradigma konzeptualisieren. Der normative Gestus dieser Abhandlung und ihr klar strukturierter Aufbau in Definitionen, Beweisen und Lehrsätzen ermöglicht es, wesentliche Teile seines Systems als Paradigmen idealtypisch abzuleiten. Zahlreiche Denkmuster Spinozas finden sich in Kernideen Herders wieder. In der grundsätzlichen Ablehnung eines dogmatisch-orthodoxen Trans‐ zendenzverständnisses und tradierten christlichen Gottesbildes rekurriert er explizit auf Spinoza: so will ich lieber mit Moses, Hiob, Pythagoras, Plato und Gott selbst in seinem Worte, weil er nicht methodo mathematica demonstriert, lieber Atheist, Pantheist, und der Erste Spinoza ante Spinozam sein, als mit Warburton, Gundling und - die orthodoxesten Metaphysiker des Jahrhunderts! 160 In Herders Denken lassen sich signifikante strukturelle Ähnlichkeiten zu Spi‐ noza aufzeigen. Er übernimmt basale Elemente von dessen Denkparadigma, formuliert sie neu, und entwickelt daraus mit eigenen Gedanken typologische Elemente eines Denkstils, der in seinen Grundzügen wiederum paradigmatische Wirkung entfaltet. Eine Gedankenlinie lässt sich von Spinoza über Herder wei‐ terführen zu anderen. Es ist bemerkenswert, dass auf Spinozas Ideen essentielle Denkfiguren basieren, die in Strömungen wie der Aufklärung und der Romantik wirksam waren. Die Lebens- und Schaffenszeit Herders ist geprägt von einer Phase der fun‐ damentalen Umbrüche und Paradigmenwechsel, rückblickend charakterisieren zahlreiche Historiker diese Zeit als Wendezeit. Reinhart Koselleck sprach von der „Sattelzeit“ zwischen früher Neuzeit und Moderne, die sich etwa von 1750 bis 1850 erstreckte und in deren Zentrum die Französische Revolution stand. 161 Hans Blumenberg prägte theoretisch für solche Phasen den Begriff der III.4 Herders Rezeption und Modifikation von Spinozas Lehre 115 sich die politisch-soziale Sprache seit dem 18. Jahrhundert auch bei durchgängigem Gebrauch derselben Worte insoweit geändert hat, daß seitdem eine ‚neue Zeit‘ ar‐ tikuliert wurde. Veränderungs- und Beschleunigungskoeffizienten verwandeln alte Bedeutungsfelder und damit die politische und soziale Erfahrung. Frühere Sinngehalte der heute noch üblichen Topologie müssen mit der historischen Methode erfaßt und in unsere Sprache übersetzt werden. Ein solches Verfahren setzt einen theoretisch geklärten Bezugsrahmen voraus, innerhalb dessen allein solche Übersetzungen sinn‐ fällig werden. Ich spreche also von der im Arbeitskreis so genannten ‚Sattelzeit‘, deren heuristischen Charakter ich nicht nachhaltig genug betonen kann und die den Wandel vom vorneuzeitlichen zu unserem Sprachgebrauch thematisiert.“ 162 Vgl. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit 1996, S. 532: „Daß irgendwann von einem Hier und Heute eine ‚neue Epoche‘ der Weltgeschichte ausgehen und man dabei ge‐ wesen sein könnte - wie es Goethe am Abend der Kanonade von Valmy die enttäuschten Kombattanten glauben machen wollte - ist als historischer Sachverhalt nirgendwo sicherzustellen. […] Als ‚Epoche‘ gilt erst für uns, was die rhetorische Hyperbel vom Epochemachenden aufgebracht hat. […] Die Zweifel von Philologen und Historikern, ob denn der im Jahre 1820 die ‚Kampagne in Frankreich 1792‘ vergegenwärtigende Goethe sich historisch genug nimmt, um einen faktischen Ausspruch berichten zu wollen, oder ob er mit dichterischer Freiheit auf den Abend des verlorenen Gefechts projiziert, was er über die Revolution und ihre Folgen inzwischen erfahren und gedacht hatte - schon diese Zweifel lassen erkennen, daß mit dem Ausdruck ‚Epoche‘ sich seither ein kaum überbietbarer Zuwachs an Bedeutung verbunden hat. Eine ‚neue Epoche‘ - fast möchte man fragen: Wieviel war das? Wieviel weniger im Jahre 1792 oder auch noch 1820 als nach der Aufschwellung des Begriffs durch den Historismus aus seinem Bedürfnis, sich mit den großen Phrasierungen des Geschichtsverlaufs historische Individualitäten zu schaffen? “ 163 Herder: Werke in zehn Bänden. Band-4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt am Main 1994, Kommentar, S.-797. „Epochenschwelle“, wies aber ausdrücklich auf den ex post-Charakter und die zeitperspektivische Relativität der Kategorie Epoche hin. 162 Herder wird gemäß der Vorstellung eines künstlerischen Zweischritts von Entwicklung und Vollendung eines Epochenstils eher als stiller Vorbereiter angesehen, der zwar manches antizipierte und erdachte, aber mit seinem eigenen Werk allenfalls sekundäre Bedeutung entfaltet. Wer von ihm als dem ‚Theoretiker des Sturm und Drang‘ oder ‚Wegbereiter der Klassik und Romantik‘ spricht, zeigt ja an, daß er ihn nicht als Gegenstand eines eigenen Interesses nimmt, sondern als Funktion eines andern, erst eigentlich Substantiellen. 163 Diese Aussage ist zwar plausibel, doch zu relativieren, indem man sich von einem statischen Epochenbegriff distanziert und die drei genannten Stilrich‐ tungen nicht zu komplementären einheitlichen Denkstilen hypostasiert. Denn Herder kann und muss substanziell in exakt dieser Funktion des Theoretikers und Wegbereiters als maßgeblicher Denker gesehen werden: Seine Schriften 116 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 164 Birgit Sandkaulen: „Der Himmel im Verstande“ Spinoza und die Konsequenz des Denkens. In: Zeitschrift für Ideengeschichte Heft V/ 1 Frühjahr 2011: Spinoza. Hrsg. von Jonas Maatsch & Ulrich Johannes Schneider, S.-15-28, hier S.-15. 165 Birgit Sandkaulen: Die Debatte um Spinoza und ihre Folgen für die Herder-Rezeption der nachkantischen Philosophie. In: Herder Handbuch 2016, S. 678-686, hier S. 679. Kursivierung im Original. thematisierten Wertewandel und Fortschritt in diskursiver Weise und setzten sie in wirkende poetische Konzepte und Paradigmen um. Seine Reflexionen über das Denken der Aufklärung und die Religion haben zu einem Paradig‐ menwechsel beigetragen, der in der deutschen Literatur nachhaltige Wirkung gezeitigt hat. Eine besondere Rolle nimmt dabei Spinozas Konzept ein. Spinoza repräsen‐ tiert als früher Aufklärer des 17. Jahrhunderts ebenfalls eine Phase des Epochen‐ wechsels, den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit, von der Spätscholastik zur Aufklärung. Sein Denken speziell hatte zu seiner Zeit keinen übermäßigen Einfluss, doch wird es während Herders Wirkungszeit, der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem in seinen basalen Grundstrukturen wirksamen Denkstil: Danach ist nichts mehr wie zuvor. Nicht Kants Vernunftkritik allein, sondern die Schriften Kants und die Publikation Jacobis mit dem Titel Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, die 1789 in einer um wesentliche Beilagen erweiterten zweiten Auflage erscheint, leiten eine neue Epoche ein - eine Epoche, in der Spinoza mit einem phänomenalen Umschwung der Wahrnehmung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. 164 Signifikant für den Aufbruch der nachkantischen Philosophie ist ja vielmehr, dass sie sich im Unterschied zu Kant, aber ebenso wie Herder, an Spinoza als maßgeblicher Bezugsfigur orientiert. 165 Herder spielt bei diesem Paradigmenwechsel eine bedeutende Rolle. Dabei ist zu beachten, dass er Spinozas Lehre nicht deskriptiv, affirmativ und didaktisch weiterverbreitet hat, sondern diese vielmehr kritisch hinterfragt, mit seinen eigenen Gedanken angereichert und im Kontext seiner Gegenwart modifiziert hat. Er hat das Modell kontrovers diskutiert und korrigiert, indem er versucht hat, das zeitübergreifend Gültige vom temporär Bedingten zu destillieren. Daraus lässt sich ein Prozess von Rezeption und Modifikation skizzieren, der mit der Übernahme bestimmter Elemente von Spinozas Lehre durch Herder initiiert wird. Einige Textstellen geben Einblicke in den strukturellen Vorgang, wie ein übernommener Denkstil affiziert und mit individuellen Gedanken zu einem neuen verschmolzen wird. Da Herder den literarischen Bereich nie III.4 Herders Rezeption und Modifikation von Spinozas Lehre 117 166 Die erste Fassung erschien 1787, die zweite 1800. Der edierte Text in Herder: Schriften 1774-1787 1994, S.-679‒794 folgt der Fassung von 1787. 167 Herder: Schriften 1774-1787 1994, S.-681. 168 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard- Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg 2000, S. 11-18. Vgl. auch Detlev Pätzold: II. Die Vernunft und das Absolute. In: Handbuch Deutscher Idealismus. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. Stuttgart / Weimar 2005, S. 22-54, hier S. 25-27: In dem Unterkapitel 1.2 Jacobi als Katalysator legt Pätzold knapp und schlüssig dar, wie Jacobis Schrift trotz dessen grundsätzlicher Ablehnung der Lehre Spinozas in wesentlichen Punkten Auslöser dafür war, dass wesentliche strukturelle Elemente von Spinozas Denken in den Diskurs einflossen und Grundlage wesentlicher Modelle des deutschen Idealismus werden konnten. Herder geht in Gott an einigen Stellen auf Jacobi bzw. Lessing ein, z. B. Herder: Schriften 1774-1787 1994, S. 747: „[Theophron: ] Dem Verstorbnen [Lessing] kann es nicht schaden, wofür ihn der schwache Sektenmacher halte und uns ists angenehm zu sehen, daß einem so ausgezeichneten Denker, wie Leßing war, auch Spinoza nicht unbemerkt geblieben sei; […] Zweitens kann ichs [Philolaus] eben so wenig bergen, daß Jacobi mit dem Begriff nicht übereinstimmt, den ich jetzt von Spinoza’s System habe und in welchem Wir beide [Theophron und Philolaus] uns doch Punkt für Punkt verstanden.“ (Kursivierung im Original) isoliert gesehen hat, sondern ihn immer in sein gesamtes philosophisches Denken miteinbezogen hat, eröffnet sein Werk einen Einblick in die Schnittstelle zwischen Weltanschauung und Literatur. Die starke Wirkung von Spinozas Naturlehre auf die Literatur ist durch Herder mitbeeinflusst, zugleich lässt sie sich aus seinen Reflexionen erklären. Herders Abhandlung zu Spinoza Gott. Einige Gespräche aus dem Jahr 1787 166 ist zwar eine Reaktion auf Jacobis 1785 erstmals erschienene Spinozaschrift und die auf sie folgende öffentliche Diskussion, doch stellt der Text eine originäre Darlegung von und eine Auseinandersetzung mit Spinoza dar. Herder schreibt im Vorwort, dass er bereits seit „[z]ehn oder zwölf Jahre[n]“ den Gedanken einer Schrift Spinoza, Shaftesburi, Leibnitz mit sich trage, doch „Neue Zeitumstände führten mich unvermerkt zu folgenden Gesprächen“, die nun Spinoza allein ins Zentrum stellen. 167 Die Debatte in der Folge von Jacobis Buch erregte öffentliche Aufmerksamkeit, weil dieses insinuierte, der 1781 verstorbene Lessing sei ein Spinozist gewesen. Dies führte zu einem öffentlichen Skandal, denn Spinoza galt aufgrund seines Gottesbildes mehr oder weniger als Atheist. Dem Andenken Lessings gegenüber wurden die Behauptungen als Vorwurf und Diffamierung gedeutet. Aber diese Diskussion brachte Spinoza ins öffentliche Gespräch und initiierte erst jene intensive sachliche Auseinandersetzung mit seinen Thesen, die eine große Wirkung entfaltete. 168 In der Vorrede formuliert Herder seine grundsätzliche undogmatische Heran‐ gehensweise, woraus er auch die Gestaltung des Essays als Gespräch begründet: 118 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 169 Herder: Schriften 1774-1787 1994, S.-681. 170 Ebd. 171 Ebd., S.-682. 172 Ebd., S.-687. Niemand indes nehme meine Schrift so auf, als ob ich irgendeiner gangbaren Philoso‐ phie vor- oder zwischentreten, sie verdrängen, Parteien herausfodern oder zwischen Parteien ein unberufener Schiedsrichter werden sollte. 169 Die Schrift ergreift keine Partei für oder gegen Spinoza, wobei auch persönliche Wertvorstellungen und Prinzipien ins Gewicht fallen, „denn über Gott werde ich nie streiten.“ 170 Herder gestaltet das sensible Thema in Form von fünf Gesprächen, die ersten vier sind Dialoge zwischen zwei Männern, im fünften tritt eine Frau hinzu. Die Unterhaltung setzt ein, indem die Figur Philolaus die gängigen negativen Urteile über Spinoza wiedergibt. Auf die Frage seines Gegenübers Theophron, ob er denn den Spinoza gelesen habe, verneint er: „wer sollte auch jedes dunkle Buch eines Unsinnigen lesen? “ 171 Doch der skeptische Philolaus lässt sich von Theophron argumentativ überzeugen, die Ethik zu lesen und revidiert seine Pauschalurteile. Es entwickeln sich angeregte, gegenseitig bereichernde Unterhaltungen, die Spinozas Thesen sachlich und vorurteilsfrei erörtern und diskutieren. Im letzten Gespräch kommt mit Theano eine Frau hinzu, die Herders Bild vom Weiblichen entsprechend das Gefühl, das Sinnliche, das Musische repräsentiert und Spinozas Philosophie aus dieser Perspektive reflektiert. Auch wenn Herder kein offenes Bekenntnis abgibt, was auch seiner grund‐ legenden undogmatischen Haltung widerspräche, werden seine Sympathien für Spinoza deutlich. „Ich [Theophron] bin kein Spinozist, und werde nie einer werden; die Art aber, mit der man über diesen verlebten stillen Weisen die Urteile des vorigen Jahrhunderts, des jämmerlichsten Streitjahrhunderts noch zu unsrer Zeit wiederholen will, […], ist mir unerträglich.“ 172 Es ist sinnfällig, dass Herder in den Gesprächen den Denkprozess von seiner eigenen anfänglichen Skepsis bis zu deren Revision rekonstruiert. Die Affinitäten zwischen Herder und Spinoza lassen sich auf mehreren Ebenen systematisieren. Der Herder-Text belegt, dass beide strukturell ähnliche Denker sind. Zunächst bringt Herder der Person und dem Charakter Spinozas höchsten Respekt entgegen. Er hebt dessen Bescheidenheit und Toleranz hervor und stellt ausdrücklich heraus, dass Spinoza seine Thesen nicht mit dem Anspruch auf kategorische Richtigkeit und dem Impetus, als Person ein religiöser Führer oder Revolutionär zu sein, verfasst hat: „[E]r hatte sie, wie der Augenschein zeigt, für III.4 Herders Rezeption und Modifikation von Spinozas Lehre 119 173 Ebd., S.-691. 174 Ebd. 175 Ebd., S.-709. sich selbst geschrieben: denn es sind meistens Fragmente.“ 173 So evoziert Herder, dass Spinoza selbst mit seiner Herangehensweise konvenieren würde, denn Spinozas Lehre wird von ihm nicht als Dogma, sondern als bereicherndes und plausibles Denkschema und Erklärungsmodell in seiner Kohärenz dargestellt: Von seinen Schriften und Meinungen weiß ich [Philolaus] freilich noch nicht, was ich zu halten habe; selbst aber die hier angeführten, irrigen und wahrscheinlich-ärgsten Stellen tragen bei aller Paradoxie das Siegel der Überzeugung Dessen an sich, der diese Meinungen hegte. Er will sie Keinem aufdringen, er will keine Sekte stiften, und das nicht aus Menschenfurcht, sondern aus Scheu, die Meinungen andrer Menschen auch nach seinem Tode zu stören. Während seines Lebens hat er nichts herausgegeben als einen kleinen Traktat [Tractatus theologico-politicus, 1670, anonym], mit welchem er Ruhe zu stiften gedachte; als diese Bemühung fehlschlug, wohnt er mit seiner Philosophie allein und verbrennt wenige Tage vor seinem Tode noch eine angefangene Übersetzung des alten Testaments, damit sie auch nach seinem Tode keinen Unfrieden stiften möchte. Ich wollte, daß er sie nicht verbrannt hätte; denn hatte sie keinen Wert in sich, so hätte sie die Zeit doch vertilget. 174 Herder stellt Spinozas Rolle als Vermittler heraus, der versucht hat, in der von Descartes zentral formulierten Frage der Dualität von Geist und Materie einen Kompromiss zwischen einem kategorischen Monismus und einem Dualismus zu formulieren. Auch wenn die Substanz als Ursache eine monistische Weltan‐ schauung impliziert, dient sie als Abstraktion einer Einheit dazu, zwischen verschiedenen Meinungen zu vermitteln: „[Theophron] Wissen Sie jetzt, wie der Mittelbegriff zwischen Geist und Materie heißt, den Spinoza, um dem carte‐ sischen Dualismus zu entweichen, vergebens suchte? / Philolaus: Substanzielle Kräfte.“ 175 Im Verhältnis Herder - Spinoza lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten auf‐ zeigen, die die Geschichtlichkeit des Denkens anschaulich machen. In der Essenz sind beide wesensverwandte Denker und Temperamente, zugleich zeigt sich in Denkstilen und paradigmatischen Mustern, wie sie auf eine gewisse Weise auch in ihrer Zeit verhaftet sind. Herder bringt dies zum Ausdruck, wenn er sowohl Spinoza als auch Leibniz aus den Einflüssen ihrer Zeit interpretiert. Spinoza unterliegt laut Herder dem Paradox, sich an einem von Descartes geprägten Paradigma zu orientieren, auch wenn er in grundsätzlichen Punkten gegen Descartes argumentiert. Herder meint konkret, dass Spinoza trotz des monadischen Ansatzes noch zu sehr den wohl von den Menschen aufgrund 120 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 176 Ebd., S.-715f. ihrer Wahrnehmungskraft dominant affizierten Dualismus zwischen Geist und Körper akzentuiert. Leibniz, der im Gegensatz zu Descartes zwar später monadisch denkt, ist Herders Ansicht nach zu sehr in anthropopathischen Gleichnissen und den Dogmen seiner Zeit verhaftet, als dass er deutlich die Trennung des Göttlichen vom menschlich Weltlichen herausstellt. Herder legt strukturell dar, wie Leibniz vom Denkstil Descartes’ geprägt ist: Theophron: Und eben diese Nähe des Cartesianismus, m. Fr., hinderte ihn am Gebrauch seiner bessern Erklärung: denn das ist das Schicksal auch des fruchtbarsten menschlichen Geistes, daß er mit Ort und Zeit umfangen, in gewissen Ideen gleichsam aufwächst und sich nachher nur mit Mühe von ihnen zu trennen vermag. Leibnitz lebte die blühendste Zeit seines philosophischen Lebens den Gedanken nach mehr in Frankreich als in Deutschland. […] Weil nun in Frankreich Des-Cartes und Malebranche, sie mochten angenommen oder bestritten werden, im meisten Ruf standen: so ward seine Bemühung auch vorzüglich auf dieses Feld der Ehre bezogen. Er bildete also seine Hypothese der prästabilierten Harmonie mit einer Geschicklichkeit aus, daß sie als neu erscheinen und die Gelegenheit-Ursachen des Cartesius, so wie den unmittelbaren göttlichen Einfluß des Malebranche allerdings entbehrlich machen konnte, ob sie gleich auf die mangelhaften Grundsätze des ersten Philosophen selbst gebauet war. Leibnitz sprach so gern nach der Fassungskraft Andrer und so erfand er auch seine sinnreichsten Hypothesen. Als er späterhin durch die Lehre der Monadologie der Metaphysik über Körper einen ganz andren Weg anwies, ließ er jene Hypothese, die einmal in Ruf gekommen war und zum Ruhm seines Namens viel beigetragen hatte, an ihrem Ort stehen, weil sie sich auch neben dieser neuen Hypothese gewissermaße noch immer verteidigen konnte. Blieb es gleich keine prästabilierte Harmonie zwischen Geist und Körper, sondern eine Harmonie zwischen Kräften und Kräften; Harmonie blieb es doch immer: denn wer konnte, wer kann es erklären, wie Kraft auf Kraft wirket? 176 Herder beschreibt hier kritisch, wie Leibniz eine Idee „neu erscheinen“ lässt, damit zeigt er indirekt, wie dieser auf einem Denkparadigma aufbaut und es zu einem eigenen Gedanken modifiziert. Herders konsequente Betonung der Nuancen zwischen originärem Denken und des Einflusses von Denkstilen und Paradigmen der jeweiligen historischen Gegenwart tritt in dieser Argumenta‐ tion evident hervor. Bemerkenswert ist seine Spinoza-Betrachtung im Hinblick auf die Literatur. In der Diskussion über Spinoza zeigen sich konstituierende Merkmale von Her‐ ders grundsätzlichem Literaturbegriff. Er lässt in seine Abhandlung literarische III.4 Herders Rezeption und Modifikation von Spinozas Lehre 121 177 Ebd., S. 761f.: „Merken Sie, wie unser Haller alle Kräfte seiner Phantasie aufbietet, das Endlose zu schildern; er kanns nicht. […] Lassen Sie uns also von einem philosophi‐ schen Dichter lernen, auf metaphysische Phantasmen und leere Anschauungen eines Endlosen Raums, einer Endlosen Zeit, geschweige auf das unteilbare ewige Dasein in Bildern Verzicht zu tun.“ (Kursivierung im Original) 178 Ebd., S. 758: „In seiner ganzen Ethik finden Sie kein Bild und seine wenigen Gleichnisse sind ihm fast mißraten.“ Texte von anderen und sich selbst einfließen und setzt sie in Bezug zu den Aussagen von und über Spinoza. Schon der Grundaufbau als Gespräch mit verteilten Rollen impliziert eine literarische Gestaltung. Die fiktiven Figuren nehmen charakteristische Rollen wahr und der Text ist in einen literarischen Rahmen gebettet. Herder will seine Person jedoch nicht hinter den Figuren ver‐ stecken, die beiden Männer bilden eine analytische Figur seiner selbst, indem er seine eigene Spinoza-Rezeption und seine Gedanken dazu einbringt. Insgesamt entwirft Herder nicht vordergründig, sondern eher unbewusst, Konzeptionen für eine von Spinozas Grundhaltung beeinflusste Literatur. Es ist die Besonderheit von Herders Text gegenüber den originär philosophi‐ schen Reaktionen seiner und der folgenden Zeit auf Spinoza von Kant, Fichte oder Hegel, dass er den literarischen Sektor mit einbezieht. Die Gespräche geben Zeugnis von einer systematisch durchdachten Auffassung Herders zur Funktion der Literatur. Sein analytischer Dualismus zwischen reiner Empfindung und zeitbedingter Kunstauffassung tritt hervor. Für ihn dient Literatur als Kreation von Bildern dazu, philosophische Sachverhalte zu verdeutlichen und einem breiteren Publikum verständlich zu vermitteln. Dabei trennt er strikt zwischen tatsächlich gemeinten Anthropomorphisierungen Gottes, die er ablehnt, und etwa dem exemplarischen Gehalt biblischer Geschichten. In diesem Punkt fällt die Analogie zu Spinoza auf, der sich wie Herder intensiv mit dem Alten Testament beschäftigt hat. Herder zeigt die Grenzen der Literatur in seinem eigenen Verständnis auf, wenn er über die Deutung von Spinoza versucht, darzulegen, dass Unendlichkeit eine für den Menschen nicht begreifbare Größe ist. An einem Gedicht von Albrecht von Haller über die Unendlichkeit will er demonstrieren, dass der Mensch nicht in der Lage ist, das, was er nicht wahrnehmen und intersubjektiv begreifen kann, adäquat darzustellen. 177 Als Charakteristikum von Spinoza macht er aus, dass dieser selbst kaum bildhafte Bezüge entwickle und die wenigen nicht gelungen seien. 178 Besonders im Schlusskapitel fordert er über Theano eine bildhafte Erklärung, indirekt kritisiert er Kants nüchterne Darstellungsweise und Hypostasierung der Ver‐ nunft. In Spinozas Verständnis der Durchdringung von Gott und Natur sieht er 122 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 179 Vgl. Pätzold: Die Vernunft und das Absolute 2005, S. 27; Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Johann Gottfried Herder in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Ham‐ burg 1970 [rowohlts monographien], S.-107. 180 S. exemplarisch Herder: Briefe 1763-1771 1977. In Herders Briefen aus der Straßburger Zeit 1770/ 71 wechseln schwärmerische Ausführungen zu Volksliedern, Ossian, Fried‐ rich Klopstock, Wilhelm Gleim oder Shakespeare mit wütenden Tiraden auf das geistige Klima in der Stadt Straßburg. Vgl. Hermann Gätje: „Lumpenloch“ und „zweite Vaterstadt“. Straßburg als Lebensort und Inspiration bei Johann Gottfried Herder und Georg Büchner. In: Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Das geistige Straßburg im 18. und 19.-Jahrhundert. Tübingen 2020 [Passagen, Bd.-5], S.-67‒80, hier S.-67‒72. jedoch ein mit seinem Begriff von Welt und Poesie kommensurables Konzept. Wenn Herder in Volksliedern eine den Kern eines Volkes widerspiegelnde, der Natur nahe Dichtkunst ausmacht, so lässt sich dies als Zusammenwirken einer universellen Substanz ‚Poesie‘ vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Herkunft und Zeit deuten. Herder argumentiert, dass die aus der tiefen Vergangenheit überlieferten Volkslieder dieser angenommenen Natur näher seien, weil Kultur und Zivilisation überschaubarer waren und weniger Einfluss ausübten. Den Lauf der Geschichte, die Herkunft der Sprache, die Geschichte der Literatur, alle diese Bereiche ordnet er in ein Prinzip ein. Das Streben nach diesem Substantiellen, ob es nun ein tatsächlicher Gott oder eine Illusion ist, ist für diesen Prozess in psychologischer Hinsicht gleich, es bildet den Kern seiner dichterischen Arbeit. Er prononciert Dichtung als den Versuch, eine solche Übereinstimmung zu finden. Dabei haben wie bei Spinoza Gefühle einen hohen Stellenwert: Das Richtige, die Übereinstimmung mit der Natur respektive Substanz evoziert ein gutes Gefühl. III.5 Aspekte eines denkstilorientierten Zugangs zu Herders Werk Auch wenn Herders Spinoza-Abhandlung übereinstimmend als repräsentativer Text für seine Weltanschauung und sein Denken charakterisiert wird, 179 fällt es angesichts der zahlreichen Schriftzeugnisse, die von ihm überliefert sind, schwer, eindeutige Aussagen über seine Positionen zu machen. Man darf nicht außer Acht lassen, dass seine Ausführungen häufig von seinen wechselhaften Stimmungen beeinflusst sind. Vor allem in seinen Briefen treten Schwankungen zwischen leidenschaftlicher Begeisterung und deprimierter Niedergeschlagen‐ heit deutlich hervor. 180 Der Dualismus zwischen Sachlichkeit und Leidenschaft wird in Passagen sichtbar, in denen er argumentativ stichhaltige Ausführungen kontraproduktiv mit Polemik versetzt, insbesondere in der Metakritik (1799), III.5 Aspekte eines denkstilorientierten Zugangs zu Herders Werk 123 181 Kantzenbach: Herder 1970, S.-107. 182 Ebd. seiner groß angelegten Auseinandersetzung mit Kants Vernunft- und Transzen‐ denzbegriff. Herders Schriften sind oft breit und diffizil in ihrer Darstellung wie in ihrer Dialektik, gehen tief in Details und vermeiden eigene kategorische Sätze, stellen vielmehr solche von anderen infrage. Bei aller Sympathie, die er Spinoza entge‐ genbringt, kann man allein aufgrund seines in Gott signifikant hervortretenden grundsätzlichen Denkstils nicht sagen, dass er ein ‚Spinozist‘ sei. Kantzenbach sieht den Spinoza-Text als Scheitelpunkt einer Entwicklung Herders, die auch im Zusammenhang mit einer persönlichen Vereinsamung und zunehmenden Isolierung in Weimar gegen Ende der 1780er Jahre gesehen werden muss: Der wesentliche Unterschied zwischen Herder und Spinoza tritt deutlich hervor, Herder ersetzt die Substanz durch die Kraft aller Kräfte, das mechanische Weltbild. Aber in dieser Schrift, die kunstvoll in Gesprächsform gestaltet ist, nähert sich Herder bei aller Umdeutung der Gedanken Spinozas doch von Ferne dessen Seinsbegriff. Der vitalistisch-dynamischen Umfärbung Spinozas, dem Wissen um das polare Zuei‐ nandergehören des Gegensätzlichen in der Welt, kommt ein gewisser monistischer Grundzug in die Quere. Der späte Herder, der das Prinzip der Coincidentia opposi‐ torum nicht mehr hamannisch [ Johann Georg Hamann] versteht, kündigt sich an. 181 Dennoch handelt es sich hier nicht um einen grundsätzlichen Paradigmen‐ wechsel in Herders Denken, vielmehr kann man angelehnt an Ludwik Fleck von ‚Mutationen‘ eines Denkstils sprechen. Herders Spinoza-Text ist daher doppelperspektivisch von Interesse, denn er beinhaltet auch eine Modifikation von Spinozas Denken. Dabei treten einerseits individuelle Charakteristika von Herder zutage und andererseits allgemeine paradigmatische Strukturen der Spinoza-Deutung jener Zeit: „[S]ein Spinoza-Büchlein zeigt vielmehr die für die ganze Zeit bezeichnende Teilerfassung und Umdeutung Spinozas.“ 182 Da Herder selbst der Relativität von Denken und Literatur in ihrer jeweiligen Zeit eine besondere Bedeutung zugemessen hat, überträgt sich dieser Aspekt in einer reflexiven Weise auf den Versuch, seine heutige Bedeutung zu erfassen. Sein undurchdringliches Werk macht es schwierig, summarische Aussagen über sein Denken zu treffen. Ein systematischer Ansatz bietet sich darin, anhand von einzelnen Aussagen heuristisch zu versuchen, konstituierende Elemente seiner Denkweise typologisch zu umreißen und Ansätze zu einem idealtypischen Modell eines strukturellen Paradigmas zu entwerfen. Dies bleibt unter einem gewissen Vorbehalt, denn auch hierbei lässt sich eine Reflexivität zu Herder 124 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 183 Pätzold: Die Vernunft und das Absolute 2005, S. 27: „Auch Herder war sicherlich ein Wegbereiter für die Herausbildung des spekulativen Idealismus, wobei seine Abneigung gegenüber Kants kritischem Idealismus allerdings nicht die ausschlaggebende Rolle gespielt hat. […] Entscheidender waren seine Beiträge zur Geschichtsphilosophie und Anthropologie […], sowie der kräftige Impuls, den sein Buch Gott. Einige Gespräche […] zur Spinozarenaissance geben hat.“ 184 Ebd., S.-27f. Kursivierung im Original. selbst finden, weil seine Darstellungs- und Argumentationsweise davon geprägt ist, dass er der Subjektivität und der daraus resultierenden Diversität einen breiten Raum gelassen hat. Doch lassen sich Strukturen eines Referenzrahmens entwickeln, die es ermöglichen, sein Denken in einer systematischen Weise auch in seiner Ambiguität zu verorten. Folgt man Herders Maximen, muss man die Deutung seines Werks immer aus der persönlichen und historischen Perspektive des Interpreten relativieren. Die Einordnung Herders als „ein[es] Wegbereiter[s] des spekulativen Idea‐ lismus“ 183 sieht ihn in einer sekundären Rolle als Impulsgeber. Indirekt wird damit sein Denken als unpräzise und unvollendet markiert: Herders philosophische Bemühungen muß man trotz aller Verdienste als eine roman‐ tisierende Darstellung der traditionellen philosophischen Metaphysik bezeichnen, weil er bei seinem Versuch, Natur und Geist mittels der Immanenz des göttlichen Absoluten in ihrer Einheit zu denken, weder den Naturbegriff noch den Geistbegriff einer weiteren Klärung zuführte noch seine Beschreibung physischer und psychischer Kräfte empirisch weiter unterbaute. Dies gehört bei Herder jedoch zu seinem letztlich noch primär theologisch motivierten Programm, d. h. es ist die Konsequenz seiner Auffassung über die Vernunft und das göttliche Absolute. 184 Vor diesem Hintergrund sollte zunächst bedacht werden, dass der Idealismus als Denkstil und Epoche ein sehr inhomogenes Feld darstellt. Er wird mit den Namen Kant, Fichte, Schelling und Hegel verknüpft, deren Theorien auf das praktische Handeln beziehbare Sätze entwickelt haben. In dem Zitat kommt indirekt zum Ausdruck, dass Herders Denkweise strukturell anders ist. Daraus folgt, dass er mit den Genannten kaum vergleichbar und damit inkommensu‐ rabel ist. Er lässt sich vielmehr als Generalist charakterisieren, während diese als Spezialisten im Hinblick auf die Philosophie gelten können. Diese Unterschei‐ dung ist nicht statisch zu verstehen, sondern als typologische Charakterisierung eines grundsätzlichen Ansatzes. Herder hat in diesem Sinne eher versucht, die Relationen der Dinge untereinander zu beschreiben, als das Eigentliche, Natur und Geist, zu definieren. Daraus erklärt sich die Affinität zu Spinoza, dessen Substanzbegriff eine induktiv-empirische Erfassbarkeit ausschließt und keine III.5 Aspekte eines denkstilorientierten Zugangs zu Herders Werk 125 185 Herder: Frühe Schriften 1764‒1772 1985, S.-19. 186 Ebd., Kommentar, S.-816‒823. Wesensentität darstellt, sondern allenfalls deduktiv aus der Beobachtung als Kraftfeld idealtypisch begriffener Zusammenhänge formuliert wird. Ein Satz aus Herders frühem Text Versuch über das Sein (1763/ 64) kann als grundlegend für seine Haltung gelten: Das Sein unerweislich - Kein Dasein Gottes erweislich. Kein Idealist zu widerlegen - alle Exsistenzialsätze, der größte Teil der menschlichen Erkenntnis nicht zu beweisen - o alles ungewiß, auch nicht im Erweise ungewiß: sondern gewiß und gar nicht zu erweisen. Das Sein so wie wirs genommen haben hat niemand geleugnet: über‐ studierten Philosophen kam der Gedanke des Zweifels ein, und sie suchten es zu beweisen - Alle aufs beste jetzt zu erweisende Sätze sind ohne dieses Sein nichts; bloße Verhältnisse. 185 Als studierter Theologe und Geistlicher hatte Herder eine grundsätzliche Ehr‐ furcht vor Gott, erkennbar etwa, wenn er in der Vorrede von Gott. Einige Ge‐ spräche herausstellt, dass er über Gott nicht streite. Von daher kann man seinen Denkstil als in wesentlichen Teilen theologisch geprägt nennen. Historische Fakten und naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die der Bibel widersprechen, hat er aber nie infrage gestellt. Seine umfangreiche Auslegung der Bibel wie auch seine Spinoza-Darlegung ist von diesem antagonistischen Paradigma geprägt. Glauben und Religion stehen bei ihm auch in Dependenz zum allgemeinwie wissenschaftshistorischen Prozess. Kant und Hamann waren in Königsberg Herders Lehrer, mit letzterem war er befreundet. Im Nachwort der von Ulrich Gaier edierten Frühen Schriften 1764‒1772 werden seine Ansätze als „irrationalistische Ergänzung Kants“ und „rationalistische Ergänzung Hamanns“ charakterisiert. 186 Herders Denkstruktur personifiziert sich paradigmatisch in beiden. Er war immer um Vermittlung bemüht, zwischen Naturwissenschaft und Theologie, zwischen Verstand und Gefühl, zwischen entgegengesetzten Denkweisen. Er lehnte einerseits speku‐ lative Metaphysik ab, wenn sie hypostasiert wurde, andererseits forderte er Empirismus, sah aber auch dessen Grenzen. Herder strebte nach einer Einheit, die er im Sinne seines Kraftbegriffes als eine Art Gleichgewicht formulierte. Wenn man ihn als „nichtsystematischen“ Denker begreift, ist das nur in dem Sinne korrekt, als er kein geschlossenes Erklärungssystem anstrebte, sondern immer auch die Gegenmeinung mitdachte. Dies zeigt sich als Konstante in seinem gesamten Werk und tritt vor allem in der Spinoza-Abhandlung deutlich hervor. Seine Bibelexegese steht unter der Prämisse der Inkommensurabilität 126 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 187 Kantzenbach: Herder 1970, S.-18. 188 Hans Jörg Sandkühler: VIII. Die Geschichte. In: Handbuch Deutscher Idealismus 2005, S.-218-248, hier S.-222. von heiliger Schrift und Vernunft bzw. Naturwissenschaft, Herder sucht nach „vermittelnden Lösungen“. 187 Herder hat zwar die strikte Trennung von Geist und Materie bei Descartes kritisiert, aber es ist nicht adäquat, ihn als Monisten zu kategorisieren. Er strebte eine Vermittlung aus Monismus und Dualismus an. Dies zeigt sich exemplarisch in den Spinoza-Betrachtungen. Er teilte mit Spinoza die Auffassung, dass Natur und Geist als Einheit auf einem Prinzip beruhen. Doch war er der Meinung, dass der Mensch kognitiv (noch) nicht in der Lage sei, manche Phänomene empirisch zu erfassen und zu beschreiben. Daher prononcierte er einen heuristischen Dualismus zwischen Sein und Denken, Erfahrung und Erkenntnis. Er versuchte in dieser Frage mit seinem Begriff der Kräfte zwischen Abstraktion und Entität zu vermitteln. Sandkühler verweist auf zwei verbreitete Urteile über Herders Geschichts‐ bild: Herders Geschichtstheorie wird häufig mißverstanden. Erstens wird weithin ange‐ nommen, Herder sei ein ‚Primitivist‘ - d. h. er habe an die Überlegenheit des ‚edlen Wilden‘ gegenüber den modernen, zivilisierten Menschen geglaubt. Zweitens wird er oft für einen Relativisten gehalten. 188 Herders Geschichtstheorie kann nicht isoliert betrachtet werden, sie ist inte‐ graler Bestandteil seines Denkens und seiner Anthropologie. Die Kritik, dass er eine regressive Apotheose des ursprünglichen Naturmenschen programmatisch vertrete, ist nicht adäquat, dennoch evoziert sein Stil dies an bestimmten Stellen. Sein Schreiben ist häufig von einem schwärmenden Pathos getragen, in dem er vor allem in der Poesie nach der wahren Natur sucht und sie bei einigen Autoren auch zu finden glaubt. Seine Ausführungen zur Dichtung sind hymnisch auf das Ursprüngliche, Naturhafte fokussiert. Er stellt niemals den Stand der Zivilisation seiner Zeit infrage oder postuliert ein Zurück, doch konstatiert er in der historischen Entwicklung zu komplexer werdenden Gesellschaftsformen eine zunehmende Entfremdung von der ursprünglichen menschlichen Natur. Die sachliche Essenz seiner Geschichtsauffassung ist in folgender Äußerung aus seinem Text Über Thomas Abbts Schriften (1768) prägnant formuliert: Daran ist mir nicht so viel gelegen, daß jemand aus dem Geiste eines Autors wieder den Geist herauszuziehen weiß, und mit einer bedeutenden Miene zu mir tritt: siehe da! ich habe dir trinkbar Gold verschafft: denn mit diesem Geist und trinkbarem Golde ist gar III.5 Aspekte eines denkstilorientierten Zugangs zu Herders Werk 127 189 Herder: Werke in zehn Bänden. Band 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1993, S. 580. Kursivierung im Original. 190 Ebd., S.-577. Kursivierung im Original. zu viel Betrug vorgegangen. Aber der Erklärer ist mein Mann, der der Vorwelt, und der Zeit, und der Nachwelt eines Autors ihre Grenzen ziehet: was ihm die erste geliefert, die zweite geholfen oder geschadet, die dritte nachgearbeitet. Eine Geschichte der Schriftsteller, die nach dieser Idee verfährt, welch ein Werk wäre sie! Die Grundlage zu einer Geschichte der Wissenschaften, und des menschlichen Verstandes. Hätten wir nur einen einzigen Baco [Francis Bacon] auf diese Art erkläret, aus der alten Zeit, gerechtfertigt aus der seinigen, aus der unsrigen verbessert und ergänzt: so hätten wir ein großes Hülfsmittel, das uns weiter brächte: und es könnte an ihm ein zweiter Baco entstehen, so wie Alexander am Grabe des Achilles, und Cäsar an der Bildsäule Alexanders. [Es folgt eine Kritik an der kanonisierten Aristoteles-Rezeption] 189 Diese Stelle weist Analogien zu Kuhns Modell des Paradigmenwechsels auf, indem der „Geist“ eines Autors immer im Kontext des kollektiven Denkens seiner Zeit gesehen werden muss. Dabei stellt Herder eine Wechselwirkung heraus: Das individuelle Denken wird einerseits von kollektiven Denkmustern beeinflusst, andererseits wirkt der einzelne Denker auf das kollektive Denken. Es zeigt sich noch eine andere Parallele zu Thomas Kuhn in dem Zitat. Wie dieser rekurriert Herder auf Francis Bacon, den Begründer des Empirismus. Bacon gilt als Personifizierung des maßgeblichen Paradigmenwechsels zu den modernen Naturwissenschaften im Sinne Kuhns. Herder skizziert Grundzüge seiner eigenen Denkweise am Beispiel Bacons: Daher hören wir so gerne Erfinder und Denker und Originalköpfe von der Methode reden, in der sie denken: sollten sie uns auch nur Embryonen von Begriffen und unausgebildete, halb entworfne Gedanken liefern; daran liegt mir nicht, was Baco ausgedacht hat, sondern wie er dachte. 190 Diese Äußerung ist ähnlich wie die Modelle Kuhns und Flecks von der Idee getragen, dass nicht nur das, was naturwissenschaftliche, geisteswissenschaft‐ liche Entdecker erforschten, relevant ist, sondern auch, wie sie dachten und in welchem Kontext. Die von Bacon mitgeprägte Wissenschaftliche Revolution spielt in Kuhns Schriften eine maßgebliche Rolle. Er sieht Bacon an der Schwelle eines fundamentalen Wandels auf einer höheren Ebene, der bis heute Gültigkeit hat und die experimentellen Naturwissenschaften fundiert hat. Kuhn fragt sich, wie Bacon gedacht hat und welche Einflüsse auf ihn gewirkt haben: Durch diese theoretischen Veränderungen nahmen die klassischen Wissenschaften an einer allgemeineren Revolution des abendländischen Denkens teil. Stellt man sich 128 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 191 Kuhn: Die Entstehung des Neuen 1978, S.-92f. Kursivierung im Original. 192 Herder: Werke in zehn Bänden. Band 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792- 1800. Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main 1998, S. 486. Kursivierung im Original. daher die Wissenschaftliche Revolution als Revolution der Ideen vor, so muß man die Veränderungen auf diesen herkömmlichen, quasi-mathematischen Fachgebieten zu verstehen suchen. […] Die methodologischen Schriften des Aristoteles enthalten viele Passagen, in denen die Notwendigkeit genauerer Beobachtung ebenso betont wird wie bei Francis Bacon. Randall und Crombie haben eine wichtige mittelalterliche methodologische Tradition entdeckt und untersucht, die vom 13. bis zum frühen 17. Jahrhundert Regeln für vernünftige Schlüsse aus Beobachtungen und Experi‐ menten ausgearbeitet hat. Descartes’ Regulae und Francis Bacons Novum Organon verdanken dieser Tradition viel. Eine empiristische Philosophie der Wissenschaft war zur Zeit der Wissenschaftlichen Revolution nichts Neues. 191 Kuhn differenziert dezidiert zwischen der empiristischen Philosophie und der eigentlichen empirischen Forschung. Bacons Novum Organum war auch Herder gut bekannt, insbesondere die dort formulierte Idolenbzw. Vorurteilslehre, die darauf verweist, dass der Naturwissenschaftler nicht frei von Vorurteilen handelt. Damit hat Bacon indirekt den Empirismus relativiert. Der Vorwurf des Relativismus an Herder rekurriert auf die zentralen Frage‐ stellungen meiner Studie. Auch Thomas Kuhn sah sich dieser Kritik ausgesetzt. Verschiedene Denkweisen gehen jedoch in einem solchen Maße von Prämissen aus, dass jedes Denken in letzter Konsequenz auf eine Relativität zurückgeführt werden kann. Fleck hat dies als Erster stichhaltig belegt, wenn er anhand konkreter Fälle beschreibt, wie als empirisch wahrgenommene Erkenntnisse unterschiedlich erfasst und vom Verstand unterschiedlich interpretiert werden können, was für die Beschreibung von Wirklichkeit und Wahrheit unterschied‐ liche Implikationen mit sich bringt. Dass das Denken des Einzelnen aus einem systematisch kohärenten Kontinuum einer Denkart bestehen kann und dieses mit anderen strukturell unvereinbar sein kann, hat Herder immer wieder prononciert. Eine in einer Fußnote der Metakritik geäußerte Kritik an Jacobi verweist auf den Anachronismus, dass dieser Spinoza nicht als eigenes System in seiner Struktur behandelt hat, sondern seinem Paradigma untergeordnet hat, mit dem es inkommensurabel ist: Wie übel Spinoza in dieser „kritischen Philosophie“ verstanden sei, hat Jacobi in seiner Schrift über den Idealismus und Realismus gezeigt. ‒ Doch wer würde von dieser „kritischen Philosophie“ verstanden? Jedes fremde System wird von ihr „ins Bessere gedeutet,“ d.-i. getötet. 192 III.5 Aspekte eines denkstilorientierten Zugangs zu Herders Werk 129 193 Ebd., S.-472f. Kursivierung im Original. Herder nimmt in der Frage nach dem Absoluten eine vermittelnde Position ein. Er hat definitiv nicht die Absicht, Natur und Geist nach rationaler Maßgabe zu definieren. In der Spinoza-Schrift ist sinnfällig und strukturiert erkennbar, dass er die Existenz eines Absoluten annimmt, aber der Mensch nach dem derzeitigen Stand der Naturwissenschaft nicht in der Lage ist, es mit seinen Sinnen empirisch zu erfassen und es mit seinem Verstande zu begreifen. Der ra‐ tional-empirischen Naturwissenschaft gesteht Herder in Anlehnung an Spinoza jedoch zu, dass sie den Menschen durch Wissensfortschritt der Substanz näher führen kann. In seiner Kritik an Kant formuliert er dezidiert eine systematische Trennung von beobachtbarer Natur und Geist, man könnte dies als einen aus der Relativität des Beobacht- und Verstehbaren für die heuristische Praxis deduzierten Dualismus im Descartes’schen Sinne begreifen: Sehe man die Dinge der Welt als Worte eines großen Buches an, in welchem wir den Sinn des unbekannten Urhebers lesen. […] Träte irgendeine Philosophie […] weit vor, stünde keinem Dinge, man nenne es Geist, Kraft, Substanz u. f. ein Dasein zu, falls es sich im Raum und der Zeit nicht besonders darstellt, d. i. sich beäugen oder ertasten läßt, oder ließe gar das Ding an sich problematisch hinter dem Spiegel; vernichtete sie nicht mit diesem blinden Spiel das Werk des Verstandes selbst, […]? Erkennen will der Verstand, nicht sehen und tasten. Eine bloße Phänomenologie, d. i. ein Buchstabieren ohne Sinn ist sein Werk so wenig als sich außer oder hinter den Worten einen Sinn zu dichten, zu welchem man zwar nie kommen könne und werde, der aber, problematisch wenigstens, doch da sei. […] Wie reiner [als Kant] dachten hierüber Berkeley, Spinoza, Leibnitz. Sie ließen den Sinnen das ihre, aber auch dem Verstande das seine; und verwirrten beide Welten nicht. Das Ding an sich im Raum ertasten zu wollen, ist eben so unverständlich, als die ganze Sinnenwelt durch Raum und Zeit a priori zu formen; wäre sie daraus geformt, so müßte ja das „Ding an sich“, sofern es die Sinnlichkeit betrifft, in diesen Formen ohne weiteres Nachsuchen erscheinen. Konstituierte der Verstand mittelst seiner Kategorien aus innerer Spontaneität die Erfahrung: so wüßte er ja, wie er mit diesem „Dinge“ daran wäre; denn er hätte seine Möglichkeit selbst konstituieret. 193 Aus dieser Passage wird evident, dass Kant und Herder in basalen Positionen von inkommensurablen Paradigmen ausgehen. Herder erteilt dem Ansatz Kants, Elemente des menschlichen Verstandes mit einem absoluten Vernunftbegriff zu fassen, eine deutliche Absage. Die von Herder vorgenommene heuristische Trennung von Erfahrung und Denken, Verstand und Gefühl bietet einen Schlüssel zum Verständnis der Ambiguität seiner Schriften. Sein objektiver 130 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 194 Hampe: Die Lehren der Philosophie 2016, S.-16. 195 Jauß: Literaturgeschichte als Provokation 1970, S.-67‒106. Blick und die argumentativ fundierte Meinung im Hinblick auf die spekula‐ tive Philosophie scheinen manchen seiner subjektiv-idealistischen Positionen dem Humanismus und einer Teleologie der Geschichte gegenüber nicht zu entsprechen. Man muss diese beiden Ebenen in Herders Schriften systematisch unterscheiden. Sie lassen sich nur in einen Deutungszusammenhang bringen, wenn man das als Ideal Formulierte heuristisch als entworfenen Idealtyp begreift. Dass die strukturelle Differenz zwischen systemischen und offenen Denk‐ stilen zu Missverständnissen führt und dem im Sinne Kuhns Inkommensu‐ rablen, lässt sich an Herders Rezeption veranschaulichen. Die zeitgenössische wie spätere Kritik an ihm fußt auf Argumenten, die sich in wesentlichen Elementen an den Denkstilen der Idealisten Kant, Hegel und Schiller orientieren. Im Gegensatz zu diesen wurde er häufig als ‚unfertiger‘ Denker kategorisiert. Auch wenn in der Tat manche seiner Ziele und Vorstellungen idealistischspekulativ anmuten und sein Werk widersprüchlich ist, lässt er sich im Kern seines Wesens als Denker kategorisieren, der kein Modell aufbaut, sondern sich durch Fragen und Widersprüche der Materie annähert. In diesem Punkt ist er in seinem Denken strukturell anders, dies macht einen Vergleich mit den oben Genannten so schwierig. Hampe trifft in seiner Kritik der Philosophie eine überspitzt pointierte Un‐ terscheidung zwischen doktrinären Philosophien, die behaupten, und nichtdoktrinären, die fragen. 194 Dieser Dualismus ist zwar problematisch, denn viele philosophische Modelle lassen sich als System erfassen und ‚behaupten‘, doch kann man diese Systeme auch als heuristische Modelle deuten. Exemplarisch ist dafür Herders Auslegung Spinozas. Dessen Entwurf lässt sich zwar als geschlossenes System kategorisieren, doch erfährt es in seiner Interpretation bei Herder die Dimension des Fragenden. Hampes Unterscheidung muss man als idealtypische Polarität sehen, und danach lässt sich Herder als Fragender charakterisieren. Im Gegensatz zu systemischen Denkern, die ein Modell ent‐ werfen und somit etwas behaupten, hat er immer die Perspektive des Fragenden und Suchenden eingenommen. Schillers idealistisch-spekulative Konzeptionen wiederum lassen sich auf einen operationablen Idealtyp reduzieren. Am Beispiel von Jauß’ Beitrag Schlegels und Schillers Replik auf die „Quer‐ elle des Anciens et des Modernes“  195 lässt sich diese Differenzierung plausibel unterstreichen, indem strukturelle Merkmale der Denkarten Herders, Friedrich III.5 Aspekte eines denkstilorientierten Zugangs zu Herders Werk 131 196 Ebd., S.-71f. 197 Ebd., S. 72. Jauß zitiert nach der Ausgabe: Herders Sämmtliche Werke. Bd. XVIII. Briefe zu Beförderung der Humanität [II]. Hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin 1883. Schlegels und Schillers differenziert in Relation gesetzt werden. Jauß vergleicht Herders Ausführungen zur „Querelle“ mit denen von Schiller und Schlegel: Fragen dieser Art kehren nicht von selbst wieder. Sie werden wieder gestellt, wenn die vorhandene Lösung nicht mehr befriedigt. Dieser Fall kann eintreten, wenn hinter der anerkannten Lösung ein neues Dilemma aufgetaucht ist, das dem alten, schon vergessenen Fragehorizont neue Aktualität gibt. Die geschichtliche Situation der deutschen Literatur 1795/ 96 stellt offenbar einen solchen Fall dar. Zu diesem Zeitpunkt bringt außer den Kontrahenten Schiller und [Friedrich] Schlegel noch ein dritter namhafter Schriftsteller „den berühmten Streit […] [Auslassung im Original], der unter Ludwig dem vierzehnten über den Vorzug der alten oder der neuern Nationen in Wissenschaften und Künsten mit großer Wärme geführt ward“ in Erinnerung. Es ist Herder mit der siebenten und achten Sammlung seiner Briefe zu Beförderung der Humanität, […] 196 Diese Passage spiegelt die grundsätzliche Problematik des Paradigmenwechsels und Denkstilwandels. Eine neue Sichtweise auf die Literatur impliziert auch ein neues Verständnis der bisherigen und ihrer Geschichte. Die Diskussion hat seinerzeit konkret der antiken Literatur und ihrer speziellen Rolle gegolten, lässt sich jedoch generell auf die literarische Vergangenheit und entsprechende Phasen der Literaturgeschichte übertragen. Eine „Lösung“ dieser Frage kann immer nur eine temporäre sein. Eine vergangene Literatur spielt in einer gegen‐ wärtigen immer eine bestimmte, zeitlich wechselnde Rolle. Jauß charakterisiert Herders Position: Für Herder ist der „Unterschied alter und neuer Zeiten, d. i. der Griechen und Römer in Vergleich aller neuen Europäischen Völker“, so „unverkennbar“ (p. 5), daß er schon gar keine vergleichende Betrachtung mehr unternimmt. Seine Darstellung setzt die „Blüthe der alten Cultur unter Griechen und Römern“ als bekannt voraus; ihr Verfall läßt nun den Ursprung der neueren Poesie als eine neue, aus dem Geist christ‐ licher Hymnen hervorgegangene Schöpfung erkennen, die der „ganzen Richtung der menschlichen Denkart“ ein neues Gepräge gab. (p. 6/ 17) Die Vergleichung selbst wurde dem Leser überlassen; statt ihrer will Herders Darstellung „der mittleren und neuen Europäischen Cultur“ historisch vorgehen, das heißt „jeder Nation und Zeit ihr Recht widerfahren lassen“ (p.-5/ 6). 197 132 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 198 Jauß: Literaturgeschichte als Provokation 1970, S.-73. Kursivierung im Original. 199 Ebd., S.-75. 200 Ebd., S.-74. Kursivierung im Original. Jauß kritisiert Herder dahingehend, dass dessen Position und Argumentations‐ weise eine während der Aufklärung als Denkmuster anerkannte „Lösung“ impliziere, die durch die neue Fragestellung angezweifelt werde. Eine neue Kategorie, wie Schillers Begriffspaar des Naiven und des Sentimentalischen oder wie später Schlegels Begriffspaar des Objektiven und des Interessanten, fiel für Herder wieder unter den falschen Maßstab der Vergleichung (p.-135). 198 In Jauß’ Darstellung verdeutlicht sich die Überlagerung der Ebenen. Herders Denken ist von einem Paradigma geprägt, er denkt die Modelle der Aufklärung mit. Hier prallen in Ansätzen unvereinbare Denkstile aufeinander. Herders Ausführungen zeigen m. E., dass er sich letztlich um die Fragestellung bemüht und sich ihr annähern möchte, aber im Grunde keine andere Lösung sieht, als dass diese bzw. die normative Interpretation historisch bedingt und wandelbar ist. Der „falsche Maßstab der Vergleichung“ ist gedanklich mit dem von Kuhn geprägten Begriff der Inkommensurabilität verwandt. Jauß’ Ausführungen erwecken den Eindruck, Herder hätte nicht weit genug gedacht, wenn er formuliert, „auf diese bei Herder offen gebliebenen Fragen antworten Schlegel und Schiller in ihren programmatischen Schriften“. 199 Herders Stellungnahme läßt indes am Ende eine Frage offen, die er am Anfang selbst stellte: wenn die Poesie „mit jeder Zeit, unter einem andern Himmelstrich auch ihre Gestalt und Farbe verändern muß; welches ist das Gesetz dieser Veränderung? Geht sie ins Bessere oder Schlechtere über? ‘ [sic! ] (p. 5/ 6) Solange der Unterschied zwischen antiker und moderner Poesie nicht wieder historisch vermittelt, die nach Zeiten und Nationen gesonderten Geschichten der Künste nicht wieder unter das Gesetz einer geschichtlichen Kontinuität gebracht werden können, muß auch der von Herder schließlich apostrophierte Fortgang der Poesie zum Ziel der verwirklichten Humanität (p. 140) eine bloße Überzeugung bleiben. Wenn das Gesetz dieser Veränderung nicht erkennbar wird, kann auch die Richtung und das Ziel der gegenwärtigen Poesie, die unter diesem Gesetz begann, nicht schlüssig bestimmt werden.“ 200 Man kann Herders Darstellung aber auch so verstehen, dass er eine Annähe‐ rung an eine Beantwortung der Fragen sucht, indem er die Unmöglichkeit kategorischer Antworten formuliert, sich dessen bewusst ist, dass es keine objektive Antwort gibt, dass aber jeder für sich eine Lösung finden muss, was ihm die klassische Literatur bedeutet, welche Rolle sie für ihn spielt bzw. welche ihr die Denkkollektive einer Zeit zumessen. Herder lässt klar III.5 Aspekte eines denkstilorientierten Zugangs zu Herders Werk 133 erkennen, dass diese Frage historisch bedingt ist und entsprechend gedeutet wird. Wenn er sie selbst reflektiert, kann er sich konsequenterweise nicht von den Prämissen seiner Zeit lösen. Sein Denken unterliegt in der Formulierung der Frage und der Nichtbeantwortung rhetorisch vielleicht einer Inkongruenz, seine Vorstellungen sind aber in ihrer paradigmatischen Struktur schlüssig. Dies alles unterstreicht die Gedankenführung, die sich in dem Text über Spinoza zeigt: Herder relativiert dessen System, isoliert einzelne Ideen und typisiert Spinozas Denkmodell als offenes mit inhärenten Widersprüchen. Seine Beiträge sind von dem Versuch getragen, zwischen basalen Positionen und den mit ihnen verbundenen Denkstilen zu vermitteln. Die von Jauß diskutierte Konstellation Schiller, Schlegel und Herder verdeut‐ licht, dass Schiller und Schlegel zwar konträre Positionen haben, diese jedoch in einem kommensurablen Referenzrahmen sind. Herders Auffassungen sind von einer tiefergehenden Differenz zu diesen gekennzeichnet, sein Denken lässt sich in einer anderen Grundannahme respektive in einem anderen Paradigma verorten. 134 III. Johann Gottfried Herder als Schlüsselfigur eines Paradigmenwechsels 201 Teilergebnisse dieses Kapitels wurden in folgendem Aufsatz vorab publiziert und in der vorliegenden Studie weitergeführt und ausgebaut: Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur. In: Kommentare, Kämpfe, Kontroversen. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven auf Karl Marx. Hrsg. von Sikander Singh. Hannover 2019, S.-136-160. 202 Hans-Ulrich Gumbrecht: Posthistoire now. In: Epochenschwellen und Epochenstruk‐ turen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie 2015 (1985), S. 34-50, hier, S. 36-38. Kursivierung im Original. IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 201 IV.1 Das marxistische Verständnis von Literatur als Denkstil In einer Einführung zu dem Sammelband Epochenschwellen und Epochenstruk‐ turen im Diskurs der Sprach- und Literaturhistorie aus dem Jahr 1985 setzt sich Hans Ulrich Gumbrecht mit dem Begriff der „Posthistoire“ auseinander. Im Zuge dieses Diskurses, der zunehmend tradierte Ordnungs- und Deutungsschemata anzweifelte und etablierte Denkrichtungen mit dem Präfix „post“ versah, steht die Frage im Vordergrund des Bandes, welche Implikationen dies für das Verständnis von Geschichte hat. Das geschichtsphilosophische Paradigma ist in Deutschland, sieht man vom immer präsenten strikt positivistischen faktenbe‐ zogenen Ansatz ab, sehr eng mit den Theorien von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx verbunden und impliziert auch deren Anthropologie: Denn wenn Geschichte die Chance der ‚Perfektibilität‘ des Menschen beinhalten, und wenn die Wahrnehmung dieser Chance Geschichte ausmachen sollte, dann war zu fragen, wie sich die ‚Qualität‘ von Zeit nach der Einlösung der Perfektibili‐ täts-Versprechen ändern würde. Gewiß sind die von Hegel und Marx gestifteten Geschichtsmythen die prominentesten einschlägigen Antworten. […] Wenn heute von ‚Posthistoire‘ gesprochen wird, so ist diese Rede wohl kaum noch je motiviert vom Gedanken an die Welt nach Erfüllung der Versprechen von Geschichtsphilosophie. Vielmehr leiden wir (spätestens seit Adornos und Horkheimers „Dialektik der Auf‐ klärung“) an der Verarbeitung des säkularen Schocks, die Versprechen der Aufklärung (und der Geschichtsphilosophie: einer ihrer ‚Töchter‘) als Illusion, als den Menschen nicht erreichbare Zielvorstellung erfahren zu haben. 202 203 Ebd., S.-38. Man kann angesichts der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts von einer Krise der Vernunft sprechen. Theodor W. Adornos und Max Horkheimers grundlegende Textsammlung entstand 1939 bis 1944 in einer Zeit, in der wegen der Weltlage die Verheißungen der Vernunft - „Vorstellungen kollektiven Glücks wie die Gleichheit aller Menschen, die Einsicht in die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ des Seins, das Ende aller Bedürftigkeit“ 203 - absurd anmuteten. Unter dem Eindruck der politischen Praxis in den sozialistischen Staaten entwickelte sich unter diesen Prämissen der Begriff des Postmarxismus; Karl Marx ist bis heute im Diskurs fest verankert. Er steht mittlerweile jedoch weniger als Person für ein geschlossenes Weltbild, vielmehr als Chiffre für ein diffuses Kontinuum aus verschiedensten Einstellungen, Lehren, die sich als Auslegungen seiner Schriften und Gedanken begreifen. Gemeinsam ist diesen ein teleologisches Geschichtsbzw. Menschenbild, aus dem sich ein diesseitiges Heilsversprechen generiert. Von daher bietet sich kaum ein Ideensystem wie das von Marx ausgehende an, den Wandel und die ‚Mutationen‘ eines Denkstils zu beschreiben und zu skizzieren. Im Verhältnis von Marxismus und Literatur spiegelt sich die Kopplung des Verständnisses von Literatur an ein Geschichtsbewusstsein, denn auch sie soll ihren Beitrag zum sozialen und politischen Programm zur Vervoll‐ kommnung leisten und sich an entsprechenden Normen respektive Paradigmen orientieren. Die Entwicklung der Beziehung von Marxismus und Literatur ist getragen von Revolutionen, Krisen und Umdeutungen, die man heuristisch als Paradigmenwechsel charakterisieren kann. Es geht hier grundsätzlich um die Frage, wie der Marxismus seit seinem Bestehen und im Nachleben von Karl Marx auf die Literatur gewirkt hat. Die Termini „Marxismus“ und „Postmarxismus“ werden in ihrer Ambiguität dargestellt. Am Anfang seiner marxistischen Literaturtheorie Literatur und Interesse schreibt Christian Enzensberger: Fast so alt wie die Literatur ist das Nachdenken über ihre Funktion in der Gesellschaft; und wenigstens solang es den Marxismus gibt, dauert die Suche nach ihrer gesell‐ schaftlichen Ursache. Aber niemand kann behaupten, dieses Nachdenken und diese Suche wären bis jetzt besonders erfolgreich gewesen. Oder wer kann mir sagen, 136 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 204 Christian Enzensberger: Literatur und Interesse. Eine politische Ästhetik mit zwei Beispielen aus der englischen Literatur. Zweite fortgeschriebene Fassung. Frankfurt a.-M. 1981, S.-15. Kursivierung im Original. 205 Ebd. welche unzweifelhafte gesellschaftliche Funktion die Literatur hat? Wer kennt ihre Ursache? 204 Enzensberger glaubt zwar, die Frage beantworten zu können, wenn er etwa von Literatur als „ideologische[r] Scheinlegitimierung von durchgesetztem Interesse“ spricht, 205 doch geht aus seinen folgenden Ausführungen, vor allem wenn man seine Positionen nicht völlig teilt, ein kardinaler Zwiespalt hervor: Die Antwort scheint einerseits einfach, selbsterklärend zu sein. Literatur ist wie die Sprache in unserer sozialen Welt präsent, es gibt sie, es muss also ein anthropologisch fundiertes Bedürfnis da sein, denn sonst gäbe es sie ja nicht. Andererseits ist die Frage unbeantwortbar, da dieses Bedürfnis kaum greifbar ist, sich der Beschreibbarkeit immer entzieht und die vielen verschiedenen Interpretationen des Menschen und der Welt impliziert. Diese Diskrepanz spiegelt sich auch im Verhältnis Marxismus und Literatur. Als Welterklärungsmodell ist es für den Marxismus integraler Bestandteil, ein solch zentrales kulturelles Aggregat wie die Literatur in ihrem Sinn zu verstehen und ihr eine soziale Rolle und Funktion zuzuweisen. Die Wandlungen und Auslegungen von Marx’ Lehren in Theorie und Praxis im Laufe seines Nachlebens haben bis heute immer auch Entsprechungen in der Literatur gefunden. Im Zuge der Geschichte haben sich seit Marx’ Wirken immer wieder Literaten, seien es Autoren oder Theoretiker, mit der Frage auseinandergesetzt. So entwickelten sich im Zuge der Auslegung und Etablierung der marxisti‐ schen Lehre im Lauf der Geschichte normative literarische Regelwerke, Theo‐ rien, Dogmen, die unter der Prämisse, dem ‚wahren‘ Marx zu folgen, Autor- Intention und Leser-Interesse definierten und Literaturbegriffe entwickelten, die klare inhaltliche und formale Regeln vorgaben. Zahlreiche Autorinnen und Autoren folgten solchen Lehren. Es gibt jedoch auch einen Stil- und Inhaltspluralismus anderer Strömungen oder Autorindividuen, die sich auf Marx’ Lehre beziehen, aber die Freiheit der Sprache, der Meinung, des Inhalts betonen und gerade diese Pluralität mit Marx assoziieren. Diese Vorstellung umfasst die disparate Gesamtheit einer Literatur, die sich aufgrund bestimmter Elemente als politisch ‚links‘ klassifizieren lässt, sich aber einer Einordnung in ein gefasstes ideologisches Format entzieht. Diese Spanne im Verhältnis von Marxismus und Literatur entspricht der divergierenden Interpretation der Lehre von Marx, die in zahlreichen Abspal‐ IV.1 Das marxistische Verständnis von Literatur als Denkstil 137 206 Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus- Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956 ff, Bd. 13, S. 8f. Zitiert nach Marco Iorio: Karl Marx - Gesellschaft analysieren und verändern. In: Klassiker der Philosophie heute. Herausgegeben von Ansgar Beckermann und Dominik Perler. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart 2010, S.-518-537, hier S.-523. tungen, Fraktionen, Derivaten, Interpretationen, Modifikationen ihren Nieder‐ schlag findet. Sowohl die Person Marx als auch seine Schriften sind bis heute gegenwärtig - auch wenn sie bisweilen nur als Etiketten für einen diffusen Begriff des ‚Linken‘ stehen -, sei es in zu stehenden Wendungen gewordenen Zitaten, sei es in der Präsenz einiger Kernsätze seiner Theorie im heutigen politischen Diskurs. Allen sozialistischen Bewegungen ist gemeinsam, dass sie sich auf Marx und Friedrich Engels berufen und diese beiden als positiv einschätzen, während spätere Exegeten wie Lenin, Mao, Trotzki umstritten sind. Ähnlich vielfältig sind die Ansätze in der marxistischen Kulturtheorie. Der Begriff des Paradigmas eignet sich zur Illustration dieser Phänomene, denn er beschreibt keine kompakte Entität, sondern fasst abstrahierend ein Kompendium verschiedener Eigenschaften und Relationen. Kuhns Engfüh‐ rung des weitgefassten Terminus auf sein strukturalistisches Modell hin ist skeptisch beurteilt worden. Ähnlich wie Kritiker geschichtsphilosophischer, teleologischer Modelle wie dem für den Marxismus essentiellen historischen Materialismus betonen viele Einwände gegen Kuhns Modell, dass der Faktor der Kontingenz bestimmter Entwicklungen nicht ausreichend berücksichtigt werde. Trotz oder gerade deswegen stellt die Verbindung der Paradigmentheorie Kuhns mit den Thesen des Marxismus in mehrfacher Hinsicht ein interessantes Denkmodell dar, denn es gibt einige Punkte, in denen sich Denken und Analyse in beiden Ansätzen sehr ähnlich sind. Kuhns weitere Schlüsselbegriffe Krise und Revolution korrespondieren mit Marx’ Lehre. In einer Passage aus Marx’ Kritik der politischen Ökonomie (1859) zeigen sich exemplarisch Analogien zu Kuhns Modell: Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […] Aus Entwicklungs‐ formen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. 206 Dieser bei Marx formulierte geschichtsphilosophische Ansatz zeigt Affinitäten zu Kuhns wissenschaftshistorischem Ansatz. Der Widerspruch mit den vorhan‐ denen Produktionsverhältnissen lässt sich mit Kuhns Krise eines wissenschaft‐ lichen Paradigmas analogisieren. Reaktion darauf ist eine soziale Revolution. 138 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 207 Ebd., S.-524. 208 Raymond Williams: Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur. Herausgegeben und übersetzt von H. Gustav Klaus. Frankfurt a.-M. 1983, S.-183. 209 Ebd. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang bei Betrachtung einer Passage von Marco Iorio im Rahmen einer Zusammenfassung von Marx’ Lehre: Da im Zuge der Fortentwicklung der Produktivkräfte die jeweiligen Produktionsver‐ hältnisse und damit indirekt auch der gegebene Überbau immer wieder in eine Situation geraten, in der sie ihre funktionalen Aufgaben nicht mehr erfüllen, kommt es periodisch zu Umwälzungen, in denen veraltete Verhältnisse und Überbaustrukturen zugunsten neuer Varianten ersetzt werden. Solch eine Umwälzung scheint man sich als eine Art Anpassungsvorgang vorstellen zu können, wie man ihn aus evolutionsbio‐ logischen Kontexten kennt. Die Produktionsverhältnisse reagieren dieser Vorstellung gemäß auf den neuesten Stand der Produktivkräfte. In der Folge reagiert der Überbau dann auf die sich neu einstellenden Produktionsverhältnisse, so dass er im Anschluss wieder seine alte Funktion übernehmen kann, diese Verhältnisse zu stabilisieren. 207 Aufschlussreich sind unter dieser Prämisse einige Überlegungen, die der mar‐ xistisch geprägte Kulturwissenschaftler Raymond Williams Zur Basis-Überbau- These in der marxistischen Kulturtheorie anstellt: Sich heute mit marxistischer Kulturtheorie befassen, heißt zunächst, sich mit der These auseinanderzusetzen, daß es eine bestimmende [determining] Basis und einen ,bestimmten‘ [determined] Überbau gebe. Von einem strikt theoretischen Standpunkt aus ist das allerdings nicht der gebotene Ausgangspunkt. In mancher Hinsicht wäre es vorzuziehen, mit der ursprünglich gleichermaßen zentralen wie authentischen These zu beginnen: daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt. 208 Williams ist der Auffassung, dass die dogmatische Festlegung der Basis-Überbau-Dualität als statisches Modell zu Deutungen geführt habe, die die eigentliche Dynamik und Wandlungsfähigkeit des Modells im historischen Prozess ausschließen. Die Hypostasierung vollzog sich seines Erachtens im „Übergang von Marx zum Marxismus“ 209 . Er weist darauf hin, dass die Bestimmt‐ heit nicht im Sinne des Determinismus oder Idealismus zu verstehen sei, sondern der Ursprung der Bestimmtheit im Bereich menschlicher Tätigkeiten liegt. So entsteht eine Dialektik: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, und umgekehrt. Bemerkenswert ist, dass sich diese Betrachtungen in einem Sammelband von Schriften Williams’ unter dem Titel Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur finden. In diesem Sinne und unter der Prämisse IV.1 Das marxistische Verständnis von Literatur als Denkstil 139 einer gesellschaftlichen Totalität ist die Literatur ein Teil dieses sozialen und historischen Prozesses. Anhand von vier Themenbereichen, die diesen vielschichtigen Komplex aus jeweils unterschiedlicher Perspektive betrachten, soll im Folgenden die Plausibilität der Untersuchung von Literatur und Marxismus unter der Prämisse des Paradigmas unterstrichen werden. Zunächst wird auf konkrete Äußerungen von Karl Marx zur Literatur eingegangen, um einen Eindruck von seinem persönlichen Verständnis von Literatur zu vermitteln. Daran anknüpfend folgt ein Blick auf Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck, welches in vieler Hinsicht als ein das Literaturverständnis des Marxismus antizipierendes lite‐ rarisches Werk gesehen wird. Am Beispiel des Schriftstellers Gustav Regler lässt sich der Zusammenhang zwischen marxistischer Literaturtheorie und dem Versuch ihrer Ausführung illustrieren. Abschließend werden unter dem Stichwort „Postmarxismus“ einige Gedanken zur Rolle des Marxismus im literarischen Diskurs der Gegenwart im Zeichen von Poststrukturalismus und Postmoderne entwickelt. Leitidee der Betrachtungen ist, dass sich trotz aller Un‐ terschiede einige Konstanten einer zu Marx’ Denken kongruenten Auffassung von Literatur aufzeigen lassen. Diese Übereinstimmungen bestehen allerdings nicht in der dogmatischen Fixierung auf bestimmte formale oder inhaltliche Kategorien, sondern es wird deutlich werden, dass marxistisch geprägte Ideen von Gesellschaft, Moral, Gerechtigkeit in den verschiedensten literarischen Stilformen und Inhalten erscheinen können. IV.2 Karl Marx über die Literatur In Marx’ Schriften finden sich nur wenige explizite Äußerungen zur Literatur, zwei von ihnen sind im Kontext dieser Ausführungen besonders signifikant. Zum einen handelt es sich um eine ironisch-polemische Auseinandersetzung mit Eugène Sues Erfolgsroman Die Geheimnisse von Paris in dem 1844 gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Werk Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, zum anderen um einen Brief an Ferdinand Lassalle vom April 1859, in dem Marx sich zu dessen historischem Drama über Franz von Sickingen äußert. Die Textstellen antizipieren thematisch zwei hervorstechende Merkmale der zukünftigen marxistischen Literaturtheorien. Sues Roman gilt als paradig‐ matischer Text des naturalistischen Sozialromans, das Drama über Sickingen greift den Stoff der Bauernkriege auf. Letztere nehmen in der sozialistischen Literatur wie Geschichtsmythologie eine Schlüsselrolle ein, wovon zahlreiche Biographien bzw. Romane zu Thomas Müntzer (andere Schreibweise Münzer) 140 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 210 o.V.: Alte Lust: In: Der Spiegel 38/ 1970 (http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-4490660 7.html, [zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023]). oder Joß Fritz zeugen. Die Fokussierung auf Heldengestalten aus dieser Epoche und ihre entsprechende literarische Verklärung scheint in Einklang mit später entwickelten marxistischen Postulaten zu stehen, wobei Marx selbst bereits antizipiert, welche der historischen Figuren aus dieser Epoche das richtige Bewusstsein widerspiegeln. Doch zunächst zu den Geheimnissen von Paris. Sues 1842/ 43 als Fortsetzungs‐ roman erschienener Mammuttext gilt als eines der wegweisenden Werke der Kolportagebzw. Unterhaltungsliteratur wie auch des naturalistischen, gesell‐ schaftskritischen Romans. Marx und Engels behandeln den Roman mit viel Ironie. Im Zentrum steht die Kritik an Sues auf Mitleidsaffekte ausgerichteter Schilderung des sozialen Elends und der Lösung der Konflikte. Die Rezension einer deutschen Neuausgabe der Geheimnisse von Paris im Spiegel fasst Marx’ Kritik zusammen: Ein Zeitgenosse allerdings kritisierte schon damals die Naivität von Sues Mitleidsap‐ pellen, die an den tieferen sozialen Ursachen des Elends vorbeigingen, und zerpflückte ironisch die bürgerlich-christliche Moral des edlen Sue-Helden Rudolf: Karl Marx, 1845 in seiner Schrift „Die heilige Familie“. Die im Dunkeln indes dankten dem Autor der „Geheimnisse von Paris“: Nach der Revolution von 1848 wurde Sue mit 130000 Arbeiterstimmen in die Nationalversamm‐ lung gewählt. Den Erfolg seiner „Mystères“ hat Sue mit späteren Werken nicht mehr erreicht. Aber die literarischen Einflüsse, die von seinem Roman-Bild der Großstadt als Dschungel ausgingen, reichen noch bis zu Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. 210 Die Ausführungen von Marx und Engels zu dem Roman sind im Gesamtkontext der Heiligen Familie zu verstehen, der eine Verballhornung der idealistischen Geschichtsdeutung der Junghegelianer ist. Diese lehnen politisches Engagement respektive einen Systemwechsel ab und prononcieren im historischen Prozess eine Evolution der Ideen des Guten durch die Entwicklung der menschlichen Vernunft. Die Abhandlung zu Sue knüpft unmittelbar an eine in dem Organ der Junghegelianer Allgemeine Literatur Zeitung erschienene überschwängliche Rezension des Romans an, die in diesem „die Geheimnisse der Gesellschaft“ aufgedeckt sieht, den Helden Rudolph als Vertreter der „reinen Kritik“ feiert. Marx und Engels kommentieren dies mit Spott: Eugène Sue hat sich über den Horizont seiner engen Weltanschauung erhoben. Er hat den Vorurteilen der Bourgeoisie ins Gesicht geschlagen. Er wird Fleur de Marie dem IV.2 Karl Marx über die Literatur 141 211 Karl Marx / Friedrich Engels: Weltgang und Verklärung der „kritischen Kritik“, oder „die kritische Kritik“ als Rudolph, Fürst von Geroldstein. In: Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden. Herausgegeben von Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1969, I, S-98-142, hier S.-106. 212 Enzensberger: Literatur und Interesse 1981, S.-382. 213 Ebd., S.-380. Helden Rudolph überliefert haben, um seine Verwegenheit zu sühnen, um sich den Beifall aller alten Männer und Weiber, der gesamten Pariser Polizei, der gangbaren Religion und der „kritischen Kritik“ zu erwerben. 211 Die Kritik von Marx an Sue spiegelt ein Denkmuster, das in der marxistischen Sichtweise auf die Literatur bis in unsere Zeit von Bedeutung ist. Christian Enzensberger unterzieht Charles Dickens unter einem entsprechenden Denkpa‐ radigma einer ähnlichen Kritik. Oliver Twist werde „in einer melodramatischen Verwicklung“ aus dem Elend „vom Roman in ein ländliches Happy End entlassen - während die Verbrecher durch Mord, Selbstmord und Todesurteil enden.“ 212 Enzensberger moniert: Zu den Mangelhaftigkeiten des Romans gehört nun auch seine offensichtlich unzu‐ längliche explizite Sinnlösung des bürgerlich-humanitären ‚Seid gut zueinander‘; sie ist ein deutlicher Notbehelf. Daher scheinen mir Versuche zu einer Reduktion zu kurz zu greifen, die sich ideologiekritisch darauf stürzen; und die dann aus Dickens einerseits, wegen seiner sozialkritischen Seiten, einen ‚progressiven Autor‘ machen, ohne daß irgendjemand sagen könnte, warum er gerade in seiner Zeit dazu geworden sein sollte, und die ihm dann die Verhimmelung des Bürgertums als ‚Ausrutscher‘ ankreiden, der ebenso unerklärt bleibt. 213 Marx’ und Engels’ Äußerungen über Sue verweisen auf einen zentralen Aspekt der marxistischen Betrachtungsweise der Literatur, bei dem sich Konstanz und Varianz ihrer Paradigmen in der Literatur evident spiegeln: Die Aufgabe, die soziale Wirklichkeit darzustellen, ist relativ unbestritten, die Art ihrer Umset‐ zung jedoch umstritten und im Laufe der Literaturgeschichte einem Wandel unterworfen. Die Abhandlung der Väter des Marxismus über die Geheimnisse von Paris respektive „die Geheimnisse der Gesellschaft“ antizipiert zahlreiche spätere literarische Diskurse und Kontroversen. Dies gilt auch für eine zweite explizite Äußerung von Marx zu Literatur, die sich im Rahmen der sogenannten „Sickingen-Debatte“ findet. Es geht darin um Ferdinand Lassalles 1859 erschienenes Revolutionsstück Franz von Sickingen, das eine Kontroverse nach sich zog, die bis heute aktuelle Differenzen im Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunismus spiegelt. Walter Hinderer 142 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 214 Walter Hinderer (Hrsg.): Sickingen-Debatte. Ein Beitrag zur materialistischen Litera‐ turtheorie. Darmstadt und Neuwied 1974, Klappentext. 215 Marx an Lasalle (19. April 1859). In: Hinderer: Sickingen-Debatte 1974, S. 37-41, hier S.-37f. fasst das Drama im Klappentext der von ihm herausgegebenen Dokumentation der „Sickingen-Debatte“ zusammen: In Lassalles Stück erhebt sich der Feldhauptmann von Sickingen gegen Kaiser, Fürsten und Papst, wobei er allein sich mit der traditionellen Ritterschaft, nicht aber (wie Thomas Münzer) mit den revolutionären Bauern verbindet. Lassalle wollte mit seinem Drama die Tragödie der Revolution schreiben: den nach seiner Meinung bei allen Revolutionen auftretenden tragischen Gegensatz zwischen revolutionärer „Begeisterung“ und Realpolitik, zwischen dem „unmittelbaren Zutrauen der Idee in ihre eigene Kraft und Unendlichkeit“ und der Notwendigkeit zur Diplomatie und realpolitischem Arrangement. 214 Wie der vor dem Hintergrund von Sue und Dickens thematisierte gegenwarts‐ bezogene Sozialroman wurde in der marxistischen Literatur der historische Stoff der Bauernkriege als Referenzfolie für die Gegenwart ein verbreiteter Topos. Marx äußert sich in einem Brief an Lassalle vom April 1859 differenziert zu dem Stück. Er lobt Intention und formal-sprachliche Aspekte, greift auch den schlüssigen Gegenwartsbezug des historischen Themas positiv auf: Die beabsichtigte Kollision ist nicht nur tragisch, sondern ist die tragische Kollision, woran die revolutionäre Partei von 1848-49 mit Recht untergegangen ist. Ich kann also nur meine höchste Zustimmung dazu aussprechen, sie zum Drehpunkt einer modernen Tragödie zu machen. 215 Doch übt Marx grundsätzliche Kritik an der literarischen Gestaltung des Themas, die im Kern die Unterschiede seines Weltverständnisses zu dem des Sozialdemokraten Lassalle repräsentiert. Was sich tendenziell in den Ausfüh‐ rungen zu Sue ausdrückt, findet sich hier wieder. Dessen strahlender Held Rudolph und der tragisch gescheiterte Franz von Sickingen verkörpern letztlich die gleiche Personengruppe: [Sickingen] ging unter, weil er als Ritter und als Repräsentant einer untergehenden Klasse gegen das Bestehende auflehnte oder vielmehr gegen die neue Form des Be‐ stehenden. […] Daß er die Revolte unter dem Schein einer ritterlichen Fehde beginnt, heißt nichts weiter, als daß er sie ritterlich beginnt. Sollte er sie anders beginnen, so müßte er direkt, und gleich im Beginn an Städte und Bauern appellieren, d. h. exakt an die Klassen, deren Entwicklung = negiertem Rittertum. […] so mußten Sickingen und IV.2 Karl Marx über die Literatur 143 216 Ebd., S.-38f. 217 Hans Mayer: Karl Marx und die Literatur [1968]. In: Marxismus und Literatur 1969, III, S.-322-336, hier S.-333. Hutten untergehn, weil sie in ihrer Einbildung Revolutionäre waren […] und ganz wie der gebildete polnische Adel von 1830 sich einerseits zu Organen der modernen Ideen machten, andererseits in der Tat aber ein reaktionäres Klasseninteresse vertraten. Die adligen Repräsentanten der Revolution - hinter deren Stichworten von Einheit und Freiheit immer noch der Traum des alten Kaisertums und des Faustrechts lauert - durften dann nicht so alles Interesse absorbieren, wie sie es bei Dir tun, sondern die Vertreter der Bauern (namentlich dieser) und der revolutionären Elemente in den Städten mußten einen ganz bedeutenden aktiven Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in viel höherem Grade grade die modernsten Ideen in ihrer reinsten Form sprechen lassen können, während jetzt in der Tat, außer der religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt. Du hättest dann von selbst mehr Shakespeari‐ sieren müssen, während ich Dir das Schillern, das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeists, als bedeutendsten Fehler anrechne. Bist Du nicht selbst gewissermaßen wie Dein Franz v. Sickingen, in den diplomatischen Fehler gefallen, die lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch Münzersche zu stellen? 216 Die Passage bezeugt beispielhaft Marx’ außergewöhnliche Formulierungsgabe und bedarf in ihrer differenzierten und zugleich unmissverständlichen Darle‐ gung keiner weiteren Kommentierung. Hans Mayer schreibt dem Brief zu Recht eine ganz bedeutende Rolle in der marxistischen Literaturtheorie zu: In der Sickingen-Debatte gelang Marx - aus nichtigem Anlaß - eine erste Konkreti‐ sierung marxistischer Gesamtinterpretation im Bereich der Literatur. Aber sie fand sich bloß in einem Privatbrief und blieb folgenlos. Ein neuer Anlaß schien sich nicht zu bieten. Der Briefschreiber kam nicht mehr auf solche Gedankengänge zurück. Er hatte genug mit den ‚Theorien über den Mehrwert‘ zu tun. 217 IV.3 Georg Büchner aus marxistischer Perspektive Hans Mayer schlägt auf der Basis dieses Marx-Briefes unmittelbar eine Brücke von Karl Marx zu Georg Büchner: [D]ie Antithese Schiller oder Shakespeare ist charakteristisch. Ablehnung einer idealistischen Dramatik Schillers, welche bloß „Sprachröhren des Zeitgeistes“ hervor‐ 144 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 218 Ebd. 219 Georg Büchner: Schriften, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt a. M. 2006 [Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Bd.-13 (2)], S.-411. 220 Georg Büchner: Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rose‐ marie Poschmann. Frankfurt a. M. 2006 [Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Bd.-13 (1)], S.-234. gebracht hat. Ziemlich genau 25 Jahre vorher hatte man diesen Einwand, gleichfalls unter Berufung auf Shakespeare, bereits bei Georg Büchner lesen können. 218 Mayer geht in seiner Abhandlung Karl Marx und die Literatur nicht konkret auf entsprechende Textstellen ein. Doch in einem Brief Büchners an seine Familie vom 28. Juli 1835 findet sich eine explizite Äußerung: Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, […] Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller. 219 Noch aufschlussreicher ist eine Passage aus Büchners nachgelassenem Erzähl‐ fragment Lenz, in der sich eindeutige direkte Intertextualität mit diesem Brief findet und Büchner sein eigenes poetisches Programm stilisiert in die Rede des Protagonisten einfließen lässt: Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nur selten, in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Göthe manchmal entgegen. […] Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen kaum bemerkten Mienenspiel; […]. 220 Hier lässt sich ein Bezug zu Georg Büchners als Fragment überliefertem Drama Woyzeck herstellen. Diesem wurde häufiger zugeschrieben, es antizipiere den Marxismus. Das Werk entstand vor der Verbreitung von Marx’ Lehre und es ist bemerkenswert, dass darin bestimmte literarische Phänomene erscheinen, die kongruent mit von Marx formulierten Thesen sind und dann später mit marxistischer Literatur assoziiert wurden. Büchners Drama kann als eine Art Paradigmenwechsel in der Literatur angesehen werden, es thematisiert soziale IV.3 Georg Büchner aus marxistischer Perspektive 145 221 Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit [Neue und erweiterte Ausgabe 1959]. Berlin 1960, S.-331f. 222 Büchner: Schriften, Briefe, Dokumente 2006, S.-378. Kursivierung im Original. 223 Ebd. S.-379. Kursivierung im Original. Missstände und Ungerechtigkeit. Der in dem Stück ausgedrückte Gestus zeigt Woyzeck als Ausgebeuteten, Abhängigen, der zum Mörder wird: Sein Sein bestimmt sein Bewusstsein. Büchner überzeichnet in der Figur des Woyzeck sein Verständnis des Determinismus. Woyzeck wird letztlich durch die deprimie‐ renden Verhältnisse zum Mörder. Er ist Inbegriff des Ausgebeuteten. Woyzeck entspricht als Figur dem Typus des Unterdrückten im marxistischen Sinn, seine kriminelle Handlung entspringt seiner sozialen Lage. Eine dezidiert marxisti‐ sche Deutung von Büchners Woyzeck stammt ebenfalls von Hans Mayer: [W]as treibt diesen Menschen Woyzeck in die Verstrickung und Umnachtung des Geistes? Mit aller Schonungslosigkeit und Helligkeit aber antwortet das Drama, indem sein Held die Antwort gleichsam vorlebt: die Armut, die „Umstände“ seines materiellen Lebens. […] Die Frage der „sozialen Indikation“ ist gestellt, das Verbrechen aus der gesellschaftlichen Lage erklärt, die determinierende Kraft dessen, „was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet“, als soziale Lebenslage und Seinslage erkannt, in die der einzelne unabänderlich hineingeboren und verstrickt ist. Woyzecks Tun erscheint hier, ebenso wie das seiner Peiniger und Gegenspieler, als Wirkung und Produkt sozialer Funktionen und Seinslagen. Verschiedenheit der sozialen Lagen bestimmt die Verschiedenheit der Anschauungen über Sitte und Moral, entscheidet über Glücksmöglichkeit und Aufstiegschance. 221 Mayer unterstreicht seine Argumentation mit einem Zitat aus einem Brief Büchners an seine Familie vom Februar 1834: Ich verachte Niemanden, am wenigsten wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, - weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen. 222 Diese Kausalität lässt sich hier aber nicht nur sozial, sondern auch anthropolo‐ gisch begreifen. Denn in demselben Brief schreibt Büchner im Folgenden: Ich kann Jemanden einen Dummkopf nennen, ohne ihn deßhalb zu verachten; die Dummheit gehört zu den allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Dinge, für ihre Existenz kann ich nichts, […]. 223 Büchners Woyzeck konterkariert zweifelsohne den Idealismus Hegels, der Weltgeist wird als Zyniker vorgeführt. In der kontroversen Interpretation des 146 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 224 Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. Frankfurt am Main / Wien 1994, S.-164-167. 225 Büchner: Dichtungen 2006, S.-738. Dramas spiegeln sich jedoch die disparaten Sichtweisen. Es wird erkennbar, wie sehr die spätere Auslegung eines Texts auf Paradigmen basiert: Büchner erfuhr im Zuge seiner Rezeption bis heute unterschiedlichste Deutungen aus ideologischen Perspektiven, die das gesamte politisch-weltanschauliche Spek‐ trum ausfüllen. Er selbst lässt sich im Hinblick auf eine marxistisch orientierte Deutung nicht festlegen. Hauschild stellt in seiner Büchner-Biographie heraus, dass er die Saint-Simonisten rezipiert und den Begriff der sozialen Klasse verwendet hat. Doch zugleich hat Büchner das Sektierertum und den Missionarismus dieser Gruppierung ironisiert. 224 Man kann Büchner auch nicht auf eine materialisti‐ sche Geschichtsauffassung fixieren. Bei der Interpretation des Woyzeck gehen die Meinungen signifikant auseinander. Henri Poschmann stellt im Kommentar der von ihm herausgegebenen Werkausgabe Büchners die marxistische anderen Sichtweisen gegenüber: Wo andere als künstlerisch-formale Intentionen nicht überhaupt übersehen oder in Abrede gestellt werden, reichen die Auffassungen von Woyzeck vom revolutionären Proletarierdrama oder sozialen Mitleidsdrama allgemeiner Art bis zu einem nihilisti‐ schen oder existentialistischen oder religiösen Drama im Sinne des Christentums, mit Modifikationen und Überschneidungen der verschiedenen ‚Lesarten‘ in wachsender Zahl. 225 Im Kontext dieses Kapitels steht die Frage im Fokus, ob Woyzeck als paradig‐ matischer Text für die marxistische Literatur angesehen wurde. Büchners Drama spielt in den marxistischen Diskursen über Literatur eine zentrale Rolle, z. B. hat ihm Hans Mayer, ausgewiesen als marxistischer Literaturtheoretiker, umfassende Studien gewidmet. Büchner ist also in mehrfacher Hinsicht für die Betrachtung von Literatur und Paradigma von Interesse, einerseits, da er als Quelle für Paradigmen diente, andererseits ist sein Werk exemplarisch für die unterschiedliche Deutung von Klassikern unter entsprechenden zeitlichen und weltanschaulichen Voraussetzungen. Mayer repräsentiert mit seiner Interpretation die marxistisch orientierte Deu‐ tung, die angesichts mancher fundierter Gegenposition überhöht erscheinen mag. In jedem Fall lassen sich jedoch zwei Elemente der Marxschen Theorie, die als Schlagworte wirkungsmächtig blieben, sinnvoll auf den Woyzeck über‐ tragen. Die Formel „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“ wird durch Büchners Selbstkommentare gewiss bekräftigt. Weitaus diffiziler verhält es sich mit der IV.3 Georg Büchner aus marxistischer Perspektive 147 226 Büchner: Dichtungen 2006, S.-155. Frage, ob im Woyzeck die Religion als „Opium des Volkes“ erscheint. Einige Stellen des Stückes karikieren in der Tat ein unreflektiertes, naives Verständnis von Religion, etwa in Maries Gebeten. Doch wenn Woyzeck dem Hauptmann auf Anwürfe wegen der religiösen Moral bezüglich seines unehelichen Kindes scheinbar tumb antwortet, zeigt sich eine Ambivalenz: „Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehn, ob das Amen drüber gesagt ist, eh’ er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen.“ 226 Diese Stelle belegt, wie ironisch-doppeldeutig Büchner religiöse Fragen pointiert. IV.4 Literatur und Literaturdoktrin im ‚real existierenden Sozialismus‘ Eine neue Konstellation im Verhältnis Marxismus und Literatur stellte sich nach der russischen Revolution ein. Marxistische Theoretiker wie Franz Mehring hatten bereits zahlreiche Gedanken zu einer Literatur entwickelt, die der sozialistischen Idee und Gesellschaft entsprechen sollten und gaben inhaltliche und formale Normen vor. Am Beispiel solcher Ansätze lässt sich anschaulich die Spannbreite des Paradigmenbegriffs zwischen vorgegebener Norm und informellem Denkstil in der Literatur illustrieren. Mit Etablierung der kommu‐ nistischen Herrschaft in Russland und der Entstehung der Sowjetunion wurde der sozialistische Realismus zur Staatsdoktrin, der kommunistische Autoren aus aller Welt folgten. Sein Programm hat klare Stilvorgaben und setzt den Autoren und der Leserschaft einen deutlich umrissenen Rahmen. Es fordert eine wirklichkeitsnahe Darstellung, die Vermeidung von abstrakten Formen und Mystizismus. Die Texte sollen den sozialen Kampf im Sinne des Kommunismus darstellen, sowohl in der Gegenwart als auch in historischen Epochen. Im Hinblick auf die Funktion der Thematisierung von Ereignissen und Personen aus der Geschichte findet sich eine Entsprechung zu Marx’ Ausführungen in der „Sickingen-Debatte“. Andere Elemente der Literaturdoktrin bergen jedoch die Gefahr, ins - wie Marx es nennt - „Schillern“ zu geraten. Ein Gehalt an Optimismus wird gefordert und vor allem der gewünschte positive Held, der in seiner marxistisch-leninistischen Haltung ein Vorbild sein soll, gerät schnell zu einer, um Georg Büchners Umschreibung wieder aufzugreifen, „Marionette[] 148 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 227 Büchner: Schriften, Briefe, Dokumente 2006, S.-411. 228 Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sow‐ jetschriftsteller. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schmitt und Godehard Schramm. Frankfurt a.-M. 1974. 229 Andrej Ždanov: Die Sowjetliteratur, die ideenreichste und fortschrittlichste Literatur der Welt. In: Sozialistische Realismuskonzeptionen 1974, S.-43-50, hier S.-47. mit himmelblaue[r] Nase[] und affektiertem Pathos, aber nicht Mensch[] von Fleisch und Blut“. 227 Als ein markanter Wendepunkt hinsichtlich der sozialistischen Literatur gilt der Erste Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller, der 1934 in Moskau stattfand. Dort wurde der sozialistische Realismus als einheitliche Literaturtheorie des Marxismus-Leninismus proklamiert. Der Kongress ist auch in einer deutschen Übersetzung aller Beiträge dokumentiert. 228 Zahlreiche Schriftsteller aus dem Ausland waren dort zu Gast und dass der Zeitpunkt des Treffens unmittelbar vor dem Beginn der sogenannten Stalinistischen Säuberungen lag, gibt ihm eine besondere Note. Stalins enger Mitarbeiter Andrej Ždanov hielt unter dem Titel Die Sowjetlite‐ ratur, die ideenreichste und fortschrittlichste Literatur der Welt eine Eröffnungs‐ rede, in der er die politischen Vorgaben an die Schriftsteller formulierte: Die Haupthelden der literarischen Werke sind in unserem Land die aktiven Erbauer des neuen Lebens: Arbeiter und Arbeiterinnen, Kollektivbauern und Kollektivbäue‐ rinnen, Parteifunktionäre, Wirtschaftler, Ingenieure, Komsomolzen und Pioniere. […] [Unsere Literatur] ist optimistisch ihrem Wesen nach, weil sie die Literatur der aufstei‐ genden Klasse, des Proletariats, der einzigen fortschrittlichen und fortgeschrittenen Klasse ist. […] Genosse Stalin hat unsere Schriftsteller die Ingenieure der menschlichen Seele ge‐ nannt. Was heißt das? Welche Verpflichtung legt Ihnen dieser Name auf`? Das heißt erstens, das Leben kennen, um es in den künstlerischen Werken wahrheits‐ getreu darstellen zu können, nicht scholastisch, nicht tot, nicht einfach als „objektive Wirklichkeit“, sondern als die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Dabei muß die wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung mit der Aufgabe verbunden werden, die werktätigen Menschen im Geiste des Sozia‐ lismus ideologisch umzuformen und zu erziehen. 229 Auch der deutsche Schriftsteller Gustav Regler (1898 bis 1963) war unter den Gästen dieses Kongresses. Er reflektiert und stilisiert in seiner romanhaften Autobiographie Das Ohr des Malchus (1958) einige Reden des Kongresses und IV.4 Literatur und Literaturdoktrin im ‚real existierenden Sozialismus‘ 149 230 Vgl. Gustav Regler: Das Ohr des Malchus. Hrsg. von Gerhard Schmidt-Henkel und Hermann Gätje. Frankfurt a.-M. / Basel 2007 [Gustav Regler: Werke, Band 10], S. 331- 340; S.-343-355. Gespräche, die er dort geführt hat. 230 Regler war seit Ende der 1920er Jahre in der Kommunistischen Partei engagiert, hat sich seinerzeit literarisch stark an deren Vorgaben orientiert. Nach seinem Bruch mit der Partei um 1940 hat er sich in zahlreichen Schriften mit seiner eigenen Rolle als kommunistischer Schriftsteller auseinandergesetzt. Dies erscheint insofern vor dem Hintergrund dieses Themas bemerkenswert, weil Regler sich auch nach diesem Bruch als Schriftsteller gewissen weitgehend marxistischen Idealen respektive Denkmus‐ tern verpflichtet sah. Sein Werk aus seiner kommunistischen Zeit spiegelt pointiert den Zwiespalt vorgegebener Paradigmen und künstlerischer Freiheit und ist aufschlussreich, wenn man es im Hinblick auf die bisher behandelten Aspekte des marxistischen Literaturverständnisses betrachtet. Der Roman Wasser, Brot und blaue Bohnen (1932) will realitätsnah das Leben in einem Gefängnis schildern, das als Sinn‐ bild für die gesamte Weimarer Republik fungiert: Die Insassen repräsentieren die ‚Erniedrigten und Beleidigten‘ des Staates. Der Roman vertritt eindeutig den kommunistischen Standpunkt. Seine Form orientiert sich am Zeitstil, die szenenhafte Montagetechnik erinnert an Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Verschiedene Stile, Perspektiven werden kombiniert, experimentelle Momente fließen ein, auch werden Songs und Kabarettpassagen im Stile der Neuen Sachlichkeit eingebaut. Der nachfolgende, bereits im Exil publizierte Roman Der verlorene Sohn (1933) hat individuelleren Charakter, denn er ist die dich‐ terische Ausformung von Reglers widersprüchlichem Verhältnis zur Religion bzw. zur katholischen Kirche. Der Text ist kirchenkritisch, bisweilen sogar provokant blasphemisch. Doch er ist nicht einseitig, er spiegelt im antipodischen Verhältnis der beiden Hauptfiguren die inneren Widersprüche des Autors, das im Grunde Religiöse seines Naturells und die heftige Ablehnung der autoritären Kirche. Hier zeigt sich, dass Reglers Kommunismus nicht losgelöst von seiner Suche nach dem wahren Glauben, der Gewissheit gesehen werden kann. Der zur Saarabstimmung 1935 verfasste Saar-Roman Im Kreuzfeuer (1934) ist ein strikt nach Parteilinie geschriebener Text, weitgehend einem mechanistischen sozialistischen Realismus verpflichtet, der typisch ist für die Romane aus dem Umfeld des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS), einem der Kommunistischen Partei Deutschlands nahestehenden Schriftstellerverband in der Weimarer Republik. In der Tat marionettenhaft gruppieren sich um einen vorbildlichen KP-Genossen, den positiven Helden, unterschiedliche So‐ zialtypen wie zaudernde Arbeiter mit unausgereiftem Klassenbewusstsein, 150 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 231 Regler: Das Ohr des Malchus 2007, S.-209. bigotte Pfarrer, feiste Unternehmer, schmierige Nazis in Episoden aus dem aktuellen Geschehen an der Saar. Regler hat sich von diesem Text später ausdrücklich distanziert. Die bittere Niederlage der Hitler-Gegner bei der Saarabstimmung wird in dem Bauernkriegsroman Die Saat (1936) verarbeitet. Darin hat Regler das hier schon mit Bezug auf die „Sickingen-Debatte“ erwähnte Bauernkriegsthema aufgegriffen, und kongruent zu Marx’ Auffassung mit Joß Fritz einen Aktivisten, der sich wie Thomas Müntzer mit den Bauern verbündet hat, zum Protagonisten gemacht. Diese entsprechend stilisierte historische Hauptfigur formiert mit seinem fiktiven Romanpartner Martin nach einer Niederlage die Truppen neu. Die beiden Protagonisten sind als autobiographisch fundierte analytische Figur erkennbar. Auch wenn man an einigen Stellen Kritik herauslesen kann oder eine Gegenposition formuliert wird, stellt der Roman in der dialektischen Synthese den Kurs der Partei nebst unbedingter Gefolgschaft als den richtigen Weg heraus. Regler hat sich später sehr kritisch mit dem Werk, das während seiner Zeit als aktiver Kommunist entstanden ist, auseinandergesetzt. Er schildert seinen Fanatismus während der Arbeit an Wasser, Brot und blaue Bohnen in Das Ohr des Malchus: „Es war die Klaue der Absolutheit, der ich mich ausgeliefert hatte.“ 231 Sein Schaffen spiegelt die Dialektik zwischen Paradigma und Individualität in der Literatur auf anschauliche Weise. Jede Literatur ist an gewisse Konventionen ihrer Zeit und soziale Beziehungen gekoppelt, zugleich ist sie Produkt eines individuellen Geistes, persönlicher Überzeugungen. Am Beispiel Reglers zeigt sich, wie eine Weltanschauung, konkret die marxistische Theorie bzw. deren Fortführung und Interpretation im Marxismus-Leninismus, das Schreiben eines Autors in Form und Inhalt beeinflusst. In den Paradigmen der Literatur wirkt das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, sozialen und persönlichen Kompo‐ nenten. Reglers Texte aus seiner kommunistischen Zeit spiegeln unbewusst die Gewichtungen: Während Wasser, Brot und blaue Bohnen, Im Kreuzfeuer und Die Saat dem historischen Materialismus folgen, werden in Der verlorene Sohn Reglers persönliche Zweifel in der religiösen Frage reflektiert. Er betont im Rückblick seinen inneren Widerspruch zwischen persönlichen Gefühlen und Zweifeln auf der einen Seite, und der Überzeugung, sich den Vorgaben einer im Ganzen als richtig erachteten Ideologie unterwerfen zu müssen, auf der anderen. Der späte Gustav Regler steht für eine Weltanschauung, die in ihrer antielitären Haltung und der Suche nach sozialer Gerechtigkeit sozialistischen marxistischen Idealen verbunden ist, aber den totalitären Anspruch des kom‐ IV.4 Literatur und Literaturdoktrin im ‚real existierenden Sozialismus‘ 151 232 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Frankfurt a.-M. 1995. 233 Marco Iorio: Einführung in die Theorien von Karl Marx. Berlin / Boston 2012, S.-312. munistischen Staates und absolute Wahrheiten ablehnt. Wie Regler haben sich zahlreiche Intellektuelle vom Parteikommunismus gelöst, manche blieben, z. B. Hans Mayer oder Ernst Bloch, erklärte Marxisten. Es entwickelten sich unterschiedliche, sehr differente, aber marxistisch geprägte Strömungen und Denkschulen, besonders die Kritische Theorie spielte im intellektuellen Diskurs in Westdeutschland eine exzeptionelle Rolle. Nach dem Ende des Ostblocks und dem Zerfall der Sowjetunion Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre stellte sich die Frage nach der sozialen Rolle des Marxismus neu. IV.5 Postmarxismus und Literatur Auch wenn zeitweise das Ende der Geschichte respektive des Marxismus verkündet wurde, blieb Marx, wenn auch in anderer Qualität, im sozialen Diskurs präsent, im Wissenschaftswie Literaturbetrieb, sei es in Elementen aus seinen Lehren oder als Ikone. Derrida spricht in seiner für ihn typischen doppeldeutigen Weise von „Marx’ Gespenster[n]“. 232 In dieser Phase nahm die Bedeutung von Strömungen, die unter dem Begriff des Postmarxismus subsumiert werden, zu. Marco Iorio schreibt dazu: Ähnlich wie „westlicher Marxismus“ und „Neomarxismus“ hat auch der seit den 80er Jahren gebräuchliche Ausdruck „Postmarxismus“ weder eine klare Bedeutung noch bezeichnet er eine bestimmte Strömung. Er dient vielmehr als Sammelbezeichnung für philosophische, soziologische und politologische Theorien, die zwar im weitesten Sinne an die Schriften von Marx anknüpfen, aber weder darum bemüht sind, eine bestimmte Interpretation dieser Texte zu etablieren, noch darum, Marxens Theorie als Gesamtheit weiterzuentwickeln. 233 Die Entwicklung vom Marxismus zum Postmarxismus lässt sich auf einer zeit‐ lichen Achse tendenziell mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne parallelisieren. Während vormals im Denkbetrieb - auch durch Marx mitbedingt - strukturelle Denkmodelle dominierten, geriet der geisteswissenschaftliche Betrieb zunehmend unter den Einfluss poststrukturalistischer Strömungen, die systematisierte Denkmodelle, Ideologien und Lehren hinterfragten und dekonstruierten, ohne sie jedoch völlig infrage zu stellen oder deren Grundideen anzuzweifeln. 152 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur 234 Vgl. das Kapitel Vom Marxismus lernen: Gramsci und die Metapolitik. In: Thomas Wagner: Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten. Berlin 2017 (E-Book), S. 53-55; Volker Weiß: Die autoritäre Revolte. Die NEUE RECHTE und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart 2017 (E-Book), S.-50f.; Per Leo / Maximilian Steinbeis / Daniel- Pascal Zorn: Mit Rechten reden. Ein Leitfaden. Stuttgart 2017 (E-Book), S.-59. Das Diffuse des Begriffs „Postmarxismus“ reflektiert treffend die Disparatheit zahlreicher literarischer Texte, die in ihrer Ausrichtung „links“, gesellschafts‐ kritisch, emanzipatorisch sein wollen bzw. so gewertet werden. Auffallend ist dabei in der Tat, dass diese Texte meist keinerlei konkreten Bezug auf Marx mehr nehmen, sich in ihnen aber Spuren seiner Lehre und Verweise, seien es direkte oder indirekte, finden. Vor diesem Hintergrund erscheinen in der Literatur vor allem auch die von Iorio dem Postmarxismus zugerechneten Strömungen des „Postkolonialismus“ und des „marxistischen Feminismus“ interessant. Unter diesen Prämissen wurden in den letzten Jahren zahlreiche literarische Texte veröffentlicht. Ein weiterer Diskurs, der dem Postmarxismus zugerechnet wird, ist die auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci zurückgehende Theorie der kulturellen Hegemonie, diese wird in letzter Zeit auch von Vertretern der soge‐ nannten „Neuen Rechten“ aufgegriffen und rezipiert. 234 Gramsci unterscheidet sich im Wesentlichen von Marx, indem er in seiner Analyse stärker den kulturellen Sektor akzentuiert, und nicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse fokussiert. Es bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass eine politische Gruppe im öffentlichen Diskurs die Meinungshoheit gewinnen muss, um zu Einfluss und politischer Macht zu gelangen. Auf unsere medialisierte Gesellschaft bezogen heißt das zunehmend, nicht nur die zustimmungsfähigen Ideen entwickeln, sondern diese auch entsprechend verbreiten zu müssen. Ein markanter literarischer Text, der typische Merkmale des aktuellen mar‐ xistischen Diskurses spiegelt, ist Nora Bossongs 2015 erschienener Roman 36,9°, der sich explizit mit Antonio Gramsci beschäftigt. Der Roman verknüpft mehrere Zeitebenen. Ein privat wie beruflich resignierter Forscher reist nach Rom, um ein verschollenes Notizheft Antonio Gramscis zu finden. Auf einer an‐ deren Handlungsebene wird Gramscis langjähriger Gefängnisaufenthalt unter Mussolini und seine Liebesbeziehung zur russischen Kommunistin Julia Schucht erzählt. Die Betonung des Individuellen, der Suche nach dem Menschen hinter der Theorie respektive der Weltanschauung ist paradigmatisch auch für ein aktuelles Verständnis von Marx’ Lehre. Der Roman verkörpert ein postmarxisti‐ sches Denkschema, indem er die Zweifel an kollektiven Heilsideologien aufzeigt und nach der Person hinter der Idee sowie ihren persönlichen Widersprüchen fragt. Bossongs Erzähltechnik folgt postmodernen Mustern, indem sie in die in‐ IV.5 Postmarxismus und Literatur 153 235 Nora Bossong: 36,9°. München 2015 (E-Book), S.-305. 236 Ebd., S.-359. nere Perspektive Gramscis Zitate einmontiert und fiktive Dokumente entwirft. An einer Stelle heißt es: [Gramsci] schreibt von den praktischen Ursprüngen jeder für absolut gehaltenen Wahrheit, er schreibt von den billigen Polemikern, die daraus Kapital schlagen, er schreibt von den Bewusstseinsdramen, die daraus bei den kleinen Leuten entstehen, und er warnt davor, dass der Marxismus „selbst dazu tendiert, zu einer Ideologie im schlechten Sinne zu werden, das heißt zu einem System absoluter und ewiger Wahrheiten“. 235 Am Schluss des Romans lässt Bossong Gramsci in poststrukturalistischer, dekonstruktiver Manier „[ü]ber den Staat“ nachdenken: Der gesellschaftlichen Liebe geht stets die bedingungslose Liebe zu einem einzigen Menschen voraus. […] [W]as genau ist diese Liebe? Ein Irrtum, bedroht durch Verlust. Man kann, so scheint mir, keinen Staat aufrechterhalten, der auf einer solchen Liebe basiert. Jeden anderen Staat aber werden wir nicht ertragen. 236 IV.6 Konstanten und Variablen des marxistischen Literaturbegriffs im Prozess der Denkstilmutation Die vorgestellten Beispiele im Hinblick auf das Verhältnis von Marx’ Lehre zur Literatur zeigen auf, unter welch unterschiedlichen Perspektiven diese Denkrichtung im Kontinuum Autor, Leser, Literaturgeschichte eine Rolle spielt. Am Beispiel der Selbstäußerungen von Karl Marx hat sich gezeigt, wie seine Ansichten in Verbindung mit seinen Thesen zu wesentlichen Elementen litera‐ rischer Paradigmen wurden. Dass die vielfache Interpretation der Marx’schen Äußerungen und Werke zahlreiche, sich im Lauf der Zeit verändernde Denk‐ muster erzeugt hat, konnte ebenfalls veranschaulicht werden. Am Beispiel der Ausführungen zu Büchners Woyzeck kann man erkennen, wie Texte im Lauf ihrer Rezeption unter bestimmten herrschenden Denkstilen unterschiedlich interpretiert werden. Gustav Reglers innerer Konflikt mit dem sozialistischen Realismus durchmisst das Spannungsverhältnis zwischen persönlicher marxis‐ tisch geprägter Überzeugung und institutionalisiertem Kommunismus. Die Gedanken zum Postmarxismus illustrieren, wie unter der gleichen Perspektive, dem Bezug auf Marx, eine divergente Stil- und Formenvielfalt entstehen kann. 154 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur Im Hinblick auf den Diskurs des Paradigmenbegriffs zeigt sich epistemolo‐ gisch, wie ein Denkstil, wenn man Marx’ Philosophie, Marxismus und Post‐ marxismus nach ihrem gemeinsamen Wesenskern als solchen idealtypisch subsumiert, in sich variieren kann. Auch die Vielfalt kann Bestandteil eines Paradigmas sein, in ihm kann es Hierarchien, Über- und Unterordnungen geben. Im Zuge des Verhältnisses von Marxismus und Literatur wird diese mögliche Spannbreite deutlich. Generell ist die Rolle der Literatur in der marxistisch geprägten Auffassung stark auf die Darstellung bzw. Diskussion der „Wirklichkeit“ fokussiert. Dies ist im Hinblick auf diese Studie bemerkenswert, weil mit den Theorien von Fleck und Kuhn zwei Modelle im Zentrum stehen, die die Frage nach der Möglichkeit der Erfassung von Wirklichkeit problematisieren. Eine formulierte politische Ideologie wie der Marxismus fußt auf einem bestimmten Verständnis von dieser, das sogar über den empirischen Bereich hinausgeht. Die differenten Gedanken und Wandlungen von Marx und Engels hin zu den heutigen Interpretationen und Derivaten des Marxismus haben auch die strukturellen Unterschiede verschiedener sich auf Marx berufender Denksysteme angedeutet und lassen sich als Denkstilmutationen im Sinne Flecks deuten. Die Frage nach dem Wesen von Wirklichkeit und historischem Wandel haben Marx und Engels selbst dezidiert prononciert. So formuliert Engels 1888 in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie zentrale Thesen eines Verständnisses des Alten und des Neuen und seiner dialektischen historischen Entwicklung. Engels betont einerseits die wegweisende Bedeutung Hegels, andererseits kritisiert er dessen fehlende Konsequenzen, die er indirekt darauf zurückführt, dass dieser zu sehr in einem Denksystem verhaftet ist: Kein philosophischer Satz hat so sehr den Dank beschränkter Regierungen und den Zorn ebenso beschränkter Liberalen auf sich geladen wie der berühmte Satz Hegels: „Alles was wirklich ist, ist vernünftig, und alles was vernünftig ist, ist wirklich.“ […] Nun ist aber die Wirklichkeit nach Hegel keineswegs ein Attribut, das einer gegebnen gesellschaftlichen oder politischen Sachlage unter allen Umständen und zu allen Zeiten zukommt. Im Gegenteil. Die römische Republik war wirklich, aber das sie verdrängende römische Kaiserreich auch. Die französische Monarchie war 1789 so unwirklich geworden, d. h. so aller Notwendigkeit beraubt, so unvernünftig, daß sie vernichtet werden mußte durch die große Revolution, von der Hegel stets mit der höchsten Begeisterung spricht. Hier war also die Monarchie das Unwirkliche, die Revolution das Wirkliche. Und so wird im Lauf der Entwicklung alles früher Wirkliche unwirklich, verliert seine Notwendigkeit, sein Existenzrecht, seine Vernünftigkeit; an die Stelle des absterbenden Wirklichen tritt eine neue, lebensfähige Wirklichkeit IV.6 Konstanten und Variablen des marxistischen Literaturbegriffs 155 237 Eine Anspielung auf ein bekanntes Zitat aus Goethes Faust I (V. 1338-1340): „Ich bin der Geist der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles was entsteht / Ist wert daß es zu Grunde geht; […] ( Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994 [Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd.-7/ 1], S.-65 (Anm. H.G.). 238 Karl Marx / Friedrich Engels: Studienausgabe in 4 Bänden. Hrsg. von Iring Fetscher. Band-1: Philosophie. Frankfurt am Main 1990, S.-181-184. - friedlich, wenn das Alte verständig genug ist, ohne Sträuben mit Tode abzugehn, gewaltsam, wenn es sich gegen diese Notwendigkeit sperrt. Und so dreht sich der Hegelsche Satz durch die Hegelsche Dialektik selbst um in sein Gegenteil: Alles, was im Bereich der Menschengeschichte wirklich ist, wird mit der Zeit unvernünftig, ist also schon seiner Bestimmung nach unvernünftig, ist von vornherein mit Unver‐ nünftigkeit behaftet; und alles, was in den Köpfen der Menschen vernünftig ist, ist bestimmt, wirklich zu werden, mag es auch noch so sehr der bestehenden scheinbaren Wirklichkeit widersprechen. Der Satz von der Vernünftigkeit alles Wirklichen löst sich nach allen Regeln der Hegelschen Denkmethode auf in den andern: Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht. 237 Darin aber grade lag die wahre Bedeutung und der revolutionäre Charakter der Hegelschen Philosophie (auf die, als den Abschluß der ganzen Bewegung seit Kant, wir uns hier beschränken müssen), daß sie der Endgültigkeit aller Ergebnisse des menschlichen Denkens und Handelns ein für allemal den Garaus machte. […] […] Die praktischen politischen Forderungen der absoluten Idee an die Zeitgenossen dürfen also nicht zu hoch gespannt sein. Und so finden wir am Schluß der „Rechts‐ philosophie“, daß die absolute Idee sich verwirklichen soll in derjenigen ständischen Monarchie, die Friedrich Wilhelm III. seinen Untertanen so hartnäckig vergebens versprach, also in einer den deutschen kleinbürgerlichen Verhältnissen von damals angemessenen, beschränkten und gemäßigten, indirekten Herrschaft der besitzenden Klassen; wobei uns noch die Notwendigkeit des Adels auf spekulativem Wege demonstriert wird. Die innern Notwendigkeiten des Systems reichen also allein hin, die Erzeugung einer sehr zahmen politischen Schlußfolgerung, vermittelst einer durch und durch revolutionären Denkmethode, zu erklären. Die spezifische Form dieser Schlußfolge‐ rung rührt allerdings davon her, daß Hegel ein Deutscher war und ihm wie seinem Zeitgenossen Goethe ein Stück Philisterzopfs hinten hing. Goethe wie Hegel waren jeder auf seinem Gebiet ein olympischer Zeus, aber den deutschen Philister wurden beide nie ganz los. 238 Engels’ Ausführungen zur „Wirklichkeit“ unterstreichen, wie evident Flecks Annahmen über die Subjektivität der Wirklichkeit sind. Die Anspielungen auf 156 IV. Marxismus und Postmarxismus als Paradigmen in der Literatur Goethe - vorher im Text wird auch auf Heinrich Heine verwiesen - deuten an, wie sehr der Zusammenhang von Weltanschauung, Denken und Literatur im marxistischen Denken akzentuiert wird. Die Untersuchungen von Marxismus und Postmarxismus haben die potenti‐ elle strukturelle Diversität von Paradigmen in der Literatur aufgezeigt. Es hat sich am Beispiel der Literatur auch gezeigt, wie totalitäre Systeme aus einem Denkstil Normen formulieren können. Literarische Paradigmen können ein Spektrum von dogmatischen Vorgaben bis hin zu offenen und diskursiven, le‐ diglich an bestimmte basale Ideen gekoppelte Denkmuster, abdecken. Totalitäre politische Systeme und ihre philosophische Basis hypostasieren aus Denkstilen feste Normen, die sie für die Literatur aus der basalen Weltanschauung entspre‐ chend ableiten und in normativen Regelpoetiken formulieren. Diskussionen finden nur in einem eng vorgegebenen Rahmen statt. Die Varianz der Auffas‐ sungen im Zuge von Marxismus und Postmarxismus hat jedoch illustriert, wie verschieden und verzweigt an Marx’ Philosophie als Denkstil bzw. Denkrahmen orientierte literarische Paradigmen sein können. IV.6 Konstanten und Variablen des marxistischen Literaturbegriffs 157 239 Teilergebnisse dieses Kapitels wurden in folgendem Aufsatz vorab publiziert und in der vorliegenden Studie weitergeführt und ausgebaut: Rebellen? Neudeutungen Georg Büchners und Heinrich von Kleists nach 1968. In: 1968. Literatur und Revolution. Hrsg. von Sikander Singh. Hannover 2019, S.-113-136. V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Heinrich von Kleists und Georg Büchners im Zuge der 1968er Bewegung 239 V.1 Wertung und Deutung klassischer literarischer Texte im Denkstilwandel Im vorigen Kapitel über Karl Marx wurde dargelegt, wie Hans Mayer Georg Büchner als Autor exponierte, der wesentliche Aspekte von Marx’ sozialen und politischen Gedanken in literarischen Texten antizipiert hat. Dabei fokussierte Mayers Sicht die Gleichzeitigkeit, d. h. Büchners Werke sollten vor dem Hinter‐ grund seiner Person und Gegenwart gedeutet werden. Unter dieser Perspektive standen auch die Ausführungen über Karl Marx und die Literatur. Die Leitfrage war, wie sich die an Karl Marx’ Ideen orientierte Literaturproduktion und -rezeption im Hinblick auf den Wandel der Schreib- und Deutungsparadigmen veränderte. Im Folgenden steht nun ein anderer Blickwinkel im Fokus. Es geht um Neudeutungen klassischer Texte vor dem Hintergrund des Wandels bestimmter Denkstile. Klassische kanonisierte Texte unterliegen in ihrer Deu‐ tung einer zeitlichen Dynamik. Als Anknüpfungspunkt zu Karl Marx bietet sich im Folgenden die Darstellung der Klassikeradaption der 1968er Bewegung an, speziell Georg Büchner spielt darin eine maßgebliche Rolle. Die literarische Programmatik der Studentenbewegung stimmt in wesentlichen Aspekten mit der Auffassung von Hans Mayer überein, dessen Thesen unter der Perspektive zu relativieren sind, dass seine Büchner-Deutung von seiner eigenen Gegen‐ wart mitgeprägt ist. Die 1968er Bewegung war auf eine signifikante Weise von marxistischen Ideen affiziert, auch von einer Revolution war häufig die Rede. Marxistische Philosophen wie Ernst Bloch wurden zu Leitfiguren der Bewegung. Die Frage nach dem Verhältnis klassischer Texte zur Gegenwart wurde im Zuge der „Querelle des Anciens et des Modernes“ in Frankreich um 1700 erst‐ mals explizit und breit diskutiert. Es ging dabei um die grundsätzliche Frage, ob 240 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt am Main 1992, S.-706-810. 241 Ebd., S.-724. Kursivierung im Original. 242 Ebd., S.-733f. Kursivierung im Original. 243 Ebd., S.-732. Kursivierung im Original. die Texte der Antike für die Gegenwart noch Bedeutung hatten. Lessing, Herder, Friedrich Schlegel und Schiller griffen die Frage im deutschen Sprachraum auf und diskutierten das Problem in programmatischen Texten. Diese verhandeln den Zwiespalt zwischen der Zeitbedingtheit von Literatur einerseits und einer zeitlosen Ästhetik oder anthropologischen Konstanz andererseits. Schiller bildet dies in seiner wesenhaften Einteilung in naive und sentimentalische Dichtung nuanciert ab. 240 Das Naive repräsentiert das universell Wesenhafte in der Dichtung, die Natur, die in der antiken Literatur erfasst wurde. Wenn man sich der schönen Natur erinnert, welche die alten Griechen umgab, wenn man nachdenkt, wie vertraut dieses Volk unter seinem glücklichen Himmel mit der freien Natur leben konnte, wie sehr viel näher seine Vorstellungsart, seine Empfindungsweise, seine Sitten der einfältigen Natur lagen, und welch ein treuer Abdruck derselben seine Dichterwerke sind, so muß die Bemerkung befremden, daß man so wenige Spuren von dem sentimentalischen Interesse, mit welchem wir Neuere an Naturszenen und an Naturcharaktere hangen können, bei demselben antrifft. 241 Das Sentimentalische repräsentiert den Schreibenden der Gegenwart, der in einer komplexer gewordenen Welt lebt und durch deren Einflüsse auf sein Denken und Schreiben den Zugang zur Natur respektive dem Ideal verloren hat. Ist der Mensch in den Stand der Kultur getreten und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moralische Einheit, d. h. als nach Einheit strebend sich äußern. Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich statt fand, existiert jetzt bloß idealisch: sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm; als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Tatsache seines Lebens. 242 Von Schillers idealistischem Standpunkt aus bezeichnet sentimentalische Dich‐ tung den Versuch des Gegenwartsautors, das verloren gegangene zeitlose Natürliche wiederzufinden und zum Ausdruck zu bringen: Der Dichter […] ist entweder Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter. 243 160 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 244 Ebd., S.-735. Kursivierung im Original. 245 Schiller bringt dieses Problem an einer Stelle plastisch zum Ausdruck. Ebd., S. 727: „Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefühl, was Homers Seele füllte, als er seinen göttlichen Sauhirt den Ulysses bewirten ließ, als was die Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer lästigen Gesellschaft diesen Gesang las.“ 246 Italo Calvino: Warum Klassiker lesen? München / Wien 2003, S. 9. Kursivierung im Original. Dieser Weg, den die neueren Dichter gehen, ist übrigens derselbe, den der Mensch überhaupt sowohl im Einzelnen als im Ganzen einschlagen muß. Die Natur macht ihn mit sich Eins, die Kunst trennt und entzweiet ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück. Weil aber das Ideal ein Unendliches ist, das er niemals erreicht, so kann der kultivierte Mensch in seiner Art niemals vollkommen werden, wie doch der natürliche Mensch es in der seinigen zu werden vermag. 244 Schillers idealistisch gedeutete Differenzierung lässt sich versachlichen, indem man seine Kategorien als Idealtypen im Sinne Max Webers modifiziert. Es stellt sich an jeden klassischen Text die Frage nach dem Verhältnis, wie er in seiner Zeit verstanden und empfunden wurde und wie seine Wahrnehmung sich zeitbedingt wandelte. 245 Diese Frage lässt sich wegen der Überlagerung der Ebenen in keinem Einzelfall definitiv beantworten, doch kann die heuristische Differenzierung dieses Kontinuums mithilfe der Einordnung in idealtypisch konstruierbare Schreib- und Deutungsparadigmen Erkenntnisse liefern. Klas‐ sische Werke werden im Verständnis einer Gegenwart häufig als Idealausfüh‐ rungen einer bestimmten Form gedeutet, womit sie auch als Vorbilder respektive Paradigmen dargestellt werden. Problematisch ist an dieser Sichtweise, dass sich die Zeitebenen vermischen: Das ‚Zeitlose‘ bzw. ‚Natürliche‘ wird aus einer Zeit heraus in die literarischen Texte hineininterpretiert. Italo Calvino formuliert diese Frage sehr anschaulich, indem er auf für jeden Leser als Beispiele nachvollziehbare rezeptionsästhetische Elemente verweist. Jeder klassische Text bzw. die entsprechenden Deutungsparadigmen wandeln sich mit der Zeit und beeinflussen den Leser der nächsten Generation. Vor diesem Hintergrund differenziert er zwischen der Gegenwart des Textes und seiner Rezeptionsgeschichte. „Ein Klassiker ist ein Buch, das nie aufhört, das zu sagen, was es zu sagen hat“, schreibt Calvino in seinem Essay Warum Klassiker lesen? aus dem Jahre 1981. 246 Doch ist ihre Rezeption, Wahrnehmung und Deutung einem Wandel unterworfen, was Calvino in seinen Ausführungen hervorhebt: Klassiker sind jene Bücher, die beladen mit den Spuren aller Leseerfahrungen daher‐ kommen, die unserer vorausgegangen sind, und die hinter sich die Spur herziehen, die V.1 Wertung und Deutung klassischer literarischer Texte im Denkstilwandel 161 247 Ebd. Kursivierung im Original. sie in der Kultur oder den Kulturen (oder einfach in der Sprache oder den Bräuchen) hinterlassen haben, durch die sie gegangen sind. Dies gilt sowohl für die alten als auch für die modernen Klassiker. Wenn ich die Odyssee lese, lese ich den Text Homers, kann aber nicht all das vergessen, was Odysseus’ Abenteuer über die Jahrhunderte hinweg an Bedeutung erlangt haben, und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob diese Bedeutungen im Text enthalten waren oder Verkrustungen, Verzerrungen und Ausweitungen sind. Lese ich Kafka, komme ich nicht daran vorbei, die Legitimität des Wortes „kafkaesk“ zu bestätigen oder abzustreiten, das alle Viertelstunde zu Recht oder zu Unrecht benutzt wird. Wenn ich Väter und Söhne von Turgenjew oder Die Dämonen von Dostojewskij lese, kann ich nicht umhin, daran zu denken, wie sich diese Figuren bis in unsere Tage immer wieder neu verkörpert haben. 247 Das Markante an Klassikern ist, dass sie einer doppelten, oder mehr noch einer dialektischen Projektion unterliegen. Einerseits gelten sie als zeitlos und uni‐ versell, andererseits bieten sie rezeptionsästhetisch das anschaulichste Beispiel für den diachronen Wandel in der Rezeption und Deutung bestimmter Texte. Letzteres lässt sich anhand eines Beispiels aus der bibliothekarischen Praxis illustrieren. Die Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek erhielt 2018 eine umfangreiche Sammlung mit Büchern zu Goethe und bereits beim Sichten der Titel traten die entsprechenden zeitgemäßen Deutungen und Auslegungen Goethes und vor allem der Faust-Figur im jeweils weltanschaulichen Kontext eindrucksvoll und plastisch hervor. Schlagwortartig seien einige sprechende Titel angeführt: Paracelsus, Paracelsisten und Goethes Faust; Goethe der deutsche Prophet in der Faust- und Meisterdichtung; Die Rettung des Abendlandes durch den Geist der Goethezeit; Faust als Mythos; Goethe und Bismarck. Leitsterne für die Jugend; Goethe’s Faust als Weltanschauung und Geheimlehre; Weib und Sittlichkeit in Goethes Denken; Goethes Faust und die Erziehung des jugendlichen Menschen; Faust - Hamlet - Christus. Offensichtlich ist die Deutung und Kanonisierung der Klassiker gekoppelt an die jeweils wirkenden Auffassungen von Literatur, ihrer Funktion, ihrer Ästhetik. Die Einstellung zu den Klassikern ist ein Spiegel der jeweils vor‐ herrschenden literarischen Denkstile. Die Analyse dieses Verhältnisses kann zugleich dabei helfen, Elemente eines literarischen Paradigmas zu fassen und zu exemplifizieren. Mit dem Anspruch der 1968er Bewegung, eine Art Revolution zu vollziehen, zeigt sich eine Affinität zu Kuhns Modell. Die Studentenbewegung von 1968 mag keinen politischen Umsturz mit sich gebracht haben, dennoch ist sie 162 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 248 Markus Meik: „Das muss man gelesen haben …“. Peter Schneiders Erzählung „Lenz“. Anmerkungen zur Entstehung eines Kultbuches [Nachwort]. In: Peter Schneider: Lenz. Eine Erzählung. 2. Aufl. Köln 2010, S.-113‒137, hier S.-114. verbunden mit einem generellen Wechsel zahlreicher Werte, die in der mo‐ dernen Gesellschaft von heute selbstverständlich sind. Im Jahr 1968 konnte der Lebensstil der Kommune 1 noch provozieren, waren eine Lebensgemeinschaft ohne Trauschein als „wilde Ehe“ noch sittlich verpönt, Homosexualität und sogenannte „Kuppelei“ noch strafbar. Markus Meik schreibt im Nachwort zur Neuausgabe von Peter Schneiders Lenz 2008: „1968 steht als Chiffre für einen Neuanfang: emphatischer gesprochen: für eine Revolution des alltäglichen Lebens.“ 248 1968 ist mehr als eine Studentenrevolte, es steht für eine Krise traditioneller Werte und Auffassungen, man kann seine Folgen mit einem Paradigmenwechsel assoziieren. Der Komplex 1968 lässt sich zu einem Denkstil typisieren, der ganz unterschiedliche Elemente verbindet und koppelt, die sich über alle gesellschaftlichen Sektoren wie das Politische, den Lebensstil, die Kultur und auch die Literatur erstrecken. Ich werde solche Zusammenhänge im Folgenden exemplarisch unter dem Aspekt der Rezeption klassischer Literatur im Zuge der 1968er Bewegung herausstellen, wobei der Fokus auf Kleist und Büchner liegt. Die Ausführungen gliedern sich in drei Teile, die eine Entwicklung im zeitlichen Ablauf spiegeln. Die marxistische Theorie bildete ein basales ideologisches Fundament der Studentenbewegung. Daher wird zunächst ein Blick auf einige ausgewählte Passagen marxistischer Literaturtheoretiker geworfen, in denen diese sich über Rolle und Funktion klassischer Werke äußern. Als zweites soll Volker Schlön‐ dorffs Verfilmung der Kleist-Novelle Michael Kohlhaas behandelt werden, die 1969 unter dem Titel Michael Kohlhaas - Der Rebell entstand und unmittelbar vom aktionistischen Geist der Zeit getragen ist. Schließlich wird auf Peter Schneiders Erzählung Lenz von 1973 eingegangen, die eine Adaption der gleich‐ namigen Büchner-Erzählung darstellt. Dieses Werk steht für einen Paradigmen‐ wechsel im Literaturverständnis der 1968er Generation. Schneider war ein radikaler Protagonist der Studentenbewegung, der das Ende der bürgerlichen und unpolitischen Literatur einforderte. Sein Lenz stellt eine Rückbesinnung und Korrektur eigener Werte hin zu Individualität dar. Er gilt als einer der Initialtexte der sog. „Neuen Innerlichkeit“ oder „Neuen Subjektivität“. V.1 Wertung und Deutung klassischer literarischer Texte im Denkstilwandel 163 V.2 Die deutschen Klassiker im sozialistischen Literaturverständnis Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács aus dem Jahr 1938 spiegelt in der Thematisierung des Verhältnisses Goethe - Kleist poin‐ tiert den marxistischen Diskurs über die klassische deutsche Literatur. Die Korrespondenz ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: es finden sich zum einen exemplarisch Differenzen innerhalb einer weltanschaulich verbundenen sozialen Gruppe, zum anderen grundlegende, konstante und bis heute präsente Positionen der politischen Linken. In der Diskussion zwischen Lukács und Seghers treten zudem typische Momente eines Generationenkonflikts hervor, und dies lässt Analogien zu 1968 erkennen. Seghers schreibt am 28. Juni 1938 an Lukács: Ich möchte eine Episode aus der deutschen Literaturgeschichte anführen, in der vielleicht manches zum Ausdruck kommt, was eure Diskussion übrigläßt. Bekanntlich hat Goethe besonders in einer bestimmten Zeit seines Lebens sich außerordentlich ab‐ fällig über gewisse Erscheinungen der jungen Schriftstellergeneration geäußert. Seine schroffste Gegenüberstellung „klassisch gleich gesund, romantisch gleich krank“ kennst Du wohl und auch seine kleine Arbeit über „Forcierte Talente“ usw. Er hat Kleist und viele andere mit Kälte aufgenommen. Dagegen hat er einen gewissen Za‐ charias Werner, den heute kein Mensch mehr kennt, außerordentlich warm behandelt und nach Kräften gefördert, - einen mittelmäßigen Spießer, der in methodischen Fragen mit ihm auf einem Boden stand. Nun kommt es ja häufig vor, daß geniale Menschen eine große Konzeption haben, nur aus dieser heraus denken können und eher die mittelmäßigen, angeglichenen verstehen, als die andersartigen. Nur handelt es sich eben hier um eine bestimmte Schriftstellergeneration. Und was für eine: es starb Kleist 1811 durch Selbstmord, es starb Lenz 1792 im Wahnsinn, Hölderlin starb 1843, seit 1804 in Wahnsinn, es starb Bürger 1794 geisteskrank, es starb die Günderode durch Selbstmord usw. Auf der andern Seite: Goethe wurde alt, uralt, er vollendete sein Werk, ebendieses Werk, das von seinem Volk angestaunt wurde und wird, unheimlich für dieses Volk und fast unerklärlich durch seine Tiefe und Breite, durch seine Kompaktheit und durch seine Totalität, eben ein Werk, das den Menschen zeigt in allen seinen Menschen-Möglichkeiten. Subjektiv aber war dieses Werk erkauft durch eine starke Anlehnung seines Schöpfers an die bestehende Gesellschaft, eine Auflehnung hätte vermutlich dieses Werk gefährdet. Eine große Abneigung hatte 164 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 249 Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács. In: Marxismus und Literatur 1969, II, S.-110-138, hier S.-110f. 250 Eckermann: Gespräche mit Goethe 2011, S.-560 (27. April 1825). 251 Briefwechsel Seghers Lukács 1969, S.-123. Kursivierung im Original. Goethe gegen jede Art von Auflösung - die Disharmonie der Schriftstellergeneration, deren Krankheit ihm folgerichtig dünkte […] 249 In dieser Passage treten sowohl grundsätzliche Aspekte für die Projektion von Klassikern in die jeweilige Gegenwart hervor als auch für eine linke, sozialistische Sicht auf die Literatur. Mit dem Vorwurf des Opportunismus sah sich Goethe bereits zu Lebzeiten konfrontiert: „Nun heißt es wieder, ich sei ein Fürstendiener, ich sei ein Fürstenknecht. Als ob damit etwas gesagt wäre! - Diene ich denn etwa einem Tyrannen? einem Despoten? - Diene ich denn etwa einem Solchen, der auf Kosten des Volkes nur seinen eigenen Lüsten lebt? - Solche Fürsten und solche Zeiten liegen gottlob längst hinter uns. […]“ 250 sagt er in den Gesprächen mit Eckermann. Lukács antwortet Seghers am 28. Juli 1938: Der Gegensatz zwischen Goethe und Kleist läßt sich natürlich in einem noch so ausführlichen Brief nicht darstellen. Ich möchte Dich nur auf eines aufmerksam machen, nämlich auf die Beziehung beider zu Frankreich, zu Napoleon. Was immer Napoleon sonst gewesen sein mag, er war für Teile von Deutschland ein Zertrümmerer der Reste des Feudalismus. Als solchen haben ihn die größten Deutschen dieser Zeit, die Goethe und Hegel, verehrt. Und Heine schreibt später sehr richtig, daß ohne Französische Revolution und Napoleon die ganze deutsche klassische Dichtung und Philosophie von dem Duodezabsolutismus des damaligen Deutschland zertreten worden wäre. Kleist hat in dieser Zeit die Mischung von Reaktion und Dekadenz repräsentiert. Darum hat Goethe ihn abgelehnt. 251 Auch wenn Seghers dialektisch argumentiert und Lukácz die Ambivalenz Goethes wie Kleists dezidiert darlegt, stellt sich die Frage, inwieweit bei der Linken ein stereotypes stilisiertes Bild tradiert wurde, das das Denken von 1968 affizierte. Aus der affektuellen Sympathie mit dem leidenden, unterdrückten Menschen erwächst eine Umkehrung der von Seghers herangezogenen Goethe’schen Ge‐ genüberstellung „klassisch gleich gesund, romantisch gleich krank“. Das Gesunde, Angepasste, Saturierte, Alte, verkörpert von Goethe, wird pejorativ gedeutet, das Sensible, an der Welt Leidende wird assoziiert mit dem Nonkonformismus, dem Rebellischen, dem Jungen und symbolisch überhöhend auf Autoren wie Kleist, Hölderlin, Lenz oder die Günderode übertragen. Ein Zitat aus dem Vorwort zu V.2 Die deutschen Klassiker im sozialistischen Literaturverständnis 165 252 Teil 1 des Vorworts von: Kleist. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Hrsg. von Walther Victor. 1.-20. Tsd. Weimar 1953, S. 3-5. [Lesebücher für unsere Zeit. Hrsg. von Walther Victor]. Zit. nach http: / / www.kleist.org/ index.php/ lebensspuren-nachruhm/ 134-1952-kleist-in -der-ddr (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). 253 Friedrich Wolf: Kunst ist Waffe. Eine Feststellung. In: Marxismus und Literatur 1969, II, S.-250-262, hier S.-254. Kursivierung im Original. 254 Ebd. Kursivierung im Original. einem Kleist-Lesebuch, das 1953 in der DDR erschien, veranschaulicht, wie auf Lukács’ Auffassung fußend ein Kleist-Bild projiziert und stilisiert wird, das im politischen Diskurs instrumentalisiert wurde: Georg Lukacs hat in seinem Werk „Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts“ Licht und Schatten über dem Bilde Heinrich von Kleists richtig verteilt. Klassenmäßig sei der Dichter ein preußischer Junker gewesen. In einzelnen seiner Stücke ein Vorläufer der Dekadenz (Verfallserscheinungen) der späteren bürgerlichen Literatur. Dort aber, wo Kleist im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, der Realität, gestaltet habe, sei er, ohne es zu wissen und zu wollen, einer der bedeutendsten Realisten der ganzen deutschen Literatur geworden! Dieser Zusammenstoß Kleists mit Themen aus der realen Welt, dem gesellschaftlichen Leben, hat uns so unvergängliche Meisterwerke wie den „Zerbrochenen [! ] Krug“ und den „Michael Kohlhaas“ beschert. In unseren Tagen der nationalen Bedrängnis jedoch, angesichts der Bedrohung unseres Vaterlandes durch das Bündnis der imperialisti‐ schen Volksverräter des Westens mit den räuberischen amerikanischen Aggressoren, heute, wo es um Einheit und Frieden geht und wo alle wahren Patrioten aufgerufen sind, sich zum Schutz der Lebensrechte des deutschen Volkes zu wappnen, - in dieser unserer deutschen Gegenwart bringt sein leidenschaftliches Aufbegehren gegen nationale Unterdrückung und Versklavung Heinrich von Kleist uns besonders nahe. 252 Der kommunistische Autor und Pionier des Agitprop-Theaters Friedrich Wolf hebt 1928 in seinem Aufsatz Kunst ist Waffe. Eine Feststellung dezidiert die Be‐ deutung von Kleist und Büchner im revolutionären Kampf hervor. Er ordnet den historischen Kohlhaas, d. i. Hans Kohlhase, den „wahre[n] Heldengeschichte[n] unseres Volkes“ zu, die „von höfischen und akademischen Geschichtsklitterern totgeschwiegen oder umgefälscht wurden, die Vitalienbrüder […] zu Seeräu‐ bern, die kämpfenden Bauern zu Mordbrennern, ihre Führer: der Geyer, der Münzer, der Hutten - ganz wie die heutigen Revolutionäre -, zu Hetzern gestempelt, […]“. 253 Der Auftrag des Dichters wird am Beispiel von Hutten verdeutlicht: „Wie ein Symbol fand man bei diesem großen politischen Dichter in seiner Totenkammer als Nachlaß nur zwei Dinge, einen Federkiel und sein Schwert! “ 254 166 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 255 Ebd., S.-255f. Kursivierung im Original. Die identifikatorische Projektion auf die Bauernkriege und Vitalienbrüder war unter sozialistischen Autoren in jener Zeit verbreitet, man kann zum Bei‐ spiel Ernst Blochs Thomas Münzer als Theologe der Revolution (1921) oder Gustav Reglers Bauernkriegsroman Die Saat (1936) anführen. Von Regler existiert im Nachlass ein Entwurf zu einem Roman über die Vitalienbrüder mit dem Titel Gottes Freund, aller Welt Feind (entst. 1936). Die politische Rechte griff übrigens auch auf diese Tradition zurück, deutete sie und eignete sie sich entsprechend ihrer Ideologeme an. Wolf setzt die Novelle von Kleist in Bezug zum seinerzeit aktuellen politischen Aktivismus: Einen Kerl dieses Volkes aber, diesen Michael Kohlhaas, hat nach zweihundert Jahren der Dichter Kleist als großes Sinnbild herausgehoben. In dieser seiner erdhaftesten Arbeit hat der Dichter nicht, wie damals üblich, die Fürsten- und Religionskämpfe ins Zentrum gerückt, sondern den Gerechtigkeitskampf und den Untergang des gemeinen Mannes. Ihm kam es darauf an, die gepeitschte, verhöhnte, rechtlose Kreatur, diesen Typ des „gemeinen Mannes“ jener Tage, einmal mit letzter dichterischer Schärfe und Wahrhaftigkeit herauszutreiben, dann aber - und das ist wichtiger! - den Einzelmenschen Kohlhaas aus der historischen und sozialen Bedingtheit der ganzen Zeit heraus zu begründen. So wird Kohlhaas, der Mordbrenner und „Hetzer“, mit einem Male ein Gerechtigkeitskämpfer, ein Vorkämpfer einer kommenden Zeit. Hier eilt Kleist den Klassikern weit voraus in unsre Tage; hier spricht nicht ein lorbeergekrönter Weimarer, hier ruft ein selbst gehetzter und gepeinigter Mensch, Dichter und Seher; hier steht Kleist innerst verwandt neben Büchner; hier ist der tätige Bruder des ‚Woyzeck‘, hier tönt der Aufschrei der Kreatur! 255 Diese Stelle verdeutlicht, dass die Schaffung positiver Traditionen in der Ge‐ schichte und der Rekurs auf sie ein gängiger Topos jeweils aktueller Diskurse ist. Der oben skizzierte Dualismus tritt hervor, wenn der „lorbeergekrönte Weimarer“ dem „gehetzten und gepeinigten Menschen“ gegenübergestellt wird. „Dichter und Seher“ steht für einen bei der Linken verbreiteten spirituellen, mystifizierenden Hang zur Metaphysik. Wolf stellt hier Georg Büchner in einen Kontext mit Heinrich von Kleist: Damit spannt sich der große Brückenbogen aus der Zeit der Bauernkriege mitten hinein in unsere Zeit! Kein Zufall, daß die jungen dramatischen Dichter aus ihrer ersten Empfindungsfrische mit einem politischen Weltanschauungsdrama begannen … […] Büchner in seinem grandiosen ‚Woyzeck‘, […] die große soziale Bewegung unserer Tage, die erst heraufdämmert. V.2 Die deutschen Klassiker im sozialistischen Literaturverständnis 167 256 Ebd., S.-257. Kursivierung im Original. 257 „Jede Generation braucht eigene Geschichten.“ Gespräch mit Volker Schlöndorff, Deutsche Welle, 5. Mai 2017, http: / / www.dw.com/ de/ schl%C3%B6ndorff-jede-generati on-braucht-eigene-geschichten/ a-38696502 (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). Hier steht der Dichter auf Vorposten, hier steht er am verantwortlichsten Punkte seiner Sendung, hier ist er Zeitgewissen! 256 Es ist offensichtlich, dass sich die Rekurse auf Kleist und Büchner im Zuge der 1968er Bewegung an diesem Paradigma der marxistischen Literaturtheorie orientieren. Unter diesem Fokus soll zunächst Volker Schlöndorffs Verfilmung von Kleists Novelle Michael Kohlhaas betrachtet werden. V.3 Volker Schlöndorffs Kleist-Verfilmung Michael Kohlhaas - Der Rebell Der Film von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 1969 nimmt explizit Bezug auf die 1968er Bewegung. Im Vorspann werden Bilder von den Unruhen und Protesten aus der Zeit eingeblendet, so wird der Betrachter bereits vor der eigentlichen Handlung auf diesen Deutungsaspekt als zentralen hingelenkt. Der Film selbst stilisiert und inszeniert die Novelle von Kleist entsprechend. Auch das Casting ist ganz im Geist der Zeit: Eine in der Besetzungsliste hervor‐ gehobene Nebenrolle übernahm Anita Pallenberg, Model, Groupie, Stilikone und seinerzeit Lebensgefährtin des Rolling-Stones-Gitarristen Keith Richards. Richards, der bis heute mit Mick Jagger den kreativen Kopf der Gruppe bildet, hat einen Cameo-Auftritt in dem Film. Die Rolling Stones veröffentlichten Ende 1968 mit Street Fighting Man einen Song, der unmittelbar auf die Proteste des Jahres Bezug nahm und zu einer Hymne der Bewegung wurde. „The time is right for a palace revolution“ heißt die bekannteste Zeile des Liedes. Verzweiflung, Wut und Entschlossenheit des gegen das Unrecht ankämpfenden „Street Fighting Man“ finden sich auch in der Mimik des Kohlhaas-Darstellers David Warner. Schlöndorff sieht den Film heute als „vollkommen misslungen“, 257 bei der Kritik und an den Kinokassen floppte er, dennoch gilt er als Klassiker. Das liegt wahrscheinlich daran, dass er gerade in seinen Defiziten und Widersprüchen authentisch den Geist einer Epoche widerspiegelt. In der Tat lässt sich der Film als ein kurioses Gemisch aus Action- und Autorenkino charakterisieren, lediglich frei angelehnt an die literarische Vorlage. 168 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 258 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Paralleldruck ‚Phöbus‘ und Buchfassung. In: ders.: Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Gedichte Schriften. Hrsg. von Klaus Müller- Kleists Erzählung spielt Mitte des 16. Jahrhunderts und geht auf eine his‐ torische Quelle zurück. Der Rosshändler Michael Kohlhaas setzt sich gegen ein ihm von staatlicher Seite zugefügtes Unrecht zur Wehr. Nachdem seine juristischen Bemühungen erfolglos bleiben, wendet er Gewalt an. Schlöndorff reichert den Stoff bisweilen melodramatisch an, vor allem im Zusammensein zwischen Kohlhaas und seiner Frau, besonders bei deren Tod. Sie wird in Dresden von dem Gefolge des Kurfürsten überrollt, als sie eine Petition von Kohlhaas übergeben will. Mit letzter Kraft kehrt sie zurück und stirbt bei der Ankunft in den Armen ihres Mannes. Die Bildhaftigkeit in den Landschafts- und Reitszenen erinnert an Karl-May-Filme und Italowestern der 1960er Jahre, wobei die für damalige Verhältnisse spektakuläre Brutalität letzterer in die Darstellung der Kämpfe eingeflossen ist. Auch in Dramaturgie und Kameraeinstellungen lässt sich manche Parallele zum ‚Spaghettiwestern‘ finden. Politisch ist der Film widersprüchlich und manches bleibt in der Schwebe. Grundsätzlich wirft er die damals vieldiskutierte Frage der Legitimität von Gewalt gegen die unterdrückende Obrigkeit auf. Der Zwiespalt der Formel, Gewalt gegen Dinge ja, gegen Menschen nein, wird deutlich. Der Film führt zahlreiche heute sogenannte Kollateralschäden von Kohlhaas’ Handeln auf. Am eindringlichsten in einer nicht aus der Novelle stammenden Episode, in der Kohlhaas einen seiner Leute, der damit prahlt, eine an den Pranger gekettete Frau vergewaltigt zu haben, sofort aufhängen lässt. Die Darstellung evoziert, wie Kohlhaas in eine Gewaltspirale gerät. Oft steht er erschüttert vor den Folgen des von ihm angestoßenen Prozesses. Besonders in der Szene, als er die Frau seines Widersachers Tronka niedergemetzelt auffindet, wird dies deutlich. Zwei Aspekte, unter denen Schlöndorff die Vorlage signifikant stilisiert, sind im Kontext bedeutsam. Erstens: Der Begriff des Rebellen und der Rebellion taucht im Novellentext zwar vereinzelt auf, doch erscheint die Wortwahl eher beiläufig und auf den Widerstand gegen staatliche Organe beschränkt, nicht auf die mit Rebellion verbundene politische Implikation. Schon der Titel Michael Kohlhaas - Der Rebell - häufig wird in Paratexten auch der Vorname weggelassen - stellt eine Differenz zu Kleists Original dar. Am Beginn des Films wird der Anfang der Novelle in abgewandelter Form aus dem Off rezitiert. Dieser Text weicht signifikant von dem der Novelle ab. Dort heißt es: „[D]ie Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ 258 Im Filmintro hingegen wird ein sozialer wie politischer Konflikt V.3 Volker Schlöndorffs Kleist-Verfilmung Michael Kohlhaas - Der Rebell 169 Salget. Frankfurt am Main 2005 [Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Bd. 5], S.-11-142, hier S.-13. 259 M I C H A E L K O H L H A A S - D E R R E B E L L . Regie: Volker Schlöndorff. Drehbuch: Edward Bond. D 1969, 2’57-3’09. impliziert: „[A]ber sein bedingungsloses Bestehen auf diesen Tugenden brachte ihn in Konflikt mit der Gesellschaft und den Obrigkeiten, das Ergebnis war Rebellion, Brandstiftung und Mord.“ 259 Auffällig ist, dass Kohlhaas im Vergleich zur Novelle nicht mit dem Schwert hingerichtet, sondern durch Rädern zu Tode gefoltert wird - dies lässt sich als Verweis auf die von Wolf auch angesprochenen Bauernkriegsführer lesen. Kleist wird bis heute als „rebellischer Klassiker“ tituliert, es stellt sich die Frage, ob diese Deutung seines Charakters durch seine Rezeption um 1968 beflügelt wurde. Der in seiner psychischen Labilität sprunghafte Kleist lässt sich in Person und Haltung nicht eindeutig fassen, daher eröffnet sich ein breiter und ambivalenter Spielraum bei der Deutung seines Wesens. Zweitens hat Schlöndorff eindeutige Referenzen zur Gegenwart der Stu‐ dentenrevolte hinzugefügt. Ein Neffe des Widersachers Tronka, ein Student, schließt sich mit einem Kommilitonen Kohlhaas an, nachdem dieser mit seinen Leuten Tronkas Burg überfallen hat. Dies spielt auf die Herkunft der meisten der Protagonisten und Mitwirkenden der Studentenrevolte aus den oberen Schichten der westlichen Gesellschaften an. Ebenfalls als eine Referenz an die Zeit ist eine Szene zu deuten, in der sich eine aufgebrachte Menge mit Kohlhaas solidarisiert und die Ordnungskräfte mit Pflastersteinen bewirft. Der Pflasterstein gewann im Zuge der Unruhen um 1968 symbolische Bedeutung. Der Film hinterlässt in der Gewaltfrage einen gespaltenen Eindruck, aus der heutigen Perspektive umso mehr, als der aus der APO erwachsene Terrorismus der 1970er Jahre die Sichtweise im Nachhinein beeinflusst. Über Kleists Novelle wird seit jeher viel diskutiert. Sie dient bis heute als Folie und Exempel im Hinblick auf den Zwiespalt von Recht und Gerechtigkeit wie Legalität und Legitimität. Der Stoff interessiert Juristen und Literatur‐ wissenschaftler gleichermaßen. Schlöndorffs Film weist Affinitäten zur oben angeführten Interpretation von Friedrich Wolf auf, der Kohlhaas mythisierend in eine Reihe stellt mit den Führern der Bauernkriege, den Rebellen gegen den Feudalstaat. Günter Blamberger zieht eine Traditionslinie in der Interpretation von Michael Kohlhaas als Kämpfer gegen ein politisches System: Michael Kohlhaas, Rebell und Fanatiker Begreiflich ist, warum Kleists Kohlhaas im Exil zitiert wird, warum Bertolt Brecht 1935 ein Filmexposé verfasst. Begreiflich ist auch, warum Kleist von Dissidenten im Osten 170 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 260 Günter Blamberger: Michael Kohlhaas, Rebell und Fanatiker. http: / / www.heinrich-v on-kleist.org/ index.php? id=426 (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). Kursivierung im Original. 261 Kleist: Erzählungen 2005, S.-13. 262 Ebd. 263 Ebd., S.-142. Deutschlands nach 1945 ebenso als Systemsprenger entdeckt wird wie im Westen. Kohlhaas liefert das Vorbild für das Leiden und den Widerstand gegen staatliche Rechtsverletzungen. Volker Schlöndorff dreht ein Jahr nach der Studentenrevolte 1968 den Film Kohlhaas, der Rebell, Heinrich Böll lässt sich von Kleists Novelle zu seiner 1974 veröffentlichten Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum inspirieren, und noch 1985 führt der damalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Horst Sendler, in seinem Buch Michael Kohlhaas gestern und heute einen historischen und juristischen Diskurs über die Wurzeln des deutschen Terrorismus. 260 Gewiss lässt sich aus Kleists Novelle die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und eine Kritik an der häufig praktizierten willkürlichen Machtausübung herauslesen, dennoch spielt dies eher auf singuläre persönliche oder strukturelle Fehler an. Der Text stellt keine Systemkritik in toto dar und impliziert schon gar nicht die Forderung nach einem politischen Umsturz. Die Aussage der Novelle kann man eher darin sehen, dass es Aufgabe jeder staatlichen Ordnung ist, Fälle wie den von Kohlhaas zu vermeiden, Recht und Gerechtigkeit, Naturrecht und positives Recht in Einklang zu bringen. Kleist pointiert dieses Moment, indem er dem negativ konnotierten Kurfürsten von Sachsen als positives Exempel den Kurfürsten von Brandenburg gegenüberstellt, der bei Schlöndorff bezeich‐ nenderweise nicht auftaucht. Die Erzählung entwickelt ein nachvollziehbares Psychogramm, wie Kohlhaas, von Gefühlen verleitet, durch konsekutive wie tragische Wendungen in eine Gewaltspirale gerät, aus der er sich dann selbst nicht mehr lösen kann. Die nuancierte Darstellung der Widersprüchlichkeit zwischen „dem rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ 261 macht Kleists Novelle so bedeutend. Dennoch ist schon im ersten Abschnitt eine unzweideutige Wertung seines Handelns enthalten: „[D]ie Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht aus‐ geschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ 262 Besonders der Schlusssatz der Novelle - „Vom Kohlhaas aber haben noch im vergangenen Jahrhundert, im Mecklenburgischen, einige frohe und rüstige Nachkommen gelebt.“ 263 - signalisiert die Versöhnung und Wiederherstellung des Rechts, da insinuiert wird, dass Kohlhaas in den „frohen und rüstigen“ Nachkommen weiterlebt. V.3 Volker Schlöndorffs Kleist-Verfilmung Michael Kohlhaas - Der Rebell 171 264 Wolfgang Kraushaar: Rebellion oder Selbstjustiz? Michael Kohlhaas als Projektions‐ figur zur Zeit der 68er-Bewegung. In: Ulrich Bielefeld / Heinz Bude / Bernd Greiner (Hrsg.): Gesellschaft - Gewalt - Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hamburg 2012, S.-587-609, hier S.-605. In seinem Aufsatz Rebellion oder Selbstjustiz? Michael Kohlhaas als Projekti‐ onsfigur der 68er Bewegung argumentiert Wolfgang Kraushaar, dass Kleists Kohlhaas weder ein Terrorist noch ein Rebell sei: Er war eher jemand, der Selbstjustiz verübte. In den 1970er Jahren hätte er vermutlich am besten von Charles Bronson dargestellt werden können, jenem Mann, der die Hauptrolle in einem populären Film gespielt hat, in dem ein Familienvater zum Rächer wird, weil seine Frau und seine Tochter vergewaltigt worden sind, und der den symptomatischen Titel „Ein Mann sieht rot“ trug. 264 Der Kohlhaas-Film und seine Stilisierungen werden für Kraushaar zum Aus‐ gangspunkt einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Gewaltfrage und dem sich aus der 68er Bewegung entwickelnden Terrorismus. Er setzt sich differenziert mit der Behandlung der Frage der Legitimität von Gewalt gegen die Obrigkeit bei den geistigen Vätern der 1968er Bewegung Herbert Marcuse, Jean-Paul Sartre, Walter Benjamin auseinander und damit, wie deren Schriften apologetisch ausgelegt wurden. V.4 Peter Schneiders Büchner-Adaption Lenz als Ausdruck eines Denkstilwandels Auch Georg Büchner spielte im literarischen Verständnis der 1968er Bewegung als Klassiker eine signifikante Rolle. Im Gegensatz zu Kleist war Büchner als Person unumstritten. Er war selbst Student, als er 1834 das Flugblatt Der Hessische Landbote verfasste. Vornehmlich durch diese Schrift wurde er zu einer Symbol- und Identifikationsfigur des politischen Widerstands und galt als Inbegriff des aktiven, revolutionären Schriftstellers. Heinrich Böll stellt in seiner Dankesrede zum Büchner-Preis vom 21. Oktober 1967, Georg Büchners Gegenwärtigkeit, einen direkten Bezug zur aktuellen Studentenbewegung her und spielt auf die Demonstration in Berlin anlässlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 an, bei der der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde: Ich wünschte mir in diesen neuen Hessischen Landboten hinein eine genaue Analyse der Tatsache, daß hierzulande auf Grund eines mysteriösen Protokolls staatsbesu‐ chende Demokraten und Sozialisten mit mühsamem, gekrönte Häupter und Fürstlich‐ 172 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 265 Heinrich Böll: Georg Büchners Gegenwärtigkeit. In: ders: Essayistische Schriften und Reden 2. 1964-1972. Hrsg. von Bernd Balzer. Köln 1980 [Heinrich Böll: Werke, Bd. 8], S.-276-286, hier S.-279. 266 Jennifer Clare: ‚Auf dem Kopf gehen‘. Peter Schneiders Lektüre von Büchners Lenz vor dem Horizont der Literatur der deutschen Studentenbewegung. In: Georg Büchner: Contemporary Perspectives. Leiden 2017, S.-261-280, hier S.-270. 267 Meik: Nachwort Schneider: Lenz 2010, S.-114. 268 Büchner: Dichtungen 2006, S.-250. keiten mit überwältigendem Charme empfangen werden. Wer will sich da wundern, wenn Studenten, denen ein neues Bewusstsein zuwächst, diesem Protokoll auf die einzig mögliche Weise zuwiderhandeln: durch Unruhe und eindeutig formulierte Ablehnung. 265 Büchners Drama Woyzeck gilt als Schlüsselwerk für die literarische Darstellung des von der Obrigkeit ausgebeuteten und unterdrückten Menschen, der durch die Verhältnisse dem Wahnsinn verfällt. Jennifer Clare, Verfasserin einer Studie über die Literatur der 68er, stellt heraus, wie die Büchner-Rezeption repräsen‐ tativ für einen Paradigmenwechsel in der Folge von 1968 ist: […] eine Phase, in der Büchner als Autor durch die Germanistik maßgeblich wie‐ derentdeckt wird. Schaut man sich die wissenschaftliche Büchner-Rezeption an, so wird deutlich, dass sie in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren sprunghaft ansteigt. Michael Vogt deutet diesen Anstieg als Teil eines generellen ‚Vormärz-Boom‘ in der literaturwissenschaftlichen Forschung um 1970, den er unmittelbar mit der Studentenbewegung und einer sich in ihrem Zuge ‚neu konstituierenden Germanistik‘ in Verbindung bringt: Die Germanistik der späten 1960er Jahre erfährt maßgebliche Impulse durch eine neue Generation von der Studentenbewegung nahestehenden Germanist/ innen, die sich von der Fachgeschichte im Nationalsozialismus ebenso wie von der werkimmanenten Interpretationsschule der 1950er Jahre distanzieren und Anknüpfungspunkte an ein literarisches Erbe vor dem Zweiten Weltkrieg suchen. 266 1973 erschien Peter Schneiders Erzählung Lenz und avancierte zum „Kultbuch einer Generation“. 267 Der Text rekurriert intertextuell, inhaltlich, stilistisch auf Büchners gleichnamige Novelle, ist jedoch keine Nach- oder Neuerzählung. Schneider gestaltet die Bezüge dazu vielschichtig und subtil, er baut zum Beispiel einige Zitate wortwörtlich in den Text ein, generell finden sich viele Allusionen. „So lebte er hin“, 268 heißt es bei Büchner am Schluss über den zunehmend der psychischen Erkrankung verfallenden Protagonisten. Mit dieser Wendung lässt sich auch der Zustand des Protagonisten von Schneiders Erzählung cum grano salis umreißen, insofern kann man Schneiders Text als Fortschreibung verstehen. V.4 Peter Schneiders Büchner-Adaption Lenz als Ausdruck eines Denkstilwandels 173 269 Schneider: Lenz 2010, S.-112. Die Hauptfigur Lenz ist ein junger Linksintellektueller - Student, Schrift‐ steller, sein Status wird nicht exakt umrissen - in einer deutschen Großstadt, die Züge von West-Berlin trägt. Er erscheint als ehemals politischer Aktivist, der in eine Sinnkrise geraten ist, vertritt zwar grundsätzlich nach wie vor seine Ziele und Ideale, doch zunehmend kommen ihm Zweifel an den Methoden, er wirkt resigniert und desillusioniert. Die politischen Theorien und Parolen erscheinen ihm fern der menschlichen Bedürfnisse, vorgefertigt und sinnentleert, die Protestformen ritualisiert. Aber Lenz wird nicht zum Zyniker, leidenschaftlich diskutiert er mit Freunden und Kollegen politische Fragen. Um seinen Lebens‐ unterhalt bestreiten zu können, übernimmt er in einer Fabrik eine monotone Fließbandtätigkeit, das Angebot einer anspruchsvollen, besser bezahlten Tätig‐ keit lehnt er ab, denn nach wie vor will er der Arbeiterklasse nahe sein. Er leidet vor allem darunter, dass das Verhältnis zu seiner Freundin zerbrochen ist. Es deutet sich an, dass das daran lag, dass er weniger echte Gefühle und Empfindungen akzentuiert hat, sondern seine Liebe als Projekt einer Beziehung zwischen einem Intellektuellen und einer Frau aus der Arbeiterklasse begriffen hat. Ein Freund nimmt ihn mit nach Italien, dort kommt er in Kontakt zur Arbeiterbewegung. Er lebt wieder auf, die ungezwungene italienische Art liegt ihm, die Menschen erscheinen ihm weniger entfremdet und borniert, sondern phantasievoll. Er engagiert sich, arbeitet in der kommunistischen Gewerkschaft mit. Der Text deutet an, dass er deswegen schließlich aus Italien ausgewiesen wird. Wieder zurück in Deutschland erscheint ihm zunächst, dass alles gleich geblieben ist; doch auf den zweiten, tieferen Blick nimmt er wahr, dass es kleine Veränderungen zum Positiven gegeben hat. Er erkennt, dass er geduldiger werden muss, in überschaubaren Schritten denken. So lässt sich der Schluss des Texts optimistisch deuten. Ein Freund fragt Lenz, was er denn nun tun wolle. Lenz’ lakonische Antwort „Dableiben“ 269 ist programmatisch. Der Text vermeidet generell eindeutige Referenzen. Der Bezug zur Studenten‐ bewegung von 1968 liegt durch Peter Schneiders Biographie nahe. 1940 geboren, studierte er in West-Berlin und avancierte dort zu einem der Protagonisten der Studentenbewegung. In einschlägigen Organen wie dem Kursbuch vertrat er radikale Positionen, verkündete das Ende der bürgerlichen Literatur, sprach davon, dass nur noch revolutionäre Kunst gelte, auf zwei Funktionen reduziert: Agitation und Propaganda. Die Lenz-Erzählung von 1973 schlägt andere Töne an, sie steht für einen Paradigmenwechsel innerhalb der 1968er Bewegung: Wie die Neue Sachlichkeit als Gegenbewegung aus dem Expressionismus hervorgegangen ist, so ist die 174 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 270 Alexander Kluge: Dankrede zum Georg-Büchner-Preis 2003, https: / / www.deutschea kademie.de/ de/ auszeichnungen/ georg-buechner-preis/ alexander-kluge/ dankrede (zu‐ letzt abgerufen am 12. Juli 2023). sogenannte „Neue Innerlichkeit“ aus der Protestbewegung von 1968 erwachsen. Lenz ist einer der Schlüsseltexte dieser Strömung. In diesem Kontext erscheint mir die Referenz auf Georg Büchner bemerkens‐ wert. Wurde im Zuge von 1968 Büchner als Rebell, Revolutionär gedeutet, der Woyzeck als radikales Sozialdrama politisch instrumentalisiert, so orientiert sich Schneider an der feinfühligen sensiblen Erzählung Lenz. Diese gestaltet eine historisch überlieferte Episode aus dem Leben des Sturm-und-Drang- Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, der im Januar/ Februar 1778 knapp drei Wochen bei dem Pfarrer, Sozialreformer und Menschenfreund Johann Friedrich Oberlin im Steintal im Elsass verbrachte. Lenz befindet sich in einer Phase zunehmender geistiger Erkrankung, sein Freund Christoph Kaufmann regt den Aufenthalt bei dem fürsorglichen Oberlin in der reizvollen Landschaft aus therapeutischen Gründen an, dort verschlimmert sich Lenz’ Zustand jedoch alternierend. Büchner gestaltet die Diegese aus der Perspektive von Lenz und spiegelt dessen Innenleben durch seine Naturwahrnehmung. Der Autor und Regisseur Alexander Kluge setzt in seiner Dankesrede zum Büchnerpreis 2003 Büchners Lenz und Kleists Michael Kohlhaas in Beziehung: Büchners Erzählung beschreibt den umgekehrten Vorgang zu Kleists Michael Kohl‐ haas. Dessen Eigensinn geht ganz nach Außen bis an den Galgen. Und er würde lieber (wie ein Terrorist) die Welt zerstören, als aufzugeben. Die Energie von Lenz bei Büchner geht nach Innen, bis der Mensch äußerlich still aussieht. Das ist die inwendige Zerstörung, zugleich die stärkste Ballung von Subjektivität. Radikaler als diese Erzählungen können wir auch heute nicht schreiben. Büchners und Kleists Radikalität brauchen wir aber, wenn wir versuchen, die veränderte (inflationierte) Wirklichkeit im Erzählraum unseres Jahrhunderts abzubilden. 270 Wie Büchners leidet auch Schneiders Lenz an der Welt und seiner Zeit. Schneider bildet in seinem Protagonisten ähnlich wie Büchner ein Spannungsverhältnis zwischen individuellem Glück und kollektiven Ideen, Resignation und leiden‐ schaftlicher Begeisterung ab. Er gibt diesem Moment leitmotivischen Charakter, wenn er gleich an den Anfang des Textes eine Referenz auf das hervorste‐ chendste Bild von Büchners Lenz setzt. Er zitiert es am Anfang als Paratext: V.4 Peter Schneiders Büchner-Adaption Lenz als Ausdruck eines Denkstilwandels 175 271 Zit. nach Schneider: Lenz 2010, S.-7. Vgl. Büchner: Dichtungen 2006, S.-225. 272 Schneider: Lenz 2010, S.-7. 273 Büchner: Dichtungen 2006, S.-234. 274 Ebd. 275 Vgl. Kap. IV.3 in vorliegender Studie. 276 Vgl. Kap. IV.4 in vorliegender Studie. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts, Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. 271 Schneider variiert das Motiv im Hinblick auf die Situation seiner Lenz-Figur: Schon seit einiger Zeit konnte er das weise Marxgesicht über seinem Bett nicht mehr ausstehen. Er hatte es schon einmal verkehrt herum aufgehängt. Um den Verstand abtropfen zu lassen, hatte er einem Freund erklärt. Er sah Marx in die Augen: „Was waren deine Träume, alter Besserwisser, nachts meine ich? Warst du eigentlich glücklich? “ 272 Eine zentrale und konzeptuelle Passage von Büchners Lenz bildet das Kunstge‐ spräch zwischen Lenz und seinem Freund Kaufmann. Dieser wird als Anhänger des aufkommenden Idealismus geschildert. Lenz hält dagegen: „Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen.“ 273 Lenz vertritt einen Realismus in der literarischen Darstellung, „Leben, Möglichkeit des Daseins […] ob es schön, ob es häßlich ist“. 274 In dieser Passage formuliert Büchner sein eigenes Literaturverständnis. Dieses weist zum marxistischen Li‐ teraturbegriff insofern Affinitäten auf, als es auch vom Autor fordert, einen realistischen Standpunkt einzunehmen. 275 Im Zuge der Entwicklung der sozialisti‐ schen Literaturproduktion nach Marx lässt sich jedoch eine Entwicklung hin zu einer mechanistischen Literaturdoktrin konstatieren, die von den Schreibenden fordert, eine Wunschrealität als Realität zu beschreiben. 276 Schneider variiert das Kunstgespräch aus Büchners Lenz in Anspielung auf Tendenzen, wenn Debatten von Lenz mit Freunden und Kollegen evozieren, wie auf Seiten der Linken ein phrasenhafter und stereotyper Umgang mit politischen Parolen und Forderungen zur Gewohnheit geworden ist, der sich von den Gefühlen und Wünschen der Menschen entfremdet hat. Diese Position lässt er wiederum in den Text einfließen. Zentral sind dabei die Dialoge zwischen Lenz und seinem Freund B.: Sie gerieten in eine Diskussion über die politischen Aufgaben des Intellektuellen. Nach kurzer Zeit spürte Lenz schon wieder den Haß auf die fertigen Sätze, die er und B. benutzten. […] 176 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 277 Schneider: Lenz 2010, S.-62. 278 Ebd., S.-47f. 279 Ebd., S.-51. B. setzte ihm zu, er habe mit Freunden aus seiner Gruppe gesprochen, sie seien über Lenz’ Unzuverlässigkeit verärgert, er verschleudere sein Leben, er solle sich ein Ziel stecken und dergleichen mehr. „Und du mit deinen Ratschlägen“, rief Lenz erregt, „sage mir endlich, was dir gefällt, was du liebst. Ich meine nicht eine Idee, eine Vorstellung von der Zukunft, sondern etwas, das du jetzt hast, irgendwas. Kannst du deiner Frau sagen, daß sie schön ist, wenn du sie schön findest? Kannst du das, wenn du es sagst, auch empfinden? […] Ihr könnt nur allgemein, in Begriffen sagen, was ihr haßt oder liebt, ihr habt Angst davor, daß euch irgend etwas gefällt, weil ihr Angst habt, daß ihr dann nicht mehr kämpfen könnt.“ 277 Zwischen der hier evozierten Vorstellung von Authentizität oder Unmittelbar‐ keit und dem in Büchners Lenz dargelegten realistischen Kunstbegriff gibt es Parallelen. Bei Schneider kommt die Ablehnung des dogmatisch, heroisie‐ renden sozialistischen Realismus in einer Anspielung auf den Autor und kom‐ munistischen Funktionär Willi Bredel zum Ausdruck. Diesem warfen selbst sozialistische Literaturtheoretiker wie Georg Lukács vor, seine Charaktere seien holzschnittartig. Lenz sagt zu einem Literaturkritiker: „‘Sie haben doch früher Gedichte geschrieben. Und jetzt lesen Sie nur noch Willi Bredel und sind ganz objektiv? […]‘“ 278 Ähnlich wie in Büchners Text changiert Schneiders Lenz bei diesen Diskussionen zwischen Erregung und Erschöpfung: Allmählich wurde er weicher, er ließ sich kitzeln und stoßen von der Musik, sein Gehirn hielt sich nicht mehr im Kopf und rutschte nach unten in die Arme und Beine. […] Er sah sich um, es störte ihn nicht mehr, daß die meisten Gäste immer noch in den Ecken standen und sich in einem eintönigen Singsang über die Revolution und die Literatur unterhielten. 279 Zur Unterstreichung der Thesen möchte ich kurz auf einen Text eingehen, der sich in seiner Klassikerreferenz nicht auf Büchner und Kleist bezieht. Er bietet sich dafür an, weil sich einige signifikante Querverbindungen zu Schlöndorff und Schneider herstellen lassen. 1972, im Jahr bevor Schneiders Lenz veröffentlicht wurde, erschien mit Peter Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied ein Text, der ebenso in das Konzept der Neuen Innerlichkeit passt. Handke betätigte sich zwar nicht als politischer Aktivist, war jedoch V.4 Peter Schneiders Büchner-Adaption Lenz als Ausdruck eines Denkstilwandels 177 280 Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied. Berlin 2018 (E-Book) [Peter Handke Bibliothek], S. 112: „‘Die Zeit schleifte so hin‘. / Dieser Satz aus einer Geschichte von Adalbert Stifter [Abdias] fiel mir ein. Ich setzte mich auf und nieste. Plötzlich kam es mir vor, als hätte ich dabei ein ganzes Stück Zeit übersprungen.“ 281 Ebd., S.-3 u. 75. 282 Ebd., S.-3. von dem Zeitgeist um 1968 affiziert und spiegelt in dem Text persönliche wie kollektive Paradigmenwechsel. Der Text variiert das Motiv des klassischen Reise- und Entwicklungsromans. Ein Ich-Erzähler, österreichischer Schriftsteller, reist von Ost nach West durch die USA auf der Suche nach seiner Frau und der Flucht vor ihr gleichermaßen. Auf dieser stilisierten polarisierten Ambiguität baut der Roman seine Spannung auf, vor der sich die Ich-Findung sowie die empfindsame Wahrnehmung von Menschen und Umwelt seines Protagonisten entfalten. Es finden sich einige Re‐ ferenzen zu klassischen Werken. So besucht er etwa die Don-Carlos-Aufführung einer deutschen Theatertruppe in St. Louis. Zwischen ihm, seiner amerikani‐ schen Freundin Claire und dem Dramaturgen entspinnt sich ein Kunstgespräch über den Unterschied zwischen deutschem und amerikanischem Theater. In den intertextuellen Bezügen auf klassische Texte wird erkennbar, dass Handke nicht auf als rebellisch, gesellschaftsverändernd konnotierte Autoren rekurriert, sondern auf ausgewiesen ruhige, empfindsame, zurückgezogene Bezug nimmt. An einer Stelle verweist er auf Adalbert Stifter. 280 Zitate aus Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser sind als Motto den zwei Kapiteln des Buches jeweils vorangestellt. 281 Sie verweisen auf Natur und Individualität: „[D]er Himmel so dicht auf der Erde liegend, […] gleichsam als sollte die Aufmerksamkeit nur auf die Straße, die man wandern wollte, hingeheftet werden.“ 282 Zentraler Referenztext des Romans ist jedoch Gottfried Kellers Der grüne Heinrich. Während seiner Reise liest der Protagonist dieses Buch, immer wieder wird darauf Bezug genommen, so heißt die Frau des Schriftstellers Judith, wie die Freundin von Kellers Hauptfigur Heinrich Lees. An einer zentralen Stelle des Texts wird der Projektionscharakter des Klassikers herausgestellt: „Aber wenn du von dem Grünen Heinrich redest, glaubst du vielleicht doch, daß du seine Abenteuer nachholen kannst“, sagte Claire. „Du glaubst, mit einer Figur aus einer anderen Zeit diese Zeit wiederholen zu können, so gemütlich wie er nach und nach erleben und von Erlebnis zu Erlebnis immer nur klüger werden und am Schluß deiner Geschichte fertig und vollkommen sein zu können.“ „Ich weiß, daß man nicht mehr so nach und nach leben kann wie der Grüne Heinrich“, antwortete ich. „Wenn ich von ihm lese, dann ergeht es mir geradeso wie ihm selber, als er einmal, ‚unter stillen Waldsäumen liegend, innig das schäferliche Vergnügen eines 178 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 283 Ebd., S.-100. vergangenen Jahrhunderts‘ empfand; so empfinde auch ich bei seiner Geschichte das Vergnügen an den Vorstellungen einer anderen Zeit, in der man noch glaubte, daß aus einem nach und nach ein andrer werden müsse und daß jedem einzelnen die Welt offensteht. […] Und solange ich dieses Vergnügen eines meinetwegen vergangenen Jahrhunderts empfinde, solange möchte ich es auch ernstnehmen und überprüfen.“ „Bis dir das Geld ausgeht“, sagte Claire, […] 283 Der Verweis auf den Grünen Heinrich bei Peter Handke veranschaulicht im Kontrast zu Volker Schlöndorffs Michael Kohlhaas und Peter Schneiders Lenz grundsätzliche Konstanten und Varianzen der Projektion von Klassikern im literarischen Feld. Dieser Komplex lässt sich als vielschichtiger Spannungsraum ganz unterschiedlicher Kräfte beschreiben. In ihn fließen die tatsächliche Person des klassischen Autors, seine Texte, aber auch im Prozess der Geschichte tradierte und modifizierte Bilder und Deutungen seines Charakters bzw. seines Werks ein. Aus der Perspektive der Gegenwart ist der Rekurs auf Klassiker sowohl mit dem individuellen Charakter des auf ihn zurückgreifenden Au‐ tors als auch den wirkenden literarischen Paradigmen seiner Zeit verknüpft. Handke, Schlöndorff und Schneider stellen ganz unterschiedliche Autorenper‐ sönlichkeiten dar, sind jedoch alle vom Denken der Zeit um 1968 affiziert und ihre hier vorgestellten Werke sind als Auseinandersetzung und Reflexion mit dem Phänomen 1968 zu verstehen. Bestimmte persönliche und kollektive Einstellungen werden mit klassischen Autoren, Werken oder Figuren assoziiert, so werden sie zu Identifikationsfiguren bzw. -mustern, die bestimmte Haltungen repräsentieren respektive legitimieren. Wie pointiert doppeldeutig eine solche Projektion gestaltet sein kann, zeigt sich bei der zitierten Passage von Handke, wenn er die Wunschgedanken seines Protagonisten mit der Frage nach dem Geld bricht. Bezüge auf Klassiker können sehr unterschiedliche Verhaltens‐ weisen flankieren. Handke reflektiert einen romantisierten Eskapismus in die Vergangenheit, Schlöndorff analogisiert Michael Kohlhaas mit den aktuellen politischen Gegebenheiten. Handke und Schneider spiegeln in den hier behan‐ delten Texten ihre eigene persönliche Entwicklung durch und nach 1968, dabei tritt die Funktion der Klassikerreferenz im autobiographischen Narrativ hervor. Das Spannungsfeld zwischen dem Politischen und dem Persönlichen leuchtet Peter Schneider mit der komplexen Büchner-Referenz subtil aus. Büchner diente dem revolutionären Literaturbegriff vieler 1968er als Identifikationsfigur, doch seine Person und sein Werk sind im Ganzen betrachtet von einer Dialektik aus politischem Aktivismus und poetischer Subjektivität geprägt. Schneider spiegelt mit der Referenz speziell auf Büchner die zunehmenden persönlichen V.4 Peter Schneiders Büchner-Adaption Lenz als Ausdruck eines Denkstilwandels 179 und kollektiven Zweifel an einem Literaturparadigma. Als ehemaliger Vertreter eines für 1968 typischen radikalen Verständnisses von Literatur als Mittel der Veränderung projiziert er mit dem differenzierten Rekurs auf andere Facetten des revolutionären Klassikers eigene Einsichten und Entwicklungen. Der große Erfolg der Erzählung Lenz - über 100.000 verkaufte Exemplare - zeigt, dass Schneider damit eine kollektive Stimmungslage der Generation 1968 erfasste. 180 V. Klassiker im Wandel der Zeit - Neudeutungen Kleists und Büchners 284 Teilergebnisse dieses Kapitels wurden in folgenden Aufsätzen vorab publiziert und in der vorliegenden Studie weitergeführt und ausgebaut: „A Role for History“ - Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren und seine stilbildenden Texte (Umberto Eco: Der Name der Rose; Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit; Patrick Süskind: Das Parfum). In: Literatur und Geschichte. Hrsg. von Sikander Singh und Manfred Leber. Saarbrücken 2018, S. 243-264; Die Narrenfigur im postmodernen Roman. Umberto Eco Baudolino - Thomas Pynchon Vineland - Daniel Kehlmann Tyll. In: Narren, Clowns, Spaßmacher. Studien zu einer Sozialfigur zwischen Mittelalter und Gegenwart. Hrsg. von Katharina Meiser / Sikander Singh. Hannover 2020, S.-273-297. VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 284 VI.1 Postmoderne und postmoderne Literatur Wenn man bei allen differenten Positionen und Ansätzen die Diskurse zum Denkstilbzw. literarischen Epochenwandel seit den 1960er Jahren resümiert, stellt sich der Topos vom Übergang von der Moderne zur Postmoderne als der maßgebliche Paradigmenwechsel dar, der bis in die heutige Gegenwart hineinwirkt. Zahlreiche Modelle, Aussagen, Deutungen, Kontroversen und Zuordnungen haben dieses Begriffsfeld geprägt und zum Teil inkommensu‐ rable Definitionen der Postmoderne evoziert. Im Folgenden sollen anhand der Analysen und Vergleiche einiger herausragender Texte, die dem Diskurs der Postmoderne zugerechnet werden können, wesentliche konstante und variable Merkmale einer literarischen Postmoderne heuristisch und diskursiv erfasst werden. Übereinstimmend werden postmoderner Literatur konstituierende Elemente wie Intertextualität, Stilbrüche und Kontaminierungen verschiedener Gattungen zugeschrieben. Dies indiziert, dass der Denkrichtung Zweifel an festen Wahrheiten und Gewissheiten immanent sind, was sich wiederum in den wesentlichen Stilmustern wie Ironie, Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, Auflösung von konventionellen fixierten Schreibnormen äußert. Zwei Aspekte postmoderner Literatur, von denen auf ein literarisches Paradigma rekurriert werden kann, stehen im Zentrum der Ausführungen. Zum einen soll dargelegt werden, wie die Geschichte literarisch als Folie gestaltet wird, um das diffuse Spannungsfeld von Wirklichkeit, Wahrheit und Fiktion zu projizieren. Zum anderen soll die auffällige Häufigkeit von Figuren hinterfragt werden, in denen sich das Tragische und das Komische vereinen. Die Sonderlinge, Narren und Freaks verweisen auf das facettenreiche Vexierspiel von Spaß und Ernst in vielen Texten. 285 Seyla Benhabib: Selbst im Kontext: Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne. Frankfurt am Main 1995, S. 26. Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen 1986, S. 175: „Der Rekurs auf die großen Erzählungen ist ausgeschlossen; man kann sich also für die Gültigkeit des postmodernen wissen‐ schaftlichen Diskurses weder auf die Dialektik des Geistes noch auf die Emanzipation der Menschheit berufen. Man hat aber soeben gesehen, daß die ‚kleine Erzählung‘ die Form par exellence der imaginären Erfindung bleibt, vor allem in der Wissenschaft.“ Die Philosophin Seyla Benhabib fasst im Vorwort ihres Buches Selbst im Kon‐ text: Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne (1992, dt. 1995) einige Ausführungen des prägenden Denkers der Postmoderne Jean-François Lyotard prägnant zusammen: In seinem Bericht über Das postmoderne Wissen [(1979)] hat Lyotard die „großen Erzählungen“ der Aufklärung den „kleinen (oder lokalen) Erzählungen“ der Frauen, der Kinder, der Narren und der Primitiven gegenübergestellt. Der Ausschluß dieser kleinen Erzählungen, so argumentiert Lyotard, sei ein Aspekt der grandiosen Vision der Modernisierung der westlichen Tradition gewesen. 285 In diesem Denkmodell kommt eine Affinität zwischen dem Geschichtsbild der Postmoderne einerseits und dem Begriff des Narren andererseits zum Ausdruck. Ich möchte es zum Ausgangspunkt meiner Gedanken machen, weil sich so eine Kopplung des postmodernen Denkens mit bestimmten literarischen Inhalten und Stilen formulieren lässt. Es liegt im Wesen der sozialen und kulturellen Strömung der Postmoderne, dass sie sich der Formulierung einer basalen Theorie entzieht, denn einer ihrer wesentlichen Inhalte ist die Feststellung der Unmöglichkeit einer einzigen Wahrheit. Vielmehr hebt sie die Ambivalenz des Denkens und der Weltdeutung hervor. Man kann diese Strömung nicht als Denkrichtung, die eine geschlossene Weltanschauung umfasst, begreifen. Entsprechend unterliegt der literarische Zweig der Postmoderne keiner Normpoetik oder formalen und inhaltlichen Vorgaben. Im Gegensatz zu Strömungen wie dem Futurismus oder dem Sozia‐ listischen Realismus stellt sie keine programmatisch gefasste Stilrichtung dar. Allenfalls kann man sich unter dem Begriff eine Sammlung von Elementen vorstellen, aus denen man einen Idealtypus eines paradigmatischen Konzepts konstruieren kann, der sich dann wieder dekonstruieren lässt, was wiederum Bestandteil der Grundidee ist. Vielleicht lässt sich Postmoderne morphologisch als diskursives Kraftfeld, als Denkraum umreißen, wo wesentliche Aspekte formuliert und mit zum Teil diametralen Deutungen besetzt werden. Konträre Positionen vereinigen sich im Metadiskurs. Manche sehen die Postmoderne als eine Fortsetzung der Moderne, andere deuten sie als eine Gegenbewegung zu 182 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 286 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne. 4. Aufl. Tübingen 2016, S.-43. Kursivierung im Original. 287 Vgl. z. B. Hubert Knoblauch: Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Wiesbaden 2017. 288 Lyotard: Das postmoderne Wissen 1986, Kap. 3: Die Methode: Die Sprachspiele, S. 36‒41. Ebd. S. 40: „[E]s [gibt] ohne Regeln kein Spiel“. Ebd., S. 41: „[D]er beobachtbare soziale Zusammenhang [besteht] aus sprachlichen ‚Spielzügen‘“. ihr. Die einen sagen, sie sei der Aufklärung verhaftet, in dem sie vermeintliche Gewissheiten und Ideologeme in ihren Widersprüchlichkeiten entlarve, die anderen halten sie für beliebig, nihilistisch, eskapistisch und unpolitisch. Das Wesen der Postmoderne liegt in ihren Widersprüchen, postmoderne Theore‐ tiker betonen die Ambivalenz als wesentliches Merkmal. Peter V. Zima greift in diesem Kontext auf Nietzsche zurück: Die postmoderne Problematik nimmt Nietzsche insofern vorweg, als er die Möglich‐ keit ins Auge faßt, daß die Ambivalenz als Einheit der Gegensätze, als Einheit unvereinbarer Werte wie Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, in die Indifferenz als Austauschbarkeit der Werte ausmündet. 286 Eine besondere Rolle nimmt im postmodernen Diskurs die Sprache ein. Durch deren Widersprüche im Hinblick auf die Differenz von Bedeutungen, z. B. die Varianz von eigentlicher und metaphorischer Bedeutung, lassen sich Kernideen der Postmoderne formulieren. In der Annahme, dass Wirklichkeit und Wahrheit nur kommunikative Konstruktionen sind, findet sich eine radikale Ausführung dieses Denkmodells. 287 Dieser Diskurs weist signifikante Analogien zu Flecks Thesen auf. Lyotard stellt das „Sprachspiel“ als wesentliches Moment des Denkens vor, wobei er aber betont, dass auch dieses wie jedes Spiel Regeln brauche. 288 Wortwitz und Sprachspiel sind zugleich wesentliche Elemente der Gestaltung der Figuren von Sonderlingen und Narren in der Literatur, man denke etwa an einige der bekanntesten Streiche von Till Eulenspiegel. Die Beschreibung einer literarischen Epoche der Postmoderne bzw. Gattung des postmodernen Romans fällt aufgrund des in der Anlage disparaten Konzepts schwer. Es lassen sich Strukturen eines Lese- und Schreibparadigmas skizzieren, dessen Elemente mehr oder weniger in Texten ausgeprägt sind, wobei die einzelnen Qualitäten und Quantitäten in Kombinationen erscheinen und so eine in Sprache und Form sehr heterogene Gesamtmenge verkörpern. Die Freiheit von Norm- und Stilzwängen ist ein essentielles Merkmal, d. h. die Ambiguität ist ein konstituierendes Element, pointiert ausgedrückt: Das Fehlen einer Poetik im klassischen Sinn ist Bestandteil des Programms, ebenso die Kombination im Grunde inkommensurabler Elemente. In der Textpraxis sind die Aufhebung VI.1 Postmoderne und postmoderne Literatur 183 der Grenze von Unterhaltungs- und hoher Literatur, die Aufhebung einer einheitlichen Erzählperspektive sowie das Spiel mit verschiedenen Stilarten und Zitaten auffällig. Der Begriff postmoderne Literatur lässt sich heuristisch verwenden, wenn er idealtypisch als Referenzskala für Texte formuliert wird, die signifikante Entsprechungen mit der Theorie bzw. den theoretischen Ansätzen haben. Es lassen sich bestimmte Ähnlichkeiten feststellen, die konstituierend sind und den postmodernen Roman in einer Abgrenzung vom realistischen bzw. modernen Roman sehen. Manche dieser Elemente sind nicht als positive Merkmale zu begreifen, vielmehr bilden sie sich aus einer intentionalen Distanzierung von normierten konventionellen Erzählmustern heraus. Dazu zählen Parodien, Anachronismen oder die Kombination von als inkommensurabel geltenden Inhalten und Stilen. Ein wesentliches Merkmal bildet die Übernahme von sprachlichen wie gen‐ retypischen Elementen aus der Unterhaltungsliteratur. Dies geschieht häufig mit Ironie, aber auch mit der Absicht, Spannung zu erzeugen und eine breite Leserschaft zu gewinnen. Zahlreiche Karikaturen bestimmter genretypischer Gattungen, vor allem bildungsbürgerlicher Natur, finden sich, allen voran des historischen Romans, des Bildungsromans und des Gelehrtenromans. Auf eine bestimmte Weise zeigt sich postmoderne Literatur als Parodie der Moderne. Viele ihrer Inhalte und Schreibweisen hat es schon vorher gegeben, nur nicht in dieser Form und dieser Kombination. Insofern ist der Vorwurf nicht völlig abwegig, die Denk- und Stilrichtung berge im eigentlichen Sinne nichts Neues, sondern mische und bereite Bewährtes auf. Zwei häufig auftretende Merkmale der postmodernen Literatur sind die Ironie und der Bezug zur Geschichte. Sie entspringen jedoch keiner formulierten Konzeption, sondern haben sich aus der Natur des Denkstils in der literarischen Praxis entwickelt. Diese beiden Elemente sind signifikante Merkmale der hier behandelten Romane. Die postmodernen Vexierspiele Wirklichkeit - Fiktion, Konstruktion - De‐ konstruktion lassen sich vor der Folie der Geschichtsschreibung sehr plastisch demonstrieren. Die erzählerische Formung von Geschichte im Spannungsfeld von Mythos, Legende, Tatsache und Fiktion sowie die literarische Pointierung der Fragen nach der Varianz des Möglichen, nach potenziellen alternativen Ge‐ schichtsverläufen, nach Kausalitäten und Kontingenz bilden wesentliche Inhalte des Denkens der Postmoderne ab. Geschlossene Geschichtsphilosophien, wie sie etwa Hegel, Marx oder Spengler formulierten, festgefügte Welterklärungs‐ modelle, wie sie Kirchen oder totalitäre politische Ideologien entsprechend als unumstößliche Wahrheiten propagieren, werden mittels literarischer Ent‐ 184 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 289 Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt am Main 1980, S.-184. Kursivierung im Original. 290 Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2015, S.-9. würfe infrage gestellt. Auch die Geschichte der Naturwissenschaften nimmt im postmodernen Roman eine exponierte Rolle ein, zum Beispiel in Umberto Ecos Der Name der Rose oder Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Vor dem Hintergrund der Naturwissenschaften haben zahlreiche diskursprägende Theorien der Nachkriegszeit die Grenzen der Objektivität formuliert, wobei Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen eine herausragende Rolle einnimmt. Er arbeitet zwar ein geschichtsphilosophisches Konzept heraus, betont jedoch, dass wissenschaftliches Arbeiten immer auch subjektive Impli‐ kationen habe. Geschichte und Wissenschaftsgeschichte bieten einen idealen Resonanzraum für die Fragen der Postmoderne. Es entsteht Mythenbildung, Personen werden im Lauf der Zeit von historischen zu mythischen stilisiert, dies betrifft in besonderem Maße die sogenannten großen Gestalten: Herrscher, Entdecker und Forscher. Friedrich Barbarossa, die zentrale authentische Figur in Ecos Roman Baudolino, ist Gegenstand zahlreicher Deutungen und Legenden geworden, die mit der historischen Person nicht mehr viel gemeinsam haben. Der Begriff der Erzählung umfasst nicht nur die literarische Gattung, man spricht auch von einem Narrativ, einem Mythos als Welt- und Geschichtsdeu‐ tung. Die postmoderne Literatur orientiert sich an den eingangs erwähnten Gedanken von Lyotard, indem sie die „großen“ Erzählungen der Geschichte hinterfragt und persifliert und mit „kleinen“ Erzählungen der Außenseiter kontrastiert. Der postmoderne historische Roman ist dabei nicht nur von der literarischen Perspektive her eine neue Konzeption des Genres, sondern korrespondiert mit zeitgenössischen Ansätzen der Geschichtswissenschaft, die einen Paradigmen‐ wechsel in der Forschung prononcieren. Es lassen sich hier vor allem Analogien zu den geschichtsphilosophischen Studien von Arthur C. Danto (Analytical Philosophy of History, 1965) - „Die Geschichte erzählt Geschichten (History tells stories).“ 289 - und Hayden White (Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, 1973) - „Ich betrachte […] das Werk des Historikers als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung.“ 290 - herstellen, die Historie als Erzählung begreifen und mit den Kategorien der Literaturtheorie betrachten. Die Postmoderne lässt sich als eine Strömung deuten, die auf ein Ende der Gewissheiten, eine Krise der Aufklärung, die sich aus den politischen Verwerfungen der ersten Hälfte des 20.-Jahrhunderts generiert hat, reagiert. VI.1 Postmoderne und postmoderne Literatur 185 291 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-15. 292 Sten Nadolny: „Mein Bestseller war Zufall.“. Interview mit Nada Weigelt. In: Westdeut‐ sche Zeitung 27. Juli 2012. (http: / / www.wz.de/ home/ kultur/ sten-nadolny-mein-bestsel ler-war-zufall-1.1053187 [zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023]). VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren am Beispiel dreier stilbildender Texte im Vergleich (Umberto Eco: Der Name der Rose; Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit; Patrick Süskind: Das Parfum) „A Role for History“ („Eine Rolle für die Geschichtsschreibung“) 291 - Diese Wendung überschreibt das erste Kapitel von Thomas S. Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Kuhn entwickelt unter diesem Leitmotiv seine Theorie und es lassen sich einige signifikante gedankliche Verbindungslinien zwischen Kuhns Paradigmenmodell und wesentlichen Elementen zahlreicher historischer Romane aus den vergangenen Jahrzehnten feststellen. In den drei Texten spielt Geschichte im Allgemeinen eine Rolle, und sogar die von Kuhn fokussierte Wissenschaftsgeschichte wird in jedem signifikant aufgegriffen. Sie stammen aus der ersten Hälfte der 1980er Jahre und stehen unter dem Eindruck der wesentlichen Denkstile ihrer Zeit. Ihre Akzentuierung auf das Historische ist Teil ihres poetischen Konzepts; sie greifen tatsächliche Ereignisse und Personen auf und implementieren sie in eine fiktionale Handlung. Zwischen ihnen zeigen sich jedoch markante Unterschiede in der Art der litera‐ rischen Ausgestaltung und der Deutung von Geschichte, insofern sind sie auch metahistorisch von Interesse. Die Romane werden gattungshistorisch unter dem Begriff der Postmoderne subsumiert, die allgemein als eine Phase der Auflösung rein pragmatischer Formen und Strukturen, der Widerlegung vermeintlicher ideologischer Gewissheiten gesehen wird. Das Schwierige ist, dass die Stilvielfalt und Unfassbarkeit dieses Begriffs zugleich Teil seines Inhalts sind. Ich werde die drei Romane vorstellen, das ihnen zugrundeliegende poetische und historische Programm erläutern und sie im Denken ihrer Zeit konzeptualisieren. Ich habe speziell diese Werke ausgewählt, weil sie ungefähr zeitgleich entstanden sind und dennoch verschiedene Stiltypen repräsentieren. Ein we‐ sentliches gemeinsames Merkmal ist, dass sie alle im literaturwissenschaftlichen Diskurs Wertschätzung genießen, zugleich aber auch Publikumserfolge waren, wobei Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit mit etwa 1,8 Millionen ver‐ kauften Exemplaren gegenüber den anderen zurückfällt. 292 Die Bücher von Eco und Süskind waren Weltbestseller. Auf einer im Internet kursierenden Liste der erfolgreichsten Bücher der Welt, findet sich Der Name der Rose bei einer Auflage 186 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 293 Die Besten aller Zeiten - Das Bestenlisten-Portal. Weltbestseller: Die meistverkauften Bücher aller Zeiten. https: / / www.die-besten-aller-zeiten.de/ buecher/ meistverkauften/ (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). 294 D E R N A M E D E R R O S E . Regie: Jean-Jacques Annaud. Drehbuch: Andrew Birkin / Gérard Brach / Howard Franklin / Alain Godard. D / F / I 1986; D A S P A R F U M - D I E G E S C H I C H T E E I N E S M Ö R D E R S . Regie: Tom Tykwer. Drehbuch: Andrew Birkin / Bernd Eichinger / Tom Tykwer. D / ES / USA 2006. 2019 wurde Der Name der Rose als Fernsehserie in einer deutsch-italienischen Koproduktion ein zweites Mal verfilmt (8 Folgen in einer Staffel). Auf Motiven von Das Parfum basiert die deutsche Fernsehserie P A R F U M (2018, 6 Folgen in einer Staffel). 295 Umberto Eco: Der Name der Rose. Frankfurt am Main / Wien / Olten 1984, S. 10. Kursivierung im Original. von 50 Millionen mit anderen auf Platz 17 und Das Parfum bei 20 Millionen mit anderen auf Platz 35. 293 Der Hinweis auf die große Verbreitung der Texte erscheint mir relevant, da ich sie dahingehend untersuche, ob und wie sie als Literatur eine geistesgeschichtliche Entwicklung markieren und flankieren. Weil die Romane so populär sind, stehen die kulturhistorischen Implikationen meiner Ausführungen nicht von vorneherein unter dem Vorbehalt, dass sie sich auf Texte stützen, deren Wirkung sich lediglich auf das Feuilleton und die Germanistik beschränkt, man also literatursoziologische Betrachtungen über Bücher anstellt, die kaum einer gelesen hat. Die drei Romane sind mittlerweile fester Bestandteil des literarischen Kanons (Das Parfum ist Schullektüre) und genießen zugleich bis heute große Popularität (Der Name der Rose und Das Parfum wurden sogar in ‚Blockbuster‘-Manier mit internationalen Stars verfilmt). 294 Sie stehen stilbildend für ein neues Para‐ digma des historischen Romans, jenseits des traditionellen Erzählens und der Trennung zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur. Der Name der Rose von Umberto Eco (1932 bis 2016), 1980 veröffentlicht, in der deutschen Übersetzung 1982, spielt im November 1327 an sieben Tagen. Den historischen Background bildet der Streit zwischen dem Papst und dem Mönchsorden der Franziskaner, den der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches begünstigt. Handlungsort ist eine Benediktinerabtei, in der ein Treffen von Vertretern der Konfliktparteien stattfinden soll. Die Abtei wird ohne unmittel‐ bare Lokalisierung an den Hängen des Apennin, „um es mit Dante zu sagen, zwischen Lerici und La Turbie“ 295 verortet. Schon dieses Detail signalisiert (neben der Intertextualität) die kalkulierte Ambiguität zwischen Historizität und literarischer Phantasie im historischen Erzählen Ecos. Im Vorfeld des Treffens kommt es in dem Kloster zu mysteriösen Todesfällen. Der englische Franziskanerpater William von Baskerville, der eigentlich in einer politischen Mission als Sondergesandter des Kaisers zu dem Treffen anreist, wird von dem VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 187 zunehmend nervösen Abt der Benediktinerabtei gebeten, den Täter zu ermitteln. Ihm eröffnet sich bei seinen Untersuchungen ein Panorama von Glaubenskon‐ flikten, Inquisition, verborgenen Leidenschaften, krimineller Energie. Am Ende verbrennt die ganze Abtei mitsamt ihrer kostbaren Bibliothek, und damit auch das von einem orthodoxen Priester aus panischer Angst, es könnte die Stabilität des Glaubens und der Kirche bedrohen, mit allen Mitteln bis zum Mord geheim gehaltene zweite Buch der Poetik des Aristoteles. Dieses soll von der Komödie handeln und ist in Wirklichkeit nicht überliefert. Während Eco vor dem Hintergrund der Handlung von sieben Tagen ein Bild des Mittelalters entwirft, erzählen die beiden anderen Bücher Lebensläufe. Die Entdeckung der Langsamkeit von Sten Nadolny (geb. 1942) ist 1983 erschienen. Der Roman erzählt die Biographie des englischen Polarforschers John Franklin (1786 bis 1847) und orientiert sich dabei an dessen wirklichem Lebenslauf. Die Roman‐ figuren sind zum Großteil reale Personen. Plastisch werden tatsächliche Erlebnisse Franklins erzählt und der Romanheld stirbt ebenso wie der wirkliche Franklin auf der Suche nach der Nordwestpassage. Nadolny dichtet jedoch vieles hinzu, so sind die genauen Umstände des Todes Franklins weitgehend ungeklärt. Doch we‐ sentliches und zentrales Moment der Fiktionalisierung ist die handlungstragende Komponente, dass Franklin eine generelle Langsamkeit im Denken und Handeln als kardinales Wesensmerkmal zugeschrieben wird. Dies trifft biographisch nicht zu, wird im Roman jedoch ausdrücklich stilisiert, phantasiehaft ausgestaltet und als kausal für seine Bedeutung als Entdecker und Forscher geschildert. Patrick Süskinds (geb. 1949) 1985 erschienener Roman Das Parfum erzählt die Biographie des Parfümeurs Jean-Baptiste Grenouille (= Frosch). Es handelt sich um eine fiktive Figur, doch der Text ist in seinen Bezügen zur Geschichte fundiert und bettet das Leben seines Helden schlüssig in einen historischen Kontext ein, der durch gelegentliche Nennung von Daten und Ereignissen unterstrichen wird. Der Roman spielt im Frankreich des 18. Jahrhunderts, der Handlungszeitraum wird exakt umrissen von Grenouilles Geburtstag am 17. Juli 1738 bis zu seinem Todestag am 25. Juni 1767. Der aus elenden Verhältnissen stammende Grenouille verfügt über einen außerordentlichen Geruchssinn und kann so als Parfümeur reüssieren. Er nimmt die Welt und seine Mitmenschen über den Geruchssinn wahr, wobei er selbst jedoch keinen Geruch verströmt. Er schreckt auf seinem Weg nicht vor kriminellen Mitteln zurück. In seinem maßlosen, triebgesteuerten Ehrgeiz, sich Gerüche anzueignen, wird er zum Mörder. Es gelingt ihm schließlich, aus den Leichen seiner Opfer, jungen Mädchen, deren Geruch zu destillieren und ein Parfum zu erschaffen, mit dem er Menschen hypnotisch steuern kann. So kann er seine geplante Hinrichtung ver‐ hindern. Am Schluss kulminiert die Handlung in einem Akt des Kannibalismus. 188 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 296 Zu dieser Diskussion vgl. Birgit Brix: Sten Nadolny und die Postmoderne. Frankfurt am Main [u. a.] 2008; Helmut Bernsmeier: Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Patrick Süskind: Das Parfum. Stuttgart 2012 [Reclams Universal-Bibliothek], S. 67-74. „Es stellt sich weiterhin die Frage, ob Das Parfum als ein typisch postmoderner Roman anzusehen ist. Sicherlich kommt der Intertextualität, wie oben dargelegt, bei der Beurteilung eine besondere Bedeutung zu.“ (Ebd. S.-73) Grenouille kehrt aus dem Süden Frankreichs an seinen Ursprungsort in den Armenvierteln von Paris zurück. Er übergießt sich selbst mit dem ultimativen Parfüm, und wird von der Menschenmenge aufgegessen, da sie ihn wegen des Geruchs, den er ausströmt, für einen Engel hält. In der Grundanlage sind die Texte in ihrem Bezug zur Geschichte verschieden. Eco entwirft eine fiktive Handlung mit fiktiven Figuren, doch lässt er auch historische Personen auftreten und stellt Referenzen zu tatsächlichen Ereignissen her. Nadolny geht umgekehrt vor, er orientiert sich an der Biographie einer realen Person und an historischen Ereignissen, die er mit fiktiven Personen und Ereignissen anreichert. Süskind entwirft eine fiktive Biographie, Handlung und Personen sind erfunden, es wird lediglich am Rande auf historische Daten und Per‐ sonen verwiesen, um erzähllogisch den historischen Hintergrund zu beglaubigen. Alle drei Romane haben einen literarischen Anspruch, versuchen die Psy‐ chologie ihrer Figuren zu hinterfragen und differenziert darzustellen. Zugleich bedienen sie sich eines plot-orientierten, spannungsreichen Genres, was eine Affinität zur Unterhaltungsliteratur nahelegt. Eco und Süskind orientieren sich am Kriminalroman, Nadolny greift das Muster des Abenteuer- und Entdecker‐ romans bzw. der populären historischen Heldenbiographie auf. Während Eco in seinem Romanpersonal keine markante Charakterfigur ins Zentrum stellt, fokussieren sich Nadolny und Süskind auf eine Hauptperson, deren Biographie den Handlungsbogen des Texts bestimmt. Nadolny setzt im zehnten Lebensjahr ein, Süskind mit der Geburt, am Ende steht bei beiden der Tod des Helden. Nadolny geht darüber hinaus noch auf das Nachleben seiner Hauptfigur ein, er schildert die Suche der Ehefrau nach dem Verschollenen. Als gemeinsames Merkmal lässt sich erkennen, dass alle drei vom traditio‐ nellen Konzept des realistischen historischen Romans abweichen, indem sie phantastische Elemente einfließen lassen. Jeder evoziert auf seine Weise eine Diskrepanz, da er konventionelle Erzählmuster aufgreift und diese zugleich bricht. Alle drei Romane werden weitgehend der postmodernen Literatur zuge‐ rechnet, wobei bezeichnend ist, dass bei Nadolny und vor allem Süskind diese Zuordnung häufig infrage gestellt wird. 296 Dies lässt sich darauf zurückführen, dass der Epochenbegriff selbst umstritten ist. VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 189 297 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-15. Eco hat als einziger der Autoren seinen Roman selbst explizit im postmo‐ dernen Diskurs verortet und entwirft in seiner Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ ein Beschreibungs- und Erklärungsmodell, das den historischen Roman der Postmoderne charakterisiert. Erik Schilling hat sich in seiner Studie Der historische Roman seit der Post‐ moderne intensiv mit einigen Texten auseinandergesetzt und die besondere Bedeutung Ecos schon im Untertitel herausgestellt: Umberto Eco und die deutsche Literatur. Er sieht Der Name der Rose als Paradigma für zahlreiche deutsche Ro‐ mane in der Folgezeit. Neben weiteren historischen Romanen Ecos untersucht er ausführlich Die Entdeckung der Langsamkeit und Das Parfum sowie Christoph Ransmayr: Die letzte Welt, Helmut Krausser: Melodien und Adolf Muschg: Der rote Ritter. Schilling gebraucht zwar den Begriff des Paradigmas, doch die Theorie Thomas Kuhns erwähnt er nicht. Ich halte diese als heuristisches Modell und als Einstieg zum Verständnis und zur Beschreibung des Übergangs von der Moderne zur Postmoderne für geeignet. Man kann unter dieser Prämisse den Paradigmenwechsel in Denken, Kunst und Literatur skizzieren und die besondere Rolle des historischen Denkens in diesem Prozess begreifbar machen. „Wenn man die Geschichtsschreibung für mehr als einen Hort von Anekdoten und Chronologie hält, könnte sie eine entscheidende Verwandlung im Bild der Wissenschaft, wie es uns zur Zeit gefangen hält, bewirken.“ 297 Dieser Satz steht einleitend am Beginn von Kuhns Studie und bringt emblematisch einen Zusammenhang von Erzählung und Geschichte zum Ausdruck. In Analogie zu Kuhns Begriffen stellt sich die Frage, welche ‚Rolle‘ die Literatur hat, die sich auf Geschichte bezieht. Lassen sich in dieser Hinsicht für bestimmte Zeiten entsprechende Paradigmen formulieren? Sollen historisch fundierte literarische Texte Parallelen zur Gegenwart aufdecken? Sollen sie Wissen vermitteln oder intendieren sie Eskapismus mittels romantischer Unterhaltung? Das Interes‐ sante an den drei Texten ist ihre Mehrdeutigkeit. Sie orientieren sich trotz aller Verschiedenheit an einem Paradigma und sind speziell als historische Romane exemplarisch für die Postmoderne, da sie mit den Stoffen spielen und die Grenzen der Gattungsdefinition selbstreferentiell ausloten. Die Schwelle zwischen dem literarisch ambitionierten traditionellen historischen Roman und dem Unterhaltungsschmöker wird aufgehoben unter der Prämisse, dass der Realismus-Anspruch dieser beiden Genres aufgelöst wird. Ich denke, dass sich in den Romanen neben dem künstlerisch-individuellen Schaffensgehalt ihrer Autoren Elemente eines kollektiven Denkstils nachweisen 190 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 298 Zum historischen Roman im Exil vgl. Michael Winkler: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Texte und Dokumente. Stuttgart 1977 [Reclams Universalbibliothek], S. 9-37, hier S. 30-32; Alfred Döblin: Der historische Roman und wir. In: ebd., S.-296-321 [Original in: Das Wort (Moskau) 1 (1936), H. 4, S.-56-71]. 299 Umberto Eco: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘. 12. Aufl. München 2016, S.-38. lassen, die sie als typisch für ihre Zeit und das sogenannte postmoderne Denken erscheinen lassen, was gleichermaßen auf ihre Rezeption zutrifft. Gewiss existiert bis in unsere Zeit der historische Schmöker in der Tradition Walter Scotts und des 19. Jahrhunderts als Genre vor allem in der Unterhal‐ tungsliteratur weiter und boomt momentan, Autorinnen wie Rebecca Gablé oder Tanja Kinkel erzielen hohe Auflagen. In der Literatur der Moderne war der historische Roman keine sehr verbreitete Gattung. Die bereits im Begriff verankerte Fixierung dieser Stilrichtung auf die Gegenwart ist einer der Gründe dafür. Alfred Döblins Romane Wallenstein und Die drei Sprünge des Wanglun sind Beispiele für einen vom typischen Denken der Moderne geprägten historischen Roman, für den charakteristisch ist, dass der Gegenwartsbezug immer im Zentrum steht. Die Psychologie der Figuren fungiert als Vorbild für universelle Charaktere und als Erklärungsmodell für Personen der Gegenwart. Auf romantisierende Historie bzw. historisierende Mimesis wird verzichtet. Döblins Romane bedienen sich einer zeitgenössischen expressionistischen oder neusachlichen Sprache, die in ihrer Stringenz typisch ist. Natürlich gibt es auch Ausnahmen im Diskurs der Moderne, Lion Feuchtwanger oder Thomas Mann könnte man nennen, aber diese Diskussion kann hier nicht vertieft werden. In der Exilliteratur widmete sich diese Autorengeneration verstärkt dem histo‐ rischen Roman als Parabel auf die damals aktuelle politische Situation. 298 Die Romane von Eco, Nadolny und Süskind lassen sich als Synthesen begreifen. Alle drei sind in der Anlage und der Psychologie ihrer Figuren von der Moderne geprägt. Eco verweist selbst auf formale Beziehungen zwischen Der Name der Rose und dem Ulysses von James Joyce. 299 Zugleich versuchen die Texte, ihre Aussagen in einem unterhaltsamen Duktus zu präsentieren, und greifen dabei auf Mittel der Unterhaltungsliteratur zurück. Diese ironische, spielerische Kombination von bislang als inkommensurabel angesehenen Textelementen gilt als charakteristisch für den Denkstil der Postmoderne. Eco hat sein Vorgehen sehr explizit in Paratexten dargelegt. Seine Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ lässt sich als Manifest eines neuen historischen Romans lesen. Der Begriff des Paradigmas erscheint im Zusammenhang mit den drei Texten von Bedeutung, weil insbesondere Eco und Süskind gewisse Form- und Handlungsmuster entwickelt haben, die ihre Nachahmer fanden. Zumin‐ VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 191 300 Sikander Singh / Manfred Leber (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Saarbrücken 2018 [Saarbrücker literaturwissenschaftliche Ringvorlesungen 7]. dest lassen sich in zahlreichen Romanen Versatzstücke nachweisen, die ihren Ursprung oder ihre erste weite Verbreitung in den erwähnten Texten hatten. In den folgenden Jahren häuften sich Romane, die um eine alte Handschrift, ein geheimnisvolles Buch oder ein Labyrinth kreisten, oder eine Hauptfigur hatten, die durch eine außergewöhnliche Eigenschaft hervorstach. Oft wurden dabei Aspekte kombiniert oder ergänzt, z. B. Lawrence Norfolk: Lemprière’s Wörterbuch (1991), Robert Schneider: Schlafes Bruder (1992). Auch Nadolnys Muster der fiktionalisierten Biographie wurde z. B. von Daniel Kehlmann in der Doppelbiographie Alexander von Humboldt / Carl Friedrich Gauss Die Vermessung der Welt (2005) oder von Ilja Trojanow mit Der Weltensammler (2006), der das Leben des Entdeckers Richard Francis Burton (1821 bis 1890) nachzeichnet, weitergeführt. Der Erfolg zahlreicher Texte dieses Genres zeigt, dass das Interesse am historischen Roman mit intellektuellem Anspruch bis heute im Trend liegt. Daher ist der Ansatz konsequent, die drei Romane dahingehend zu be‐ trachten, inwiefern sie Elemente eines Denkstils oder eines Paradigmas ent‐ halten, und sie vergleichend zu interpretieren. Sie sind repräsentativ für das Verhältnis unseres kulturell-politischen Diskurses zur Geschichte. Wenn man die Beiträge eines Sammelbandes über Literatur und Geschichte einmal Revue passieren lässt, 300 wird illustriert, wie unterschiedlich die jewei‐ ligen Konzeptionen der Literatur in ihrer Behandlung der Geschichte sind. Alle vorgestellten Texte und Epochen haben auf eine eigene Weise Geschichte in Literatur geformt, und es deutet sich in der Gesamtschau an, dass es dabei temporär bestimmte formale, inhaltliche und stilbildende Muster gibt. Die Rolle von Geschichte in der Literatur prinzipiell betrifft hier das Thema auch auf einer Metaebene, weil sie vor allem bei Eco, aber auch bei anderen Autorinnen und Autoren der Postmoderne in den Texten performativ hinterfragt wird. Es schwingt immer die Frage mit, ob diese Romane nicht nur von der literarischen Perspektive her eine neue Konzeption des historischen Romans repräsentieren, sondern auch ein neues Verhältnis zur Geschichte spiegeln, einen Paradigmenwechsel in der Geschichtsforschung literarisch flankieren. Es lassen sich in allen diesen Texten entsprechende Bezüge zu den geschichtsphi‐ losophischen Studien der bereits erwähnten Arthur C. Danto und Hayden White herstellen. 192 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 301 Erik Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur. Heidelberg 2012, S.-9. Schilling stellt heraus, „dass historisches Erzählen und Postmoderne in enger Verbindung stehen“. 301 Diesen Befund bekräftigt, dass die Verknüpfung mit der Geschichte sich bereits in dem in Schillings Studie nicht erwähnten Roman V. von Thomas Pynchon aus dem Jahre 1963 findet, der als paradigmatischer Roman der amerikanischen Postmoderne gilt. Der Text entwickelt ein kom‐ pliziertes Personen-, Orts-, Zeit- und Handlungskontinuum, das sich einer schlüssigen Interpretation und eindeutigen Zuordnung widersetzt. Das Werk ist zwar kein explizit historischer Roman, doch ist V. ohne Geschichte nicht denkbar und der Bezug zur Geschichte bietet einen plausiblen Deutungsansatz für den Text. Eine der beiden Hauptfiguren, Stencil, ist Historiker. In den hin‐ terlassenen Aufzeichnungen seines Vaters ist er auf das rätselhafte Zeichen „V.“ gestoßen und begibt sich auf eine ruhelose Suche nach dessen Entschlüsselung. Der ereignis-, personen- und anspielungsreiche Roman löst das Rätsel jedoch nicht auf, sondern führt Stencil und die anderen Figuren zu immer neuen Verwicklungen und Fragen, deutet ständig Verschwörungen an. Im Grunde repräsentiert der Roman die Unmöglichkeit, Geschichte objektiv zu schreiben, Ordnung in die Vergangenheit und damit auch in die Gegenwart zu bringen. V. symbolisiert die Weltgeschichte und ihre Widersprüchlichkeiten prägnant im Handlungsort Malta. Auf der kleinen Insel im Mittelmeer, die von verschiedenen Kulturen geprägt ist, finden sich einige der frühesten Zeugnisse menschlicher Zivilisation. Von dort schlägt Pynchon den historischen Bogen bis zu den Bombardierungen Maltas im Zweiten Weltkrieg und in die Gegenwart. Die Suche Stencils verknüpft Geschichtsschreibung mit Identitätsfindung. V. entstand in der 1960ern fast zeitgleich mit Thomas Kuhns Paradigmen- Theorie. Kuhn verweist für die Wissenschaftsgeschichte darauf, dass Natur‐ wissenschaft nicht nur auf Empirie fundiert, sondern auch nicht-rationale Entscheidungen, Wahrnehmungen und soziale Faktoren eine Rolle spielen. Hier ist eine Affinität zum Geschichtsbild Pynchons festzustellen. Hinter den im jeweiligen historischen Kanon festgehaltenen Daten und Fakten stehen Ungewissheiten: Interpretationen, Deutungen und Tatsachen, die nicht von der Geschichtsschreibung registriert wurden, bewusst oder unbewusst. Immer schwebt die Vermutung mit, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte. Dieses Gedankenspiel bringt Pynchon pointiert mit Verschwörungsszenarien zum Ausdruck und verweist dabei auch auf die jüngere Vergangenheit, wobei er bewusst Schauplätze an der (scheinbar) weltgeschichtlichen Peripherie wählt wie Malta oder Deutsch-Südwestafrika. Diese Dekonstruktion eines traditio‐ VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 193 302 Eco: Der Name der Rose 1984, S.-103. nellen Geschichtsbildes kann als eine der grundlegenden Eigenschaften einer bis heute verbreiteten Denkweise gelten. Damit antizipiert Pynchons Roman vieles von dem, was in den Texten von Eco, Nadolny und Süskind explizit und systematisierter hervortritt. Die Verschwörung nimmt bei Eco einen besonderen Raum ein, Süskind stellt seinen Protagonisten explizit als von der Geschichte Vergessenen vor. Vor dem Hintergrund des Zeichens „V.“ in Pynchons Roman erscheint bemerkenswert, dass Eco Professor für Semiotik war und seine zen‐ trale Auffassung von der Vieldeutigkeit der Zeichen konstituierend ist für sein Verständnis von Geschichte und seine historischen Romane. Eine entsprechende Stelle in Der Name der Rose kann sogar als intertextueller Verweis auf V. verstanden werden: „Hier krümmte sich ein großer Anfangsbuchstabe zu einem L und gebar aus seinem unteren Teil einen Drachen, dort kroch aus einem großen V, das den Anfang des Wortes Verba bildete […] eine Schlange.“ 302 Die Textpraxis unterstreicht, dass es eine verbindliche Definition der Postmo‐ derne nicht gibt, vielmehr handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche Tendenzen. So bleibt die typologische Erfassung wesentlicher Eigenschaften diffus und umstritten. Man kann lediglich versuchen, einige Aspekte zu formulieren, die entsprechende literarische und kulturelle Trends im zeitlichen Kontext erklären. Für Kuhn geht einem Paradigmenwechsel immer eine Krise voraus. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich im soziokulturellen Umfeld des Übergangs von der Moderne zur Postmoderne gewiss einige Ana‐ logien festhalten. Wir haben es mit einer Welt zu tun, die dem Menschen mehr mediale Erfahrungen als unmittelbare Erlebnisse bietet. Fernsehen, Kino oder Internet haben ein höheres Maß an Sekundärwahrnehmung und auch Unsicherheit mit sich gebracht. Der Gedanke der Moderne ist in der Literatur verbunden mit den großen Experimenten einerseits und zum anderen mit Realismus-Konzepten, die sich an politischen Ideologien und Zielen orientieren. Doch zunehmend erscheint die Welt unverständlich, eine Wirklichkeit weniger erfassbar und damit wandelt sich auch die Rolle der Literatur als Erklärungs‐ modell respektive ihrer Verfasser. Die Intertextualität, Stilvielfalt der postmo‐ dernen Literatur drückt dies aus, die Stilbrüche können als Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit gedeutet werden. Im politischen Diskurs manifestierten sich in den 1980er Jahren zunehmend Zweifel an technischen, ökonomischen und politischen Heilsversprechen. Nach den totalitären Experimenten stießen auch die Verheißungen der demokratischen Wohlstands- und Wachstumsge‐ sellschaft, einer Freizeit- und Informationsgesellschaft an ihre Grenzen, die dank der friedlichen Nutzung der Atomenergie über schier unerschöpfliche 194 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 303 Klaus Briegleb: Weiterschreiben! Wege zu einer deutschen literarischen ‚Postmoderne‘? In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hrsg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München 1992 [Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von Rolf Grimminger, Band-12], S.-340-381, hier S.-350. 304 Hanns-Josef Ortheil: Was ist postmoderne Literatur? (1987). In: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Hrsg. von Uwe Wittstock. Leipzig 1994, S.-125‒ 134, hier S.-133: „Inzwischen verfügt die deutschsprachige Literatur jedoch über ‒ soweit ich sehe ‒ drei Meisterwerke postmoderner Haltung. An erster Stelle ist Wolfgang Hildesheimers Roman Marbot zu nennen. Marbot ist ein Planspiel mit der Geschichte. Die fiktive, jedoch durch faktisches Material beglaubigte Hauptfigur stiftet hier auf ironische (unterkühlt britische, durchaus ‚spleenige‘) Weise eine Totalintrige an, die dem Leser zumutet, gleichsam Geschichte als universelles Zitat zu lesen.“ 305 Wolfgang Hildesheimer: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Christiaan Lucas Hart Nibbrig und Volker Jehle. Bd. IV: Biographische Prosa. Marbot. Frankfurt am Main 1991, S.-11f. Energievorräte verfügen sollte und dank Automatisierung der Arbeit Freizeit und Wohlstand gleichermaßen generieren sollte. Stattdessen entwickelte sich mit exponentiell zunehmender Digitalisierung eine Alltagswelt, die zwar viele neue Möglichkeiten schuf, zugleich aber dem Einzelnen verstärkt Bildungs- und Konzentrationsleistungen abverlangte. In Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur widmet sich Klaus Briegleb in einem Beitrag des Bandes Gegenwartsliteratur seit 1968 (1992 erschienen) ausführlich der „Realismuskrise“ der deutschen Literatur Anfang der 1980er Jahre. Er verweist darauf, dass der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer resigniert konstatiert habe, „daß die realistisch erzählende Literatur den Wettlauf mit der Wirklichkeit verloren hat“. 303 Hildesheimers literarische Reaktion darauf ist seine 1981 im Gestus einer Biographie geschriebene Lebensgeschichte eines fik‐ tiven englischen Adligen und Kunsttheoretikers zu Beginn des 19.-Jahrhunderts, Marbot, über deren Einordnung als programmatisch für die postmoderne Literatur diskutiert wurde. 304 In jedem Fall weist der Text in seiner historischen Dimension, seinem Spiel zwischen Fiktion und Referenz deutliche Affinitäten vor allem zu den als Biographien gestalteten Romanen von Nadolny und Süskind auf. Hildesheimers Held steht in persönlicher Beziehung zu Gestalten seiner Zeit wie Goethe und August von Platen. Die Zuspitzung des Spiels zwischen Fiktion und Dokumentation ist charakteristisch für Hildesheimers Prinzip, was einige Stellen prägnant signalisieren. So baut er Pseudo-Dokumente in den Text ein und lässt ihn direkt mit einem Gespräch zwischen Marbot und Goethe beginnen. 305 Auch Umberto Eco diagnostiziert eine Krise der Moderne: Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weitergehen kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 195 306 Eco: Nachschrift 2016, S.-78. 307 Eco: Nachschrift 2016, S.-77. 308 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Leipzig 1874, S.-10. Kursivierung im Original. 309 Ebd., S.-8. Kursivierung im Original. 310 Eco: Nachschrift 2016, S.-63f. 311 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-50f. von ihren unmöglichen Texten (die Concept Art). Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld. 306 Dies schreibt er in seiner Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ und sein Roman ist die programmatische Umsetzung dieses Befundes: „Ich glaube, daß man in jeder Epoche an Krisenmomente gelangt, wie sie Nietzsche im zweiten Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen über den ‚Nachteil der Historie für das Leben‘ beschrieben hat.“ 307 Eco führt hier zwar keine Textstelle von Nietzsche an, doch denkt er an Passagen wie diese: „[E]s giebt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur.“ 308 Nietzsche formuliert provokant, dass Glück unhistorisches Empfinden bedinge: „So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, […]“. 309 Die Äußerungen Ecos und Nietzsches veranschaulichen in der Gegenüber‐ stellung das dialektische Prinzip des Umgangs mit Historie und Gegenwart, das mit Der Name der Rose exemplarisch in die Romanform kanalisiert, in Sprache und Inhalt komponiert wird. Doch dabei achtet Eco darauf, den philosophischen Gehalt in einen spannenden Plot zu fassen. Der Kriminalroman erscheint ihm dafür die richtige Form, er verweist auf die Parallelität dieses Genres zur Wissenschaft: Denn wie der ermittelnde Detektiv gehen auch der Arzt, der Forscher, der Physiker und der Metaphysiker durch Konjekturen vor, das heißt durch Mutmaßungen und Vermutungen über den Grund der Sache, durch mehr oder minder kühne Annahmen, die sie dann schrittweise prüfen. 310 Thomas Kuhn assoziiert die wissenschaftliche Arbeit im Rahmen eines Para‐ digmas ebenfalls mit dem Lösen von Rätseln. 311 Wenn auch unter anderen Prämissen, lässt er sich in diese von Eco skizzierte Denkweise einreihen. Die offensichtlich in Anlehnung an Sherlock Holmes benannte Hauptfigur von Der Name der Rose William von Baskerville ist Wissenschaftler und Detektiv 196 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 312 Eco: Der Name der Rose 1984, S.-223. 313 Ebd., S.-137. 314 Ebd., S.-365. zugleich, was im Roman hervorgehoben wird, wenn sein Vorgehen mit wissen‐ schaftlicher Terminologie skizziert wird. Ecos Roman versteht sich in seinem Gegenwartsbezug vor allem als Appell für das Ethos einer offenen Wissenschaft. Die verschlossene Bibliothek der Abtei versinnbildlicht Verschleierung von Erkenntnis, die ein herrschendes Paradigma, auch einen Glaubenssatz ins Wanken bringen kann: „Wissenschaft im Dienst der Verschleierung statt im Dienst der Erleuchtung. Gefällt mir nicht. Ein perverser Geist beherrscht die fromme Verteidigung dieser Bibliothek …“, 312 meint William von Baskerville. Dieser Aspekt weist ebenfalls Affinitäten zu Kuhns Paradigmenmodell auf: Die Vertreter des alten Paradigmas beharren, verweigern sich der Öffnung, die Gründe dafür finden sich in orthodoxem Glauben oder Irrationalismus. Der intertextuelle Verweis auf eine literarische Figur des 19./ 20. Jahrhunderts im Namen einer fiktiven Figur aus dem Mittelalter steht für Ecos Prinzip des spielerischen Umgangs mit dem Stoff. Zitat und Intertextualität gelten als ein wesentliches Merkmal postmodernen Denkens. Eco formuliert in seiner Nach‐ schrift explizit, wie Intertextualität Texte bestimmt. Vor allem Julia Kristeva und Gérard Genette haben die zeitgenössische Literaturwissenschaft durch ihre Thesen zur Intertextualität geprägt. Eco spielt an einer Stelle in Der Name der Rose subtil auf den Titel von Genettes Standardwerk zur Intertextualität Palimpseste an: „Schnee […] ist ein wundervolles Pergament, auf dem die Füße der Menschen deutlich lesbare Schriftzüge hinterlassen. Aber dies hier ist leider ein schlecht abgeschabtes Palimpsest, auf dem wir kaum etwas Interessantes entziffern werden.“ 313 In einem Gespräch Williams mit seinem Schüler und Begleiter Adson von Melk, ebenfalls Teil der Allusion auf den Sherlock-Holmes-Stoff, wird die Bedeutung der Intertextualität deutlich konzeptualisiert: „[…] Um zu erfahren, was ein Buch enthält, müsst Ihr andere Bücher lesen? “ „Manchmal ist das ganz nützlich. Oft sprechen die Bücher von anderen Büchern. Oft ist ein harmloses Buch wie ein Samenkorn, das in einem gefährlichen Buch aufkeimt, oder es ist umgekehrt die süße Frucht einer bitteren Wurzel. Könntest du nicht zum Beispiel erfahren, was Thomas gedacht hat, wenn du Albertus liest? […]“ 314 Der Diskurs über die Intertextualität lässt sich in einen größeren Kontext einbetten. Ecos zeichentheoretischer Ansatz geht einher mit dem in den 1960er Jahren einsetzenden „linguistic turn“, Sprache und Zeichen werden VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 197 315 Umberto Eco: Semiotik der Ideologie. In: Textsemiotik und Ideologiekritik. Hrsg. von Peter V. Zima. Frankfurt am Main 1977, S.-54-64, hier S.-54. 316 Eco: Nachschrift 2016, S.-11. nicht als reine Bedeutungsträger behandelt, sondern als Teil des Diskurses und somit Gegenstand ihrer Selbst. Reflexionen über Metasprache, Metafiktion und Metageschichtsschreibung werden somit zu zentralen Inhalten der Geistes‐ wissenschaft. In seinem Aufsatz Semiotik der Ideologie stellt Eco heraus, dass Sprache sich nicht komplementär in Form und Bedeutung, Bezeichnendes und Bezeichnetes strukturieren lässt: Je „offener“ eine Nachricht ist, je mehr Decodierungen sie zuläßt, desto stärker wird die Auswahl der Codes und der Subcodes, außer von der Kommunikationssituation, von den ideologischen Voraussetzungen des Empfängers beeinflusst. In dieser Hinsicht erscheint die Ideologie (sowie die Umstände) als ein außersemioti‐ sches Residuum, das den semiotischen Prozeß steuert. […] Ein semantisches System als Weltanschauung ist daher eine der Möglichkeiten, der Welt eine Form zu geben. 315 Der Name der Rose spiegelt diese komplexe Fragestellung in seiner pointierten Vieldeutigkeit und Mehrfachcodierung wider. Im rätselhaften Titel drückt sich dieses Moment signifikant aus, was Eco in der Nachschrift akzentuiert: Die Idee zu dem Titel Der Name der Rose kam mir wie zufällig und gefiel mir, denn die Rose ist eine Symbolfigur von so vielfältiger Bedeutung, daß sie fast keine mehr hat: […] Der Leser wird regelrecht irregeleitet, in alle möglichen Richtungen (also in keine) gewiesen, er kann dem Titel keine bestimmte Deutung entnehmen, […] 316 In seiner ganzen Struktur ist der Roman vom theoretischen Paradigma Ecos bestimmt. Der Verfasser entfaltet ein Vexierspiel zwischen Fiktionalitäts- und Authentizitätssignalen, Autorinstanz und Erzählerinstanz. Sein Roman beginnt mit einem Vorwort, in dem eine fingierte verwickelte Recherche-, Quellen- und Fassungsgeschichte einer mittelalterlichen Handschrift entfaltet wird. Der Autor signalisiert jedoch formal Authentizität, z. B. wenn er die Vorbemerkung exakt auf den 5. Januar 1980 datiert, übrigens sein 48. Geburtstag. Bereits in diesem Einstieg manifestiert sich Ecos Spiel mit Gérard Genettes strukturalisti‐ schen Modellen der Literaturtheorie. Das Vorwort ist in seiner Fiktion Teil des Romans, zugleich nimmt es die Funktion eines Paratexts bzw. Beitexts wahr, indem der Autor die Erläuterung seiner Absichten in die Erzählung der fiktiven Quellengeschichte einfließen lässt. Der eigentliche Romantext wird schließlich als von ihm selbst respektive von der Erzählerinstanz des Vorworts nach einer textkritischen Betrachtung abgefasste Bearbeitung der mittelalterlichen Hand‐ 198 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 317 Eco: Der Name der Rose 1984, S.-21. 318 Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne 2012, S.-125. schrift ausgewiesen. Als Ich-Erzähler figuriert der greise Adson von Melk, der als junger Schüler mit William von Baskerville die mysteriösen Geschehnisse in der Abtei erlebt hat. So ist die Diegese, die eigentliche Erzählebene und Erzählung Adsons, immer unter dem Vorbehalt zu lesen, dass es nicht der echte Adson ist, der hier spricht, sondern die nacherzählende Autorinstanz. In jedem Fall haben wir es mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun, worauf im Romantext angespielt wird: „Was Bruder William tatsächlich suchte, wußte ich damals nicht, und um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es noch heute nicht.“ 317 Eco führt den Leser analog dem in der Erzählung eine zentrale Rolle spielenden Labyrinth der Abteibibliothek in ein komplexes Erzähllabyrinth. Dagegen sind die Romane von Nadolny und Süskind stringenter aufgebaut, doch stellen sie auf ihre Weise ähnliche Fragen wie Eco an die Geschichtsschreibung und ihre Möglichkeiten. Schilling weist darauf hin, dass Die Entdeckung der Langsamkeit der erste his‐ torische Roman der deutschen Nachkriegsliteratur war, der ein breites Publikum fand. Er führt dies auf die Belastung des Genres durch die Nationalsozialisten zurück. 318 Nadolny schildert das Leben des Polarforschers John Franklin, einer realen historischen Person und folgt weitgehend den äußeren Ereignissen von dessen Biographie, sowohl im Privaten als auch in seiner Teilnahme an bedeutenden Schlachten wie der von Trafalgar, seiner Tätigkeit als Gouverneur von Tasma‐ nien sowie seinen Polarexpeditionen, auf deren letzter er verstarb. In einer Bibliographischen Notiz am Ende des Buches verweist er detailliert auf die verwendete Sachliteratur. Doch zugleich fiktionalisiert Nadolny, indem er den als Entdeckerfigur ikonographisch für Fortschritt und Schnelligkeit stehenden Franklin als Mensch von ausnehmender Langsamkeit darstellt. Nadolny bricht in der Darstellung dieser Ambiguität den Erzählduktus und auch die für viele Romane der Moderne charakteristische sprachliche Schnelligkeit. Er versteht es, sein Erzähltempo entsprechend zu variieren, und wechselt zwischen der Perspektive der historischen Dimension seiner Handlung und der Innensicht Franklins. Die Erzählhaltung ist auktorial, doch im Wesentlichen auf den Blickwinkel und die Innenwelt Franklins fokussiert. Der Forscher und Entdecker ist kein Schnellentscheider und Held, sondern ein zweifelnder, bedächtiger Mensch, der seine Stärke und sein Wissen aus der Langsamkeit gewinnt. Diese Bedächtigkeit impliziert auch Spiel und Zweckfreiheit. Nadolny invertiert Topoi der modernen Zivilisation wie „Zeit ist Geld“ und plädiert schon durch den VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 199 319 Hermann Schlösser: Literaturgeschichte und Theorie in der Literatur. In: Gegenwarts‐ literatur seit 1968. Hrsg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München 1992 [Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von Rolf Grimminger, Band 12], S. 385- 403, hier S.-400. 320 Nadolny: „Mein Bestseller war Zufall.“ 2012. 321 Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit. München 1990 [Serie Piper 700; 17. Aufl., 11. Aufl. der Neuausgabe 1987], S.-159. als ironisch konnotierbaren Titel Die Entdeckung der Langsamkeit für eine Umkehrung des Prinzips „Schneller - höher - weiter“. Hermann Schlösser meint, der Roman schreibt Historie am Beispiel des Polarforschers Franklin und rekonstruiert eine Eigenschaft, die der sich beschleunigenden Moderne zunehmend abhanden kam. Somit leitet er eine Alternative zur Fortschrittsgeschichte aus der Moderne selbst ab. 319 Der Roman lässt sich als eine hintergründige Parabel auf unsere und die Zeit überhaupt lesen. „Die Zeiten waren immer schon zu schnell für das nötige Nachdenken, vielleicht sogar im Mittelalter. Man muss sich die Zeit für sich selbst einfach nehmen“, sagt Nadolny in einem Zeitungsinterview aus dem Jahre 2012. 320 Nadolnys Roman bricht mit dem Paradigma einer sich ständig beschleunigenden Welt. Damit konterkariert er die implizit gültige Formel, dass eine neue Entdeckung zugleich mit Beschleunigung verbunden ist. Der Text ist von einem permanenten Dualismus getragen: Der Geschwin‐ digkeitsmythos der industriellen Gesellschaft wird gebrochen durch Franklins Langsamkeit. Dem kollektiven Zeitgeist wird die Individualität gegenüberge‐ stellt. Diese Ambivalenz sei an einem Beispiel dargelegt: Ziel einiger von Franklins Polarexpeditionen ist offiziell die Entdeckung der Nordwestpassage, die den Seeweg zwischen Europa und Asien erheblich verkürzen respektive beschleunigen sollte. Franklin selbst hat für sich ein entgegengesetztes Ziel vor Augen: „Er war sicher, daß es dort, weil im Sommer die Sonne nicht unterging, zweierlei gab: offenes Wasser, und eine Zeit ohne Stunden und Tage.“ 321 Während in Ecos literarischem Werk der historische Roman die bevorzugte Gattung ist, stellt Die Entdeckung der Langsamkeit bei Nadolny eine Ausnahme dar. Der Autor kann als Vertreter des Zeitromans der Gegenwart angesehen werden. Daher erscheint die Konzeptualisierung der „Langsamkeit“ in seinem Gesamtwerk interessant. Der historische Franklin-Roman ist in der Schaffens‐ chronologie Nadolnys umklammert von zwei sehr auf die deutsche Gegenwart fixierten Romanen: Netzkarte (1981) und Selim oder Die Gabe der Rede (1990). Beide Romane sind stark von einem analytisch-zeitdiagnostischen Moment ge‐ prägt, was ja auch für Die Entdeckung der Langsamkeit konstatiert werden kann. 200 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 322 Wolfgang Frühwald: Einführung. Ein „überragendes Mittel gegen die Einsamkeit“. Über den Erzähler Sten Nadolny. In: Sten Nadolny: Das Erzählen und die guten Absichten. Münchner Poetikvorlesungen im Sommer 1990, eingeleitet von Wolfgang Frühwald. München 1990, S.-11-19, hier S.-14. Ebenso wird das Verhältnis Individualität - Gesellschaft betont, repräsentiert durch die starke Fixierung auf Protagonisten, die Probleme haben, sich in ihre soziale Welt einzufügen. In Netzkarte macht ein angehender Lehrer unmittelbar vor seiner beruflichen Einstellung, die den Einstieg in eine bürgerliche Existenz markiert, einen Monat lang eine Zugreise quer durch Deutschland. Nadolny greift dabei die romantische Figur des „Taugenichts“ auf, der sich nicht binden will, und konterkariert dieses Motiv mit den sozialen Zwängen der modernen Gesellschaft. Selim oder Die Gabe der Rede greift aktuelle poltisch-soziale Fragen auf. Wie im Titel angedeutet, steht ähnlich Franklins Langsamkeit eine besondere Begabung eines Menschen im Zentrum. Dabei entwickelt er zwei Hauptfiguren, deren Schicksal er vor der deutschen Zeitgeschichte von 1965 bis 1989 verfolgt. Alexander, der autobiographische Züge Nadolnys trägt, und Selim, türkischer Gastarbeiter, stehen exemplarisch für eine Generation und die Begegnung ihrer Kulturen. Die Entdeckung der Langsamkeit lässt sich somit nicht nur in ein Gattungsparadigma, sondern in ein Menschenbild und ein erzählerisches Programm des Autors einordnen. Der Gegenwartsbezug hier ist wie in den beiden anderen Romanen als Kritik an einer zunehmend auf Perfektionierung ausgerichteten Welt zu deuten. Wolfgang Frühwald charakterisiert den Roman so: Nicht um das Historische also geht es Sten Nadolny auch und gerade im historischen Roman, sondern um das Exemplarische eines wirklich gelebten Lebens an jener geschichtlichen Schwelle, an der mit der Erfahrungswissenschaft das Zeitalter der Information und der Überinformation begonnen hat, […]“ 322 Der Rückgriff auf die Geschichte dient so zum Verständnis der Gegenwart, Na‐ dolny greift auf einen Paradigmenwechsel zurück, der bis heute wirkt. Das heißt aber nicht, dass die Geschichte für Nadolny lediglich eine Projektionsfläche der Gegenwart darstellt. Er äußert sich in einem für eine Neuausgabe von 2007 verfassten Nachwort sehr ausführlich vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie zur Entste‐ hung des Romans. Er erzählt von seiner jugendlichen Begeisterung für Entde‐ ckergeschichten. Über seine Eltern, beide Schriftsteller, hat er sogar zahlreiche Autoren der von ihm verschlungenen Abenteuerromane und Reiseberichte als Kind persönlich kennengelernt. Schon damals habe sich eine besondere VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 201 323 Sten Nadolny: Nachwort [zur Neuauflage von 2007]. In: Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit. 47. Aufl. München. 2012 (E-Book), S.-310-324, hier S.-319. 324 Frühwald: Einführung 1990, S.-14. Faszination für John Franklin entwickelt, die ihn auch im Geschichtsstudium begleitete. Diese spiegelt er mit seinen eigenen Lebenserfahrungen. Er schildert seine anfängliche Sympathie für die Studentenbewegung von 1968 und die Ernüchterung nach deren Radikalisierung als einschneidendes Erlebnis. Im Roman wird dies verkörpert und allegorisiert in Franklins Beziehung zu der fiktiven Figur der Sozialaktivistin Flora Reed und fügt sich zu einer Summe und Kanalisierung der Persönlichkeit des Autors; die eigene und die kollektive Geschichte werden in einem historischen Stoff gespiegelt: Die Produktion dicker Romane ist als Ergebnis gescheiterter Revolutionen geläufig. Ich glaube dennoch nicht, daß ich damit angefangen hätte, aus meiner ‚Franklinfor‐ schung‘ doch noch einen Roman zu machen, wenn mich nicht das Kino dazu ermutigt hatte. 323 Womit er das Autorenkino der 1970er Jahre meint. Er rekurriert damit indirekt auf die oben erwähnte Realismus-Krise, Frühwald verweist auch ausdrücklich auf die Ähnlichkeit der Figur Franklins mit Hildesheimers Marbot. 324 Nadolny reflektiert wie Eco den Zeitgeist der 1960er bis 1980er Jahre und begreift seinen Roman als Reaktion auf eine Krise, die kollektiven Entwicklungen geschuldet ist. Er akzentuiert jedoch stärker seine persönliche Dimension, die sich mit der Fokussierung auf seine Hauptrespektive Identifikationsfigur äußert. Im Gegensatz zu Eco finden sich bei ihm allenfalls indirekte Bezüge zu den wissenschaftlich-theoretischen Diskursen der Postmoderne. Er schreibt die Biographie einer bedeutenden Figur der Geschichte bewusst um und lässt sie als Menschen erscheinen, konterkariert so eine Geschichts‐ schreibung der Helden und „großen Erzählungen“. In diesem Punkt zeigen sich Ähnlichkeiten mit Das Parfum. Patrick Süskind entwickelt in seinem Roman Das Parfum ebenfalls eine Figur mit starker Individualität. Der Roman beginnt im Paris des 18. Jahrhunderts. Diese historische Kulisse wird nicht in ihrer geistes- und sozialgeschichtlichen Dimension präsentiert, sondern in naturalistischer Manier als ein Kosmos aus Dreck, Schmutz und Unrat beschrieben. Subtil karikiert Süskind das historisie‐ rend-idealisierte Bild des Chronotopos vom Paris der Aufklärung. Anders als bei Eco und Nadolny lässt sich der Roman im Gesamtwerk des Autors nur schwer konzeptualisieren, da es sein einziger ist. Süskind hatte sehr große Erfolge als Drehbuchautor von Serien und Filmen, meist in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Helmut Dietl, z. B. Kir Royal (1986) oder Rossini - oder die mörderische 202 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 325 Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1985, S. 5. Vgl. Kleist: Michael Kohlhaas 2005, S. 13: „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“ 326 Schlösser: Literaturgeschichte 1992, S.-400. Frage, wer mit wem schlief (1997). An literarischen Werken hat er neben dem Parfum das sehr erfolgreiche monologische Theaterstück Der Kontrabass (1981), die Erzählung Die Taube (1987) und die Novelle Die Geschichte von Herrn Sommer (1991) veröffentlicht, daneben noch einige Kurzgeschichten und Essays. Als Konstante mag auffallen, dass bei allen Unterschieden den genannten Texten gemeinsam ist, dass sie schwierige Charaktere als Protagonisten ins Zentrum stellen. Süskind lebt zurückgezogen von der Öffentlichkeit, er hat kaum Interviews gegeben, es existieren nur wenige Selbstäußerungen zu seinen Texten. Er verkörpert in vieler Hinsicht als Autorentyp das Gegenteil von Umberto Eco. Süskind ist studierter Historiker und man erkennt, dass sein Roman unter Kenntnis der Methoden und des damals aktuellen Diskurses der Geschichtswis‐ senschaft geschrieben wurde. Schon der Untertitel Die Geschichte eines Mörders intendiert dies. Das Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs der Geschichte wird im ersten Abschnitt des Romans noch evidenter, der mit einer Anspielung auf Kleists Michael Kohlhaas beginnt: Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt werden. Er hieß Jean- Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouchés, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen berühmteren Finstermännern an Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immoralität, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hätte, sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschränkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinter‐ lässt: auf das flüchtige Reich der Gerüche. 325 Die neuen Tendenzen der Geschichtswissenschaft in den 1970er und 1980er Jahren, die verstärkt die Alltags- und Mentalitätsgeschichte prononcieren, sind Süskind wohlvertraut. Hermann Schlösser schreibt: „Patrick Süskind präsen‐ tiert das, was Alain Corbin in einer kulturwissenschaftlichen Studie über den menschlichen Geruchssinn darlegte, im preziös geschriebenen Kriminalroman ‚Das Parfüm‘ [sic! ] (1985).“ 326 VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 203 327 Stefanie Kreuzer: Vom genieästhetischen ‚Duften‘ zum postmodernen ‚Verduften‘ der Texte, Figuren und Autoren: Intertextuelle Referenzen in Patrick Süskinds Roman Das Parfum. In: Andreas Blödorn / Christine Hummel (Hrsg.): Psychogramme der Postmoderne. Neue Untersuchungen zum Werk Patrick Süskinds. Trier 2008 [Kleine Reihe Literatur - Kultur - Sprache. Hrsg. von Lothar Bluhm, Band 5], S. 23-38, hier S.-27. 328 Süskind: Das Parfum 1985, S.-72-77. 329 Bernsmeier: Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Patrick Süskind: Das Parfum 2012, S.-46. Die Deutungsmöglichkeiten für den Roman sind vielschichtig. Eindeutig ist die nicht explizite, aber markante Intertextualität, die bereits im ersten Satz mit der Kleist-Anspielung zum Ausdruck kommt. Süskind greift auf den Motiv‐ schatz von der Klassik bis zur Moderne zurück, zahlreiche Forschungsarbeiten haben dies detailliert herausgearbeitet. Im Parfum finden sich signifikant häufig Verweise auf bekannte historische Romane wie z. B. Victor Hugos Der Glöckner von Notre Dame. 327 Das Spiel mit den Zitaten und Allusionen, die ironische Umkehrung von Motiven und Stoffen ist einer der Gründe, warum das Buch der Stilrichtung der Postmoderne zugeordnet wird. Eine zentrale Botschaft lässt sich auf einer primären Deutungsebene nicht ableiten. Der versierte Drehbuchschreiber Süskind entwickelt einen schlüssigen Plot und komponiert eine spannende Kriminalhandlung. Er nutzt das populäre Genre als Projekti‐ onsfläche, auf die er seine tiefgründigen Aussagen spiegelt. Im Grunde ähnelt diese Methode der Umberto Ecos, doch ist Süskind wesentlich hermetischer. Im Gegensatz zu Ecos Handlungsbogen wird Grenouilles Lebensgeschichte stringent und auktorial erzählt. Es gibt keine fingierten Paratexte, Rahmen oder Ausschmückungen mit echten oder scheinbaren Zitaten, keine Anmerkungen oder barock anmutende Kapiteltitel. Das Parfum kann als Satire auf das überkommene idealisierte Bild der Aufklärung gedeutet werden. Der Erzähler des Texts erwähnt zwar nicht einmal explizit diesen Begriff, doch lässt er den Parfümeur Baldini ausführlich abschätzig über die neue Philosophie und ihre Protagonisten reflektieren. 328 Grenouilles Lehrherr Baldini steht hier als Repräsentant der Vergangenheit. Wenn man bedenkt, dass die Aufklärung im Französischen das Zeitalter der „Lumière[s]“, der Erhellung genannt wird, wird deutlich, wie Süskind in seinem Roman diese konterkariert. Häufig spielt der Roman in der Nacht, Grenouille wirkt im Dunkeln, lebt Jahre in einer Höhle. Die Düsternis der Pariser Armen‐ viertel wird dem Leser in der Tat noch deutlicher, wenn er die entsprechende Visualisierung in der Verfilmung gesehen hat. Daher sind Deutungen wie die des Germanisten Joachim Pfeiffer plausibel, der Grenouille „als gestaltgewordene Dialektik der Aufklärung“ sieht. 329 Eine der wenigen Selbstäußerungen Süskinds 204 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 330 Zit. nach ebd., S.-46f. 331 Süskind: Das Parfum 1985, S.-161. 332 Bernsmeier: Lektüreschlüssel Das Parfum 2012, S.-47. 333 Süskind: Das Parfum 1985, S.-75. bekräftigt diese Interpretation. In einem Brief an den Literaturwissenschaftler Walter Falk vom 15. Januar 1988 schreibt er: „In der Tat […] war wohl eine meiner Intentionen, zu zeigen, daß die Zuwendung zur Schattenseite der Aufklärung der Sündenfall des modernen Menschen ist. […] Wer sich selbst zum Gott macht, wird zum Mörder, wer den Menschen zum Schöpfer der Welt erhebt, wird notwendigerweise zum Massenmörder.“ 330 Süskinds Roman spiegelt die Krise des Paradigmas der Aufklärung im 20. Jahrhundert. Die Figur des bestialischen Mörders Grenouille kann unter dieser Prämisse als Referenz auf die NS-Verbrechen interpretiert werden. Diese Deutung bekräftigt der oben zitierte erste Abschnitt des Romans, wo vom „Reich der Düfte“ die Rede ist. Süskind entwirft ein zeitloses Psychogramm des Des‐ poten in seiner Dialektik aus Minderwertigkeitskomplexen und Größenwahn. „Dies war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! “ 331 heißt es später im Text. Grenouille vereint zahlreiche Charakteristika dieses Menschentypus, wie auch die blutige Rache an seinen Peinigern zeigt, die im Roman zwar als höhere Gewalt dargestellt wird, zugleich aber ein übermenschliches Wirken Grenouilles insinuiert. ‚Parfum‘ steht über dem ganzen Text als Leitmotiv und facettenreiche Meta‐ pher. Als Mittel zur Manipulation von Menschen spielt es eine maßgebliche Rolle. Grenouille gelangt zu Macht, indem er, der selbst keinen Geruch aus‐ strömt, sich durch Mord den Geruch der „Engel“ aneignet. Mit dem „absolute[n] Parfüm“ 332 kann er die Massen lenken und könnte zur absoluten Herrschaft gelangen. Am Schluss jedoch übergießt sich Grenouille mit diesem „Elixier“, nimmt den Geruch eines „Engels“ an und sorgt so absichtlich dafür, dass er aus Liebe von Menschen verspeist wird. Das erscheint paradox, doch kann es das genaue Gegenteil bedeuten: seine Unsterblichkeit und sein weiteres Wirken durch die Verinnerlichung in dem Akt des Kannibalismus. Damit hat Süskind das klassische Motiv der „Herzmäre“ und der Prometheusfigur aufgegriffen. Auch die von Thomas Kuhn in den Fokus seiner Betrachtung gestellte Wissenschaftsgeschichte spielt in Süskinds Buch eine Rolle. Baldini beklagt, dass „selbst der König [] sich irgend einen neumodischen Unsinn vorführen [ließ], eine Art künstliches Gewitter namens Elektrizität“. 333 Im hiesigen Kon‐ text erscheint interessant, dass Süskind in der historischen Dimension seines Romans einen klassischen Paradigmenwechsel schildert. Baldini verkörpert einen Mann der Vergangenheit, der sich beharrlich gegen das Neue wehrt. VI.2 Das neue Paradigma des historischen Romans seit den 1980er Jahren 205 334 Eco: Nachschrift 2016, S.-59. Der Händler Richis hingegen ist ein typischer Vertreter des aufstrebenden Bürgertums. Der Marquis de la Taillade-Espinasse steht für den Wissenschaftler- Typ der Zeit der Aufklärung. Er vertritt die „Fluidum-Letale-Theorie“, nach der die Erde schädliche Gase ausstößt. Süskind komponiert ein detailliertes historisch-soziologisches Bild der erzählten Zeit. „A role for history“ - am Anfang dieses Unterkapitels stand die Frage nach der Rolle der Geschichtsschreibung in der Literatur. Die drei vorgestellten Texte ak‐ zentuieren im Stil ihrer Zeit pointiert eine Doppelrolle zwischen Historisierung und Gegenwartsbezug. Einerseits führen sie den Leser in die Falten der Zeit, von der sie lebendig und mit Lust fabulieren, lassen ihn eintauchen, mitfühlen, erleben: „Ich wollte ganz und gar mittelalterlich werden, und im Mittelalter leben, als wäre es meine Zeit (und umgekehrt)“, schreibt Eco. 334 Zum andern verweisen sie auf universelle Denkmuster und Charaktertypen, schaffen Bezüge zur Gegenwart. Die drei Texte variieren geschickt und spielerisch zwischen den ‚Rollen‘, sie legen sich auf keine fest. Sie implizieren so jeder auf seine Art Reflexionen über die Geschichte und ihre Rolle in der Literatur. Die im folgenden Kapitel unter dem Fokus der typisch postmodernen Figu‐ ration von Sonderlingen und Narren behandelten Romane greifen dieses Prinzip in ihrer historischen bzw. zeitgeschichtlichen Grundanlage wie auch in der Konzeption ihrer Figuren gleichermaßen auf. Die Protagonisten sind jedoch signifikant stärker auf den Typus der komischen Person ausgerichtet. VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans In der postmodernen Literatur entfaltet sich eine charakteristische Dialektik aus Komik und Zeitkritik. Es liegt nahe, dass in der Literatur der Narr als Personifikation dieses zugespitzten Dualismus aus Spaß und Ernst ein ideales Rollenmuster bietet. Diese Figur hat eine lange historische und literarische Tradition, zugleich eignet sie sich als personifiziertes Medium der Ironie und der Ambivalenz. Immer schon haben Narren Widersprüche evoziert, das Lustige und das Dämonische, das Gute wie das Böse, das Menschenfreundliche und die Gehässigkeit. Der Hofnarr hat im Mantel des Spaßes unangenehme Wahrheiten formuliert. Umberto Eco Baudolino, Thomas Pynchon Vineland, Daniel Kehlmann Tyll sind sehr unterschiedliche Texte, die auf mehreren Deutungsebenen das sehr 206 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 335 Eco: Der Name der Rose 1984, S.-603. heterogene Spektrum der Epoche ausfüllen. So disparat die Figurationen des Närrischen in den jeweiligen Romanen sind, ob Schelm, Simulant, Paranoiker, skurriler Außenseiter, Trickster, lassen sich dennoch Konstanten herausar‐ beiten, aus denen sich charakteristische Merkmale und Typen des postmodernen Narren formulieren lassen. Die Texte von Eco und Kehlmann können im engeren Sinn dem historischen Roman zugerechnet werden, Pynchons im weiteren. Für Eco und Pynchon wurde die Affinität zur Postmoderne bereits ausführlich dargelegt. Kehlmann ist ebenso mit ausgewiesen postmodernen Texten hervorgetreten. Bereits in Ecos erstem großen historischen Roman Der Name der Rose spielen Ironie und Lachen eine zentrale Rolle. Der orthodoxe Priester, der das zweite Buch der Poetik des Aristoteles, das von der Komödie handelt mit allen Mitteln verbirgt, warnt: Das Lachen befreit den Bauern von seiner Angst vor dem Teufel, denn auf dem Fest der Narren erscheint auch der Teufel als närrisch und dumm, mithin kontrollierbar. Doch dieses Buch könnte lehren, dass die Befreiung von der Angst vor dem Teufel eine Wissenschaft ist! Der lachende Bauer, dem der Wein durch die Gurgel fließt, fühlt sich als Herr, denn er hat die Herrschaftsverhältnisse umgestürzt. 335 Baudolino erschien 2000 (dt. 2001) und ist der vierte historische Roman Ecos. Die titelgebende fiktive Person ist ein Bauernsohn, dem als Kind zufällig Kaiser Friedrich Barbarossa begegnet und der daraufhin von diesem als Adoptivsohn angenommen wird. Schon in dieser Anlage vermischen sich Historie und Fiktion. Die Romanhandlung setzt im April 1204 während der Eroberung und Plünderung Konstantinopels durch die Krieger des vierten Kreuzzugs ein. Baudolino kann den hohen Beamten Niketas Choniates, eine historische Figur, vor marodierenden Kreuzrittern in Sicherheit bringen. Sie finden Schutz bei Genueser Kaufleuten, können Niketas Familie retten und aus der Stadt fliehen. Dieser Strang bildet nur den Rahmen, innerhalb dessen Baudolino Niketas sein Leben an der Seite Friedrich Barbarossas erzählt. Die Umstände von Barbarossas Tod auf dem dritten Kreuzzug erfahren in der Fiktion des Romans eine neue Deutung. Baudolino und seine Freunde, die den Kaiser begleitet haben, reisen nach dem Ende ihres Herren weiter nach Osten, um ins sagenumwobene Reich des Priesterkönigs Johannes zu gelangen. Der Roman nimmt zunehmend phantastische Formen an, so begegnen sie dort zahlreichen Wunderdingen und Fabelwesen. Auf dem Rückweg gelangt Baudolino nach Konstantinopel, wo die VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans 207 336 Umberto Eco: Baudolino. München / Wien 2001, S.-404. Rahmenhandlung eingesetzt hat. Am Schluss verschwindet er und bleibt im sprichwörtlichen ‚Nebel der Geschichte‘. Die Handlung ist eingebettet in die Geschichte des 12.-Jahrhunderts, Fiktion und historische Fakten vermischen sich. Baudolino ist eine Schelmenfigur im klassischen Sinne. Im Gegensatz zu Der Name Rose ist dieser Roman sehr stringent aufgebaut. Eco verzichtet fast völlig auf Brüche, Wendungen, lateinische Einsprengsel, Glossar, Verwirrspiele, Pseudodokumente, was in Der Name der Rose noch konstitutive Bestandteile waren. Die Romanhandlung ist vom Ablauf her so angelegt, dass der Text flüssig zu lesen ist. Zwei Erzählstränge korrespondieren in jeweils chronologischer Abfolge: der Rahmen, der die Begegnung zwischen Baudolino und Niketas umfasst, und die Lebenserzählung Baudolinos. Außer einigen kurzen Einsprengseln im Handlungsverlauf findet sich ledig‐ lich ein Pseudodokument. Dieses ist der eigentlichen Diegese vorangestellt und gibt eine Niederschrift Baudolinos wieder, in der er seine Kindheitserinnerungen erzählt, die mit der Begegnung mit Barbarossa enden. Im Original ist es in einem stilisierten mittelalterlichen Italienisch gefasst, das in der Übersetzung in ein entsprechendes Deutsch übertragen wurde. Der Bauernsohn Baudolino wird als außergewöhnliches Sprachentalent vor‐ gestellt. Dies signalisiert bereits autobiographische Referenzen zum Autor, dem Semiotiker und Linguisten. Baudolino stammt wie Eco aus der piemontesischen Stadt Alessandria. Im Roman wird ihre Gründung und Entwicklung als Zusam‐ menschluss mehrerer Dörfer geschildert. Der Name des Protagonisten geht zurück auf den Ortsheiligen Alessandrias. Baudolino hat an der Entstehung und Entwicklung der Stadt, ihrem Wohlergehen, ihrer Rettung vor den Bedrohungen der Zeit maßgeblichen Anteil, als Ziehsohn Friedrich Barbarossas kann er in dessen Konflikten mit den norditalienischen Städten vermitteln. All dies vollbringt Baudolino auf schelmenhafte Art. Immer wieder kann er durch Kniffe und Lügen Böses verhindern. Er wird als guter Mensch mit liebenswerten Schwächen charakterisiert. An einer Stelle wird hervorgehoben, dass er noch niemanden getötet hat, was in dieser Zeit und bei seiner Position an der Seite des Kaisers ungewöhnlich erscheint. Er beobachtet die geläufigen Bosheiten und Brutalitäten, geht mit List gegen sie an. Seine zahlreichen Lügen erweisen sich immer als Winkelzüge, um Menschen zu helfen und die Situation zu retten. „Baudolino [entschloss sich] wieder einmal - wie gewöhnlich aus gutem Herzen - zu einer Lüge.“ 336 Zahlreiche tatsächliche, aber bis heute in ihren Hintergründen nicht geklärte historische Ereignisse und Dokumente 208 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 337 Vgl. dazu die Rezensionenlese zu Baudolino beim Online-Kulturmagazin Perlentaucher: https: / / www.perlentaucher.de/ buch/ umberto-eco/ baudolino.html (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). 338 Erik Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne 2012, S.-285. 339 Ebd., S.-286. dieser Epoche werden als von Baudolino selbst oder zumindest unter seiner Beteiligung inszeniert bzw. verfasst geschildert. Der Roman wurde bei seinem Erscheinen sehr kontrovers aufgenommen. Während die einen die Fabulierlust und die Lebendigkeit lobten, sahen andere das Buch als kalkulierten Bestseller, als Wiederkäuen bekannter Muster und Erfolgsrezepte. 337 Der Text hinterlässt in der Tat einen gespaltenen Eindruck. Ich sehe darin aber einen signifikanten Bezug zum postmodernen Paradigma. Schilling will in seiner Studie über den historischen Roman der Postmoderne am Beispiel der Romane Ecos aufzeigen, dass sich dieser und tendenziell der gesamte historische Roman „von einer Einbindung postmoderner Theorie ab und dem ‚reinen Erzählen‘ zu[wende].“ 338 Er führt Baudolino als Beispiel für seine These an, dass die historischen Romane nach 2000 stärker die Identität statt der Pluralität akzentuieren: „Baudolino etwa kommt zu Niketas, dem Geschichtsschreiber, weil er seine Identität dadurch zurückzugewinnen hofft, dass er Niketas seine Lebensgeschichte erzählt.“ 339 Der Text bedient sich der Muster des Fantasy, Mystery und Geschichte verknüpfenden Bestsellers. Ein tatsächliches Mysterium aus der Geschichte wird aufgegriffen, hier die Legende vom Königreich des Presbyters Johannes im Fernen Osten, und literarisch stilisiert aufgeklärt. Der Text ist handlungs‐ orientiert, spannend, die Figuren sind nicht allzu tief gezeichnet und wirken typenhaft. Die im Plauderton gehaltenen in die Story integrierten Schilderungen der die Handlung begleitenden historischen Abläufe wirken manchmal aufge‐ setzt und bemüht komisch, was allerdings Geschmackssache ist. Der Text kann jedoch auch als Parodie gelesen werden, denn im Gegensatz zum klassischen historischen Schmöker wahrt er eine ironische Distanz zum Stoff. Schillings These von der Identität statt Pluralität sehe ich in diesem Roman ambivalent. Die Fokussierung auf die Figur Baudolino und seine Biographie, der relativ stringente lineare Aufbau des Romans und die typischen für Lebenserzählungen sinnstiftenden Handlungen signalisieren dies. Es wird eine Person in den Mittel‐ punkt gestellt, ein Typus des Schelms, Narren, Spaßmachers, der in seinen Lügen die Wahrheit reflektiert, im Grunde durch Falschheit Gutes bewirkt. Mit der Figur des Schelms und Narren wird hier eine positive Identität konstruiert. Die autobiographischen Referenzen zu seinem Romanhelden evozieren, dass Eco das mit Selbstironie kunstvoll relativierte Bild eines geistreichen, fabulierenden, VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans 209 340 Eco: Baudolino 2001, S.-53f. nicht uneitlen Spaßmachers entwickelt, als der er sich selbst in unzähligen feuilletonistischen Texten und Medienauftritten auch tatsächlich produziert hat. Doch genauer betrachtet hintergeht der Text wiederum diesen Eindruck und stellt auf einer anderen Ebene die Pluralität und Multiperspektivität her. Formell hat der Roman eine heterodiegetische Erzählinstanz, die zwar auf die Perspektive Baudolinos ausgerichtet, aber nicht völlig festgelegt ist, denn in Ein‐ schüben erzählt und kommentiert die Erzählinstanz begleitend die markanten historischen Ereignisse und Entwicklungen in der erzählten Zeit, ebenso wird gelegentlich die Innenperspektive Niketas fokussiert. Da jedoch über längere Passagen Baudolino in wörtlicher Rede in der Ich-Form seine Lebensgeschichte wiedergibt, entsteht auf einer unteren Ebene ein homodiegetischer Erzähler. Die Biographie von Baudolino wird abwechselnd aus beiden Perspektiven geschil‐ dert. Dass es sich bei dem Roman um Fiktion handelt, ist auf der Leserebene klar, nur inwieweit Baudolino innerhalb der Diegese selbst unzuverlässig ist, bleibt offen. Durch diese Form wird die Erzählinstanz auch unzuverlässig, denn es wird signalisiert, dass Baudolino Niketas auch anlügen könnte. Dieser reflektiert darüber: Aber ich bin kein Lügner deines Schlages. Mein Leben lang habe ich die Erzählungen anderer befragt, um aus ihnen die Wahrheit ans Licht zu fördern. Vielleicht erwartest du von mir eine Geschichte, die dich davon freisprechen soll, dass du jemanden getötet hast, um den Tod deines Friedrich zu rächen. Du konstruierst dir Schritt für Schritt diese Liebesgeschichte mit deinem Kaiser […] 340 Der Text insinuiert, dass Niketas, dem Baudolino seine Geschichte erzählt, hinter der heterodiegetischen Erzählinstanz steckt und damit auch die wörtliche Rede Baudolinos überliefert. In der Makrostruktur wird hier also eine weitere Pluralität erzeugt, eine Fiktion innerhalb der Fiktion. Darin zeigt sich eine Nuance der postmodernen Multiperspektivität, denn die Frage ist, inwieweit die Erzählinstanz nun unzuverlässig ist. Die Ebenen vermischen sich, es wird das für das Denken der Postmoderne charakteristische Bild im Bild evoziert, eine „mise en abyme“. Da Niketas ausdrücklich als Geschichtsschreiber figuriert, steht er symbolisch für die schwierige Situation aller Historiker, die historische Wahrheit zu erfassen. Was ihm [Niketas] an Baudolino auffiel, war, dass dieser Lateiner bei allem, was er sagte, sein Gegenüber mit einer verhaltenen Ironie ansah, als wolle er ihm bedeuten, seine Worte nicht allzu ernst zu nehmen. Eine schlechte Angewohnheit, die man jedem 210 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 341 Ebd., S.-22. 342 Knut Cordsen: Thomas Pynchon wird 80 - und man sieht es ihm gar nicht an. Bayerischer Rundfunk BR24 Kultur, 8.5.2017. https: / / www.br .de/ nachrichten/ kultur/ thomas-pynchon-wird-80-und-man-sieht-es-ihm-gar-nicht-an ,6crk2c1p64vkjc9h74vk2c1j60w30 (zuletzt abgerufen am 10. September 2021). 343 https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Vineland (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). beliebigen zubilligen mochte, nur nicht einem, von dem man eine wahrheitsgemäße Aussage erwartete, um sie dann in Geschichtsschreibung zu übersetzen. 341 Eco wie die gesamte Postmoderne stehen unter dem Eindruck der historischen Ansätze, die Geschichtsschreibung als Erzählung charakterisieren. In Baudolino konterkariert Eco dieses Denkmodell mit einem bewusst konstruierten „unzu‐ verlässigen Erzähler“, wobei er in der Überlagerung der Erzählebenen mit dieser literaturwissenschaftlichen Kategorie spielt. Thomas Pynchons Roman Vineland erschien 1990 (dt. 1993) nach langem Schweigen, siebzehn Jahre nach seinem vorangegangenen Werk Die Enden der Parabel. Der 1937 geborene Autor hat sich bald nach der Publikation seines ersten Romans V. 1963 aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es existieren von ihm nur ein paar Fotos aus den 1950er Jahren. Während Eco die Publi‐ city suchte, neben seinen Büchern permanent Zeitungsbeiträge veröffentlichte und Interviews gab, beschränkt Pynchon sich auf seine Romane. Die beiden spiegeln in ihrer Differenz die Ambivalenz der Postmoderne, indem sie zwei völlig konträre, aber dennoch für die Strömung charakteristische Autorentypen nahezu idealtypisch verkörpern. Der öffentliche Mensch Umberto Eco erhebt den Literaten und Wissenschaftler zu einem ständig präsenten Medien- und Popstar, während Thomas Pynchon Roland Barthes’ Diktum vom ‚Tod des Autors‘ praktisch vorlebt. Durch sein Verschwinden avancierte er zu einem Mysterium und Mythos der Pop-Kultur. Einer der wenigen angeblichen öffentlichen Auftritte Pynchons indiziert schon, dass er Affinitäten zu Narren und Spaßmachern hat, Spott und Selbst‐ ironie ihm nicht fern liegen. Er lieh, so wird jedenfalls versichert, einer Figur, die seine Person darstellt und als ein Mann mit über den Kopf gestülpter Tüte mit Fragezeichen gezeichnet ist, in zwei Kurzauftritten der Animationsserie Die Simpsons seine Stimme. 342 Vineland wird auf der englischsprachigen Wikipedia-Seite als pikaresker und postmoderner Roman charakterisiert, 343 was im diskursiven Sinne der Zuordnung auch treffend ist, da er zahlreiche markante Stilelemente enthält, die der Postmoderne zugerechnet werden. Eine kleine hintergründig ironische VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans 211 344 Thomas Pynchon: Vineland. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 124: „Glücklicherweise enthielt Ralph Wayvones Bibliothek zufällig ein Exemplar von Deleuze & Guattaris Die italienische Braut - Rat und Tips für alle Fälle, das Gelsomina, die Braut, die ihre Hochzeit vor solch bösen Omen, wie beispielsweise Blut auf dem Hochzeitskuchen bewahren wollte, in weiser Voraussicht ins Haus geschmuggelt hatte und nun Billy Barf zeigen wollte.“ 345 Thomas Pynchon: V. Reinbek bei Hamburg 1988, S.-7. 346 Ebd., S.-53. Erwähnung von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Vineland verweist explizit auf Pynchons Rezeption der postmodernen Theorie. 344 Pynchon selbst hat sich kaum autopoetologisch geäußert und würde wohl jeder schematischen Kategorisierung seines Werkes widersprechen. Auch wenn Der Name der Rose als Paradigma und Schlüsselwerk des postmodernen Romans gilt, hat Pynchon in seinem Erstling V. diesen Romantyp bereits 1963 antizipiert, einige Jahre bevor durch Lyotard der Begriff der Postmoderne im heutigen Sinne geprägt wurde. In V. werden der „großen Erzählung“ der Geschichte die „kleinen Erzählungen“, in diesem Falle sogar prononciert die der Narren, gegenüberge‐ stellt. Die Hauptfiguren Benny Profane -„Schlemihl und bierbäuchiges Jo-Jo“ 345 - und der ein dubioses Leben führende Herbert Stencil, eine Taugenichtsfigur - „wovon er lebte, war - wie auch jetzt - ungewiß. […] Kurze Dürrezeiten hatte er mit Pokern überbrückt“ 346 - lassen sich als Narren im weiteren Sinne charakterisieren. In seiner Suche nach dem rätselhaften Zeichen V. folgt Stencil einer fixen Idee, einem Spleen. Vineland ist kein historischer Roman im engeren Sinn, aber der Text schlägt den Bogen von der 1968er Bewegung bis in die Reagan-Zeit und verweist, eingebettet in Rückblenden auf die Familiengeschichte einiger Romanfiguren, auf die vorangehende kollektive Geschichte; die Gewerkschaftsbewegung und die McCarthy-Ära werden beleuchtet. Wie schon in V. setzt sich Pynchon mit der Gegenwart unter Zugriff auf die Geschichte auseinander. Indem Vineland als Erzählung respektive Deutung einer zeitgeschichtlichen Epoche und ihrer Ent‐ wicklung angelegt ist, sind dem Text strukturelle Merkmale eines historischen Romans inhärent, auch wenn er nur in die jüngere Geschichte zurückgreift. Der Hauptstrang der Handlung spielt im Jahr 1984, dem Jahr der Wiederwahl des US-Präsidenten Ronald Reagan. Der Alt-Hippie Zoyd Wheeler führt mit seiner Teenager-Tochter Prairie ein beschauliches Dasein in dem fiktiven kali‐ fornischen Ort Vineland, eine Art Rückzugsort für gesellschaftliche Aussteiger. Seine Frau Frenesi hat ihn vor vielen Jahren verlassen, man sagt, wegen des FBI- Agenten und Bundesanwalts Brock Vond. Aufgeschreckt wird Zoyd aus dieser Idylle, als ein massives Polizeiaufgebot nach ihm und seiner Tochter sucht. Vorgewarnt, setzt er sich ab und schickt seine Tochter zu einer mysteriösen 212 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne Kontaktadresse, die ihm einmal als Hilfe bei einer Notlage angeboten wurde. Über das skurrile Paar Takeshi (ein Japaner) und DL (eine alte Freundin von Frenesi) erfährt Prairie die Geschichte ihrer Mutter. Sie lernt deren Freunde von früher kennen und kommt auf ihre Spur. Frenesi lebte in den 1960er Jahren in einem studentischen Filmkollektiv und spionierte dieses zugleich aus, weil sie jenem Brock Vond sexuell verfallen war. Es stellt sich heraus, dass sie vor Vond zu Zoyd geflohen war, ihn und die gemeinsame Tochter dann aber wieder verlassen hat, um niemanden zu gefährden. Doch nun hat Vond in Paranoia eine Jagd nach Frenesi, Zoyd und Prairie inszeniert, was dann selbst der Reagan- Administration zu weit geht und deshalb verhindert wird. Mit sanfter Ironie inszeniert Pynchon ein melodramatisches glückliches Ende. Die Wege aller führen in Vineland bei einem Treffen von Frenesis Angehörigen zusammen. Prairie lernt ihre unter einer anderen Identität untergetauchte Mutter kennen, die eine neue Familie gegründet hat. Diese sehr kursorische Inhaltsangabe halte ich hier für notwendig, sie enthält allerdings schon in der Zusammenfassung Ansätze einer Deutung, denn sie kann die zahlreichen ineinander verknoteten Handlungsstränge, die verwi‐ ckelten Personenbeziehungen, Nuancen, Uneindeutigkeiten, die Komplexität und Multiperspektivität, die zahlreichen Anachronismen, Intertextualitäten, Sprünge, grotesken Verwicklungen und Wendungen des Romans nicht wieder‐ geben. Der Roman ist auktorial erzählt, wechselt ständig die Perspektive und die erzählte Zeit, geht vor allem in die 1960er Jahre zurück. Im Gegensatz zu den Romanen von Eco und Kehlmann steht in Vineland nicht eine Figur des Narren im Zentrum, vielmehr entwickelt Pynchon ein Panoptikum von Narrenfiguren, die in sich die Polyvalenz und Ambivalenz typologisch fassen, also ein dem Topos des „Narrenschiffs“ entsprechendes Bild, mit dem er den Wahnsinn der Zeit allegorisch zum Ausdruck bringen möchte. Eine markierte Rolle nimmt in diesem Ensemble allerdings der Althippie und Kiffer Zoyd Wheeler ein. Er verkörpert den Typus des sympathisch-harm‐ losen Aussteigers und Taugenichts. Um die Berechtigung zum Empfang von Sozialhilfe zu erlangen, wovon er seinen Lebensunterhalt bestreitet, benötigt er regelmäßig eine offzielle Bescheinigung seiner Verrücktheit. Deshalb springt er alljährlich durch die Fensterscheibe eines Gasthauses, das Ganze wird unter Präsenz der Medien als Event organisiert. Im Jahr der Romanhandlung, 1984, hat jedoch der Besitzer nur eine scheinbare Scheibe aus Zuckerguss installiert. Einige Personen sind nach dem klassischen Muster des Komikerduos, wie es z. B. Laurel und Hardy oder Jerry Lewis und Dean Martin geprägt haben, gezeichnet, so zwei Männer, die einen Abschleppdienst betreiben, oder zwei Filmproduzenten. Unter den Hauptfiguren sind Takeshi und DL als Narren‐ VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans 213 347 Pynchon: Vineland 1993, S.-204f. 348 Ebd., S.-242. paar konzipiert, welches unter grotesken Verwicklungen und Verwechslungen zusammenkommt. Ich beschreibe es kurz, um an einem Beispiel die Komik, verwinkelte Handlungsstruktur und Surrealität des Romans zu illustrieren. DL bringt Takeshi in Lebensgefahr, da sie einen latent tödlichen Ninja-Griff bei ihm anwendet. Eigentlich galt der Griff Brock Vond. Um diesen anzulocken, hatte sie in einem Tokioter Bordell angeheuert. Vond durchschaut den Plan, und kann den arglosen Takeshi vorschicken, den sie im Dunklen nicht sehen kann. Zu seiner Rettung muss DL mit Takeshi in das Kloster der Schwesternschaft der Ninjettes nach Kalifornien, um mittels einer komplizierten Prozedur die Wirkung des Griffs rückgängig zu machen. Ihre Lehrerin und Oberin stellt allerdings Bedingungen: „Sie“ - ihr Zeigefinger wies auf Takeshi - „sind ein Narr, während ich von dir“ - sie wandte sich DL zu - „zu meiner großen persönlichen Enttäuschung noch nicht mal das behaupten kann. […] Ihr habt einander verdient. Daher wirst du, Schwester Darryl Louise, unter Androhung strengster Strafen die ergebene kleine, beziehungsweise - in deinem Fall - große Gefährtin dieses Narren sein und versuchen, deine karmischen Schulden abzuarbeiten, indem du das große Unrecht, das du ihm zugefügt hast, wiedergutmachst … Möchtest du noch etwas sagen? “ „Keinen Sex“, bat DL sich aus. 347 DL und Takeshi betreiben von nun an eine Art Agentur für „Karmische Schadensregulierung“, die man vielleicht als eine Institution zur Organisation und Koordination guter Taten als Ausgleich für schlechte charakterisieren kann: Prairie hatte zwar immer noch keine klare Vorstellung davon, was „Karmische Schadensregulierung“ eigentlich sein sollte, aber zum erstenmal schien es ihr möglich, daß Takeshi, auch wenn er nicht das war, was er vorgab zu sein, vielleicht doch mehr darstellte als den Clown und Stiesel, den er immer raushängen ließ. 348 An dieser Stelle wird die Mehrdeutigkeit der Figur des Spaßmachers in dem Roman angedeutet. Im Ganzen fällt auf, dass in den komischen Figuren alle Schattierungen des Menschen gezeichnet sind. Neben den gütigen wie Wheeler und Takeshi gibt es auch die bedrohlichen. Brock Vond steht für den Narren als paranoiden Irren. Gewissermaßen der Obernarr in diesem Panorama der USA des Jahres 1984 scheint Präsident Ronald Reagan zu sein, gegen den einige subtile Spitzen verteilt werden. 214 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 349 Ebd., S.-328. 350 Ebd., S.-112. 351 Ebd., S.-469. 352 Ebd., S.-434. „Soll heißen, Reagan wird wiedergewählt“, hatte Zipi vermutet. „Soll heißen, wir alle müssen überparanoid sein“, hatte Mirage mit jener blassen Flötenstimme geantwortet, […] 349 An einer anderen Stelle lässt Pynchon ein Kind eine Pressekonferenz von Reagan parodieren, spielt dabei auf dessen notorische Schwerhörigkeit an, und intendiert damit auf die dem US-Präsidenten von seinen Gegnern polemisch unterstellte Senilität: „Sag mal, Justintime, wie geht’s eigentlich mit den Transformers? Alles im Lot? “ „Und wie war’s bei Wallace? “ Der Junge setzte ein freundliches Lächeln auf, winkte und legte die Hand ans Ohr wie Reagan, wenn er sagte: „Wie war das? “ Er sah sich im Raum um. „Und nun zu den Fragen. Ja, Mom? Du hattest dich gemeldet? “ 350 In Vineland greift Pynchon hintergründig die topische Relation von Narren und Kindern auf, die auch als Urhebergruppe der „kleinen Erzählungen“ im Sinne Lyotards gilt. Zoyds Tochter Prairie ist aufgeweckt und schlagfertig, und nimmt es am Schluss in einer Art Showdown mutig mit dem Oberfiesling Vond auf: „Aber Prairie, ich bin doch dein Vater. Nicht Wheeler - ich. Dein wirklicher Vater.“ […] „Aber sie können gar nicht mein Vater sein, Mr. Vond“, widersprach sie. „Ich habe nämlich Blutgruppe A, und Ihre Blutgruppe ist H 2 SO 4 .“ 351 Im Ganzen ist Vineland ein zeitkritischer Roman. Neben den zeitgenössischen politischen Implikationen lässt sich eine Kritik an der Überpräsenz des Fern‐ sehens herauslesen. Aus der heutigen Distanz erweist sich der Text als sehr hellsichtig in seiner grotesken Überzerrung der zunehmenden Verwechslung von tatsächlicher und medialer Realität: Ist ein Fernseher menschlich? Halb menschlich? Tja, hm, und wie menschlich ist das dann, und so weiter. Werden Fernsehgeräte durch Sendesignale zum Leben erweckt wie die Lehmkörper von Männern und Frauen durch den Geist der göttlichen Liebe? 352 Der dritte in diesem Abschnitt vorgestellte Roman bekommt aufgrund der zeitlichen Distanz seiner Entstehung zu den beiden anderen eine zusätzliche Dimension. Daniel Kehlmanns Tyll erschien 2017 und der 1975 geborene Autor VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans 215 353 Albert Meier (unter Mitarbeit von Zara Zerbe und Aljoscha Leptin). Postmoderne: Philosophie - Literatur. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (2017), Kap. Nach der Postmoderne. http: / / www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/ wp-content/ upload s/ 2017/ 03/ Nach-der-Postmoderne-Albert-Meier_Postmoderne.pdf (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). gehört einer Eco und Pynchon nachfolgenden Autorengeneration an. Man kann davon ausgehen, dass Kehlmann in seiner Sozialisation als Leser wie Autor von dem in den 1980er und 1990er sehr dominanten Diskurs der Postmoderne im Literaturbetrieb maßgeblich geprägt wurde. Es stellt sich die Frage, wie sich die Elemente der postmodernen Literatur in seinem Werk niederschlagen. Seit dem Millennium ist immer wieder vom Ende der Postmoderne die Rede. Das klingt zum Teil sehr plakativ, denn immer gab es auch kritische Gegenströ‐ mungen wie marxistisch orientierte Denkschulen oder kollektive Bekenntnisse zur Notwendigkeit und zur Kraft der Vernunft im Sinne der Aufklärung, die sich in der Literatur entfalteten und im Diskurs Resonanz erfuhren. Mit dem „Neuen Realismus“ formierte sich eine konkrete philosophische, prätentiös das Ende der Postmoderne verkündende Gegenbewegung als Distanzierung vom postmodernen Leitkonzept, dass es kein kontextfreies Spre‐ chen gibt, alles Denken gesellschaftlich konstruiert ist und demzufolge ‚Interpre‐ tation‘ bleibt, sodass der Pathos-Begriff ‚Wahrheit‘ bestenfalls noch im Plural ver‐ wendbar wäre. 353 Vor diesem Hintergrund erscheint bemerkenswert, dass Daniel Kehlmann, einem der momentan erfolgreichsten und wirkmächtigsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, häufig das Etikett postmodern ange‐ heftet wird. Insbesondere in Kommentaren zu seinem Roman Ruhm (2009) fällt der Begriff, weil der Text ein Spiel mit Realität und Fiktion pointiert. Betrachtet man Kehlmanns Gesamtwerk, fällt auf, dass sich die Verwendung von für die postmoderne Literatur charakteristisch geltenden Elementen und Motiven wie ein roter Faden durch sein Werk zieht. Sein Erstling von 1997 Beerholms Vorstellung handelt von einem Zauberer, der Illusion und Wirklich‐ keit nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Der Wissenschaftlerroman Mahlers Zeit von 1999 reflektiert Fragen von Ordnung und Entropie. Kehlmanns bislang populärstes Buch Die Vermessung der Welt (2005) ist ein historischer Roman, in dem Tatsachen und Fiktion kunstvoll verschmolzen werden. Über Tyll schreibt der Rezensent Jens Jessen in der Zeit: Es ist überhaupt viel Umberto Eco in dem Roman, das heißt viel Postmoderne, viel Vergnügen am Mischen von Fiktion und geschichtlicher Realität, an erfundenen 216 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 354 Jens Jessen: Der ewige Gaukler. In: Zeit Online. 9. Oktober 2017, 6: 04 Uhr. Aktualisiert am 13. Oktober 2017, 7: 52 Uhr. https: / / www.zeit.de/ 2017/ 41/ tyll-daniel-kehlmann-rom an (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). Figuren, die historisch Beglaubigtes erleben, und historischen Figuren, die frei Erfun‐ denes tun. 354 Die Figur Till Eulenspiegel auch Dil Ulenspiegel und Dyl Ulenspegel erscheint literarisch erstmals um 1510 in der mittelniederdeutschen Schwanksammlung Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel. Dieses sogenannte „Volksbuch“ fand eine rasche Verbreitung über den deutschen Sprachraum hinaus und hat bis heute reichliche Adaptionen erfahren. Historisch ist die Figur nicht gesichert, man vermutet, sie geht auf einen Gaukler aus dem 14. Jahrhundert zurück, in dem die Handlung ursprünglich angesiedelt ist. Kehlmann verlagert den Stoff in den Dreißigjährigen Krieg und übernimmt die Schreibweise Tyll Ulenspiegel. Der Roman hat keinen geschlossenen, chronologischen Handlungsfaden und keine einheitliche Erzählperspektive. Vielmehr stellen die einzelnen Kapitel Episoden dar, aus denen sich ein Mosaik der Zeit des Dreißigjährigen Krieges formt, das am Schluss mit dem Westfälischen Frieden pointiert vollendet wird. Die Titelfigur erscheint dabei in einigen Episoden nur am Rande. Tyll ist der Sohn eines Müllers, der ein Interesse für Magie hat, und aus fadenscheinigen Gründen, bedingt durch Gutgläubigkeit und Einfalt, wegen Okkultismus als Ketzer hingerichtet wird. Eulenspiegel verlässt den Ort seiner Jugend mit einer Freundin, der Bäckerstochter Nele, die lange Jahre seine Begleiterin ist. Die beiden ziehen als Gaukler übers Land. Eulenspiegel begegnet dabei einfachen Menschen, aber auch namhaften Personen der Zeit, einflussreichen Königen, Gelehrten und Dichtern. Er wird Hofnarr bei dem exilierten König Friedrich von Böhmen und seiner Frau Elisabeth Stuart, einer englischen Prinzessin. Friedrich wird ikonisch als unglückliche Gestalt der Geschichte gedeutet. Seine Einset‐ zung als böhmischer König und sein ungeschicktes Handeln sind Teil einer Kette von Ereignissen, die als Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg gelten. Dies und seine nur kurze Regentschaft brachten ihm den Spottnamen „Winterkönig“ ein. Im Roman ist er entsprechend als tragikomische Figur gezeichnet. Seine Frau Elisabeth rückt über weite Strecken ins Zentrum des Romans, der Text schildert am Ende, wie sie als Witwe am Rande der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden mit Beharrlichkeit für ihren Sohn das verlorene Fürstentum der Pfalz zurückgewinnen kann. Auch dieser Roman dekonstruiert auf vielfältige Weise die „großen Erzäh‐ lungen“ der Historie. Er variiert zwischen den einfachen Menschen, deren Leid im Krieg immer wieder aufscheint, und den Geschichten der historischen VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans 217 Persönlichkeiten, die er dabei auf ein menschliches Maß stutzt. König Gustav II. Adolf von Schweden, einer der Protagonisten des Krieges, wird in einer Episode als ungeschlachter Landsknecht geschildert. Ins Zentrum rücken mit dem Winterkönig und seiner Frau ‚Verlierer der Geschichte‘. Zu seiner Konzeption der Narrenfigur und deren Ambivalenz hat sich Kehl‐ mann in einem Interview mit Lars Weisbrod sehr konzise geäußert: Kehlmann: Ja, das ist nicht lustig. Im Volksbuch ist Till Eulenspiegel ein sozial vollkommen untauglicher Mensch. Ein Soziopath! Ich wollte das hinüberretten, dieses Brutale, Rätselhafte, Soziopathische. […] ZEIT ONLINE: Der Narr sei der kleine Bruder des Teufels, haben Sie einmal ge‐ schrieben. Kehlmann: Wer sozial nicht funktioniert, ist nicht nur lustig, sondern auch gefährlich. Das kann sehr schnell kippen. ZEIT ONLINE: Wie beim „Horrorclown“. Tyll scheint aus dieser Perspektive wieder eine aktuelle Figur. Kehlmann: Es ist ja auch kein Zufall, dass die Neuverfilmung von Stephen Kings Es einer der erfolgreichsten Kinofilme in diesem Jahr war. […] Kehlmann: Ich war nach der Trump-Wahl vollkommen fertig. Ich habe tatsächlich gedacht, dass ich das Ende der amerikanischen Demokratie erlebe. […] Und dann hat mir meine eigene Figur darüber hinweggeholfen. ZEIT ONLINE: Der gemeine Soziopath Tyll? Kehlmann: Ja. Nach einer Woche der vollkommenen Niedergeschlagenheit habe ich gedacht: Nimm dich zusammen, Tyll würde jetzt nicht rumsitzen und weinen. Tyll leidet nie in meinem Buch, er bleibt auf eine fast unmenschliche Art ungebeugt. Ich dachte: Sei ein bisschen wie er! Das hatte ich noch nie erlebt - dass eine eigene Figur mir hilft, zurechtzukommen. ZEIT ONLINE: Sie haben sich also als Autor Ihre Rettung selbst herbeigeschrieben? Kehlmann: Das war natürlich nichts, was ich geplant hatte. Er ist als Figur so zu mir gekommen. Diese Unbeugsamkeit, das war … Ich habe das Gefühl, manches von dieser Narrenfigur übernimmt man als Schriftsteller aus älteren Schichten. Nicht bloß aus älteren Büchern, sondern auch aus dem kollektiven Bewusstsein. Als gäbe es uralte Schichten des menschlichen Bewusstseins, die sich einem öffnen. Ich weiß, das klingt albern. Aber es war so. Der Narr ist nun mal eine sehr archaische Figur. […] ZEIT ONLINE: Und wie half das gegen politische Gegenwartsängste? Kehlmann: Man kann sich den Narren überhaupt nicht vorstellen als einen, der Angst hat. Der Narr versteckt sich vielleicht, aber er hat keine Angst. Das gehört zur inneren 218 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne 355 „Ich dachte, ich erlebe das Ende der Demokratie“. Interview mit Daniel Kehlmann. Gesprächpartner: Lars Weisbrod. In: Zeit Online. 6. November 2017, 8: 16 Uhr. https: / / w ww.zeit.de/ kultur/ literatur/ 2017-11/ daniel-kehlmann-tyll-interview (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). 356 Daniel Kehlmann: Tyll. Reinbek bei Hamburg 2017, S.-10. Logik der Figur. Er hat keine Sorge, kein „Hoffentlich bricht nicht Krieg aus“, kein „Hoffentlich gewinnt nicht Trump die Wahl“, kein „Hoffentlich erhöhen sie nicht die Steuern“. Der Narr geht durch die Welt ohne Zukunftsängste. Das ist vielleicht auch das Asoziale an ihm: dass er nicht diese für uns alle übliche Selbstverortung in der Gesellschaft durchführt, zwischen Gegenwart und Zukunft und Selbstbestimmung. ZEIT ONLINE: Klingt, als wären Sie gern mehr wie Tyll. Kehlmann: Nein. Tyll fehlt eine menschliche Dimension. Er ist wie ein Dämon. Man kann sogar vermuten, dass er unsterblich ist, er kommt in meinem Buch in Situationen, die man eigentlich nicht überleben kann. Und dann überlebt er. Ich weiß auch nicht, wie. 355 Aus den Äußerungen lässt sich der intendierte Gegenwartsbezug und auch eine Referenz zwischen dem Autor und seiner Figur erkennen. Kehlmann hält im Roman die Figur des Tyll in der Schwebe. Er bleibt immer undurchschaubar. Seine Ambivalenz zeigt sich in vielen Facetten. Seiner Freundin Nele begegnet er mit Liebe und Güte. Ganz anders, als Zyniker, erscheint er im Einstiegskapitel „Schuhe“, einer Adaption eines Streiches aus dem Volksbuch. Er fordert sein Publikum auf, den rechten Schuh wegzuwerfen, bei der Suche kommt es dann zu einem Tumult. Er entlarvt auf schelmische Weise die Tumbheit der Menschen, gleichermaßen stachelt er sie zu Gewalttätigkeiten an. Die Wahl der Figur Till Eulenspiegel prononciert den rezeptionsästhetischen Effekt dieser Mehrdeutigkeit, da er im kollektiven Bewusstsein als fröhlicher Schalk der zahlreichen Kinderbuchadaptionen, besonders der von Erich Kästner, tief verankert ist. Kehlmann spielt im postmodernen Sinne mit der Figur und changiert im Laufe der Handlung in der Zeichnung seines Protagonisten, mal erscheint er als natürliche Person, mal hat er Züge eines Dämons oder mythischen Wesens: Dereinst würde sie ihrem Mann und viel später ihren ungläubigen Enkeln, die den Ulenspiegel für eine Figur alter Sagen hielten, erzählen, dass sie ihn selbst gesehen hatte. 356 Kehlmann spricht in dem Interview von Tyll als einem Dämon. An einigen Stellen evoziert die Figur etwas Schauriges, Unheimliches: VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans 219 357 Ebd., S.-310. 358 Ebd., S.-236f. Kursivierung im Original. 359 Zima: Moderne / Postmoderne 2016, S.-43. Er hörte den Narren aus seinem Leben erzählen, doch mit einem Mal kam es ihm so vor, als ob der Narr in seinem Inneren spräche, als ob er nicht neben ihm ritte, sondern eine fiebrige Stimme in seinem Kopf wäre, ein Teil seiner selbst, den er nie hatte kennen wollen. 357 Die Ambivalenz Tylls als Narrenfigur ist in seinem Verhältnis zu Elisabeth Stuart tiefer ausgearbeitet. Hier besetzt er die klassische Rolle des Hofnarren, der unangenehme Wahrheiten formuliert, allerdings bei einem König und einer Königin, die keine mehr sind: „[…] Du meinst immer noch, dass er [Elisabeths Vater, der englische König] eines Tages auftauchen wird und dich wieder zur Königin macht.“ „Ich bin eine Königin.“ Da lachte er hämisch, und sie musste schlucken und die Tränen zurückdrängen und sich daran erinnern, dass genau das seine Aufgabe war - ihr zu sagen, was kein anderer zu sagen wagte. Deshalb hatte man Narren, und selbst wenn man keinen Narren wollte, musste man einen zulassen, denn ohne Hofnarr war ein Hof kein Hof, und da sie und Friedrich kein Land mehr hatten, musste zumindest ihr Hof in Ordnung sein. Es hatte eine seltsame Bewandtnis mit diesem Narren. Das hatte sie sofort gespürt, damals als er aufgetaucht war, letzten Winter, als die Tage besonders kalt gewesen waren und das Leben noch ärmlicher als sonst. Da waren die beiden mit einem Mal vor ihrer Tür gestanden, der dürre junge Mann im bunten Wams und die großgewachsene Frau [Nele]. Erschöpft und mitgenommen hatten sie ausgesehen, krank vom Reisen und den Fährnissen der Wildnis. Aber als sie ihr vorgetanzt hatten, war da eine Harmonie gewesen, wie sie es nie erlebt hatte, seit sie nicht mehr in England war. 358 Die Ambiguität drückt sich auch darin aus, dass Tyll Elisabeth mit „kleine Liz“ anspricht. Er verwendet damit einerseits eine unbotmäßige, hämische Anrede, die andererseits liebevoll klingt, an das Kind gerichtet scheint, was auf die Sehnsucht Elisabeths nach ihrer Vergangenheit als Tochter des englischen Königs rekurriert. Die Untersuchung der drei Romane hat aufgezeigt, dass Narren, Clowns und Spaßmacher in besonderem Maße als Personifikation postmoderner Denk‐ muster geeignet sind. Mit diesem Figurentyp lässt sich, ich wiederhole noch einmal Zimas Formulierung „die Ambivalenz als Einheit der Gegensätze, als Einheit unvereinbarer Werte wie Gut und Böse, Wahrheit und Lüge“ 359 litera‐ 220 VI. Paradigmen der Literatur der Postmoderne risch evident fassen. Die verschiedenen vorgestellten Narrenfiguren bringen jede in sich und untereinander Widerspruch und Vielfalt gleichermaßen zum Ausdruck. Während dieses Prinzip bei Eco mit Baudolino, dem Lügner, der die Wahrheit hervorbringt, und Kehlmann mit Tyll, der Schalk und Grauen vereint, in einer hervorgehoben widersprüchlichen Figur geschieht, bringt Pynchon dieses eher in einem Figurenensemble zum Ausdruck. Das heißt allerdings nicht, dass Pynchons Charaktere widerspruchsfrei sind, und vice versa entfaltet sich das Närrische bei Eco und Kehlmann immer im Zusammenspiel mit den anderen Figuren der Romane. Die Postmoderne ist, vor allem wenn man Texte wie den Pynchons oder Kehlmanns liest, nicht als antiaufklärerisch zu deuten, allenfalls relativiert sie einen in der Moderne bisweilen hervorscheinenden rationalistischen Funk‐ tionalismus. Sie will nicht wie die Romantik auf ein erhabenes Gefühl der Seele im Erleben fokussieren, doch ist eine gewisse Wesensverwandtschaft gegeben, indem sie dem Wunsch nach Zerstreuung und Unterhaltung durch die Einbeziehung bestimmter Aspekte der Rezeption wie Spannung, Spaß, Fantastik Rechnung trägt, und sich so einem Literaturverständnis entgegenstellt, das strikt auf Aufklärung, Bildung und Lehre gerichtet ist. Affinitäten zur Romantik lassen sich im Einbau eskapistischer Momente, der Evokation der Phantasie erkennen. Kehlmanns Roman und seine Rezeption zeigen, dass das unter Postmoderne subsumierte Denken nicht an Aktualität verloren hat, vielmehr, dass es tat‐ sächlich kollektiv wirkmächtige Lese- und Schreibweisen entwickelt hat, die heuristisch als Teile eines auf den Denkstil der Postmoderne zurückgehenden Paradigmas zusammengeführt werden können. Nicht jeder Text, in dem solche Elemente enthalten sind, kann als postmoderne Literatur tituliert werden, dies hängt von der Häufung und Zusammenstellung ab. Es handelt sich dabei um typisch postmoderne Wesensmerkmale wie Stilpluralismus, die Auflösung geschlossener Formen und Erzählperspektiven, das Spiel mit Fiktion und Wirk‐ lichkeit, die Verbindung hoher und populärer Literatur oder die Intertextualität. Einige der im folgenden Kapitel behandelten Gegenwartsromane aus den 2010er Jahren werden diesen Schluss unterstreichen und veranschaulichen, wie durch die Postmoderne geprägte literarische Elemente und Topoi weiterentwickelt und variiert wurden. VI.3 Komische Gestalten als paradigmatische Figuren des postmodernen Romans 221 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart Anknüpfend an den Diskurs der Postmoderne werden im Folgenden einige Entwicklungslinien im literarischen Feld der 2010er Jahre bis heute unter dem Fokus der Wirksamkeit von Denkstilen und Paradigmen exemplarisch skizziert. Ich werde Prozesse des Paradigmenwandels, der Dialektik von Überliefertem und Neuem ausgehend von drei unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven hinterfragen. Am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Bestseller Tschick wird auf ein einzelnes Buch und die von ihm initiierten Texte anderer Autorinnen und Autoren fokussiert. Tschick wird unter der Prämisse vorgestellt, dass er als paradigmatisch und stilbildend wirksamer Referenztext Geltung hat. Bis heute finden sich alljährlich zahlreiche Neuerscheinungen, die signifikante Intertex‐ tualitäten zu dem Roman aufweisen. An seinem Beispiel soll gezeigt werden, wie sich Tradition eines Genres und Neues verbinden. Herrndorf hat sich an Vorbildern des Jugend- und Entwicklungsromans orientiert, möglicherweise unbewusst Anregungen übernommen, wurde selbst zum Vorbild für andere, vor allem junge Autorinnen und Autoren. Ziel ist es, wesentliche individuelle und kollektive Faktoren und Relationen zu erfassen, um typologisch ein Feld um den Roman zu konstruieren, das einen kohärenten perspektivischen Blick auf seinen Entstehungs- und Wirkungsprozess ermöglicht. Im zweiten Diskurs des Kapitels steht die Art des literarischen Mediums im Vordergrund. Intermedialität prägt die Literatur unserer Zeit paradigmatisch, Interferenzen z. B. zu Filmen und Computerspielen kommt eine maßgebliche Rolle in der heutigen Gegenwartsliteratur zu. Am Beispiel von Texten, in denen die Fotografie eine signifikante Bedeutung einnimmt, sollen einige Typen wechselseitiger Bezüge in einem überschaubaren Rahmen illustriert und mögliche Analyseansätze diskutiert werden. Drittens beschäftige ich mich mit der Frage nach einem Genre der Literatur und seinem Bezug zu aktuellen übergeordneten Denkstilen. Die zunehmende öffentliche Diskussion von Identität und die daraus erwachsenen Modelle prägen momentan maßgeblich die Gegenwartsliteratur. Kaum ein Gegenwarts‐ roman greift nicht den Identitätsdiskurs auf, sei es im Hinblick auf Geschlecht, Herkunft, Migration, Ethnie oder soziale Klasse. Ausgehend von zwei Romanen der Gegenwart, die auf den Topos der Heimat rekurrieren, soll der Wandlungs‐ prozess des klassischen Genres des Heimatromans dargelegt werden. Unter dem 360 Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf ? Ein Gespräch mit Kathrin Passig. In: Wolfgang Herrndorf: Wann hat es „Tschick“ gemacht? Gespräche und Interviews. Reinbek bei Hamburg 2016 (E-Book), S. 16-24, hier S. 22 (Erste Publikation des Gesprächs in einer leicht gekürzten Fassung: FAZ-online, 31. Januar 2011). Eindruck des identitätspolitischen Diskurses hat diese Gattung maßgebliche paradigmatische Änderungen erfahren. VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick gehört zu den erfolgreichsten Büchern der 2010er Jahre. Im September 2010 erschienen, wurde es seitdem über zwei Millionen Mal verkauft. Das Besondere ist, dass dieses Werk neben seinem Bestsellerstatus, der Zustimmung einer breiten Masse, gleichermaßen Beifall aus der Germanistik und der literarischen Kritik erfahren hat. Tschick erhielt zahlreiche renommierte Literaturpreise bzw. Nominierungen, mittlerweile ist es als Schullektüre kanonisiert, und über die Jahre hat sich zahlreiche Lite‐ ratur zu dem Buch angesammelt, die es aus mehreren Perspektiven betrachtet und interpretiert. Es gibt einige dramatische Bearbeitungen und 2016 hat die Verfilmung durch den renommierten Regisseur Fatih Akin den Text wieder verstärkt in die Öffentlichkeit gebracht. Was macht den Erfolg dieses Buches aus? Auch Herrndorf selbst wusste keine Antwort darauf: „Ich kann mir auch nicht erklären, woran das liegt. Buchhandel, Werbung, Rezensionen - keine Ahnung. Mein Lektor warf neulich die Theorie ein: ‚Es könnte auch am Buch liegen.‘ Aber ich bin vom Literaturbetrieb so gründlich desillusioniert, dass ich das nicht glaube.“ 360 Die Erfolgsgeschichte des Buches und das Schicksal seines Autors Wolfgang Herrndorf stehen in einer tragischen Verkettung. Kurz vor Abschluss des Romans erfuhr Herrndorf, dass er an einem bösartigen, unheilbaren Hirntumor erkrankt war. Nach Jahren der Krankheit und des sich stetig verschlechternden Gesundheitszustandes wählte er am 26. August 2013 den Freitod. Seit der Diagnose führte Herrndorf das Weblog Arbeit und Struktur, das sein Leben mit der Krankheit, seine Arbeit als Autor angesichts dessen dokumentiert und nach seinem Tod auf seinen Wunsch hin als Buch veröffentlicht wurde. Herrndorf hatte sich dafür entschieden, auf diese offene Art mit der Krankheit umzugehen. Dabei wirkt er nie aufdringlich oder larmoyant, diesen Aufzeichnungen wohnt eine bemerkenswerte Authentizität inne. Herrndorf verstand es, seine Wechsel‐ bäder zwischen Bangen und Hoffen, seine schriftstellerische Arbeit und ihre 224 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 361 Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Reinbek bei Hamburg 2013 (E-Book), S.-131 (17.5.2011 9: 02). Mühen anschaulich zu dokumentieren. Er war von einem beeindruckenden Willen beseelt, seine Projekte weiterzuführen und abzuschließen. So paradox es klingen mag, es ist dieser aufrichtige und unbestechliche Blick, in dem sich Subjektivität und Objektivität verschmelzen, der auf einer ganz anderen Ebene Tschick das verleiht, was manchen genreverwandten Texten vielleicht fehlt. Der 1965 geborene Herrndorf war nicht nur Autor, sondern auch Maler, Zeichner, Journalist. Er arbeitete für die Satire-Zeitschrift Titanic. Neben kleineren Veröffentlichungen erschienen von ihm vor Tschick der Roman In Plüschgewittern (2002, 2008 in einer überarbeiteten Fassung) und die Geschich‐ tensammlung Diesseits des Van-Allen-Gürtels (2007). Die Texte fanden zwar keine große, aber dennoch sehr positive Resonanz, wurden dem Genre der Popliteratur zugeordnet, für das als Präzeptoren seinerzeit bereits Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre standen. In Plüschgewittern greift das typische Muster des Generationenromans auf. Ein etwa dreißigjähriger Protagonist befindet sich in einer Sinnkrise. Die Topoi Beziehungsende, Ein‐ samkeit, Unterwegssein als Allegorie zur Selbstfindung, Konfrontation mit der Krankheit einer älteren Verwandten, hier der Großmutter, tauchen auf. Trotz des traurigen Grundduktus fließt Heiterkeit in den Text ein. Es ist bemerkenswert, wie Herrndorf bewusst ein Gattungsparadigma aufgreift, es jedoch mit eigenen Akzenten ausfüllt. Dieser und die anderen Texte antizipieren vieles von Tschick. Auch Herrn‐ dorfs danach verfasste Werke stehen in Korrespondenz zu dazu. Ein Jahr später, 2011, erschien sein letzter vollendeter literarischer Großtext, den er wegen seiner Krankheit nur unter großen Mühen abschließen konnte. Der komplexe und vielschichtige Wüstenroman Sand wird übereinstimmend als düsterer Gegenentwurf zu Tschick angesehen. Herrndorf selbst hat sich in seinem Blog dazu konkret geäußert: Zweihundert Seiten, auf denen sie den Helden zu Tode foltern. Vor knapp fünf Jahren angefangen, als […] im Fernsehen dieser Film mit Ray Liotta lief. Und schon damals als bewusster Gegenpol zu „Tschick“ und seiner Freundlichkeit konzipiert, die nihilistische Wüste. Fand ich früher ja lustig, Gewalt. Aber jetzt zieht es mich runter. Lieber würde ich was anderes schreiben. 361 Es würde sich m. E. lohnen, die Intertextualität von Sand und Tschick vor diesem Hintergrund hinsichtlich vieler Aspekte wie Motive, Stoffe, Sprachbilder, Stil in einer größeren Studie genauer zu untersuchen. VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 225 Unmittelbar in Beziehung zu Tschick steht der unvollendet gebliebene, 2014 postum als Fragment erschienene Roman Bilder deiner großen Liebe, der eine Fortsetzung bzw. ein Komplement darstellt. Er erzählt die Geschichte der in Tschick erscheinenden Ausreißerin Isa aus deren Perspektive. Dabei über‐ schneiden sich die Texte inhaltlich, indem die Begegnung der Romanhelden Maik und Tschick mit Isa hier ebenfalls erzählt wird. Das Buch wurde von Herrndorfs Freunden Marcus Gärtner und Kathrin Passig herausgegeben, die in einem Nachwort die Textkonstitution und Entstehungsgeschichte beschreiben. In der vorliegenden Form ist Bilder einer großen Liebe kein kohärenter Gesamt‐ text, sondern eine Sammlung der vorhandenen Kapitel und Entwürfe, wobei Herrndorf nicht linear-chronologisch nach der Handlungsfolge gearbeitet hat. Die Veröffentlichung dieses unfertigen Werks war m. E. richtig und im Sinne des Autors, da es sich im Einzelnen um Textpassagen von hoher Qualität handelt, doch ist der romanhafte Erzählbogen noch nicht ausgeprägt, Zusammenhänge und Übergänge lassen sich z.T. nur erahnen. Herrndorf hatte den Wunsch ge‐ äußert, einen Co-Autor hinzuziehen, doch verständlicherweise sah sich keiner seiner Vertrauten in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen. Wesentliche formale und inhaltliche Elemente von Tschick lassen sich als typische, immer wiederkehrende Textbausteine eines Paradigmas des Comingof-Age-Romans charakterisieren. Dieser Eindruck entsteht bei einer summa‐ rischen Inhaltsangabe des Plots, die kaum die im Detail und den Nuancen enthaltene Originalität und Tiefe des Romans erfassen kann. Zwei Außenseiter tun sich zusammen: Der Ich-Erzähler, der vierzehnjährige Maik Klingenberg, stammt aus einem neureich angehauchten Milieu, die Ehe seiner Eltern ist zerrüttet, die Mutter Alkoholikerin, der Vater mit Immobiliengeschäften Pleite gegangen. Maik bleibt in den Sommerferien allein zu Hause zurück, denn die Mutter fährt in eine Entziehungsklinik und der Vater begibt sich mit Assistentin respektive Geliebter auf eine sogenannte Geschäftsreise. Der kurz zuvor neu in seine Klasse gekommene, aus Russland stammende Andrej Tschichatschow, bald Tschick genannt, kommt auf ihn zu. Mit dieser Figur tangiert der Roman das Zeitthema Migration. Tschick überredet Maik, mit einem „geliehenen“ also geklauten Lada Niva auf Tour zu gehen, gestecktes Ziel ist die Walachei, wobei die doppelte Bedeutung des Begriffs Programm ist. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich eine Road Novel, das vermeintlich orientierungslose Unterwegs‐ sein versinnbildlicht die Aneignung von Welterfahrung. Im mehrfachen Sinne erweitert sich der Horizont der beiden Jungen, sie begegnen Landschaften und Menschen, allen voran der gleichaltrigen Ausreißerin Isa. Zwischen ihr und Maik entfaltet sich schüchtern eine zärtliche Spannung. In den Menschen, die sie treffen, spiegeln sich Charakter- und Sozialtypen. Die Reise endet mit einem 226 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 362 Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf ? Ein Gespräch mit Kathrin Passig 2016, S.-18. 363 Wolfgang Herrndorf: Tschick. Reinbek bei Hamburg 2011 (E-Book), S.-172. Autounfall. Maik und Tschick kommen vors Jugendgericht, Tschick muss in ein Heim, Maik wird zur Ableistung von Sozialarbeit verurteilt. Doch als Maik nach den Ferien wieder die Klasse betritt, ist er trotz der noch sichtbaren Un‐ fallverletzungen gestärkt und gereift aus allem hervorgegangen. Das Buch endet in einer, wie Herrndorf selbst formuliert, „[s]ymbolträchtigen“ 362 Schlussszene: Maiks betrunkene Mutter wirft das Inventar des Eigenheims, also die Kulisse der Scheinidylle, nach und nach in den Swimming Pool, Maik tut es ihr nach und gemeinsam tauchen beide vor den herbeigeeilten Nachbarn und Polizisten in das Schwimmbecken ab. Der Schlusssatz fasst die Quintessenz des Buches in ein stimmiges Bild: Ich dachte, dass ich das alles ohne Tschick nie erlebt hätte in diesem Sommer und dass es ein toller Sommer gewesen war, der beste Sommer von allen, und an all das dachte ich, während wir da die Luft anhielten und durch das silberne Schillern und die Blasen hindurch nach oben guckten, wo sich zwei Uniformen ratlos über die Wasseroberfläche beugten und in einer stummen, fernen Sprache miteinander redeten, in einer anderen Welt - und ich freute mich wahnsinnig. Weil, man kann zwar nicht ewig die Luft anhalten. Aber doch ziemlich lange. 363 In diesem letzten Satz kommt eines der basalen Elemente zum Ausdruck, die m. E. das Innovative des Romans und seine spezifisch suggestive Wirkung auf die Leserinnen und Leser ausmachen. Nuanciert werden hier jugendliche Träume, Wünsche und Realitätssinn austariert und die Aussagen durch em‐ pathische Figuren und Handlungen unterstrichen. Man kann nicht ewig der Wirklichkeit entfliehen, „die Luft anhalten“: „Aber doch ziemlich lange.“ - und dies darf auch als Appell an erwachsene Leser verstanden werden: niemals einen gewissen Eigensinn aufgeben, immer einen Teil seiner Jugendträume bewahren. Die kunstvolle und tiefgehende Gestaltung dieser Dialektik des Lebens hebt das Buch von anderen, genreverwandten ab. Denn erst auf dieser zweiten Ebene eröffnet sich die Originalität des Romans. Auf einer primären inhaltlichen und formalen greift der Text auf bekannte Motive, Erzähltechniken, Inhalte und Figurentypen zurück, zahlreiche Verwandtschaften mit anderen stilprägenden Werken lassen sich finden, etwa zu Jerome D. Salingers Der Fänger im Roggen, Jack Kerouacs Unterwegs oder Hark Bohms Film Nordsee ist Mordsee. Abenteuerroman, Aussteigerroman, Bildungsroman, Entwicklungs‐ roman, Initiationsroman, Schelmenroman: vielen Kategorien lässt sich der Text zuordnen, und er spielt auch bewusst mit diesen Gattungsparadigmen. Die VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 227 364 Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf ? Ein Gespräch mit Kathrin Passig 2016, S.-16f. 365 Vgl. ebd., S.-19 u. Herrndorf: Tschick 2011, S.-128f. 366 Herrndorf: Arbeit und Struktur 2013, S.-52 (24.8.2010 22: 00). Selbstäußerungen Herrndorfs zu Tschick sind konzise und aufschlussreich. Auf die Frage, warum er einen Jugendroman schrieb, spricht er die Prägung seines Denkstils durch paradigmatische Texte direkt an: Ich habe um 2004 herum die Bücher meiner Kindheit und Jugend noch mal wieder‐ gelesen, Herr der Fliegen, Huckleberry Finn, Arthur Gordon Pym, Pik reist nach Amerika und so. Um herauszufinden, ob die wirklich so gut waren, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber auch, um zu sehen, was ich mit zwölf eigentlich für ein Mensch war. Und dabei habe ich festgestellt, dass alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten hatten: schnelle Eliminierung der erwachsenen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser. Ich habe überlegt, wie man diese drei Dinge in einem halbwegs realistischen Jugend‐ roman unterbringen könnte. Mit dem Floß die Elbe runter schien mir lächerlich; in der Bundesrepublik des einundzwanzigsten Jahrhunderts als Ausreißer auf einem Schiff anheuern: Quark. Nur mit dem Auto fiel mir was ein. Zwei Jungs klauen ein Auto. Da fehlte zwar das Wasser, aber den Plot hatte ich in wenigen Minuten im Kopf zusammen. 364 Wenn man jedoch genauer hinsieht, wird deutlich, dass das Buch all diese bewährten Stoffe, Motive, Stilmittel nur als eine Art Form nutzt, vielmehr virtuos mit ihnen komponiert. Im Grunde bilden sie nur die Flasche, in die Herrndorf sein „Elixier“ einfüllt - der Begriff erscheint an einer Stelle von Tschick mit symbolischer Bedeutung. 365 Dass signifikante Ähnlichkeiten von Texten bzw. Filmen oft durch im kol‐ lektiven Gedächtnis verankerte Denk- oder Schreibmuster und nicht durch konkrete Kenntnis bestimmter Werke bedingt sind, zeigt eine Passage aus Herrndorfs Tagebuch Arbeit und Struktur, wenn er darauf verweist, dass er Nordsee ist Mordsee nicht gekannt hat: „Gucke ‚Nordsee ist Mordsee‘, nachdem mich nun auch Jens auf die Ähnlichkeiten zu ‚Tschick‘ aufmerksam gemacht hat. Der Film ist schlecht. Die Stimmung der Bilder trifft es aber genau.“ 366 Ein Element, das die literarische Qualität des Romans Tschick ausmacht, ist die gelungene Umsetzung der ambitionierten Konstruktion der Erzählhaltung. Herrndorf erzählt aus dem Blickwinkel des vierzehnjährigen Maik, er adaptiert dabei auch die Sprache eines Jugendlichen. Dieses mimetische Verfahren einer Kunstsprache ist nicht unproblematisch und stellt einen oft vorgebrachten Kritikpunkt bei Romanen dieser Art dar, vor allem bei autobiographischen, die aus der Kindheitsperspektive ein früheres Ich evozieren. Es stellt sich die 228 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 367 Vgl. Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst [2 Bde.]. Heidelberg 1974, I, S. 164f: „Aus Mangel an besseren Begriffen nenne ich einen Erzähler zuverlässig, wenn er für die Normen des Werkes (d. h. die Normen des implizierten Autors) eintritt oder in Übereinstimmung mit ihnen handelt, und unzuverlässig, wenn er dies nicht tut. Die Mehrzahl der großen zuverlässigen Erzähler gestattet sich zwar gern ein großes Maß an beiläufiger Ironie und ist somit „unzuverlässig“ in dem Sinne, daß sie möglicherweise Täuschungen bewirkt. […] Unzuverlässige Erzähler unterscheiden sich also merklich untereinander, je nachdem, wie weit und nach welcher Richtung hin sie von den Normen ihres Autors abweichen; der ältere Begriff „Ton“ umfaßt ebenso wie die derzeit geläufigen Begriffe „Ironie“ und „Distanz“ viele Wirkungen, die wir voneinander unterscheiden sollten.“ (Kursivierungen im Original) 368 Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf ? Ein Gespräch mit Kathrin Passig 2016, S.-18. Frage, ob ein erwachsener Autor sich authentisch dieser Perspektive bedienen kann, denn er läuft Gefahr, aufgesetzt oder manieriert zu wirken. Herrndorfs Stil in Tschick wurde vielfach mit dem von Wayne C. Booth eingeführten Begriff des „unzuverlässigen Erzählens“ charakterisiert. Dieser Terminus ist Bestandteil von Booth’ Modell des „impliziten Autors“. 367 Booth wollte mit dieser heuristischen Kategorie eine vermittelnde Instanz in den erzähltheoretischen Diskurs um das Verhältnis zwischen Autor und Erzähler eines literarischen Texts einbringen. Am „unzuverlässigen Erzähler“ lässt sich dieser Gedanke pointiert formulieren. Ein sehr bekanntes Beispiel ist Thomas Manns Doktor Faustus. Der sehr im Gegenständlichen verhaftete homodiegetische Erzähler, „Chronist“ Serenus Zeitblom schildert das Leben der Hauptfigur Adrian Lever‐ kühn, doch begreift und erfasst er nicht die tieferen dämonischen Dimensionen von Leverkühns Naturell. Dennoch ist die Erzählung so arrangiert, dass diese dem Leser deutlich werden, und er in der Rede Zeitbloms gewissermaßen den Autor und sein Wissen erkennt. Dem Leser, vor allem dem erwachsenen Leser von Tschick wird schnell klar, dass die Unwissenheit der Erzählinstanz vom Autor prononciert ist. Die Figuren wie Lehrer, Mitschüler, Eltern repräsentieren bestimmte Sozial- und Charaktertypen, zahlreiche explizite und versteckte An‐ spielungen verweisen auf einen belesenen Autor, die schelmenhafte, pikareske Pose Maiks ist die Maske für die den ganzen Text tragende Ironie. Dabei spielt die Sprache eine erhebliche Rolle: Übereinstimmend wird gelobt, dass der Roman, weil der Stil nicht aufgesetzt wirkt, den Eindruck evoziert, hier spricht tatsächlich ein Teenager. Herrndorf gelingt dies durch bewussten Verzicht, er verwendet Modewörter nicht inflationär und versucht erst gar nicht, sich durch gekünstelten Jargon anzubiedern: „Wenn man erst anfängt, mit Slang um sich zu schmeißen, wird man doch schon im nächsten Jahr ausgelacht.“ 368 Er setzt bestimmte offensichtliche jugendtypische Wendungen relativ sparsam ein, wiederholt diese auch, aber nicht oft: gelegentlich streut er etwa die schräge VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 229 369 Herrndorf: Tschick 2011, S.-33, 41, 159, 160. 370 Ebd., S.-10, 20. 371 Herrndorf: Arbeit und Struktur 2013, S.-180 (20.11.2011 10: 31). Adjektivierung „okaye(n)“ ein, 369 zweimal ist vom „ganz große[n] Bringer“ die Rede. 370 Durch diese Reduktion vermeidet er, als Erwachsener artifiziell die aktuelle Jugendsprache zu imitieren, was relativ schnell zur Parodie werden kann und ins unfreiwillig Komische münden würde. Vielmehr will Herrndorf sich in den Jugendlichen auf einer zeitlosen Ebene hineindenken und daraus eine entsprechende Sprache entwickeln, die universelle Denkmuster und Gefühle der Pubertät erfasst. Diese reichert er dezent mit einigen zeittypischen Momenten an. Wesentlicher Bestandteil dieses Konzepts ist die das Buch tragende Ironie, die dem Text seine Heiterkeit und Leichtigkeit verleiht. In Maiks Blick auf seine Altersgenossen und die Erwachsenenwelt scheint der Humor des Autors durch. Da der Text zu einem großen Teil auch in der Schulklasse spielt, tangiert er das Genre des Paukerromans. Die Darstellung der Lehrer bzw. das Lehrerbild verdient besondere Beachtung, weil der Roman mittlerweile als Schullektüre etabliert ist. Dass Herrndorf hierbei auch autobiographische Erfahrungen mit der Schule einfließen lässt, liegt nahe. Hinzu kommt, dass sein Vater als Lehrer gearbeitet hat. In den Szenen, die in der Schulklasse spielen, charakterisiert Herrndorf bestimmte Lehrertypen kritisch-bissig, aber nicht verächtlich. In den Schilderungen liegt eine markante Ambivalenz, die eine Äußerung in Arbeit und Struktur vielleicht vor einem persönlichen Hintergrund verständlich werden lässt: Jahre, nachdem ich die Schule verlassen hatte, fand ich einmal ein Aufsatzheft wieder, in dem Herr Suck mir seitenlang Stilfehler angestrichen hatte, plus Erklärung, wie es besser ginge, Kommentar insgesamt länger als der Aufsatz. Aber die Vier in Deutsch machte es mir schwer, ihn ernstzunehmen, und ich entschied mich dafür, ihn für das zu halten, wofür ihn die meisten anderen auch hielten: Einen aus dem Weltkrieg mit leichtem Tremor und permanentem Kopfschmerz zurückgekehrten, etwas irren Liebhaber von Literatur mit ausschließlich letalem Ausgang, einen Mann mit einem Faible für Schach und Marschmusik, der zitternd den Mittelgang auf und ab rannte, unaufmerksame Schüler mit ruckartigen 180-Grad-Drehungen und gebrüllten Fragen aus ihrem Mittagsschlaf weckte, der mit Tafelkreide warf, in der Sexta Kleist durchnahm und von Stil sprach. Der einzige Lehrer in meiner ganzen Schulzeit, der von Stil sprach. Und auch eine Ahnung hatte, wovon er da sprach, wie das Aufsatzheft beweist. Hätte ich auf ihn gehört, ich hätte zehn Jahre meines Lebens gespart. Er starb, bevor mein erstes Buch erschien. Hat mich sehr geschmerzt. 371 230 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 372 Herrndorf: Tschick 2011, S.-23. 373 Ebd., S.-33. 374 Eva-Maria Scholz: Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Wolfgang Herrndorf: Tschick. Stuttgart 2014 (E-Book) [Reclam Universal-Bibliothek], S.-63f. Diese Lebenserfahrung fließt bei Tschick in eine Randfigur ein, Maiks Grund‐ schullehrer Wilhelm Bretfeld. Dieser scheint ein weltfremder, schrulliger Mensch zu sein, der sich völlig der Technik und Herstellung von Bumerangs hingegeben hat. Maik trifft ihn nach der Grundschulzeit wieder und Bretfeld bringt ihm bei, wie man einen Bumerang schnitzt. „Wirklich ein guter Lehrer. Das hatte ich auf der Grundschule gar nicht bemerkt.“ 372 Die subtile und ambivalente Darstellung der Lehrer zeigt sich besonders beim Geschichtslehrer Wagenbach. „[W]enn einer ein autoritäres Arschloch ist, dann Wagenbach. Wobei Arschloch jetzt eine Übertreibung ist, eigentlich ist Wagenbach ganz okay. Er macht okayen Unterricht und ist wenigstens nicht dumm, wie die anderen, […]“ 373 denkt Maik. Als Wagenbach der Klasse den neuen Mitschüler Tschick vorstellt, schwingt in seiner Art Freundlichkeit und Herzlichkeit mit, was jedoch ironisch durch Tschicks stoisch abweisende Weigerung, etwas über sich selbst zu sagen, gebrochen wird und den Lehrer sichtlich aus dem Konzept bringt und unbeholfen erscheinen lässt. In der begleitenden Literatur zur Schullektüre werden die strafbaren Hand‐ lungen, die Maik und Tschick begehen, verständlicherweise ausführlich thema‐ tisiert. Eva-Maria Scholz widmet in Reclams Lektüreschlüssel zu Tschick den „Grenzüberschreitungen und Gesetzesverstöße[n]“ im Rahmen der Interpreta‐ tion ein Unterkapitel. 374 Während für den erwachsenen Leser die Diebstähle, der Alkoholkonsum, das Fahren ohne Führerschein als Stilisierungen und Überhöhungen jugendlichen Ausbrechens und „denn sie wissen nicht, was sie tun“ eindeutig erkennbar sind, so stellen sich die Planer von Unterrichtsreihen die Frage, ob auch die Schüler diese ‚Uneigentlichkeit‘ verstehen. Es zeichnet Tschick meines Erachtens aus, dass hier in keiner Weise Straftaten oder der soziale Ausstieg verherrlicht werden. Im Gegenteil, wie die Lehrer werden auch die Vertreter des Gesetzes, die Polizisten ausgewogen auf freundliche Art ironisch aufs Korn genommen, niemals verächtlich behandelt. Am Ende treffen Maik und Tschick auf einen formal korrekten, verständnisvollen, gerechten Ju‐ gendrichter. Herrndorf bedient sich des klassischen Musters der Gerichtsszene, um die moralische Frage gegen Schluss des Texts zu verhandeln. Für Maik wird es Teil seiner Initiation, indem er den Unterschied zwischen der tatsächlichen Welt und der ihm durch die Medien vermittelten erkennt: „Das sieht man bei Richterin Barbara Salesch auch nicht, dass man stundenlang warten muss, wo VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 231 375 Herrndorf: Tschick 2011, S.-158. 376 Ebd., S.-160. 377 Scholz: Lektüreschlüssel Tschick 2014, S.-63. 378 Herrndorf: Arbeit und Struktur 2013, S.-9, 47, 55, 87, 129, 160, 163. 379 Herrndorf: Tschick 2011, S.-155f. 380 Ebd., S.-159. 381 Herrndorf: Arbeit und Struktur 2013, S.-47 (7.8.2010 20: 22). man denkt, man ist auf der eigenen Beerdigung.“ 375 Aus Maiks Blickwinkel wird sehr eindrucksvoll der Respekt und die Einsicht evoziert, die er dem Richter als Menschen, seiner Verhandlungsführung und seinem Urteil entgegenbringt. Zum Schluss kamen noch stundenlange moralische Ermahnungen, aber es waren eigentlich sehr okaye Ermahnungen. Nicht wie bei meinem Vater oder an der Schule immer, sondern eher schon so Sachen, wo man dachte, es geht am Ende um Leben oder Tod, und ich hörte mir das sehr genau an, weil mir schien, dass dieser Richter nicht gerade endbescheuert war. Im Gegenteil. Der schien ziemlich vernünftig. 376 Scholz glossiert ihre Ausführungen über Maiks und Tschicks „Gesetzesverstöße“ mit der als Frage formulierten Wendung „Schuld und Sühne? “, 377 die vor allem als Romantitel Dostojewskijs in der deutschen Übersetzung bekannt ist. Dostojewski war einer der erklärten Lieblingsautoren Herrndorfs, er schätzte die Psychologie seiner Figuren, einige Passagen in Arbeit und Struktur widmen sich ausführlich dem russischen Klassiker. 378 Von daher mag die Deutung einiger Aspekte bei Tschick als Analogien zu Dostojewskis Roman gar nicht so abwegig sein, wie es äußerlich zunächst scheint. Der Protagonist Raskolnikow, der eine Pfandleiherin und ihre Schwester ermordet hat, gelangt zu der Einsicht, seine Untat zu gestehen, sich zu stellen und die Strafe auf sich zu nehmen. Der Ermitt‐ lungsrichter Porfirij, dessen geschickte Verhöre zu Raskolnikows Entschluss mit beitragen, entwickelt Verständnis für dessen schwierige Lage, zugleich sieht er sich aber der Gerechtigkeit verpflichtet. Für einen verschlüsselten Dostojewski- Bezug ließe sich auch anführen, dass Vater Klingenberg Maik im Vorfeld der Gerichtsverhandlung wiederholt als „Idiot“ bezeichnet. 379 Maik hingegen denkt nach einem Zwischenruf seines Vaters während der Verhandlung: „Mein Vater, der Idiot.“ 380 Herrndorf schreibt in Arbeit und Struktur: „‚Der Idiot‘ war das erste, was ich von Dostojewskij las, und ich las es nur des Titels wegen. Hatte mich schon als Kind fasziniert. Verirrt stand das Buch im Regal meiner Großmutter.“ 381 Intertextualität ist ein wesentliches Element in Tschick wie auch in anderen Werken Wolfgang Herrndorfs. Im Text finden sich zahlreiche Zitate, explizite wie auch versteckte Verweise auf andere literarische Texte und bestimmte Stilmuster. Die Methode des Schriftstellers lässt sich durch den Maler Herrndorf 232 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 382 Herrndorf: Tschick 2011, S.-76f. 383 Ebd., S.-41. 384 Ebd., S.-42. veranschaulichen, dessen Bilder häufig subtil Motive und Techniken alter Meister aufgreifen und mit einem zeitgenössischen Kontext verknüpfen. Am Beispiel der Verweise auf andere Texte lassen sich exemplarisch seine erzähle‐ rische Finesse und sein Kompositionsprinzip veranschaulichen. Selbst zunächst kalauerhaft wirkende Bezüge versteht er mit subtilem Humor und feiner Ironie in seinen Erzählduktus einzuflechten. So lässt er Maik und Tschick in einem Dialog über Jack Londons Seewolf und Hermann Hesses Steppenwolf sinnieren. Als die beiden wieder einmal auf ihrer Fahrt die Orientierung verloren haben, stellen sie Überlegungen an, wie man zu einem Kompass gelangt: „Ein Kreiselkompass hat aber nichts mit Kreiseln zu tun. Der kreiselt nicht“, sagte ich. „Der hat was mit Alkohol zu tun. Da ist Alkohol drin.“ „Du verarschst mich.“ „Das weiß ich aus einem Buch, wo die auf dem Schiff kentern, und dann bricht ein Matrose den Kompass auf, weil er Alkoholiker ist, woraufhin sie komplett die Orientierung verlieren.“ „Hört sich nicht gerade wie ein Fachbuch an.“ „Stimmt aber. Das Buch hieß, glaube ich, Der Seebär. Oder Der Seewolf.“ „Du meinst Steppenwolf. Da geht es auch um Drogen. So was liest mein Bruder.“ „Steppenwolf ist zufällig eine Band“, sagte ich. 382 Im Fach Deutsch wird eine von Bertolt Brechts Geschichten vom Herrn Keuner behandelt, aus der zu Beginn des entsprechenden Kapitels 11 zitiert wird. 383 Durch Maiks Blickwinkel nimmt Herrndorf in pikarischer Manier die typische Behandlung von Texten im Unterricht mit wenigen Strichen aufs Korn. Tschick trägt eine abwegig erscheinende, aber originelle phantasievolle Deutung und Weitererzählung der Geschichte vor, was den Lehrer sprachlos macht: An Kaltwassers Gesicht war absolut nichts zu erkennen. Kaltwasser schien leicht angespannt, aber mehr so interessiert-angespannt. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Zensur gab er nicht. Anschließend las Anja die richtige Interpretation, wie sie auch bei Google steht, dann gab es noch eine endlose Diskussion darüber, ob Brecht Kommunist gewesen war, und dann war die Stunde zu Ende. 384 Es finden sich auch zahlreiche Erwähnungen und Verweise auf Phänomene der Populärkultur: Musiker, Filme, Videospiele, wobei Herrndorf diese, wie auch die Wendungen der Jugendsprache, wohldosiert einsetzt und nicht posenhaft überstrapaziert. VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 233 385 Ebd., S.-49. 386 F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay. Zürich 2013 (E-Book), S.-35. 387 Herrndorf: Tschick 2011, S.-45. Intertextualität zeigt sich in Tschick jedoch nicht nur in expliziten Verweisen, sondern auch, wie schon für Dostojewski ausgeführt, auf einer verstecktsubtilen Ebene. Wie Herrndorf solcherweise ein entlehntes Motiv einsetzt und variiert, werde ich exemplarisch an einem sehr verborgenen, allerdings eindeutigen Bezug ausführen. Maik schildert, wie er auf dem Spielplatz an seine Mitschülerin Tatjana denkt, in die er heimlich verliebt ist, die Klassenschönste, die ihn aber nicht beachtet. Er lässt den Blick in Richtung der Gegend, wo sie wohnt, schweifen: Die Mietshäuser stehen hinter der Kleingärtnerkolonie, irgendwo hinter den Bäumen, und in einem davon wohnt Tatjana. Ich wusste zwar nie, wo genau, aber es gibt ein kleines Fenster oben links, wo in der Dämmerung immer ein grünes Licht angeht, und aus irgendwelchen Gründen hab ich mir eingebildet, dass das Tatjanas Zimmer ist. Und deshalb sitze ich manchmal auf dem Indianerturm und warte auf das grüne Licht. 385 Das „grüne Licht“ ist ein zentrales Motiv des Romans Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald, welches in einer neuen Verfilmung von Baz Luhrmann aus dem Jahr 2013 in der optischen Umsetzung besonders akzentuiert wird. Es symbolisiert die Sehnsucht der Hauptfigur Gatsby nach der verheirateten Daisy und zugleich die Unerreichbarkeit dieses Begehrens. Der Ich-Erzähler, ein entfernter Cousin Daisys und Nachbar Gatsbys, beschreibt den Blick zum Steg des Anwesens von Daisy und ihrem Mann: Unwillkürlich schaute ich zum Meer - und sah dort nichts als ein einzelnes grünes Licht, winzig klein und weit entfernt, das das Ende eines Steges markieren mochte. Als ich noch einmal zu Gatsby blickte, war er verschwunden, und ich war wieder allein in der unruhigen Dunkelheit. 386 Herrndorf variiert das Motiv des „grünen Lichts“ in Tschick bereits, bevor es explizit auftaucht. Die Einladungen zu Tatjanas Geburtstagsfeier sind auf grünen Kärtchen gedruckt. Maik sieht diese am letzten Schultag vor den Ferien in der Klasse zirkulieren und wünscht sich sehnlichst eine solche: „Und dann bemerkte ich, dass alle diese grünen Kärtchen hatten. Fast alle.“ 387 Auch wenn er es bis zum letzten Moment erhofft, bekommt er - wie auch Tschick - keine Einladung. 234 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 388 Fitzgerald: Der große Gatsby, S.-118f. 389 Herrndorf: Tschick 2011, S.-149. 390 Ebd., S.-150. 391 Ebd. Das grüne Licht steht bei Gatsby nicht nur für die tatsächliche Wunsch‐ erfüllung bzw. deren Vergeblichkeit, es hat auch eine im Grunde positive lebensphilosophische Bedeutung. Das Bild drückt den Zauber einer verborgenen Sehnsucht, Vorstellung, Ungewissheit und vor allem Offenheit aus und evoziert darin eine empfundene, virtuelle Erfüllung. Folgendes Zitat deutet dies schlüssig an: „Wenn der Nebel nicht wäre, könnten wir auf der anderen Seite der Bucht euer Haus sehen“, sagte Gatsby. „Am Ende eures Stegs leuchtet die ganze Nacht über ein grünes Licht.“ Daisy schob plötzlich ihren Arm unter seinen, doch Gatsby sann offenbar noch über das nach, was er eben gesagt hatte. Vielleicht dämmerte ihm, dass die ungeheure Bedeutung dieses Lichts jetzt für immer dahin war. Gemessen an der enormen Distanz, die ihn von Daisy getrennt hatte, war das Licht ihr so nah gewesen, dass es sie fast zu berühren schien; es schien ihr so nah zu sein wie ein Stern dem Mond. Jetzt hatte es sich in ein grünes Licht an einem Steg zurückverwandelt. Seine Sammlung verzauberter Gegenstände war um ein Stück kleiner geworden. 388 Dieses Denkmuster bietet auch Deutungshorizonte für die Verwendung des Motivs in Tschick. Gegen Ende der Reise führt Herrndorf das Bild des „grünen Lichts“ an einer für die Gesamtaussage zentralen Stelle noch einmal explizit auf. Maik erinnert sich daran, „wann ich zum ersten Mal eine Nacht gesehen hatte oder wann mir zum ersten Mal aufgefallen war, was das eigentlich ist, die Nacht“ 389 und „so eine Nacht ist es jetzt wieder.“ 390 Im Dunkeln liegt das Land, liegen Wiesen und Wege, und wir stehen vor einer großen Ebene, auf der in der Ferne der schwarze Umriss eines Bauernhofs zu sehen ist. Und als ich gerade etwas sagen will, geht links in einem kleinen Fenster im Bauernhof ein grünes Licht an, und ich sage nichts mehr. Ich kann nicht mehr. Schließlich legt Tschick seinen Arm um meine Schultern und sagt: „Wir müssen weiter.“ 391 Diese Stelle hat einen großen Symbolgehalt im Hinblick auf die Bedeutung des Texts als Bildungs- und Entwicklungsroman. Sie allegorisiert mit großer Empathie eine zentrale Erfahrung des Erwachsenwerdens und verweist auf die Ungewissheit des Lebens und der persönlichen Hoffnungen. Dies wird noch deutlicher, wenn man eine Passage am Ende von Der große Gatsby heranzieht: VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 235 392 Fitzgerald: Der große Gatsby 2013, S.-224. 393 Gustav Seibt: Zauberisch und superporno. Wolfgang Herrndorf: Tschick. In: Süddeut‐ sche Zeitung 12. Oktober 2011 (https: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ wolfgang-herrnd orf-tschick-zauberisch-und-superporno-1.1011229 [zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023]). 394 Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf ? Ein Gespräch mit Kathrin Passig 2016, S.-19. Und wie ich so dasaß und über die alte, unbekannte Welt nachsann, dachte ich daran, welches Wunder es für Gatsby bedeutet haben musste, als er zum ersten Mal das grüne Licht am Ende von Daisys Steg erblickte. Er hatte einen weiten Weg bis zu diesem blauen Rasen zurückgelegt, und sein Traum muss ihm zum Greifen nah erschienen sein. Er wusste nicht, dass der Traum bereits hinter ihm lag, irgendwo in jener unermesslichen Finsternis jenseits der Stadt, wo die dunklen Felder des Landes unter dem Nachthimmel wogten. Gatsby glaubte an das grüne Licht, die wundervolle Zukunft, die Jahr für Jahr vor uns zurückweicht. 392 Die Nacht ist besonders in der Romantik ein ausgeprägtes Motiv. Die für diese Stilrichtung gefühlsmäßige Erfahrung der Natur und ihre bildhafte Spiegelung auf Lebenserfahrungen ist bei Tschick und in Herrndorfs Werk generell ausge‐ prägt. Gustav Seibt stellt in seiner Rezension von Tschick in der Süddeutschen Zeitung vom 12. Oktober 2011 eine Verbindungslinie zur Romantik her, wenn auch mit etwas anderer Blickrichtung: Herrndorf schreibt einen Episoden- und Abenteuerroman, der das vermeintlich bes‐ tens bekannte und erschlossene Mitteleuropa südlich von Berlin in ein zauberisches Irgendwo verwandelt. […] Untergründig kommuniziert sein Ton mit einer anderen Ju‐ gendepoche der deutschen Literatur, der Romantik Tiecks und Eichendorffs. Übrigens ist das schon eine Antwort auf manche gegenwärtige Literaturlangeweile: In deut‐ scher Sprache gedieh „Realismus“ noch nie gut, unsere Stärken liegen anderswo. 393 Herrndorf, danach befragt, ob das beabsichtigt war, antwortet aufschlussreich mit doppelbödiger Selbstironie: Ich weiß nicht, ob Seibt das so meint, aber das wäre ja generell erst mal nicht falsch. Nur dass man von „beabsichtigt“ bei mir nicht wirklich sprechen kann. Ich denke mir beim Schreiben meist erst mal nicht viel außer „es sollte nicht langweilig sein“, und wo das dann hinsteuert, kann einem bei einem Roadmovie ja auch angenehm egal sein … Ich merke gerade, dass ich mich in erzromantische Positionen verrenne. 394 Das Erlebnis der Natur und die Landschaftserfahrung, also für die Literatur der Romantik charakteristische Momente sind tragende Elemente von Tschick. Landschaften, Wetterphasen, Himmelskonstellationen spielen in Maiks Wahr‐ 236 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 395 Anmerkung von Marcus Gärtner / Kathrin Passig. In: Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Reinbek bei Hamburg 2014 (E-Book), S.-97. 396 Clemens Brentano: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt 1838, S. 17 (https: / / ww w.deutschestextarchiv.de/ book/ view/ brentano_gockel_1838/ ? p=43&hl=nahm [zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023]). 397 Herrndorf: Tschick 2011, S.-103. 398 Ebd., S.-109. nehmung eine zentrale Rolle. Sie treten in der Fortsetzung aus der Isa-Perspek‐ tive Bilder deiner großen Liebe noch intensiver hervor. Die Herausgebenden dieses Texts, Marcus Gärtner und Kathrin Passig, haben für das Cover der Buchausgabe ein Landschaftsgemälde von Herrndorf ausgewählt, das „lange Zeit schief, ungerahmt und mit der daruntergesetzten Zeile ‚Macht einem manchmal Angst: Die Natur‘ an der Wand über seinem Schreibtisch [hing].“ 395 In Clemens Brentanos romantischem Märchen Gockel, Hinkel und Gackeleia heißt es: Gackeleia nahm sich Zeit, sie pflückte links und rechts viele Brombeeren und Heidelbeeren, und als der Vater sie heranrief, in das Schloß einzugehen, hatte sie die Hände und das halbe Gesicht schwarz wie ein Mohrenkind. 396 Brombeeren haben in Tschick eine besondere Bedeutung: Ich weiß nicht, ob ich es schon gesagt habe, aber ich mag nichts auf der Welt lieber als Brombeeren. Da blieben wir dann erstmal und pflückten jeder hundert Kilo, und hinterher sahen wir aus wie geschminkt, das ganze Gesicht lila. 397 Eine Brombeerhecke wird zu einem romantisch inspirierten Ort stilisiert, an dem Maiks Gefühle für Isa erwachen: Und dann fing das Mädchen [Isa] an zu singen. Ganz leise erst, auf Englisch, und immer unterbrochen von kleinen Pausen, wenn sie Brombeeren kaute. […] Ich hielt eine Ranke mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig von mir weg und schaute zwischen den Blättern durch auf das Mädchen, das da singend und summend und Brombeeren kauend im Gebüsch stand. Dazu dann noch der Brombeergeschmack in meinem eigenen Mund und die orangerote Dämmerung über den Baumkronen und im Hintergrund immer das Rauschen der Autobahn - mir wurde ganz seltsam zumute. 398 Herrndorf versteht es, solche Stimmungsbilder ironisch sanft zu brechen, ohne sie dabei zu zerstören. Die Hecke liegt zwischen Autobahn und Müllkippe, doch zugleich ist sie ein magischer Ort der wahren Empfindung. Es ist ein für Herrndorf typisches Kompositionsmuster, solche poetisch aufgeladenen VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 237 399 Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe 2014, S.-65. 400 Herrndorf: Tschick 2011, S.-75. 401 Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Band 1: Gedichte, Versepen. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt am Main 1987, S.-315. Naturbeschreibungen mit Verweisen auf die Zivilisation zu verknüpfen. Eine Passage aus Bilder deiner großen Liebe: Bäume und Landschaft sind hinter blauen Schleiern aus Wasser, hellen Flecken und dunklen Streifen verschwunden. Es wetterleuchtet. „Jemand sollte den Rasenmäher reinholen“, sagt der Mann. […] „Für zehn Euro mach ich’s“, sage ich. 399 Es entspricht dieser Konzeption, dass eine Best-of-Kassette des vor allem in den 1970er/ 1980er Jahren bekannten Populärromantikers, als „Prince of Romance“ titulierten Pianisten Richard Clayderman, zu dessen Repertoire auch entsprechende Arrangements von Robert-Schumann-Stücken gehören, zum Soundtrack der Reise wird. Der Lada hat nur einen Kassettenrecorder und die Jungen des Jahrs 2010 besitzen natürlich keine Tonträger dieses von der Zeit überholten Formats, und finden einzig diese Kassette im Auto. Natürlich lehnen sie nach außen diese Art Musik kategorisch ab, doch legen sie die Kassette immer wieder ein und Maik gibt sich selbst gegenüber ein gewisses Gefühl der Anziehung zu: „Im Ernst, ich hab’s Tschick nicht gesagt, und ich sag’s auch jetzt nicht gern. Aber diese Moll-Scheiße zog mir komplett den Stecker.“ 400 Eine der einprägenden Passagen Tschicks ist die sog. „Sternenszene“. Maik und Tschick erleben eine Sommernacht an einem Berghang, bestaunen den Sternenhimmel. Joseph von Eichendorff fängt in seinem Gedicht Sehnsucht ein solches Erlebnis ein: Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand […] Ach wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, […] Sie sangen von Marmorbildern, […] In der prächtigen Sommernacht. - 401 238 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 402 Herrndorf: Tschick 2011, S.-84f. 403 Herrndorf: Arbeit und Struktur 2013, S.-34 (11.5.2010 17: 32). Auch auf Maik und Tschick entfaltet der Anblick des Sternenhimmels seine Wirkung: Die Sterne über uns wurden immer mehr. Wir lagen auf dem Rücken, und zwischen den kleinen Sternen tauchten kleinere auf und zwischen den kleineren noch kleinere und das Schwarz sackte immer weiter weg. „Das ist Wahnsinn“, sagte Tschick. […] „Das ist noch viel besser als Fernsehen. […]“ […] „Kennst du Starship Troopers? “ „Mit den Affen? “ „Mit Insekten.“ „Und am Ende so ein Gehirn? Der riesige Gehirnkäfer mit so - mit so schleimigen Dingern? “ „Der ist Wahnsinn.“ […] „Und kannst du dir das vorstellen: Die Insekten haben natürlich auch ein Insektenkino! […] und schauen sich gerade einen Film an, der auf der Erde spielt und von zwei Jungen handelt, die ein Auto klauen.“ […] Ich schaute in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen Unendlichkeit, und ich war irgendwie erschrocken. Ich war gerührt und erschrocken gleichzeitig. […] Es war wirklich ein Wahnsinn. Und die Grillen zirpten die ganze Nacht. 402 Herrndorf verweist in seinem Arbeitsjournal bei dieser Szene auf eine kompen‐ satorische Referenz zu seiner Person: Der ungeheure Trost, der darin besteht, über das Weltall zu schreiben. Heute die Szenen mit dem Sternenhimmel, mit Starship Troopers und der Entdeckung der Nacht eingebaut. […] Warum ist der Anblick des Sternenhimmels so beruhigend? 403 Das Sternenmotiv taucht in Tschick wie auch in Bilder deiner großen Liebe signifikant häufig auf. Es versinnbildlicht den Ausbruch des jungen Menschen aus einem normierten, vorgefassten Leben, wie Herrndorf es für sich selbst als Fünfzehnjährigen auch formuliert, als er sich an seine ersten prägenden Erlebnisse mit Literatur und Kunst erinnert: VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 239 404 Ebd., S.-182 (26.11.2011 18: 00). 405 Ebd., S.-174 (4.11.2011 15: 45). 406 Ebd., S.-200 (31.3.2012 15: 36). 407 Seibt: Zauberisch und superporno 2011. 408 Herrndorf: Tschick 2011, S.-143f. [R]aus aus der Konvention mit aller Gewalt, raus aus dem Leben, das ich bis dahin als einziges kennenzulernen Gelegenheit gehabt hatte, ein Astronom, der sein Teleskop zum ersten Mal in den Sternenhimmel richtet. 404 In diesem Kontext lässt sich seine Affinität zu Science-Fiction-Stoffen begreifen, ein Beispiel ist sein kurzer Text Die Rosenbaum-Doktrin (2007), ein fingiertes Interview mit einem fiktiven Kosmonauten. Aus Arbeit und Struktur geht hervor, dass er im November 2011 einen Science-Fiction-Roman mit dem Arbeitstitel „Mercer 5083“ begonnen hat, 405 am 31. März 2012 notiert er, dass er die Arbeit daran „seit langem“ „aus Kompliziertheitsgründen abgebrochen“ hat, stattdessen hat er sich dem „Isa“-Text (Bilder deiner großen Liebe) gewidmet. 406 Tschick und alle Werke Herrndorfs sind zweifelsfrei von einem für die Post‐ moderne charakteristischen Denkstil respektive Literaturparadigma geprägt. Sie greifen dessen typische Stilelemente auf: intertextuelle Verweise, das Spiel mit den Genres und Topoi, die Verknüpfung klassischer und populärer Motive, die Orientierung an Mustern der Unterhaltungsliteratur und deren ironische Brechung, Referenzen zur Populärkultur. Der große Erfolg des Buches lässt sich jedoch nicht allein darauf zurück‐ führen, dass es den Nerv des Zeitgeistes trifft oder unterhaltsam geschrieben ist. Dieses Buch muss etwas sehr Eigenes, als innovativ Empfundenes an sich haben, weil es sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum eine solche Euphorie ausgelöst hat und sich zahlreiche danach erschienene Werke offensichtlich an bestimmten Merkmalen des Romans orientieren. Seibt attestiert dem Buch, es sei „von dem Geist zarter Menschenliebe durchzogen“, 407 und zitiert Maiks Resümee der Reise, das in der Tat eine Liebeserklärung an den Menschen darstellt und zugleich als Appell an eine ‚schweigende Mehrheit‘ verstanden werden kann: Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten kuckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99-Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. 408 240 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 409 Herrndorf: Arbeit und Struktur 2013, S.-31 (28.4.2010 20: 47). 410 Fitzgerald: Der große Gatsby 2013, S.-224. Ein Eigenständigkeitsmerkmal des Buches liegt darin, dass es die Grenzen zwischen Jugendbuch und Erwachsenenliteratur aufhebt. Während Coming-of- Age-Romane zumeist eher zu einer der beiden Zielgruppen tendieren, gelingt es Herrndorf, beide Leserschichten gleichermaßen anzusprechen. Die stilbildende Wirkung von Tschick beruht zu einem beträchtlichen Teil darauf, dass das Buch übereinstimmend von Kritikern und Lesern als perfekter „All Age“-Roman an‐ gesehen wird. Dabei entsteht rezeptionsästhetisch eine bemerkenswerte Varia‐ bilität. Je nach Leser stellt sich die Frage, ob die Lektüre von Tschick eine Reise in die Zukunft oder in die Vergangenheit evoziert. Je nach Perspektive respektive Alter des Rezipienten entfaltet der Roman unterschiedliche Wirkungen. Für die Figuren und ihre gleichaltrigen Leser repräsentiert der Text die Gegenwart und die Reise der beiden Jungen signalisiert das Erwachsenwerden. Für die älteren Leser mag vieles als sentimentale Erinnerung erscheinen. Marcel Proust, dessen Schaffen emblematisch für die ‚Suche nach der verlorenen Zeit‘ steht, gehörte wie Dostojewski zu den Lieblingslektüren Herrndorfs. „Projekt Regression: Wie ich gern gelebt hätte.“ notiert Herrndorf mit Bezug auf Tschick am 28. April 2010 in Arbeit und Struktur. 409 Ich denke, der Schluss des Großen Gatsby bringt dieses Denkmuster treffend in einer poetischen Sprache zum Ausdruck: Gatsby glaubte an das grüne Licht, die wundervolle Zukunft, die Jahr für Jahr vor uns zurückweicht. Damals entwischte sie uns, aber was macht das schon - morgen laufen wir schneller, strecken die Arme weiter aus … Und eines schönen Tages … So kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom, und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit. 410 Zusammenfassend kann man sagen, dass Tschick als idealtypisch gelungene Ausführung eines formulierten Gattungsparadigmas mit innovativen Ele‐ menten rezipiert wurde. Als stilbildender Text hat Tschick einen graduellen Paradigmenwechsel der Gattung des Coming-of-Age-Romans im deutschen Sprachraum bewirkt. Ähnlich wie Der Name der Rose beim historischen Roman hat er sich zu einem Referenztext entwickelt, an dem nachfolgende Ausprä‐ gungen des Genres gemessen werden. Dies muss man nuanciert sehen, denn Tschick hat die Gattung nicht völlig neu definiert. Coming-of-Age-Romane hat es immer gegeben, man denke vor allem an einige populäre Romane von Hermann Hesse. Vor Tschick sind in der deutschen Gegenwartsliteratur etwa mit Benjamin Lebert Crazy, Helene Hegemann Axolotl Roadkill oder Benedict Wells Spinner vielbeachtete und VII.1 Wolfgang Herrndorf: Tschick - ein paradigmatischer Roman 241 -diskutierte Romane des Genres erschienen, die beiden Erstgenannten wurden auch verfilmt. Betrachtet man die Listen diverser Bücherpreise in den Jahren seit Tschick, so ist jedoch erkennbar, dass die Gattung deutlich stärker vertreten ist. In den darauffolgenden Jahren haben sich zahlreiche Autorinnen und Autoren stark an dem Text orientiert, wie sich anhand von offensichtlichen Intertextua‐ litäten aufzeigen lässt. Dabei greifen sie nicht nur auf das klassische Muster des Coming-of-Age-Romans zurück, sondern weisen in Handlungsstrukturen und Motiven deutliche Parallelen zu Tschick auf. Sie kombinieren daraus entlehnte Topoi häufig mit anderen Gattungsmustern. Einen starken intertextuellen Bezug zu Tschick weist André Kubiczeks Skizze eines Sommers auf. Wie bei Herrndorf muss der Protagonist die Sommerferien allein zu Hause bleiben, die Mutter ist tot, der Vater verreist. Er nutzt dies ebenfalls für eine Reise und evoziert das Gefühl jugendlicher Freiheit. Kubiczek verlegt die Handlung in die DDR des Jahres 1985. Das Freiheits- und Reise- Motiv gewinnt unter dieser Prämisse eine spezielle Konnotation. Der Roman stellt daher eine Verknüpfung zu dem Romanmuster der Erinnerungsliteratur an die DDR her. Deutliche Referenzen zu Tschick zeigen sich auch in Natalie Buchholz’ Der rote Swimmingpool (2018). Schon der Titel verweist auf den in Tschick markant und symbolisch erscheinenden Pool. Auch hier wird das Leben des jugendlichen Protagonisten aus seiner Perspektive erzählt, die Ehekrise der Eltern wird zur Störerfahrung, er erlebt einen Sommer des Aufbruchs, lernt die erste Liebe kennen, der Protagonist macht sich strafbar und muss sich vor dem Jugendgericht verantworten. Der Roman arbeitet anders als Tschick mit Auflösungsmustern, am Anfang steht vorausdeutend das Gerichtsurteil, die Störerfahrung ist durch eine Lebenslüge der Eltern bedingt. Mercedes Lauenstein stellt in Blanca (2018) ein Mädchen ins Zentrum, damit variiert sie den als Jungsroman charakterisierbaren Tschick. Auffällig ist bei diesem Buch, dass das Landstraßenmotiv auf dem Cover eine signifikante Ähnlichkeit zu dem von Tschick aufweist. Die Ankündigung des Romans als „Roadtrip ihres Lebens“ im Klappentext ist ebenso eine Referenz zu Tschick. Auch bei Blanca bildet eine Störung im Eltern-Kind-Verhältnis den Ausgangs‐ punkt. Doch ist es hier umgekehrt wie bei Tschick und den bisher erwähnten Romanen. Die Heldin bricht nicht aus einer bürgerlichen Fassade aus, sondern möchte das unstete Wanderleben ihrer Mutter verlassen und einen stabilen Halt in einer Familie finden. Sie macht sich deshalb auf den Weg nach Italien, um einen ehemaligen Freund ihrer Mutter und dessen Sohn aufzusuchen, die sie sich immer als gemeinsame Familie gewünscht hat. 242 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 411 Carsten Otte: Immer Ärger mit Mama. In: Der Tagesspiegel 12. Juni 2018 (https: / / w ww.tagesspiegel.de/ kultur/ blanca-von-mercedes-lauenstein-immer-aerger-mit-mama/ 22667168.html [zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023]). Lauenstein wagt sich an den spätestens seit Wolfgang Herrndorf „Tschick“ auch hierzulande wieder beliebten literarischen Roadtrip heran. Es ist ein Risiko, mit dieser Form zu spielen, die weniger Freiräume bietet, als die Aufbruchsthematik vermuten lässt. Denn jede Neuauflage muss sich mit berühmten Vorlagen wie Kerouacs „Unter‐ wegs“ oder Salingers „Fänger im Roggen“ messen lassen. 411 Indem sie den paradigmatisch-normativen Charakter der Schlüsseltexte von Salinger und Kerouac im Kontext mit Herrndorfs Roman formuliert, verweist die Rezension indirekt darauf, dass Tschick mittlerweile in der deutschen Gegenwartsliteratur eine ebensolche Bedeutung hat. Der 2021 erschienene, auf große Resonanz gestoßene Debüt-Roman der Autorin Lisa Krusche Unsere anarchistischen Herzen weist einige Reminiszenzen zu Tschick auf. Der Text schildert aus doppelter Ich-Perspektive der Hauptfi‐ guren die Entstehung der Freundschaft zweier sehr ungleicher Teenagerinnen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie beide Außenseiterinnen und die Elternhäuser, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, problematisch sind. Eine auffallende Ähnlichkeit zu Tschick besteht darin, dass der Text sehr signifikant Naturmotive aufgreift. Am Schluss des Romans wird die Referenz offensichtlich, wenn die beiden auf illegale Weise ein Auto organisieren, um der Tristesse der Elternhäuser und dem provinziellen Hildesheim für einen längeren Trip nach Berlin zu entfliehen. VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel VII.2.1 Paradigma Fotografie Paradigma Fotografie ist der Titel des ersten Teils eines zweibändigen Sammel‐ werkes über die „Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters“. Die Beiträge sind im Wesentlichen durch zwei übergeordnete Aspekte gekennzeichnet. Zum einen verorten und verhandeln sie die Fotografie in den wirkmächtigen sozio‐ logischen, philosophischen und ästhetischen Diskursen der Gegenwart, zum anderen thematisieren sie die Konsequenzen der technischen Entwicklung im Übergang von der analogen zur digitalen Fotografie. Der Topos vom „Ende des fotografischen Zeitalters“ mag angesichts der sog. Bilderflut unserer Gegenwart VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 243 412 Herta Wolf: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Band-1. Frankfurt am Main 2002, S.-7-19, hier S.-17. irritieren, wird jedoch evident, wenn man das von der Herausgeberin Herta Wolf dargelegte Verständnis der Fotografie als Leitmedium respektive Paradigma der Sichtbarmachung von Welt in einer bestimmten Epoche heranzieht: Als Karl Pawek 1963 das Schlagwort vom optischen, durch die chemotechnische Bildgenerierung bestimmten Zeitalter zu einem Buchtitel machte, ging dieses durch das Leitmedium Fotografie geprägte Zeitalter allerdings längst seinem Ende zu. War es in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts das Fernsehen, dem seine Rolle überantwortet worden war, übernahmen im ausgehenden 20. Jahrhundert digitale Bildmedien beziehungsweise Bildgenerierungstechniken wiederum dessen Funktion. 412 Auch wenn das Vorwort von Wolf primär auf ein Erklärungsmodell für die fotografischen Diskurse fokussiert ist, ist es im Hinblick auf die Vielfältigkeit des Paradigmenbegriffs instruktiv, da einige von dessen verschiedenen semanti‐ schen Komponenten, die im Diskurs zu Missverständnissen führen, am Beispiel der Markierung der Fotografie als Paradigma knapp und typologisch fassbar dargelegt werden können. Neben der oben skizzierten Bedeutung umreißt Wolf drei weitere Elemente ihres Verständnisses des „Paradigma[s] Fotografie“, welche unterschiedliche Perspektiven repräsentieren, sich aber nicht gegenseitig ausschließen. Indem Fotografie in Wendungen wie „fotografisches Gedächtnis“ zu einer absoluten Metapher im Sinne von Hans Blumenbergs Begriffsbildung wird, wird sie zu einem Leitbild der Darstellung seelischer Vorgänge. Paradigmatischen Cha‐ rakter gewann die Fotografie auch in ihrer Bedeutung als Archiv, sie gilt als Abbildung bzw. Simulacrum der Realität und spielt in dieser Funktion eine Schlüsselrolle in der Geschichtswissenschaft, im Journalismus oder auch als Beweismittel in der Justiz. Diese Rolle wurde in den Diskursen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend hinterfragt. Besonders von Interesse für die im Folgenden diskutierte Frage ist eine Bedeutungszuschreibung, die sich sinngemäß an das von Thomas S. Kuhn postulierte Konzept des Paradigmas anlehnt. Bestimmte Texte über die Fotografie werden zu Leittexten für ihr Verständnis in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft. Wolf thematisiert in ihrem Vorwort das Verhältnis von Fotografie und Literatur nicht, auch die Beiträge des zweibändigen Sammelwerks gehen darauf nicht im Detail ein. Die Gedanken und Thesen des Buches verweisen jedoch auf allgemeine Charakterzüge der Fotografie, deren Implikationen auch auf das literarische Feld übertragbar sind. Das Kapitel möchte in einem Problemaufriss 244 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart mögliche Anknüpfungspunkte skizzieren und diese anhand einiger Texte ver‐ anschaulichen. Vor dem Hintergrund der von Wolf postulierten Entwicklung stellt sich zugespitzt die Frage, wie der Fotodiskurs in der Literatur von den 1960er Jahren bis heute von diesem Prozess affiziert wurde. In der gegenwärtigen Literatur‐ wissenschaft nimmt die Beziehung des geschriebenen Wortes zur Fotografie wie zu anderen Bildmedien zunehmend eine exponierte Rolle ein. Zahlreiche, auch kontroverse Thesen und Diskurse stehen im Raum, die illustrieren, wie vielschichtig das Verhältnis in seinen Relationen sein kann. Eine Systematisie‐ rung dieser Beziehung ist angesichts der zunehmenden Menge und Diversität an Text-Bild-Projekten kaum möglich. Es eröffnet jedoch Perspektiven, am Beispiel einiger für bestimmte Paradigmen der Gegenwartsliteratur charakteristischer Texte, die bestimmte Stilrichtungen und Autorentypen prägnant repräsentieren, charakteristische Züge von Bild-Text-Relationen typologisch zu fassen, um Kopplungen literarischer Paradigmenwechsel mit der Bedeutung der Fotografie in der Literatur in den letzten fünfzig Jahren herauszustellen. Ein Foto kann einen Text illustrieren, um einen visuellen Aspekt ergänzen, es kann in die Diegese integriert werden und so eine Referenz zur Wirklichkeit evozieren. Im Wesentlichen gibt es zwei Herangehensweisen, die um die Grundfrage kreisen, was der Ausgangspunkt ist: Ist das Bild eine Ergänzung zum Text, oder ist der Text auf Basis des Bildes entstanden? In bestimmten Fällen kann es hier zu einem reziproken Verhältnis im Rahmen der Produktion kommen. Vor dem Hintergrund der Ideen der Postmoderne können diese Faktoren auch spielerisch behandelt und bestimmte Stereotype und Annahmen dekonstruiert werden, z. B. die Vorstellung vom Foto als getreuer Abbildung der Realität. Hier sollte man grundsätzlich differenzieren zwischen dem ‚objektiven‘ Foto und bewussten Verfremdungen wie der Collage oder der nachträglichen Bearbeitung. Doch jedes Foto ist als temporärer und räumlicher Ausschnitt einer Realität zu begreifen und impliziert bereits eine Auswahl. Pierre Bourdieu beschäftigt sich grundlegend mit dem sozialen Gebrauch der Fotografie. In seiner Deutung finden sich Analogien zum Verständnis eines Paradigmas. Bourdieu formuliert die Frage nach der „gesellschaftliche[n] Definition der Photographie“. Zunächst stellt er heraus, dass das verbreitete Paradigma von der Fotografie als Archiv, getreuer Abbildung der Realität, nicht haltbar ist: So hat man sich beispielsweise darauf geeinigt, die Photographie als ein Modell der Wahrhaftigkeit und Objektivität zu beschreiben. In der Encyclopédie française lesen wir dazu: „Jedes Kunstwerk ist ein Spiegel der Persönlichkeit seines Urhebers. Die photographische Platte dagegen stellt keine Interpretation dar. Sie zeichnet VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 245 413 Pierre Bourdieu: Die gesellschaftliche Definition der Photographie. In: ders. [u. a.]: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt a. M. 1983, S.-85-109, hier S.-85. 414 Ebd., S.-88. etwas auf. Ihre Genauigkeit und Wirklichkeitstreue stehen außer Zweifel.“ Es läßt sich nun unschwer zeigen, daß diese gesellschaftliche Vorstellung einer falschen Selbstverständlichkeit aufsitzt. In Wirklichkeit hält die Photographie einen Aspekt der Realität fest, […]. 413 Im Hinblick auf das Paradigma der Fotografie im Sinne der Frage dieses Kapitels, lassen sich seine Äußerungen so interpretieren, dass aus einem temporär verbreiteten übergeordneten Paradigma der ‚Weltdeutung‘ das Verständnis der Fotografie abgeleitet wird: Weit davon entfernt, mit den Möglichkeiten zu spielen, die die Photographie bietet, um die herkömmliche Ordnung des Sichtbaren umzustoßen, die, weil sie die gesamte Tradition der Malerei und also die gesamte Wahrnehmung der Welt beherrscht, sich paradoxerweise schließlich mit allen äußeren Anzeichen des Natürlichen durchge‐ setzt hat, unterwirft die gängige Praxis die photographische Wahl den Kategorien und Regeln der traditionellen Weltdeutung. Deshalb überrascht es nicht, daß die Photographie mit dieser Weltdeutung übereinstimmt, d. h. daß sie objektiv erscheint. Anders ausgedrückt: Nur weil der gesellschaftliche Gebrauch der Photographie aus der Fülle ihrer möglichen Gebrauchsweisen nach den Kategorien, die die übliche Wahrnehmung der Welt organisieren, gezielt auswählt, kann das photographische Bildnis für die genaue und objektive Wiedergabe der Wirklichkeit gehalten werden. 414 Diese Passage verdeutlicht eine strukturelle Ähnlichkeit Bourdieus zu den Posi‐ tionen, die Ludwik Fleck und Thomas S. Kuhn für die Wissenschaft formulieren. Das Verständnis der Fotografie ist an einen Denkstil bzw. Paradigma gebunden. Diese unterliegen einem Wandel. Bourdieus Ausführungen sind signifikant für einen fundamentalen Paradigmenwechsel. Seine Gedanken gehen einher mit der im Diskurs zunehmend gestellten Frage der Subjektivität von Wirklichkeits‐ wahrnehmung; hierin sind Parallelen vor allem zu Fleck zu erkennen. Dieser stellt grundsätzlich die Eindeutigkeit einer wissenschaftlichen Tatsache infrage, schon die Wahrnehmung sei subjektiv, sodass es eine vollkommene Objektivität nicht geben kann. In diesem Kontext ist bemerkenswert, dass die Fotografie eine technisch reproduzierte Wirklichkeit zweiter Hand ist. Ist schon die bloße, sinnlich primäre Wahrnehmung mit einer subjektiven Unschärfe behaftet, so ist dies 246 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 415 Kenah Cusanit: Babel. München 2019 (E-Book), S.-30. bei der Fotografie eine doppelte. Zum Filter der Wahrnehmung des Betrachters kommt der Filter des Fotografen. Die Annahme der Fotografie als Medium der Objektivität ist nicht haltbar. Es ist evident, dass der Moment der Abbildung nicht ein Ganzes abbilden kann. Kenah Cusanit formuliert dieses Moment in ihrem Roman Babel, wenn sie ihren Romanhelden denken lässt, dass „das Photo […] ja lediglich eine Reproduktion einer Repräsentation sei.“ 415 Dennoch kann die Fotografie in dieser Hinsicht eine negative Dialektik generieren: Auf der technischen Ebene ermöglicht sie eine Reproduktion von Wirklichkeit und evoziert eine gewisse Objektivität, etwa im Gegensatz zum gemalten Bild. Die Digitalfotografie sowohl in der Erleichterung der Erstellung als auch der Erhöhung der Bildqualität verheißt eine Erweiterung der Möglichkeiten der Objektivität und steigert den Glauben an die Fotografie als Medium der Wirklichkeit. Doch durch den Fortschritt haben sich zugleich die Bedingungen der Fälschung und Täuschung verbessert, sodass der Grad der Objektivität im Ganzen noch niedriger ist. Die vorgebliche Echtheit des Fotos dient häufig als Mittel der Inszenierung und elektronische Werkzeuge wie Retusche werden bewusst realitätssimulierend eingesetzt. Aus dieser Perspektive erscheint es von Interesse, ob dieser skizzierte Wandel sich auf die Rolle und Funktion von Fotografie in der Literatur ausgewirkt hat. Da Texte mit einer Referenz zur Fotografie aus den Jahren von 1960 bis heute im Diskurs dieses Wandels entstanden, ist es relevant, wie sich dessen Implikationen auf die Literatur niedergeschlagen haben. Was den Objektivitäts‐ status angeht, kann man angesichts der skizzierten Dialektik von einer Krise der Fotografie sprechen. Es zeigt sich auch eine Entwicklung in ihrer Funktion und Rolle in der Literatur vor dem Hintergrund des sozialen und technischen Wandels der Zeit. Im Spannungsfeld vom Neorealismus der Nachkriegszeit, der Erinnerungsliteratur, experimenteller Literatur, 1968 bis hin zur Popliteratur und der Netzliteratur entsteht ein neues Paradigma der Intermedialität von Literatur und Fotografie, das zentrale tradierte Topoi auflöst und in Frage stellt, zugleich aber die Fotografie auch durch ihre neuen Möglichkeiten der Vervielfältigung und Verbreitung in neue Kontexte des Verhältnisses Text- Bild einordnet. Doch sind die Dimensionen dieser Entwicklung nur aus der tradierten Funktion der Fotografie für die Literatur seit ihrer Erfindung fassbar. VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 247 416 Vgl. Sabina Becker: Literatur im Jahrhundert des Auges. Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter. München 2010, S.-279. VII.2.2 Das Foto in der Literatur als heuristisches ‚Grenzobjekt‘ Im Hinblick auf die Literatur und ihre Entwicklung seit Erfindung der Foto‐ grafie besteht eine Wechselbeziehung. Das realistische und naturalistische Literaturparadigma haben den Objektivitätsstatus des damals neuen Mediums weitgehend übernommen, die Metapher von der ‚fotografischen Wiedergabe der Wirklichkeit‘ gilt für diese Stilrichtungen als programmatisch. Diese Hy‐ postasierung der Fotografie ist aus der Euphorie der Zeit nachvollziehbar, denn erstmals in der Menschheitsgeschichte gab es eine Technik, die eine realgetreue Abbildung von der sichtbaren Wirklichkeit ermöglichte. Sabina Becker stellt in ihrer Studie Literatur im Jahrhundert des Auges. Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter die auf einem Denkstil basierende Affinität zwischen der Stilrichtung des Realismus und der Fotografie umfassend dar. Realismus ist nicht mit Objektivität zu verwechseln, er weicht zwar vom romantischen Prinzip ab, doch zeigt er zum Teil eine Idealrealität. 416 Wir haben es mit einer Stilrichtung zu tun, die zwar eine potenziell mögliche Realität abbildet, diese jedoch überhöht. Während dem Foto in diesem Sinne in der Literatur weitgehend eine relativ klar umrissene Funktion als Medium der Abbildung von Realität zukam, wurde es seit der Moderne zunehmend Bestandteil des literarischen Experiments und damit Gegenstand literarischer Reflexionen. Betrachtet man die umfangreiche Literatur zum Thema „Foto und Literatur“ der letzten Jahre, so zeigt sich, dass der Fokus des überwiegenden Teils der Studien auf dem Komplex Fotografie als Erinnerungsmedium liegt. Ein gängiges Narrativ der deutschen Gegenwartsliteratur besteht darin, dass in eine Handlung eingeflochtene Erinnerungen mit Verweisen auf Fotos unter‐ legt werden und dabei eine Verknüpfung zwischen den Erzählperspektiven hergestellt wird. Zumeist versucht ein Protagonist in der Gegenwart, eine Vergangenheit zu rekonstruieren, und unterlegt seine Reflektionen mit (in der Fiktion geschilderten) Fotos. Dabei wird der Diskurs nach dem Grad der Objektivität von Fotografie oft exemplarisch verhandelt. Ein in der aktuellen Forschung zu Literatur und Fotografie häufig behandelter Gegenstand sind die Romane von W. G. Sebald. Dieser kompilierte seine Erinnerungsfiktion kunstvoll mit Fakten und Fotos, die er in die Diegese integrierte. Anne-Kathrin Hillenbach deutet im Zuge der Kopplungen des Paradigmenwandels zwischen Fotografie und Literatur einen dialektischen Prozess aus Progression und Regression auf mehreren Ebenen an: 248 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 417 Anne-Kathrin Hillenbach: Literatur und Fotografie. Analysen eines intermedialen Verhältnisses. Bielefeld 2012, S.-12f. 418 Zit. nach Sebastian Gießmann / Nadine Taha: „Study the unstudied“. Zur medienwis‐ senschaftlichen Aktualität von Susan Leigh Stars Denken. In: Susan Leigh Star: Grenz‐ objekte und Medienforschung. Hrsg. von Sebastian Gießmann / Nadine Taha. Bielefeld 2017, S.-13-77, hier S.-35. 419 Vgl. Susan Leigh Star: Dies ist kein Grenzobjekt. In: Star: Grenzobjekte und Medienfor‐ schung 2017, S.-213-228. Außerdem ist seit den 1980er Jahren eine Zunahme an literarisch-fotografischen Werken zu verzeichnen. Ein Grund für die vermehrte Integration von Fotografien in die Literatur ist ein erstarktes Interesse an der Erinnerungskultur. Die Fotografie gilt als ein Medium, welches der Vergangenheit und der Erinnerung besonders nahe steht und das deswegen einen gewissen Reiz auf die Gedächtnisliteratur ausübt. Diese Gedächtnisliteratur wurde in Deutschland in den 1990er Jahren unter anderem durch den Fall der Berliner Mauer und den bevorstehenden Tod der letzten Überlebenden des Holocaust populär. Auch die Etablierung der digitalen Fotografie, die die analoge Fotografie scheinbar zum Verschwinden bringt, könnte die literarischen Medien zu einer Auseinandersetzung mit dem „untergehenden Medium“ inspirieren. 417 Es zeigen sich in der deutschen Literatur seit den 1960er Jahren markant auch Tendenzen, die das Medium Fotografie nicht in ihrem Modus als Abbildung von Erinnerungsprosa, sondern in weiteren, sehr unterschiedlichen Modi ver‐ wenden. Die Fotografie in der Literatur ist an den Diskurs um Faktualität und Fiktionalität gekoppelt. Eine Möglichkeit, das Verhältnis der Fotografie zur Literatur heuristisch und idealtypisch zu erfassen, bietet eine Analogie zu dem von Susan Leigh Star entwickelten wissenssoziologischen Konzept des Grenzobjekts: „Boundary objects are objects which are both plastic enough to adapt to local needs and the constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites.“ 418 Leigh Star verwendet den Begriff in einem anderen, methodologisch enger gefassten medienwissenschaftlichen Kontext. 419 Doch ist m. E. hier der grundsätzliche Gedanke plausibel, dass die Fotografie von der Literatur in einer gewissen Weise wahrgenommen und interpretiert wird, aber dennoch eine eigene Identität aus sich selbst heraus hat. Im Diskurs fließen also die originäre Identität der Fotografie und ihr Wandel mit ein. Leigh Star exemplifiziert in ihrem Hauptwerk das Konzept an den Exponaten eines Naturkundemuseums, die jeweils etwa von einem Biologen, einem Chemiker oder einem Historiker in ganz unterschiedlicher Weise untersucht werden. Ein Foto zu einem Text oder umgekehrt lassen sich im übertragenen Sinne als ‚Grenzobjekte‘ verstehen, weil sie beispielsweise von einem Bildwissenschaftler VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 249 420 Thomas Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld 2007. völlig anders betrachtet werden als von einem Literaturwissenschaftler. Die Analogie dient hier zur plastischen Verdeutlichung der Differenzierung von Foto und Text als eigenständigen Medien, die in einem konkreten Werk zusam‐ menwirken und in einer Referenz stehen. Auf dieser Basis wird das Kapitel im Folgenden Aspekte des Verhältnisses Fo‐ tografie - Literatur am Beispiel von Büchern, die Fotos in ihren Text integrieren bzw. den fotografischen Diskurs explizit thematisieren, illustrieren. Es soll gezeigt werden, dass dieses Denkmodell einen heuristischen Referenzrahmen ermöglicht, das Verhältnis Foto-Text zu erfassen, weil sich aus ihm systemati‐ sierbare Parameter generieren lassen. Die ausgewählten Texte repräsentieren von den 1970er Jahren bis in die aktuelle Gegenwart wirkende Strömungen in der deutschen Literatur. Idealtypisch lässt sich hier ein Kontinuum mehrerer Paradigmenwechsel konstruieren, die untereinander verbunden und gekoppelt sind. Der Übergang von der Moderne zur Postmoderne prägt diesen Prozess auf einer Metaebene. Die grundlegende These der Postmoderne, dass es keine festen Wahrheiten gäbe und selbst die Wirklichkeit relativ sei, lässt sich anhand der Fotografie illustrieren. Dieser fundamentale Paradigmenwechsel des Denkens hat sich auf sie wie die Literatur gleichermaßen ausgewirkt, gelten doch beide als Medien der Wahrhaftigkeit bzw. Wirklichkeit. Der technische Wandlungsprozess der Fotografie ist immer noch nicht abgeschlossen. Da die unter dem Schlagwort „Digitalisierung“ subsumierten Veränderungen noch im aktuellen Diskurs prä‐ sent sind, wird eine historisierende Sicht auf diese Prozesse erst später möglich sein. Dennoch kann man aus der Entwicklung der letzten Jahre Elemente eines noch nicht völlig vollzogenen Paradigmenwechsels konstatieren. Am Beispiel der Texte, die innovative und traditionelle Formen beinhalten, lässt sich eine Annäherung an das Kontinuum aus Innovation, Bewahrung und grundsätzlich Konstantem entwickeln. Thomas Steinaecker hat seine umfassende Dissertation über literarische Foto- Texte Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und dem schon erwähnten W. G. Sebald gewidmet. 420 Diese Autoren gelten als paradigmatisch für die Schnittstelle Fotografie - Literatur in der deutschen Gegenwartsliteratur seit den 1960er Jahren. Bei allen dreien ist die Fotografie essenzieller Bestandteil ihres poetologischen Programms. Besonders Sebald avancierte damit zu einem Kultautor. In seinem rätselhaften Vexierspiel aus Realität, Fiktion und impliziter 250 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 421 Vgl. die ausführlichen Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte des Buches: Handke online. Österreichische Nationalbibliothek. Als das Wünschen noch geholfen hat. http s: / / handkeonline.onb.ac.at/ node/ 1351 (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). 422 Peter Handke: Als das Wünschen noch geholfen hat. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1978, S. 31. 423 Ebd., S.-31f. Selbststilisierung pointiert und dekonstruiert er die Realismusdiskurse der letzten Jahre. Meine Ausführungen gehen auf diese Autoren nicht speziell ein, nicht nur, weil sie bei Steinaecker und anderen eingehenden Studien erschöpfend betrachtet und gedeutet wurden. Indem bei den dreien die Fotografie zentraler Teil der Poetologie ist, haben sie ein Prinzip der Verschränkung von Literatur und Foto konzeptualisiert und systematisiert. Weil sich bei ihnen die Grenzen zwischen Text und Bild verwischen, eignen sie sich weniger zur typologischen Veranschaulichung der Idee des Grenzobjekts. In diesem Rahmen erscheinen mir kontingent ausgewählte Autoren und Texte ergiebiger, die Bild und Text differenter betrachten und die Fotos nicht poetologisch konzeptionell, sondern aus einem speziellen Anlass in ihr Werk integrieren. VII.2.3 Aspekte des Diskurses Fotografie und Literatur in exemplarischen Texten - Peter Handke: Die Reise nach La Défense (1974) Peter Handke veröffentlichte 1974 in seiner Schriftensammlung Als das Wün‐ schen noch geholfen hat erstmals die essayhafte Fotoerzählung Die Reise nach La Défense. Sie ergänzt den ebenfalls in dem Buch enthaltenen Text Die offenen Geheimnisse der Technokratie, der bereits 1973 schon einmal publiziert wurde. 421 Dieser Aufsatz zur Architektur thematisiert und kritisiert die Architektur im Märkischen Viertel in Berlin und in der Pariser Satellitenstadt La Défense. Eigens für die Buchausgabe hat er die Fotoerzählung über La Défense verfasst und direkt auf den Artikel folgend platziert. Handkes Aufsatz stellt eine vehemente Kritik an der zeitgenössischen Archi‐ tektur dar, „der Übermacht der verbauten Natur“, 422 „menschenverdrängenden Anblicken“. 423 Die nachträglich hinzugefügte Fotoerzählung visualisiert das Gesagte, zugleich unterstreicht sie es, betont aber, dass es sich um die subjektive Sicht des Autors handelt. Insofern hat Handke hier die Ambivalenz der Foto‐ grafie zwischen Objektivität und Subjektivität in dieser knappen Abhandlung pointiert. Einerseits geben die Bilder tatsächlich das Gezeigte wieder, anderer‐ seits bildet Handke bewusst einen Ausschnitt ab, einen Aspekt, der seine Thesen VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 251 424 Ebd., S.-47. unterstreicht. Er fotografiert bei Nebel und Menschenleere, worauf er explizit verweist. Im Text ist von vielen Menschen die Rede, die allerdings immer nur, wenn irgendwo Büroschluss ist, in Mengen erscheinen. Die Fotos zeigen mit einer Ausnahme keine Person. Die Öde kommt im Nebel - „Natürlich ist es ein grauer Tag.“ 424 - und der menschenleeren Landschaft eindringlicher zum Ausdruck: Bildzitat: Handke: Als das Wünschen noch geholfen hat 1978, S.-48f. Handke gibt deutlich zu verstehen, dass er die Fotos so gemacht hat, dass sie seinen subjektiven Eindruck akzentuieren. Dies korrespondiert mit seiner Grundkonzeption, die er im Titel seines Gedichtbandes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt ausgedrückt sieht: „Dieses Buch [Als das Wünschen noch geholfen hat] könnte man lesen als eine neue Erforschung der ‚Innenwelt 252 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 425 Ebd., S.-2. 426 Ebd., S.-37. 427 Ebd., S.-35. der Außenwelt der Innenwelt‘, Jahre später.“ 425 Die Fotos bilden hier eine Schnittstelle, das Grenzobjekt zwischen Innenwelt und Außenwelt. Sie sind als subjektive Momentaufnahmen zu verstehen, keine objektive Wiedergabe, sondern die Visualisierung der Empfindung des Betrachters. Für Handke steht diese Architektur für eine zunehmende Technokratie, die dem Individuum die Lebensqualität raubt. La Défense müßte eigentlich Sperrzone sein - weil da die Geheimnisse der techno‐ kratischen Welt sich ganz unverschämt verraten. Ein Stacheldraht gehört ringsherum und Schilder „Fotografieren verboten“. Aber die verantwortlichen Unmenschen in ihren menschenwürdigen Umgebungen sind sich schon zu sicher. 426 Handkes Texte stehen programmatisch für eine Innerlichkeit und Subjektivität. Dennoch verstehen sie sich nicht als Eskapismus, vielmehr tritt der Autor für ein Konzept ein, das die Individualität als sozialen Faktor berücksichtigt und einen Ausgleich einfordert zwischen Mensch und Kollektiv. Die Kritik an den Wohnvierteln ist gewiss auch eine Absage an sozialistische Ideen, an Massenkonsum, an die Versprechungen des Fortschritts: Ja, das ist jetzt vollständig, dachte ich. Es war wie das Gelobte Land, aber nicht in dem Sinn des Paradieses, sondern in dem Sinn, daß sich der Zustand der Welt endlich unverstellt und unverlogen zeigte. 427 - Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall (1986) Auch wenn Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall keine Abbildungen enthält, setzt der Autor sich in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten und umfangreichsten Roman dezidiert mit dem Paradigma der Fotografie als Widerspiegelung der Wirklichkeit auseinander. Der in Rom lebende Protagonist Murau, der Ich-Erzähler, erfährt durch ein Telegramm seiner beiden Schwestern vom Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders in der österreichischen Heimat. Daraufhin sucht er drei von ihm gemachte Fotos heraus, die jeweils seine Eltern, seinen Bruder und seine Schwestern zeigen. Diese werden zum Ausgangspunkt und wiederkehrenden Referenzgegen‐ stand für Muraus Reflexionen im ersten Teil des Romans, der die Hälfte des Texts ausmacht. Er denkt nach über die Lebenssituationen, in denen die Bilder entstanden sind, die Charaktereigenschaften der Dargestellten, sein persönliches Verhältnis zu ihnen wie zur gesamten Familie und seiner VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 253 428 Thomas Bernhard: Auslöschung. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1986, S.-612. 429 Ebd., S.-26f. 430 Ebd., S.-612. Heimat Österreich. Gemäß der Maxime Muraus - „Das Geheimnis des großen Kunstwerks ist die Übertreibung“ 428 - greift der Text den fotografischen Diskurs und seinen Dualismus zwischen realer Darstellung und subjektiver Deutung zugespitzt auf: Die Fotografie zeigt nur den grotesken und den komischen Augenblick, dachte ich, sie zeigt nicht den Menschen, wie er alles in allem zeitlebens gewesen ist, die Fotografie ist eine heimtückische perverse Fälschung, jede Fotografie, gleich von wem sie fotografiert ist, gleich wen sie darstellt, sie ist eine absolute Verletzung der Menschen‐ würde, eine ungeheuerliche Naturverfälschung, eine gemeine Unmenschlichkeit. Andererseits empfand ich die beiden Fotos als geradezu ungeheuer charakteristisch für die darauf Festgehaltenen, für meine Eltern genauso wie für meinen Bruder. Ich hätte auch andere Fotografien meiner Eltern und meines Bruders aus Wolfsegg mitnehmen und mir behalten können, ich habe diese mitgenommen und behalten, weil sie die Eltern wie meinen Bruder genauso wiedergeben in dem Augenblick, in welchem diese Fotos von mir gemacht worden sind, wie meine Eltern wirklich sind, wie mein Bruder wirklich ist. […] Hier habe ich keine idealisierten Eltern, sagte ich mir, hier habe ich meine Eltern, wie sie sind, wie sie waren, verbesserte ich mich. Hier habe ich meinen Bruder, wie er gewesen ist. Sie waren alle drei so scheu, so gemein, so komisch. Ich hätte ja, dachte ich, keine Verfälschung meiner Eltern und meines Bruders in meinem Schreibtisch geduldet. Nur das absolut Authentische, und ist es noch so grotesk, möglicherweise widerwärtig. 429 Bernhards Roman beleuchtet das Verhältnis von Fotografie und Literatur. Zugleich fokussiert der Autor auf die Frage nach der Authentizität von Lite‐ ratur, indem er die Beschreibung und Deutung der Fotos zur Grundlage der Betrachtungen des homodiegetischen Erzählers macht. Die Gedanken über die Fotografie dienen als Matrix, ein verbreitetes Paradigma von der Literatur als Medium der Wirklichkeitsdarstellung subtil zu hinterfragen. Der Autor Bern‐ hard literarisiert hier den fotografischen Diskurs als Folie, um sein poetisches Prinzip - nicht ohne Selbstironie - zu illustrieren. An diesem Gegenstand wird offensichtlich, dass es sich bei den für seine Werke charakteristischen polemischen Tiraden nicht um einseitige Beschimpfungen handelt, sondern um eine, wie in Auslöschung von Murau erklärt, „Übertreibungskunst, die Existenz auszuhalten“. 430 254 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 431 Ebd., S. 645f. Kursivierung im Original. Interessant im Hinblick auf die zitierte Passage ist ein Zeitungsartikel des jungen Thomas Bernhard, der einen Filmabend an der Salz‐ burger Volkshochschule mit Filmen über Watteau, Rousseau und Manet rezensiert: Von Watteau zum Photographen. In: Thomas Bernhard: Werke 22. Journalistisches, Reden, Interviews. Teilband 1. Hrsg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mitter‐ mayer. Berlin 2015, S. 166 (Original: Demokratisches Volksblatt, Salzburg, 2.6.1953): „Manet am Ende kam ‚etwas zu spät‘. Wir haben es mit einem ‚photographischen Maler‘ zu tun, der allen Ehrgeiz darein setzte, alles so zu arbeiten, daß es dem Photo gleicht. Man weiß oft nicht, stand ein Kameramann hinter dem pulsierenden Paris oder vielleicht doch ein Maler? “ 432 Zum ambivalenten Verhältnis von Bernhard zu Fotografie und Film vgl. einen Beitrag vom ORF Ö1 Mittagsjournal: Ablehnung und Inszenierung. Thomas Bernhard und die Fotografie (https: / / oe1.orf.at/ artikel/ 268755/ Ablehnung-und-Inszenierung [zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023]). Vgl. auch den Bildband: Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß. Hrsg. von Martin Huber / Manfred Mittermayer / Peter Karlhuber. Frankfurt am Main 2002. Die zahlreichen Fotos aus verschiedenen Lebens‐ phasen erwecken den Eindruck, dass Bernhard sich gerne fotografieren ließ. Mit der Erfindung der Fotografie, also mit dem Einsetzen dieses Verdummungsproz‐ esses vor weit über hundert Jahren, geht es mit dem Geisteszustand der Weltbevöl‐ kerung fortwährend bergab. Die fotografischen Bilder, habe ich zu Gambetti gesagt, haben diesen weltweiten Verdummungsprozeß in Gang gebracht und er hat diese tatsächlich für die Menschheit tödliche Geschwindigkeit in dem Augenblick erreicht, in welchem diese fotografischen Bilder beweglich geworden sind. Stumpfsinnig betrachtet die Menschheit heute und seit Jahrzehnten nichts anderes mehr, als diese tödlichen fotografischen Bilder und ist wie gelähmt davon. An der Jahrtausendwende wird dieser Menschheit Denken gar nicht mehr möglich sein, Gambetti und der Verdummungsprozeß, der durch die Fotografie in Gang gebracht und durch die beweglichen Bilder zu weltweiter Gewohnheit geworden ist, auf dem Höhepunkt sein. […] Insofern ist es nur logisch, Gambetti, daß sich an der Jahrtausendwende diejenigen, die aus dem Denken und durch das Denken existieren, umgebracht haben. 431 Diese Ausführungen sind vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass Thomas Bernhard als Person die gescholtenen Medien für seine Zwecke öffentlichkeits‐ wirksam nutzte. Es existieren zahlreiche Fotos und Filmbeiträge, die bezeugen, wie er sich geschickt und sichtlich genussvoll in Szene zu setzen wusste. 432 - Wilhelm Genazino: Aus der Ferne. Texte und Postkarten (1993) Es charakterisiert die Texte von Wilhelm Genazino, dass sie eine subjektive Perspektive einnehmen, aber gleichzeitig eine realitätsnahe Darstellung der allgemeinen Alltagswirklichkeit evozieren wollen. Seine Romane sind immer stark auf die jeweilige Hauptperson fokussiert und bilden in Reflexionen und VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 255 433 Wilhelm Genazino: Aus der Ferne. Texte und Postkarten. Reinbek bei Hamburg 1993, S.-32. 434 Ebd., S.-52. Beobachtungen deren Wahrnehmungen ab. Neben seinen Erzählungen und Romanen hat er einige Bücher verfasst, in denen er Texte zu abgebildeten alten Postkarten entwirft; einer davon ist Aus der Ferne. Texte und Postkarten (1993). Für den Autor Genazino waren diese Fotos Reflexionsräume, anhand derer er die Subjektivität des Blicks noch einmal unterstrich und zugleich sein literarisches Credo zum Ausdruck brachte. In dem Band stellt er ein umgekehrtes Prinzip zur Fotoerzählung vor. Die Bilder referieren nicht genuin auf eine Erzählung, sondern die Texte illustrieren die vorgefundenen Bilder. Die Ausführungen sind expositorisch und reflektieren über das jeweilige Foto, sie entwickeln in der Deutung aber auch Ansätze literarischer Narrative aus den Bildern. Genazino thematisiert explizit das, was man nicht sieht, und betritt so den Raum der Fiktion. Eine Postkarte mit einem Foto von Robert Doisneau, welches ein Kind zeigt, wird so beschrieben: Rechts sehen wir - ja, was eigentlich: Eine heruntergekommene Fabrik? […] Wird das Kind, wenn es erwachsen geworden ist, aufbegehren […] Die Postkarte ist ein Beweis dafür, daß ein Kunst-Foto, bevor es „gemacht“ wird, von seinem Fotografen als Bild erkannt worden sein muß. Nur dann hat es die Kraft, Betrachter auf eine ihm eigene Weise in sich hineinzuziehen und Ideen hervorzubringen. Oder, anders gesagt: Große Kunst liefert dem Interpreten immer auch ein paar Einfälle, die dieser trotzdem, sogar mit gutem Grund, für seine eigenen halten darf. 433 Die Texte zeigen, wie sich das Foto als Resonanzraum zur Veranschaulichung von Genazinos poetologischem Verständnis eignet: Einerseits stellt es eine objektive Wiedergabe dar, andererseits spielen zahlreiche subjektive Faktoren eine Rolle. Ich will nur mit einer anregenden Postkarte darauf hinweisen, daß unsere Einbil‐ dungskraft mit Undeutlichkeit immer mehr anzufangen weiß als mit Deutlichkeit. Die fertige Totalität eines Bildes entmutigt uns, während das Detail, der Ausschnitt, die eigenen Kräfte anstachelt. Genauigkeit können wir zur Kenntnis nehmen, aber Ungenauigkeit weckt unsere Phantasie. 434 Genazinos Buch enthält auch Überlegungen, die sich mit der Entwicklung der Fotografie generell beschäftigen. Am Beispiel einer Karte aus der Zeit um 1900, die zwei Kinder und einen älteren Mann vor einem Haus in einer ländlichen Gegend zeigt, macht er sich Gedanken über Postkartenfotos im Allgemeinen. Heute würde ein solches Motiv niemals auf eine Postkarte gelangen, da es 256 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 435 Ebd., S.-60. 436 Rainald Goetz: Celebration. 90s, Nacht, Pop. Texte und Bilder zur Nacht. Frankfurt a. M. 1999, S.-4. in keiner Weise inszeniert ist: „Dagegen wirkt die einstmalige Unbesorgtheit des Fotografen heute kühn. Der Fotograf hat etwas schwer Faßbares mit abgebildet, was sich erst heute zeigen kann: eine für niemand hergerichtete Welt.“ 435 - Rainald Goetz: Celebration. 90s, Nacht, Pop. Texte und Bilder zur Nacht (1999); Andreas Neumeister / Marcel Hartges (Hrsg.): Poetry! Slam! . Texte der Pop-Fraktion (1996) Die sogenannte Pop-Literatur greift häufig auf Bild-Text-Kombinationen zu‐ rück. Die Funktion des Fotos ist hier eine in wesentlichen Punkten andere als bei den Erinnerungsmedien. Das Foto repräsentiert primär Gegenwart und soll Ausdruck von Stimmungen sein. Typisch für die Stilrichtung sind integrierte Fotos, auf denen Autorinnen und Autoren posieren. Diese dürfen in ihrer Inszenierung als Teil des Gesamtkonzepts und nicht als reine Beigabe gedeutet werden. Die Bildhaftigkeit der Pop-Literatur wurde durch die neuen techni‐ schen Möglichkeiten des Fotografierens und die vereinfachte drucktechnische Vervielfältigung maßgeblich begünstigt. Einer der Protagonisten der Pop-Literatur ist Rainald Goetz, der mehrere Text-Foto-Bücher veröffentlicht hat. In einem größeren Projekt schreibt er an einer „Geschichte der Gegenwart“, die aus lose zusammenhängenden Er‐ zählungen, Aufzeichnungen und Stücken besteht. Der 1999 erschienene Band Celebration beschäftigt sich im Wesentlichen mit Goetz’ Affinität zum Techno. Zentraler Bestandteil des Buches sind Gespräche mit Protagonisten der Szene, Künstlern und DJs wie Sven Väth und Westbam. Goetz fasst sein Konzept in einem kurzen Paratext zusammen: Ich schrieb an der Nachtleben-Erzählung Rave und an dem Kunst-Theaterstück Jeff Koons. Jede Ablenkung war mir willkommen. Immer auf der Suche nach Formen des Schreibens, näher dran am Leben, als die Schrift von sich aus, freiwillig, automatisch sein möchte. Auch auf der Suche nach einem Buch, das man eigentlich nicht mehr lesen muß. Das einfach so rumliegt, in dem man ein bißchen blättert, das einen angenehm anweht, fertig. 436 Eine knappe Vorstellung des Buches auf einer Website fasst die Konzeption zusammen: VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 257 437 Medien Kunst Netz. Rainald Goetz: Celebration. Bilder und Texte zur Nacht. http: / / www.medienkunstnetz.de/ werke/ celebration-bilder-texte-zur-nacht/ (zuletzt abge‐ rufen am 12. Juli 2023). Für Rainald Götz [sic! ] beschreibt der Snapshot, die Momentaufnahme - nicht zuletzt in Anlehnung an Rolf Dieter Brinkmann - das Prinzip eines literarischen Prozesses, der auf die Produktion bzw. Konstruktion von Präsenz ausgerichtet ist. Erinnerung und Vergangenheit, Attribute, die ebenfalls mit der Fotografie verknüpft sind, werden zugunsten des Ereignisses Gegenwart, des ‚Jetzt‘ zurückgewiesen. Götz Fotografien zeigen Bekannte, Freunde und Partysituationen, hin und wieder das eigene Arbeitszimmer; es handelt sich um Knipsbilder, die genau das sein sollen: Nicht den gelungenen oder schönen Moment, sondern jeden gilt es innerhalb des Projekts „Geschichte der Gegenwart“ (Götz) zu protokollieren und inventari‐ sieren. 437 Die zahlreichen Bilder, hauptsächlich Fotos, in dem Band unterstreichen diese Konzeption, sie regen zum Durchblättern an, sind nicht konkret auf einzelne Textstellen fixiert, stehen jedoch immer im Bezug zum Text als Ganzem. Die Fixierung auf die Gegenwart ist aber nur scheinbar, denn die Erinnerung spielt auf einer zweiten Ebene eine hervorgehobene Rolle, was gerade durch die Fotos akzentuiert wird. Goetz entwirft eine Chronik der 1990er Jahre, die für die Zukunft als Medium des Gedächtnisses und Rückblicks auf diese Zeit dienen soll. Bemerkenswert erscheint das Zusammenwirken von Texttempo und -stil mit den Bildern, es ergibt sich eine signifikante Kopplung. Goetz will die Stimmung der Zeit, die Geschwindigkeit, den Rausch sinnlich fassbar wiedergeben. Das erste Kapitel z. B. thematisiert eine Japan-Tournee von Sven Väth mit Goetz als Begleiter. Der Text besteht im Wesentlichen aus einem Gespräch zwischen den beiden, die Bilder zeigen zahlreiche Fotos von ihnen und japanischen Fans. Die Illustrationen evozieren die Atmosphäre der Tournee und sollen sich so in Goetz’ Gesamtkonzeption einfügen, das Lebensgefühl der 1990er Jahre, der Techno-Szene, einer Generation fassen. 258 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart Bildzitat: Goetz: Celebration 1999, S.-42f. Die dargelegte Rolle der Produktion von Präsenz unterliegt rezeptionsästhetisch einer Ambiguität. Zunächst ist jedes Foto auf Gegenwart ausgerichtet, zum Erinnerungsmedium wird es erst aus der zeitlichen Distanz. Wenn Goetz andeutet, als Chronist der 1990er Jahre zu fungieren - später hat er ein analoges Buchprojekt über die Nullerjahre veröffentlicht - wird sein Buch aus heutiger Perspektive zu einem Dokument der Erinnerung und ruft bei späteren Leserinnen und Lesern einen Erinnerungseffekt und nostalgische Gefühle für diese Zeit mit hervor. Doch diese Bilder deuten eine weitere, ebenfalls dialektische Funktion des Fotos an, die in der Pop-Literatur eine zentrale Rolle einnimmt. Die Evokation eines kollektiven Lebensgefühls geht einher mit der Betonung von Individua‐ lität, Hedonismus, Äußerlichkeiten und einem ausgeprägten Bedürfnis nach Wirkung auf den Betrachter. Die Bilder sind auch ein eindrucksvolles Zeugnis einer zunehmenden Verwendung der Fotografie als eines auf Darstellung und Inszenierung zielenden Mediums, so etwa das Posieren mit Bierdose. Die Auf‐ nahmen kennzeichnet eine Ambiguität aus Schnappschuss und Inszenierung. VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 259 438 Andreas Neumeister / Marcel Hartges (Hrsg.): Poetry! Slam! Texte der Pop-Fraktion. Reinbek bei Hamburg 1996. Sie sind insofern dekonstruierbar, weil in der Evokation des Knipsbildes und dessen Abdrucks immer auch der Drang nach Inszenierung und Übermittlung eines Wunschbildes steht. Über die zeitliche Distanz haben diese Bilder auch die Aufgabe, die vergängliche Schönheit, den flüchtigen Augenblick, die ‚gute Zeit‘ zu fassen und mental zu konservieren. Bildzitat: Goetz: Celebration 1999, S.-32f. Diese für die Pop-Literatur charakteristische Konzeption wird deutlich, wenn man die Anthologie Poetry! Slam! hinzuzieht. 438 Es handelt sich um eine mit zahlreichen Fotos unterlegte Textsammlung. Die Porträts der Autorinnen und Autoren zeigen diese in stilisierten Posen, die ein Wunschbild evozieren. Dies lässt erahnen, wie sehr in dieser Zeit das Äußere der Personen gegenüber dem eigentlichen Text an Bedeutung gewann. Dabei gelingt es dem Band insgesamt, die aufdringliche Eitelkeit mit Ironie zu kompensieren. Der Text von 260 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 439 Ebd., S.-19‒26. 440 Ebd., S.-110f. Kai Damkowski Zur Kasse, Schätzchen! (Slacken heute), der sich mit „Second Hand“ und „Slacker-Mode“ beschäftigt, lässt Mitglieder der Band „Tocotronic“ auf Fotos ausgewählte Kleidungsstücke zeigen; dabei fällt explizit der Begriff „Fotoposing“. 439 Dass dieses Moment auch in Texten zum Gegenstand und dabei bisweilen sogar selbstironisch gebrochen wird, zeigt sich ganz prägnant in einem Gedicht von Norbert Hummelt, das konzeptuellen Charakter gewinnt. Das Posing wird in diesem Gedicht reflektiert. [klammerblues] das foto, speckig, etwas abgegriffen ist ohne datum u. es zeigt den jungen / wie in gedanken mit sich selbst umschlungen… er hält am mantelstock u. prüft sein spiegelbild u. übt geläufigkeit im bange dinge sagen, die rede formt sich selber, irgendwas „tanzt du vielleicht ich wollte dich was fragen.“ wenn so ein junge sich in was verrennt u. ein paar runden dreht in seinem raum, allein fönt sich die locke wie er’s von travolta kennt u. legt noch einmal die cassette ein. „das war musik, es überlief mich fröstelnd“ - „es war das fieber, immer samstag nacht“ nur ist kein zugang zu der welt der fêten, des alt mit schuß u. erster augentrips für ihn der fürchtet auf den fuß zu treten ihr auf dem foto, mit den klunkerklips. 440 - Kenah Cusanit: Babel (2019) Der neueste hier behandelte Text, Babel von Kenah Cusanit, geht zurück in die Wilhelminische Ära. Der Roman verdeutlicht, dass immer wiederkehrende, konstante Fragen nach der Bildlichkeit dem Fotodiskurs trotz aller denktheo‐ retischer und technischer Wandlungen der Fotografie inhärent sind. Kenah VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 261 441 Cusanit: Babel 2019, S.-31. Cusanit rekurriert in ihrem Text auf die Anfänge der Fotografie, die realistische Konzeption. Doch sie verknüpft den Fotodiskurs mit der religiösen Frage nach der Bildlichkeit, nach der Urfrage, ob man sich ein Bild von Gott machen soll. Cusanits Text erscheint auf den ersten Blick als klassischer historischer Roman, fügt sich jedoch in die in Kapitel VI dieser Studie dargestellte postmo‐ derne Ausdeutung dieses Genres ein. Charakteristische Eigenschaften dieser Gattungsform prägen den Text: die Mischung aus Fiktion und Tatsachen, die Überlagerung der Zeitebenen im Erzählstil, die Evokation universeller Fragen, die durch eindeutige Anspielungen hergestellte Spiegelung der Gegenwart in der Vergangenheit. Der Roman spielt an einem Tag des Jahres 1913 bei Bagdad. Der Archäo‐ loge Robert Koldewey, eine historische Figur, leidet gerade akut unter einer Blinddarmentzündung. Aus der personalen Perspektive schildert der Text die Gedanken seines Protagonisten unter den Schmerzen und blendet dabei in der Zeit zurück. Koldeweys Großprojekt, die Ausgrabung des alten Babylons, wird von ständigen Widrigkeiten begleitet. Die Handlung spielt zwar am Vorabend des Ersten Weltkriegs, greift aber die heutigen Probleme des Verhältnisses zwischen Orient und Okzident auf und spannt den Bogen von der Wiege der Zivilisation bis in die Gegenwart. Neben einigen wenigen Abdrucken von historischen Fotos, die die Historizität des Romans unterstreichen und jeweils direkten Bezug zu einer Textstelle haben, erscheinen die Gedanken zur Fotografie in der Erzählung bemerkenswert und fügen sich in das Gesamtbild ein. Im Wesentlichen korreliert die Referenz auf Fotos mit den zentralen Fragen der Denkstile einer Zeit; vor dieser Folie spielt die Autorin subtil mit dem Fotodiskurs. Dabei variiert sie zwischen dem technischen und dem geisteswis‐ senschaftlichen Aspekt der Fotografie: Das Photo war kein Abdruck der Natur, wie Daguerre es genannt hatte, und auch kein Abdruck der individuellen Schöpfungen Gottes, auf die sich das Bilderverbot gerne erstreckte. Das Photo war das sich stets und nicht zum Besten weiterentwickelnde Ergebnis eines aufeinander reagierenden Gemischs organischer, mineralischer und metallischer Substanzen, […] Das Photo war kein Abdruck der Natur und es war auch kein Abdruck des Lichts, es war ein Abdruck mittels Lichts, das göttlichen Ursprungs war, und die Photographie in diesem Sinne eine Erfindung Gottes. Brauchten nicht beide, die Photographie wie die Epiphanie, einen besonderen Träger, um Erschei‐ nungen empfangen und aufnehmen zu können? Erscheinungen, die niemals das Wesen des Photographierten zeigten, gar dessen Essenz. 441 262 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 442 Ebd., S.-32f. Das Foto wird als Mittel der realistischen Wiedergabe infrage gestellt, der Dualismus zwischen Bewahrung und Vergänglichkeit beim Betrachter pointiert: Das Photo hielt nicht das Photographierte fest, es hielt die Zeit fest und prophezeite zugleich deren Vergehen. Umso mehr traf Koldewey diese Prophezeiung, wenn er auf einem Photo eine Person erblickte, die bereits gestorben war, aber nach den Gesetzen der Photographie das Sterben noch vor sich hatte. Er erschauerte dann - vor einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hatte. 442 - Fazit Cusanits Roman behandelt zwar eine wiederkehrende Frage, doch eröffnen ihre Reflexionen neue Denkräume und bieten den Anknüpfungspunkt für ein kurzes Fazit. In ihren pointierten Formulierungen bekräftigt sie indirekt die heuristi‐ sche Deutung der Fotografie als Grenzobjekt. Ihre Konstellationen schlagen einen Bogen von der Wiege der Menschheit bis in die Gegenwart und vor diesem Hintergrund lassen sich die Konstanten und Variablen zur Deutung des Fotografischen exemplarisch auf alle hier skizzierten Texte übertragen. Handke nutzt das als objektiv geltende Medium des Fotos zur Unterstreichung seiner subjektiven Wahrnehmung, die von ihm hergestellte Text-Bild-Folge signalisiert Simultaneität. Durch die konkrete Verbindung von Text mit visualisiertem Gegenstand referieren seine Fotos auf die Gegenwart und sein Anliegen, die Architekturkritik. Die Abwesenheit von Personen ermöglicht die Konzentration auf die Architektur, der Nebel unterstreicht deren Monotonie. Thomas Bernhard greift den fotografischen Diskurs auf, um Paradigmen der Literatur als Medium der Wirklichkeitsabbildung zu hinterfragen, und demons‐ triert gleichermaßen an diesem Sujet sein eigenes poetologisches Prinzip. Genazino stellt die vielfachen Möglichkeiten zur Deutung des Fotos durch den Betrachter heraus, dabei verweist er explizit auf den Wandel der Zeit und gibt zu erkennen, dass die Erfahrung der Geschichte Paradigmen zur Deutung der Vergangenheit bedingt. Die Pop-Literatur nutzt in ihrem Anspruch auf Zeitgemäßheit die erweiterten Möglichkeiten der Fotografie. Die Fotografie erscheint dort in ihrer Gegen‐ wart als Inszenierungsmedium von Autorinnen und Autoren sowie anderer Personen. Zugleich sollen Momentaufnahmen von Stimmungen den aktuellen Zeitgeist respektive den einer prägnanten Subkultur - bei Goetz speziell die Techno-Szene - sinnlich erfahrbar vermitteln. Doch wie bei Genazinos Foto‐ VII.2 Das Foto als Paradigma und ‚Grenzobjekt‘ im literarischen Wandel 263 443 Teilergebnisse dieses Unterkapitels wurden in folgendem Aufsatz vorab publiziert und in der vorliegenden Studie weitergeführt und ausgebaut: Entfremdung und Identität im „Heimat“-Roman der Gegenwart - Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) und Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung (2019). In: Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.): Identitätskonzepte in der Literatur. Tübingen 2021 [Passagen, Bd. 6], S. 319-329. postkarten ändert sich die Deutung mit der Zeit, mittlerweile werden Goetz’ Foto-Text-Bücher als Chroniken gelesen. Die Ausführungen dieses Kapitels können nur ein Problemaufriss sein. Es geht darum, die Ideen des Grenzobjekts und des Paradigmenwandels als Denkmodelle in den Diskurs einzubringen. Die knappen Betrachtungen können ausführliche Forschungsarbeiten nicht ersetzen. In diesem Zusammenhang sei auf die zahlreichen wichtigen Studien verwiesen, die die wesentlichen Momente des Diskurses abbilden. Die Dialektik des Fotos in der Literatur zwischen Aufklärung und Verklärung wird in diesen Studien anhand ausführ‐ licher Textanalysen sehr deutlich dargelegt. Wichtig erscheint mir, dass trotz aller kulturellen Paradigmenwechsel und medientechnischen Entwicklungen der Diskurs des Bildes konstante Implikationen hat. Diese variieren weniger in sich selbst, sondern sind von der Perspektive des Betrachters abhängig. Alle Abbildungen haben eine subjektive Komponente. Darüber hinaus aber wird der Schnappschuss von heute zum Erinnerungsmedium von morgen. Handkes zeitgenössische Architekturkritik wird zum Museum einer Zeit. VII.3 „Heimat“-Romane der Gegenwart im aktuellen Identitätsdiskurs ‒ Raphaela Edelbauer Das flüssige Land (2019) und Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung (2019) 443 Aktuell nimmt die Diskussion um Identität im Kulturbereich einen sehr hohen Stellenwert ein. Der Großteil der literarischen Neuerscheinungen orientiert sich in irgendeiner Weise an den Denkmustern und Paradigmen der Identitäts‐ debatte. Identität und Geschlecht, Identität und Herkunft, Identität und Ethnie, Identität und Sprache, Identität und Alter, Identität und Geschichte bilden die Hauptthemenkomplexe aktueller deutschsprachiger Literatur. Dabei hat auch das Paradigma der Heimatliteratur, einer im klassischen Sinne eng mit Identität und Herkunft verknüpften Gattung, Veränderungen erfahren. Am Beispiel zweier sehr unterschiedlicher Texte der Gegenwartsliteratur lässt sich darlegen, wie dieses Genre aus Tradition und Gegenwartsdiskurs neue Ausprägungen gefunden hat. 264 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 444 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 6., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart 1979, S.-329. 445 Ebd. Die Gattung der Heimatliteratur ist eng verknüpft mit dem jeweils verbrei‐ teten und sich temporär wandelnden Bild, das man von dem Begriff Heimat hat. Das Genre ist wegen seiner zahlreichen populären Erscheinungsformen so sehr mit dem Stereotyp der Trivialliteratur behaftet, dass dies im Diskurs immer mitschwingt. Von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur definiert Hei‐ matdichtung und Heimatliteratur zunächst als „wertungsfreie[n] Oberbegriff für alles lit. Schaffen aus dem Erlebnis der Heimat, der Landschaft und ihrer Menschen sowie des ländlichen Gemeinschaftslebens im weitesten, nicht nur rein stofflichen Sinne als allg. Grundlage der Welterfahrung.“ 444 Doch schließt von Wilpert den Artikel mit einer Wertung: „Für die Gegenwartslit. ist die H. weitgehend belanglos, da sie zum Großteil lit. unbedeutend ist, auf den überkommenen Positionen stagniert, nach Erschöpfung der vorhandenen po‐ sitiven wie negativen Möglichkeiten sich nur noch in sprachlicher Hinsicht vervollkommnen kann und e. sinnvolle Weiterentwicklung der Richtung sich nicht abzeichnet.“ 445 Dieses Verdikt findet sich in der Auflage von 1979 und es stellt sich heute aus der zeitlichen Distanz die Frage, ob von Wilperts Urteil richtig war. Die folgenden Darstellungen sind von der Grundthese geprägt, diese Einschätzung zu widerlegen. Auf die Thematik meiner Studie bezogen möchte ich erklären, dass es Aspekte eines neuen Gattungsparadigmas von Heimatliteratur gibt, in dem durch von Wilpert als „überkommen“ charakterisierte Denkmuster durch neue, zeitgemäße abgelöst werden. Ich will aufzeigen, dass es relevante zeitgenössische Texte gibt, die aktuelle Diskussionen und Stimmungen um das Thema Heimat und Identität in litera‐ risch ansprechender Form zum Ausdruck bringen und sich unter einem neuen Paradigma dem Genre der Heimatliteratur zuordnen lassen. Die Thematisierung von Heimat ist eine Konstante in der deutschen Literatur, doch sie hat sich in ihren konkreten Ausführungen immer eng an den jeweils dominierenden Denkmustern orientiert und sich durch ihre inhärente subjek‐ tive Komponente als besonders ideologieanfällig erwiesen. Da der Begriff der Heimat eine ausgeprägte emotionale Bindung des Menschen an einen geogra‐ phisch-kulturell umgrenzten Raum akzentuiert, gibt es entsprechend kaum eine andere literarische Gattung, die in solcher Weise mit dem Begriffskomplex der Identität verbunden ist wie die Heimatliteratur, wobei sowohl kollektive wie persönliche Faktoren eine Rolle spielen. VII.3 „Heimat“-Romane der Gegenwart im aktuellen Identitätsdiskurs 265 446 Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Stuttgart 2019 (E-Book). 447 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung. Frankfurt am Main 2019 (E-Book). Der überschaubare Raum der persönlichen Lebenswelt ist der Ort, an dem es im Wesentlichen zu den unmittelbaren Erfahrungen des Einzelnen kommt. Möglicherweise spielt dieser in der Wahrnehmung durch den Kontrast zu einer durch zunehmende Medien und wachsende Globalisierung unübersichtlicher werdenden Welt eine veränderte Rolle. Er evoziert Authentizität und gewinnt in der aktuellen politischen Diskussion an Bedeutung. Ein Erklärungsansatz des gegenwärtigen Identitätsdiskurses ist es, dass mit dem Eindruck des Verlusts der Überschaubarkeit, einem Gefühl des Nichtmehrverstehens der Welt viele Men‐ schen psychisch überlastet sind. Daher werde der Raum der Heimat zu einem Ort der Kompensation gegenüber den Kräften der Globalisierung stilisiert. Diese Entwicklung ist nicht erst seit Kurzem zu verzeichnen. So formierten sich seit den 1970er Jahren verstärkt Bewegungen, die das Heimatgefühl im Kampf gegen nationale Großprojekte wie Kraftwerke oder Autobahnen mobilisierten, deren Lasten einzelne Regionen tragen mussten. Literarische Texte über die Heimat können ein ganzes Spektrum an Aus‐ sagen verbinden, indem sie die diametralen und konträren Ausprägungen entsprechender Identifikationen spiegeln. Das Genre des „Antiheimatromans“ orientiert sich an dem tradierten Negativstereotyp, das zum einen durch die verinnerlichte Kopplung von Heimat und Kitsch, zum anderen durch die Akzentuierung des Themas in der reaktionären Heimatkunstbewegung und der Blut-und-Boden-Literatur verursacht ist. In der Folge der 1968er Bewegung setzte in der Literatur ein neues Setting des Heimatbegriffs ein, das engstirnigen Provinzialismus zwar kritisierte, aber die Bewahrung der Natur und regionaler Eigenarten als Identifikationsfolie umspannte. Aus dieser Entwicklung heraus erscheint vor dem Hintergrund der heutigen maßgeblich vom Begriff der Identität geprägten Diskussion die Frage nach dem Wandel der literarischen Schreibweisen über Heimat von Interesse. Um möglichst zeitnahe repräsentative Aspekte des Diskurses zu fassen, habe ich für diese Betrachtung zwei Romane ausgewählt, die 2019 erschienen und auf eine relativ große Resonanz gestoßen sind. Die Texte sind daraufhin zu unter‐ suchen, wie sie generelle Paradigmen und Strömungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aufnehmen, um daraus typologisch Elemente der aktuellen literarischen Verhandlung von Heimat und Identität zu skizzieren. Es handelt sich um Raphaela Edelbauers Roman Das flüssige Land, 446 ver‐ öffentlicht im August 2019, und Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman Enteig‐ nung, 447 der bereits im Februar desselben Jahres publiziert wurde. 266 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 448 Zur Rezeption vgl. die Regesten der Rezensionen in der überregionalen deutschspra‐ chigen Presse: https: / / www.perlentaucher.de/ buch/ raphaela-edelbauer/ das-fluessige-l and.html (zuletzt abgerufen am 12. Juli 2023). 449 https: / / www.fischerverlage.de/ autor/ reinhard-kaiser-muehlecker-1006098 (zuletzt ab‐ gerufen am 12. Juli 2023). 450 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Fremde Seele, dunkler Wald. Frankfurt am Main 2016 (E- Book). Kaiser-Mühlecker und Edelbauer stammen aus Österreich, wo eine lange Tradition des Sujets Heimat und eine ausgeprägte Affinität dazu bestehen. Sie repräsentieren zwei sehr unterschiedliche Temperamente und Autorentypen der Gegenwartsliteratur. Während Kaiser-Mühlecker sich und sein Werk knapp auf einer schlichten Website vorstellt, ist Edelbauer in den sozialen Medien sehr aktiv und präsentiert sich auf einer graphisch aufwendig gestalteten Homepage. Sowohl die Texte als auch die öffentlichen Auftritte von beiden signalisieren, dass Edelbauer eher extrovertiert, Kaiser-Mühlecker eher introvertiert ist. Das flüssige Land ist das Romandebüt von Raphaela Edelbauer (geb. 1990) und die Autorin gelangte damit gleich auf die Shortlist des deutschen Buchpreises. Diese Entscheidung der Jury wurde zwar von einigen Kommentatoren kritisiert, das Buch fand jedoch überwiegend positiven Anklang. 448 Der acht Jahre ältere, 1982 geborene Reinhard Kaiser-Mühlecker hingegen ist ein bereits arrivierter Autor. Alle seine Texte kreisen um das Thema Heimat und Identität. Die Vita auf der Website seines Verlages S. Fischer unterstreicht mit einem sinnfälligen Zitat von ihm den programmatisch-organischen Charakter seines Schreibens: „Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen - einem, der sie nicht kennt.“ 449 Enteignung ist Kaiser-Mühleckers mittlerweile siebter Roman und zeugt von der Entwicklung eines Autors, der sein Konzept zunehmend verdichten, perfektionieren, verfei‐ nern und fokussieren möchte. Man kann das in diesem Werk im Vergleich zum Vorgänger Fremde Seele, dunkler Wald von 2016 recht deutlich erkennen. 450 In Letzterem wird die Ambivalenz in zwei ungleiche Brüder projiziert, deren Le‐ benswelten in unterschiedlichen Perspektiven, Schicksalen und Erzählsträngen gespiegelt werden. Während dieser Text ein Panorama von Aspekten, Personen und Handlungsorten ausbreitet, wirkt Enteignung gedrängt, das Thema Identität und Heimat noch konzentrierter. Der homodiegetische Erzähler, ein Journalist, kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück, dem er in einem ambivalenten Verhältnis gegenübersteht. Als Kind wurde er früh Waise, und seine in dem Dorf lebende Tante nahm ihn auf. Nach Jahren bei überregionalen Zeitungen und im Ausland schreibt er nun für das Lokalblatt der nahen Stadt. Er beginnt eine Affäre mit der VII.3 „Heimat“-Romane der Gegenwart im aktuellen Identitätsdiskurs 267 451 Kaiser-Mühlecker: Enteignung 2019, S.-151. 452 Ebd., S.-127. Lehrerin Ines und arbeitet auf dem Hof des Mastbauern Flor, der sich mehrfach behördlicher Willkür ausgesetzt sieht. Die Handlung entfaltet sich vor einem verwickelten Beziehungsgeflecht. Flor hat ebenfalls eine sexuelle Beziehung zu Ines, während der Ich-Erzähler Jan eine Affäre mit Flors Frau Hemma beginnt. Zu der vermeintlich kühlen, abweisenden Frau entwickelt er eine bis an die Ab‐ hängigkeit reichende sexuelle Leidenschaft, was in inneren Kämpfen zwischen Ratio und Gefühl kulminiert, als sie ihm gewissermaßen ‚mehr‘ verspricht, wenn er den Baubeauftragten der Gemeinde, der Flor und sie offensichtlich schikaniert, beseitigt. Der Roman ist von tragischen Ereignissen gezeichnet, die in ihrem genauen Ablauf rätselhaft bleiben, doch in Andeutungen verschiedene schlüssige Perspektiven eröffnen. Die Figur Jan erinnert in der Anlage an Albert Camus’ Fremden, sein Verhalten ist von Gleichgültigkeit geprägt. Dies entspringt im Grunde einer Blockade, was sich darin äußert, dass er seine Gefühle nur seiner Katze ent‐ gegenbringen kann. Dass diese gegen Schluss des Romans überfahren wird, ist sinnfällig ein Initial, das einen inneren Reifeprozess anstößt. Jan verbirgt im Dorf seine eigentliche Identität, so stellt er sich bei seinem ehemaligen Mitschüler Flor, der ihn aber nicht mehr zu kennen scheint, unter dem falschen Namen Walter vor. Der Text evoziert, dass die Ursache von Jans prekär-hybrider Identität in der Gefühlskälte der Tante begründet ist, die ihm den Umgang mit den Dörflern - „vulgäre Leute“ 451 - verboten hat und ihm dies, vor seinem inneren Auge als Geist erscheinend, immer wieder einredet. Er leidet darunter, nirgendwo heimisch zu sein, was in der Erzählung seines Besuchs in der Redaktion einer Berliner Zeitschrift zum Ausdruck kommt: Zugleich haftete dem Ganzen auch etwas Befremdliches an, zumal ich mich, mit den Stunden sogar immer mehr, als etwas Exotisches betrachtet sah. Zunächst war es wohl nur etwas Banales: der Akzent, den ich hatte und den ich trotz aller Bemühungen meiner Tante, die in ihrem Haus keinen Dialekt duldete, nie loswerden konnte, was zur Folge hatte, dass meine Sprache immer etwas eigentümlich klang, für den einen künstlich, für den anderen, als finde ein Schlüssel nicht ins Schloss, und vermutlich deshalb war ich nicht nur einmal in meinem Leben nach meiner Muttersprache gefragt worden. 452 Den Begriff Heimat verwendet der Autor in diesem Kontext nicht, doch der Begriff des Fremden taucht bei ihm in unterschiedlichen Derivationen sehr häufig auf, wie im angeführten Zitat „Befremdliches“. Der Ich-Erzähler spricht 268 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 453 Ebd., S.-50. 454 Ebd., S.-57. von der „mir so fremden Lebenswelt“: 453 „[I]n mir selbst kam mir alles fremd vor. Als lebte ich in einem Land, das mir, obwohl direkt vor meiner Haustür, fremder als alle war, die ich bisher kennengelernt hatte.“ 454 Besonders signifikant ist in dieser Hinsicht der Titel von Kaiser-Mühleckers Enteignung vorhergehendem Roman: Fremde Seele, dunkler Wald. Am Schluss des Textes bleibt in der äußeren Handlung vieles im Dunkeln. Die Lehrerin Ines, angeblich bereits todkrank, stirbt auf nicht beschriebene Art und Weise, wahrscheinlich durch Selbstmord. Der korrupte Baubeauftragte kommt zu Tode, vermutlich von Ines kurz vor ihrem Tode aus Liebe zu Flor vergiftet, was aber nur der Erzähler zu erkennen glaubt. Die Polizei geht von einem natürlichen Tod aus. Der Erzähler kann sich bis zum Schluss nicht überwinden, seine Beobachtung zu melden, weil er auf der Beerdigung spürt, dass Ines und Flor sich wirklich, aufrichtig selbstlos geliebt haben, was er beneidet und gleichzeitig bewundert. Es wird angedeutet, dass Flor und Hemma sich um die zwei Kinder von Ines kümmern, da der leibliche Vater spurlos verschwunden ist und eine angebliche Großmutter gar nicht zu existieren scheint. Der Protagonist erkennt, zu welch tiefen Gefühlen Flor und seine Frau, auf welche er - von seiner Tante konditioniert - herablassend geschaut hat, in der Lage sind. Man kann verfolgen, wie der spektakuläre und melodramatische Verwicklungen andeutende, aber nicht auflösende Plot subtil stereotype Topoi und Handlungsmuster des Heimatromans dekonstruiert. Einem oberflächlichen Pathos von Liebe und heiler Welt wird ein diffiziles Psychogramm von Schmerz und zugleich tiefer Menschlichkeit gegenübergestellt, welches ein positives Bild vom Menschen generiert. In Raphaela Edelbauers Roman sucht die Ich-Erzählerin, die Physikerin Ruth, einen ihr zwar fremden, aber mit ihrer Identität und Herkunft eng verbundenen Ort auf. Sie erfährt, dass ihre Eltern bei einem Autounfall verstorben sind und verfügt haben, im Ort ihrer Kindheit bestattet zu werden. Dieses Groß-Einland haben sie schon früh verlassen. Ihre Tochter Ruth ist nie dort gewesen und kann sich nur vage an Erzählungen ihrer Eltern erinnern. Diese werden zu den einzigen Anhaltspunkten für Ruths Anreise, denn es stellt sich heraus, dass die Gemeinde auf keiner offiziellen Karte verzeichnet ist. Ruth gelingt es unter merkwürdigen Umständen und scheinbaren Zufällen, dorthin zu gelangen. Der Ort ist von der Außenwelt abgeschottet und erscheint geheimnisvoll. Sie stößt bei den Nachforschungen über ihre Eltern, die sich ohne ihr Wissen öfters dort aufgehalten haben, zunächst auf eine Mauer des Schweigens; Auskünfte und Do‐ VII.3 „Heimat“-Romane der Gegenwart im aktuellen Identitätsdiskurs 269 455 Edelbauer: Das flüssige Land 2019, S.-307. kumente werden ihr als von außen Kommender vorenthalten, was auch einen im Roman nie ganz aufgedeckten Verdacht hinsichtlich des dubios erscheinenden Unfalltods der Eltern aufkommen lässt. Eine abgeschottet in einem Schloss über der Ortschaft residierende mysteriöse Gräfin führt in Groß-Einland ein feudales Regiment und die Bewohner scheinen sich dieser Herrschaft und ihrer eigenen Isolierung furchtsam und verschworen zu unterwerfen. Je mehr Fragen Ruth stellt, desto vehementer bekommt sie den Widerstand der Leute zu spüren. Es eröffnet sich ihr in Schritten, dass der Ort auf einem riesigen Hohlraum ruht, der ein Geheimnis birgt und das Leben der Menschen bestimmt. Ebenso stößt Ruth bei ihren Nachforschungen auf dunkle Stellen aus der Vergangenheit, dass KZ- Häftlinge ermordet und die Leichen in dem Hohlraum vergraben wurden. Auch ihre Eltern schienen in dieser Sache Nachforschungen angestellt zu haben. Es lässt sich immer weniger verbergen, dass dieses Loch die Statik des gesamten Ortes bedroht, denn die Zahl der Erdrutsche und Einstürze nimmt dramatisch zu. Doch zugleich wird Ruth von dem Ort unterbewusst stark angezogen, sie vergisst nach und nach ihr eigentliches Leben in Wien. Sie entwickelt Heimatgefühle für den Ort, der dem Leser jedoch als falsches Idyll erscheint. „Ist es nicht ironisch, dass ich gerade dort so schnell eine Heimat gefunden habe, wo sie im Boden zu versinken droht? “ „Man kann eben dort am besten Wurzeln schlagen, wo vieles im Boden verrottet“, sagte der Maskenhändler und kicherte. 455 Nach einiger Zeit wird Ruth zu der Gräfin gerufen, diese möchte sie wegen ihrer Expertise einstellen, um einen Weg zu finden, die drohende Katastrophe zu verhindern. Auch wenn Ruth eindringlich konzediert, Fachfrau einer völlig anderen Disziplin der Physik zu sein, nimmt sie das Angebot an. Sie beschließt, länger zu bleiben. In einer Mischung aus Realität und Einbildung, grotesksurreal anmutend, werden Ruths Erlebnisse geschildert. Der Roman erzeugt eine beklemmende Atmosphäre, oszilliert zwischen Gegenständlichkeit und Fantastik. Er erinnert an Texte des magischen Realismus. Die Beschreibung des Schlosses der Gräfin spielt auf Franz Kafkas Schloß an, die Gestaltung des Ortes als Zwischenreich und die Anspielungen auf die Toten weisen Ähnlichkeiten mit Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom auf. Der geheimnisvolle Maskenhändler ist dem Videospiel Majora’s Mask aus der The Legend of Zelda-Reihe entlehnt, in dem es auch um einen mysteriösen, vom Untergang bedrohten Ort geht. Es scheint zunächst, dass Ruth bei ihrer Arbeit bummelt und nicht vorankommt, doch dann entdeckt sie relativ unvermittelt 270 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 456 Ebd., S.-314. einen Stoff, der das Loch füllen kann. Doch bei einer versuchsweisen lokalen Anwendung stellt sich heraus, dass dieser hochgiftig ist und letztlich sämtliches Leben im entsprechenden Umkreis zerstören würde. Ruth verschweigt daher ihre Entdeckung. Erst kurz bevor der völlige Zusammenbruch sich unmittelbar ankündigt, öffnet sie sich. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihre vermeint‐ lich gewonnenen freundschaftlichen Bindungen im Ort, verübeln ihr daraufhin das lange Schweigen. Die Gräfin jedoch beschließt, die Füllung des Lochs trotz allem durchzuführen und diese als Volksfest und touristische Attraktion, also eine großangelegte Öffnung des Ortes für Außenstehende, zu arrangieren. Es bleibt im Ungewissen, wohin das alles führt, denn die Erzählerin verlässt nach Beginn der Festlichkeiten und vor dem zeremoniellen Akt der Einfüllung, zu dem sie auch eine Rede halten sollte, heimlich Groß-Einland. Der als Abschnitt gesetzte letzte Satz „Nichts, was im Unklaren verblieben wäre.“ 456 bringt den Schluss auf den Punkt, wenn man Ironie idealtypisch so deutet, dass das Gesagte das Gegenteil des Gemeinten bedeuten soll. Beide Romane spiegeln literarisch die aktuelle Diskussion um Heimat, indem sie tradierte Muster aufgreifen, verarbeiten und zugleich die wesentlichen Aspekte von Identität thematisieren und sie in Beziehung setzen zu Problemen der Gegenwart wie Umweltverschmutzung, Klimawandel, Existenzangst, Ent‐ fremdung. In Enteignung spielen die Krise der Landwirtschaft und der Bau von Windkrafträdern eine zentrale Rolle. Die Texte stellen keine eindeutigen Affir‐ mationen oder Verdammungen dar, sie reflektieren ihre Positionen dialektisch, indem sie Widersprüche in ihre Figuren und ihre Handlungen projizieren. An beiden Romanen lässt sich zeigen, dass sie tradierte Paradigmen und Topoi der Heimatliteratur aufgreifen und variieren, aktuelle Aspekte einarbeiten und zugleich eigene Gedanken und innovative Schreibformen entwickeln. Die aktuelle Instrumentalisierung und Ideologisierung des Identitätsbegriffs durch die Neue Rechte spielt bei beiden eine Rolle. In Edelbauers Roman erscheint keine explizite Erwähnung irgendeiner Partei oder ideologischen Bewegung, doch verweist die Autorin in einem Paratext auf den unmittelbaren Bezug des Romans zur politischen Gegenwart: Das Aufkommen der Identitären Bewegung sowie die Tendenz zu rechtsradikalen Politpositionen in Europa haben die Fragestellung des Buches für mich unumgänglich gemacht. Heimat- und Identitätsbegriffe werden wieder stärker in den medialen VII.3 „Heimat“-Romane der Gegenwart im aktuellen Identitätsdiskurs 271 457 http: / / www.raphaelaedelbauer.com/ fl%C3%BCssigesland.html (zuletzt abgerufen am 30. August 2019). 458 Edelbauer: Das flüssige Land 2019, S.-276. 459 http: / / www.raphaelaedelbauer.com/ fl%C3%BCssigesland.html (zuletzt abgerufen am 30. August 2019). Fokus gerückt und zum ersten Mal seit ’45 wieder in stolzer, unreflektierter Weise verwendet. 457 Das Themensetting von Edelbauer reagiert auf die bei der politischen Rechten geläufige Auffassung, dass die Jahre des Nationalsozialismus nur eine Episode in der sonst stolzen Geschichte Deutschlands bzw. Österreichs seien. Edelbauer greift fokussiert die Frage der verdrängten NS-Vergangenheit auf. An einer Stelle nimmt sie auf ein weit verbreitetes Denkmuster Bezug: „[…] Vergessen wir bei dem ganzen Gerede über die Toten nicht auch oft die Lebenden? “ Anita war mir mit einem Mal fremd geworden. „Mord verjährt nicht“, sagte ich trotzig. 458 Das Loch ist die Leitmetapher, in dieses wird alles Verdrängte, Unangenehme geworfen, ohne im Vorfeld die langfristigen Konsequenzen zu bedenken. Ir‐ gendwann lässt sich die unmittelbare Gefahr nicht mehr ignorieren, man sucht nach einer Lösung. Die von der Protagonistin entwickelte Füllmasse schiebt den Kollaps möglicherweise kurzfristig hinaus, führt schließlich aber zu einer noch größeren Katastrophe. Edelbauer verweist mit dieser Metaphorik auch auf die drängenden ökologischen Probleme der Gegenwart. In der Allegorie des Lochs und der giftigen Füllung verknüpft sie übertragene und eigentliche Bedeutungen, das geistige Klima und das tatsächliche Klima. Das Loch ist durch unsachgemäßen, der Gier nach Reichtum entspringenden Bergbau ent‐ standen, doch wird es von den Bewohnern mystifiziert, es ranken sich Sagen und Legenden darum, die es in den Bereich des Schicksals und der höheren Gewalt verlagern. Auch diese Referenz parallelisiert ein verdrängendes Deu‐ tungsmuster, das die NS-Herrschaft zu einem Schicksal, einer höheren Gewalt stilisiert, um jegliche persönliche Schuld und Verantwortung zu relativieren. Der Roman komponiert ein Gleichnis: Die verdrängte, ignorierte Vergangenheit erscheint als eine menschengemachte Naturgewalt und zerstört eine Heimat, deren Identität auf Verleugnung basiert. Edelbauer bringt dies in einer weiteren Selbstäußerung zu dem Roman auf den Punkt: Kann unsere Heimat jemals wieder neutral oder gar authentisch sein? Gibt es eine Kol‐ lektiverinnerung, die in unaufmerksamen Momenten in unseren Gehirnwindungen erwacht? Und kann die Vergangenheit jemals nichts mit uns zu tun haben? 459 272 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart 460 Kaiser-Mühlecker: Enteignung 2019, S.-2. Edelbauers Thematisierung der NS-Zeit in dem Roman spielt auf die Affinität der NS-Literatur zur Heimat an. Damit schlägt sie einen Bogen zur ideologischen Besetzung und Instrumentalisierung von Heimat und Identität durch die Neue Rechte. In ihrem Roman dekonstruiert sie diesen Anspruch, indem sie parabel‐ haft formuliert, dass diese Ausrichtung eine Identität evoziert, deren Falschheit früher oder später hervortritt. Auch Kaiser-Mühlecker greift den Aspekt des Aufstiegs der politischen Rechten auf. Bei ihm geschieht dies - im Gegensatz zu Edelbauer explizit - in zwei Passagen. Scheinbar beiläufig, aber treffend pointiert wird die Viru‐ lenz rechter politischer Strömungen thematisiert. Eine dieser Textstellen ist unmittelbar am Beginn und skizziert knapp und präzise das Umfeld und die Hauptfigur. Der Protagonist arbeitet in der naheliegenden Mittelstadt bei der Lokalzeitung: In die Redaktion fuhr ich lediglich, wenn es sich nicht anders machen ließ. Zum einen war es in der Stadt noch drückender, zum anderen ging mir Parker [der Chefredakteur] seit einiger Zeit auf die Nerven. In einem fort versuchte er zu rechtfertigen, dass er jetzt mit der Rechtspartei zusammenarbeiten musste - seit der letzten Wahl, die noch nicht sehr lange zurücklag, stellte sie den Bürgermeister in der Fünfzigtausend-Einwohner- Stadt. Ich hatte den Eindruck, er rechtfertige sich vor allem vor mir, weniger den anderen Kollegen, dabei hatte ich ihm bereits mehrfach gesagt, dass er das nicht brauche, denn es war mir vollkommen gleichgültig, was er tat. „Sie gefallen mir nicht“, sagte ich, „und sie werden mir nie gefallen. Aber du bist der Chefredakteur, und du kannst es ja halten, wie du willst.“ „Du verstehst es nicht“, sagte er. 460 Diese Stelle ist bezeichnend für die Lakonie von Kaiser-Mühleckers Stil, zugleich gibt sie aber ein prägnantes Bild des Charakters seines Protagonisten und verweist expositorisch auf die soziale und politische Stimmung des ländlichen Umfelds, in dem der Roman spielt. Beide Romane formulieren ein zwiespältiges Verhältnis zwischen Heimat und Identität. Edelbauer formuliert die inneren Vorgänge der Erzählerin: Mich verbanden keine Gemeinsamkeiten mit den Menschen in Groß-Einland - ganz im Gegenteil -, stattdessen begann ich, in die Natur um die Gemeinde einzuschmelzen. Schon nach wenigen Tagen fand ich mich intuitiv zurecht, später, nach Wochen, war mir der Wald eine Erweiterung meines eigenen Körpers geworden, kurz gefasst, es VII.3 „Heimat“-Romane der Gegenwart im aktuellen Identitätsdiskurs 273 461 Edelbauer: Das flüssige Land 2019, S.-101f. 462 Ebd., S.-304. war lange gesuchte Zugehörigkeit, eine Identifizierung, die mich zusehends mit der Landschaft verband. Ich würde fast sagen: Ich fand eine Heimat. 461 Die Romanheldin verlässt den Ort, dessen Verheißung sich als Illusion entpuppt hat: „Alle Wehmut, das Verlassen des einzigen Ortes, den ich jemals als Heimat empfunden hatte, lag längst hinter mir.“ 462 Auch Kaiser-Mühleckers Protagonist verlässt das Dorf, aber nicht ganz. Er nimmt zwar eine Stellung bei einer Zeitschrift in Berlin an, lebt aber nur eine bestimmte Zeit im Monat dort. In diesem Schluss spiegelt sich das hybride Verhältnis des Protagonisten zu seiner Heimat. Beide Texte folgen einem Denkmuster, das vor allem durch die Filmreihe Heimat seit den 1980er Jahren geprägt wurde. Heimat wird weder verkitscht positiv verklärt noch pejorativ als spießig und provinziell abgetan, wird viel‐ mehr sachlich ausgewogen betrachtet. Die Texte tragen in vielem Merkmale, die vom postmodernen Paradigma inspiriert sind, und belegen dessen nachhaltige Wirkung. Sie spielen mit den trivialen Stereotypen des Genres, Intertextuali‐ täten tauchen auf, die Ironie wird zu einer tragenden Sprechweise. Bei allen Unterschieden greifen beide Romane Muster der Unterhaltungsliteratur auf und variieren sie spielerisch. Edelbauers Text enthält viele Elemente der Mystery- Literatur. Die Ich-Erzählerin entspricht dem Typus der Figur, die einer unge‐ heuerlichen Wahrheit auf der Spur ist und von den anderen für vollkommen paranoid gehalten wird. Der Text changiert subtil zwischen Realismus und Fantastik. Kaiser-Mühlecker spielt mit Mitteln des Melodrams und des Krimis. Er versteht es, Spannung zu erzeugen und die Neugier des Lesers zu wecken, entzieht sich jedoch der in dem Genre üblichen Auflösung. Besonders die klassischen spezifischen Topoi des Heimatromans werden aufgegriffen. Das Motiv des störenden Eindringens eines Fremden in die abge‐ schlossene dörfliche Welt wird in beiden Texten variiert. Bei Kaiser-Mühlecker besonders ausgeprägt ist die für die Heimatliteratur typische Einbettung des Jahreskreises in den Handlungsablauf, die im traditionellen Genre den in den ewigen Lauf der Welt und die Schöpfung eingespannten Menschen prononciert. Der Autor bricht dieses ursprünglich affirmative Moment jedoch durch eine Störung dieses Kreislaufs. Die Schilderungen verweisen sehr dezidiert auf die Auswirkungen der Klimakrise, z. B. die zunehmenden ungewohnt heißen Sommer und das Ausbleiben der Zwischenjahreszeiten. Die Themen Heimat und Identität werden in beiden Romanen ambivalent verhandelt. Die Hauptfiguren wirken zerrissen in ihrer Entfremdung und gleich‐ 274 VII. Paradigmatische literarische Diskurse der Gegenwart zeitigen Sehnsucht nach Heimat. Damit akzentuieren die Texte das natürliche Bedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit, sie stellen keine Ästhetisierung des Außenseitertums dar. Die Legitimität und der anthropologisch-psychologi‐ sche Kern des Wunsches nach Heimat werden von beiden nicht in Frage gestellt. Sie greifen sehr dezidiert die im aktuellen Heimatdiskurs ausgeprägte Kopplung von Heimatbzw. Identitätsverlust mit der Zerstörung der unmittelbaren Le‐ benswelt durch Industrie und Umweltverschmutzung auf. Edelbauer fasst dies sinnbildlich in dem doppeldeutigen Gleichnis des „Loches“. Kaiser-Mühlecker, der selber Landwirtschaft studiert hat, skizziert sehr subtil den Einbruch der modernen Industrie und der Spekulanten in die dörfliche Gegenwart. Die beiden Romane spiegeln einen allgemeinen Denkstilwandel im Ver‐ ständnis von Heimat und repräsentieren ein neues Paradigma des Heimatro‐ mans. Am Beispiel der markanten Gegensätze der beiden Texte lässt sich aufzeigen, wie ein literarisches Paradigma bei einem homogenen Kern starke Varianzen in Inhalten und Stilformen nicht ausschließt. In der Betrachtung wurde dargelegt, dass beide Romane ein ähnliches, denkkollektiv-paradigma‐ tisch zeitgemäßes Verständnis von Heimat abbilden. Sie variieren den Topos von der fremden Heimat und das ambivalente Gefühl des Wunschs sowohl nach individueller Identität als auch nach Zugehörigkeit. Doch folgen beide völlig anderen literarischen Stilprinzipien: Während Kaiser-Mühleckers Schreiben geprägt ist von einem lakonisch-sachlichen Stil, einem realistischen Paradigma, greift Edelbauer auf Elemente des Surrealen und Fantastischen zurück. Dies tut sie auch in ihrem 2021 erschienenen zweiten Roman Dave, der die Dystopie einer Künstlichen Intelligenz entwirft. Indem der Text mit den Bewusstseinse‐ benen von Mensch und Maschine spielt, ist er wie Das flüssige Land von der Frage nach Identität geprägt, lässt sich jedoch in keiner Weise dem Genre der Heimatliteratur zuordnen. Für den Autor Kaiser-Mühlecker hingegen steht der Begriff der Heimat im engeren Sinne in jedem seiner Texte im Fokus. VII.3 „Heimat“-Romane der Gegenwart im aktuellen Identitätsdiskurs 275 Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ - Literaturgeschichte als Paradigmengeschichte Mithilfe der Kategorien Denkstil und Paradigma in einem idealtypischen, nicht positiven Verständnis und heuristischen Gebrauch lassen sich operationalisier‐ bare Schnittstellen für zahlreiche divergente Diskurse der Literatur bilden, um einen Referenzrahmen zu formulieren, der ein Tertium comparationis ermög‐ licht. Eine reflektierte und kritisch hinterfragte Subjektivität ermöglicht im dialektischen Sinn eine größere Sachlichkeit und Wertfreiheit als ein hyposta‐ sierter (Pseudo-)Positivismus, der der Literatur inhärente essenzielle ästhetische und abstrakte Fragen nicht fassen kann und ausblendet. Nur scheinbar lässt sich eine Literaturgeschichte als empirisch charakteri‐ sieren. Gewiss beruht sie in ihrer dokumentarischen Komponente auf Fakten und Textquellen, die sie sammeln und korrekt wiedergeben muss. Doch eine rein an Beobachtung orientierte Literaturgeschichtsschreibung ist nicht möglich, denn das literarische Feld ist in seiner Totalität nicht erfassbar und die Perspek‐ tive bzw. Auswahl von als relevant erachteten Texten beruht auf Subjektivität. Schon dieser Akt impliziert eine literarische Wertung. Eine Literaturgeschichte ist eine Geschichte der literarischen Kanones, die vom Kanon ihrer Gegen‐ wart maßgeblich beeinflusst wird. Ein selbstreferenzieller Anspruch an jede Literaturgeschichte liegt darin, dass sie ihre eigene Relativität reflektiert und programmatisch formuliert, indem sie die ideellen Vorgaben, auf denen sie beruht, expliziert, kontextualisiert und entsprechend relativiert. Literaturgeschichte schreibt sich ständig neu: Epochen werden umgedeutet, Gattungsdefinitionen variieren; Texte werden mit der Zeit unterschiedlich interpretiert und unterliegen anderen literarischen Taxonomien als zu ihrer Entstehungszeit. Neue Begrifflichkeiten der Erzähltheorie oder Gattungstheorie werden auf Texte der Vergangenheit angewandt. Dabei ist bemerkenswert, dass selbst die sog. zeitlosen Eigenschaften von Kunst und Literatur unterschiedlich und immer wieder neu definiert werden. Ob bestimmte Stile oder Gattungen anthropologisch bedingte Naturformen des Ausdrucks repräsentieren oder nominal gefasste Schreibweisen sind, die einem zeitlichen Wandel unterliegen, wurde im Laufe des Geschichtsprozesses jeweils sehr unterschiedlich bewertet. Walter Benjamin formuliert im Passagen-Werk im Hinblick auf die Theorie des Fortschritts eine Sentenz, die das Problem aus einer übergeordneten erkennt‐ nistheoretischen Perspektive zum Ausdruck bringt: 463 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1983, S.-578. Entschiedne Abkehr vom Begriffe der „zeitlosen Wahrheit“ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht - wie der Marxismus es behauptet - nur eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee. 463 Die Gedanken von Schiller und Friedrich Schlegel zur antiken Literatur und ihrer Zeitlosigkeit entwickeln instruktiv Anregungen, inwieweit menschliches Denken als solches und seine möglichen unterschiedlichen Ausprägungen eine Zeit und ihre Literatur geprägt haben. Auch wenn man die idealisierenden oder romantisierenden Schlüsse eines seiner Zeit enthobenen „naiven Dichters“ (Schiller) oder der „objektiven Schönheit“ (Friedrich Schlegel) nicht teilt, so lassen sich ihre Texte auf ein idealtypisches Maß relativieren und bieten einen Ansatz für ein systematisches Verständnis des Zusammenhangs von Literatur und Denkstil. Konzeptuell stellt es für die Literaturgeschichte eine Perspektive dar, sie als Geschichte von Paradigmen und Denkstilen zu begreifen. Doch jede literarhis‐ torische Arbeit unterliegt in ihrem basalen Ansatz selbst einer Prämisse, die sich aus den Denkstilen ihrer Entstehungszeit ergibt. Aus diesem Paradigma heraus formuliert sie ihre Gattungsdefinitionen und Zeiträume, in denen bestimmte Stile existiert haben und verbreitet waren. Jede literaturgeschichtliche Untersu‐ chung folgt einer bestimmten Taxonomie. Im Sinne der Definitionen von Fleck und Kuhn lassen sich solche konstitutiven Elemente von Literaturgeschichten auf bestimmte Denkstile oder Paradigmen rekurrieren und differenziert dar‐ stellen. In ihrer Mischung aus vielfach verwobenen Kausalitäten und Kontingenzen lassen sich die Prozesse des literarischen Wandels nicht vollständig und ein‐ deutig klären. Doch einzelne Phänomene der Literaturgeschichte respektive die Historizität der Literatur lassen sich typologisch präziser fassen, wenn man sie als Entwicklungslinien von Denkstilen und Paradigmen begreift und abstrahierend darstellt. Zahlreiche Probleme und Schwierigkeiten, vor allem die Überschneidung von synchronen Strukturen und diachronen, zeitbedingten Faktoren, lassen sich mit diesen Kategorien illustrieren und gleichermaßen kann mithilfe ihrer Relativierung der Blick auf literarhistorische Prozesse klarer werden. Die systematische Trennung der Perspektiven auf Literatur lässt sich nicht statisch dichotomisch in Präsens und Vergangenheit vollziehen, 278 Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 464 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-15. 465 Vgl. Kap. VI.2 in vorliegender Studie. da literarische Gegenwart in ständiger Veränderung ist und die bisherigen Entwicklungen impliziert. Am Anfang dieser Studie steht programmatisch die von Tynjanow aufge‐ worfene Frage, was Literatur ist. Er formuliert einen Ansatz, der begründet prononciert, dass Literatur nicht statisch definiert werden kann, sondern sich dynamisch verändert. Daraus folgt m. E., dass man das Wesen von Literatur nicht fassen kann, wenn man fragt, was sie ist. Man kann sich dem Problem jedoch annähern, wenn man fragt, was sie sein kann. Die Untersuchungen dieser Studie sind von dieser Frage ausgegangen und haben in überschaubaren Beispielen gezeigt, wie sehr allein das Verständnis davon, was Literatur ist, den gesamten literarischen Diskurs bestimmt und aus diesem Verständnis neue, andere Vorstellungen entstehen. Eine Konstante der Literatur ist, dass sie immer in einem Spannungsverhältnis steht zwischen den Ideen des Individuums und den historischen Zusammenhängen, in die sie jeweils eingebettet ist. Stellt die mental-biologische Kondition von Einzelnen eine universelle anthropologische Bedingung dar, so akzentuiert das soziale Umfeld die milieubehafteten Einflüsse auf die Literatur. In diesem Prozess stehen sich Individuum und Gesellschaft in Wechselwirkung gegenüber und sind in einer ständigen Entwicklung: Einzelne Menschen formen die Gesellschaft, die Gesellschaft beeinflusst den einzelnen Menschen. Literatur greift diese sie selbst genuin betreffende Frage auf. Sie fragt nach den Konstellationen des Menschen, indem sie diese durchspielt, in der Lyrik eher das Individuelle, in Dramen eher das Wirken der Menschen untereinander; in der Prosa sind beide Akzente gleich verteilt. Thomas Kuhn leitet seine Struktur wissenschaftlicher Revolutionen mit dem Topos „A role for history“ - „Eine Rolle für die Geschichtsschreibung“ ein, 464 der hier in Kap. VI. mit Bezug auf die Frage nach Literatur und Geschichte bereits eingeführt wurde. 465 Ähnlich wie Kuhn für die Geschichtsschreibung der Wissenschaft eine Funktion prononciert, den Wandel von Ideen respektive Pa‐ radigmen zu erfassen, so gilt dies auch für die der Literatur. Zu jeder Zeit findet diese eine Rolle im ideellen wie sozialen Umfeld. Literarische Texte nehmen Denkmuster auf, werden während der Entstehung von ihren Verfasserinnen und Verfassern ‚gedacht‘ und in ihrer Rezeption und historischen Entwicklung stetig weiter ‚gedacht‘. Kuhn formuliert am Beginn seiner Studie, das Bild der Wissenschaft sei, „sogar von den Wissenschaftlern selbst, bisher in erster Linie nach dem Studium abgeschlossener wissenschaftlicher Leistungen gezeichnet worden, wie man Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 279 466 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1979, S.-15. 467 Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Aus dem Französi‐ schen von Brita Schleinitz und Ruthard Stäblein. Frankfurt am Main / New York / Paris 1990 [Historische Studien, Bd. 1], S. 17. Chartier zitiert hier aus einem publizierten Gespräch zwischen ihm und Pierre Bourdieu: Pierre Bourdieu / Roger Chartier: La lecture: une pratique culturelle. In: Roger Chartier (Hrsg.): Pratique de la lecture. Marseille 1985, S.-217‒239. sie bei den Klassikern und in neuerer Zeit in den Lehrbüchern für die junge wissenschaftliche Generation findet.“ 466 Literarische Werke mögen aus der empirisch-textuellen Perspektive in ihrer Überlieferung abgeschlossen sein, auf einer literatursoziologischen Ebene sind sie es nicht. Jedes Werk und jede Epoche entstehen immer wieder neu und werden neu gedacht. Sie wirken auf ihre jeweilige Gegenwart und darüber hinaus. Die Literaturgeschichte und die Werke vergangener Epochen werden vor dem jeweils gegenwärtigen literarischen Paradigma immer neu affiziert. Sie illustrieren damit auf einer systemischen Ebene, dass Neues immer aus dem Alten entsteht. Diese allgemeine Erkenntnis lässt sich in Relation zu Denkstil und Paradigma typisieren und operationalisieren. In diesem Diskurs finden sich alte und neue Denkstile in einer Interferenz, die Roger Chartier auf den Punkt bringt: „Ein Buch ändert sich durch die Tatsache, daß es sich nicht ändert, während die Welt sich ändert“ - und wir sagen, um diese Änderung auf unseren Arbeitsmaßstab zu übertragen, „während seine Leseweise sich ändert“. 467 Ein klassischer Text zeugt von einem Paradigma seiner Zeit, dessen Rekon‐ struktion vom jeweiligen Paradigma der rückblickend betrachtenden Litera‐ turgeschichte mitbestimmt wird. Die Interpretation und literarische Wertung orientiert sich jedoch am Paradigma der Gegenwart. Die Differenzierung solcher komplexen Überlagerungen zu erforschen und hervorzuheben, ist m. E. eine der wesentlichen Aufgaben der Literaturwissenschaft und die Modelle von Kuhn und Fleck bieten hier eine Systematik, solche Prozesse darzustellen. Sie repräsentieren allerdings bei aller Ähnlichkeit zwei unterschiedliche grundsätzliche Denkweisen. Kuhn formuliert mit den kollektiven Kategorien Krise, Paradigma und Revolution ein Strukturmodell, das eine Gesetzmäßigkeit des Wandels propagiert. Fleck hingegen geht von der Wahrnehmung und dem Denken des Individuums aus, und entwickelt daraus die sozialen Beziehungen und Zusammenhänge. In der soziologischen Terminologie könnte man Kuhns Denken eher als systemtheoretisch, Flecks Denken eher als handlungstheore‐ tisch charakterisieren. In der gemeinsamen heuristischen Anwendung bilden 280 Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 468 Chartier: Lesewelten 1990, S.-7. 469 Ebd. 470 Ebd., S.-8. 471 Ebd. 472 Benjamin Gittel: Lässt sich literarischer Wandel erklären? Struktur, Gültigkeitsbedin‐ gungen und Reichweite verschiedener Erklärungstypen in der Literaturgeschichts‐ schreibung. In: Journal of Literary Theory 2016. 10(2), S.-303‒344, hier S.-309. die Ansätze ein Komplement: Kuhns überhöhtes Modell kann als Maßeinheit und Rahmen dienen, Flecks Theorie bietet einen Einblick in die Deutung und Erklärung individueller Handlungen, also wie Autorinnen und Autoren auf Denkstile und Denkmuster rekurrieren, denn er hat sehr plausibel dargelegt, dass persönliches Denken immer auf ein Kollektiv bezogen ist. Literatursoziologisch müssen Paradigmen systematisch im Hinblick auf Au‐ torschaft und Leserschaft differenziert werden. Chartier stellt in seinen Studien die von Paul Ricœur entwickelten Kategorien von der „Welt des Texts“ und der „Welt des Lesers“ nebeneinander. 468 Er „hält den Vorgang der Sinnkonstruktion, der bei der Lektüre realisiert wird, für einen historisch bestimmten Prozeß, dessen Modi und Modelle je nach Zeit, Ort und Gruppe variieren.“ 469 Hier zeigen sich Ähnlichkeiten mit Herders Positionen zur historischen Bedingtheit. Chartiers Grundansatz lässt sich in Referenz zum Paradigmenmodell setzen. Das Verständnis eines literarischen Textes geht über die rein semantischen Komponenten der Sprache hinaus und ist an Denkstile einer Zeit gekoppelt. Der „Akt des Lesens“ (ein von Wolfgang Iser geprägter Begriff) ist zu jeder Zeit mit bestimmten Praktiken verbunden, die einem Wechsel unterliegen. Chartier formuliert die Notwendigkeit einer „Geschichte der Lesarten“ 470 . Neben den individuellen Voraussetzungen des jeweiligen Lesers und seiner Disposition sei der Akt des Lesens bestimmt von „Lektürenormen, die für jede Lesergemein‐ schaft Verwendungsformen des Buches, Lesarten und Interpretationsabläufe definieren.“ 471 Literarischer Wandel ist primär als übergeordneter, wertfreier und deskrip‐ tiver Terminus zu verstehen, der eine Vielzahl von Prozessen und Strukturen umfasst. Er vollzieht sich nie isoliert von anderen Wandlungsprozessen. Ben‐ jamin Gittel prononciert in seinem erhellenden basalen Aufsatz Lässt sich literarischer Wandel erklären? Struktur, Gültigkeitsbedingungen und Reichweite verschiedener Erklärungstypen in der Literaturgeschichtsschreibung hinsichtlich des literarischen Wandels einen „explanatorischen Pluralismus“. 472 Er führt in typologischer Gliederung verschiedene Ansätze auf, die in ihrer Gesamtheit erkennen lassen, dass eine Erklärung des Wandels an eine grundsätzliche Auffassung von Literatur gekoppelt ist. Im Sinne der in der vorliegenden Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 281 473 Ebd., S.-334f. Studie verhandelten Thematik lässt sich formulieren und illustrieren, dass die Ansätze untereinander in vielen Punkten ‚inkommensurabel‘ sind, da sie von unterschiedlichen Prämissen, Perspektiven und Begriffen ausgehen. Gittels Fazit verdeutlicht die Vielzahl und Divergenz der Faktoren des literarischen Wandels: Ziel des Beitrags war es zu untersuchen, ob sich literarischer Wandel erklären lässt. Literarischer Wandel wurde dabei als sich zeitlich ändernde Instantiierung von literarischen Textsorten definiert. Diese möglicherweise etwas technisch anmutende Formulierung meint, dass ein- und dieselbe Textsortendefinition für Zeitabschnitt t1 eine quantitativ und/ oder qualitativ anders beschaffene Gruppe in ihm entstandener Texte herausgreift als für den Zeitabschnitt t2. […] Kausalerklärungen, die lange unangefochten als paradigmatischer Typus wissen‐ schaftlicher Erklärungen galten, stehen in der Literaturgeschichte, solange keine Gesetzmäßigkeiten literarischen Wandels entdeckt werden, nicht zur Verfügung. Dennoch ist es im Zusammenspiel von biographischen und einflussgeschichtlichen Untersuchungen sowie statistischen Analysen prinzipiell möglich, kausale Faktoren literarischen Wandels zu bestimmen und entsprechende (Teil-)Erklärungen zu geben. Ein wissenschaftstheoretisch sehr gut analysierter Erklärungstyp, die intentionale Erklärung, ist in seiner Anwendung auf literarischen Wandel von Textreihen nicht nur sehr aufwändig, sondern in seiner Reichweite oft beschränkt. Zum einen bezieht er sich lediglich auf die Produktion eines Autors und muss daher iteriert angewendet werden, zum anderen ist er aufgrund der unzureichenden Spezifizität poetologischer Selbstkommentare selbst bei poetologisch sehr versierten Autoren häufig nur sehr eingeschränkt anwendbar. Der funktionale Erklärungsansatz ist in Bezug auf die Reichweite vielversprechender, kämpft jedoch mit mehreren Schwierigkeiten. Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass Literatur in den allerseltensten Fällen gesellschaftliche Probleme löst, der von funktionalen Erklärungen vorausgesetzte Nutzeffekt also in aller Regel nur darin bestehen kann, gesellschaftliche Probleme zu thematisieren bzw. zu reflektieren. Ein solcher Nutzeffekt setzt einen entsprechenden Bedarf zur Problemthematisierung voraus, der nicht aus dem Textkorpus, das erklärt werden soll, erschlossen, sondern unabhängig von diesem nachgewiesen werden sollte. 473 Die Vielzahl von Implikationen, möglichen Relationen und ihren jeweiligen Be‐ wertungen erschwert die Erfassung des Gegenstandes. Beispielhaft verdeutlicht wird dies in den zahlreichen ‚turns‘, die in der Literaturwissenschaft z. B. die 282 Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 474 Vgl. Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. und kommentiert von Fotis Jannidis / Ger‐ hard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko. Stuttgart 2009. Rolle des Autors völlig unterschiedlich akzentuiert haben. 474 Die Ausführungen dieser Studie haben unterstrichen, dass im Gesamtdiskurs basale Unterschiede im Verständnis von Literatur an sich bestehen. Meinungsverschiedenheiten über bestimmte literarische Texte haben ihre Ursache häufig in substanziellen Differenzen über das Wesen von Literatur. Ein Blick auf die Totalität der Literatur ist nicht möglich, denn niemand kann sämtliche Texte lesen oder das gesamte literarische Feld überschauen. Deshalb benötigt man standardisierte ordnende Kategorien wie den Epochenbegriff, doch sollte man diese nicht zu feststehenden Größen hypostasieren. Je größer ein Forschungsgebiet ist, desto stärker neigt man zu Allgemeinheiten, die unprä‐ zise sind. Deshalb halte ich es für wichtig, im literarischen Feld Referenzrahmen zu konstruieren, die zwar nicht alle Fragen und Zusammenhänge erfassen können, sie aber verorten sowie klare Relationen zu den offenen Bereichen aufweisen. Denkstil und Paradigma als heuristische Kategorien eignen sich, in die Interpretation von Texten und bei ihrer historischen Einordnung einbezogen zu werden. Ich sehe es als konstruktiv an, für Texte einen Pluralismus der Interpretation zu ermöglichen. Textimmanente oder rezeptionsästhetische, autorreferenzielle oder autorignorierende Sichtweisen sollten Typen der Beobachtungsperspek‐ tive und keine Festlegungen sein, die der Vielfalt eines Textes nicht gerecht werden. Die literaturwissenschaftliche Wertung hängt immer davon ab, wel‐ chen Literaturbegriff die jeweiligen Interpretierenden haben. In diesem Zusam‐ menhang sehe ich den Begriff der Rolle als modellhaft erkenntnisfördernd an. Welche Rolle und Funktion man der Literatur zuordnet, bestimmt zu weiten Teilen schon ihre Definition. Der Pluralismus der Definitionen lässt sich mit den Begrifflichkeiten Paradigma und Denkstil operationalisierbar fassen. Durch eine solche Perspektive lässt sich eine Diskussion vermeiden, die im Wesentli‐ chen inkommensurabel ist, weil die Diskutanten schon ein unterschiedliches Verständnis von den Grundbegriffen haben. Insbesondere Flecks Darlegungen zum Denkstil bieten eine Basis, die grund‐ legenden Verschiedenheiten zu reflektieren und einen methodischen Ausgangs‐ punkt zu finden, diese zu untersuchen und zu erfassen. Ein in den letzten Jahren im Diskurs stark vertretener soziologischer Ansatz ist die Akteur-Netzwerk- Theorie (ANT), deren wesentliches innovatives Element darin besteht, dass nicht nur Menschen als Akteure des sozialen Netzwerks begriffen werden: Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 283 475 Harun Maye: Die Grenzobjekte der Literatur. „Unveränderlich mobile Elemente“ in einer literaturwissenschaftlichen Netzwerkanalyse. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXIX (2019), H. 1, S.-47‒64, hier S.-54. 476 Die Zeitschrift für Germanistik (Neue Folge XXIX (2019), H. 1) widmete der ANT 2019 einen Themenschwerpunkt Werke in Relationen. Netzwerktheoretische Ansätze in der Literaturwissenschaft. 477 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. 4. Aufl. Frankfurt am Main 2017, S. 195. Kursivierung im Original. Auf den folgenden drei Seiten fasst Latour Flecks Thesen kommentierend und mit Zitaten zusammen. In der Akteur-Netzwerk-Theorie werden Menschen und Nicht-Menschen, Subjekte und Objekte tatsächlich als symmetrische Akteure beobachtet. An einem Akteur- Netzwerk sind Artefakte, Medien, Personen, Organisationen und Symbole aller Art beteiligt, aber die Handlungsmacht wird unter diesen Elementen als verteilt ange‐ sehen. Es ist nicht von vornherein festgelegt, welches Element intentional handelt und welches sich bloß instrumentell verhält, wer Subjekt oder Objekt, aktiv oder passiv ist. 475 Die ANT hat auch in der Literaturwissenschaft starken Anklang gefunden. 476 Die Theorie bietet eine Möglichkeit, Relationen der Literatur und auch viele der hier dargestellten Probleme wie das Verhältnis Autorschaft und Kollektiv oder die historische Bedingtheit von Literatur auf einer synchronen Ebene systematisch zu erfassen. Bruno Latour, einer der maßgeblichen Gestalter der ANT, beruft sich an einem zentralen Punkt der grundlegenden Darlegung der ANT auf Ludwik Fleck: Die große Chance der ANT besteht darin, daß die vielen Faltungen der Objektivität sichtbar werden, sobald man sich ein wenig näher dorthin bewegt, wo Agenzien dazu gebracht werden, sich zu manifestieren, nämlich in wissenschaftlichen Laboratorien ‒ oder wo Laboratorien in engeren Kontakt mit dem Alltagsleben gebracht werden, wie es heute oft der Fall ist. Die Positivisten waren nicht sehr inspiriert, als sie die „Tatsachen“ als die elementaren Bausteine auswählten, um ihre Kathedrale der Ge‐ wißheit zu errichten. Sie glaubten, dies sei das primitivste, solideste, unbestrittenste, unbestreitbarste Material, und alles Übrige ließe sich darauf reduzieren. Doch es fand sich bald mehr als nur ein einziger Strohhalm in der soliden Materie, die sie als ihre Grundlage wählten. Schon die Etymologie hätte sie erschauern lassen müssen: Wie konnte eine Tatsache so solide sein, wo sie doch der Tat-Sache ist und also dem Tun entstammt und verfertigt ist? Wie die kürzeste Untersuchung im primitivsten Labor zeigt und wie Ludwik Fleck vor langer Zeit bewiesen hat, betreffen Tatsachen die komplexeste, elaborierteste und kollektivste Konstruktion, die es gibt! 477 284 Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 478 Vgl. dazu Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München / Wien 1992 [Edition Akzente]; Peter Seele (Hrsg.): Philosophie des Neuen. Darmstadt 2008; Sylvia Zirden: Theorie des Neuen. Konstruktion einer ungeschriebenen Theorie Adornos. Würzburg 2005 [Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie, Bd. 385]. S.a. Hans Blumenberg: Quellen, Ströme, Eisberge. Hrsg. von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche. Berlin 2012, S. 144: „[Francis] Bacon stellt einander gegenüber die Weisheit Salomos, nach der es auf der Erde nichts Neues gibt, indem alles scheinbar Neue auf der Vergessenheit des Dagewesenen beruht, und die Weisheit Platos, nach der alle Erkenntnis Erinnerung ist.“ 479 Groys: Über das Neue 1992, S.-10. Auch für die Literatur gilt, dass es keine „Kathedrale der Gewißheit“ gibt. Die Untersuchungen zur Postmoderne haben dies in besonders anschaulicher Weise demonstriert, indem die untersuchten Texte in ihrem Geschichts-, Menschen- und Naturbild vermeintliche historische Tatsachen und Wahrheiten pointiert hinterfragt haben. Die Romane waren insofern autoreferentiell, als sie ihr Narrativ selbst und damit die Rolle der Literatur zur Disposition gestellt, parodiert und konterkariert haben. Die Berücksichtigung der grundsätzlichen Relativität von Tatsachen berührt auch die Wahrnehmung und Deutung der Literatur. Die Untersuchung des Stellenwerts dieses Faktors bei der Kanon- und Epochenbildung, der literari‐ schen und ästhetischen Wertung kann Aufschlüsse über ‒ ich greife Flecks Formulierung auf ‒ ‚die Entstehung und Entwicklung‘ literarischer Tatsachen geben. Die hier skizzierten Gedanken bieten weitergehend auch Perspektiven für einige sehr komplexe und abstrakte philosophische Probleme, die die Literatur besonders betreffen. Dazu zählt beispielsweise die in dieser Studie nicht speziell theoretisch abgehandelte, aber immer mitschwingende Frage nach dem ‚Neuen‘. 478 Boris Groys schließt sich der Ansicht an daß die moderne kulturelle Entwicklung unter einem außerideologischen Innovati‐ onszwang steht. Von einem Denker, Künstler oder Literaten wird gefordert, daß er das Neue schafft, wie früher von ihm gefordert worden war, daß er sich an die Tradition hält und sich ihren Kriterien unterwirft. Das Neue in der Moderne ist nicht mehr das Resultat einer passiven, unfreiwilligen Abhängigkeit vom Zeitwandel, sondern Produkt einer bestimmten Forderung und einer bewußten Strategie, die die Kultur der Neuzeit beherrschen. 479 Thomas Kuhn sieht die Anforderung des Neuen als solches in der Kunst als Bestandteil einer Ideologie und darin einen grundsätzlichen Unterschied zur Rolle des Neuen in der Wissenschaft. Dennoch verweist er auf signifikante Zusammenhänge: Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 285 480 Kuhn: Die Entstehung des Neuen 1978, S.-459. 481 Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012 (E-Book), Pos. 529-538. 482 Ebd., Pos. 575-583. Als einzelne wie in Gruppen suchen die Künstler nach Neuem. Für sie ist Neuerung sehr wohl ein hervorragender Wert und war es schon, ehe ihm die Avantgarde institu‐ tionellen Ausdruck verlieh. Mindestens seit der Renaissance hat dieser Bestandteil der Kunstideologie (es ist nicht der einzige, und er verträgt sich auch nicht ohne weiteres mit den anderen) für die Entwicklung der Kunst etwas geleistet, was die inneren Krisen für die Förderung der Revolution in der Wissenschaft geleistet haben. 480 Walter Benjamin hat sich im Passagen-Werk dezidiert mit der Frage nach dem Neuen auseinandergesetzt. Er rekurriert dort vorwiegend auf Friedrich Nietzsches Fortschrittskritik und ‚die Wiederkehr des Gleichen‘ sowie Charles Baudelaires poetische Reflexionen, in denen subjektive Kategorien wie Lange‐ weile und Leere die Differenz des Alten zum Neuem in Kunst und Literatur akzentuieren. Der Soziologe Andreas Reckwitz setzt sich mit dieser Frage in seinem Buch Die Erfindung der Kreativität auseinander. Er geht davon aus, dass in der Kunst vom Schaffenden Kreativität, also die Schöpfung von etwas Neuem, nicht Dagewesenem erwartet wird. Diese Anforderung sieht er wie Groys erst im 20. Jahrhundert verstärkt als Imperativ. Er bezieht sich dabei nicht nur auf den kulturellen Sektor, sondern sieht die Glorifizierung des Neuen in allen sozialen Bereichen wie Technik, Wirtschaft und Politik. Diese Idealisierung des Innovativen deutet auf ein entsprechendes Paradigma hin. Reckwitz verweist in seiner Darstellung darauf, dass diesem Widersprüche inhärent sind. Er hinterfragt die Vorstellungen vom Neuen auf breiter sozialer Ebene und legt die Paradoxie des Begriffs schlüssig dar: Der ästhetische Reiz des Neuen verlangt nach einem Publikum, das die Neuartigkeit des Neuen feststellt. „Das Neue“ als objektives Faktum gibt es nicht. Es hängt vielmehr ab von einer entsprechenden Aufmerksamkeitsform und Bewertung, die sich einseitig auf das Neue richtet und es vom Alten scheidet. 481 Ob auf der zeitlichen, der phänomenalen oder der sozialen Ebene - nie ist das Neue einfach objektiv vorhanden, immer hängt es von häufig umstrittenen Beobachtungs- und Wahrnehmungsschemata ab, anhand deren etwas nicht alt erscheint, nicht als gleichartig oder als Abweichung vom Gängigen. 482 Reckwitz bringt die häufig unreflektierte Frage, ob man das Neue als ontologi‐ sche Entität oder als eine individuelle bzw. kollektive Wahrnehmung begreifen 286 Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 483 Ebd., Pos. 1635-1643. Kursivierung im Original. 484 Ebd., Pos. 5639-5647. muss, pointiert auf den Punkt. Er geht auch auf die Relativierung des Neuen in der Postmoderne ein, stellt jedoch heraus, dass diese sich nicht völlig vom Anspruch des Neuen löst: In der postmodernen Kunst bilden sich seit den 1960er Jahren eine Reihe von Praktiken, die den Anspruch der Originalität und radikalen Neuartigkeit von Kunst‐ werken problematisieren und neujustieren. Die Kritik am Originalgenie sowie an der Unterscheidung zwischen Original und Kopie ist hier verbreitet, […] Diese Dekonstruktion des Originalitätsanspruchs sollte man jedoch nicht dahingehend missverstehen, dass in der postmodernen Kunst das künstlerisch Neue aufgegeben würde. Es wird vielmehr relativer und subtiler markiert - und damit potenziert. […] Das Neue ergibt sich nicht in einem genieästhetischen Originalitätsanspruch, sondern nistet sich in die Wiederholung des Gegebenen und Vergangenen ein. 483 Reckwitz kritisiert die gegenwärtige Hypostasierung der Kreativität und fordert eine Relativierung, doch Anstatt das Ästhetische, das Neue und das Publikum nun aber pauschal zu bekämpfen - und sich daher der Gefahr des moralischen Fundamentalismus, des antimodernen Konservatismus oder eines Idylls des privaten Selbst auszusetzen - sind eher Stra‐ tegien der Selbstbegrenzung auf die Reichweite der Orientierung am Ästhetischen insgesamt, des Regimes des Neuen und der Orientierung an der Aufmerksamkeit eines Publikums gefragt. 484 Reckwitz’ Ausführungen verdeutlichen, dass die Vorstellung vom Neuen immer an einen bestimmten Denkstil gekoppelt ist. Seine Gedanken über die Relativität der Innovation lassen sich auf basale Konstellationen des Alten und des Neuen in der Literatur beziehen. Die in den Kapiteln dieser Studie dargestellten Wandlungsprozesse haben illustriert, dass sich das Alte und das Neue nur schwer voneinander trennen und kaum isoliert voneinander formulieren lassen. Vielmehr hat sich durch alle Epochen eine komplexe Dialektik zwischen dem Bestehenden und dem Neuen angedeutet, die bestenfalls schematisch umrissen werden kann. Die Untersuchungen aus sehr unterschiedlichen Phasen der deutschen Literatur haben in ihren Ähnlichkeiten deutlich gemacht, dass es einerseits grundlegende Denkmodelle gibt, die andererseits aber sehr variable Ausprägungen erfahren können. Man kann weder eine zyklische Wiederkehr des Gleichen noch eine stetige kumulative Weiterentwicklung in der Literatur prononcieren. Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 287 Alle hier behandelten Autorinnen und Autoren, Texte, Gattungen, Stile oder Epochen sind in einem bestimmten Sinne paradigmatisch, stehen in Relation zu einer Denkgemeinschaft und einem Denkstil. In der Zusammenstellung re‐ präsentieren sie einerseits die Mehrdimensionalität des Paradigmenbegriffs und veranschaulichen andererseits, dass der Begriff typologisch auf gemeinsame Bedeutungsinhalte reduziert und entsprechend modifiziert sinnvoll verwendet werden kann. Bei allen Unterschieden in den Darstellungen dieses Bandes, von Theobald Hock bis zu Raphaela Edelbauer, lassen sich Analogien finden. Mit statisch-idealistischen Kategorien wie ‚ewiger Geist‘, ‚zeitlose Schönheit‘ oder ‚Natur‘ lassen sich diese Ähnlichkeiten nur unzureichend präzise erfassen. Diese Studie hat auch verdeutlicht, wie variabel die Perspektiven auf Gegenwart und Vergangenheit sein können. Idealtypisch modifizierbare Kategorien des Denkstils und Paradigmas bilden methodisch Möglichkeiten, diese Phänomene typologisch zu fassen und sie aus Einzelfällen zu erklären. Im Fokus aller Kapitel dieser Studie stand die Frage der historischen Bedingtheit von Literatur. Die exemplarischen Untersuchungen haben zwar verdeutlicht, dass sich Gesetzmäßigkeiten für den literarischen Wandel nicht ge‐ schlossen formulieren lassen, die Kontingenz ist zu groß, doch haben die Studien aus unterschiedlichen Phasen der Literaturgeschichte in der Gesamtsicht auf‐ gezeigt, dass es Ähnlichkeiten und Konstellationen gibt, die sich in der ein oder anderen Ausprägung wiederholen. Die Modelle des Denkstils und Paradigmas bilden jeweils Kategorien zur typologischen Darstellung und Deutung solcher Prozesse. Sie räumen den nötigen Referenzrahmen zur Vergleichbarkeit ein, haben aber auch die Offenheit, um Kontingenzen und Differenzen angemessen zu berücksichtigen. Bei allen Unterschieden zeigen sich in den Beispielen aus unterschiedlichen Zeiten vergleichbare Mechanismen des Wandels, die sich jedoch nicht prognostizieren oder in einer fest zugewiesenen Formel oder Funktion berechnen lassen. Es bleibt die Frage, wie sich Gesetzmäßigkeiten, besser Regelmäßigkeiten des literarischen Wandels formulieren lassen. Die Untersuchungen haben illus‐ triert, wie sehr allein die Voreinstellung davon, was als literarischer Wandel angesehen wird, von sehr unterschiedlichen Ideen geprägt ist. Literarischer Paradigmenwechsel korrespondiert immer auch mit singulärem literarischem Schaffen. Jeder Text ist im Kontext seiner Zeit zu sehen, aber immer auch als Einzelwerk zu begreifen. Mir ging es darum, diese hochkomplexen und diffizilen Prozesse exempla‐ risch sichtbar zu machen und zu belegen, dass solche Abläufe nicht systematisch als Gesetzmäßigkeiten formulierbar sind. Bei aller Plausibilität spiegelt Kuhns Modell nur typologisch überhöht einen möglichen Ablauf von Entwicklungen. 288 Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ Reduziert man seine Begriffe von Entitäten auf relative, in ihrer Ausprägung variable Eigenschaften, gewinnt sein Modell an Wert. So hat sich tatsächlich gezeigt, dass während kollektiver Krisen feste Grundeinstellungen ins Wanken geraten und durch neue ersetzt werden können, die mit den alten logisch unvereinbar sind. Literarische Paradigmen können geschlossene, normative Systeme dar‐ stellen, was sich bei Regelpoetiken und programmatisch verfassten literarischen Strömungen zeigt. Dass auch Verschiedenheit und Offenheit der literarischen Stile und Normen konstitutionelle Eigenschaft einer literarischen Bewegung sein können, haben die Ausführungen zur Postmoderne plastisch veranschau‐ licht. Die poetologische Vielfalt und Uneinheitlichkeit auf Stil- und Formebene ist elementares Merkmal dieser Denkrichtung. Für die literaturgeschichtliche Praxis hat der postmoderne Diskurs die Sinnhaftigkeit veranschaulicht, bei der Epochenbildung und Erfassung von Stilrichtungen zwischen offenen und geschlossenen Denkstilen zu unterscheiden. Die Postmoderne und ihre Sicht auf die Geschichte haben zahlreiche Denkimpulse für die Betrachtung der Literatur in ihrem historischen Kontext und ihrer historischen Bedingtheit gegeben. Im Zuge eines quantitativ zunehmenden, immer unüberschaubarer wer‐ denden literarischen Feldes ist es umso wichtiger, schlüssige Referenzpunkte für eine Kommensurabilität der Fachdiskussion zu finden. Das soll jedoch nicht die Nivellierung verschiedener Meinungen vorantreiben, sondern lediglich der zu‐ nehmenden Partikularisierung des literarischen Diskurses in Blasen oder Echo‐ räume entgegenwirken. Vor allem im Zusammenhang mit den sogenannten ‚turns‘ in den Geisteswissenschaften hat sich gezeigt, dass die Gefahr besteht, in eine Diskussionsspirale zu geraten, wenn bestimmte Grundannahmen jeweils unbedingte Gültigkeit erlangen. Zahlreiche Theorien, vor allem wenn sie jeweils den Anspruch erheben, Recht zu haben, sind untereinander diskursiv inkom‐ mensurabel. Da das Denken basaler Ausgangspunkt der zahlreichen Theorien und Meinungen ist, halte ich den Denkstil im Sinne Flecks für eine sinnvolle Kategorie zur Strukturierung der Positionen und zur schlüssigen Darstellung von Inkongruenzen in Diskursen. Die in den einzelnen Untersuchungen dieser Studie entworfenen Linien verstehen sich als Ansätze eines denkstilorientierten Darstellungs- und Inter‐ pretationsmodells von Literatur, indem sie die basalen Elemente von Literatur und ihre möglichen unterschiedlichen Qualitäten wie individuelle Schöpfung und gesellschaftlicher Rahmen, Innovation und Tradition strukturell erfassen. Über die heuristische Kategorie des Denkstils lassen sich die Welt des Autors, die Welt des Texts, die Welt des Lesers synchron wie diachron vermessen. Jeder literarische Text lässt sich unter der in dieser Studie eingenommenen Un‐ Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ 289 tersuchungsperspektive betrachten, die zu einer Versachlichung der Diskussion beiträgt, weil sie das notwendig Subjektive nicht ausschließt, sondern reflektiert und benennt. Literarische Fakten entspringen einer Subjektivität und erfahren subjektive Wertung. Kuhns Modell lässt sich nicht statisch im Sinne einer ‚Struktur literarischer Revolutionen‘ anwenden. Doch strukturelle Ähnlichkeiten mit den von ihm prononcierten Prozessen lassen sich im Verlauf der Literaturgeschichte in unterschiedlichen Ausprägungen nachweisen. Sein Schema eröffnet, wenn man es nicht eng führt, einen praktikablen Skalierungsrahmen zur Erfassung der Dynamik des literarischen Wandels. 290 Schlussbetrachtung: ‚Eine Rolle für die Literatur‘ Dank Diese Studie wurde 2022 als Habilitationsschrift an der Philosophischen Fa‐ kultät der Universität des Saarlandes angenommen. Ich möchte mich bei allen bedanken, die mich bei der Arbeit an dem Buch unterstützt haben. Einige möchte ich persönlich nennen. Ich danke Prof. Dr. Sikander Singh, der die Arbeit als Mentor betreut hat. Er hat mich zu dem Projekt angespornt, es immer unterstützt und in konstruktiven Gesprächen den Entstehungsprozess über Jahre begleitet. Weitere Gutachter waren Prof. Dr. Lothar Bluhm und Prof. Dr. Ralf Bogner. Beiden danke ich für Ihre Mitwirkung und die konstruktiv-kritische Lektüre der Arbeit. Prof. Bogner hat mich in der Anfangsphase darin bestärkt, dieses Thema als Habilitationsprojekt anzugehen. Mein Dank gilt den weiteren Mitgliedern der Habilitationskommission Prof. Dr. Gabriele Clemens, Prof. Dr. Astrid Fellner, Prof. Dr. Joachim Frenk, Prof. Dr. Nine Miedema, Prof. Dr. Romana Weiershausen und als Dekanin Prof. Dr. Stefanie Haberzettl. Für die organisatorische Betreuung des Habilitationsver‐ fahrens danke ich Dr. Britta Özen-Kleine, ebenso hat mich Brigitte Wojtyniak in Verfahrensfragen unterstützt. Prof. Miedema hat mir in gemeinsamen Lehrveranstaltungen über Jahre viele wertvolle Erfahrungen in der Hochschullehre vermittelt. Prof. Weiershausen hat mir die Teilnahme an einigen Kolloquien ermöglicht, in denen ich verschiedene Thesen dieser Studie vorstellen und wertvolle Anregungen mitnehmen konnte. Ihr und allen Mitwirkenden dieser Kolloquien gilt mein Dank! Prof. Dr. Michael Winkler hat mir mit zahlreichen wertvollen Hinweisen und Gesprächen geholfen. Dem Narr Francke Attempto Verlag und seinem Lektor Tillmann Bub danke ich für die engagierte und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Meiner Mutter Erdmute Gätje und meiner Frau Annette Johänntgen-Gätje danke ich für langjährige Unterstützung. Meine Frau hat zudem bei den Kor‐ rekturarbeiten sehr intensiv mitgewirkt und die Gespräche mit ihr haben mir essenziell geholfen, meine oft diffusen Entwürfe in eine Struktur zu bringen. Dieses Buch widme ich dem wissenschaftlichen Andenken meines Vaters Prof. Dr. Helmut Gätje (1927 bis 1986). Die Gespräche mit ihm haben mein Interesse an dem Verhältnis zwischen Literatur und Denken geweckt und ein Exemplar von Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen aus seinem Nachlass inspirierte mich zu dieser Studie. Literaturverzeichnis I. Primärliteratur und Quellentexte Thomas Bernhard: Auslöschung. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1986. Thomas Bernhard: Werke 7. Holzfällen. Hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt- Dengler. Frankfurt am Main 2007. Thomas Bernhard: Werke 22. Journalistisches, Reden, Interviews. Teilband 1. Hrsg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Berlin 2015. Marcel Beyer: Flughunde. Frankfurt am Main 1995. 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Weil das literarische Kunstwerk im Dialog mit literarischen Texten anderer kultureller Überlieferungen entsteht, tragen intertextuelle, komparatistische sowie kulturvergleichende Studien wesentlich zu einem vertieften wissenschaftlichen Verständnis des Wechselspiels der Literaturen und literarischen Traditionen bei. In diesem Sinne befragen die Sammelbände und Monographien der Reihe die Literaturen Deutschlands auf ihren Bezug auf andere europäische Literaturen. Bisher sind erschienen: Band 1 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne 2017, 214 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-7720-8606-9 Band 2 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Grenze als Erfahrung und Diskurs Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen 2018, 227 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8638-0 Band 3 Hermann Gätje / Sikander Singh Studien zu Leben und Werk von Gustav Regler 2018, 186 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8658-8 Band 4 Ralf Georg Bogner / Sikander Singh (Hrsg.) Theobald Hocks Schönes Blumenfeldt (1601) Texte und Kontexte 2019, 490 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8678-6 Band 5 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert 2020, 178 Seiten €[D] 69,90 ISBN 978-3-7720-8703-5 Band 6 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Identitätskonzepte in der Literatur 2021, 329 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8722-6 Band 7 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) 1870/ 71 - Literatur und Krieg 2022, 162 Seiten €[D] 59,90 ISBN 978-3-7720-8754-7 Band 8 Hermann Gätje Denkstile und Paradigmen im literarischen Wandel 2023, 308 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-381-10361-4 ISBN 978-3-381-10361-4 Die Studie diskutiert die Übertragbarkeit der aus der Wissenschaftsgeschichte stammenden Theoriemodelle des Denkstils (Ludwik Fleck) und des Paradigmas (Thomas S. Kuhn) auf den literarischen Wandel. Anhand exemplarischer Untersuchungen, die Gegenstände der Neueren deutschen Literatur vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart behandeln, werden Linien literarischer Entwicklungsprozesse aufgezeigt, die Strukturen des Zusammenwirkens von kollektiven Denk- und Schreibmustern einerseits sowie Innovation und Individualität andererseits erkennen lassen. Gattungs- und Epochenbegriffe, Autorinnen und Autoren, Texte wie deren Genese und Rezeption werden in den einzelnen Kapiteln im Hinblick auf Wandel und Konstanz im literarischen Feld betrachtet, um idealtypisch signifikante Elemente in der Literaturgeschichte zu konzeptualisieren. PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT www.narr.de