Sprachenräume der Schweiz
Band 1: Sprachen
1125
2024
978-3-3811-0402-4
978-3-3811-0401-7
Gunter Narr Verlag
Elvira Glaserhttps://orcid.org/0000-0002-9620-3851
Johannes Kabatekhttps://orcid.org/0000-0001-8743-6250
Barbara Sonnenhauserhttps://orcid.org/0000-0003-2757-3143
10.24053/9783381104024
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Das vorliegende Handbuch bietet eine umfassende Darstellung der Vielfalt der in der Schweiz bis in jüngste Zeit mündlich und schriftlich verwendeten Sprachen und Dialekte und der räumlichen und sozialen Bedingtheit ihres Auftretens. Es bezieht sich nicht ausschliesslich auf die Schweiz als viersprachiges Land, sondern geht neue Wege, indem es darüber hinaus das Englische sowie Sprachen berücksichtigt, deren heutige Präsenz in der Schweiz auf Migration beruht. Auch historische Sprachen und Dialekte, die in der Schweiz und im liechtensteinischen Sprachraum gesprochen werden, sowie die drei Schweizer Gebärdensprachen werden behandelt. Mit Ausblicken über die Schweiz hinaus bietet das Handbuch eine erweiterte Perspektive auf die Räume, die die Sprachen der Schweiz einnehmen. So wird das traditionelle Verständnis von Vielsprachigkeit um neue Aspekte und aktuelle Entwicklungen ergänzt.
<?page no="0"?> SPRACHENRÄUME DER SCHWEIZ Espaces linguistiques de la Suisse Espaces linguistiques de la Suisse Spazi linguistici della Svizzera Spazi linguistici della Svizzera Spazis linguistics da la Svizra Spazis linguistics da la Svizra Languages and Space in Switzerland Languages and Space in Switzerland Espacios lingüísticos suizos Espacios lingüísticos suizos Espaços linguísticos suíços Espaços linguísticos suíços Hapësirat gjuhësore të Zvicrës Hapësirat gjuhësore të Zvicrës Band 1: Sprachen Elvira Glaser / Johannes Kabatek / Barbara Sonnenhauser (eds.) <?page no="1"?> Sprachenräume der Schweiz <?page no="3"?> Elvira Glaser / Johannes Kabatek / Barbara Sonnenhauser (eds.) Sprachenräume der Schweiz Band 1: Sprachen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit freundlicher Unterstützung der Stiftung EMPIRIS (Jakob Wüest Fonds) und des UFSP Sprache und Raum der Universität Zürich. Elvira Glaser 0000-0002-9620-3851 Johannes Kabatek 0000-0001-8743-6250 Barbara Sonnenhauser 0000-0003-2757-3143 DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381104024 © 2024 Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ bysa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Elanders Waiblingen GmbH ISBN 978-3-381-10401-7 (Print) ISBN 978-3-381-10402-4 (ePDF) ISBN 978-3-381-10403-1 (ePub) <?page no="5"?> Inhalt Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Karin Stüber Sprachliche Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Helen Christen, Regula Schmidlin Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Andres Kristol Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Mathieu Avanzi Français . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Stephan Schmid Italienisch: Landessprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Matthias Grünert Rätoromanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Penny Boyes Braem Gebärdensprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Mercedes Durham English . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Susanne Oberholzer Deutsch in Samnaun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Karina Frick Sprachen in Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Christoph Landolt Jiddisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Anja Hasse, Guido Seiler Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 <?page no="6"?> Stephan Schmid Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch Spanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Johannes Kabatek Portugiesisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Hellìk Mayer Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Shpresa Jashari Albanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Raphael Berthele Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz . . . . . . . 409 Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz: Sprachräume, Sprachgemeinschaften, Zahlen und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 VI Inhalt <?page no="7"?> Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band Elvira Glaser, Universität Zürich Johannes Kabatek, Universität Zürich Barbara Sonnenhauser, LMU München 1 Einleitung zur Einleitung Dass im «Sprachenland Schweiz» (so der Titel einer Ausstellung im Landesmuseum Schweiz im Herbst 2023, siehe Landesmuseum 2024) die Mehrsprachigkeit und das Verhältnis der Sprachen und Varietäten zueinander eine vergleichsweise besondere Rolle spielen, ist sowohl für die Bewohner und Besucher des Landes als auch für Sprachwissenschaftler eine unbestrittene Tatsache. Vier Landessprachen, eine lebendige Dialektvielfalt und die Präsenz zahlreicher weiterer Sprachen prägen die Schweiz auf eine ganz spezifische Weise. Es ist sicher kein Zufall, dass am Beispiel der Schweiz Standardbegriffe der Dialektologie, der Sozio- und der Kontaktlinguistik etabliert wurden. Mehr als vierzig Jahre nach der «viersprachigen Schweiz» (Schläpfer 1982) erfüllt das vorliegende zweibändige Handbuch das doppelte Desiderat von Aktualisierung und Erweiterung: Aktualisierung bezüglich des Forschungs- und Wissensstands zu den Landessprachen und Erweiterung hinsichtlich weiterer in der Schweiz gesprochener Sprachen sowie, im zweiten Band, hinsichtlich ausgewählter Aspekte des Verhältnisses von Sprache(n) und Räumen (auch im metaphorischen Sinn) in der Schweiz. Indem es die Vielfalt der Schweizer Sprachlandschaften auch jenseits der Nationalsprachen und deren territorialer Verankerung in ihren diversen Ausprägungen berücksichtigt, eröffnet das Handbuch einen Blick auf die Spezifik der sprachlichen Verfasstheit der Schweiz weit über die bekannte politisch-gesellschaftliche Mehrsprachigkeit hinaus. Band 1 geht dabei konsequent den in den letzten Jahren vielerorts immer wieder betonten Weg von der «viersprachigen» zur «vielsprachigen» Schweiz. Er enthält neben Informationen zu den Landessprachen auch solche zu weiteren in der Vergangenheit und in der Gegenwart auf dem Gebiet der Schweiz gesprochenen bzw. verwendeten Sprachen, einschliesslich der nicht eigentlich «gesprochenen» schweizerischen Gebärdensprachen. Hier zeigt sich eine ganz besondere Zweiseitigkeit, die charakteristisch für die jüngere Entwicklung des Landes ist, das konsequent einen Spagat zwischen Betonung der auch sprachlichen Eigentümlichkeit und der Öffnung zu Internationalität durch Migration, wirtschaftliche Vernetzung und Tourismus vollführt. Heute gibt es in der Schweiz weit mehr Sprechende des Englischen, Portugiesischen oder Albanischen als etwa der rätoromanischen Idiome. Bei der Bewertung dieser neuen Situation scheiden sich die Geister, wenn einerseits der hinzugekommene sprachliche und kulturelle Reichtum bei gleichzeitiger erfolgreicher Integration und möglicher Vielsprachigkeit betont und andererseits <?page no="8"?> eine «Überfremdung» als Gefahr dargestellt wird. Die Frage, ob «Albanisch irgendwann zu einer weiteren Landessprache» wird, beschäftigte im Sommer 2023 die SRF-community (SRF 2023). Aber auch das Englische wird auf dem Weg zu einer «zweiten» (oder «fünften») Landessprache vermutet, und es wird diskutiert, ob dies das Ende der viersprachigen Schweiz bedeuten würde oder, im Gegenteil, einen Kitt über die Sprachräume hinweg darstellen kann (Aschwanden und Gerny 2024; Büchi 2024 und ► Sprachbeziehungen). Dieses Handbuch versucht also, durch das Einbeziehen der Darstellung einer Reihe von in der Schweiz verbreiteten «Nicht-Landessprachen» der gesamten Sprachenvielfalt Rechnung zu tragen und dabei anzudeuten, dass die vielsprachige und die viersprachige Schweiz nicht eigentlich einen Gegensatz bilden, sondern sich fruchtbar ergänzen können. Damit kann die Schweiz auch heute und gerade vor dem Hintergrund der massiven Präsenz «neuer» Sprachen immer noch als Modell für die Verbindung von Pluralität und Eigenständigkeit dienen ( ► Sprachenstatistik), auch wenn die mit der Vielsprachigkeit verbundenen möglichen Probleme und Konflikte keinesfalls ignoriert werden sollen, wie dies verschiedene Beiträge zeigen. Über die Landessprachen, das Englische und einige Migrationssprachen hinaus sind im Handbuch den schweizerischen Gebärdensprachen, den Varietäten in Liechtenstein (das in vielen Punkten der Deutschschweiz sehr verbunden ist und selten thematisiert wird) sowie dem territorialen Sonderfall Samnaun und dem Jiddischen einzelne Kapitel gewidmet. Ein transversales Kapitel beschäftigt sich mit den Beziehungen der Landessprachen untereinander, ein weiteres mit den Herausforderungen der Sprachstatistik. Nicht vergessen wird zudem die Tatsache, dass die Schweiz ihrerseits lange ein Auswanderungsland war und im Zuge dieser Auswanderungen auch Sprachen der Schweiz in neue Kontexte gelangt sind ( ► Täufer). Band 2 hingegen zeigt Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zum Gesamtbereich des Verhältnisses von Sprache und Raum und seiner Dynamik in der Schweiz. Dabei werden vielfach die in Band 1 dargestellten einzelsprachlichen Aspekte unter spezifischen, oft transversalen Blickwinkeln neu aufgenommen und in Einzelstudien vorgestellt, deren Bandbreite von der Anwendung aktueller sprachgeographischer Methoden auf den «Fall Schweiz» über die Besonderheiten der Kurznachrichtenkommunikation bis hin zu verschiedenen Sprachkontaktphänomenen reicht. Diese Studien zeigen auch, dass der Raumbegriff im Verhältnis von Sprache und Raum nicht nur geographisch zu verstehen ist, sondern weitere Dimensionen umfasst, und u. a. auch sozial, perzeptiv oder medial zu verstehen ist. Ein Teil dieser Studien geht auf die Aktivitäten des an der Universität Zürich zwischen 2013 und 2024 bestehenden Universitären Forschungsschwerpunktes «Sprache und Raum» zurück und legt - wie das ganze Handbuchprojekt überhaupt - Zeugnis ab von der fruchtbaren interdisziplinären Zusammenarbeit insbesondere zwischen Linguistik und Geografie und zwischen den verschiedenen linguistischen Einzeldisziplinen untereinander (UFSP 2024). 2 Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz Die Beschreibung der Sprachenvielfalt der Schweiz hat verschiedene Dimensionen: politische, soziale, geographische, individuelle, linguistische, um nur die wichtigsten zu nennen. Ausgangspunkt von Sprachbeschreibungen sind oft - auch in diesem Handbuch - VIII Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="9"?> die Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS), die einerseits der jährlichen Strukturerhebung (SE), andererseits der alle fünf Jahre durchgeführten Erhebung zu Sprache, Religion und Kultur (ESRK) entstammen. Den Daten kann u. a. entnommen werden, dass in individueller Hinsicht die grosse Mehrzahl der Personen, die in der Schweiz leben, üblicherweise mehr als eine Sprache spricht (Abb. 1): Abb. 1: Individuelle Mehrsprachigkeit in der Schweiz 2014 und 2019. Quelle: BFS 2021: 9 Darüber hinaus zeigt sich, dass in der Schweiz neben den vier Landessprachen verschiedene weitere Sprachen von vielen Personen regelmässig gesprochen werden. Nach statistischer Häufigkeit sind dies zunächst das Englische, dann das Spanische, Portugiesische, Albanische und Bosnisch-Kroatisch-Serbisch-Montenegrinische (BKMS), wobei die Reihenfolge je nach Befragungskriterium - Hauptsprache, zuhause gesprochenen Sprache(n), Sprache(n) bei der Arbeit, regelmässig verwendete Sprache(n) - unterschiedlich sein kann und es nicht nur bei den Landessprachen regional deutliche Unterschiede gibt (Abb. 2): Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band IX <?page no="10"?> Abb. 2: Häufigste regelmässig verwendete Sprachen im Jahre 2019. Quelle: ESRK, BFS 2021: 13 X Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="11"?> Schon hier ist anzumerken, dass eine rein quantitative Aufzählung von Sprecherzahlen der Beschreibung der Schweizer Sprachensituation nicht gerecht werden kann und z. T. komplexe Sachverhalte verbirgt. Die einzelnen Kapitel dieses Buches erlauben es, die Individualität der Sprachensituationen näher zu beleuchten. Hier nur kurz einige Bemerkungen: das Bundesamt für Statistik führt bei der Frage nach den zu Hause oder bei der Arbeit gesprochenen Sprachen Italienisch sowie Tessiner und bündneritalienischer Dialekt genauso wie Hochdeutsch und Schweizerdeutsch als getrennte Kategorien auf. Mag dies aufgrund der Diglossiesituation für Hochdeutsch und Schweizerdeutsch sinnvoll sein, ist es aufgrund des Dialektkontinuums im Tessin sicherlich schwieriger, eine solche Trennung vorzunehmen. Uns erschien es stattdessen angebracht, das Italienische als Landessprache - einschliesslich der italienischen Dialekte in den entsprechenden Südschweizer Territorien - als eine von Italienisch als Migrationssprache v. a. in der Deutschschweiz getrennte Grösse zu betrachten. Bei der Reihenfolge der am meisten gesprochenen Sprachen kommt es darauf an, ob die zu Hause gesprochene Sprache, die bei der Arbeit gesprochene Sprache oder eine sonstwie beherrschte Sprache zugrunde gelegt wird. Bei der Frage nach der Hauptsprache, die in den Erhebungen des BFS danach definiert ist, dass man in ihr denkt und sie am besten beherrscht, wird in den Zahlen des BFS nicht zwischen Dialekt und Standardsprachen unterschieden, was bei einem Vergleich der Zahlen berücksichtigt werden muss (vgl. dazu auch ► Sprachenstatistik). Im Vergleich zum Spanischen, das nach Englisch die zweitmeist gelernte Nichtlandessprache ist, verfügen Albanisch und Portugiesisch über mehr Muttersprachler bzw. Sprecher, die diese Sprachen im Familienkontext erworben haben. Unterschiedliche Reihenfolgen ergeben sich auch bei der Betrachtung der regionalen Verteilung: die romanischen Sprachen Spanisch und Portugiesisch sind in der romanischen Westschweiz viel präsenter als in der Deutschschweiz (mit Ausnahme verschiedener urbaner Räume); das Portugiesische ist die am meisten gesprochene Migrationssprache in Graubünden, die balkanischen Sprachen sind v. a. in der Deutschschweiz präsent genauso wie die deutschen Varietäten von Einwanderern aus Deutschland und Österreich. Die Funktionen der Sprachen sind sehr unterschiedlich, und die Vielsprachigkeit kann nicht auf einer kontinuierlichen Linie betrachtet werden. Die territorialen, angestammten, offiziellen Landessprachen haben legal und sozial einen völlig anderen Status als die Migrationssprachen und sie haben eben auch ihre Sprachgebiete und ihre räumliche Kontinuität, welche die Identität der Bewohner prägt. Doch selbst hier sind die Grenzen nicht immer so eindeutig: es spricht nicht das Land, sondern es sprechen die Menschen. Entsprechend ist die heutige Sprachensituation der Schweiz auch in Bezug auf die Landessprachen das Resultat einer komplexen Geschichte von Migrationen, selbst wenn diese weit zurück liegen und nicht mit den aktuellen Migrationsbewegungen zu vergleichen sind ( ► SprachlicheVorgeschichte). Beispielsweise gehen die Walserdialekte in verschiedenen Gegenden Graubündens und im Tessin auf Migration zurück, und gleichzeitig haben die heutigen Migrationssprachen in bestimmten sozialen Domänen oder in bestimmten Stadtvierteln oder sogar Dörfern ebenfalls schon eine gewisse Territorialität entwickelt ( ► Portugiesisch). Die jeweils unterschiedliche historische Dynamik ist sicherlich eine der Haupteigenschaften der in Band 1 des Handbuchs beschriebenen Sprachen: da sind die angestammten Territorialsprachen einerseits und die v. a. seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XI <?page no="12"?> präsenten Migrationssprachen anderseits. In deren verschiedenen Sprechergemeinschaften gibt es unterschiedliche Tendenzen, was die Bewahrung der mitgebrachten Sprachen angeht: zunächst die Dynamik der Integration, wenn von Generation zu Generation die schweizerische Identität mehr und mehr an Gewicht gewinnt, mit der Herkunftsidentität gleichzieht und diese möglicherweise ersetzt und damit auch die Herkunftssprache zunehmend in den Hintergrund rückt. Der hohe Grad sprachlicher Integration lässt sich aus der häufigsten zu Hause gesprochenen Sprache der Kinder in den jeweiligen Sprachregionen ablesen (Abb. 3): Abb. 3: Häufigste von Kindern zu Hause gesprochene Sprachen. Quelle: BFS 2021: 24 Aber das häufige Drei-Generationen-Schema, das für den Verlust von Sprachen drei Generationen an Sprechern ansetzt, ist kein Muss, und es gibt durchaus zahlreiche Fälle von Spracherhalt über die Generationen hinweg. Zudem sind ja auch die Zielterritorien der Migration nicht einsprachig, so dass es zuweilen interessante Präferenzen gibt (etwa bei Portugiesen, die als Integrationssprache das Romanische dem Deutschen vorziehen). Eine zweite Dynamik ergibt sich bezüglich der verschiedenen Migrantengruppen und ihrer Sprachen untereinander; hier ist insbesondere die erwähnte Rolle der Italiener und des Italienischen als Koine zu erwähnen, aber auch unterschiedliche Netzwerkbildungen. XII Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="13"?> So ist es aufgrund der Verwandtschaft der Sprachen wahrscheinlicher, dass Sprecher des Italienischen und Spanischen sich gegenseitig verstehen oder Sprecher des Spanischen und Portugiesischen als etwa Sprecher des Albanischen und Spanischen; auch religiöse und weitere kulturelle Faktoren prägen die Netzwerke. Der Zusammenhang von Sprache und Religion wird insbesondere im Falle der emigrierten Täufer deutlich, beim Jiddischen oder auch bei BKMS oder Rätoromanisch. Im Verhältnis von «angestammten» und «eingewanderten» Sprachen ist zudem der internationale Status und das Prestige der Sprachen, das sich aus vielfältigen und sehr variablen Quellen speist, von Bedeutung. Die drei grossen Landessprachen sind auch aufgrund politischer Vorgaben die am meisten gelernten Sprachen der Schweiz (mit gewissen Diskussionen über den Status des Englischen in der Schule); daneben ist die einzige Sprache einer grossen Migrantengruppe, die aufgrund ihrer Bedeutung als Weltsprache in den Schulen gelehrt wird, das Spanische. Englisch wiederum hat einen ganz besonderen Status: als lingua franca, als Sprache zahlreicher Unternehmen und Institutionen, als immer mehr sich durchsetzende Sprache der universitären Bildung und, zusehends, als Modesprache unter Netflix-geprägten Jugendlichen, die etwa in Zürich seit der Pandemie nicht nur ihr Deutsch mit Anglizismen spicken, sondern sich gleich ganz auf Englisch unterhalten, nicht zuletzt, weil ihnen dies mittlerweile einfach als problemlose und coole Option zur Verfügung steht. Wohin die Reise hier geht, steht in den Sternen; das Handbuch will kein Ort der Spekulation, wohl aber einer der Aufnahme der gegenwärtigen Situation sein. 3 Der Elefant im Raum: Deutsch als Migrationssprache Obwohl das Handbuch eigentlich die Sprachsituation der quantitativ bedeutendsten Migrationsgruppen behandelt, gibt es kein Kapitel zur grössten Gruppe: den deutschsprachigen Migranten aus Deutschland und Österreich. Die Hintergründe dafür sollen im Folgenden kurz angesprochen werden. Es geht dabei um die regionale Verteilung ebenso wie um die Rolle der Standardsprache, die in der Deutschschweiz einen besonderen Fall darstellt. 2024 sind 328 ’ 315 deutsche Staatsbürger (inklusive sog. Kurzaufenthalter) in der Schweiz wohnhaft. Sie liegen damit nur wenig unter der grössten Ausländergruppe, den italienischen Staatsbürgern, die 344 ’ 534 Einwohner umfasst (SEM 2024a, Stichtag Ende Mai 2024, siehe Abb. 4). Dazu kommen 47 ’ 752 österreichische Staatsbürger. Der grösste Teil dieser Einwanderungsgruppe wohnt in den deutschsprachigen Kantonen und spricht vermutlich eine Varietät des Deutschen. Allein im Kanton Zürich leben derzeit (2024) 88 ’ 061 Deutsche, die hier wie in allen deutschsprachigen Kantonen, ausser Solothurn und Glarus, aber auch im zweisprachigen Kanton Bern die grösste Gruppe bilden 1 . Während sie in Graubünden mit 7 ’ 950 Personen an zweiter Stelle hinter den portugiesischen Staatsbürgern liegen, befinden sie sich in den (dominant) französischsprachigen Kantonen meist nicht unter den fünf grössten Ausländergruppen. Im Tessin stellen die 1 Auch im Aargau (38 ’ 165, Ö 4 ’ 264), in Bern (29 ’ 513, Ö 3 ’ 182), St. Gallen (26 ’ 449, Ö 9 ’ 673), Thurgau (26 ’ 446, Ö 2 ’ 148), Basel-Stadt (17 ’ 343, Ö 1 ’ 306), Basel-Land (14 ’ 791, Ö 1 ’ 360), Luzern (15 ’ 854, Ö 1 ’ 927), Schwyz (9 ’ 025, Ö 1 ’ 285), Schaffhausen (7 ’ 467, Ö 1 ’ 360) sowie AI, AR, NW, OW, Zug und Uri. Knapp 14 ’ 000 Österreicher wohnen in ZH. Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XIII <?page no="14"?> Deutschen die drittgrösste ausländische Population. Dieser geographischen Verteilung entsprechend ist damit zu rechnen, dass die meisten deutschen und österreichischen Staatsangehörigen im Alltag in einer Varietät des Deutschen kommunizieren. Genaue Zahlen dazu gibt es nicht. Wir wissen zwar, dass 2019 Hochdeutsch als regelmässig verwendete Sprache immerhin zu 20 % in der französischen Schweiz und zu 27 %in der italiensprachigen Schweiz verwendet wurde (BFS 2021), diese Zahl lässt sich aber nicht auf die Staatsbürgerschaft oder den Migrationsstatus zu beziehen. Eine entsprechende Auswertung der ESRK-Erhebungen von 2014 zeigt aber klar, dass deutsche Staatsbürger weniger Schweizerdeutsch verwenden als andere Nationalitäten. Nur 44 % gebrauchten nach eigener Angabe damals regelmässig Schweizerdeutsch, Österreicher immerhin zu 67 % (BFS 2017: 14 - 15). Die vom Bundesamt für Statistik erhobenen Daten über die Hauptsprache als die Sprache, in der man denkt und die man am besten beherrscht, sind nicht auf die Staatsangehörigkeit beziehbar. Ausserdem werden bei der Frage nach der Hauptsprache die Landessprachen mit ihren Dialekten zusammengruppiert, so dass man nicht genau weiss, für wie viele Personen, die «Deutsch» angeben, die Hauptsprache Schweizerdeutsch ist. Allerdings wird in den seit 2010 durchgeführten sogenannten Strukturerhebungen ( ► Sprachenstatistik) auch nach den «üblicherweise zu Hause» und «üblicherweise bei der Arbeit» gesprochenen Sprachen gefragt, wobei hier Schweizerdeutsch und Hochdeutsch getrennt erhoben werden. Wenn jedoch jemand zu Hause einen in Deutschland oder Österreich beheimateten Dialekt spricht, wird das nicht eigens erfasst. Entsprechende Personen könnten z. B. bei den zu Hause gesprochenen Sprachen in einem solchen Fall lediglich die Vorgabe «andere Sprache(n)» wählen, obwohl sie bei der Hauptsprache Deutsch angekreuzt haben. Wie viele das tun, und wie viele «Hochdeutsch» auch bei der zu Hause gesprochenen Sprache ankreuzen, kann man nicht wissen, da die 0 50’000 100’000 150’000 200’000 250’000 300’000 350’000 400’000 Italien Deutschland Portugal Frankreich Kosovo Spanien Türkei Nordmazedonien Serbien Österreich Abb. 4: Grösste Gruppen ausländischer Staatsbüger in der Schweiz. Quelle: SEM 2024a XIV Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="15"?> «anderen Sprachen» nicht aufgeschlüsselt sind. Insofern werden die Zahlen zu den Hochdeutschsprechenden zu Hause oder am Arbeitsplatz in den Statistiken tendenziell eher etwas zu hoch liegen. In der Strukturerhebung des BFS 2022 (BFS 2024b) gaben tatsächlich 826 ’ 181 Personen «Hochdeutsch» als zu Hause gesprochene Sprache an (nach Auskunft des BFS ist in den statistischen Tabellen «Deutsch» bedeutungsgleich mit «Hochdeutsch», falls keine weiteren Angaben dazu gemacht werden). Neben deutschen Staatsbürgern werden wohl auch österreichische Staatsbürger diese Auswahl getroffen haben. Sie können aber nicht für die Gesamtzahl verantwortlich sein, zumal ein gewisser Teil der österreichischen und deutschen Staatsbürger auch eine Minderheiten- oder Migrationssprache gewählt haben könnte. Hinter der Diskrepanz zwischen der auf der Staatsangehörigkeit basierenden Zahl und den wesentlich mehr Nennungen von Deutsch als zu Hause gesprochener Sprache können sich verschiedene Konstellationen verbergen. Zum einen könnte es sein, dass viele eingebürgerte Hochdeutschsprechende weiterhin beim Hochdeutschen bleiben und folglich deren Zahl erhöhen. Zum anderen spiegelt sich hier aber vielleicht auch die Situation in sprachlich gemischten Familien, in denen sich Hochdeutsch oder jedenfalls nicht Schweizerdeutsch als Familiensprache etabliert hat. Auf beide Faktoren deuten die Zahlen in der Tabelle «Zuhause gesprochene Sprachen in der Schweiz, 2022» (BFS 2024a): 201 ’ 903 «Schweizer/ innen mit Migrationshintergrund» geben 2022 Deutsch als zuhause gesprochene Sprache an (gegenüber 484 ’ 476 Schweizerdeutsch), solche ohne Migrationshintergrund immerhin 168 ’ 080, gegenüber 3'214 ’ 224 Schweizerdeutsch. Allerdings gibt es neben «zu Hause» und «am Arbeitsplatz» (dazu ► Wolf_Band2) noch allerlei weitere Situationen, für die die BFS-Strukturerhebungen keine Daten liefern. Und es ist nichts darüber bekannt, welche Sprachvarietät als Hochdeutsch bezeichnet wird, u. a. auch aus dem oben bereits genannten Grund, dass deutsche Dialekte - ausser Schweizerdeutsch - in den Strukturerhebungen gar nicht gewählt werden können. Ein weiterer Grund liegt darin, dass in Deutschland zwischen Dialekt und Hochdeutsch ein Kontinuum besteht und das gesprochene Hochdeutsch mehr oder weniger stark dialektal oder zumindest regional geprägt sein kann. Es stellt sich ausserdem die Frage, wie stark das als Hochdeutsch bezeichnete Deutsch Eigenheiten des Schweizer Hochdeutschen aufweist. Deutsche (und Österreicher) finden sich in der Schweiz in einer Situation wieder, in der sie zwischen Dialekt/ Schweizerdeutsch und Hochdeutsch unterscheiden müssen ( ► Deutsch). Unter den 259 ’ 567 «Ausländer/ innen der ersten Generation», die angeben, zu Hause gewöhnlich Schweizerdeutsch zu sprechen, werden wohl auch etliche aus Deutschland und Österreich sein, ebenso auch unter den 484 ’ 476 Schweizern und Schweizerinnen mit sonstigem Migrationshintergrund. Zahlenmässig aufschlüsseln lässt sich das leider nicht weiter. Für die Wohnbevölkerung insgesamt lässt sich entsprechend der ESRK- Erhebung von 2019 (BFS 2021: 14) sehen, dass Personen mit Migrationshintergrund in der ersten Generation nur 40,6 % Schweizerdeutsch als regelmässig gebrauchte Sprache angeben, während das für 78 % derjenigen ohne Migrationshintergrund der Fall ist. In der zweiten Generation steigt die Prozentzahl dann auf 68,1 %. Diese Verhältnisse werden wohl auch für Personen mit deutschem oder österreichischem Migrationshintergrund gelten. Die zahlreichen Fragen, die sich rund um das heutige sprachliche Verhalten der aus Deutschland oder Österreich stammenden Wohnbevölkerung stellen, können hier nicht Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XV <?page no="16"?> diskutiert oder gar beantwortet werden, da aktuelle Daten dazu fehlen (siehe aber ► Wolf_Band2). Die breit angelegte Untersuchung von Koller (1992), die zu Beginn der 1980er Jahre auf der Basis von 100 Interviews mit aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands stammenden Deutschen in der Deutschschweiz durchgeführt wurde, dürfte zwar in ihren grundsätzlichen Ergebnissen noch Gültigkeit besitzen. Verschiedene Faktoren, wie die massive Zunahme deutschsprachiger Einwanderer seit der Freizügigkeitsregelung, die seither erfolgte Ausweitung des Dialektgebrauchs, v. a. auch in den Medien und in neueren schriftlichen Kommunikationsformen ( ► Stark/ Ueberwasser_Band2), sowie die allgemeine Tendenz zur Informalisierung gesprochener Sprache, aber auch die Rolle, die das Englische v. a. bei Jugendlichen einnimmt ( ► Englisch), die Zunahme des Tourismus (inklusive Einkaufstourismus) und grenzübergreifender kultureller Bewegungen, lassen aber neue empirische Untersuchungen dringend nötig erscheinen. Dabei wäre zusätzlich zu den von Koller (1992) kontrollierten Kriterien (z. B. Alter und Alter bei der Einwanderung, Aufenthaltsdauer etc.) auch die Zugehörigkeit zur ersten oder zweiten Generation ein wichtiges Unterscheidungskriterium, um die Komplexität der heutigen Situation zu erfassen. Die Zusammensetzung der Informanten Kollers, unter denen etwa die Hälfte das Schweizer Bürgerrecht besass und einen Deutschschweizer Ehepartner hatte, dürfte sich in den Ergebnissen zugunsten des Schweizerdeutschen ausgewirkt haben. Koller fokussierte mit Absicht auf bereits stark mit der Deutschschweiz verbundene Deutsche (1992: 86 - 87), was sicher auch damals nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Deutschen in der Deutschschweiz war. Die Grundproblematik, in der sich Deutschsprachige in der Deutschschweiz befinden, ist aber gleich geblieben. Ihre Deutschsprachigkeit macht sie zum Teil der deutschsprachigen Bevölkerung, wie sie in den Strukturerhebungen mit der Frage nach der Hauptsprache ermittelt wird. Insofern sehen sich Deutschsprachige häufig nicht in gleicher Weise als Migranten wie etwa Spanier, Portugiesen, Italiener etc. Kein oder nur schlecht Schweizerdeutsch zu sprechen, grenzt sie aber gleichzeitig als fremd aus. Hinderlich für den Erwerb und Gebrauch des Schweizerdeutschen wirkt sich vor allem die mitgebrachte soziolinguistische Kultur aus, derzufolge ein Dialekt, wenn überhaupt, nur kleinräumig, in familiärem Umfeld und nicht in öffentlicher Funktion gebraucht wird: In Deutschland herrscht eine Sprachkultur, die es als unangemessen ansieht, mit Sprechern anderer Varietäten einen lokalen Dialekt zu sprechen und die nach einer gemeinsamen, neutralen Varietät - meist dem Standard oder einer standardnahen Varietät - strebt, um eine möglichst symmetrische Kommunikation zu ermöglichen. In der Deutschschweiz ist hingegen asymmetrisches Kommunizieren (d. h. in der jeweiligen Mundart, bei passivem Verständnis der Kommunikationspartner) völlig üblich ( ► Deutsch und Kabatek 2015). Der sprachliche Abstand ist je nach regionaler Herkunft zwar unterschiedlich gross, im Allgemeinen ist aber nach einer gewissen Eingewöhnungszeit das Verständnis gewährleistet. Dennoch kann der Dialog zwischen Hochdeutschsprechern und Schweizerdeutschsprechern nicht in gleicher Weise polylektal geführt werden, wie es unter Sprechern verschiedener Schweizer Dialekte der Fall ist, was mit der besonderen Stellung des Hochdeutschen in der Deutschchweiz zusammenhängt ( ► Deutsch). Eigener Beobachtung zufolge praktizieren österreichische Staatsbürger aus Vorarlberg, deren Dialekt dem Schweizerdeutschen nahesteht, aber durchaus diese Art von Verständigung. Untersuchungen dazu fehlen jedoch. XVI Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="17"?> Aus Bemerkungen der Sekundärliteratur ebenso wie aus individueller Beobachtung lässt sich entnehmen, dass sich Deutsche in der Deutschschweiz ganz unterschiedlich bezüglich der Sprachwahl verhalten und dass diese Sprachwahl von zahlreichen Faktoren abhängt. Koller (1992: 23) berichtet, dass drei Fünftel seiner Interviewpartner mit ihren Deutschschweizer Bekannten schweizerdeutsch sprechen und 80 % unter ihnen der Meinung seien, dass das notwendig sei. Vier Fünftel denken, dass das die Deutschschweizer mehrheitlich auch erwarten. Umgekehrt erklären 90 % derjenigen, die konsequent Hochdeutsch sprechen, das zu tun, weil sie das Schweizerdeutsche nicht gut genug beherrschen. Informanten mit aktivem dialektalen Hintergrund können Schweizerdeutsch signifikant schneller verstehen und beginnen früher mit dem Schweizerdeutsch-Sprechen (Koller 1992: 128 - 129). Dabei ist die Qualität der Beherrschung sehr unterschiedlich, vereinzelt gibt es Personen, die sogar mit anderen Deutschen Schweizerdeutsch sprechen (Koller 1992: 263). Insgesamt scheint die Lautung am schwierigsten zu meistern zu sein, wobei die Gewährspersonen selbst angeben, mit den Wortstellungsregeln die grösste Mühe zu haben. Was das Hochdeutsch der in der Deutschschweiz lebenden Deutschen betrifft, gab zwei Drittel der Informanten an, dass es bei Reisen nach Deutschland «in Klang und Wortschatz» auffalle (Koller 1992: 297). Koller (1992: 254, 305) stellt auch fest, dass «pragmatische Formeln» «eine erste Einbruchstelle des Dialekts sind.» Zwar sagt die Hälfte der Informanten, sie bemühe sich darum, ein «gutes Hochdeutsch» zu bewahren, für die übrigen spielt offenbar die Bewahrung der Herkunftssprache keine spezielle Rolle. Eine Zusatzbefragung unter Jugendlichen (Koller 1992: 308 - 320) zeigt, dass diese praktisch ausnahmslos völlig zum Schweizerdeutschen als Alltagssprache übergegangen sind, auch wenn sie zu Hause Hochdeutsch sprechen. Ob sie das Hochdeutsche später weitergeben, ist fraglich. Überhaupt sind wenig Details bekannt, was das Verhalten der Deutschen bzw. der Schweizer mit deutschem Migrationshintergrund in der zweiten oder dritten Generation angeht. Aus der Statistik des BFS (2024a) geht generell hervor, dass zwischen Ausländern der ersten Generation und späteren Generationen ein deutlicher Rückgang des Hochdeutschen zu verzeichnen ist, von ca. einem Viertel (435 ’ 523 von 1 ’ 685 ’ 214) auf ca. 10 % (18 ’ 014 von 173 ’ 549), wobei es keine Langzeitstudien dazu gibt. Es scheint so zu sein, dass für die Gruppe der Deutschsprachigen kein Bewusstsein für Hochdeutsch als Herkunftssprache besteht, was tatsächlich einen deutlichen Unterschied zum Italienischen oder anderen Migrationssprachen ausmacht. 4 Die vielsprachige Schweiz: Zu den Inhalten von Band 1 Der vorliegende Band 1 beschreibt anhand von umfassenden Sprachenportraits die Sprachen der Schweiz und - erstmals in diesem Kontext - auch Liechtensteins in ihrer komplexen Vielfalt. Dies betrifft ihre Strukturen und Funktionsbereiche ebenso wie die geographische und sozio-kulturelle Einbettung, die diese Vielfalt prägen und über längere Zeiträume mitgestaltet haben. Der erste Beitrag, von Karin Stüber, ist der sprachlichen Vorgeschichte der Schweiz gewidmet, von den ersten Besiedlungen und den Resten des vorindoeuropäischen Rätischen über den keltischen Einfluss bis zur Herausbildung der heutigen Sprachräume Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XVII <?page no="18"?> durch Latinisierung und Alemannisierung. Der Text bildet die Grundlage für die territoriale Sicht auf die Sprachen der Schweiz, die mit einem ausführlichen Beitrag von Helen Christen und Regula Schmidlin zur deutschsprachigen Schweiz beginnt. Darin geht es sowohl um die dialektale Vielfalt als auch um das Verhältnis von Mundarten zur Standardsprache und die Rolle der Schriftsprache. Dem frankophonen Raum in der Westschweiz sind zwei französisch geschriebene Beiträge gewidmet: ein Text von Andres Kristol, der vor allem das Frankoprovenzalische (einschliesslich seiner noch existierenden Reste) behandelt, aber auch auf die nordfranzösischen Dialekte und deren Einfluss auf die Schweiz eingeht. Dem Französischen von heute und dem Verhältnis von regionalen Elementen und Standardfranzösisch widmet sich der Beitrag von Mathieu Avanzi. Das Italienische wird in diesem Band in zwei Beiträgen von Stephan Schmid behandelt, einem ersten, zu Italienisch als Landessprache, und einem zweiten, der die Situation des Italienischen als Migrationssprache in der Schweiz behandelt. Beide Texte sind so verzahnt, dass sie sich sehr gut ergänzen und dennoch auch als eigenständig gelesen werden können. Im ersten Beitrag geht es um Italienisch als Landessprache im Tessin und in den italienischsprachigen Regionen Graubündens. Hier wird die Andersartigkeit des Status der Dialekte und des italienischen Standards insbesondere im Vergleich mit der Situation der Deutschschweiz herausgearbeitet und die dialektale Vielfalt und der Zusammenhang mit dem norditalienischen Dialektkontinuum beschrieben (zum zweiten Beitrag siehe unten). Der Beitrag von Matthias Grünert zum Rätoromanischen gibt nebst einigen historischen Informationen einen Einblick in die fünf gegenwärtig gesprochenen und geschriebenen «Idiome» und ihre soziolinguistische Einbettung, wobei auch das Verhältnis der oft als künstlich empfundenen jungen Gemeinsprache Rumantsch Grischun zum rätoromanischen Varietätenraum thematisiert wird. Parallel zu den drei grossen gesprochenen Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch gibt es in der Schweiz drei Gebärdensprachsysteme mit jeweiligem Bezug zu den gesprochenen Pendants. Penny Boyes Braem erklärt in ihrem Beitrag zunächst einige der Grundprinzipien von Gebärdensprachen und geht dann auf die drei Gebärdensprachen im Einzelnen ein, sowohl hinsichtlich linguistischer als auch soziokultureller Faktoren. Sie beschreibt auch die radikale Änderung, die die Situaton der Gebärdensprachen durch die technische Innovation der Cochlea-Implantate erfahren hat. Eine besondere Stellung in der Schweiz kommt dem Englischen zu, wie es in dem auf Englisch geschriebenen Beitrag von Mercedes Durham dargestellt wird. Das Englische ist die einzige flächendeckend gelehrte Nichtlandessprache der Schweiz und nimmt in manchen, vor allem urbanen Umgebungen, einen breiten Raum ein. Zudem sind die kommunikativen Domänen des Englischen in Ausdehnung begriffen. Der Erforschung des Englischen in der Schweiz wird auch in Band 2 ein Beitrag gewidmet sein ( ► Pfenninger/ Becker_Band2). Einem territorialen «Sonderfall», der Enklave Samnaun, ist der Beitrag von Susanne Oberholzer gewidmet, der sich detailliert mit den sprachlichen Eigenheiten dieses an nur einem Ort im Engadin gesprochenen südbairischen/ Tiroler Dialekts auseinandersetzt. Die Besonderheit Samnauns ist zweifach: erstens, weil es eine deutsche Sprachinsel im rätoromanischen Gebiet darstellt und zweitens, weil dort ein nicht-alemannischer Dialekt gesprochen wird. XVIII Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="19"?> Dass in einem Handbuch zu Sprachräumen in der Schweiz auch das kleine Nachbarland Liechtenstein mit behandelt wird, ist aus sprachlicher Sicht und bezüglich des Dialektkontinuums zweifelsohne gut nachvollziehbar. Karina Frick beschreibt nicht nur das Verhältnis von Mundart und Hochsprache im Land, sie geht auch auf die innere Differenzierung ein. In seinem Beitrag zum Jiddischen beschreibt Christoph Landolt die Geschichte der Präsenz jiddischsprachiger Personen in der Schweiz - inklusive einer erstmaligen Darstellung der Grammatik des traditionell im Surbtal gesprochenen Westjiddisch. Einzig dort war es Juden bis ins 19. Jahrhundert erlaubt, zu leben. Eine weitere Perspektive wird durch den Beitrag von Anja Hasse und Guido Seiler eingebracht, die das Berndeutsch der Täufergemeinschaften in den USA behandeln, die ab dem 17. Jahrhundert aus Gründen der religiösen Unterdrückung ausgewandert sind. Ihre bis heute lebendige Sprache weist trotz ihrer religiös bedingt isolierten Lebensweise starke Einflüsse der Umgebungssprachen auf. Bei den durch Migration in die Schweiz gekommenen Sprachen mussten wir uns auf einige der zahlenmässig präsentesten beschränken. Die Darstellung beginnt hier sozusagen chronologisch, mit Italienisch als nicht nur zahlenmässig bedeutendster Migrationssprache (es gibt mehr Italienischsprechende mit Migrationshintergrund in der Schweiz als «territoriale», angestammte Landessprachensprecher), sondern auch als erster grosser Migrationssprache ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Noch im 19. Jahrhundert war die Schweiz eher ein Land der Emigration, doch die wirtschaftliche (und z. T. auch politische) Entwicklung im 20. Jahrhundert drehte die Migrationsrichtung um; vor allem der ökonomische Boom nach dem 2. Weltkrieg führte zur Nachfrage an Arbeitskräften, die zunächst vor allem aus Italien kamen. Der Beitrag von Stephan Schmid zu Italienisch als Migrationssprache spricht nicht nur von der Präsenz des Italienischen in der Deutschschweiz, den italienischen Varietäten und ihrem Erhalt in den Folgegenerationen, er weist auch auf die besondere Rolle des Italienischen als Koine im Arbeitsbereich und als Kommunikationssprache auch mit den durch weitere Migrationswellen in die Schweiz kommenden anderssprachigen Migranten hin. Johannes Kabatek und Mónica Castillo widmen sich dem Fall des Spanischen, das als Migrationssprache nicht nur die auf das Italienische folgende erste grosse Nichtlandessprache wurde, sondern aufgrund der globalen Bedeutung der Weltsprache Spanisch auch im Erziehungswesen und der Erwachsenenbildung Einzug hielt und nach Englisch zur zweitmeist gelernten Nichtlandessprache wurde. Für die spanischsprachige Migration ist auch eine innere Differenzierung notwendig. Die Spanischsprechenden stammen heute aus mehr als zwanzig Ländern, und innerhalb der grössten Gruppe, den Personen aus Spanien, kommt etwa ein Drittel aus dem Nordwesten und spricht oft neben Spanisch auch die Regionalsprache Galicisch. In einer weiteren Phase erlangte mit dem Portugiesischen, v. a. nach der Nelkenrevolution in Portugal 1975, eine weitere Weltsprache eine beachtliche Präsenz in der Schweiz. Portugiesisch ist heute mit mehr muttersprachlichen Personen präsent als das Spanische, spielt jedoch im Bildungswesen eine untergeordnete Rolle. Es wird vor allem innerhalb der Gemeinschaften der Portugiesen und, in jüngerer Zeit, auch der Brasilianer gesprochen, wie der Beitrag von Johannes Kabatek ausführt. Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XIX <?page no="20"?> Der Krieg im damaligen Jugoslawien sowie auch davor bereits politische und wirtschaftliche Gründe waren für die nächste Einwanderungswelle verantwortlich. Wie Hellìk Mayer darstellt, brachte diese zunächst vor allem Sprechende dessen ins Land, was wir heute als BKMS (Bosnisch-Kroatisch-Montenegrinisch-Serbisch) bezeichnen und was in früheren Zeiten vereinheitlichend Serbokroatisch genannt wurde. Die «mitgebrachte» sprachliche Vielfalt ist in der ursprünglichen Heimat nicht selten sprachpolitisch ideologisch aufgeladen, wird aber im Kontext der Schweiz häufig von den Sprechern selbst entspannter gesehen. Zu der Gruppe der Varietäten oder Sprachen aus dem ehemaligen Jugoslawien kommt schliesslich auch das Albanische hinzu, dessen heutige Position von Shpresa Jashari beschrieben wird. Hier zeigt sich neben der allgemeinen Frage der Integration auch die Wichtigkeit der internen Differenzierung bezüglich der Herkunft der Sprecher (Kosovo, Nordmazedonien oder Albanien) und ihrer damit verbundenen sprachlichen Identität. So sind Sprecher des Albanischen aus dem Kosovo häufig nicht nur zweisondern vierbis fünfsprachig: Sie sind mit dem gegischen Albanischen ebenso vertraut wie mit der toskischen Standardvarietät, die Älteren unter ihnen auch mit Serbisch und in der Deutschschweiz mit ihrem schweizerdeutschen Dialekt ebenso wie mit dem Standarddeutschen. Mit dem Text zum Albanischen endet die einzelsprachliche Darstellung (zu weiteren Sprachen siehe unten). Zu den durch Migration in die Schweiz gekommenen Sprachen ist noch anzumerken, dass sie aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden können. Da ist einerseits die Aussenperspektive mit den demographischen Daten, der Festellung der Mehrsprachigkeit, der Notwendigkeit der Kommunikation, die sich u. a. in mehrsprachigen Publikationen des Bundes, der Kantone oder der Gemeinden widerspiegelt, oder in der externen Sicht- oder Hörbarkeit der Sprachen, wie sie in den letzten Jahren in Studien zu so genannten Linguistic Landscapes vermehrt erforscht wird. Es gibt aber auch eine interne Sicht der verschiedenen Sprachgemeinschaften, die nicht nur aus Individuen und Familien bestehen, sondern sich auch organisieren und in Vereinen, Zentren, Gaststätten oder Festivals ihre Kultur pflegen, Sport treiben oder sich einfach nur in verschiedenen Zusammenhängen begegnen. Das Buch endet mit zwei wichtigen transversalen Kapiteln. Raphael Berthele betrachtet die Sprachen - mit Fokus auf den Landessprachen - nicht als Einzelfälle, sondern in ihrer Gesamtheit hinsichtlich der vielfältigen Beziehungen, die sich aus dieser Mehrsprachigkeitskonstellation ergeben. Philippe Humbert, Alexandre Duchêne und Renata Coray werfen einen historischkritischen Blick auf die Geschichte der Sprachstatistik in der Schweiz. Dieses Thema ist für alle Beiträge in diesem Band relevant, da - wie eingangs beschrieben - ein erster Blick auf die Sprachensituation oft mit quantitativen Daten beginnt, die eine Zählbarkeit von Sprechern und Sprachen suggerieren. In Wirklichkeit setzt das Zählen von Sprachen die Berücksichtigung hochkomplexer Sachverhalte voraus. XX Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="21"?> 5 Weitere Sprachen, die in diesem Band nicht ausführlich berücksichtigt werden konnten Trotz der Vielfalt an Beiträgen kann der Band nur einen Ausschnitt der Sprachen und Sprachenräume der Schweiz abbilden. Es fehlen wichtige Sprachen, die diese mitgestalten. Neben den Sprachen der verschiedenen in der Schweiz präsenten Nationen müssten zudem Regionalsprachen und Sprachvarietäten berücksichtigt werden. Umfassende Porträts von Sprachen, die auch in der Sprachstatistik unter «sonstige Sprachen» laufen, ihrer Kommunikationsräume und sozialen Funktionen im Kontext der Schweiz, wären ein dringendes Desiderat, das im Rahmen des vorliegenden Handbuchs leider nicht erfüllt werden kann. Dennoch möchten wir im Folgenden zumindest ein paar knappe Informationen zu einer Reihe von Sprachen geben, denen keine eigenen Kapitel gewidmet werden konnten. Hier stellt sich zunächst die Frage der Auswahl und der Reihenfolge. Sprachen sind keine objektiv messbaren quantitativen Grössen; die Kompetenz ihrer Sprecher in den Einzelsprachen kann eine grosse Bandbreite umfassen und die Verwendung kann von sporadisch bis ständig schwanken. Die Verwendungskontexte können sich auf den Familien- und Freundeskreis beschränken und vom privaten, öffentlichen bis zum transnationalen Raum reichen. Darüber hinaus ist das Zählen von Sprechern nicht einfach. So ist es, wie bereits in Abschnitt 3 diskutiert, sehr problematisch, wenn von Nationalitäten auf Sprachen geschlossen wird. Dies kann nur in manchen Fällen als approximativer Wert gelten, da in den meisten Ländern mehrere Sprachen und manche Sprachen in mehreren Ländern gesprochen werden. Zudem fallen die eingebürgerten Personen aus der Ausländerstatistik heraus, die zwar sehr genaue und stets aktuelle, aber für die Frage der Sprachen eben nur sehr indirekt relevante Zahlen bietet. 5.1 Ukrainisch Eine aktuell (Sommer 2024) sehr wichtige Sprache - das Ukrainische - wird in den Statistiken nur unzureichend erfasst, da der Grossteil ihrer Sprecher nicht zur ständigen Wohnbevölkerung zählt. Die Zahlen des BFS zur ausländische Wohnbevölkerung nach Staatsangehörigkeit zeigen eine Zunahme von Personen aus der Ukraine von 2010 mit ca. 4 ’ 800 bis 2020 mit knapp 7 ’ 000. Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Handbuchs ist diese Zahl in Wahrheit jedoch weit höher. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit Februar 2022 hat Millionen Ukrainer aus ihrer Heimat vertrieben und viele davon auch in die Schweiz geführt (Ende Juni 2024 hatten noch 66 ’ 189 Personen aus der Ukraine den Schutzstatus S; SEM 2024b). Von ihnen hat ein Teil als Sprache das Ukrainische mitgebracht, ein Teil auch das Russische, das für viele Personen ukrainischer Nationalität erste oder zweite Muttersprache war. Trotz der noch fehlenden statistischen Angaben soll das Ukrainische in unserer Einführung nicht unerwähnt bleiben, auch, weil es beispielhaft für die vielen weiteren eher verborgenen Sprachen in der Schweiz und für die Komplexität von sprachlichen und politischen Räumen und deren Dynamiken ist. Das Ukrainische weist typische Merkmale slavischer Sprachen auf (z. B. einen Verbalaspekt, d. h. eine grammatische Kategorie des Verbs, die Handlungen entweder als abgeschlossen oder als Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XXI <?page no="22"?> nicht-abgeschlossen darstellt) und wird kyrillisch geschrieben. Eine Besonderheit im lautlichen Bereich ist die stimmhafte Aussprache des mit dem kyrillischen Graphem г verschrifteten / h/ (z. B. bahato ‘ viel ’ ). Das Ukrainische ist Amtssprache in der Ukraine, mit grösseren Sprechergemeinschaften auch in Polen sowie in Kanada, den USA, Argentinien und Brasilien. Seit 1945 existiert der Ukrainische Verein, der sich der Förderung der Ukrainer und der ukrainischen Kultur in der Schweiz verpflichtet hat (https: / / swiss-ukrainian.ch). Das Ukrainische wird an slavistischen Instituten in der Schweiz gelehrt (u. a. Bern/ Fribourg), sowie am Ukrainischen Forschungszentrum URIS (https: / / uris.ch/ about-uris). 5.2 Jenisch, Romani und Sondersprachen Auch für die Jenischen, die als «nicht territorial gebundene» Minderheit in der Schweiz geschützt sind, gibt es keine genauen Angaben in den BFS-Statistiken. Gleiches gilt für das Romani, die Sprache der Roma und Sinti, obwohl die Sinti zumindest ebenso wie die Jenischen unter einem besonderen Schutz des Bundes stehen. Jenisch ist die praktisch ausschliesslich mündlich tradierte Sprache der sesshaften (über 90 %) sowie der nichtsesshaften Schweizer Jenischen. In der Schweiz gibt es schätzungsweise 35 ’ 000 Personen jenischer Herkunft (Arbeitsgruppe 2023: 12.1; Bundesrat 2006: 5). Die (Sprach)Statistiken des BFS liefern keine verlässlichen Zahlen. Im 19. Jahrhundert wurden Jenische, die nicht schon Bürger einer Gemeinde waren, in ihren jeweiligen Aufenthaltsgemeinden, viele in Graubünden, eingebürgert. Das Wort Jenisch, das 1714 erstmals als Sprachbezeichnung auftaucht und heute auch als Selbstbezeichnung verwendet wird, ist ebensowenig wie die Herkunft der Volksgruppe endgültig geklärt. Ausser einer Herleitung aus dem Romanes wird auch ein Zusammenhang mit dem ebenfalls noch ungeklärten frühneuhochdeutschen Wort jenne ins Spiel gebracht (Wottreng 2019). Jenische gibt es v. a. in den deutschsprachigen Ländern, aber auch in weiteren angrenzenden Ländern (Frankreich, Benelux, Italien, siehe Efing 2019: 109). Die Bürgerrechtsbewegung der Schweizer Jenischen schloss sich in den 1970er Jahren zeitweise der internationalen Romabewegung an, ein historischer Zusammenhang zur Gruppe der Sinti/ Roma ist aber kaum nachweisbar, wenn auch in der Vergangenheit schon immer Beziehungen zu den Sinti bestanden. Das Jenische ist grammatisch (weitgehend) den jeweiligen Regionalsprachen nachgebildet. Der Wortschatz, der gut 600 Grundwörter umfasst (Roth 2010), die für weitere Wortbildungen genutzt werden, besteht aus mehreren Komponenten, mit einem Grundstock an Wörtern, die verschiedenen älteren und jüngeren Varietäten des Deutschen entstammen, mit zahlreichen formalen und semantischen Weiterentwicklungen. Darunter sind Gemeinsamkeiten mit dem frühneuzeitlichen Rotwelschen, im Sinne einer Sammelbezeichnung diverser frühneuzeitlicher Geheimsprachen. Dazu kommen in unterschiedlichem Umfang Lehnwörter aus dem Jiddischen/ Hebräischen sowie dem Romanes, mit weiteren Bestandteilen aus romanischen Sprachen (Matras 1998). Das Schweizer Jenisch weist im Wortschatz grosse Gemeinsamkeiten mit demjenigen in Österreich und Deutschland auf, knapp 60 % der Stichwörter im Wörterbuch von Roth (2001: 140) sind aber nur in der Schweiz belegt. Jenisch wird meist neben dem ortsspezifischen Dialekt als Familiensprache erlernt. Im Zuge der Repressionsmassnahmen, denen die Jenischen bis in die XXII Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="23"?> siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, z. B. durch Fremdplatzierung der Kinder in Heimen, unterworfen waren, wurde die Sprachtradition teilweise unterbrochen. Wie viele Personen die Sprache heute noch im Alltag benutzen, ist nicht bekannt. Da es sich bei Jenisch um eine mündlich tradierte Sprache für die gruppeninterne Kommunikation handelt, die für die Jenischen eine starke Identifikationsfunktion ausübt, ist die Erforschung durch Nicht-Jenische nur eingeschränkt möglich (entsprechend der Regel «Nichts über uns ohne uns»). Verschiedene vom Bundesamt für Kultur unterstützte Publikationen werden nur an Jenische abgegeben, sind also nicht für die Öffentlichkeit bestimmt (Bundesrat 2018: 19). Das erwähnte Wörterbuch des Schweizer Jenischen wird von der 1975 gegründeten Radgenossenschaft der Landstrasse, der Interessenvertretung der Jenischen, nicht anerkannt. Ein erster Schritt zur Anerkennung der Jenischen als eigenständige Volksgruppe erfolgte 1975 in Bern auf kantonaler Ebene. Seit 1997 gehört ihre Sprache, ebenso wie die der kleinen Minderheit der Schweizer Sinti, neben Walserdeutsch, Jiddisch und den Westschweizer Patois zu denjenigen, für die auf Bundesebene infolge der Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitssprachen des Europarats Schutz- und Unterstützungsmassnahmen vorgesehen sind. Die Interessen der Jenischen werden durch Selbsthilfeorganisationen, vor allem die erwähnte Radgenossenschaft der Landstrasse, die auch eine Zeitschrift Scharotl herausgibt, vertreten. 2023 erschien ein von der Arbeitsgruppe «Jenische/ Sinti/ Roma» in Zusammenarbeit mit der PH Zürich herausgegebenes Lehrmittel für die Primarschule: «Jenische - Sinti - Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz» (Arbeitsgruppe 2023). Romani (auch Romanes) ist die traditionell ausschliesslich mündliche Sprache der Roma (Eigenbezeichnung), die zum indoarischen Zweig des Indogermanischen gehört und ein reiches Formeninventar aufweist. Die Sprache der westeuropäischen Sinti, auch Sintitikes genannt, wird ebenfalls dieser Sprachgruppe zugerechnet. Romani wird über ganz Europa verbreitet in zahlreichen Varianten gesprochen, die stark von den Umgebungssprachen, mit denen die Sinti und Romani auf ihrer Wanderung nach Europa in Kontakt kamen, beeinflusst sind. Viele Sinti und Roma haben die Sprache zugunsten derjenigen ihres Aufenthaltsortes aufgegeben. Was die Schweiz angeht, sind die Verhältnisse schwer zu überblicken, zumal auch die BFS-Statistiken darüber nur unzueichende Daten vorweisen. Es scheint jedenfalls, dass es wesentlich weniger einheimische Sinti (verschiedenen Angaben zufolge ca. 400 - 500 oder mehrere Tausend), die als nationale Minderheit anerkannt sind, als Roma gibt (50 ’ 000 - 80 ’ 000). Roma kamen in den 1960er bis 1990er Jahren v. a. als Arbeitsmigranten aus verschiedenen ost- und südeuropäischen Ländern und sind in der Regel sesshaft. Wie viele davon Romani sprechen ist ebenfalls unbekannt. Die Roma sind bislang in der Schweiz nicht als nationale Minderheit anerkannt (Sozialinfo 2017). Wie gross der Anteil Roma an der in den letzten Jahrzehnten aus Nordmazedonien, Serbien oder dem Kosovo immigrierten Wohnbevölkerung ist, lässt sich nicht ermitteln, ebensowenig die Zahl der Fahrenden. Stellvertretend für verschiedene Sondersprachen, die es in der Schweiz gegeben hat oder gibt, soll noch das so genannte Mattenenglisch kurz erwähnt werden. In der Berner Unterstadt am Ufer der Aare (der «Matte») gab es eine Sonderform der lokalen Umgangssprache, die v. a. im Wortschatz zahlreiche in anderen Berner Dialekten nicht existente Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XXIII <?page no="24"?> Formen aufwies und somit eine kryptische Funktion hatte (Tschirren und Hafen 2016). Diese den berndeutschen Dialekt ergänzenden Wortschatzelemente entstammen grösstenteils dem Französischen und dem Rotwelschen (und damit indirekt u. a. dem Hebräischen). Neben fremdem Wortschatz zeichnet sich das Mattenenglische durch eine Technik des Silbentausches aus, wie sie in anderen Geheimsprachen in ähnlicher Weise vorkommt (u. a. Technik des Verlan im französischen Argot oder des Vesre im bonaerensischen Lunfardo). Heutzutage ist das Mattenenglisch ausgestorben, es gibt jedoch Vereine und Stammtische, die es als eine Art Spiel pflegen. 5.3 Bosco Gurin Um einen ganz anderen Fall handelt es sich bei der Sprache von Bosco Gurin, dem so genannten Ggurijnartitsch (Gurinerdeutsch): Infolge der spätmittelalterlichen Walserwanderungen von Walliser Bauern nach Süden gibt es heute nicht nur in Norditalien, sondern auch im Tessin noch eine kleine Siedlung, in der ein schweizerdeutschbasierter Dialekt gesprochen wird, Bosco Gurin (gurinerdeutsch Ggurin [ku'ri ɲ ]), in einem Seitental des Maggiatals auf gut 1500 Meter gelegen. Das Tessin ist aber offiziell ein einsprachig italienischer Kanton, in dem das Gurinerdeutsche keinen amtlichen Status hat. In früheren Zeiten, als die Gemeinde noch grösser war, gab es verschiedene (zeitweise erfolgreiche) Versuche, Deutsch als Schulsprache zu etablieren. Das heutige Gurinerdeutsche, das in Wortschatz und Grammatik einige Archaismen, aber auch durchaus neue, oft italienischem Einfluss zuzuschreibende Wörter und Strukturen kennt, kann aufgrund der demographischen Entwicklung als äusserst bedroht angesehen werden, auch wenn die wenigen Kinder weiterhin in dieser Varietät sozialisiert werden. 2018 hat die Gemeindeversammlung eine Charta «zur Förderung der deutschen Sprache (Gurinerdeutsch und Hochdeutsch)» angenommen. Die Guriner beherrschen ausserdem Italienisch sowie den lokalen Tessiner Dialekt, manche auch Schweizerdeutsch und Standarddeutsch. Für weitere Informationen siehe Russ (2002), Bachmann und Glaser (2019), Stähli (2011). 5.4 Weitere Sprachen nach Sprecherzahlen Bei der folgenden Aufzählung weiterer in der Schweiz gesprochenen Sprachen stützen wir uns auf Zahlen des BFS (2024b), die sich auf die Angaben der «Hauptsprache» der Wohnbevölkerung über 15 Jahre beziehen (wobei das BFS Mehrfachnennungen zulässt, ► Sprachenstatistik). Auf die in Einzelkapiteln im Buch behandelten Sprachen folgen nach Sprecherzahlen die folgenden 13 Sprachen, die wir der Reihe nach kurz vorstellen: XXIV Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="25"?> Abb. 5: Weitere gesprochene Sprachen. Daten errechnet aus den Strukturerhebungen 2020 - 2022. Quelle: BFS 2024b Abb. 6 zeigt die quantitative Entwicklung der genannten Sprachen zwischen 2000 (als allerdings nur eine Sprache als Hauptsprache genannt werden konnte) und 2022: Abb. 6: Weitere gesprochene Sprachen: Entwicklung 2000 - 2022. Quelle: BFS 2024b Türkisch. Knapp 77 ’ 000 Personen der ständigen Wohnbevölkerung über 15 Jahren geben das Türkische als Hauptsprache an (Abb. 5). Damit verzeichnet es mehr als doppelt so viele Sprecher wie das Rätoromanische. Das Türkische ist in der Schweiz seit Beginn der 1960er Jahre verankert. Während die Zuwanderung aus der Türkei bis in die 1980er Jahre überwiegend wirtschaftlich bedingt war, kam es mit dem Militärputsch von 1980 zu politisch motivierter Zuwanderung. Schülerinnen und Schüler mit familiären Vorkennt- Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XXV <?page no="26"?> nissen des Türkischen können ihre Kenntnisse im Rahmen der Angebote für Heimatliche Sprache und Kultur in der Schweiz vertiefen. Nicht alle türkischstämmigen Personen haben einen ausschliesslich oder primär türkischsprachigen Hintergrund bzw. das Türkische als Sprache ihrer Familie/ Vorfahren; vielmehr brachte und bringt die Zuwanderung aus der Türkei eine weit grössere sprachliche Diversität mit sich, u. a. mit Sprechern des Kurdischen oder auch des Armenischen. Das Türkische ist eine Turksprache, die heute überwiegend in der Türkei gesprochen wird. Ausserhalb davon sind grosse türkischsprachige Gemeinschaften v. a. in Deutschland anzutreffen. Es zeichnet sich durch eine agglutinierende Struktur aus, d. h. Morpheme werden rechts an die Wortwurzel in einer festgelegten Reihenfolge angefügt. Dabei entspricht ein Morphem genau einer Bedeutung, z. B. ev-im-de (Haus-mein-Loc) ‘ in meinem Haus ’ , gör-dü-nüz mü (sehen-Pst-2pl Q) ‘ habt ihr gesehen? ’ . Charakteristisch ist zudem die sogenannte Vokalharmonie, d. h. die lautliche Angleichung der Vokale an den der Wortwurzel, z. B. gör-dü-nüz mü? (sehen-Pst-2pl Q) ‘ habt ihr gesehen? ’ vs. gel-diniz mi? (kommen-Pst-2pl Q) ‘ seid ihr gekommen? ’ oder ev-im-de (Haus-mein-Loc) ‘ in meinem Haus ’ vs. araba-m-da (Auto-mein-Loc) ‘ in meinem Auto ’ . Zur Einwanderung aus der Türkei, vgl. Romy und Kern 2022. Arabisch. Arabisch gehört zu den häufigsten 2022 als Hauptsprache genannten Nicht- Landessprachen. Dabei ist zu bedenken, dass es sich nicht um eine einheitliche Sprache der zahlreichen zur arabischen Welt gezählten Staaten von der Levante bis nach Nord- und Ostafrika handelt, sondern um viele regionale Varietäten, die durch das Hocharabische als Schriftsprache, welche nur über die Bildungsinstitutionen und entsprechenden Medienkonsum erworben wird, zusammengehalten werden. Die Muttersprache vieler Migranten und Migrantinnen bilden also nicht immer gegenseitig verständliche arabische Dialekte, was den herkunftssprachlichen Unterricht in der Schweiz erschwert. Allgemeines Kennzeichen des Arabischen, das zu den semitischen Sprachen gehört, ist, dass die Wortwurzeln, die die Grundbedeutung tragen, durch vielfältige Abwandlungen, v. a. auch der Vokale, Wortableitungen und grammatische Information vermitteln, wie etwa: k - t - b ‘ schreiben ’ , kitab ‘ Buch ’ , kataba ‘ er hat geschrieben ’ . Das Arabische wird mit einem eigenen Schriftsystem von rechts nach links geschrieben, wobei die Kurzvokale nicht verschriftet werden. Arabisch wird auch im Rahmen universitärer Studiengänge, z. B. an der Universität Zürich, angeboten. Russisch. 40 ’ 600 Sprecher in der Schweiz geben Russisch (eine ostslavische Sprache) als ihre Hauptsprache an (Abb. 5). Damit liegt das Russische knapp vor dem Rätoromanischen. Die Geschichte der russischsprachigen Migration in die Schweiz geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts, noch aus dem zaristischen Russland, zurück. Diese Migration hat massgeblich Anstoss für die Etablierung der Slavistik an schweizerischen Universitäten gegeben (vgl. Slavisches Seminar 2024). Heute kann Russisch dort, aber auch an Sprachenzentren und bei kommerziellen Anbietern, sowie im Rahmen des häufig kantonal organisierten herkunftssprachlichen Unterrichts, der sich an Lerner mit familiären Vorkenntnissen des Russischen richtet, gelernt werden. Russisch ist zudem eine der 10 Sprachen, in denen swissinfo.ch Informationen zu aktuellen Themen mit Bezug zur Schweiz anbietet. Sichtbar ist das Russische, das in kyrillischer Schrift geschrieben wird, XXVI Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="27"?> im öffentlichen Raum der Schweiz häufig auch in touristischen Gebieten, die kaufkräftige russischsprachige Urlauber ansprechen wollen. Im Zuge der durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 ausgelösten Fluchtbewegung hat das Russische - gesprochen von Personen ukrainischer Nationalität - im öffentlichen Raum der Schweiz an Hörbarkeit zugenommen. Ausserhalb Russlands fungiert Russisch als Erstsprache einer historisch verankerten Sprechergemeinschaft, als offizielle Amtssprache oder Lingua Franca in vielen Ländern Zentralasiens, des Kaukasus und im Baltikum, sowie in der Ukraine und in Belarus. Polnisch. Mit knapp 34 ’ 500 Personen (Abb. 5), die es als Hauptsprache angeben, liegt das Polnische bezüglich der Sprecherzahlen nur unwesentlich hinter dem Rätoromanischen. Die Zuwanderung von Polnischsprechern in die Schweiz blickt auf eine lange Geschichte zurück, die ihre Anfänge Mitte des 19. Jahrhunderts als Fluchtbewegung aus Kongresspolen nahm. Zeugnis dieser ersten Zuwanderung ist das Polenmuseum Rapperswil. In den 1940er Jahren kamen 12 ’ 500 polnische Armeeflüchtlinge bis Ende des 2. Weltkriegs als Internierte in die Schweiz. Eine Zunahme des Polnischen in der Schweiz lässt sich für die 1980er Jahre feststellen und verstärkt wieder mit der Aufnahme Polens in die EU. Mit «Nasza Gazetka» existiert seit 1973 eine Zeitschrift, die sich in erster Linie an die polnische Community in der Schweiz, aber auch darüber hinaus, richtet. Zeugnis der Lebendigkeit der polnischen Sprache und Kultur in der Schweiz sind zudem die verschiedenen Polenvereine, darunter der 1894 gegründete Verein «ZGODA» in Zürich. Das Polnische ist eine westslavische Sprache, die in Polen Amtssprache ist und neben der Schweiz auch im westdeutschen Raum eine grosse Sprechergemeinschaft hat. Sprecher mit familiären Vorkenntnissen können das Polnische im Rahmen der Angebote für Heimatliche Sprache und Kultur vertiefen; es wird zudem auch an Universitäten gelehrt, u. a. in Zürich und Bern/ Fribourg. Tamil. Tamil ist eine Sprache aus der dravidischen (nicht indoeuropäischen) Sprachfamilie, die in Südindien und v. a. in Sri Lanka gesprochen wird. Sie hat eine 2000 Jahre zurückreichende Schrifttradition mit eigenem Schriftsystem, einer Kombination aus Alphabet- und Silbenzeichen, wobei die etwa 76 Millionen Muttersprachler mündliche Formen verwenden, die sich stark vom klassischen Tamil unterscheiden und mit diesem in einer Diglossiesituation koexistieren. In der Schweiz gibt es ca. 31 ’ 919 Sprecher des Tamil (BFS 2024b), die meist als Bürgerkriegsflüchtlinge ins Land kamen: zwischen 1983 und 2009 herrschte in Sri Lanka ein bewaffneter Konflikt, dem etwa 100 ’ 000 Menschen zum Opfer fielen. Der Bürgerkrieg wurde z. T. von tamilischen Organisationen, die sich in der Schweiz etabliert hatten, mit gesteuert, bis diese verboten wurden. Eine umfassende Dokumentation des Bundesamtes für Migration (Moret et al. 2007) beschreibt die Geschichte der srilankischen Einwanderung in die Schweiz unter verschiedenen Gesichtspunkten; aktuellere demolinguistische Daten finden sich u. a. auf den Seiten des BFS. Ungarisch. Seit etwa 2010 ist die Zahl der ungarischen Staatsbürger in der Wohnbevölkerung sehr stark angestiegen, laut SEM beträgt sie Ende Mai 2024 30 ’ 583 Personen (siehe Abb. 5) davon 7 ’ 367 im Kanton Zürich. 26 ’ 353 Personen haben 2022 Ungarisch als Hauptsprache angegeben. Im Jahr 2000, in dem allerdings nur eine Sprache als Haupt- Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XXVII <?page no="28"?> sprache angegeben werden konnte, waren es 5 ’ 799 gegenüber damals 3 ’ 559, also deutlich weniger, Staatsbürgern (Abb. 6). Bereits nach der Niederschlagung des Aufstands von 1956 durch die sowjetischen Truppen waren zahlreiche Ungarn (ca. 14 ’ 000) als Flüchtlinge in die Schweiz gekommen. Angehörige dieser ersten Immigrationswelle, mehrheitlich gut Gebildete, haben sich schnell integriert und u. a. auch wichtige Positionen in Kultur, Politik und Gesellschaft eingenommen. Die Sprache wurde dabei wohl nicht konsequent weitergegeben. Heute dominieren unter den Ungarischsprachigen Arbeitsmigranten in verschiedensten Berufen, v. a. in der Deutschschweiz. Ungarisch gehört zur Gruppe der finno-ugrischen Sprachen, und wird mit lateinischer Schrift, einigen besonderen Zeichenkombinationen (vgl. Namen wie Nagy [n ɒɟ ] oder Károly [ka ː roj]) und zusätzlichen diakritischen Zeichen für Langvokale ( ő , ű ) geschrieben. Alle ungarischen Wörter werden auf der ersten Silbe betont und die Sprache kennt kein Genus. Obwohl verschiedene Universitäten gelegentlich Ungarisch-Kurse anbieten, wird es in der Schweiz nicht als Studienfach gelehrt. Niederländisch. Laut SEM 2024a waren am 31.5.2024 22 ’ 552 Personen niederländischer Staatsbürgerschaft in der Schweiz wohnhaft, die Zahl stieg seit 2008 kontinuierlich an. Dass 2022 etwas mehr Personen (23 ’ 645) Niederländisch als Hauptsprache angaben, wird darauf zurückzuführen sein, dass auch ein gewisser Teil der 15 ’ 753 belgischen Staatsbürger der flämischen Sprachgruppe angehört und ebenfalls Niederländisch als Hauptsprache angegeben hat. Die niederländischen Staatsbürger sind über die ganze Schweiz verteilt, die grösste Zahl befindet sich aber aktuell im Kanton Zürich (5 ’ 491). Es bestehen enge wirtschaftliche Verbindungen zwischen den Ländern. Das Niederländische, die drittgrösste germanische Sprache nach Englisch und Deutsch, ist eng mit dem Deutschen verwandt. Es gibt aber keine Gross- und Kleinschreibung, und in weiten Teilen der Grammatik herrscht ein im Vergleich zum Deutschen reduziertes Formensystem (nominale Kasus, Adjektivflexion, Artikel, Verbflexion). Das Niederländische wird in den Niederlanden und im flämischen Landesteil Belgiens mit einigen spezifischen nationalen Besonderheiten als Standardsprache gebraucht. Verschiedene Institutionen bieten in der Schweiz Sprachkurse an. Einzig an der Universität Zürich kann seit 1970 Niederländisch studiert werden, seit 2019 im Rahmen der germanistischen Linguistik. Im Kanton Zürich besteht ein vom niederländischen Erziehungsministerium anerkanntes Unterrichtsangebot «De Oranje Koe» für niederländische und belgische Kinder. Kurdisch. Während 2010 gut 13 ’ 000 Personen in der Schweiz Kurdisch als ihre Hauptsprache angeben, waren es 2022 fast 22 ’ 000 (Abb. 6). Ein erstes grösseres Ankommen von Sprechern einer kurdischen Varietät in der Schweiz erfolgte im Rahmen der Arbeitsmigration aus der Türkei in den 1960er Jahren, später waren in erster Linie Kriege für den Zuzug von Sprechern des Kurdischen verantwortlich. Das Kurdische zeigt sehr deutlich, wie dringend notwendig es ist, einen Blick hinter die reinen statistischen Zahlen zu werfen. Zum einen verbirgt sich das Kurdische als Sprache hinter verschiedenen Herkunftsländern (insbesondere der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien), zum anderen ist das Kurdische selbst in unterschiedliche Dialekte differenziert, die in statistischen XXVIII Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="29"?> Erhebungen unter dem Oberbegriff «Kurdisch» subsumiert werden. Die in der Schweiz hauptsächlich vertretenen Dialekte sind das nordkurdische Kurmandschi, das v. a. in der Türkei, aber auch in Syrien, Irak, Iran und Armenien verbreitet ist, und das zentralkurdische Sorani, das hauptsächlich im Irak und Iran gesprochen wird. Im Rahmenlehrplan für den Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur des Kantons Zürich sind beide Varianten vertreten. Der Unterricht erfolgt im Verein für Kurdisch-Unterricht (https: / / kurdisch.ch bzw. https: / / zimanekurdi.ch). Nicht selten sind Sprecher einer kurdischen Varietät vielsprachig, da sie meist auch die offizielle Sprache ihrer Herkunftsländer mitbringen, in denen der Gebrauch des Kurdischen häufig Beschränkungen unterworfen war und teilweise noch ist. Abhängig vom Herkunftsland ist auch die Verschriftung des Kurdischen: lateinisch (z. B. in der Türkei), arabisch (Iran) oder beides (Nordirak). Das Kurdische gehört zum iranischen Zweig der indoeuropäischen Sprachen. Rumänisch. Die rumänische Präsenz in der Schweiz hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen: gab es im Jahr 2000 noch ca. 3 ’ 000 Rumänischsprecher in der Schweiz, waren es um 2010 schon knapp 10 ’ 000 und zehn Jahre später knapp 20 ’ 000 (Abb. 6). Laut Ausländerstatistik gibt es im Mai 2024 36 ’ 086 Personen mit rumänischer und 1 ’ 045 Personen mit Staatsbürgerschaft der Republik Moldau, wobei von diesen Zahlen nicht unmittelbar auf Sprecherzahlen geschlossen werden kann: in Rumänien wird neben Rumänisch - wenn auch minderheitlich - u. a. auch Ungarisch und Deutsch gesprochen und ein Teil der Bevölkerung Moldawiens ist russischsprachig. Zudem erscheinen die eingebürgerten Personen nicht mehr in der Ausländerstatistik. Der Zuwachs in den letzten Jahren hat v. a. politische und ökonomische Gründe und ist u. a. Konsequenz der Öffnung Rumäniens und des EU-Beitritts des Landes. Aufgrund der so genannten «Ventilklausel» erhielten bis 2019 jährlich nur 996 Personen aus Rumänien eine B-Bewilligung; seit 2019 gilt Personenfreizügigkeit wie bei anderen EU-Bürgern. Die Facebook-Gruppe Români în Elve ț ia (Rumänen in der Schweiz) hat über 60 ’ 000 Mitglieder (siehe auch von Wyl 2018). Rumänisch ist Staatssprache in Rumänien und in der Republik Moldau, zudem leben rumänische Minderheiten in den angrenzenden Ländern. Von den etwa 30 Mio. Muttersprachlern lebt etwa ein Drittel im Ausland, u.a in Spanien, Frankreich, Deutschland. Rumänisch ist eine romanische Sprache, die an der Universität Zürich gelehrt wird. Es weist als balkanromanische Sprache einige Besonderheiten auf, die ansonsten nicht typisch für romanische Sprachen sind (u. a. Erhalt morphologischer Kasusunterscheidung, enklitische Artikel, zahlreiche slavische und sonstige balkanische Einflüsse v. a. im Wortschatz). Rumänisch wird in lateinischer Schrift mit einer Reihe von Diakritika geschrieben; in der Republik Moldau war es lange üblich, kyrillisch zu schreiben. Zu Sowjetzeiten wurde eine «moldauische Sprache» gefördert, die sich jedoch bis auf die Graphie kaum vom Standardrumänischen unterschied. Farsi. Das Persische oder Farsi (in Afghanistan auch Dari) wurde in der Schweiz laut Angaben des BFS (2024b) zu Beginn der 2020er Jahre von ca. 18 ’ 000 Personen gesprochen; 10 Jahre früher waren es etwa 8 ’ 000 (Abb. 6). Die Zunahme hängt vor allem mit der politischen und ökonomischen Lage im Iran und in Afghanistan zusammen. So gab es in der Schweiz im Jahr 2023 mehr als 1 ’ 500 Personen aus dem Iran und mehr als 16 ’ 000 aus Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XXIX <?page no="30"?> Afghanistan, die sich im politischen Asylprozess befanden (Abb. 7). In Afghanistan wird Dari-Persisch von ca. 32 % der Bevölkerung gesprochen (u. a. in der Hauptstadt Kabul); die grösste Sprache in Afghanistan ist Paschtu; im Iran ist Farsi als Staatssprache fast überall verbreitet, auch wenn es verschiedene weitere Sprachen gibt. Farsi ist auch offizielle Sprache in Tadschikistan und wird auch in Usbekistan gesprochen. Abb. 7: Asylgesuche aus Afghanistan 01.01.2020 bis 30.06.2024. Quelle: SEM 2024b Die starke Zunahme der afghanischen Flüchtlinge in der Schweiz steht in engem Zusammenhang mit der Machtübernahme der Taliban und der daraus folgenden Menschenrechtslage im Land. Ein Teil der Iraner in der Schweiz gehört der christlichen Minderheit an und ist aus religiösen Gründen aus dem islamistischen Land geflohen. Dabei sind die Iraner in der Schweiz keine geschlossene Gemeinschaft. Die Schweiz unterhält auch Handelsbeziehungen zum rohstoffreichen Land Iran und verfolgt das Motto «Wandel durch Handel». Daneben nimmt die Schweiz eine Vermittlerrolle zwischen dem Iran und dem Westen ein. In der Schweiz haben sich verschiedene regimekritische Grupen etabliert, die meist auf Farsi kommunizieren. Verschiedene lokale Radioprogramme in Basel und Zürich senden Programme auf Farsi. Farsi ist eine indoeuropäische Sprache (iranischer Zweig), die von 60 - 70 Mio. Personen als Ersterwerbssprache und von weiteren ca. 50 Mio. Personen als Zweitsprache gesprochen wird. Sie wird in einer angepassten Form der arabischen Schrift geschrieben; in Tadschikistan herrscht eine kyrillische Schreibtradition vor. Zwischen der neupersischen Standardsprache und den gesprochenen Dialekten gibt es teils grössere Unterschiede, dennoch ist die Verständigung auch zwischen Personen verschiedener Herkunft gut möglich. Der Wortschatz des Farsi weist zahlreiche Lehnelemente des Arabischen auf. Farsi wird in der Schweiz an verschiedenen Sprachschulen (u. a. Migros Clubschule) unterrichtet. Tigrinya. Tigrinya gehört zu den südsemitischen Sprachen, es wird mit einer für die Region typischen Silbenschrift von links nach rechts geschrieben. Tigrinya wird ausser in Eritrea, wo es die Mehrheitssprache ist und auch im öffentlichen Verkehr verwendet wird, v. a. auch in Tigray (Nordäthiopien) gesprochen. Tigrinya hatte in der wechselvollen jüngeren Geschichte lange um seine Anerkennung gerungen. Tigrinyasprachige sind in einer ersten Welle während des eritreischen Befreiungskampfes in die Schweiz geflohen, XXX Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="31"?> in den letzten Jahren sind die Zahlen der Asylsuchenden, die vor dem jetzigen eritreischen Regime fliehen, erneut stark angestiegen. Eritreer stellten 2023 die grösste Gruppe unter den anerkannten Flüchtlingen dar, wobei Tigrinyasprecher unter ihnen vermutlich einen hohen Anteil einnehmen. 17 ’ 664 Personen haben 2022 Tigrinya als Hauptsprache angegeben. Auch ein Grossteil der seit 2018 stark angestiegenen Zahl an Kindern mit eritreischer Staatsangehörigkeit dürfte tigrinyasprachig sein. Tigrinya gehört zu den 14 Sprachen, in denen das Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich Informationen zum Schulsystem und zu Veranstaltungen verbreitet sowie zu den 19 Sprachen, in denen das Schweizerische Rote Kreuz das Gesundheitssystem der Schweiz darstellt. Tigrinya weist entsprechend der wechselvollen politischen Geschichte der Region in seinem Wortschatz viele Entlehnungen auf, aus dem Arabischen und Englischen sowie aufgrund der Kolonialgeschichte in bestimmten Bereichen auch aus dem Italienischen. Chinesisch. In der Schweiz waren am 31.5.2024 20 ’ 637 chinesische Staatsbürger registriert; hinzu kommen 1 ’ 145 Taiwanesen (SEM 2024a). Aufgrund der demolinguistischen Verhältnisse in China ist darauf zu schliessen, dass die Mehrheit der in der Schweiz lebenden Chinesen Mandarin spricht; darüber hinaus gibt es sicherlich eine gewisse Präsenz anderer Varietäten (v. a. Kantonesisch) und Sprachen (u. a. Uigurisch). Den Daten des BFS (2024b) zufolge nahm die Zahl der chinesisch Sprechenden zwischen 2012 und 2022 von 11 ’ 700 auf 17 ’ 000 zu (siehe auch Lüscher 2017). Darüber hinaus gibt es eine unbekannte Zahl von eingebürgerten Personen chinesischer Herkunft. Etwa 1 ’ 000 Personen aus China geniessen in der Schweiz politisches Asyl. Mehr als die Hälfte der Chinesen lebt in den Kantonen Zürich, Genf und Waadt. Die grösste chinesische Gemeinschaft (mehr als 4 ’ 000 Personen) lebt in Zürich. An der ETH Zürich studieren derzeit mehr als 700 chinesische Studierende auf Masterstufe, 2012 waren es noch 144. Dabei gibt es in den letzten Jahren vermehrt Diskussionen über die Frage des Wissenstransfers und insbesondere den illegalen Export sensibler Informationen. Im Bereich des Tourismus in der Schweiz spielt der chinesische Anteil eine wichtige Rolle und hat ein enormes Wachstumspotenzial. Zwischen 2009 und 2019 stieg die Zahl der chinesischen Touristen um 389.8 %; sie liegen inzwischen an dritter Stelle der ausländischen Touristen und haben 2019 einen Umsatz von mehr als 700 Mio CHF generiert (wobei die Pandemie hier zu einem Einbruch führte, der erst langsam wieder überwunden wurde). Dies hat auch sprachliche Konsequenzen: an beliebten Reisezielen wie in Zürich oder Luzern werden mehr und mehr Informationen auf Chinesisch gegeben. Es führt auch zu einer grösseren Visibilität chinesischer Schriftzeichen im öffentlichen Raum nicht nur mit dekorativem, sondern auch mit funktionalem Charakter. Die chinesische Han-Schrift repräsentiert Silbenzeichen; die Silbe als morphematische Bedeutungseinheit ist die tragende Säule des isolierenden chinesischen Sprachsystems. Griechisch. Neugriechisch hat in der Nachfolge des Altgriechischen als traditioneller Bildungssprache eine lange kulturelle Präsenz in Westeuropa, auch in der Schweiz. Buchstaben des griechischen Alphabets sind z. B. aus Wissenschaft und Technik allgemein bekannt. Andererseits haben bereits zur Zeit des Osmanischen Reiches Griechen, die das Land verliessen, aufgrund politischer und kultureller Beziehungen die Schweiz als Ein- Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band XXXI <?page no="32"?> wanderungsland gewählt. 1821 wurde in Bern die erste philhellenische Organisation gegründet. Während der Militärdiktatur in Griechenland kamen neu Asylsuchende in die Schweiz. Immer wieder liessen sich auch vermögende Reeder- und Unternehmerfamilien v. a. im Berner Oberland und in der Westschweiz nieder. Im Zuge der Einführung der Personenfreizügigkeit und nach der griechischen Wirtschaftskrise ist die Zahl griechischer Staatsbürger, die lange bei ca. 9 ’ 000 Personen lag, wieder kontinuierlich angestiegen. Momentan (Stichtag 31.5.24, SEM 2024a) leben 20 ’ 967 Personen mit griechischer Staatsangehörigkeit in der Schweiz, davon allein 8 ’ 737 im Kanton Zürich; es ist zu vermuten, dass die meisten von ihnen, auch wenn sie Sprachminderheiten angehören, griechischsprachig sind. Sie sind heute in den verschiedensten Berufen anzutreffen. Seit 2007 wächst der Anteil der Griechinnen und Griechen z. B. an der ETH signifikant (etwa 200 bis 250 Studenten pro Jahr), hauptsächlich in den Ingenieur- und in den Naturwissenschaften. 2022 haben 17 ’ 110 Personen angegeben, Griechisch sei ihre Hauptsprache. Dass in der Volkszählung von 2000 nur 4 ’ 476 Personen Griechisch als Hauptsprache angaben, dürfte v. a. darauf zurückzuführen sein, dass in der Schweiz Geborene die Sprache zugunsten einer Landessprache mehr oder weniger aufgegeben hatten, was sich gerade angesichts der damaligen Praxis der Volksbefragungen nach nur einer Hauptsprache zuungunsten der Angabe des Gebrauchs der Herkunftssprache ausgewirkt haben dürfte. Becker (2022: 217) berichtet von einem privat organisierten Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur, dass manche Schüler aus der zweiten oder dritten Generation ansonsten nur wenig Kontakt mit der Sprache hätten. Dabei seien die vom griechischen Erziehungsministerium erstellten Unterlagen veraltet. Insgesamt erscheint das Griechische in der Schweiz nicht deutlich territorial verankert zu sein. In der Stadt Zürich ist Griechisch 2022 aber nach den Landessprachen eine der am häufigsten als Hauptsprache angegebene Sprache (3 ’ 380 Nennungen), hier ist auch der «Verein Griechischer Akademiker in der Schweiz» zu Hause. In Zürich gibt es mehrere von der Botschaft unterstützte griechische Schulen mit Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur. An einzelnen Universitäten wird Neugriechisch meist im Kontext der altphilologischen Fächer gelehrt. Weitere Sprachen. Laut BFS (2024b) folgen auf das Griechische nach Sprecherzahlen die folgenden Sprachen: Slowakisch (16 ’ 977), Mazedonisch (15 ’ 353), Thai (14 ’ 870), Tschechisch (12 ’ 615), Schwedisch (8 ’ 786), Vietnamesisch (7 ’ 422), Bulgarisch (7 ’ 230), Tagalog (6 ’ 459), Japanisch (6 ’ 523), Slowenisch (4 ’ 906), Tibetisch (4 ’ 517), Finnisch (4 ’ 369), Somali (4 ’ 142), Dänisch (4 ’ 132), Hindi (4 ’ 018), Amharisch (3 ’ 356), Hebräisch (2 ’ 732), Urdu (2 ’ 651), andere Sprachen (48 ’ 619). 6 Schluss Zum Abschluss noch einige redaktionelle Bemerkungen. In den Beiträgen finden sich zahlreiche Querverweise auf andere Beiträge in diesem und im 2. Band, dennoch ist jeder Beitrag ein eigenständiger, inhaltlich abgeschlossener Text und das Buch kann sowohl als Gesamtheit gelesen werden als auch auf einzelne Beiträge beschränkt. Es wurde versucht, mit Literaturverweisen im Text sparsam umzugehen; am Ende eines jeden Abschnittes finden sich kleine Absätze mit kommentierten bibliographischen Angaben, die jeweils auf XXXII Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser <?page no="33"?> die Bibliographie am Ende des Beitrages verweisen, wo auch die meisten Hyperlinks angegeben sind. Ein Glossar am Ende des ersten Bandes erklärt einige ausgewählte Fachbegriffe: der Band richtet sich ausser an ein Fachpublikum auch an die breitere interessierte Öffentlichkeit. Da uns allgemein an Vielfalt gelegen ist, wollten wir nicht in die unterschiedlichen Optionen der sprachlichen Geschlechterrepräsentation in den einzelnen Beiträgen eingreifen. Diese sind daher individuell verschieden, genauso wie die Schreibstile. Bei den Glossierungen wurde ein relativ einheitliches System verwendet; bei den phonetischen Umschriften wurde meist nach dem internationalen phonetischen Alphabet (API) transkribiert, doch wurden auch hier verschiedene Systeme akzeptiert, die bestimmten Wissenschaftstraditionen geschuldet sind, etwa die in der deutschen Dialektologie verbreitete orthographienahe Umschrift nach Dieth ( ► Deutsch). Dieses Handbuch eröffnet zahlreiche Perspektiven im Blick auf die Sprachenvielfalt der Schweiz; einige der Aspekte werden in Band 2 vertieft und weiter ausgeführt. Für das Herausgeberteam ist es eine grosse Freude, all die hier gesammelten Informationen nun der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Ein vergleichbares Handbuch mit einem vergleichbar umfassenden Einblick in die Sprachenlandschaften der Schweiz gibt es nicht. Gleichzeitig ist das Handbuch für uns auch wie ein grosses sich öffnendes Tor: viele Fragen wie die der inneren Vielfalt der verschiedenen Sprachen, ihrer multiplen Kontaktsituationen und ihrer dynamischen Weitergabe zwischen Erhalt und Verlust konnten hier nur angerissen werden und rufen nach umfassender weiterer Bearbeitung. Insofern ist dieses Buch auch die Ermunterung, weitere Untersuchungen folgen zu lassen, so dass man vielleicht in 20 Jahren auf den Band als einen weiteren Schritt hin zur besseren Kenntnis der vielsprachigen Schweiz zurückblicken wird. Das Handbuch wäre nicht ohne die Mitarbeit der einzelnen Autorinnen und Autoren zustande gekommen, ihnen gilt unser allererster Dank! Darüber hinaus danken wir Sven Bachmann, Yoselin Henriques Pestana und Senta Zeugin für die effiziente Mithilfe bei der Manuskriptgestaltung. Einer Reihe weiterer Personen sei hier pauschal für verschiedene hilfreiche Hinweise zu einzelnen Kapiteln und Themen gedankt. Dem Bundesamt für Statistik danken wir für wertvolle Informationen und hilfsbereite Unterstützung. Dem Gunter Narr Verlag, Herrn Gunter Narr und insbesondere Frau Kathrin Heyng danken wir für die kompetente verlegerische Betreuung. Für finanzielle Unterstützung danken wir der Stiftung EMPIRIS (Jakob Wüest Fonds), dem Slavischen Seminar der UZH und dem UFSP Sprache und Raum an der Universität Zürich. Bibliografie Arbeitsgruppe (2023) = Arbeitsgruppe Jenische-Sinti-Roma, in Zusammenarbeit mit der PHZH (Hg.) (2023). Jenische, Sinti, Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz. Ein rassismuskritisches Lehrmittel. Zürich: Münster Verlag. Abrufbar unter https: / / www.set.ch/ jenische-sinti-roma/ (Stand: 10.08.2024) Aschwanden Erich / Gerny, Daniel (2024). Englisch wird zur zweiten Landessprache - mit Konsequenzen in fast allen Lebensbereichen. NZZ vom 05.02.2024. 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Russisch, Polnisch, Tschechisch, Kroatisch, Bulgarisch) sowie das Albanische und das Griechische, die je einen eigenständigen Zweig bilden. All diese Sprachen gehen auf eine gemeinsame Grundsprache zurück, die man Urindogermanisch nennt. Wo die Sprecher dieser Grundsprache geographisch anzusiedeln sind, wo sich also die sogenannte Urheimat der Indogermanen befindet, war lange Zeit eine sehr umstrittene Frage ohne allgemein anerkannte Lösung. Prominent wurde die sogenannte Kurgan-Hypothese, die ursprünglich von Marija Gimbutas formuliert wurde. Die Kurgan-Kultur (auch Jamnaja-Kultur, engl. Yamnaya) ist eine spätsteinzeitlich-kupferzeitliche Kultur (ab ca. 3400 v. Chr.) in den Steppen nördlich und nordöstlich des Schwarzen Meeres, die durch charakteristische Grabhügel (russ. kurgan) gekennzeichnet ist. Ihre Träger wurden von Gimbutas und anderen mit den Sprechern der indogermanischen Grundsprache identifiziert. Eine neue These geht dagegen davon aus, dass die Sprache der Träger der Jamnaja- Kultur nicht der gemeinsame Vorfahre aller indogermanischen Sprachzweige war, sondern nur eine Zwischenstufe. Das eigentliche Urindogermanische wäre demnach früher (um 6000 v. Chr.) südlich des Kaukasus anzusiedeln, und Sprecher der Vorläufersprachen des Griechischen und Albanischen wären nicht über die Steppe, sondern über Anatolien nach Europa eingewandert. Für das Baltische, Slavische, Germanische, Keltische und Italische wurde die Kurgan-Hypothese hingegen durch Erkenntnisse aus der Genetik bestätigt. So konnten deutliche Übereinstimmungen (ca. 75 %) im genetischen Material der Träger der Jamnaja-Kultur einerseits und der mitteleuropäischen schnurkeramischen Kultur (ab ca. 2800 v. Chr.) andererseits nachgewiesen werden. Deren Verbreitungsgebiet streift die Schweiz allerdings nur im äussersten Nordosten. Die Träger der schnurkeramischen Kultur sprachen wohl eine Sprache, die als Vorläufer der germanischen Sprachen gelten kann. Westlich und südlich dieses Raums findet sich etwa gleichzeitig, d. h. ab ca. 2800/ 2700 v. Chr., die Glockenbecherkultur, deren Fundgebiet sich bis nach Grossbritannien erstreckt und auch die Schweiz umfasst. Auch für die Träger dieser Kultur ist inzwischen eine Übereinstimmung von ca. 90 % mit genetischem Material aus der Jamnaja-Kultur erwiesen. <?page no="38"?> Auch sie ist demnach stark von Einwanderern aus der Steppe geprägt. Es ist zu vermuten, dass die Sprache ihrer Träger ein Vorläufer der keltischen und italischen Sprachen war. Die Steppenvölker der Jamnaja-Kultur brachten nicht nur ihr genetisches Erbe und kulturelle Errungenschaften wie Pferd und Wagen mit nach Europa, sondern auch ihre Sprache, die sich gegenüber jenen Idiomen, die davor hier gesprochen wurden, schliesslich fast ganz durchsetzte. Einzig das Baskische hat als vorindogermanische Sprache bis heute überlebt. In der Antike sind allerdings noch andere vorindogermanische Sprachen inschriftlich bezeugt, so zum Beispiel das Etruskische in Oberitalien und das Rätische im östlichen Alpenraum. Ein Überblick über die Theorien zur Urheimat der Indogermanen bei Mallory 1989: 143 - 185. Zur Kurgan-Hypothese z. B. Gimbutas 1992; Mallory 1989; Anthony 2007. Neuere genetische Forschung in Haak et al. 2015, Olalde et al. 2018 und Heggarty et al. 2023, zusammengefasst bei Vath 2022: 473 f. 2 Reste vorindogermanischer Sprachen: Rätisch 2.1 Die rätischen Inschriften und ihre geographische Verbreitung Die Räter sind als Alpenvolk bei verschiedenen antiken Schriftstellern erwähnt und waren später für die römische Provinz Raetia namengebend. Ob es sich dabei um eines oder mehrere Völker handelte und wo die Räter geographisch genau anzusiedeln sind, wird bis heute kontrovers diskutiert und wird sich wohl mangels entsprechender Quellen nie endgültig entscheiden lassen. Nach ihnen benannt ist eine Gruppe vorrömischer Inschriften, deren geographische Verbreitung das Trentino, Südtirol, Nordtirol, das nördliche Veneto sowie das Unterengadin umfasst und die im Alphabet von Sanzeno (auch Alphabet von Bozen genannt) verfasst sind. Dieser geographische Raum deckt sich recht genau mit jenem der archäologisch definierten Fritzens-Sanzeno-Kultur, die in die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends vor Christus zu datieren ist und bis zur römischen Eroberung (16/ 15 v. Chr.) Bestand hatte. Abb. 1: Fundorte der Inschriften im Alphabet von Sanzeno, © Schumacher et al. 2016 (Zeichnerin Corinna Salomon) 2 Karin Stüber <?page no="39"?> Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ist bisher eine Inschrift bekannt, die sich anhand des Alphabets als rätisch definieren lässt. Es handelt sich um eine Tonscherbe, die in Ardez im Unterengadin gefunden wurde. Sie besteht lediglich aus zwei Buchstaben, was eine sprachliche Einordnung natürlich unmöglich macht. Archäologische und epigraphische Merkmale sprechen aber für eine Zugehörigkeit zur rätischen Gruppe, so dass davon auszugehen ist, dass auch die Sprache der Inschrift mit jener der übrigen Vertreter der Gruppe identisch war. 2.2 Die rätische Sprache Es wird heute davon ausgegangen, dass die rätischen Inschriften Zeugnisse einer einzigen Sprache sind, die somit auch im Unterengadin einst gesprochen wurde. Inzwischen gilt als erwiesen, dass diese Sprache eng mit dem nicht-indogermanischen Etruskischen verwandt ist. Übereinstimmungen gibt es im Wortschatz, so entspricht rät. eluku dem etruskischen ilucu, als Bedeutung wurde ‘ Opfer ’ vermutet. Eine weitere Gleichung bilden rät. s φ ura* (belegt nur in der Form des Genitivs s φ uras) und etrusk. spura ‘ Stadt, Gemeinde ’ . Wichtiger für die Frage der sprachlichen Verwandtschaft ist, dass sich auch in der Morphologie Parallelen finden, so das Suffix -ku/ -qu (etrusk. aliqu ‘ Geschenk ’ zu alice ‘ schenkte ’ ) und die Endungen le und si, die meist an Personennamen treten und entweder die handelnde Person oder den Adressaten kennzeichnen. Es gibt jedoch auch deutliche Unterschiede zwischen Rätisch und Etruskisch, so dass davon auszugehen ist, dass es sich um zwei verwandte, aber doch verschiedene Sprachen handelt. Es waren wohl Schwestersprachen, die zu einer früh ausgestorbenen Sprachfamilie des Mittelmeerraums gehörten, zu der sich als drittes noch das Lemnische als Sprache einiger auf der Ägäisinsel Lemnos gefundenen Inschriften gesellt. Die Inschrift von Ardez ist somit bis heute der einzige klare Hinweis darauf, dass auch auf dem geographischen Gebiet der Schweiz in vorhistorischer Zeit ein nicht-indogermanisches Idiom gesprochen wurde. Ob das Verbreitungsgebiet dieser Sprache sich auf das Unterengadin beschränkte oder allenfalls noch weitere Teile der Bündner Alpen umfasste, muss mangels entsprechender Zeugnisse offen bleiben. Weitere Informationen zum Rätischen bieten Rix 1998; Schumacher 1998, 2004. Eine aktualisierte Sammlung der Inschriften findet sich bei Schumacher et al. 2016. 3 Keltisch Keltisch ist im Grundsatz ein sprachwissenschaftlicher Begriff. Die keltischen Sprachen gehören zur indogermanischen Sprachfamilie (siehe Abschnitt 1), ihre Sprecher werden als Kelten bezeichnet. Diese werden aber oft auch mit einer archäologischen Grösse in Zusammenhang gebracht, nämlich mit der La-Tène-Kultur, die nach einer Siedlung am Neuenburger See benannt ist und in den letzten fünf Jahrhunderten v. Chr. blühte. Die La- Tène-Kultur breitete sich in verschiedene Richtungen aus, einerseits nach Westen, nach dem heutigen Frankreich und Belgien, andererseits aber auch nach Südosten bis ans Schwarze Meer. Diese archäologisch nachweisbaren Expansionen stimmen in groben Zügen mit dem überein, was antike Autoren über die Wanderungen der Kelten berichten. Über die Sprache der östlichen keltischen Stämme ist wenig bekannt; einzige Überreste sind einige Orts- und Personennamen. Weiter westlich steht es in dieser Hinsicht besser. Sprachliche Vorgeschichte 3 <?page no="40"?> In Oberitalien finden wir in früher Zeit das Volk der Lepontier, später dann die besser bekannten Gallier. Gallier sind auch diejenigen Stämme, die im Westen in Frankreich und Belgien siedelten. Von der Sprache der Lepontier und Gallier zeugen zumindest einzelne Inschriften. Früh gelangten Kelten auch auf die iberische Halbinsel, nachweisbar sind sie dort seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert. Auch diese Stämme, die Keltiberer, hinterliessen inschriftliche Zeugnisse. Diese festlandkeltischen Sprachen sind alle sehr lückenhaft überliefert, die uns erhaltenen Inschriften sind meist kurz oder aber schwer verständlich. Ein Gesamtbild der Grammatik oder des Lexikons lässt sich aus ihnen nicht gewinnen, man spricht von Trümmersprachen. Auf den Britischen Inseln lassen sich Sprecher eines indogermanischen Idioms, das als Vorläufer des Keltischen gelten kann, archäologisch und genetisch bereits seit 2800/ 2700 v. Chr. nachweisen (siehe Abschnitt 1). Seit dem frühen Mittelalter ist dort eine ganze Reihe keltischer Sprachen bezeugt, die zum Teil bis heute gesprochen werden. Man fasst sie unter dem Begriff der inselkeltischen Sprachen zusammen und unterteilt sie in zwei Untergruppen: die goidelische und die britannische. Zur goidelischen gehören Irisch- Gälisch, Schottisch-Gälisch und das im 20. Jahrhundert ausgestorbene Manx auf der Isle of Man. Die britannische Gruppe besteht aus dem Walisischen (Kymrischen) in Wales, dem Kornischen, das in Cornwall gesprochen wurde, heute aber ausgestorben ist, sowie dem Bretonischen. Die Bretonen waren ursprünglich im Süden Grossbritanniens beheimatet, wichen dann aber unter Druck der Angeln und Sachsen in die Bretagne aus. Das keltische Sprachgebiet war also sehr ausgedehnt und umfasste auch die heutige Schweiz. Südlich davon sind die italischen Sprachen anzusiedeln, deren prominentester Vertreter das Latein ist, nördlich davon die germanischen Sprachen. Dagegen ist davon auszugehen, dass es nach Westen und Osten keine festen Sprachgrenzen gab, sondern weit über die Grenzen der heutigen Schweiz hinaus Keltisch gesprochen wurde. 3.1 Keltisch südlich der Alpen: Lepontisch Der römische Autor Titus Livius berichtet, dass in Oberitalien und auf dem Gebiet des heutigen Tessin bereits vor der grossen gallischen Invasion um ca. 400 v. Chr. Kelten lebten. Archäologisch gesehen findet man ab ca. 700 v. Chr. in dieser Region Zeugnisse für eine blühende Kultur, die vor allem vom Handel über die Alpen gelebt haben dürfte. Die Bandbreite der gefundenen Handelsware reicht von griechischer Keramik bis zu Bernstein aus dem Baltikum. Man spricht von der Golasecca-Kultur, die ab der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. von der La-Tène-Kultur überlagert wird, was die gallische Invasion in die Po- Ebene reflektieren dürfte. Die Träger der Golasecca-Kultur werden mit dem Stamm der Lepontier identifiziert, die bei antiken Autoren als Alpenbewohner genannt werden. Laut dem antiken Geschichtsschreiber Strabon sind sie nordwestlich von Como anzusiedeln. Erwähnt werden sie auch von Caesar (De bello Gallico IV 10.3): Rhenus autem oritur ex Lepontiis qui Alpes incolunt … ‘ Der Rhein aber entspringt bei den Lepontiern, welche die Alpen bewohnen …’ Gemeint ist wohl der Hinterrhein, denn man weiss, dass die Route Splügenpass - Viamala-Schlucht - Domleschg schon sehr früh begangen war. Ob allerdings tatsächlich auch nördlich der 4 Karin Stüber <?page no="41"?> Wasserscheide mit dauerhaften lepontischen Siedlungen zu rechnen ist, muss mangels Belegen offen bleiben. 1 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist wesentlich, dass die Lepontier Inschriften hinterlassen haben, deren älteste aus dem 6. Jh. v. Chr. stammen. Es handelt sich hierbei um die ältesten Zeugnisse in keltischer Sprache überhaupt. Bekannt sind bis heute ca. 60 Inschriften, die mit einiger Gewissheit als lepontisch identifiziert werden können. Dazu kommt eine grössere Zahl von Texten, die nur fragmentarisch überliefert sind und daher nicht mit Sicherheit dem Lepontischen oder dem cisalpinischen Gallischen zugewiesen werden können, die aber wohl ebenfalls zumindest als keltisch anzusprechen sind. Unter den längeren Texten sind vor allem Grabinschriften, Weihinschriften und Vaseninschriften vertreten; verfasst sind sie im Alphabet von Lugano, das dem etruskischen Alphabet ähnlich ist, weshalb diese Inschriften in der älteren französischsprachigen Literatur «gallo-étrusque» genannt werden. Das Fundgebiet liegt in einem Umkreis von etwa 50 Kilometern um Lugano herum, umfasst also das heutige Tessin sowie das bündnerische Misox. Abb. 2: Fundorte der lepontischen Inschriften nach Lejeune 1988: 5 1 Eine angebliche lepontische Inschrift aus Präz am Heinzenberg im Domleschg erwies sich leider als Chimäre, siehe Salomon (2009). Sprachliche Vorgeschichte 5 <?page no="42"?> Der Name der Leventina, der in einer frühmittelalterlichen geographischen Abhandlung aus Ravenna als Lebontia erscheint, reflektiert bis heute den Namen der Lepontier. Der Name selbst enthält keltisches Sprachgut: Er gehört zur indogermanischen Wurzel * lei ̯ kᵘ ̯ ‘ verlassen ’ , die beispielsweise in lateinisch linquere oder griechisch leíp ō steckt. Die Form *l ē pontii ̯ ozeigt zwei Besonderheiten: Erstens erscheint der Diphthong *ei ̯ als ē , zweitens der Labiovelar * kᵘ ̯ als p. Beim Wandel *ei ̯ > ē handelt es sich um ein urkeltisches Lautgesetz, das also für alle keltischen Sprachen gilt. Der Wandel * kᵘ ̯ > p dagegen findet sich nur bei einem Teil der keltischen Sprachen, den sogenannten p-keltischen Sprachen, zu denen auch das Gallische gehört. Der Name passt auch semantisch sehr gut: die Lepontier, die ‘ Verlassenden ’ oder ‘ Wegziehenden ’ , sind diejenigen Kelten, welche früh die übrigen Stämme Richtung Süden verliessen. Aber nicht nur der Name der Lepontier ist keltisch, sondern auch die Sprache ihrer Inschriften. Die keltischen Sprachen zeichnen sich durch gewisse lautliche Besonderheiten aus, die sie von allen anderen Sprachgruppen abheben. Typisch ist beispielsweise, dass ein ō in letzten Silben zu ū geworden ist. Dies bedeutet, dass etwa die Endung des Dativs Singular der o-Stämme, idg. * -ō i ̯ , die im Lateinischen -ō lautet oder im Griechischen -ō i ̯ , im Keltischen zu -ū i ̯ geworden ist. Belegt ist das sowohl im Gallischen als auch im Keltiberischen. Wenn also eine Sprache einen Dativ Singular auf -ū i ̯ aufweist, dann ist das ein Merkmal, das sie eindeutig als keltisch erweist. Im Lepontischen findet sich eine ganze Reihe von Formen auf ui, die als Dative interpretiert werden können. Der Dativ ist ein häufiger Kasus auf Weihinschriften und Grabinschriften, das Wort im Dativ bezeichnet die Gottheit, der man etwas weiht, oder die verstorbene Person, für die man einen Grabstein aufstellt. So lautet eine Grabinschrift aus dem späten 5. oder frühen 4. Jh. v. Chr. aus Mezzovico-Vira (TI-27.1): kua ś oni : pala : terialui. Das Substantiv pala bedeutet ‘ Grabstein, Grabstele ’ , die anderen beiden Wörter sind Bestandteile des Namens des Verstorbenen. Sein Individualname lautete Kuasu (im Dativ Kuasoni). Bei terialui handelt es sich um ein patronymisches Adjektiv, also ein Adjektiv, das vom Namen des Vaters abgeleitet ist und anstelle eines Genitivs steht. Der Dativ terialui bedeutet also ‘ dem Sohn des Derios ’ . 2 Die Namenformel mit patronymischem Adjektiv ist für das Lepontische typisch, ebenso das Suffix alozu dessen Bildung. Beides findet sich gleich zweimal auf einer doppelten Grabstele aus Davesco (TI 36-1 und 36-2), die wohl für ein Ehepaar aufgestellt wurde: slaniai uerkalai pala. tisiui piuotialui pala. ‘ Grabstein für Slania, Tochter des Verkos. Grabstein für Tisios, Sohn des Pivotios ’ . Es lässt sich also festhalten, dass in der Südschweiz in der Frühzeit eine keltische Sprache, nämlich das Lepontische, gesprochen wurde. Eventuell wurde es später vom cisalpinischen Gallischen überlagert, doch finden sich sicher als gallisch zu identifizierende Inschriften nur etwas weiter südlich jenseits der heutigen Grenze zu Italien. Mit der römischen Eroberung ab 225 v. Chr. und der Eingliederung ins römische Reich wurden keltische Idiome hier bald verdrängt. 2 Das Alphabet von Lugano - ebenso wie das etruskische Alphabet - unterscheidet nicht zwischen den stimmlosen Verschlusslauten p, t, k und den stimmhaften b, d, g, daher wird der Name Derios mit t geschrieben. 6 Karin Stüber <?page no="43"?> 3.2 Keltisch nördlich der Alpen: Gallisch Das Gebiet der Schweiz nördlich der Alpen war in vorrömischer Zeit ebenfalls von Kelten besiedelt, nämlich von gallischen Stämmen. Einen grossen Teil des Mittellandes vom Genfersee bis an den Bodensee nahmen die Helvetier ein, von denen Caesar in seinem De bello Gallico ausführlich berichtet. Der Stammesname wurde in der Neuzeit wieder aufgegriffen, zunächst durch den Namen der Helvetischen Republik 1798, später bei der Gründung des Bundesstaates 1848, indem neben den Bezeichnungen in den vier Landessprachen der lateinische Name Confoederatio Helvetica als Staatsbezeichnung eingeführt wurde, der sich bis heute gehalten hat. Neben den Helvetiern gab es im Gebiet der Schweiz noch andere gallische Stämme, deren bekanntester jener der Rauraker in der Region des heutigen Basel und Jura ist. 3.2.1 Inschriften Die gallische Sprache ist hauptsächlich durch zahlreiche Inschriften aus Frankreich bekannt. Die ältesten von ihnen, geschrieben im griechischen Alphabet, stammen aus dem 3. Jh. v. Chr. Nach der Eroberung Galliens durch die Römer begann man, im lateinischen Alphabet zu schreiben, und Inschriften in lateinischem Alphabet, aber gallischer Sprache finden sich bis ins 4. Jh. n. Chr. Auf dem Gebiet der Schweiz sind direkte inschriftliche Zeugnisse allerdings rar. Schon länger bekannt war ein Schwert, das man in Port südlich von Biel in einem Fluss gefunden hatte und das als Weihgabe aus der La-Tène-Zeit gilt. Darauf steht der Name des Schmieds in griechischen Buchstaben: Korisios. Allerdings ist zu bedenken, dass ein Schwert nicht am Fundort hergestellt worden sein muss, sondern durch Handel in den Kanton Bern gelangt sein könnte. Um so wichtiger war daher ein Fund, der Anfang der 1980er Jahre in Bern gemacht wurde, genauer im Thormannbodenwald auf der Engehalbinsel, also nördlich des heutigen Stadtzentrums. Es handelt sich dabei um ein ca. 7 cm mal 9 cm grosses, in drei Teile zerbrochenes Täfelchen aus Zink mit einer vierzeiligen Inschrift im griechischen Alphabet. Der Text besteht aus vier Wörtern, die je eine eigene Zeile einnehmen: in lateinischer Umschrift Δ OBNO Ρ H Δ O DOBNOREDO Γ OBANO GOBANO B Ρ ENO ΔΩΡ BRENODOR NANTA ΡΩΡ NANTAROR Für die Interpretation des Textes ist die zweite Zeile entscheidend, denn inzwischen weiss man, dass es sich bei Gobannos um eine gallische Gottheit handelt, die im Namen das keltische Wort für ‘ Schmied ’ , *gobann- (altirisch gobae), enthält. Damit ist der Text eindeutig als Weihinschrift zu identifizieren. Die ersten beiden Zeilen stehen wohl im Dativ, wobei dobnoredo mit ‘ der die Welt durchfährt ’ übersetzt werden kann und als Beiwort zum Götternamen Gobanno zu deuten ist. In Brenodor auf der dritten Zeile der Inschrift liegt eine Ortsbezeichnung vor, nämlich entweder der Ortsname selbst oder die Bezeichnung seiner Bewohner. Dass dies nicht mit Gewissheit festgestellt werden kann, hat seinen Grund darin, dass es sich bei Brenodor um eine Abkürzung handelt. Zugrunde liegt ein Ortsname *Brenoduron, doch bleibt unsicher, Sprachliche Vorgeschichte 7 <?page no="44"?> ob Brenodor für eine Kasusform dieses Ortsnamens steht, oder ob noch ein weiteres Suffix zu ergänzen und ‘ die Brenodurier, die Bewohner von Brenoduron ’ zu verstehen ist. Dass es sich bei *Brenoduron um einen Ortsnamen handelt, lässt sich aus dem Hinterglied des komponierten Namens schliessen. duron bzw. latinisiert durum findet sich häufig als zweiter Bestandteil von Ortsnamen; bekannte Beispiele sind Vitudurum, das heutige Winterthur, oder Salodurum, das heutige Solothurn (siehe Abschnitt 3.2.4). Das Wort bezeichnet eine befestigte Stadt, ursprünglich einen Ort, der durch ein Tor erreichbar und somit eingeschlossen war. Zugrunde liegt das indogermanische Wort für ‘ Tür ’ , das auch in deutsch Tür enthalten ist. Das Vorderglied von *Brenoduron ist wohl als Personenname zu bestimmen, der ganze Name bedeutet also soviel wie ‘ Stadt des Bren(n)os ’ . Auch die letzte Zeile enthält eine Ortsbezeichnung, nämlich den Namen des Aaretals. Nantaror ist wieder eine Abkürzung, die als ‘ Aaretal ’ , aber auch als ‘ die Bewohner des Aaretals ’ verstanden werden kann. Die Nennung der Aare ist deswegen bedeutsam, weil sie wahrscheinlich macht, dass die Inschrift an Ort und Stelle entstanden ist und nicht etwa erst zu einem späteren Zeitpunkt auf die Engehalbinsel gelangt ist. Gallisch *nanto/ ubedeutet ‘ Tal ’ , und Arura ist der Name der Aare, der schon in der Spätantike auf lateinischen Inschriften und literarisch bezeugt ist. Die ganze Inschrift kann auf verschiedene Arten gelesen werden, etwa als ‘ Für den weltfahrenden Gobannos von Brennoduron die Bewohner des Aaretals ’ oder auch ‘ Für den weltfahrenden Gobannos die Bewohner von Brennoduron im Aaretal ’ . Nur zehn Kilometer nordwestlich der Stadt Bern liegt die Gemeinde Meikirch, wo sich in einer Villa aus der Römerzeit als Bestandteile von Wandmalereien fünf wenig bekannte Inschriften finden. Sie sind teils sehr schlecht lesbar, enthalten aber offensichtlich neben lateinischem und griechischem auch gallisches Sprachgut. So ist in einem Fall ein Ortsname auf duro belegt, der also dasselbe Hinterglied aufweist wie Brenodor auf der Zinktafel von Bern. Interessanter noch ist die Form mapobi auf einer ansonsten kaum verständlichen zweiten Inschrift. Sie kann als ‘ mit den Söhnen ’ übersetzt und als Instrumental Plural des gallischen Worts mapo- ‘ Sohn ’ gedeutet werden, das irisch mac und walisisch mab entspricht. Dieser Beleg ist insofern bedeutsam, als nicht nur das Wort selbst, sondern auch die Flexionsform eindeutig gallisch ist. Die Endung bi des Instrumentals Plural ist etwa durch die Form gobedbi ‘ mit den Schmieden ’ auf einer gallischen Inschrift aus Alise-Sainte-Reine in Frankreich bekannt, während das Lateinische eine solche Kasusform nicht kennt. Ein einzelnes gallisches Wort, nämlich die Konjunktion ponc ‘ als, wenn ’ , findet sich in einer fragmentarischen Inschrift aus der römischen Siedlung Augusta Raurica. Beim Inschriftenträger handelt es sich um ein Graffitto auf einer nur bruchstückhaft erhaltenen Wandmalerei, die wohl aus der Mitte des 3. Jh. n. Chr. stammt. Insgesamt sind die direkten Zeugnisse für das Gallische in der Schweiz, also Inschriften, die in dieser Sprache verfasst sind, dürftig. 3 Dazu gesellt sich aber sekundäre Evidenz in der Form von Eigennamen, die in den folgenden Abschnitten behandelt werden. 3 Eine angeblich gallische Inschrift aus Vindonissa (Windisch) ist wohl lateinisch, siehe Lambert (2003: 130 f.). Zu einer zweisprachigen, gallisch-lateinischen Inschrift aus Nyon siehe Abschnitt 4.2. 8 Karin Stüber <?page no="45"?> 3.2.2 Personennamen Das Gallische wurde nach 15 v. Chr., als das schweizerische Mittelland unter römische Verwaltung gestellt wurde, zunehmend durch das Lateinische verdrängt (siehe Abschnitt 4.2). Inschriften aus der römerzeitlichen Schweiz sind auf Lateinisch verfasst, immer wieder sind dort aber auch Personen genannt, die gallische Namen tragen. Sie beweisen zwar nicht, dass die Namenträger noch Gallisch gesprochen haben, zeugen aber doch davon, dass das einheimische Namengut nicht sofort ersetzt wurde, sondern lebendig blieb. Die ältesten Beispiele helvetischer Personennamen sind allerdings noch früher belegt, nämlich bei Caesar. Die Rede ist von den berühmten Anführern der Helvetier, von Divico und Orgetorix. Insbesondere Orgetorix ist durch das Namenelement r ī x sofort als gallisch erkennbar. Gallische Namen auf r ī x sind in grosser Zahl belegt, Berühmtheit haben auch etwa Vercingetorix oder Dumnorix erlangt. r ī x bedeutet ‘ herrschend über ’ und ist mit lateinisch r ē x ‘ König ’ verwandt. An diesem Wort zeigt sich wieder ein typisch keltisches Lautgesetz, dass nämlich * ē zu ī wird. Dementsprechend lautet auch die altirische Entsprechung rí ‘ König ’ . Das Vorderglied Orgetoist ebenfalls verständlich; es kann mit dem altirischen Verbum orcaid ‘ tötet, erschlägt ’ verglichen werden, der ganze Name bedeutet also soviel wie ‘ der über die Totschläger herrscht ’ . Ein kriegerischer Name ist auch Divico. Das Element d ī entspricht lateinisch d ē ‘ weg von ’ . d ī ist demnach ein weiteres Beispiel für das erwähnte Lautgesetz * ē > ī . Auch das Hinterglied von Divico hat einen Verwandten im Lateinischen, nämlich vincere ‘ besiegen ’ , es gehört zur indogermanischen Wurzel *u ̯ ei ̯ k ̑ ‘ besiegen ’ . Die Kombination dieser beiden Elemente findet sich im altirischen Verbum do-fich ‘ bestraft, rächt ’ wieder. Divico kann demnach als ‘ der Rächer ’ verstanden werden. Neben diesen beiden historischen Figuren ist inschriftlich im Schweizer Mittelland eine ganze Reihe weiterer Personen bezeugt, die einen gallischen Namen tragen. Gleich zwei Namen finden sich auf lateinischen Inschriften, die wie Orgetorix das Element r ī x ‘ herrschend über ’ enthalten: ein Togirix (Vorderglied *t ō g ā - ‘ Axt, Beil ’ , altirisch túag) in Yverdon und eine Visurix (Vorderglied *u ̯ isu- ‘ gut ’ , altirisch fíu), eine Frau, in Basel. Nicht alle gallischen Namen sind zweigliedrig. Auf einer Inschrift aus Basel ist ein Caratus belegt, in Lausanne ausserdem ein Caratilius. Caratus war ein beliebter gallischer Name, der wörtlich ‘ der Geliebte ’ bedeutet und eigentlich ein als Name verwendetes Partizip *kar ā to- ‘ geliebt ’ ist. Dieses gehört zum keltischen Verbum *kar ā - ‘ lieben ’ , das durch altirisch caraid ‘ (er) liebt ’ und walisisch caraf ‘ (ich) liebe ’ fortgesetzt wird. Caratilius ist um ein Kosesuffix * ilioerweitert. In Basel ist auch ein Frauenname Prittusa belegt, dem ein Wort *pritii ̯ ozugrunde liegt, das im Walisischen als prydydd ‘ Dichter ’ fortlebt. Das Suffix us ā ist wie ilius ein Kosesuffix. Auf Inschriften aus der römischen Schweiz findet man aber nicht nur Vornamen gallischen Ursprungs, sondern auch Familiennamen. Um das nachvollziehen zu können, ist ein kurzer Blick auf die römische Namenformel nötig. Diese ist dreiteilig und besteht aus Praenomen (Vorname, z. B. Gaius), Gentilname (Familienname, z. B. Iulius) und Cognomen (Beiname, z. B. Caesar). Den Gentil- oder Familiennamen tragen alle Mitglieder einer Familie, ganz wie das bei modernen Familiennamen der Fall ist, mit dem einzigen Unterschied, dass verheiratete Frauen ihren ursprünglichen Namen immer behalten. Solche Gentilnamen sind nun oft einfach Ableitungen von alten Vornamen und bezeich- Sprachliche Vorgeschichte 9 <?page no="46"?> neten ursprünglich die Abstammung. Iulius war also zunächst einmal der Sohn des Iulus, und erst in dem Moment, als man auch den Enkel Iulius nannte, wurde der Name zum eigentlichen Familiennamen. Dieses Prinzip der Bildung von Familiennamen übernahmen nun die Gallier von den Römern. Bei den Galliern herrschte zunächst Einnamigkeit, doch der Kontakt mit der römischen Kultur führte dazu, dass allmählich die dreiteilige römische Namenformel übernommen wurde. Dabei verwendete man die alten gallischen Namen als Cognomina weiter, Gentilnamen aber mussten neu geschaffen werden. Dies geschah, indem nach römischem Vorbild mittels eines Suffixes ius bzw. ia Familiennamen von bestehenden Individualnamen abgeleitet wurden. Die Kinder eines Matugenus hiessen demnach Matugenius bzw. Matugenia und vererbten dann diesen Namen an ihre eigenen Kinder weiter. Genauso wurde zu Iovincatus ein Gentilname Iovincatius bzw. Iovincatia gebildet. Diese Namen sind nun nicht frei erfunden, sondern tatsächlich auf lateinischen Inschriften belegt. So findet sich eine Frau mit dem Familiennamen Matugenia in Solothurn. Der zugrunde liegende Individualname Matugenus ist eindeutig gallisch: das Vorderglied ist *matu- ‘ Bär ’ (altirisch math), das Hinterglied genus bedeutet ‘ geboren ’ (altirisch gen, vgl. griechisch gene ̄ ́ s). Der Name Matugenus bedeutet also soviel wie ‘ vom Bären geboren ’ . Er hat als Ganzes eine genaue Parallele im altirischen Männernamen Mathgen, es scheint sich hier also um einen sehr alten keltischen Namen zu handeln. Das zweite Beispiel eines gallischen Familiennamens stammt aus Basel, wo eine Io(v)incatia erwähnt wird. Auch hier ist der zugrunde liegende Individualname Iovincatus durchsichtig: es scheint im Gallischen ein Verbum *i ̯ ou ̯ ink ā - ‘ jung machen ’ gegeben zu haben, zu dem *i ̯ ou ̯ ink ā todas Partizip ‘ jung gemacht ’ ist. Eine Entsprechung des gallischen Verbs ist zwar in den inselkeltischen Sprachen nicht bekannt, doch findet man dort zumindest Fortsetzer des Adjektivs *i ̯ ou ̯ anko- ‘ jung ’ , von dem das Verb abgeleitet ist. Es lebt im Altirischen als oac fort, im Walisischen als ieuanc und ist verwandt mit dem gleichbedeutenden lateinischen Adjektiv iuvencus sowie mit deutsch jung. 3.2.3 Götternamen Gallische Gottheiten wurden in vielen Fällen von den Römern übernommen und unter demselben Namen weiterhin verehrt. Ein gallischer Göttername kam oben bereits zur Sprache, nämlich der Schmiedegott Gobannos. Auf lateinischen Inschriften aus der Schweiz sind noch zwei weitere Gottheiten belegt, beides weibliche Gestalten. Die erste ist die Bärengöttin Artio, die auch von einer Inschrift aus Rheinland-Pfalz bekannt ist. Eine bildliche Darstellung dieser Göttin wurde in Muri bei Bern gefunden. Die Statue, die heute im Historischen Museum in Bern ausgestellt ist, zeigt eine sitzende Frauengestalt und davor die Figur eines Bären. Der Sockel trägt eine Weihinschrift: Deae Artioni Licinia Sabinilla. Licinia Sabinilla ist der Name der Stifterin der Skulptur, die Empfängerin ist die Göttin Artio (im Dativ Singular Deae Artioni). Es handelt sich hier eindeutig um einen keltischen Namen, der ein gallisches Wort für den Bären enthält. Im Indogermanischen hiess der Bär *h ₂ r ̥ t s k ̑ o-, was zum Beispiel im Lateinischen ursus ergab, im Griechischen árktos. Die gallische Form lautete *arto-; sie findet sich in Personennamen wie Artula verbaut und entspricht genau altirisch art und walisisch arth ‘ Bär ’ . Zu diesem Substantiv *arto konnte nun ein Adjektiv *artii ̯ o- ‘ zum Bären gehörig ’ gebildet werden, an das dann zusätzlich ein Suffix * ontrat, das Eigen- 10 Karin Stüber <?page no="47"?> namen von Adjektiven bildet. *artii ̯ onist also ‘ die zum Bären Gehörige ’ , ein passender Name für eine Bärengöttin. Eine weitere Tiergottheit ist in Solothurn bezeugt, nämlich die Pferdegöttin Epona, die im gallischen Kulturkreis gut bekannt ist. Die entsprechende Inschrift ist sehr kurz: Deae Eponae, ‘ der Göttin Epona ’ (Dativ Singular). Genauso wie Artio das Wort für ‘ Bär ’ enthält, so enthält Epona jenes für ‘ Pferd ’ , indogermanisch *h ₁ ek ̑ u ̯ o-, das im Lateinischen als equus, im Altindischen als á ś va-, im Griechischen als híppos erscheint. Im Gallischen wurde die Gruppe *k ̑ u ̯ zu p, die gallische Form musste demnach *epolauten. Inselkeltische Entsprechungen sind altirisch ech und altbretonisch eb. Der Name der Göttin Epona ist von diesem *epomittels eines Suffixes * on ā abgeleitet. 3.2.4 Ortsnamen Gallische Personennamen und Götternamen haben ihre Spuren nur auf antiken Inschriften hinterlassen. Eine Kategorie von keltischen Eigennamen hat sich dagegen zum Teil bis heute erhalten, nämlich die Ortsnamen. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Einwanderer vorhandene Ortsnamen oft einfach übernehmen, in diesem Fall zuerst die Römer, später die Alemannen. Sie gaben gewissen bereits bestehenden Siedlungen keinen neuen Namen, sondern verwendeten den alten weiter. Am bekanntesten sind vielleicht die zahlreichen komponierten Ortsnamen, die ein Hinterglied gall. d ū non, latinisiert d ū num aufweisen. Als Simplex D ū num lebt das Wort im heutigen Thun fort. Es bezeichnete eine Festung, wie aus der altirischen Entsprechung dún ‘ Festung ’ geschlossen werden kann. Beispiele von zweigliedrigen Ortsnamen auf d ū num gibt es viele. Cambod ū num etwa, heute Kempten in der Nähe von Wetzikon im Kanton Zürich, enthält ein Vorderglied cambo-, das mit altirisch camb ‘ krumm ’ verglichen werden kann. Gemeint ist vielleicht eine Festung an einer Flusskrümmung. Das erste Element von Ollod ū num, dem heutigen Olten, erscheint im Gallischen auch auf einer Inschrift, nämlich als ollon. Aus dem Vergleich mit altirisch oll ‘ gross ’ lässt sich schliessen, dass Ollod ū num ‘ grosse Festung ’ bedeutete. Eburod ū num, das moderne Yverdon, enthält das in Ortsnamen verbreitete Substantiv *eburo-, das mit altirisch ibar ‘ Eibe ’ verbunden werden kann. Noviod ū num schliesslich, heute Nyon am Genfersee, ist die ‘ neue Festung ’ . Gallisch *nou ̯ ii ̯ ohat genaue Entsprechungen in altirisch nuae und walisisch newydd, aber auch ausserhalb des Keltischen, etwa in griechisch ne ĩ os und altindisch návya-, die allesamt ‘ neu ’ bedeuten. Durchsichtig ist auch die Etymologie von Vitudurum, dem heutigen Winterthur. Das Vorderglied ist der Baumname *u ̯ itu- ‘ Weide ’ , verwandt mit deutsch Weide, ein häufiger Bestandteil gallischer Ortsnamen. Das Hinterglied durum bzw. gallisch duron kam oben bereits zur Sprache: es ist auch im Ortsnamen *Brenoduron enthalten. Schliesslich steckt auch im Namen Vindonissa, dem heutigen Windisch, ein typisch keltisches Wort, nämlich *u ̯ indo- ‘ weiss, blond ’ , das im Altirischen als find, im Walisischen als gwynn erscheint. Aber nicht nur lexikalische Elemente können einen Ortsnamen als keltisch erweisen, auch die Form gibt in manchen Fällen Auskunft über die sprachliche Einordnung eines Namens. So sind im Kanton Zürich Ortsnamen verbreitet, die mit einem Suffix * -ā kon bzw. latinisiert -ā cum gebildet sind. Dieses kann als keltisch identifiziert werden und entspricht genau walisisch awc. Das walisische Suffix bildet Zugehörigkeitsadjektive zu Substantiven, also etwa marchawc ‘ zum Pferd gehörig, Reiter ’ zu march ‘ Pferd ’ . Sprachliche Vorgeschichte 11 <?page no="48"?> Das aus dem Gallischen entlehnte lateinische Suffix -ā cum wurde zur Zeit der römischen Verwaltung offenbar dazu benutzt, Ableitungen zu römischen Personennamen zu bilden. Spuren dieses Suffixes finden sich in heutigen Namen auf ach wie etwa Bülach. Der moderne Name geht auf älteres Pulliacum zurück und bedeutete soviel wie ‘ das zu Pullius Gehörende ’ , mit anderen Worten ‘ das Landgut des Pullius ’ . Genauso ist Imbri ā cum, das heutige Embrach, ursprünglich eine Bezeichnung für das ‘ Landgut des Imbrius ’ . Die hier vorgestellten Namen sind nur einige wenige Beispiele keltischer Ortsnamen in der Schweiz, sie liessen sich noch beträchtlich vermehren. Es sind lebendige Spuren, die davon zeugen, dass vor rund 2000 Jahren im schweizerischen Mittelland eine Form des Gallischen gesprochen wurde. 3.2.5 Sonstiger Wortschatz Es gab immer wieder Versuche, im Schweizerdeutschen oder auch im Rätoromanischen Wörter nachzuweisen, die direkt aus dem Keltischen stammen. Zwar gibt es im Schweizerdeutschen zweifellos Wörter keltischen Ursprungs, doch finden sich diese meist auch im Schriftdeutschen, wie etwa Karren. Zudem sind sie in der Regel durch lateinische Vermittlung ins Deutsche gelangt. Karren ist nämlich eine Übernahme von lateinisch carrus, das aus gallisch *karros entlehnt ist, vergleichbar ist altirisch carr ‘ Wagen ’ . Auch die nur im Schweizerdeutschen bekannte Benne ‘ Schubkarren ’ stammt aus lateinisch benna ‘ Wagen ’ und nicht direkt aus gallisch *benna, das eine Parallele in walisisch benn ‘ Fuhrwerk ’ hat. Um als direkte Entlehnung aus dem Gallischen in Frage zu kommen, muss ein Wort zwei Kriterien erfüllen: es darf im Lateinischen nicht vorhanden sein, und seine Verbreitung muss sich auf den Alpenraum beschränken. Ein mögliches Beispiel ist der Senn, der im Althochdeutschen als senno bezeugt ist, im Rätoromanischen als sagn. Auf dieser Grundlage kann eine Vorform *sani ̯ onangesetzt werden. Eine attraktive These Johannes Hubschmieds verbindet diesen Stamm mit altirisch sine ‘ Zitze ’ , was auf *speni ̯ ozurückzuführen ist. Die gleiche Wurzel ist in deutsch Span-ferkel enthalten, der Bezeichnung für das Ferkel, das noch gesäugt wird. Fürs Gallische wäre zunächst von einem Adjektiv *sani ̯ o- < *spn ̥ i ̯ oauszugehen, das durch den Schwund von *p, der zu den auffälligsten Merkmalen der keltischen Sprachen gehört, eindeutig als keltisch erwiesen wird. Ein solches Adjektiv hätte soviel wie ‘ zur Zitze gehörig ’ bedeutet. Mit dem gleichen Suffix erweitert, das auch im Namen der Bärengöttin Artio (siehe Abschnitt 3.2.3) enthalten ist, entsteht ein Substantiv *sani ̯ on- ‘ der zur Zitze bzw. zum Euter Gehörige ’ . Damit kann der ‘ Melker ’ gemeint sein, was als Etymologie für Senn bestens passt. Dieses Wort wäre dann ein noch immer lebendiger Überrest der gallischen Sprache, die einst in der Schweiz gesprochen wurde. Weitere Beispiele bleiben unsicher. Das wichtigste moderne Standardwerk zum Lepontischen (§ 3.1) ist das webbasierte Lexicon Leponticum Stifter et al. 2009. Dort finden sich detaillierte Angaben zu allen bekannten Inschriften mit Verweisen auf ältere Literatur sowie ein historischer und archäologischer Überblick. Eine ältere Edition der Inschriften bietet Lejeune 1988. Für die Ausführungen in § 3.2 sei als Ganzes auf Stüber 2006 verwiesen, wo sich auch zahlreiche Abbildungen der erwähnten Inschriften und Objekte finden. Zur gallischen Epigraphik in der Schweiz siehe Stüber 2005, 2012. Eine Beschreibung der gallischen Sprache bietet Lambert 2003. Gegen Hubschmieds 1936 Etymologie von Ziger siehe Stüber 2006: 21. 12 Karin Stüber <?page no="49"?> 4 Romanisierung 4.1 Historischer Hintergrund Die Eingliederung des Gebietes der heutigen Schweiz in das römische Reich erfolgte nicht auf einen Schlag, sondern schrittweise über einen Zeitraum, der im 2. Jh. v. Chr. begann und erst um 13 v. Chr. vollständig abgeschlossen war. Das erste römisch besetzte Gebiet bildete das Sottoceneri im südlichen Tessin, das Anfang des 2. Jh. v. Chr. erobert und der Provinz Gallia cisalpina zugeteilt wurde. 49 v. Chr. erhielten die Bewohner das römische Bürgerrecht, und das Gebiet wurde Bestandteil der Regio Transpadana von Italien. Ebenfalls relativ früh wurde Genf Bestandteil einer römischen Provinz. Genf war in gallischer Zeit ein Oppidum, das zum Stamm der Allobroger gehörte, die von dort flussabwärts am linken Rhoneufer siedelten. Sie wurden bereits Ende des 2. Jh. v. Chr. unterworfen und der Provinz Gallia Narbonnensis angegliedert. Der Stamm der Helvetier, der den grössten Teil des Mittellandes vom Genfersee bis zum Bodensee einnahm, kehrte nach der Niederlage gegen Caesar in der Schlacht von Bibracte 58 v. Chr. in sein angestammtes Gebiet zurück und blieb zunächst unabhängig. Zum Schutze Genfs und des unteren Rhonetals errichtete Caesar 45/ 44 v. Chr. eine Kolonie im heutigen Nyon am Genfersee. Ebenfalls 44 v. Chr. wurde nach der Unterwerfung der Rauraker die Kolonie Raurica (später Augusta Raurica, heute Augst) am Rhein nahe Basel gegründet. Die eigentliche Eroberung der Alpen und des Mittellandes gelang aber erst zur Zeit des Augustus in einem Feldzug 15 v. Chr. durch dessen Adoptivsöhne Tiberius und Drusus. Während Tiberius von Nyon her angriff, nahm Drusus den Weg über das Etschtal; weitere Truppeneinheiten rückten über kleinere Alpentäler vor. In der Folge unterwarfen sich nicht nur die Helvetier, sondern auch die gallischen Stämme des Wallis (Nantuaten, Veragrer, Seduner, Uberer), die Lepontier im Sopraceneri sowie die Räter den Römern. Die Gebiete der Helvetier und Rauraker ebenso wie Nyon und Augusta Raurica wurden zunächst der Provinz Gallia Lugdunensis zugewiesen, wenig später der Gallia Belgica, die von Trier aus verwaltet wurde. Die Alpenregionen mit Wallis, Leventina, Graubünden und der Region von Walensee und Linthebene bis zum Bodensee dagegen wurden Teil der Provinz Raetia et Vindelicia et Vallis Poenina. Mit der Eingliederung ins römische Reich kam es zu einer Vermischung der einheimischen, mehrheitlich gallischen sowie der römischen Kultur, man spricht von der Ausbildung der gallorömischen Kultur. Neben vielen weiteren kulturellen Aspekten gelangten mit den Römern auch neue religiöse Strömungen in das Gebiet der heutigen Schweiz, zunächst der römische Polytheismus, später dann vor allem das Christentum, das unter Kaiser Theodosius Ende des 4. Jh. n. Chr. Staatsreligion wurde. 4.2 Gallisch und Latein Es ist davon auszugehen, dass die römische Eroberung auf dem Gebiet der heutigen Schweiz wenig Auswirkungen auf die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung hatte. Einheimische Eliten bildeten wohl weiterhin die Oberschicht, doch brachten Soldaten, Veteranen, Beamte, aber auch Gewerbetreibende neue Institutionen, Gesetze und Lebensgewohnheiten ebenso wie neue Formen der Kunst, Architektur und Technik mit. Mit dem Handel, insbesondere aber mit der Verwaltung und der Religion hielt auch die Sprache des römischen Reiches, das Lateinische, Einzug und verdrängte nach und nach Sprachliche Vorgeschichte 13 <?page no="50"?> alle bisher gesprochenen Sprachen. Mit der Eingliederung des bisher freien Galliens ins römische Reich wurde das Gallische innerhalb kurzer Zeit aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens verdrängt und durch das prestigeträchtigere Latein ersetzt. Insbesondere die Oberschicht eignete sich dieses wohl rasch an. Im privaten Bereich dürfte das Gallische noch länger verwendet worden sein, doch wissen wir nicht, bei welchen Gelegenheiten es von wem noch gesprochen wurde und wie lange es an welchen Orten noch fortlebte. Es ist also sehr schwer zu beurteilen, wie lange und in welchem Umfang das einheimische Gallische neben dem Lateinischen noch lebendig war. Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass es relativ rasch aus dem offiziellen schriftlichen Gebrauch kam. Weihinschriften nennen zwar noch manchmal gallische Gottheiten (siehe Abschnitt 3.2.3), werden aber schon bald auf Lateinisch verfasst. Die keltische Religion, die von den Druiden tradiert wurde, beruhte ausschliesslich auf mündlicher Überlieferung, ihre sprachlichen Aspekte verschwanden daher spurlos. Auch Grabinschriften sind auf Schweizer Gebiet nördlich der Alpen erst in römischer Zeit belegt und ausschliesslich lateinisch, auch wenn die Verstorbenen oder ihre Angehörigen zum Teil noch gallische Namen tragen (siehe Abschnitt 3.2.2). Die Namengebung allein erweist nicht den Gebrauch der gallischen Sprache, da Namentraditionen einen Sprachwechsel überleben können. Im informellen Rahmen hielt sich die Volkssprache wohl länger, ein relativ spätes Zeugnis aus der Schweiz ist das Fragment aus Augusta Raurica aus der Mitte des 3. Jh. n. Chr. (siehe Abschnitt 3.2.1). Aus Frankreich ist aus dem 3. und 4. Jh. n. Chr. eine ganze Reihe von kurzen Inschriften auf Spinnwirteln belegt, die zum Teil eine Mischung aus gallischem und lateinischem Sprachmaterial beinhalten. Die Texte richten sich in der Regel an Mädchen und enthalten zum Teil auch erotische Anspielungen. Ein Beispiel einer solchen zweisprachigen Inschrift stammt aus Nyon. Sie besteht aus einem lateinischen und einem gallischen Wort: ave vimpi. Ave ist die lateinische Grussformel, während es sich bei vimpi um ein substantiviertes gallisches Adjektiv der Bedeutung ‘ hübsch ’ (vgl. walisisch gwymp ‘ hübsch ’ ) handelt. Der Form nach ist es ein femininer Vokativ, die ganze Inschrift kann somit als ‘ Sei gegrüsst, Hübsche! ’ verstanden werden. Texte in lateinischer Sprache, die von der Verwendung des Gallischen zeugen, deuten ebenfalls darauf hin, dass Gallisch zumindest bis ins 5. Jh. n. Chr. vereinzelt noch gesprochen wurde. Sein Gebrauch hielt sich am längsten wohl in ländlichen Gegenden. Sein mangelndes Prestige gegenüber dem Lateinischen zeigt sich etwa daran, dass im französischen Wortschatz landwirtschaftliche Produkte, die auf städtischen Märkten verkauft wurden, lateinische Bezeichnungen fortsetzen (z. B. französ. lait ‘ Milch ’ < lac, farine ‘ Mehl ’ < farina, miel ‘ Honig ’ < mel, vin ‘ Wein ’ < vinum), dass hingegen die unverkäuflichen Abfallprodukte, die allenfalls zu Hause Verwendung fanden, ursprünglich gallische Bezeichnungen fortsetzen (z. B. französ. dialektal mègue ‘ Molken ’ < *mes(i)gus, bran ‘ Kleie ’ < *brennos, altfranzös. bresche ‘ Wabe ’ < *brisca, lie ‘ Bodensatz, Hefe ’ < *liga). Das Gallische starb schliesslich ganz aus, wobei das nicht in allen Teilen der Schweiz gleichzeitig geschehen sein dürfte. So ist wohl davon auszugehen, dass sich das Lateinische im südlichen Tessin, das verwaltungstechnisch zu Italien gehörte und das schon fast 150 Jahre früher Teil des römischen Reichs wurde als die nördlicheren Gebiete, als erstes vollständig durchsetzte. Tatsächlich finden sich in der Südschweiz nach dem 1. vorchristlichen Jahrhundert keine als keltisch zu identifizierenden Zeugnisse mehr. Im 14 Karin Stüber <?page no="51"?> 5. Jh. n. Chr. dürften dann in der gesamten Schweiz im wesentlichen nur noch Varietäten des Lateinischen gesprochen worden sein. Diese waren zweifellos durch ihre Substratsprachen beeinflusst. Es sind diese Varietäten, die sich in der weiteren Folge zum Französischen ( ► Französisch), Frankoprovenzalischen ( ► Frankoprovenzalisch), Italienischen ( ► ItalienischLandessprache) und Rätoromanischen ( ► Rätoromanisch) entwickelt haben. Zum historischen Hintergrund zusammenfassend Frei-Stolba 2015. Zum Verhältnis von Gallisch und Latein Meid 1980 und Paunier 2007. Zur erwähnten gallisch-lateinischen Inschrift Lambert 2002: 334 f. 5 Zwischenspiel: Die Burgunder 5.1 Historischer Hintergrund Die erste Nennung der Burgunder als germanische Volksgruppe findet sich bei Plinius dem Älteren, der sie zu den Vandiliern (Vandalen) zählt. Sie werden verschiedentlich in der Gotengeschichte des Jordanes erwähnt, der von Wanderungen burgundischer Gruppierungen im 3. Jh. n. Chr. berichtet. Eine lange Feindschaft mit den Alemannen führte dazu, dass sich die Burgunder immer wieder mit den Römern verbündeten. Im Jahr 413 Abb. 3: Das Gebiet der Sapaudia nach Kaiser 2006 Sprachliche Vorgeschichte 15 <?page no="52"?> wurde dann unter Gundahar das erste burgundische Reich am Mittelrhein in der Gegend von Worms begründet. Bereits 436 fiel dieses Reich - reflektiert im Nibelungenlied - den Hunnen zum Opfer, die wohl mit dem römischen Feldherrn Flavius Aëtius verbündet waren. Die Reste des burgundischen Volks wurden von Aëtius 443 in der Sapaudia angesiedelt. Die genaue Lokalisierung dieser Region ist umstritten, doch geht man heute davon aus, dass damit der südliche Teil der spätrömischen Provinz Maxima Sequanorum gemeint ist. Sie reichte somit wohl von Genf über Yverdon, Avenches und Windisch bis an den Rhein. Im weiteren Verlauf des 5. Jh. n. Chr. konnten die Burgunder ihr Reich vor allem gegen Westen und Süden ausweiten. Konflikte mit anderen germanischen Stämmen, insbesondere mit den Ostgoten und den Merowingern (Franken) führten aber schliesslich zum Untergang des altburgundischen Reichs, das 534 von den Merowingern aufgeteilt wurde. Wie gross die Zahl der 443 in der Sapaudia angesiedelten Burgunder war, ist umstritten. Die Schätzungen reichen von 5 ’ 000 bis 25 ’ 000, womit sie zwischen 10 % und einem Drittel der Bevölkerung ausgemacht hätten. Die Burgunder waren zunächst wohl Gäste der römischen Armee. Sie verschmolzen aber offenbar sehr rasch mit der romanischen Bevölkerung, so dass sie archäologisch schwer nachweisbar sind. Gerade in der Sapaudia finden sich allerdings eindeutige archäologische Zeugnisse in Form von typisch germanischen Grabbeigaben, z. B. Fibeln und Ohrringen. 5.2 Die Sprache der Burgunder Eigentliche Sprachdenkmäler in burgundischer Sprache sind nicht erhalten, so dass sich diese nicht näher beschreiben lässt. Dass es sich um eine germanische Sprache handelte, steht ausser Zweifel, doch bereits die Zuweisung zum Ostgermanischen, dessen einziger Vertreter mit literarischer Überlieferung das Gotische ist, oder aber zum Westgermanischen, zu dem das Alemannische und Fränkische gehören, ist umstritten. Bei der Zuordnung des Burgundischen zum Ostgermanischen spielen vor allem zwei Argumente eine Rolle: zum einen die Zuordnung der Burgunder zu den Vandalen bei Plinius, zum anderen die Geographie, indem sich die frühen Wohnsitze der Burgunder an der Oder und Weichsel befinden. Hingegen erlaubt das wenige, was uns an Sprachmaterial überliefert ist, keine eindeutige Identifizierung. Die einzige aufgrund ihres Fundortes mit einiger Wahrscheinlichkeit dem Burgundischen zuweisbare Runeninschrift, jene auf der Bügelfibel von Charnay, besteht aus einem einzigen Wort, uþfnþai (zu lesen wohl unþfinþai), wobei die Endung ai der 3. Singular Optativ sowohl dem Ostgermanischen als auch einer frühen Stufe des Westgermanischen zugeordnet werden könnte. Aus sekundärer Überlieferung, d. h. aus literarischen und inschriftlichen Texten in anderen Sprachen, insbesondere Latein, sind neben Eigennamen auch einige weitere Wörter burgundischen Ursprungs auf uns gekommen. So finden sich in einem lateinisch geschriebenen Rechtstext ein knappes Dutzend burgundische Fachtermini. Dazu kommen gut zwanzig Personennamen, deren Identifikation als burgundisch aber nur in der Hälfte der Fälle als einigermassen gesichert gelten darf. Aus diesem spärlichen Material lassen sich allerdings keine Eigenheiten einer spezifisch burgundischen Sprache ableiten. Auch bei den Ortsnamen haben die Burgunder keine eindeutigen Spuren hinterlassen. Die These, dass die auf ens, ans ( ingos) endenden Ortsnamen den Burgundern, jene auf 16 Karin Stüber <?page no="53"?> enge(s), ange(s) ( ingas) hingegen den Franken bzw. Alemannen zuzuschreiben seien, gilt als überholt. Dass das Burgundische nach der Ansiedlung in der Sapaudia immer noch gesprochen wurde, bezeugt der aus dem gallorömischen Hochadel stammende Apollinaris Sidonius (geboren 430), der sich in einem Gedicht über die barbarischen Sitten und die germanische Sprache der burgundischen Herren beklagt. Wie lange das Burgundische aber als lebendige Sprache in Verwendung war, muss nach heutigem Kenntnisstand offen bleiben. Schwierig ist auch abzuschätzen, welchen sprachlichen Einfluss die Burgunder auf das Romanische hatten. Die Annahme, das Burgundische sei als Superstrat für die Ausgliederung des Frankoprovenzalischen ( ► Frankoprovenzalisch) verantwortlich, wird von der neueren Forschung abgelehnt. Tatsächlich dürfte also die rasche Assimilation der Burgunder an die einheimischen Galloromanen dazu geführt haben, dass ihre Sprache keine nennenswerten Spuren hinterliess. Ein kurzer Überblick bei Kaiser 2006, eine ausführlichere Darstellung bei Kaiser 2004. Zur Frage der Ausdehnung der Sapaudia Frei-Stolba 2011, zur burgundischen Sprache Beck 1981. 6 Vorstoss der Alemannen 6.1 Historischer Hintergrund Die Alemannen stiessen von Norden her ab dem späten 3. Jh. n. Chr. in den süddeutschen Raum vor, wobei nicht von einer systematischen Landnahme auszugehen ist. Sie standen ab diesem Zeitpunkt am Ober- und Hochrhein den Römern als Gegner gegenüber. Plünderungszüge führten sie immer wieder über den Rhein, weit ins Mittelland und bis in und über die Alpen. So wurden sie etwa 457 erst in Bellinzona zurückgeschlagen. Der Kontakt mit den Römern war aber nicht nur ein feindlicher, vielmehr standen Alemannen auch als Soldaten in römischen Diensten oder wurden in geschlossenen Verbänden unter eigener Führung als Wehrbauern in römischen Territorien angesiedelt. Die Unabhängigkeit der Alemannen endete mit den Niederlagen gegen den fränkischen König Chlodwig I in den Jahren 496/ 497 und 506. In der Folge begab sich die alemannische Führungsschicht offenbar unter ostgotisches Protektorat. Alemannen wurden nicht nur in Oberitalien, sondern auch im rätischen Gebiet des Bodenseeraumes, des Thurgaus und des Alpenrheintals angesiedelt. Schliesslich trat der ostgotische König Witigis im Jahr 536/ 537 das gotische Alemannien an die Franken ab. Die Eingliederung in das Frankenreich beliess den Alemannen allerdings den Status einer gens mit eigenem Namen, Recht und Territorium. Vereinzelte archäologische Zeugnisse der Alemannen finden sich links des Rheins bereits ab dem 4./ 5. Jh. n. Chr. Eine kontinuierliche Besiedlung lässt sich aber erst vom zweiten Drittel des 6. Jh. an nachweisen, also erst nachdem die Alemannen unter fränkische Herrschaft geraten waren. Die ersten germanischen Gräber etwa in Basel, Zürich, Bülach und Elgg werden fränkischen Amtsträgern zugeschrieben, die sich offenbar in der Nähe von spätrömischen Siedlungskernen niedergelassen hatten. Die alemannischen Einflüsse werden erst vom zweiten Viertel des 7. Jh. an stärker. Die Zunahme an Fundstellen deutet auf einen Siedlungsausbau, der wohl nicht nur auf ein Bevölkerungswachstum zurückzuführen ist, sondern auch auf eine Zuwanderung von Alemannen aus Gebieten rechts des Rheins, am Bodensee und am Hochrhein. Sprachliche Vorgeschichte 17 <?page no="54"?> Auch anhand der alemannischen Ortsnamen lassen sich die Siedlungsbewegungen bis zum 7. und 8. Jh. nachzeichnen. Dabei bilden die Namen auf ingen, heim und dorf die älteste Schicht, während jene auf inghofen, ighofen, ikofen und ikon eine erste und jene auf wil und wiler eine zweite Ausbreitung bezeugen. Innerhalb dieses Siedlungsraums finden sich aber auch Orte und Zonen, in denen das Romanische noch lange weiterlebte. Zwar lag das Machtzentrum der von den Franken eingesetzten alemannischen Herzöge im 7. Jh. südlich des Hochrheins und im Bodenseegebiet, gleichzeitig bestanden dort aber immer noch spätrömische bzw. romanische Zentren wie Windisch, Eschenz, Arbon, Bregenz, Winterthur und Zürich. Es ist daher davon auszugehen, dass die deutschromanische Sprachgrenze der Schweiz nicht in direktem Zusammenhang mit der frühmittelalterlichen Siedlungsbewegung der Alemannen steht, sondern das Ergebnis noch lange andauernder sprachlicher Entwicklung ist. 6.2 Die Sprache der Alemannen Die Sprache der Alemannen des 6. bis 8. Jh. darf nicht mit dem Alemannischen der Gegenwart als einem Dialekt des Deutschen gleichgesetzt werden. Das Deutsche wird zusammen u. a. mit dem Niederländischen und dem Englischen als westgermanisch bezeichnet. Neben dem Westgermanischen stehen das heute ausgestorbene Ostgermanische, für das einzig das Gotische direkte schriftliche Zeugnisse bietet, sowie das Nordgermanische, das die skandinavischen Sprachen einschliesslich des Isländischen umfasst. Zusammen bilden diese drei Gruppen den germanischen Sprachzweig. In der ausgehenden Antike bzw. im frühen Mittelalter kann hingegen noch nicht von Deutsch gesprochen werden. Der westgermanische (auch: südgermanische) Zweig des Germanischen umfasste zu jener Zeit drei grosse Gruppen, die nach ihrer geographischen Verbreitung vor den Völkerwanderungen benannt sind. Es sind dies das Nordseegermanische, die Sprache der Angeln, Sachsen und Friesen, das Rhein-Weser-Germanische, das im wesentlichen aus dem Fränkischen besteht, sowie das Elbgermanische, zu dem neben dem im 9. oder 10. Jh. ausgestorbenen Langobardischen und dem Bairischen eben auch das Alemannische gehört. Die Mehrzahl der fränkischen Sprachvarietäten werden später zum Mitteldeutschen zusammengefasst, die bairischen und alemannischen zusammen mit dem Ostfränkischen dagegen zum Oberdeutschen, alle miteinander werden ab dem Beginn der literarischen Überlieferung um ca. 750 n. Chr. als althochdeutsch bezeichnet. Frühere Zeugnisse der westgermanischen Sprachen sind Runeninschriften, also Inschriften in einem von den Germanen wohl in Anlehnung an alpine Schriften eigenständig entwickelten Alphabet. Auf schweizerischem Boden wurden bisher zwei solche Runeninschriften gefunden. Die Fibel von Bülach stammt aus der ersten Hälfte des 7. Jh., der darauf befindliche Text wurde früher als «Liebesinschrift» interpretiert. Diese Deutung gilt heute jedoch als sehr unsicher, mit einiger Gewissheit lässt sich nur ein Personenname (Fridil) identifizieren, während der Rest unlesbar oder unverständlich ist. Eine in Elgg (ZH) gefundene Adlerkopfnadel aus der ersten Hälfte des 7. Jh. zeigt zwei Inschriften, von denen die eine ebenfalls als Personenname (Domo) zu verstehen ist und wahrscheinlich den Hersteller bezeichnet, die andere hingegen wohl eine blosse Schriftimitation ohne sprachlichen Inhalt darstellt. Die beiden Personennamen lassen sich als westgermanisch identifizieren, weisen jedoch keine spezifisch alemannischen Merkmale auf. 18 Karin Stüber <?page no="55"?> Die Sprache der Alemannen ist in dieser frühen Zeit also noch nicht als eigenständiges Idiom fassbar. Dies wird sie erst mit Einsetzen der handschriftlichen Überlieferung, wenn das Kloster St. Gallen neben Reichenau und Murbach zu einem Zentrum der alemannischen Varietät des Althochdeutschen wird. Dies ist jedoch Gegenstand eines anderen Kapitels ( ► Deutsch). Ein Überblick zum historischen Hintergrund bei Kaiser 2018. Zur Frühgeschichte des Deutschen siehe Sonderegger 1979, 2003 sowie Schmidt 2013. Die Runeninschriften sind in Düwel et al. 2020 behandelt. Bibliographie Anthony, David W. (2007). The Horse, the Wheel and Language: how Bronze-Age Riders from the Eurasian Steppes shaped the Modern World. Princeton: Princeton University Press. Beck, Heinrich (1981). Burgunden. I Philologisches, § 1. Sprachquellen. In: Beck, Heinrich / Geuenich, Dieter / Steuer, Heiko (Hrsg.). Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Band 4. Berlin: De Gruyter, 224 - 230. Düwel, Klaus / Nedoma, Robert / Oehrl, Sigmund (2020). Die südgermanischen Runeninschriften. Berlin: De Gruyter. 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Hamburg: Baar Verlag, 469 - 492. 20 Karin Stüber <?page no="57"?> Deutsch Helen Christen, Universität Freiburg/ Schweiz Regula Schmidlin, Universität Freiburg/ Schweiz 1 Einleitung 1.1 Die Anfänge des Deutschen in der nachmaligen Schweiz Die deutsche Sprache fasst ungefähr ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. nach und nach Fuss in der nachmaligen Schweiz (zur Vorgeschichte vgl. ► SprachlicheVorgeschichte). Zu dieser Zeit gab es auf dem Territorium der romanisierten Kelten vereinzelte Einfälle von Alemannen, die von Norden her in ein Gebiet einwanderten, das zum römischen Reich gehörte, jedoch wegen des allmählichen Rückzuges der römischen Truppen zunehmend ungeschützt war. Die Unterwerfung der Alemannen durch den fränkischen Merowingerkönig Chlodwig I. am Ende des 5. Jahrhunderts hatte dazu geführt, dass das nördliche Siedlungsgebiet der Alemannen unter fränkische Herrschaft geriet und einige aus ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet im Rhein-/ Main-/ Neckarraum nach Süden flohen. Im Rahmen des merowingischen Frankenreichs, in das auch die Alemannen eingegliedert wurden, setzte in der Folge eine alemannische Siedlungsbewegung grösseren Ausmasses vor allem im Nordosten der heutigen Schweiz ein. Diese Alemannisierung der nachmaligen Deutschschweiz zog sich über mehrere Jahrhunderte hin und bestand anfänglich in einem räumlichen Nebeneinander von Siedlungen mit spätrömischer und alemannischer Bevölkerung. Archäologische Zeugnisse legen nahe, dass die Alemannen im 8. Jahrhundert im offenen Mittelland heimisch wurden, während sie erst Jahrhunderte später auch in weniger zugängliche voralpine oder alpine Regionen vorstiessen - zu nennen seien hier etwa das Napfgebiet oder das Appenzell. Im bereits besiedelten Churer Rheintal dagegen, und somit auch in der Stadt Chur, wurde bis ins 15./ 16. Jahrhundert Rätoromanisch gesprochen; danach konnte sich das alemannische Deutsch auch dort und zunehmend auf Kosten des Rätoromanischen durchsetzen, das einst bis zum Bodensee im Norden und bis zum Walensee im Westen gesprochen wurde. Sprachliches Zeugnis für die alemannische Besiedelung und Migration geben die Siedlungs- und Flurnamen, die Landnahme und Landesausbau spiegeln. Typische alemannische Siedlungsnamen tragen die Endungen -ingen, -wil, -hof(en), -hausen oder -heim. Das Erstglied geht in vielen Fällen auf einen althochdeutschen Rufnamen zurück, z. B. Hevilo (Häfelfingen), Ruo ʒ o (Ruswil), Habo (Hefenhofen), Ar(n)olf (Arlesheim), so dass der Siedlungsname als ‘ bei der Sippe von Hevilo ’ oder ‘ Heim des Arnolf ’ gedeutet werden kann. Flurnamen tradieren oftmals die Art der Rodung des vormals bewaldeten Geländes, so etwa Schwand oder Schwendi die Rodung durch Abschälen der Baumrinden (schwenden) oder der Flurname Brand die Rodung durch Niederbrennen. <?page no="58"?> Wie sich die alemannischen Dialekte in der Deutschschweiz des Mittelalters und der frühen Neuzeit angehört haben, muss über schriftliche Quellen erschlossen werden. Für das Alemannische zu althochdeutscher Zeit sind vor allem die Schriften des St. Galler Benediktinermönchs Notker III. (auch Notker Teutonicus oder Notker Labeo; *um 950 in der Gegend um Wil oder Jonschwil, † 1022 in St. Gallen) aufschlussreich. Seine umfangreichen Übersetzungsarbeiten lateinischer Schriften folgten einer flachen Orthographie, mit der Notker seinen Dialekt phonetisch exakt wiederzugeben versuchte. Diese Präzision ging so weit, dass Notker die Wiedergabe von stimmhaften und stimmlosen Verschlusslauten in Abhängigkeit vom Endlaut des vorangegangenen Wortes unterschiedlich verschriftete, z. B. demo golde ‘ dem Golde ’ , aber des koldes ‘ des Goldes ’ . Bereits ab der mittelhochdeutschen Zeit klaffen jedoch gesprochene und geschriebene Sprache immer stärker auseinander. Selbst bei der «eidgenössischen Landsprach», die sich im 15. Jahrhundert herausbildete und bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts in den Kanzleien verwendet wurde, handelt es sich nicht um eine direkte Umsetzung der dialektalen Lautsprache, sondern um eine - nicht völlig einheitliche - Schriftvarietät mit alemannischen Zügen (vgl. Abschnitt 3.1). Hinweise auf die damals aktuelle Mündlichkeit können z. B. aus Fehlschreibungen erschlossen werden. Schreibt jemand nämlich nicht nur schön, sondern auch leben mit einem <ö>, so gilt dies als ein Indiz dafür, dass der Schreiber in seinem Dialekt sämtliche ö zu e entrundet und damit seine e-Laute ungleicher sprachhistorischer Herkunft zusammenfallen. In der Schreibsprache gibt er dann die dialektalen e-Laute unterschiedslos mit <ö> wieder. Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts schloss sich die Schweiz der deutschen Schriftsprache nach und nach an. Wie in Abschnitt 3.2 näher ausgeführt, gibt es allerdings bis zum heutigen Tag schweizerische - und notabene auch andere nationale und regionale - Besonderheiten in der Standardsprache. Zu den Alemannen vgl. Kaiser 2018. Zu Siedlungsnamen vgl. Zinsli 1975. Zum Rätoromanischen vgl. ► Rätoromanisch. Zum Althochdeutschen vgl. Sonderegger 1999. 1.2 Terminologisches: Bezeichnungen für sprachliche Varietäten Heute wird Deutsch für ein Gesamt an unterschiedlichen Sprachformen (Varietäten) gebraucht, die im geographischen Raum von den Alpen bis an die Nord- und Ostsee gesprochen werden bzw. wurden und areal-horizontale, sozial-vertikale, situationsbedingte sowie diachrone Unterschiede zeigen. Ein Sammelbegriff ist auch Schweizerdeutsch, der die in der Deutschschweiz gesprochenen Dialekte zusammenfasst und sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts - u. a. gegenüber allgemeine helvetische Mundart oder Schweizerisch - behaupten kann und heute auch für statistische Zwecke verwendet wird. Eine Varietät Schweizerdeutsch existiert nicht, d. h. Schweizerdeutsch hat im psychologischen Sinne keine Gestalt, sondern kommt in Form einzelner Dialekte vor. Aus der Aussenperspektive wird aus mangelnder Kenntnis der dialektalen Realität der Deutschschweiz zuweilen das schweizerische Hochdeutsch mit der Mundart verwechselt und als Schweizerdeutsch bezeichnet. Schriftdeutsch/ -sprache, Hochdeutsch und Standardsprache/ -deutsch werden teils begrifflich auseinandergehalten, teils, wie in der Deutschschweiz (und so auch in den vorliegenden Ausführungen), synonym verwendet, wobei Standardsprache/ -deutsch vor- 22 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="59"?> nehmlich in linguistischen und sprachdidaktischen Kontexten zum Zuge kommt. Trotz synonymer Verwendung lassen die drei Ausdrücke unterschiedliche Bezeichnungsmotive erkennen, die jeweils eine andere Eigenschaft der Gemeinsprache beleuchten. Beim Ausdruck Schriftsprache/ -deutsch dient deren prototypischer Gebrauch als Varietät der medialen Schriftlichkeit als begrifflicher Anknüpfungspunkt. Da diese Sprachform jedoch auch lautiert werden kann, ist Schriftdeutsch reden eine durchaus übliche Ausdrucksweise. Hochdeutsch meinte ursprünglich die Gesamtheit der sog. hochdeutschen Dialekte, die im Süden des deutschen Sprachraums gesprochen werden (im Gegensatz zu den niederdeutschen Dialekten). Da sich die nachmalige deutsche Gemeinsprache auf der Basis dieser südlichen, hochdeutschen Dialekte entwickelte, wurde sie als Hochdeutsch bezeichnet. Ihr Status als Prestige-Varietät führte zu einer Umdeutung von hoch, d. h. die vormals geographische Komponente wurde zu einer Komponente der Qualität umgedeutet. Standardsprache schliesslich hebt auf den Sachverhalt ab, dass es sich um eine Varietät handelt, die einen besonderen Status innehat und - am stärksten im Bereich der Orthographie - sogar eine Kodifizierung erfahren hat, die in den deutschsprachigen Ländern im behördlichen und schulischen Gebrauch verbindlich ist. In Bezug auf die gesprochene Sprache liegen für das ganze deutsche Sprachgebiet verschiedene orthoepische Regelwerke vor, die vor allem von professionellen Sprecher/ innen konsultiert werden. Selbst diese - und vor allem aber die Alltagssprecher/ innen - weichen zumeist von diesen Aussprachenormen ab. Um den Unterschied zwischen dem postulierten Ideal und den tatsächlichen Realisierungen fassen zu können, hat sich für Letzteres in der Linguistik der Begriff Gebrauchsstandard etabliert. Aus Deutschschweizer Innensicht wird der Terminus Standardsprache jedoch auch dann verwendet, wenn die Lautierung der Gemeinsprache deutlich regionale Züge trägt, sich aber vom Dialekt unterscheidet. Aus der Aussenperspektive sind solche Eigenheiten bisweilen ausreichend, um die so gesprochene Varietät als Dialekt einzustufen. Die als Gegenstück zum Standard konzeptualisierte Sprachform wird von ihren Benutzer/ innen als Dialekt (mit maskulinem, selten auch mit neutralem Genus) oder Mundart bezeichnet; mutmasslich veraltet ist gelegentlich von Bauerndeutsch (nach jener Sprechergruppe, die vermeintlich bloss über den Dialekt verfügt) oder von Schlechtdeutsch (nach dem Statusunterschied zum Standard) die Rede. Dabei ist nicht ganz ausgeschlossen, dass schlecht im Sinne von ‘ schlicht ’ , ‘ einfach ’ gemeint war. Im Alltag wird überdies zuweilen Schweizerdeutsch oder Dialekt einer mit Deutsch bezeichneten Sprachform gegenübergestellt. Dies entspricht der üblichen metonymischen Ambiguität von Sprachbezeichnungen als Sammelbezeichnungen für die historische Sprache einerseits und als Name für den Standard andererseits. 1.3 Deutsch als eine von vier Landessprachen Deutsch ist eine der vier Sprachen, die in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV) im Artikel 4 als Landessprachen verankert sind. Diese institutionelle Mehrsprachigkeit verleiht ihren Bürger/ innen das Recht, in einer dieser Landessprachen mit der Bundesverwaltung zu kommunizieren. Die Landessprachen sind in ihren jeweiligen vier Sprachgebieten vorherrschend und durch das sog. Territorialitätsprinzip (auch: ius soli) vor Grenzverschiebungen geschützt. Dieses Prinzip berechtigt die Kantone dazu, eine einzelne Gemeinde oder das ganze Kantonsgebiet nach dem Vorherrschen einer Deutsch 23 <?page no="60"?> Landessprache einem Sprachgebiet zuzuordnen und dort nur eine einzige Sprache anzuerkennen, die dann massgeblich für den behördlichen Austausch ist und als alleinige Unterrichtssprache in der Schule zum Zuge kommt. Dieses Prinzip garantiert eine gewisse sprachliche Homogenität der angestammten Sprachgebiete, schränkt jedoch die in Artikel 18 der Bundesverfassung (BV) zugesicherte individuelle Sprachenfreiheit ein; beispielsweise kann eine Frankophone im Thurgau ihre Kinder nicht auf eine französischsprachige Volksschule schicken, sondern hat sich damit zu arrangieren, dass diese ihrer Erstsprache (als Schulfach) frühestens im regulären Fremdsprachen-Unterricht begegnen. In 17 Kantonen ist Deutsch die alleinige Amtssprache, nämlich in den Kantonen Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Glarus, Luzern, Nidwalden, Obwalden, St. Gallen, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Thurgau, Uri, Zug, Zürich; drei Kantone sind deutsch-französisch zweisprachig (Bern/ Berne, Fribourg/ Freiburg, Valais/ Wallis); im Kanton Graubünden gibt es die Amtssprachen Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch. Da die meisten der 26 Kantone zum deutschsprachigen Gebiet gehören, einschliesslich einiger der bevölkerungsreichsten, ist die deutsche Sprache in der Schweizer Wohnbevölkerung auch am stärksten vertreten. Die vom Bundesamt für Statistik regelmässig veröffentlichten Zahlen zeigen zu Beginn der 2020er Jahre, dass etwas mehr als 60 % der gesamten Wohnbevölkerung Deutsch als eine ihrer Hauptsprachen angeben. Diese Deutschsprachigen leben vorwiegend, aber nicht ausschliesslich, in der Deutschschweiz. Aufgrund der Zuwanderung von Menschen, die keine der vier Landessprachen als Hauptsprache sprechen, ist der Anteil Deutschsprachiger seit 2010 leicht rückläufig mit 65.5 % im Jahr 2010, 62.3 % im Jahr 2020 und 62 % im Jahr 2021 (BFS 2024; dargestellter Zeitraum 2010 - 2021). Dieselbe Tendenz zeigt sich auch in Bezug auf die Sprachen, die mit Angehörigen zu Hause verwendet werden. Hier nimmt das Schweizerdeutsche ab, nicht aber das Hochdeutsche und die Nicht-Landessprachen. So wird im Jahre 2021 zu Hause beispielsweise von mehr Menschen Englisch gesprochen als noch wenige Jahrzehnte zuvor, nämlich von 6.3 % der ständigen Wohnbevölkerung ab dem 15. Altersjahr. Was die üblicherweise gesprochene Sprache am Deutschschweizer Arbeitsplatz betrifft, so gibt ein Viertel der Befragten an, dort gleich mehrere Sprachen zu benutzen. Massgebliche Steuerungsfaktoren dieser Mehrsprachigkeit am Arbeitsplatz sind der ausgeübte Beruf und der Migrationshintergrund. Selbst Migrant/ innen der zweiten Generation sind am Arbeitsplatz «mehrsprachiger» als Erwerbstätige ohne diesen Hintergrund. Schweizerdeutsch wird von über 80 % der Befragten als übliche Sprache am Arbeitsplatz genannt, wobei bei 35 % der Befragten Schweizerdeutsch die alleinige Arbeitssprache ist. Hochdeutsch wird von etwas mehr als 40 % und Englisch von etwas mehr als 20 % der Befragten als übliche Sprache am Deutschschweizer Arbeitsplatz angegeben. Die Landessprachen Italienisch, Französisch und Rätoromanisch werden von weniger als 10 % der Erwerbstätigen genannt (BFS 2024; zeitlicher Bezugspunkt 2021). Insgesamt offenbart die Sprachenstatistik eine Deutschschweiz, in der die schweizerdeutschen Dialekte eine herausragende Rolle im häuslichen und beruflichen Alltag spielen; dieses Bild wird aber dadurch relativiert, dass auf dem Territorium der deutschen Schweiz auch zahlreiche Nicht- Landessprachen verwendet werden und sowohl das Englische wie auch das Hochdeutsche in Familien und am Arbeitsplatz an Bedeutung gewinnen und sich das individuelle sprachliche Repertoire vergrössert. 24 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="61"?> Was die schulische Vermittlung von Deutsch (d. h. Standarddeutsch) in den nichtdeutschsprachigen Landesteilen anbelangt, unterscheidet sich die Praxis der französischsprachigen Westschweizer Kantone von derjenigen des italienischsprachigen Kantons Tessin. In der Regel wird an Schweizer Schulen die erste Fremdsprache in der dritten und die zweite in der fünften Primarschulklasse eingeführt. In den Westschweizer Kantonen (und einigen Regionen des Kantons Graubünden) wird Deutsch als erste Fremdsprache ab der dritten Klasse unterrichtet, im italienischsprachigen Kanton Tessin als zweite Fremdsprache ab der siebten Klasse (vgl. EDK 2023). Es ist anzunehmen, dass der Fremdsprachenunterricht in den obligatorischen Schulen mehrheitlich von Lehrpersonen erteilt wird, die die jeweilige Zielsprache nicht als Erstsprache erworben haben. Allerdings gibt es dazu keine verlässlichen Zahlen. Ebenso wenig gibt es zum Ertrag des Deutschunterrichts, besonders in den französischsprachigen Kantonen, systematische Untersuchungen. Einzelne empirische Studien sowie zahlreiche kritische Einschätzungen liegen jedoch vor, dies mit dem Fazit, dass der Erfolg von vielen Jahren Deutschunterricht in der Westschweiz zu bescheiden bleibe. Auch der Übergang von eher kontrastiven, kognitiven und schriftlichen Lehrmethoden zu eher handlungsorientierten Kompetenzmethoden, die an der Mehrsprachigkeitsdidaktik ausgerichtet sind, scheint nicht unmittelbar zu einem durchschlagenden Erfolg des Deutschunterrichts in den obligatorischen Schulen der Westschweiz geführt zu haben. Seit geraumer Zeit wird in Westschweizer Kantonen - in der Waadt etwa über Postulate im kantonalen Parlament - die kontrovers diskutierte Frage nach einem Schweizerdeutsch-Unterricht laut, der die Romands auf den Deutschschweizer Alltag vorbereiten soll. Im Kanton Genf werden die Schüler/ innen auf der Sekundarstufe I seit 2012 mit Schweizerdeutsch konfrontiert, dies jedoch nicht, um aktive Dialektkompetenz zu erwerben, sondern um das Hörverstehen zu fördern und ein Bewusstsein für den Stellenwert des Dialekts in der Deutschschweiz zu entwickeln. Zum Sprachformengebrauch am Arbeitsplatz vgl. ► Wolf_Band2. Zum Englischen in der Schweiz vgl. ► Englisch. Zu historischen und ideologischen Aspekten der Schweizer Sprachenstatistik vgl. ► Sprachenstatistik. Zu empirischen Studien zum schulischen Deutscherwerb und zu Lernmethoden vgl. Diehl et al. 2000; Elmiger 2021; Lenz und Studer 2008. 2 Dialekt in der Deutschschweiz Deutschschweizer Sprecher/ innen aller sozialer Gruppen und Bildungsschichten verwenden im Alltag ihren je eigenen lokalen Dialekt, und dies auch dann, wenn das Gegenüber eine andere Ausprägung des Schweizerdeutschen spricht. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts muss der Stellenwert des Dialekts in der Deutschschweiz - im Vergleich zu anderen Regionen - ein aussergewöhnlicher gewesen sein. So konstatierte Jacob Grimm in seinem Vorwort zum Deutschen Wörterbuch, die schweizerische Volkssprache sei «mehr als bloszer dialect, wie es schon aus der freiheit des volks sich begreifen läszt» (Grimm 1854: XVIII). Im Folgenden werden die Deutschschweizer Dialekte aus formaler Warte beschrieben, während sich Abschnitt 4 dem Gebrauch von Dialekt und Standardsprache widmet. Deutsch 25 <?page no="62"?> 2.1 Schweizerdeutsche Dialekte als südwestdeutsche Dialekte Die Dialekte, die in der deutschen Schweiz gesprochen werden, ordnet man dem Dialektverband des Alemannischen zu. Davon ausgenommen sind einzig das bündnerische Samnaun mit seinem bairischen Dialekt ( ► Samnaun) sowie das Aargauer Surbtal, wo die jüdische Einwohnerschaft bis ins 20. Jahrhundert einen heute kaum mehr greifbaren westjiddischen Dialekt sprach. Im Unterschied zu Südbaden hat sich die Dialektbezeichnung Alemannisch im Deutschschweizer Alltag nicht etabliert (vgl. jedoch fr. Suisse alémanique ‘ Deutschschweiz ’ ). Alemannisch lehnt sich an die Stammesbezeichnung der Alemannen an. Obwohl die mutmasslichen Siedlungsgebiete der germanischen Volksstämme nicht zwingend mit den entsprechend bezeichneten Dialektgebieten übereinstimmen, hat sich die Terminologie bis heute gehalten und Bezeichnungsalternativen wie Westoberdeutsch bleiben vergleichsweise selten und der Wissenschaft vorbehalten. Das alemannische Dialektgebiet, das im weiteren Sinne auch das Schwäbische umfasst, grenzt im Westen und im Süden an Gebiete mit den romanischen Sprachen Französisch, Italienisch und Rätoromanisch bzw. deren regionalsprachlichen Ausprägungen. Im Norden schliessen sich fränkische, im Osten bairische Dialekte an. Bereits in Jutz ’ (1931: 4) Feststellung zur Qualität dieser Dialektgrenzen klingt die grundsätzliche Schwierigkeit an, Dialekte klar voneinander abzugrenzen: Für die Abgrenzung des Alemannischen im Norden gegen das Fränkische und im Nordosten gegen das Bairische von der französischen Sprachgrenze bis zur Lechmündung gebricht es an einem einheitlichen Mundartmerkmal, das für die Scheidung der genannten Dialekte geeignet wäre. Traditionell wurden klaren Verhältnissen zuliebe einzelne sprachliche Merkmale benannt, die die erwünschte dialektale Grenzziehung erlauben: Gegenüber dem Fränkischen sind dies etwa die im Alemannischen erhaltenen Entsprechungen der mhd. Diphthonge ie, uo und üe, die in den meisten fränkischen Dialekten als lange Monophthonge realisiert werden: [li ə b ̥ ] vs. fränk. [li ː p] ‘ lieb ’ , [gu ə t] vs. [gu ː t] ‘ gut ’ , [ ˈ gry ə s ə (n)] vs. [ ˈ gry: s ə n] ‘ grüssen ’ (nachfolgend werden Sprachbelege entweder in IPA transkribiert oder in Dieth- Schrift [1986] wiedergegeben). Gegenüber dem Bairischen wird das unterschiedliche Personalpronomen der 2. Pers. Pl. Dativ/ Akkusativ (euch vs. bair. enk) für eine Abgrenzung geltend gemacht. Für die Eigenwahrnehmung besonders wichtig ist die in den alemannischen Dialekten fehlende neuhochdeutsche Diphthongierung. Haus wird schweizerdeutsch [hu: s] und nicht [ha ʊ ̯ s] ausgesprochen; gleichermassen monophthongisch lautet Eis in der Deutschschweiz [i: s] und Leute [ly: t]. In den meisten Dialekten fällt überdies in unbetonten Silben auslautendes n aus ([ma χə ] ‘ machen ’ ). Auf der Ebene der Formenbildung ist sowohl die Nutzbarmachung des Umlauts für die Pluralbildung zu nennen (Hünd, Pünkt, Tschöpp ‘ Hunde ’ , ‘ Punkte ’ , ‘ Jobs ’ ) als auch das eigentliche Schibboleth des Schweizerdeutschen, nämlich die Diminutivbildung auf -li. Teilweise haben sich -li-Endungen bei Substantiven sogar verfestigt (Heftli ‘ Illustrierte ’ , Rüebli ‘ Karotte ’ , Müesli), und sie sind auch in Familiennamen häufig anzutreffen (Stöckli, Bürkli). Verbale elen-Bildungen wie herbschtelen ‘ an den Herbst gemahnen ’ , fischelen ‘ nach Fisch riechen ’ oder zmörgelen ‘ behaglich frühstücken ’ gelten ebenfalls als typisch. Für den Ausdruck von Vergangenem steht - wie ebenso in anderen südlichen deutschen Dialekten - als Tempus nur das Perfekt zur Verfügung. Als Eigenheit des Schweizerdeutschen gilt zudem die teils obligatorische 26 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="63"?> Verbverdoppelung in Sätzen wie Er gaat ga iichaufe ‘ er geht einkaufen ’ . Überdies kann hier der Definitartikel erwähnt werden, der in den meisten Deutschschweizer Dialekten beim Gebrauch von Ruf- oder Familiennamen bindend ist (d Anna, dr Müller). Dabei kann bei Frauennamen - und im Wallis auch bei modifizierten Männernamen - neutrales Genus vorkommen (s Anna, ds Dani zu Daniel). Des Weiteren zeichnen sich die Deutschschweizer Dialekte - aber ebenso das gesprochene Schweizer Hochdeutsch - durch ihre besondere Prosodie und ihre vergleichsweise grössere Silbensprachlichkeit aus mit der Tendenz zu Konsonant-Vokal-Silben, die sich teilweise in wortübergreifenden Liaisons und dem Einschub von Konsonanten zeigt (wie. ni.ksei.tha ‘ wie ich gesagt habe ’ ). Diese Silbensprachlichkeit bildet einen Gegensatz zur sonst vorherrschenden Akzentsprachlichkeit im nördlichen deutschen Sprachraum. Erste wissenschaftliche Untersuchungen zur Pragmatik bestätigen die Alltagsvorstellung, wonach einige sprachliche Handlungen in der Deutschschweiz mit anderen Formulierungen vollzogen werden als im übrigen deutschsprachigen Raum. Am Beispiel von Aufforderungen lässt sich z. B. nachweisen, dass konventionelle Indirektheit im Südwesten verbreiteter ist als anderswo. Formulierungen wie «Bitte könnte ich vielleicht … » werden dabei - entgegen den stereotypen Einschätzungen - nicht nur in der Deutschschweiz präferiert, sondern sie kommen in einem Areal vor, das neben der Schweiz auch den äussersten Südwesten Deutschlands umfasst und damit ein alemannisches Areal bestätigt. Zur Einteilung der deutschen Dialekte vgl. Wiesinger 1983. Zu Samnaun vgl. ► Samnaun. Zum Jiddischen vgl. ► Jiddisch. Zur Verdoppelung der Verben lassen und anfangen vgl. SADS 2021: 134 - 152. Zu Artikel und Flexion der Rufnamen SADS 2021, Bd. 1: 64 - 94; Bd. 2: 35 - 49. Zu neutralem Genus bei Eigennamen vgl. Christen und Baumgartner 2021; SADS 2021, Bd. 1: 80 - 94. Zu Familiennamen vgl. ► Berchtold/ Steiner_Band2. Zur regionalen Pragmatik vgl. Ackermann 2021 sowie das Projekt Variantenpragmatik des Deutschen (https: / / variprag.net/ ). 2.2 Die Binnengliederung des Deutschschweizer Dialektgebiets Der Binnengliederung des Schweizerdeutschen (und des Alemannischen) nahmen sich in der Vergangenheit zahlreiche Sprachwissenschaftler und Volkskundler an, wobei für den Deutschschweizer Raum insbesondere die Arbeiten von Hotzenköcherle (1984, 1986) wegweisend sind. Durchgesetzt hat sich die Unterscheidung von Nieder- und Hochalemannisch anhand des Kriteriums der / k/ -Realisierung im Wortanlaut: Zum Frikativ verschobene Laute in Kind ([ χɪ nd]), Kegel ([ ˈχɛ g ə l]) usw. grenzen das Hochalemannische vom Niederalemannischen ab. Der Dialekt der Stadt Basel mit seinem traditionell nicht verschobenen / k/ ([k ɪ nd]) wird somit dem Niederalemannischen zugeschlagen. Die Bündner Dialekte des Rheintals werden dagegen anders beurteilt, da ihr / k/ ([k h u: r] ‘ Chur ’ ) nicht als sprachhistorisch alt gilt, sondern entweder dem Einfluss des romanischen Substrats oder aber dem kanzleideutschen Superstrat zugeschrieben wird. Die Verschiebungsstufen von / k/ werden ausserdem als Ausgliederungskriterium des Höchstalemannischen vom Hochalemannischen genutzt. Der Plosiv / k/ wird nach / n/ - etwa im Wort trinken - in der Nordhälfte der Deutschschweiz entweder nicht verschoben (Hochalemannisch, Typ: [ ˈ tr ɪŋ k ə ]) oder aber als Affrikata realisiert (Hochalemannisch, Typ: [ ˈ tr ɪŋ k χə ]), während in südlichen Regionen / k/ in dieser besonderen Lautposition zu einem Frikativ verschoben wird (Höchstalemannisch, Typ: [ ˈ tri: χə / ˈ tr ɛ i ̯ χə ]). Deutsch 27 <?page no="64"?> Zum Höchstalemannischen werden auch die Dialekte in den Walserorten Graubündens gerechnet (Davos, Vals, Obersaxen u. a.). Die Frikativverschiebung ist zusammen mit weiteren alpinen Merkmalen durch die spätmittelalterliche Siedlungsbewegung von Oberwalliser Bauern über die Alpenpässe nach Oberitalien, ins Tessin (Bosco Gurin) sowie auch in verschiedene Bündner Hochtäler gelangt. Der Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS 1962 - 2003), der auf Daten aus direkten Befragungen an über 500 Ortspunkten beruht, kann weitere Merkmale beibringen, deren Geltungsareale eine grosse Ähnlichkeit mit jenem der Varianten von trinken zeigen. So sind etwa die Entsprechungen der mhd. langen Hochzungenvokale î, û, iu [i: , u: , y: ] in Hiatus-Stellung, d. h. beim Aufeinandertreffen von Vokalen, die zwei Silben angehören, nur im alpinen Süden als Monophthonge erhalten geblieben ([ ˈʃ ni: ə ] ‘ schneien ’ , [ ˈ bu: ə ] ‘ bauen ’ , [ny: -] ‘ neu- ’ ). Nördlich davon werden sie als steigende Diphthonge ausgesprochen ([ ˈʃ n ɛ i ̯ ə ], [ ˈ bou ̯ ə ], [nøi ̯ ]) (vgl. Abb. 1). Die Nord/ Süd-Staffelung, die durch diese und weitere Merkmale begründet und auch Reliktstaffel genannt wird, findet ihre Erklärung in der Siedlungsgeschichte der Deutschschweiz. Je südlicher bzw. alpiner eine Gegend ist, desto mehr sprachliche Relikte weist ihr Dialekt auf. In wenig zugänglichen Regionen nämlich trafen die Neuerungen des Mittellandes (wie [ ˈʃ n ɛ i ̯ ə ]) nicht ein, ebenso wenig sind Neuerungen der alpinen Regionen (wie [ ˈ tri: χə / ˈ tr ɛ i ̯ χə ]) bis zu den Sprecher/ innen im Mittelland gelangt. Dieser Nord/ Süd-Staffelung stehen zahlreiche West/ Ost-Gegensätze gegenüber, wie beispielsweise der sog. Primärumlaut in Wörtern wie Bett, der im Osten als helles [e], im Abb. 1: Nord/ Süd- und West/ Ost-Gegensätze im Schweizerdeutschen vgl. Christen 2019: 249 28 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="65"?> Westen dagegen als offenes [ ɛ ] ausgesprochen wird (vgl. Abb. 1). Diese dialektale West/ Ost-Gliederung wurde Ende des 19. Jahrhunderts anhand der Flexionsendungen des Verbs postuliert: im Osten gibt es für den Verbalplural eine Einheitsendung (z. B. -ed, -ed, -ed), im Westen dagegen zwei Formen (z. B. -ed, -e, -ed). Wegen ihres räumlichen Verlaufs von Süd nach Nord wurde diese Grenze auch als «Brünig-Napf-Reuss-Linie» bezeichnet. Deren Zustandekommen wird mit alten kulturellen Differenzen erklärt, da sich die Linie auffällig mit alten volkskundlichen Raumbildungen deckt - etwa dem Jassen mit französischen oder deutschen Spielkarten oder der Bescherung an Weihnachten bzw. Neujahr. Inwiefern sich allerdings diese sprachräumlichen Verhältnisse seit den Erhebungen im Rahmen des SDS verändert haben oder aber stabil geblieben sind, wird die zukünftige Forschung zeigen, wie etwa das Projekt SDATS (Swiss German Dialects Across Time and Space), bei dem ein Teil des SDS-Fragebuchs mit neuen technologischen Instrumenten wie Smartphones oder Zoom - vergleichsweise zeitsparend - abgefragt wird. Bereits Hotzenköcherle (1986: 45) wies darauf hin, «daß auch syntaktische Phänomene im Spannungsfeld der nordsüdlichen Reliktstaffelung stehen». Was im SDS exemplarisch an der Flektiertheit des prädikativen Adjektivs aufgezeigt wird, kann der Syntaktische Atlas der deutschen Schweiz (SADS 2021) bestätigen. Gewisse syntaktische Phänomene nämlich zeigen tatsächlich einen West/ Ost-Gegensatz (vgl. Abb. 2), wie etwa Finalsätze der Art «(Entschuldigung, ich habe zu wenig Kleingeld,) um ein Billett zu lösen», wo sich die Variante «für ein Billett (zu) lösen» als eher östliche, «zum ein Billett (zu) lösen» als eher westliche Formulierung erweist. Abb. 2: West/ Ost-Gegensätze bei der Bildung von Finalsätzen vgl. SADS 2021: 207 Deutsch 29 <?page no="66"?> Nicht bloss einzelne Merkmale können auf ihre Arealbildung hin besehen werden, sondern digitale «Vermessungen» wie etwa die frei zugängliche «Schweizerdeutsche Dialektometrie» (https: / / dialektkarten.ch/ dmviewer/ swg/ index.de.html) erlauben es, ganze Datenbündel entsprechend zu befragen. Als Beispiel sei die dort angebotene Möglichkeit genannt, bis zu 350 Karten des SDS und des SADS zu bündeln und auf ihre Arealbildung hin zu besehen. Dabei bestätigt sich die Ost/ West-Gliederung als vorrangige Strukturierung des Deutschschweizer Dialektraums auch in quantitativer Hinsicht. Andere geostatistische Vermessungen haben auf der Basis von rund 60 morphosyntaktischen Merkmalen erbracht, dass die Kantonsgrenzen die vorkommenden räumlichen Unterschiede besser erklären können als Konfessionsgrenzen oder Grenzen ökonomischer Regionen (vgl. Derungs et al. 2020). Neuere technische Möglichkeiten sind auch wegweisend für Belange der Prosodie. Dank der digitalisierten akustischen Phonetik gelingt es heute, prosodische Variation innerhalb der Deutschschweiz zu erfassen: «Singende Walliser, langsame Berner, rhythmische Bündner» (Leemann et al. 2018) können heute adäquat beschrieben werden. Das «Singende der Hirten der Hochgebirge von Uri, Bern, Appenzell und Wallis, vorzüglich der Lötscher», das Stalder (1819: 8) sehr wohl wahrnahm, das er aber nicht in der Lage war, «mit todten Buchstaben oder andern unbelebten Zeichen» darzustellen, wird heute erfolgreich vermessen. Längerfristig dürften also auch Kartierungen zur Verfügung stehen, auf denen die räumlichen Unterschiede in Bezug auf die Prosodie visualisiert sind. Zur schweizerdeutschen Dialektlandschaft vgl. Lötscher 1983; Christen 2019. Zu Anlage und Ergebnissen des SADS vgl. Glaser und Bart 2015 sowie SADS 2021. Zur syntaktischen Raumstruktur vgl. Seiler 2005. Zu geostatistischen und dialektometrischen Analysen zum Schweizerdeutschen vgl. ► Glaser_et_al_Band2. Zur Prosodie des Schweizerdeutschen vgl. Siebenhaar 2015. 2.3 Dialektwandel Dass natürliche Sprachen und damit auch Dialekte dauernden Veränderungen unterliegen, versteht sich für ein Kommunikationsmittel, das - schon beim Erstspracherwerb - aus dem Austausch zwischen Sprecher/ innen erwächst, von selbst. Anders als Standardsprachen, die durch ihre Kodifizierung und Festschreibung in Wörterbüchern und Grammatiken eine gewisse Stabilität zeigen, sind nicht kodifizierte Dialekte grösserer Dynamik ausgesetzt. Mutmasslich ist unter den heutigen Bedingungen von binnenschweizerischer Mobilität und Migration nicht nur mit einem grösseren Tempo von sprachlichen Veränderungen zu rechnen, sondern auch mit einem grösseren Umfang an Phänomenen, die in Wandel begriffen sind. Jedenfalls kann sich das, was zwischen Sprecher/ innen an gegenseitigen Abstimmungen sowie durch den Kontakt mit der omnipräsenten Standardsprache geschieht, zu Veränderungen kumulieren, die die jeweiligen Ausgangsdialekte nachhaltig modifizieren. Mit der beginnenden Industrialisierung und der damit verbundenen Umstrukturierung einer sozial und räumlich zunehmend mobileren Gesellschaft waren etwa im 19. Jahrhundert Stimmen zu vernehmen, die gar vom unmittelbar bevorstehenden Verlust der Dialekte ausgingen. Diesem Pessimismus, der Dokumentations- und Archivierungs-Aktivitäten beförderte, verdankt sich auch die Initiative für das «Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache», das sog. Schweizerische Idiotikon (1881 - ), das zum massgeblichen lexikologischen Referenzwerk für das Schweizerdeutsche geworden und seit 2010 auch digital zugänglich ist. Die im 21. Jahrhundert 30 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="67"?> nach wie vor bestehenden schweizerdeutschen Dialekte werden in ein neuerliches Gefährdungsszenario gestellt; in der medialen Öffentlichkeit wird angenommen, dass die globalen Kommunikationsräume des digitalen Zeitalters die lokalen Sprachgebräuche verdrängen würden. Freilich kann gegenwärtig eher eine Konsolidierung, wenn nicht gar eine Ausweitung des Dialektgebrauchs festgestellt werden, da sich der Dialekt in der Schweiz zunehmend auch als informelle Schriftsprache behauptet. In der Fachwelt war der fortlaufende sprachliche Wandel immer ein Kernthema wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Dialektale Veränderungen lastete man im 19. Jahrhundert - wie einst Franz Joseph Stalder in seinen «Landessprachen der Schweiz» (1819: 5) - gerne der «gelehrten Welt» als Verursacher an, dies aufgrund von Alltagsbeobachtungen und damals noch ohne empirische Absicherung. Neuere Untersuchungen zu Variation und Wandel schweizerdeutscher Dialekte gehen diesen «Verursachern» sprachlichen Wandels mit empirischen Forschungsmethoden nach, wie sie massgeblich in der angelsächsischen Soziolinguistik entwickelt wurden, und kommen zu differenzierteren Befunden. Die Studien zu den Steuerungsfaktoren der dialektalen Varianz und/ oder zu den qualitativen Veränderungen der Dialekte sind nicht einheitlich angelegt und überprüfen verschiedene soziale Steuerungsfaktoren auf ihre dialektale Relevanz hin. Allerdings zeichnet sich ab, dass der Faktor Alter - wenn er denn überprüft wird - als jeweils wichtigste Einflussgrösse gelten kann, wobei altersabhängige Unterschiede als Indizien für sprachlichen Wandel gelten können. Andere Faktoren, die sich mehrfach als relevant erweisen, sind Ortsansässigkeit und örtliche Bindung sowie teilweise auch das geographische Mobilitäts- und Kontaktverhalten. Der Faktor Bildung und ebenso das Sprechergeschlecht oder der sozioökonomische Status erweisen sich als eher zweitrangig; Netzwerkstrukturen, d. h. die individuellen Beziehungen zwischen Mitgliedern einer Gruppe, sind bislang erst in einer einzigen Untersuchung in den Blick genommen worden und haben sich dort als relevant erwiesen (vgl. Berthele 2000). Was die Qualität der von Sprachwandel betroffenen dialektalen Merkmale angeht, so machte Wolfensberger (1967: 214) in seiner Studie bereits nach der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Tendenz aus, die sich in zahlreichen Nachfolgestudien in ähnlicher Weise bestätigen sollte: Es lasse sich nämlich «ein Zug zur ‘ Gross[mundart] ’ » feststellen. Hinsichtlich Phonologie und Morphologie zeigen sich nämlich - dies im Abgleich mit älteren Daten - Veränderungen, die Hofer (1997: 271) für die Verhältnisse in der Stadt Basel drei Jahrzehnte später wie folgt charakterisiert: [ … ] es [ist] erwartungsgemäss dort, wo Differenzen bestehen, immer so, dass jüngere Sprecher- Innen mehr sprachgeografisch weiter verbreitete, von der kleinräumigen traditionellen Stadtmundart abweichende Varianten verwenden als ältere SprecherInnen. Dabei lässt sich jedoch keine einheitliche Tendenz gegenüber dem Hochdeutschen ausmachen. Im Bereich der Lautung geht die Entwicklung hin zu Varianten, die mit denjenigen grosser Dialektareale in der Deutschschweiz oder wenigstens der Nordwestschweiz übereinstimmen. Diese Tendenz hin zu «Grossraum-Mundarten», die die «Kleinraum-Mundarten» konkurrenzieren, wie sie Eckhardt (2016) beispielsweise auch für das Churer Rheintal und Fiechter (im Druck) für die Region Laufental/ Thierstein festmachen kann, bildet wohl die veränderten räumlichen Orientierungen heutiger Menschen ab und ist bei jenen Sprecher/ innen, die in anderen deutschsprachigen Gegenden (noch) Dialekt sprechen, in gleicher Weise zu beobachten. An die Stelle von «Dialekten» treten «Regionaldialekte», Deutsch 31 <?page no="68"?> die nach wie vor die räumliche Herkunft von Sprecher/ innen erkennen lassen. Dies ist in der Regel selbst bei Menschen der Fall, deren Familien nicht als ortsansässig gelten können. Im Alltag wird Sprachwandel vornehmlich anhand von Wörtern thematisiert, die angeblich «verschwinden» oder schon verschwunden sind, jedoch als Erinnerungswörter noch abgerufen werden können. Solche Einschätzungen sind nur mit beträchtlichem Aufwand wissenschaftlich zu bestätigen, und man muss sich vorläufig mit wenigen Schlaglichtern auf Stabilität und Wandel von lexikalischen Grössen zufriedengeben. Eine Online-Umfrage aus dem Jahr 2008 vermittelt anhand von achtzehn Begriffen einen Eindruck davon, wie es sich mit lexikalischen Veränderungen verhält. Was etwa die Bezeichnungen für ‘ Kartoffel ’ betrifft, so unterscheidet sich das Raumbild, das durch die an einem Ort dominanten Varianten zustande kommt, kaum von demjenigen, das der ältere Sprachatlas der deutschen Schweiz ausweist. Das hochdeutsche Kartoffel scheint nicht entlehnt zu werden (dessen Anteil beispielsweise bei den fast 700 Züricher Befragten beträgt geringe 0.15 Prozent). Es gibt Ausdrücke wie jenen für ‘ Kuss ’ , bei denen die vorherrschende Bezeichnung ein Raumbild ergibt, das jenem aus dem älteren Sprachatlas stark ähnelt, wenn auch die Variante Kchuss in der aktuellen Befragung bis weit nach Westen im ehemaligen Schmutz-Gebiet genannt wird. Für ‘ Butter ’ hat sich im Osten und Nordwesten sowie im Wallis Butter zur vorherrschenden Variante entwickelt. Freilich dominiert im Westen nach wie vor Anken und in der Region Appenzell Schmalz. Was die Bezeichnungen für ‘ Rösti ’ angeht, so ist heute grösstenteils die Bezeichnung Rösti dominant, andere Bezeichnungen wie Brausi/ Bräusi oder Brägel vermögen sich aber in ihren angestammten Arealen als zusätzliche Varianten zu behaupten. Bei Bezeichnungen, die im Sprachatlas einen arealen Flickenteppich offenbaren, haben einzelne Bezeichnungen ihr Geltungsareal vergrössert, wie etwa die Bezeichnung Zältli für ‘ Bonbon ’ ; andere ‘ Bonbon ’ -Bezeichnungen wie Trops/ Tröpsli haben dagegen an Terrain eingebüsst (vgl. Abb. 3). Insgesamt zeigt sich an diesen wenigen Beispielen, dass es zwar eine Tendenz zu grossräumig geltendem Wortschatz, gleichwohl aber weiterhin Wortlandschaften gibt, die durch regional verwendete Lexeme begründet werden. Da die im Jahr 2008 Befragten jedoch aus einer Liste vorgegebener Varianten ihre Präferenzen ankreuzen konnten, ist nicht der tatsächliche Wortgebrauch untersucht worden. Im einen oder anderen Fall mögen Erinnerungswörter angekreuzt worden sein, die kaum mehr in Gebrauch sind und damit von nächsten Generationen auch nicht mehr gekannt werden dürften. Gerne werden Komposita als «Einfallstore» für neuen, vornehmlich hochdeutschen Wortschatz geltend gemacht. So wird das hochdeutsche Wort Rolltreppe kaum als Rollstääge in den Dialekt integriert. Allerdings erfahren durchaus auch Simplizia Konkurrenz durch hochdeutsche Lexik, die mithilfe von Entsprechungsregeln in die dialektale Lautung eingepasst wird: z. B. dialektales Grien vs. hochdeutsch gestütztes Chies, Mösch vs. Messing, Miesch vs. Moos, Chrösch vs. Kchleie oder (vergleichsweise häufiger verwendetes) Sommervogel, Pfifalter u. a. vs. Schmätterling. Solche Entsprechungsregeln, die etwa hochdeutsches [k] in dialektales [k χ ] bzw. [ χ ] oder [i: ] in [i ə ] umsetzen, sind auch involviert, wenn zu bestehenden dialektalen Varianten neue Aussprachevarianten aus der Umsetzung des hochdeutschen Gegenstücks geschaffen werden: zu Jänner neu Januaar ‘ Januar ’ , zu Augschte neu Auguscht ‘ August ’ , zu Chüttene neu Kchwitte ‘ Quitten ’ . Diese 32 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="69"?> Entsprechungsregeln erzeugen Varianten, die zum einen ältere Varianten allenfalls ersetzen und zum anderen neuen deutschen Wortschatz für den Dialekt zugänglich machen, was einen thematisch nicht eingeschränkten Dialektgebrauch erst ermöglicht. Für das Verbleiben im Dialekt, das für die Deutschschweiz bis heute zweifellos identitätsstiftend ist, ist die formale «Einverleibung» vor allem neuer standardsprachlicher, aber Abb. 3: Bezeichnungen für ‘ Bonbon ’ (nach Daten des SDS und einer Online-Umfrage 2008) vgl. Christen et al. 2019 Deutsch 33 <?page no="70"?> auch englischer Wörter nämlich essenziell, um für vielfältige kommunikative Anforderungen gerüstet zu sein - Ampel-Koalition, Wokeness, Zeitenwende können so auch im Dialekt verhandelt werden (z. B. [ ˈ ampuk χ oalits ˌ jo: n], [ ˈ vouk χ n ɛ s], [ ˈ tsi: t əˌ vændi]). Was derartige lexikalische, aber auch im weitesten Sinne grammatische «Veränderungen nach der Schriftsprache hin» (Wolfensberger 1967: 214) betrifft, so führen diese keineswegs zu einer Konvergenz schweizerischer und süddeutsch-alemannischer Dialekte; vielmehr kann Schifferle (1995: 165) aus seiner empirischen Untersuchung zu Dialektstrukturen in Grenzlandschaften bilanzieren, «dass die Landesgrenze [ … ] zu einer Isoglossenbündelung führt, und dass sich einst ganz ähnliche [V]erhältnisse hüben wie drüben durch beiderseits des Rheins wirksame gegenläufige Tendenzen immer unähnlicher werden». Zum Faktor Alter und Sprachwandel vgl. Hofer 1997; Siebenhaar 2000; Fiechter im Druck. Zu Dialekt/ Hochdeutsch-Entsprechungsregeln vgl. Oglesby 1992. Zur Dialektausprägung «beliebiger» Deutschschweizer/ innen vgl. Christen 1998. Zur Onlineumfrage von 2008 zum dialektalen Wortschatz vgl. Christen et al. 2019. Zu Prinzipien lexikalischen Wandels vgl. Lötscher 2017. 2.4 Flexible Sprecherinnen und Sprecher In der Deutschschweizer Diglossie, in der mündlich meistens im Dialekt kommuniziert wird, gibt es kein Gemeinschweizerdeutsch. Vielmehr sind Sprecher/ innen mit verschiedenen Dialekten ausgestattet, was in einer mobilen Welt zwangsläufig zu polydialektalen Dialogen führt, für deren Gelingen eine «passive Polydialektalität» (Glaser 2014: 52) der Sprecher/ innen unabdingbare Voraussetzung ist. Im kommunikativen Austausch behalten die meisten Sprecher/ innen ihre angestammten Wörter und Formen bei. Freilich gibt es auch solche, die sich in polydialektalen Konstellationen an anderen Dialekten orientieren oder punktuell gar Eigenheiten des Gegenübers übernehmen. Wie Schiesser (2020) beispielsweise anhand einer Studie zur Innerschweiz aufdeckt, nutzen Sprecher/ innen gewisse lokale Lautvarianten, um ihre sozialräumliche Zugehörigkeit dann, wenn sie dies für wichtig erachten, in den Vordergrund zu rücken. Wohl wegen der methodisch schwierigen Zugänglichkeit gibt es wenige Untersuchungen zu punktuellen Anpassungen zwischen Sprecher/ innen verschiedener Dialekte, obgleich dies nicht nur Alltagsthema, sondern auch von wissenschaftlichem Interesse ist, da Akkommodationen unter anderem als Schlüssel zu den Mechanismen längerfristigen Sprachwandels gelten. Insbesondere Sprecher/ innen mit einem walliserdeutschen Erstdialekt standen bisher im Fokus, dies wohl nicht zuletzt aus dem Grund, dass die angebliche Unverständlichkeit zu den Heteroals auch Autostereotypen des Walliserdeutschen gehört und dessen Sprecher/ innen mutmasslich zu Anpassungen im Kontakt mit Andersdialektalen veranlasst. Die Anpassungen erfolgen sowohl kurzfristig gegenüber «Fremden» als auch mittelfristig z. B. in neuer Berner Lebensumgebung. Das Ausmass der Anpassungen scheint weniger vom Alter und Geschlecht der Sprecher/ innen abhängig zu sein als vom Gesprächskontext. Überdies sind es die besonders auffälligen Merkmale, die von Akkommodationen betroffen sind, dies wenn z. B. die Schibilantisierung zurückgenommen und sii statt schii ‘ sie ’ gesagt wird. Zudem erweist sich Akkommodation nicht einfach als Echo auf reale Dialekte von Interaktanten, sondern Varianten, die in vielen Dialekten bzw. bei vielen Sprecher/ innen vorkommen, mögen hier als Zielgrössen Vorrang haben. In den Köpfen der 34 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="71"?> Deutschschweizer/ innen scheint es demnach die Vorstellung eines «allgemeinen Schweizerdeutschen» zu geben. Neuerdings verspricht man sich von experimental-phonetischen Untersuchungen vertiefte Erkenntnisse zu akkommodierendem Verhalten. In einem Experiment mit Zürichdeutsch/ Bündnerdeutsch-Dialogen zeigen Zürichdeutsch-Dialektale eine stärkere Neigung, sich zumindest in Bezug auf die Vokalqualität an das Bündnerdeutsche anzupassen als dies umgekehrt Bünderdeutsch-Dialektale bezogen auf das Zürichdeutsche tun. Diese Indizien für eine unterschiedliche Akkommodationsanfälligkeit dialektaler Merkmale verlangen nach weiteren Bestätigungen; ausserdem müssen soziolinguistische Fragen dahingehend gestellt werden, inwiefern es Dialekte gibt, deren Sprecher/ innen vermehrt akkommodieren. Wie bereits Hofer (1997) angeregt hat, ist überdies zu untersuchen, ob es affektive Faktoren gibt, die Akkommodation begünstigen. Was jemanden zu einem anpassenden «Chamäleon» oder einem dialektal verharrenden «Fossil» macht und so mutmasslich unterschiedlich zu Dialektwandel oder -bewahrung beiträgt, wird heute auch anhand von Korrelationen mit Persönlichkeitstypen untersucht, wie sie zum Beispiel die psychologische Big-Five-Modellierung anbietet. Zur phonetischen Akkommodation vgl. ► Pellegrino_Band2. Zur kurzfristigen und mittelfristigen Anpassung Walliserdeutsch sprechender Personen vgl. Schnidrig 1985 und Werlen et al. 2002. Zu Persönlichkeitseffekten und Sprachwandel vgl. Steiner et al. 2023. 3 Die Standardsprache in der Deutschschweiz 3.1 Schreibsprachliche Vorläufervarietäten Die volkssprachliche Schriftlichkeit war vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit im ganzen deutschsprachigen Raum noch sehr regional geprägt. Das Aufkommen des Buchdrucks sowie die dadurch ermöglichte Verbreitung der Reformationsschriften setzten sodann einen Ausgleichsprozess in Gang, der bis zum Erreichen einer einheitlichen geschriebenen deutschen Sprache mehrere Jahrhunderte andauern sollte. Zur Geschichte dieses regionalen Ausgleichsprozesses gehören die Konkurrenz der Schreibregionen zueinander und die Frage, von welchen Regionen die meisten Impulse ausgingen. Ebenso gehört dazu die Frage, wie einheitlich die Schreibsprachen in den Regionen selbst waren - so einheitlich diese, lange Zeit vor grossräumig vereinbarten Schreibnormierungen, überhaupt sein konnten. Man geht davon aus, dass es im 15. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz eine überregionale, wenn auch nicht völlig von individuellen und landschaftlichen Besonderheiten bereinigte, «Eidgenössische Landsprach» gab, die sich von den Schreibsprachen anderer Regionen unterschied. Die Landsprach, über die noch wenig Forschung vorliegt, hatte eine alemannische Basis, die sich an den lautlichen Spiegelungen in der Schreibsprache zeigte. Man schrieb also beispielsweise <Hus> und nicht <Haus> - ganz so, wie auch in den gesprochenen Varietäten die neuhochdeutsche Diphthongierung im Alemannischen nicht übernommen worden war. Wenn Variation der gesprochenen Varietäten innerhalb der deutschsprachigen Schweiz in der Schreibsprache ausgeglichen wurde, dann waren es entweder die traditionelleren Formen, die präferiert wurden, z. B. <Jar>, auch wenn man mancherorts [j ɔ : r] sagte, oder <Kind>, auch wenn mehrheitlich [ χɪ nd] gesagt wurde (vgl. Schweizerisches Idiotikon). Oder aber es gab Vereinheitlichungen hin Deutsch 35 <?page no="72"?> zu Vereinfachungen, wie den verbalen Einheitsplural auf -end, der auch in der westlichen Deutschschweiz geschrieben wurde, wo bis heute mündlich zwei Formen üblich sind (vgl. Abschnitt 2.2). So schrieb man z. B. <wir/ ihr/ sie schrybend> (Haas 2020: 14). Ab dem 16. Jahrhundert orientierten sich die Schweizer Drucker zunehmend an der vom Mitteldeutschen beeinflussten Schriftsprache. Der Reformator Luther selbst hatte in seinen Schriften die markantesten Merkmale seiner eigenen Varietät des Ostmitteldeutschen zugunsten grossräumiger Varianten aufgegeben, was wohl der Hauptgrund ist, warum Luthers Schriftsprache überhaupt als sprachliches Vorbild dienen konnte. Mit der Zeit beteiligten sich auch die Deutschschweizer an dieser Entwicklung, die vorerst nichts anderes als ein neuer Verschriftungsmodus war. Zeitgleich mit Luther arbeitete auch Zwingli an einer, allerdings an der alemannischen Schriftsprache orientierten, Bibelübersetzung. Die Konfrontation mit Luthers Bibeltext in den reformierten Gebieten der Schweiz, die nicht nur eine sprachliche, sondern (z. B. in Bezug auf das Abendmahl) auch eine theologische war, führte dazu, dass letztlich doch der Luthertext übernommen wurde. Dies zeigte sich z. B. darin, dass bald auch eigentlich «fremde» Diphthonggraphien gedruckt wurden. Auch wenn die «fremden» Schreibungen, z. B. in der Zürcher Zwinglibibel von 1527, ursprünglich für den Export in andere reformierte Gebiete gedacht waren, konnten sie sich zunehmend in Deutschschweizer Druckerzeugnissen behaupten. Die Übergangszeit war jedoch ausgesprochen lang. Selbst zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnte der Luzerner Stadtarzt und Universalgelehrte Karl Nikolaus Lang in seiner Natur- Geschichte «Die Statt Lucern ist ein uhraltes Ort» von «Bäümen, Studen [! ], Kräüteren und Schwümmen» schreiben (Bulinsky 2016: 37), d. h. der Übergang von der Bewahrung der Besonderheiten der Schweizer Schriftsprache hin zu einer verstärkten Teilhabe aller Schreibenden an der zunehmend einheitlicher werdenden neuhochdeutschen Schriftsprache erstreckte sich über einen langen Zeitraum von 1550 bis 1800. In den städtischen Kanzleien der Deutschschweiz etwa sollten sich zum Beispiel die langen Monophthonge (in <hus> ‘ Haus ’ usw.) bis ins 17. Jahrhundert halten, allerdings mit beträchtlichen Unterschieden von Stadt zu Stadt (Basel kann dabei als eher neuerungsfreudig, Luzern als eher bewahrend gelten). Die Negationspartikel <nit/ nüt> wurde noch im 18. Jahrhundert verwendet, bevor sich <nicht> vollständig durchsetzte. Auch schrieb man die Substantive auf <-e> ebenso lange ohne diese Endung (früher <sach>, später <sache>) und das Wortbildungssuffix <-nuß> hielt bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts der <-niß>-Endung stand (früher <glychnuß/ gleichnuß/ >, später <gleichniß>). Die Schreibung <schwöster> ‘ Schwester ’ kommt in den Kanzleien ebenfalls bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor (vgl. Sonderegger 2003: 2854). Die allmähliche Neuorientierung an umfassenderen Normen, die selbst erst im Entstehen begriffen waren, vergrösserte die strukturellen Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener bzw. gedruckter Sprache zusehends. Dies führte dazu, dass den Schweizerinnen und Schweizern der Unterschied zwischen der Sprache, die sie schrieben, und jener, die sie sprachen, immer deutlicher zutage trat. Man wusste jetzt je länger, je deutlicher die Schriftsprache, das sogenannte Hochdeutsch, von den eigenen alemannischen Mundarten zu unterscheiden. (Haas 2020: 21) Nach heutigem Stand der Forschung war es nie beabsichtigt, aus dem alemannischen Dialekt eine eigene Schriftsprache zu schaffen, was allerdings einer Mundartliteratur nicht im Wege stand, die den geschriebenen Dialekt als vielfältiges Stilmittel nutzen konnte und 36 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="73"?> es bis heute kann. Dieses Potenzial dialektaler Schriftlichkeit setzt den Kontrast zur neuhochdeutschen Schriftsprache gerade voraus. Diese war unangefochten, fühlten sich doch auch die Deutschschweizer Schriftsteller trotz ihrer regionalen Identität dem deutschen Sprach- und Kulturraum zugehörig, wovon insbesondere der zur Berühmtheit gelangte Sprachenstreit zeugt, der sich im 18. Jahrhundert zwischen Johann Christoph Gottsched und den Zürchern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger um die allgemein gültige Schriftnorm entfachte. Die Idee, eine eigenständige alemannische Schriftsprache zu schaffen, entstand erst im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland; die «Schwyzertütschi Sproochbiwegig» blieb mit der Lancierung einer eigenen schweizerischen Schriftsprache (vgl. Baer 1936) jedoch chancenlos. Zu offensichtlich schienen und scheinen aus Mehrheitssicht die Nachteile, so dass das Standarddeutsch bis heute nicht nur als Alphabetisierungssprache für Deutschschweizer Kinder fungiert, sondern auch als Schriftsprache letztlich unbestritten ist. Selbst das heute gängige informelle Dialektschreiben nämlich führt nicht zu einer Schriftsprache mit Vereinheitlichung und Kodifizierung, sondern ist eher als Transponierung von gesprochenen Dialekten ins Medium der Schrift zu betrachten (vgl. Abschnitt 4.2.4). Zur Sprache der Bibelübersetzungen von Luther und Zwingli vgl. Haas 2000b. Zur Sprachgeschichte der Schweiz vgl. Lötscher 1983; Haas 2000a; Sonderegger 2003. 3.2 Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen Die Deutschschweizer Standardsprache, auch Schweizerhochdeutsch genannt, weist eine Reihe von spezifischen Merkmalen auf und kann als Varietät des Standarddeutschen innerhalb eines plurizentrischen Modells beschrieben werden. Dies bedeutet, dass die deutsche Sprache in Österreich, Deutschland und der Schweiz einerseits offizielle Amtssprache ist, andererseits in diesen Ländern über eigene, kodifizierte Normen verfügt (vgl. Schmidlin 2011) und so genannte nationale Varietäten ausbildet. Wenn auch der Sachverhalt einer variablen Standardsprache unbestritten ist, so ist das Konzept der nationalen Varietäten nicht unangefochten, da es innerstaatliche Unterschiede und grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten der Varietäten zuweilen ausblendet. Ein alternatives Konzept ist dasjenige pluriarealer Varietäten, das besonders für Deutschland und Österreich auf regionale Variation innerhalb der nationalen Varietäten fokussiert. Aus Sicht einer pluriarealen Modellierung sind die «staatlichen» Unterschiede - die sog. Austriazismen, Helvetismen, Teutonismen - nicht anders zu behandeln als Standardvarianten mit anderen, sich nicht an Nationalgrenzen orientierenden räumlichen Verteilungsmustern. Dennoch besteht in den (nationalen) Sprechergemeinschaften sehr wohl ein Bewusstsein darüber, dass es «staatengebundene» Standardvarianten gibt, die in Einzelfällen gar Schibboleth-Charakter haben. Vorangestellt sei hier die Orthographie, bei deren Kodifizierung sich der Einfluss der Staatlichkeit insofern in einzigartiger Weise zeigt, als die Schweizerische Bundeskanzlei für den behördlichen Schriftverkehr einen verbindlichen Leitfaden vorlegt (Rechtschreibung 2017). So können beispielsweise fallende Diphthonge in dialektalen Orts- und Personennamen, z. B. in Ruedi / ˈ ru ə d ̥ i/ oder in Lueg (Hügel bei Burgdorf) / lu ə g/ in der Schreibung wiedergegeben werden. Die bekannteste orthographische Besonderheit des Deutsch 37 <?page no="74"?> Schweizerhochdeutschen dürfte aber das Fehlen des Graphems <ß> sein, für welches in der Schweiz, mit Ausnahme von internationalen Buchverlagen, konsequent <ss> geschrieben wird. An Schweizer Schulen wird das <ß> schon seit den 1930er Jahren nicht mehr gelehrt. Länger beibehalten wurde <ß> nur von der Neuen Zürcher Zeitung, bevor auch sie 1974 zu <ss> überging. Der Mehrsprachigkeit des Landes ist die orthographische Handhabung der neueren Entlehnungen aus dem Französischen und Italienischen geschuldet, die sich tendenziell an der Schreibung der Quellsprache orientiert (<Communiqué>, <Spaghetti>, <Portemonnaie>). 3.2.1 Lexikalische Besonderheiten Zahlreiche lexikalische Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen gehen auf die schweizerische Form der Demokratie und des Parlamentarismus zurück und sind damit vergleichsweise ‘ junge ’ Wörter. Dazu gehören etwa Majorz, Volksinitiative oder Vernehmlassung. Haas (2000b) nennt lexikalische Helvetismen wie Falle ‘ Klinke ’ , Comestible ‘ Feinkost ’ , parkieren ‘ parken ’ , Traktandenliste ‘ Tagesordnung ’ , deren Ausdrucksstrukturen (ausser in zitatartiger Verwendung) auf die Deutschschweiz beschränkt sind. Von solchen lexikalischen unterscheiden sich semantische Helvetismen dadurch, dass bei ihnen der Ausdruck zwar im ganzen deutschen Sprachraum gebräuchlich ist, in der Schweiz aber eine spezifische Bedeutung hat, z. B. Busse ‘ Bussgeld ’ . Als Frequenzhelvetismen werden Ausdrücke bezeichnet, die in der Schweiz besonders häufig vorkommen, z. B. Kochbutter. Dieses Wort für ‘ Butter der zweithöchsten Handelsklasse ’ scheint ausserhalb der Schweiz nur selten vorzukommen (vgl. Ammon et al. 2016). Hinzufügen kann man unspezifische Varianten, mit denen Ammon (1995) Varianten begrifflich fasst, die zwar nicht überall, aber doch auch in anderen Regionen des deutschen Sprachgebiets vorkommen. So ist allfällig ‘ etwaig ’ sowohl in Österreich als auch in der Deutschschweiz gebräuchlich. Komplizierter ist der Fall Peperoni. Das Wort ist in der Bedeutung ‘ längliche oder rundliche hohle Frucht der Paprikapflanze von gelber, roter oder grüner Farbe ’ in der Schweiz und in Südtirol gebräuchlich. In Deutschland ist die Entsprechung Paprika oder Gemüsepaprika. Gemeindeutsch hingegen ist Paprika in der Bedeutung ‘ Gewürzpulver aus der getrockneten Paprikaschote ’ . Zusätzlich liegt hier eine semantische Variante vor: Peperoni ist in Deutschland auch gebräuchlich, bezieht sich dort aber auf eine Chilischote - die in der Deutschschweiz und Südtirol demgegenüber Peperoncino und in Österreich Pfefferoni genannt wird (Ammon et al. 2016: 532). Mit Anwohner gestattet wird in der Schweiz ausgedrückt, dass die Durchfahrt für an der Strasse ansässige Personen trotz Fahrverbot erlaubt ist; in Deutschland lautet der entsprechende Hinweis Anlieger frei oder Anwohner frei, in Österreich ausgenommen Anrainer (Ammon et al. 2016: 40). Dass sich die räumliche Komponente von nationalen oder regionalen Standardwörtern ändern kann, zeigt sich etwa am Beispiel des Wortes Müesli, das - befördert durch den Erfolg dieser Speise - trotz alemannischem Diminutivsuffix, allerdings oft als Müsli, zu einer gemeindeutschen Bezeichnung geworden ist. Sein Geltungsareal ebenfalls vergrössert hat der Helvetismus Schuldenbremse, der nicht mehr bloss in der Schweiz verwendet wird. Ebenso ist das bislang als bairisches Kennwort geltende Lexem Maut ‘ Wegzoll ’ auf dem Weg dazu, in der Bedeutung ‘ Strassenbenutzungsgebühr ’ auch im Schweizerhochdeutschen verwendet zu werden («Diskussion um Gotthard-Maut», Schlagzeile von SRF vom 5. Juni 2023). 38 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="75"?> Lexikographisch werden die als Helvetismen bekannten Varianten des Schweizerhochdeutschen (neben den Varianten der anderen Varietäten der deutschen Standardsprache) einerseits als Sammlungen von so genannten Besonderheiten der deutschen Standardsprache aufgezeichnet. In anderen Wörterbüchern sind sie als lexikographische Einträge mit regionaler Markierung belegt, z. B. «Abwart [ … ] (schweizerisch): Hausmeister, Hauswart» (Duden 2023). Auf diese Weise zeigt sich die offizielle Legitimation der Helvetismen als Bestandteil der deutschen Standardsprache in der Schweiz. Dieser Aspekt ist nicht unerheblich angesichts des Umstandes, dass in Alltag und Schule Helvetismen, wenn sie denn als solche überhaupt erkannt werden, oftmals als nicht-korrekte oder zumindest minderwertige Varianten gelten. Zu lexikalischen Helvetismen vgl. Löffler 1997; Haas 2000b. Die regionalen Varianten im Wortschatz des Standarddeutschen verzeichnen das Variantenwörterbuch, vgl. Ammon et al. 2016 sowie Meyer 2006; Ebner 2009; Bickel und Landolt 2018. Einsprachige Wörterbücher mit lexikographischer Markierung regionalsprachlicher Lexeme sind: Duden 2023, Duden 2012, Langenscheidt 2019. 3.2.2 Grammatische Besonderheiten Im Vergleich zur Lexik seltener sind grammatische Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen, die neuerdings in der sog. Variantengrammatik elektronisch einsehbar sind. Die arealen Unterschiede werden z. B. mit Frequenzangaben detailliert ausgewiesen, was dem Sachverhalt gerecht wird, dass oftmals in einer Region zwei oder gar mehr Varianten vorkommen, jedoch mit unterschiedlicher Präferenz. So kann beispielsweise die vom Verb anfragen eingeforderte Ergänzung eine Akkusativphrase (die Gemeinde anfragen) oder eine bei-Phrase sein (bei der Gemeinde anfragen). Beide Möglichkeiten sind in der Schweiz belegt, kommen jedoch in einem Verhältnis von 4: 1 vor. Es zeigt sich also eine - im Unterschied zu anderen Regionen - deutliche Präferenz für die Akkusativphrase. Was die Morphosyntax der Verben anbelangt, so werden analytische Tempusformen von liegen, sitzen, stehen, hängen im Schweizerhochdeutschen - und anderen südlichen Regionen des deutschsprachigen Raums - vorwiegend mit sein und nicht mit haben gebildet. Standardsprachliche Unterschiede zeigen sich bei einigen Lexemen, denen unterschiedliches Genus zugewiesen wird. Mami mit neutralem Genus ist auf die Deutschschweiz beschränkt, obwohl hier vereinzelt auch die Mami vorkommt; ähnlich verhält es sich beim Wort Kies, dem nur in der Schweiz neutrales Genus zugewiesen wird, wenn auch maskulines Genus ebenfalls möglich ist. Ein Beispiel für eine syntaktische Variante des Schweizerhochdeutschen ist die Konstruktion kommt hinzu/ dazu am Satzanfang (ohne vorangestelltes es) wie z. B. in: «Kommt hinzu, dass Rapsöl eines der wenigen Öle ist, das Omega-3-Fettsäuren enthält [ … ]» (SRF Puls kompakt, 27.02.2024). Ende Jahr kann ohne Artikel (Ende des Jahres) verwendet werden wie z. B. in folgendem Beleg: «Ende Jahr sind alle Bahnübergänge saniert» (Luzerner Zeitung, 08.11.2014). Ebenso kann in der Deutschschweiz ein wertendes Prädikat vor einem uneingeleiteten Nebensatz stehen: Schön, sind Sie dabei! (Nachrichtensprecherin bei SRF, 10vor10, 11.09.2023). Was die Wortbildung betrifft, so gibt es Varianten, die durch den Kontakt mit den französischen und italienischen Entsprechungen erklärt werden können. So ist im Schweizerhochdeutschen das Suffix -ation (Identifikation, Reservation) häufiger als -ierung Deutsch 39 <?page no="76"?> (Identifizierung, Reservierung), weil die Entsprechungen in den anderen lateinischen Landessprachen auf -ation bzw. -azione lauten. Zudem stellen implizite Ableitungen, die ohne Wortbildungsmittel auskommen, wie Entscheid (statt Entscheidung) oder Unterbruch (statt Unterbrechung), Helvetismen dar. Grammatische Besonderheiten sind in der «Variantengrammatik» online erfasst: http: / / www. variantengrammatik.net/ projektseite.html. Zu kontaktbedingten Wortbildungen vgl. Schmidlin und Franceschini 2019. 3.3 Lautliche Besonderheiten des Standarddeutschen Bei der Mehrheit der Deutschschweizer Sprecher/ innen zeigen sich in ihrem gesprochenen Standarddeutsch lautliche Merkmale, die sie sofort als Deutschschweizer/ innen erkennbar machen. Diese Merkmale sind sowohl auf der segmentalen als auch auf der suprasegmentalen Ebene angesiedelt. Von Deutschsprachigen ausserhalb der Deutschschweiz als prototypisch schweizerisch wahrgenommen werden der apikale r-Laut, ach- Laute an Positionen, an der die sonst übliche Standardlautung den ich-Laut erwarten lässt, oder affrizierte k-Laute, z. B. [ ˈ k χ ra ɪ d ̥ ə ] ‘ Kreide ’ . Die letzteren beiden Merkmale werden allerdings von vielen Deutschschweizern selbst als nicht (mehr) normgerecht empfunden. Nach wie vor charakteristisch für das Schweizerhochdeutsche dürfte aber auch bei professionellen Sprecher/ innen eine im Vergleich zu Sprechern aus Deutschland weniger staccatohaft wirkende Aussprache sein. Diese Wirkung kommt durch den weicheren Stimmeinsatz bei Vokalen zustande, dies im Gegensatz zur Realisierung des Glottisschlags vor anlautendem Vokal im absoluten Wortanlaut, nach Präfixen oder in Zusammensetzungen, wie er in der Standardsprache in Deutschland üblich ist, z. B. [ ʔ axt] ‘ acht ’ im Gegensatz zum schweizerhochdeutschen [axt] (Haas und Hove 2010: 262). Dazu kommt, dass im Schweizerhochdeutschen für auslautende Plosive stimmlose Lenes üblich sind, z. B. [ra: d ̥ ] ‘ Rad ’ im Gegensatz zur in Deutschland üblichen Auslautverhärtung [ra: t]. Die stärker ausgeprägte Silbensprachlichkeit des Schweizerhochdeutschen zeigt sich auch an Assimilationen, die Morphemgrenzen überschreiten, wie in amfangen oder Mamfred (für anfangen, Manfred). Die Akzentsprachlichkeit des insbesondere norddeutsch geprägten Standarddeutschen dagegen markiert umgekehrt - u. a. mit den erwähnten Glottisschlägen und Auslautverhärtungen - gerade die Morphemgrenzen. Zudem zeigt sich im Schweizerhochdeutschen die Tendenz zur Erstsilbenbetonung auch in Fremdwörtern (z. B. im Wort Budget) und zu nicht-reduzierten Endsilben in Infinitivendungen (schweizerisch [ə n] statt [-n ̩ ]). In einigen Wörtern üblich sind im gesprochenen Schweizerhochdeutschen zudem Vokallänge für sonst standarddeutsch übliche Vokalkürze, z. B. dachte, Rache oder an, sowie die Aussprache [i] statt [y] in Ägypten oder Physik. Nicht alle im laienlinguistischen Urteil stereotypisierten Aussprachebesonderheiten des Schweizerhochdeutschen, darunter die Realisierung von <ch> als [x], sind (heute) auch tatsächlich empirisch als frequent belegbar. Gerade in Bezug auf den / k/ - und den <ich>-Laut gibt es beträchtliche Variation. Bei Bieler Befragten erbringt eine Studie dazu den Befund, dass dort für die Variantenwahl die sozialen Faktoren Bildung und Geschlecht ausschlaggebend sind. In einer anderen Untersuchung können ausserdem Effekte der Gesprächskonstellation festgestellt werden: Beim schulischen Hochdeutsch-Gebrauch wird eine Aussprache gewählt, die in der Regel mehr typische Deutschschweizer Lautungen aufweist, 40 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="77"?> als dies beim Hochdeutschgebrauch im Kontakt mit deutschländisches Deutsch Sprechenden der Fall ist. Es gibt starke Anzeichen dafür, dass dann Loyalität, Angst vor sprachlicher Unterlegenheit bzw. davor, verspottet zu werden, oder das Bestreben, selbstbewusst oder kompetent zu wirken, die Aussprache des Hochdeutschen massgeblich beeinflussen. Als Einflussfaktor auf die Lautierung des Hochdeutschen kann auch der Dialekt der Sprecher/ innen veranschlagt werden, der damit eine Binnendifferenzierung der von Schweizer/ innen gesprochenen Standardsprache erlaubt. So mögen geschlossene kurze Hochzungenvokale auf die Ostschweiz weisen, eine dumpfe, o-haltige Aussprache von a- Lauten auf das Wallis oder den Kanton Zürich. Überoffene ä-Lautungen, die in den meisten Dialekten vorkommen, scheinen dagegen nur (noch) in der westlichen Schweiz auch ins Schweizerhochdeutsche übernommen zu werden und sind dort möglicherweise der schulischen Vermittlung geschuldet, die mit der Lautung unter Umständen auch hyperkorrekt auf die Schreibung mit <ä> verweisen will, so z. B. in <Gräser>. Auch wenn es eine Reihe von Forschungsarbeiten gibt, die den Deutschschweizer Gebrauchsstandard systematisch beschreiben - eine orthoepische Norm des Schweizerhochdeutschen gibt es nicht. Die Aussprachebesonderheiten des Schweizerhochdeutschen verdanken sich nicht etwa kodifizierten, sondern subsistenten Normen, die als «Konventionen» (Hove 2002) oder «Oralisierungsnormen» (Schmidt und Herrgen 2011) die Lautierung der Standardsprache bestimmen. Selbst die Richtlinien der gesprochenen Mediensprache, die für die Ausbildung von Moderator/ innen der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender eingesetzt werden, haben für die Medienschaffenden blossen Empfehlungscharakter und führen auch bei Radio und Fernsehen zu variablen Hochdeutschrealisierungen, die zumeist die Erwartungen eines Grossteils des Publikums an ein schweizerisch lautiertes Hochdeutsch erfüllen. In den letzten Jahrzehnten haben sich jedoch zunehmend Konvergenzen hin zu einer von manchen Hörer/ innen als deutschländisch empfundenen Aussprache beobachten lassen. So ist am öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen die Aussprache des Hochdeutschen bei einigen Moderator/ innen nicht mehr immer als Schweizerhochdeutsch erkennbar - auch dann nicht, wenn diese einen Deutschschweizer Hintergrund haben. Ob dieser Wandel der Aussprachepraxis bei professionellen Moderator/ innen eine supranationale Entwicklung im ganzen deutschen Sprachraum ist oder von einer zunehmenden Orientierung an der nord-/ mitteldeutschen Praxis zeugt (vgl. Herrgen 2015), wird die Zukunft zeigen. Den Gebrauchsstandard beschreiben Ulbrich 2005; Hove 2002; Krech et al. 2010; Guntern 2023. Zur Abhängigkeit des gesprochenen Hochdeutschen von sozialen, situativen, adressatenspezfischen und arealen Faktoren vgl. Guntern 2023; Büchler und Bülow 2022; Siebenhaar 1994; Christen et al. 2010. Zu Empfehlungen zum medialen Hochdeutsch-Gebrauch vgl. Geiger et al. 2006. Zur Variation im gesprochenen Hochdeutsch von Nachrichtensprechern im Jahr 1998 vgl. Werlen 2000. 4 Das Mit- und Nebeneinander von Standardsprache und Dialekt Seit dem einflussreichen Aufsatz von Charles A. Ferguson (1959) hat es sich in der Soziolinguistik eingebürgert, das Arrangement der Varietäten, wie es in der Deutschschweiz Geltung hat, als Diglossie zu bezeichnen. Damit ist eine Art von Zweisprachigkeit innerhalb derselben Sprache gemeint. Charakteristisch für die Deutschschweizer Diglos- Deutsch 41 <?page no="78"?> sie ist, dass bei den Sprecher/ innen - unabhängig von deren sozialen Zugehörigkeiten - eine ungeschriebene Regel dafür besteht, wann Dialekt und wann Standardsprache zum Zuge kommen soll. Zur alternativen Beurteilung der Deutschschweizer Sprachsituation als eine Art von Bilingualismus vgl. Berthele 2004, Werlen 1998. 4.1 Der Erwerb der Standardsprache Anders als in den meisten Regionen Deutschlands ist es in der Deutschschweiz bisher nicht üblich geworden, mit Kindern in die Standardsprache zu wechseln oder Sprachlagen zwischen Dialekt und Standardsprache zu verwenden. Dies ist ein stabilisierender, ja sogar unabdingbarer Faktor einer Diglossie-Situation. Darüber, welche Varietät sich in den mittlerweile doch zahlreichen Familien durchsetzt, in denen die (deutschen) Elternteile Dialekt und Standardsprache sprechen, gibt es bislang keine Forschung. Wie kann man sich den diglossischen Spracherwerb, das heisst den doppelten Erwerb eines Deutschschweizer Dialekts und der deutschen Standardsprache, vorstellen? Die akademische Trennung von Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb scheitert, nicht zuletzt aufgrund der ausserfamiliären und massenmedialen Omnipräsenz der Standardsprache, gleich mehrfach an den Gegebenheiten, wie sie sich für Deutschschweizer Kinder zeigen: Nicht nur das Kriterium des zeitlichen Nacheinanders greift nicht; die Standardsprache ist überdies eine strukturell sehr ähnliche Sprachform, die über spezifische Entsprechungsregeln (vgl. Abschnitt 2.3) aus dem Dialekt erschlossen werden kann. So überrascht es nicht, dass Deutschschweizer Kinder Standarddeutsch schon vor ihrem Schuleintritt sehr gut verstehen und selbst ein Standarddeutsch produzieren, das in vielen Bereichen, beispielsweise in der Verteilung der Monophthonge und Diphthonge, bereits mehrheitlich zielsprachlich ist. Als besondere Herausforderung gelten die Tempusformen. Während die Perfektbildung keine Schwierigkeit bereitet (ich habe geschlafen - i ha gschloofe, i bi döt gsii - ich bin dort gewesen), gilt die Bildung des Präteritums besonders von starken Verben (ich schlief) für Deutschschweizer Kinder als Schwierigkeit, da es dazu in ihrem Dialekt keine morphologische Entsprechung gibt. Zu Lernerphänomenen, d. h. systematischen, noch nicht zielsprachlichen Formen im Spracherwerb, führt je nach Dialekt auch die Stellung des Verbalkomplexes im Satz, z. B. i has wele mache - ich hab ’ s wollen machen (ich hab ’ s machen wollen). Auffällig in der Lernersprache von Deutschschweizer Kindern sind lexikalische Kontraste, bei denen die Entsprechungsregeln, auf die man sich sonst gut verlassen kann, gerade versagen: ufe - hinauf (und eben nicht aufen), rüere - werfen (in dieser Bedeutung eben nicht rühren), gheie - fallen, luege - schauen, lose - horchen, lüpfe - heben, hebe - halten, schmöcke - riechen, schnuufe - atmen, gumpe - springen, töibele - trotzen, Muul - Mund, gruusig - eklig. Aufgrund solcher Kontraste sind für die Hochdeutschproduktion bei Deutschschweizer Primarschulkindern Entlehnungen aus dem schweizerdeutschen Lexikon typisch: der Hund geheit aus dem Fenster [ … ] der Hirsch rührt beide ins Wasser (Beispiel aus Häcki Buhofer und Burger 1998: 119). Zu den Herausforderungen für den Standarddeutscherwerb von Deutschschweizer Kindern gehören des Weiteren die Kasusmarkierungen. Zwar gibt es viele Parallelen zwischen Dialekt und Standardsprache, aber auch zahlreiche Unterschiede. Dazu gehört zum Beispiel die Akkusativmarkierung, die von den Deutschschweizer Kindern manchmal 42 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="79"?> auch in Nominativkontexten verwendet werden. Der häufigere Fall ist aber der, dass die Akkusativmarkierung dort, wo sie im Standarddeutschen verlangt wird, fehlt: er jagt der Hund. Solche Verstösse gehen im Verlauf der ersten beiden Primarschuljahre stark zurück (vgl. Ostermai 2000). Es gibt Hinweise dafür, dass die korrekte Markierung des Akkusativs an maskulinen Nomina den Kindern häufiger gelingt, wenn er von einer Präposition regiert wird (in den Teich) als von einem Verb (er jagt den Hund), vgl. Eiche und Henauer (2020). Auch scheint der Schriftspracherwerb bei Deutschschweizer Kindern durch die Diglossiesituation geprägt. In geschriebenen Texten weisen Deutschschweizer Kinder bis zum Alter von ungefähr 11 Jahren einen im Vergleich zu Kindern, die in der Standardsprache primärsozialisiert wurden, kleineren Wortschatzumfang auf (vgl. Schmidlin 1999). Zudem fällt auf, dass die Deutschschweizer Kinder in der Standardsprache weniger Phraseme produzieren als gleichaltrige deutsche Kinder, die in einer standardnahen Umgangssprache primärsozialisiert wurden. In Bezug auf die Satzverknüpfung hingegen scheint sich die Schreibsprache der Deutschschweizer Kinder in schulischen Textsorten, wie der Nacherzählung einer Bildergeschichte, früher an prototypischen Merkmalen der Literalität zu orientieren; anders als gleichaltrige deutsche Kinder, die ihre Sätze mit dem typisch mündlichen Konnektor und dann verknüpfen, verfügen die Deutschschweizer Kinder schon in jüngerem Alter über eine breite Auswahl an kausalen und subordinierenden Konjunktionen (vgl. Schmidlin 1999). In dieser Hinsicht scheinen sie bereits über eine bemerkenswerte Registerkompetenz zu verfügen. Dies könnte damit erklärt werden, dass sie die Standardsprache als diejenige Varietät erwerben, die die Literalität mit ihren verschiedenen Registern repräsentiert. Gewisse Vorteile haben die diglossisch aufwachsenden Kinder auch im Orthographieerwerb, und zwar speziell beim Lautprinzip. Das Schweizerhochdeutsche wird insgesamt schriftnäher ausgesprochen als die standardnahe Umgangssprache. Deshalb schreiben die Deutschschweizer Kinder korrekt <Hirsch> und nicht <Hiasch> (mit r-Vokalisierung) sowie <Kind> und nicht <Kint> (mit Auslautverhärtung) wie standardsprachlich sozialisierte Kinder in Deutschland (vgl. Hove et al. 2020). Zum Erwerb der Standardsprache vgl. Bohnert-Kraus und Kehrein (Hrsg.) 2020; Häcki Buhofer et al. 1994; Häcki Buhofer und Burger 1998. 4.2 Der Gebrauch von Dialekt und/ oder Standardsprache Der Dialekt gilt als die erwartbare Sprachform des mündlichen Deutschschweizer Alltags. Es spielen dabei weder soziale Zugehörigkeiten des Gegenübers eine Rolle, noch ob es sich dabei um vertraute oder fremde Personen handelt. Die Standardsprache dagegen ist die typische Sprachform der Schriftlichkeit. Dieser Sachverhalt veranlasste Kolde (1981) zum präzisierenden Begriff «mediale Diglossie». In den nachfolgenden Abschnitten wird es darum gehen, den gegenwärtigen Gebrauch von Dialekt und Standardsprache auf diese holzschnittartige Charakterisierung hin zu besehen und zu präzisieren. Der Blick richtet sich dabei vornehmlich auf die «Störenfriede» einer strengen medialen Diglossie, nämlich auf die gesprochene Standardsprache und den geschriebenen Dialekt. Dabei wird sich zeigen, dass die mediale Diglossie sich zu einer multifaktoriell geprägten Diglossie zu entwickeln scheint, bei der Aspekte wie Nähe und Distanz, stilistische Ausrichtung oder das anvisierte Gegenüber eine massgebliche Rolle spielen. Deutsch 43 <?page no="80"?> 4.2.1 Gesprochene Standardsprache als situationsinduzierte Sprachform Das Nach-der-Schrift-Sprechen wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Deutschschweiz üblich, um aussergewöhnlichen Situationen mit einer aussergewöhnlichen, nichtalltäglichen Sprachform gerecht zu werden. «Für die Behandlung feierlicher und ernsthafter Gegenstände, etwa in der Wissenschaft oder auf der Kanzel, wurde das Hochdeutsche häufiger als angemessen erachtet» (Ruoss 2020: 78). Was den heutigen Umgang mit den Sprachformen betrifft, so haben sich in Schule, Medien, Politik, Kirche usw. institutionenspezifische Sprachgebräuche etabliert, die immer wieder Anlass zu Debatten geben und im Zuge von gesellschaftlichem Wertewandel - wie seit je - auch Veränderungen unterworfen sind. Zur Bewertung von Dialekt und Hochdeutsch in Vergangenheit und Gegenwart vgl. Ruoss und Schröter (Hrsg.) 2020. Schule Besonders gut sichtbar ist der institutionenspezifische Gebrauch der Standardsprache in der Schule, die in der Pflicht steht, die Standardsprache in ihrer schriftlichen und mündlichen Form zu vermitteln. Dies stellt insbesondere in Bezug auf mündliche Kompetenzen eine Herausforderung dar, zumal die gesprochene Standardsprache im Alltag vergleichsweise selten vorkommt. Die Unterrichtssprache an den Schulen war bereits im 19. Jahrhundert Gegenstand schulpolitischer und pädagogischer Erwägungen, wobei früheste Empfehlungen zum Standardgebrauch auf die 1850er Jahre zurückgehen (Ruoss 2020). Seit der Mitte der 1990er Jahre schreiben die kantonalen Lehrpläne Standarddeutsch als Unterrichtssprache auf allen Schulstufen und grundsätzlich in allen Unterrichtsfächern vor. Davon, dass der Dialekt an Deutschschweizer Schulen jedoch weiterhin zur Anwendung kommt, lässt sich im Rahmen von Schulbesuchen auch heute noch leicht ein Bild machen. Einerseits sind es bestimmte Fächer wie Sport oder Musik, die den Dialektgebrauch begünstigen. Andererseits sind es auch gerade aktuelle Unterrichtsformen, bei denen der Lehrstoff nicht frontal durch die Lehrperson vermittelt wird, die den Gebrauch des Dialekts befördern: Schüler/ innen sprechen unter sich, auch beim gemeinsamen Lösen von Aufgaben, eher Dialekt als Standardsprache. In Gruppengesprächen kommen die schulische Erwartung, konsequent Standarddeutsch zu sprechen, und die gesellschaftliche Praxis, dass Deutschschweizer/ innen untereinander Dialekt sprechen, in einen Zielkonflikt. Metapragmatische Kommentare wie «Müemer jetz würklich Hochdütsch rede? » machen offenkundig, dass der dialogische Gebrauch der Standardsprache hier nicht den Konventionen entspricht und für die Schüler/ innen zu gekünstelt wirken mag. Neuere empirische Untersuchungen zum Varietätengebrauch auf der Primarschulstufe zeigen allerdings, dass es auch Gruppengespräche gibt, die nicht mehr ausschliesslich im Dialekt, und sogar solche, die vollständig in der Standardsprache geführt werden. Letzteres ist vor allem dann der Fall, wenn Kinder mit Deutsch als Zweitsprache Mitglieder der Gesprächsgruppe sind. Schulpolitische Hochdeutsch-Offensiven scheinen vor allem das sprachliche Verhalten der Lehrkräfte in Richtung konsequenteren Standardgebrauch geprägt zu haben. Es kann sogar gelegentlich beobachtet werden, dass Schulkinder ihre Lehrperson selbst auf Schulausgängen auf Hochdeutsch ansprechen. Ob sich allerdings die pragmatischen Regeln eines situationsspezifischen langfristig hin zu jenen eines adressatenspezifischen 44 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="81"?> Standardgebrauchs verändern, ist ungewiss. Es kann jedoch insgesamt von einer leichten Dynamisierung der schulischen Varietätenwahl ausgegangen werden, die zumindest teilweise mit der veränderten Sozialstruktur der Schülerpopulation erklärt werden kann. Diese ist von einer Zunahme von Schüler/ innen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch bzw. Schweizerdeutsch geprägt. Umstritten und gar Gegenstand politischer Vorstösse ist der didaktische Umgang mit der Diglossie bei der Einschulung fremdsprachiger Kinder. Dies gilt besonders für die Kindergartenstufe. In einer früh entwickelten Dialektkompetenz wird die Chance gesehen, sich besser in die Peer-Group und damit in die Sprachgemeinschaft zu integrieren. Von einem Fokus auf die Standardsprache verspricht man sich dagegen eine Erleichterung für das Lesen- und Schreibenlernen und damit schulische Vorteile. In der Regel wird der gleichzeitige Erwerb von Standardsprache und Dialekt von nicht-deutschsprachigen Kindern gut gemeistert, auch wenn es in ihrer Sprachproduktion zu Mischformen kommen kann. Auffällig sind in der Standardsprache von nicht-deutschsprachigen Kindern Verstösse gegen Kongruenzregeln, Auslassungen von obligatorischen Artikeln sowie Kasusfehler. Zudem verwenden diese auch häufig die periphrastische Konstruktion tun mit Infinitiv. Dabei ist es nicht ausschlaggebend, ob die fremdsprachigen Kinder einen Kindergarten besucht haben, wo eher Standardsprache, oder einen, wo eher Dialekt gesprochen wurde. Zu Varietätengebrauch in der Schule vgl. Luginbühl und Schmidlin 2023. Zum doppelten Erwerb des Dialekts und der Standardsprache als Zweitsprache(n) bei Schüler/ innen vgl. Gyger et al. 2011; Häcki Buhofer 2019: 941; Landert 2007; Suter Tufekovic 2008; Montefiori 2017. Zum doppelten Erwerb der Varietäten bei Erwachsenen vgl. Ender 2022. Politik Heterogen zeigt sich die Varietätenverwendung in politischen Gremien. Im National- und Ständerat sowie in den zweisprachigen Kantonen dominiert Standardsprache, auf Kantons-, Stadt- und Gemeindeebene kommt aber auch der Dialekt als mündliche Kommissions- und Verhandlungssprache vor. Die Sprachformenwahl gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen und politischen Vorstössen. Während im ausgehenden 20. Jahrhundert vor allem die politische Linke für mehr Mundart in kantonalen oder städtischen Gremien plädierte - dies um wenig geübte Standardsprecher/ innen nicht vom Reden abzuhalten - , sind es jüngst eher Protagonist/ innen aus dem rechten politischen Spektrum, die das Schweizerdeutsche als Debattensprache lancieren wollen. Im Eidgenössischen Parlament fand ein entsprechender parlamentarischer Vorstoss im Jahr 2023 allerdings keine Ratsmehrheit. Die Argumente, wonach nicht alle Dialekte gleichermassen verständlich seien oder die Verwendung des Schweizerdeutschen von den anderssprachigen Ratsmitgliedern als Affront verstanden werden könnte, überzeugten mehr als die Sichtweise, wonach Schweizerdeutsch die «eigentliche», die Nation verkörpernde Sprache der Deutschschweiz sei. Obwohl abgelehnt, macht der Vorstoss deutlich, dass die Dialekte ein hohes Identifikationspotential haben und als Sprachen mit Prestige betrachtet werden, deren Gebrauch der Würde und Erhabenheit eines Parlamentsbetriebs keinen Abbruch tut. Zum Sprachgebrauch in Parlamenten vgl. Löffler 1997. Deutsch 45 <?page no="82"?> Medien Das Bundesamt für Kommunikation verbindet die Konzession für Radio und Fernsehen - beruhend auf dem Bundesgesetz über Radio und Fernsehen (RTVG, Art. 245) - mit folgender Auflage: «In wichtigen, über die Sprach- und Landesgrenzen hinaus interessierenden Informationssendungen ist in der Regel die Hochsprache zu verwenden». Diese Formulierung lässt nicht nur einen Interpretationsspielraum zu, wann die Standardsprache zu verwenden sei, sondern sie ist auch Ausdruck davon, dass der Dialektgebrauch keiner entsprechenden Empfehlung bedarf, sondern als gesprochene Sprachform den Normalfall darstellt. Die Wahl von Dialekt oder Standardsprache für die einzelnen Sendegefässe wird den öffentlich-rechtlichen Medien überlassen, sie steht jedoch unter Beobachtung. Selbst geringfügige Änderungen im Sprachformengebrauch vermögen Staub aufzuwirbeln. So löste der Wechsel vom Hochdeutschen in den Dialekt in der Sendung Meteo im Jahr 2006 heftige Publikumsreaktionen aus, die von Ablehnung («peinlich», «arrogant») bis Zustimmung («Wärme und Geborgenheit durch Dialekt») reichten. Die damalige Fernsehdirektorin Ingrid Deltenre hatte diese Umstellung sogar vor der nationalrätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) zu rechtfertigen. Seit den 1980er Jahren hat der Dialektgebrauch am Deutschschweizer Radio und Fernsehen insgesamt zugenommen. Dies ist grösstenteils mit neuen Sendeformaten zu erklären, die zur Informalisierung tendieren und den Eindruck von Authentizität erzeugen wollen. So fand etwa schon jene legendäre Begegnung zwischen dem Schriftsteller Max Frisch und dem damaligen Bundesrat Kurt Furgler, die Heiner Gautschi am 3. März 1978 im Schweizer Fernsehen moderierte, im Dialekt statt. Bereits der Titel des Sendeformats, unter uns gesagt, weckte die Erwartung an einen Austausch, der sich wie eine persönliche Begegnung ausnimmt, was (auch) mit der gewählten Sprachform erfüllt werden konnte. Während in den privaten Medien heute der Dialekt für sämtliche Sendeformate bevorzugt wird, werden in den öffentlich-rechtlichen Medien beide Sprachformen genutzt. Deren Gebrauch ist einer von vielen Bestandteilen des Sendekonzepts und ist u. a. abhängig vom Thema, den beteiligten Personen und dem Zielpublikum. So wird z. B. im Nachrichten-Magazin Schweiz aktuell, das täglich über regionale Themen und Ereignisse berichtet, konsequent Dialekt gesprochen. Die Varietätenwahl hängt jedoch nicht nur von der Art der Sendungen, sondern auch von den einzelnen Sequenzen und Sprecherkonstellationen innerhalb der Sendungen ab. Beispielsweise sind in der Hauptausgabe der Tagesschau sowohl Moderation, Interviews und Beiträge in Standardsprache gehalten. Unter Beiträgen sind Filmberichte zu verstehen sowie weitere Präsentationsformen, die nicht im Studio produziert werden und keine Interviews sind. In 10 vor 10, der zweiten abendlichen Nachrichtensendung mit einem gegenüber der Tagesschau informelleren Sendekonzept, sind Moderation und Beiträge ebenfalls standardsprachlich, die Interviews - im Studio oder als Einblendungen - sind hingegen dialektal. Als weitere Beispiele können die Diskussionssendungen Arena oder Club genannt werden, wo Dialekt gesprochen wird. Sprechen Teilnehmende erkennbar keinen Dialekt, wird die Wahl der Sprachform vor Kamera und Mikrophon thematisiert und legitimiert. Verstehen alle Beteiligten Dialekt, «darf» Dialekt gesprochen werden. Ist dies nicht der Fall, «muss» in die Standardsprache gewechselt werden. Aus dieser expliziten Rechtfertigung der 46 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="83"?> Varietätenwahl kann geschlossen werden, dass die Medienschaffenden von einem sensibilisierten Publikum ausgehen. Die für Aussenstehende gelegentlich willkürlich anmutende Wahl gesprochener Varietäten in den Deutschschweizer Medien widerspiegelt die Dynamik und den Aushandlungsbedarf des Varietätengebrauchs, wie er auch in nicht-medialen Kommunikationssituationen zu beobachten ist - etwa in der Schule oder am Arbeitsplatz. Gleichzeitig ist aus Sicht der Medienverantwortlichen wohl nicht zu unterschätzen, dass der dem Deutschschweizer Alltag nachempfundene Gebrauch des Dialekts ein Alleinstellungsmerkmal im breit gefächerten deutschsprachigen Medienangebot ist, von dem man sich gewiss auch einen positiven Effekt auf die Einschaltquoten verspricht. Dies könnte ebenso die deutliche Mundartpräferenz privater Medien erklären. Zur Sprachformenwahl im Radio vgl. Ramseier 1988, in den Medien allgemein Haas 2004; Luginbühl 2012; Burger und Luginbühl 2014. Kirche Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich die Gebrauchsregeln für die Varietätenwahl in den Kirchen der christlichen Konfessionen grundlegend verändert. Während sich in der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil das Lateinische als Sprachform für die Messe und die Standardsprache als jene für die Predigt halten konnten, entschieden sich in der evangelisch-reformierten Kirche ab den 1920er Jahren vereinzelte Seelsorger/ innen für den Dialekt, wie dies noch im 19. Jahrhundert - damals zugunsten des Standarddeutschen immer seltener werdende - Praxis war. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beansprucht der Dialekt einen zunehmend grösseren Platz in allen Landeskirchen. Zwar ist in ausgeprägt sakralen gottesdienstlichen Handlungen wie der Eucharistie beziehungsweise dem Abendmahl oder der Verkündigung des Evangeliums die Standardsprache üblich. In den Dialekt gewechselt wird jedoch beispielsweise bei Mitteilungen oder für die Verabschiedung nach dem Segen. Der Wechsel der Sprachform wird somit genutzt, um verschiedene Elemente eines kirchlichen Anlasses auch sprachlich voneinander abzuheben. Zudem gibt es kirchliche Veranstaltungen - etwa Taufen oder Gottesdienste für Kinder - , bei denen besonders oft Dialekt gesprochen wird. Für diese Sprachformenwahl könnte ausschlaggebend sein, dass der Dialekt für jene Varietät gehalten wird, die einem kleinen familiären Kreis angemessen oder aber kindgemässer ist. Der Gebrauch des Dialekts kann damit auch als Indiz für einen Wertewandel in den Landeskirchen gelesen werden, bei dem der Nähe zu den Gläubigen höhere Priorität eingeräumt wird als der förmlichen Ausgestaltung von Ritualen. Zur Varietätenwahl in der Kirche vgl. Oberholzer 2018. 4.2.2 Gesprochene Standardsprache als adressateninduzierte Sprachform Gegen Ende des 19. Jahrhunderts scheint in Deutschschweizer Städten Hochdeutsch «en vogue» gewesen zu sein, so dass einige sogar dazu neigten, mit «gänzlich Unbekannten sowie mit mundartvertrauten Menschen Hochdeutsch zu sprechen» (Schröter 2020: 130). Wohl weil der Dialekt sich spätestens seit der Gründung des Bundesstaates 1848 zu einem Symbol für die nationale Zusammengehörigkeit und immer stärker zu einem wesentlichen Bestandteil der deutschschweizerischen Identität entwickelte, konnte sich die Standard- Deutsch 47 <?page no="84"?> sprache im Alltag jedoch nicht durchsetzen. In der Zeit des Nationalsozialismus spielte der Dialekt überdies eine Rolle zur Abgrenzung gegenüber Deutschland, wobei er insbesondere im Film zu einem kulturpolitischen Instrument der Geistigen Landesverteidigung wurde. Wenn heute jedoch vom Dialekt als Alltagssprache unter Deutschschweizer/ innen die Rede ist, wird ausgeblendet, dass es im Einwanderungsland Schweiz mit seinem hohen Anteil an Menschen, die nicht in einer der Landessprachen sozialisiert wurden, immer wieder zu Begegnungen kommt, bei denen der Gebrauch des Dialekts keineswegs selbstverständlich ist. Vielmehr kann die Wahl der angemessenen Sprachform, insbesondere gegenüber Unbekannten, eine Herausforderung darstellen. Spricht jemand erkennbar kein Schweizerdeutsch, sondern entweder lernersprachliches Deutsch oder ein Deutsch aus einer anderen deutschsprachigen Region, dann macht die Wahl der Standardsprache ein Entgegenkommen kenntlich: Um der Verständigung willen wird jene Sprachform gewählt, von der angenommen wird, dass sie das Gegenüber eher versteht oder dass es jene Form ist, die auch im Fremdsprachen-Unterricht gelernt wird. Allerdings signalisiert die Wahl der Standardsprache gleichzeitig, dass die so Angesprochenen als nicht zur Gemeinschaft der Deutschschweizer/ innen zugehörig betrachtet werden. Tatsächlich bewerten Betroffene die Sprachformenwahl durchaus kontrovers. Laut einer Untersuchung aus den 1990er Jahren wünschen sich einige deutsche Zuwanderer, dass man mit ihnen Standardsprache spricht. Andere dagegen fühlen sich unwohl, wenn sie merken, dass nur ihretwegen auf den Dialekt verzichtet wird. Wieder andere stören sich daran, dass man mit ihnen - trotz ihrer Beteuerung, Dialekt zu verstehen - Standardsprache spricht. Eine linguistische Untersuchung anhand von Mitschnitten des Notrufs verschiedener Deutschschweizer Kantonspolizeikommandos liefert Aufschlüsse darüber, was bei einem Erstkontakt ausschlaggebend für die Wahl von Dialekt oder Standardsprache ist, dies in einer Situation, in der nicht die Beziehungspflege im Vordergrund steht, sondern die Lösung eines dringenden Problems (vgl. Christen et al. 2010). In knapp fünfhundert Telefonaten mit Personen, die erkennbar keinen Deutschschweizer Dialekt als Erstsprache sprechen, zeigt sich, dass die Standardsprache am ehesten dann gewählt wird, wenn das Gegenüber deutschländisches Deutsch spricht. Finden sich in den Äusserungen der Anrufenden Anhaltspunkte für eine gewisse Vertrautheit mit der Deutschschweiz - etwa vereinzelte dialektale Wörter - verbleibt das Polizeipersonal eher im Dialekt. Es konnte überdies beobachtet werden, dass einzelne Polizeibeamte auf eine lernersprachliche Dialekt-/ Standard-Mischsprache ebenfalls mit einer Mischsprache reagieren, die hier als Annäherung an den Gesprächspartner verstanden werden kann. Was bisher nicht empirisch untersucht wurde, aber immer wieder als Stein des Anstosses (und als Argument gegen den (Standard-)Deutschunterricht in der lateinischen Schweiz) formuliert wird, ist die Beobachtung, wonach in informellen Unterhaltungen, an denen sich nebst Deutschschweizer/ innen einzelne Dialektunkundige beteiligen, zwar vorerst Standardsprache, früher oder später aber wieder Dialekt gesprochen werde. Dadurch können sich Dialektunkundige ausgeschlossen fühlen. Ein Grund für dieses Verhalten mag sein, dass es für die beteiligten Deutschschweizer/ innen befremdlich und ein Verstoss gegen die Regeln der Diglossie ist, andere (Deutschschweizer/ innen) im kleinen Kreis in Standardsprache anzusprechen. Dafür, dass diese pragmatische Regel in Veränderung begriffen wäre, gibt es gegenwärtig keinerlei Anzeichen. 48 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="85"?> Zum Code-Switching in der Fussball-Berichterstattung vgl. Petkova 2016. Zu Deutschen in der Deutschschweiz vgl. Koller 1992; ► Wolf_Band2. 4.2.3 Gesprochene Standardsprache als diskursinduzierte Sprachform Code-Switching vom Dialekt in die Standardsprache, das weder durch die Situation noch durch die fehlende Dialektkompetenz von Adressierten ausgelöst wird, kann mitunter auch als kommunikatives Mittel genutzt werden, um im diskursiven Geschehen punktuell bestimmte Effekte wie etwa eine Heraushebung zu erzeugen. So können innerhalb dialektaler Interaktionen standardsprachliche Einschübe erfolgen, etwa für die Realisierung von Namen (Frau Schneider; Gartenmatt), von idiomatischen Wendungen (der guten Ordnung halber; eines Tages; Morgenstund hat Gold im Mund), von Fachausdrücken (häusliche Gewalt) oder zur Kennzeichnung von Zitaten (Wir schaffen das). Standardsprachliche Insertionen können zudem der Gesprächsorganisation (kleine Frage; na dann) oder der Heraushebung von Gesprächsteilen (das isch äifach nicht möglich) dienen. Inwiefern diese standardsprachlichen Insertionen allenfalls von individuellen Präferenzen abhängig sind - gewisse Personen des öffentlichen Lebens scheinen erfahrungsgemäss besonders häufig punktuell in die Standardsprache zu wechseln - , ist nicht erforscht. Zu diskursinduziertem Standardgebrauch vgl. Christen et al. 2010: 65 - 98; Petkova 2016. 4.2.4 Geschriebener Dialekt Verschriftlichter Dialekt ist ein abweichender «Sonderfall» und kann so zu einem Instrument werden, um unterschiedliche Effekte zu erzielen - von Beschaulichkeit bis hin zu Informalität. Der Dialekt hat in der deutschsprachigen Dichtung - vom Drama bis zur Lyrik - seit dem 17. Jahrhundert Tradition, bildet jedoch eine kleine Nische in der grossen Menge hochdeutsch verfasster Werke. In der Deutschschweiz trägt in jüngster Zeit das Genre Spoken Word, bei dem Texte mit künstlerischem Anspruch mündlich vorgetragen werden, zu einem Anstieg dialektaler Druckerzeugnisse bei, da diese Texte in vielen Fällen auch in schriftlicher Form veröffentlicht werden. Für eine ansehnliche Zahl an Autor/ innen ist der Dialekt sogar zur präferierten schriftlichen Sprachform geworden, die keineswegs auf Lokalkolorit abzielt, sondern Alltagssprache vorgeben soll. Einer der erfolgreichsten Autoren aus dem Spoken Word-Umfeld, Pedro Lenz, der mit seiner Erzählung «Der Goalie bin ig» (2010) gar für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, untertitelt diese denn auch mit «Ein Roman in gesprochener Sprache». Aber selbst die Protagonist/ innen der aktuellen Spoken Word- Szene plädieren keineswegs für den Ersatz des Standarddeutschen durch ein - wie immer geartetes - Schrift-Schweizerdeutsch; so schreibt Lenz in seiner Rolle als Kolumnist in Schweizer Tageszeitungen nicht etwa Dialekt, sondern Standardsprache. Wenn ein Autor wie Viktor Schobinger (vgl. https: / / www.zuerituetsch.ch/ index.html) nicht nur Krimis auf Zürichdeutsch schreibt, sondern einen Reiseführer für die Stadt Paris, Übersetzungen aus dem Altägyptischen und Hebräischen sowie ein «Sinoniim-» und ein etymologisches Wörterbuch des Zürichdeutschen auf «züritüütsch» verfasst, dann zahlt sich diese Eigenwilligkeit ökonomisch nicht aus. Sie scheint vielmehr dem Anliegen geschuldet zu sein, Dialekt als «richtige» Sprache vorzuzeigen, die keinerlei thematische Grenzen kennt. Deutsch 49 <?page no="86"?> In der Print-Werbung wird der Dialekt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute als eye catcher vor allem für kurze Slogans verwendet (vgl. Abschnitt 4.2.5). Aber auch Kleinanzeigen können seit dieser Zeit im Dialekt abgefasst sein: De Jakob uf der Felse z ’ Wädeschwil hätt e frisch kalberets Rind z ’ verchaufe. (Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee 145/ 25.6.63, zitiert nach Schwarzenbach 1969: 449) Ausserdem ist geschriebener Dialekt nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern er wird neuerdings zu einer Ware, die erfolgreich zu Markte getragen wird. Dialekt-Stereotype wie äuä (berndeutsches Modalwort mit unterschiedlichen Bedeutungen wie ‘ vielleicht ’ , ‘ sicher nicht ’ , ‘ genau ’ ) oder iu ‘ ja ’ werden als Konsumgut auf T-Shirts oder Postkarten verkauft (vgl. auch Abb. 5 zur «Ware» Walliserdeutsch). An der Basler Fasnacht ist der geschriebene Dialekt für alle fasnächtlichen Textsorten vorgesehen, darunter Schnitzelbänke (eine Form des Bänkelsangs) oder auf Laternen aufgemalte Verse. Dabei wird nicht eine aktuell gesprochene Form des Baseldeutschen verwendet, sondern ein früherer Oberschicht-Soziolekt, der in verschrifteten Entrundungen (<Lechli> ‘ Löchlein ’ ), überoffenen Diphthongqualitäten (<ainerlai> ‘ einerlei ’ ) und lenisiertem / k/ vor / l/ (<glääbe> ‘ kleben ’ ) zum Ausdruck kommt: Uss de Piccolo-Lechli, dasch nit ainerlai, Kunnt bim Bloose sicher so CO2. Aktivischte wänn drum, ich find ’ s dernääbe, Sich mit de Finger an d Lechli glääbe. (Vers des Schnitzelbangg Anggewegglimaitli 2023) Der geschriebene Dialekt ist für viele jüngere Deutschschweizer/ innen mittlerweile zu einer selbstverständlichen Sprachform der informellen Schriftlichkeit geworden; vor allem in den sozialen Medien ist der Dialekt - für eher kürzere Texte - gängig. Die Untersuchungen, wie sie für die schweizerische E-Mail-, SMS- und WhatsApp-Kommunikation vorliegen, legen nahe, dass sich neue Konventionen bei der Handhabung von Dialekt und Standardsprache herausbilden und mit dem Gebrauch des Dialekts in der Schriftlichkeit soziale und situative Nähe aufgerufen wird. Durchaus koexistierende Mundartstereotype wie Derbheit, Volkstümlichkeit oder Kleinräumigkeit treten in den Hintergrund, während Konnotationen wie Alltäglichkeit oder Informalität in den Vordergrund rücken. Zur «Zweischriftigkeit» vgl. Christen 2004. Zu geschriebenem Dialekt in den sozialen Medien vgl. ► Stark/ Ueberwasser_Band2. Zu unterschiedlichen Funktionen geschriebenen Dialekts vgl. Christen 2024. 4.2.5 Sicht- und Hörbarkeit von Sprache im öffentlichen Deutschschweizer Raum Die Linguistic Landscape- und die Linguistic Soundscape-Forschung setzen sich mit dem visuellen und auditiven Erscheinen von Sprache im öffentlichen Raum auseinander. Dabei interessieren neben den Funktionen von dergestalt veröffentlichter geschriebener und gesprochener Sprache vornehmlich mehrsprachige Konstellationen, in denen anhand der sprachlichen Ausgestaltung von (Hör-)Räumen die soziolinguistische Frage nach dem Verhältnis von Sprachverwendung und Machtstrukturen gestellt wird. Damit bieten sich die Gegebenheiten der mehrsprachigen Schweiz geradezu an, um systematisch nach der visuellen und auditiven Präsenz der Landessprachen auf dem Terrain der gesamten Schweiz zu fragen. Sämtliche Landessprachen sind zu erwarten bei Beschilderungen 50 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="87"?> von nationalen Institutionen wie etwa dem Bundesgericht, das in seinem Logo die Bezeichnungen Bundesgericht - Tribunal fédéral - Tribunale federale - Tribunal federal führt, die gleichermassen beim Einlass des Bundesgerichtes am deutschsprachigen Standort Luzern zu lesen sind. Aufmerksamkeit haben bisher jedoch vor allem die Beschilderungen in den Städten Freiburg-Fribourg und Biel-Bienne erfahren, wo deren faktische Zweisprachigkeit unterschiedlich sichtbar und von Schneuwly (2019) mit «Politikum in Freiburg, Selbstverständlichkeit in Biel» auf den Punkt gebracht wird. Der politische Kampf um die zweisprachige Beschilderung von 22 Strassen und Plätzen in Freiburg mitsamt dem befürwortenden und gegnerischen Argumentarium zeigt eindrücklich, wie sprachliche Minoritäten ihren Anspruch, an einen Ort zu «gehören», auch auf der symbolischen Ebene von Beschilderungen geltend machen und sich gegen die ‘ Kolonialisierung ’ des visuellen Raumes durch die sprachliche Majorität stellen. Im Rahmen von Untersuchungen zum Gebrauch des Dialekts in der Deutschschweiz wird in der Regel auch auf seine Verwendung in der Schriftlichkeit hingewiesen und damit darauf, dass Dialekt seit vielen Jahrzehnten auf Werbeplakaten und Anzeigetafeln privater oder offizieller Natur ins Spiel kommt. Die «Drahtseilbahn Marzili-Stadt Bern AG» beispielsweise operiert mit dialektalen Beschriftungen ihrer Automaten. Da der jeweilige Mitteilungsgehalt auch über andere Zeichensysteme (und das Alltagswissen) gesichert ist, kann sich die Betreibergesellschaft - notabene in einem Kanton mit französischsprachiger Minderheit - verschriftlichten Dialekt leisten, der hier wohl nichts anderes als Lokalkolorit vermitteln soll. Abb. 4: Detail des Billett-Automaten Marzili-Drahtseilbahn (Bern). Foto: Joana Tinner. Deutsch 51 <?page no="88"?> In der veröffentlichten Schriftlichkeit von privaten Betrieben dürfte sich - wie in der Schriftlichkeit in den sozialen Medien - der zu einer neuen Gewohnheit gewordene Dialektgebrauch längst nicht mehr nur mit der Erzeugung erhöhter Aufmerksamkeit erklären lassen, sondern auch mit der Inszenierung von Nähe und Informalität. Der geschriebene Dialekt kann dabei gar zu einem Bestandteil der Corporate Identity einer Firma werden, wie dies z. B. bei einer Bäckerei im Kanton Bern der Fall ist, die für sämtliche Beschriftungen den Dialekt vorsieht, für ihre Linzertorte etwa: «Linzer / Mandumassä im Linzerteigbode u Himbi-Gomfi obedruf». Was die Linguistic Soundscape betrifft, so sind im öffentlichen Raum erwartungsgemäss bei Lautsprecherdurchsagen in den Verkehrsmitteln, in Sportstadien oder Veranstaltungslokalen vornehmlich die Sprachen des jeweiligen Sprachgebiets zu hören. Der Gebrauch verschiedener Sprachen für die Durchsagen auf dem Streckennetz der Schweizerischen Bundesbahnen SBB ist exakt geregelt. In den Zügen wird die Sprache der befahrenen Region verwendet; bei Sprachgrenzen überschreitendem Reiseverkehr wird bei Orten mit verschiedensprachigen Allonymen zuerst jene Variante genannt, die im Abfahrtsgebiet des Zugs gebraucht wird, danach jene der Ankunftsregion. Im Zug von Genève fährt man über Soleure/ Solothurn nach Olten, im Zug von Olten nach Genf jedoch über Solothurn/ Soleure. Für ausserplanmässige Durchsagen stehen dem Personal Apps zur Verfügung, die für unvorhergesehene Ereignisse Textvorlagen auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch liefern. In der Rhätischen Bahn, die das Bahnnetz im Kanton Graubünden betreibt, ist je nach Streckenabschnitt neben Deutsch eines der rätoromanischen Idiome und/ oder Italienisch zu hören. Auf touristischen Strecken gibt es sowohl in der Rhätischen Bahn als auch bei der SBB englischsprachige Durchsagen, insbesondere auch dann, wenn der Zug die internationalen Flughäfen Genf und Zürich anfährt. Englisch ist mancherorts auch in städtischen oder regionalen Verkehrsmitteln zu hören, vor allem, wenn es sich um Tourismusdestinationen (Lion Monument für das Luzerner Löwendenkmal) oder reiserelevante Orte (main station für ‘ Hauptbahnhof ’ ) handelt. Ausserdem hat sich an gewissen Veranstaltungsorten eingebürgert, neben der Territorialsprache nicht weitere Landessprachen, sondern Englisch für Durchsagen zu verwenden. Nicht ungewöhnlich sind dialektale Durchsagen im regionalen Busverkehr - sowohl was die Nennung der Haltestellen als auch spontane Begrüssungen oder Verabschiedungen über Mikrophon betrifft - , was allerdings immer wieder in Kritik gerät. Hörbehinderte machen eine Verordnung des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation geltend, wonach die Durchsagen für alle verständlich sein müssen, was - auch für Nicht-Deutschsprachige - bei hochdeutschen Durchsagen eher gewährleistet sei. Zum Varietätengebrauch der Bundesbahnen vgl. Christen und Schmidlin 2019. 5 Dialekt und Standardsprache aus der Warte ihrer Sprecherinnen und Sprecher 5.1 Volkstümliche Dialekteinteilungen Der Volksmund will wissen, dass man schon im nächsten Dorf anders spricht - oder zumindest früher anders gesprochen hat. Allerdings sind die Deutschschweizer in der Lage, die dialektale Vielfalt auch grobkörniger wahrzunehmen und ähnliche Lokaldialekte 52 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="89"?> zu grösseren Einheiten zusammenzufassen. Bei dieser Kategorienbildung spielen naturräumliche Begebenheiten eine Rolle - für Solothurner/ innen trennt der Passwang die südlichen von den nördlichen Dialekten - und vor allem politische Verwaltungsbezirke, bei denen die Kantone von herausragender Bedeutung sind. So orientieren sich die gängigen Alltagsbezeichnungen für Dialekte an den Kantonen: Thurgauerdeutsch, Berndeutsch, Urnerdeutsch usw. Mögen diese Bezeichnungen im einen Fall bloss eine Art Adressangabe sein, wohin eine Varietät räumlich gehört - in den Kanton Aargau, in den Kanton Zug - , so sind sie in anderen Fällen mit Vorstellungen eines spezifischen Dialekts verbunden. Diese mentalen Konstrukte werden zu einer Messlatte, wenn Gehörtes dialektal eingeordnet werden soll. Urteile wie «irgendwie Zürichdeutsch» oder «eine Art Berndeutsch» sind Indizien für prototypisch organisiertes Dialektwissen, das sich eher an der Gesamterscheinung einer Varietät orientiert als einem einzelnen Dialektmerkmal. Die mentale Organisation der dialektalen Vielfalt anhand von Kantonen offenbart sich auch in handgezeichneten Karten, wo Dialektgrenzen in erster Linie entlang von Kantonsgrenzen eingetragen werden. Auch wenn sich die Kantonsgrenzen nicht völlig mit dialektalen Isoglossenbündeln decken, so erweisen sich die Kantone doch als identitätsstiftende und dialektraumbildende Grössen, die nicht nur früher, sondern sogar unter den aktuellen Bedingungen der Mobilität dialektal relevant sind. So scheint gegenwärtig die / l/ -Vokalisierung in Nidwalden Einzug zu halten und eine - auch im Alltag thematisierte - dialektale Grenze zu Obwalden zu ziehen: Nidwoudner ist mittlerweile zu einer scherzhaften Bezeichnung der nicht vokalisierenden Obwaldner für ihre neuerdings vokalisierenden Nachbarn geworden (vgl. Schiesser 2020). Zur Wahrnehmungsdialektologie des Schweizerdeutschen vgl. Christen 1998; ► Adam-Graf/ Bachmann_Band2. 5.2 Einstellungen gegenüber Sprache Zu den Einstellungen gegenüber den Varietäten der Deutschschweiz liegen zahlreiche historische Belege vor. Vom bernischen Landvogt Karl Viktor von Bonstetten, einem der Aufklärung und der Hochkultur zugetanen Schriftsteller, weiss man etwa, dass er gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegen das Berndeutsche anschrieb, das er für eine «kleine Winkelsprache» hielt, die «keiner Vervollkommnung fähig» sei (zit. nach Trümpy 1955: 108). Obwohl insbesondere Stereotype resistent sind gegenüber konträren Erfahrungen, haben sich im Zuge von veränderten Wertesystemen doch Verschiebungen im Varietätengebrauch und bei den sprachbezogenen Einstellungen ergeben. So dürfte etwa die Ansicht Bonstettens, wonach Dialekte «nicht schreibbar» seien, heute weniger vertreten werden. Gleichermassen wird Dialekt - dies im Gegensatz zum frühen 19. Jahrhundert - wohl heute nur mehr vereinzelt für unkorrektes Hochdeutsch gehalten, während viele sich im Werbeslogan von SRF für ihre hauseigene Mundart-Plattform wiederfinden dürften, wo Schweizerdeutsch als «die schönschti Spraach vo de Wält» bezeichnet wird. 5.2.1 Einstellungen gegenüber Dialekten Dass Kantons- und Regionsstereotype und Dialektstereotype miteinander verzahnt sind, zeigen Beliebtheitsumfragen. Als sehr beliebt erweisen sich dabei Bündner-, Bern- und Walliserdeutsch, am negativen Beliebtheitspol sind die Ostschweizer Dialekte angesiedelt. Freilich werden hier nicht sprachliche Stimuli eingeschätzt, sondern es werden die - nicht Deutsch 53 <?page no="90"?> kontrollierbaren - individuellen Vorstellungen von «Bündnerdeutsch» oder «Thurgauerdeutsch» bewertet. In wissenschaftlichen Studien mit dialektalen Stimuli liess sich dabei bestätigen, dass die Bewertungen eines lokalisierbaren Dialekts nachweislich von tradierten Stereotypen abhängen: Anderssprachige ohne Kenntnisse schweizerdeutscher Dialekte bewerten dialektale Stimuli nämlich signifikant anders (vgl. Leemann et al. 2015). Der Sicht, wonach Dialekt und (Kantons-)Stereotyp mit seinem bekanntesten Beispiel «langsamer Berner/ langsames Berndeutsch» untrennbar verquickt sind, steht die «inherent value»-Hypothese entgegen. Diese geht davon aus, dass die materielle Lautqualität einer Sprachform durchaus einen Einfluss auf deren Bewertung hat. So könnten bestimmte Zuschreibungen für Deutschschweizer Dialekte sehr wohl mit der Ausgestaltung ihres Vokalinventars zusammenhängen. In wahrnehmungsdialektologischen Untersuchungen zeigt sich, dass es in der Deutschschweiz in Bezug auf Dialekt Idealvorstellungen gibt, die in Alltags-Charakterisierungen wie «reiner» oder «typischer» Dialekt zutage treten und zum Massstab für ‘ richtigen ’ Berner, Zürcher, Basler Dialekt werden. Diese Idealvorstellungen nähren sich aus zeitbedingten Dialektkonzeptionen, die (sozial zugeschriebene) Altertümlichkeit und Autochthonie als wertvoll setzen, während «gemischte» oder «abgeflachte» Dialekte als minderwertig erachtet werden. Für das Gelingen der polydialektalen Kommunikation, wie sie in der Deutschschweiz zum Alltag gehört, ist die interdialektale Verstehbarkeit unabdingbar. Diese ist einerseits von der Einstellung abhängig, andere Dialekte verstehen zu wollen, andererseits sorgt auch strukturelle Ähnlichkeit für Verstehbarkeit. Unbesehen von tatsächlichen Hindernissen in konkreten polydialektalen Interaktionen, gehört (mangelnde) Verstehbarkeit zu den Auto- und Heterostereotypen gewisser Dialekte. Insbesondere das Walliserdeutsche gilt als unverständlich und wird bei Gelegenheit auch als solches inszeniert, wie etwa für die Werbung für die Tourismusdestination Wallis, wo mit den Mitteln der Schriftlichkeit - hier fehlende Spatien - der Effekt der Unverständlichkeit noch erhöht wird (Abb. 5): Abb. 5: Verschriftlichte Inszenierung von Walliserdeutsch ( ‘ Wir haben Mäuse in unserem Häuschen. Was geht das andere an, sie sind unsere. ’ Vgl. https: / / shop.photo-klopfenstein.ch/ ? cat= c348_Wallisertitsch-wallisertitsch-348.html Stand: 21.09.2023) 54 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="91"?> Systematische Untersuchungen zur Bewertung von Dialekten hinsichtlich ihrer Verstehbarkeit wie auch zur tatsächlichen Verstehbarkeit stehen aus. Es ist anzunehmen, dass für selten gehörte Dialekte - man denke an bevölkerungsarme Gegenden wie die deutschsprachige Exklave Jaun im Greyerzbezirk, das Haslital, das Schächental usw. - mehr Dekodierungsaufwand veranschlagt werden muss als für mittelländische Mehrheitsdialekte. Dialekte, die als schwer verstehbar gelten, erhalten dadurch keineswegs eine negative Einschätzung, da sie sich durch «Unverständlichkeit» gerade vom Gros der Dialekte abheben. Der Aspekt der «Besonderheit», der hier angesprochen wird, hat sich in einer Befragung als Evaluationsdimension herausgestellt, mit der Deutschschweizer/ innen Dialekte danach beurteilen, ob sie - in deren Wortlaut - «neutral», «nicht ausgeprägt», «Durchschnitt» sind oder nicht (vgl. Christen et al. 2015). «Nicht spezielle» Dialekte werden ins Mittelland verortet, also in die bevölkerungsreichste Region, für welche die Algorithmen, die https: / / dialektkarten.ch/ index.de.html zur Verfügung stellt, gerade jene Ortsdialekte ausweisen, für die am meisten Ähnlichkeit mit allen anderen Deutschschweizer Dialekten errechnet wird. Alltagseinschätzung und objektive Sprachdaten stimmen hier überein und bezeugen ein dialektales Laienwissen, das sich der Präsenz des Dialekts im Alltag und dem polydialektalen Austausch verdankt. Von Interesse sind nicht nur Einstellungen zu dialektalen Varietäten, sondern auch zu einzelnen dialektalen Varianten. Gewisse Varianten werden mit sozialen Gegebenheiten in Beziehung gebracht und ziehen entsprechende Bewertungen und Stereotype nach sich. Für den Kanton Bern macht Baumgartner (1940) einen dialektalen Stadt/ Land-Gegensatz geltend, der mit tendenziell positiven/ negativen Einstellungen einhergeht und mutmasslich den Sprachwandel beeinflusst. Als sprachliche Variablen, über die im Berner Alltag verhandelt wird, führt er lautliche Varianten (z. B. / l/ - und / nd/ -Realisierung, Lautung der mhd. steigenden Diphthonge ei, ou, öu) und morphologische Varianten (Pluralformen der Kurzverben gehen, stehen) an. In aktuellen Studien werden derartige Stereotype in ihrem Gebrauch und ihrer diskursiven Verhandlung bestätigt: Die / ng/ -Realisierung in der Region Laufental-Thierstein gilt in der Nordwestschweiz als Erkennungsmerkmal, das Bewertungen unterliegt («die vo hingefüüre», vgl. Fiechter im Druck); ebenso verhält es sich mit der Realisierung von mhd. û in der Innerschweiz, die z. B. in Unterwalden in Wörtern wie Maus als ui (Muis) und in Uri als üü (Müüs) vorkommt (vgl. Schiesser 2020). Die Vielschichtigkeit von Einstellungen belegen Untersuchungen zur / r/ -Realisierung im Schweizerdeutschen. Das uvulare Zäpfchen-/ r/ wird zwar als vornehmer als das apikale Zungenspitzen-/ r/ eingeschätzt, gleichzeitig aber auch als weniger emotional (vgl. Werlen 1980). Insbesondere wird dabei auch deutlich, dass «Prestige» als oftmals reklamierte Einstellungsgrösse die tatsächliche Komplexität von Wertzuschreibungen - sei es zu Dialekt oder Standardsprache - nur unzulänglich fasst, stellt sich nämlich immer die Frage, in Bezug auf welchen Aspekt Prestige zu veranschlagen ist; gerade / r/ ist ein Beispiel dafür, dass hinsichtlich sozialer und emotionaler Aspekte divergierende Beurteilungen anfallen können. Zur Wahrnehmungsdialektologie des Schweizerdeutschen vgl. ► Adam-Graf/ Bachmann_Band2. Zur Bewertung von Lautqualitäten vgl. Berthele 2006. Deutsch 55 <?page no="92"?> 5.2.2 Einstellungen gegenüber der Standardsprache Einstellungen gegenüber der Standardsprache sind in der Deutschschweiz, bedingt durch die diglossische Situation, weitgehend dadurch zu erklären, dass zahlreiche kommunikative Funktionen der Varietäten, trotz einer gewissen Flexibilisierung der situationsspezifischen Varietätenwahl in den letzten Jahrzehnten, funktional komplementär sind. Daher wird die eine Varietät jeweils in ihrer Gegensätzlichkeit zur anderen konzeptualisiert. Die Standardsprache wird beispielsweise mit Arbeit, Leistung und hohen Normerwartungen assoziiert. Dies führt dazu, dass die Standardsprache als gebildet und elegant, kühl und schnell, aber unvertraut und eher unsympathisch wahrgenommen wird, dies im Gegensatz zu den Dialekten, die als sympathisch und warm, dafür aber als wenig gebildet gelten. Die Polarisierung der Einstellungen gegenüber Dialekt und Standardsprache scheint sich im Verlauf der Primarschule zu entwickeln (vgl. Häcki Buhofer und Studer 1993). Bohnert- Kraus et al. (2020) bestätigen frühere Studien, laut welchen die Kinder im Vorschulalter den Dialekt, nach Schuleintritt kurzfristig die Standardsprache und in der zweiten Klasse wieder den Dialekt bevorzugen. Bei erwachsenen Deutschschweizer/ innen löst das Sprechen der Standardsprache zuweilen ein Gefühl der sprachlichen Unbeholfenheit aus, besonders gegenüber Sprecher/ innen aus anderen Regionen des deutschen Sprachraums, die mit einer standardnahen Varietät aufgewachsen sind und oft eloquenter wirken. Die Schweizerische Rekrutenbefragung 1985 ergab, dass sich ein Viertel der befragten jungen Männer beim Hochdeutschsprechen dumm vorkam (Schläpfer et al. 1991: 156). Scharloth (2005: 245) weist nach, dass von knapp hundert befragten Deutschschweizern rund 80 % beim Standardsprechen über ein mehr oder weniger ausgeprägtes Defizienzempfinden berichten. Fischer et al. (2019) konnten bei einer Gruppe von 60 Deutschschweizer Studenten experimentell aufgrund biologischer Indikatoren ein höheres Stresslevel nachweisen, wenn sie Standardsprache sprachen, als wenn sie Dialekt sprachen. Deutlich weniger markiert sind die Einstellungen gegenüber der Standardsprache als Schreib- und Lesesprache; während von nicht wenigen Deutschschweizern die gesprochene Standardsprache als eine Art Fremdsprache empfunden wird, ist dies im Falle der Standardsprache als Schreib- und Lesesprache keineswegs der Fall. Auch Deutschschweizern, die für private Zwecke kurze Texte im Dialekt schreiben, fällt das Schreiben und Lesen in der Standardsprache leichter als im Dialekt. Die Einstellungen gegenüber der Standardsprache sind in der Deutschschweiz aber nicht nur von der Diglossiesituation geprägt und damit genährt vom Gegensatz zwischen Standardsprachgebrauch und Dialektgebrauch, sondern auch vor dem Hintergrund in den Blick zu nehmen, dass die Standardsprache, wie sie in der Deutschschweiz gesprochen und geschrieben wird, gegenüber den Standardvarietäten im übrigen deutschen Sprachgebiet Besonderheiten aufweist (vgl. Abschnitt 3.2). Die Einstellungen gegenüber diesen Besonderheiten, den Helvetismen auf allen sprachlichen Ebenen, erweisen sich als ambivalent. Zwar rezipieren Deutschschweizer Sprecher/ innen täglich Texte, die Helvetismen enthalten, die lexikografisch und grammatikografisch sogar als standardsprachlich verzeichnet sind. Nachweislich verwenden sie diese auch in ihren eigenen Texten. Und dennoch zweifeln sie an der standardsprachlichen Korrektheit von Helvetismen, wenn sie ihnen innerhalb einer Reihe von Varianten aus dem ganzen deutschen Sprachraum - nebst Teutonismen und Austriazismen gibt es auch regional geltende Standardvarianten - zur Auswahl für einen Lückentext präsentiert werden (vgl. Schmidlin 2011). Insbesondere 56 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="93"?> die nord- und mitteldeutschen Varianten werden dabei, vor dem Hintergrund der Dominanz des deutschen Sprachmarkts durch Deutschland, auf einer höheren Hierarchiestufe der Standardsprachlichkeit angesetzt, also z. B. Schnürsenkel als standardsprachlicher eingeschätzt als Schuhbändel. In eine ähnliche Richtung weisen Studien zur Korrekturpraxis von Texten durch Lehrpersonen (vgl. Davies et al. 2017); im Übrigen erachten auch Lehrpersonen in Süddeutschland die nord- und mitteldeutschen Standardvarianten in vielen Fällen für richtiger als ihre eigenen, süddeutschen: Zahnschmerzen und nicht Zahnweh, nach Hause und nicht heim (vgl. Klausmann 2020: 21). Helvetismen werden von Lehrer/ innen auch dann in vielen Fällen für Dialektinterferenzen gehalten, wenn sie lexikographisch als standardsprachlich ausgewiesen sind. Wichtig ist jedoch, darauf hinzuweisen, dass die Einstellungen gegenüber den Varianten des Schweizerhochdeutschen, also den Helvetismen, differenziert werden müssen je nachdem, welche Variationsebene und welche Repräsentationsform der Sprache betroffen ist. So weist Scharloth (2005: 258) nach, dass lexikalische und syntaktische Helvetismen viel eher akzeptiert werden, wenn sie den Befragten in deutschländisch geprägter Lautung präsentiert werden, wenn also «Pöstler» als [ ˈ p h œ stl ɐ ] mit aspiriertem Plosiv im Anlaut und / r/ - Vokalisierung in der Endsilbe lautiert wird, wie in Deutschland mehrheitlich üblich. Umgekehrt werden deutschländische Standardformen wie z. B. «Würste grillen» (statt, wie in der Schweiz üblich, «Würste grillieren») weniger akzeptiert, sobald sie in erkennbar schweizerischer Lautung präsentiert werden. Dieser Befund zeugt davon, dass die Lautung alle anderen Variationsebenen überlagert, wenn es um die Wahrnehmung und Beurteilung der gesprochenen Standardsprache geht. Dass die Art und Weise, wie Deutschschweizer/ innen die Standardsprache sprechen, in der Wahrnehmung von Sprecher/ innen aus Norddeutschland oder Österreich als dialektnah und zuweilen drollig empfunden wird, scheint jedoch die Mehrheit der Deutschschweizer/ innen nicht dazu zu bringen, ihre Lautierungspraxis zu ändern. Zu Einstellungen gegenüber den Varietäten vgl. Studler 2013 und gegenüber den Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen vgl. Schmidlin 2011. 5.2.3 Die Schweiz im Einklang: Zur Wahl von Rufnamen Einstellungen zu sprachlichen Gegebenheiten spiegeln sich auch in der Wahl von Rufnamen, die zusammen mit dem von den Eltern überkommenen Familiennamen den Gesamtnamen eines Individuums ergeben. Als für die Deutschschweiz typische Vornamen gelten Reto, Urs, Beat oder Regula. Während noch vor wenigen Jahrzehnten das Nachbenennungsprinzip bei der Namenvergabe eine wichtige Rolle spielte und die Rufnamen von Eltern, Grosseltern oder Paten an Neugeborene weitergegeben wurden, stehen heute für die Namenwahl euphonische Gesichtspunkte im Vordergrund - dies nebst dem Wunsch eines individuellen, einzigartigen Namens, der sich in einer grossen Fülle verschiedener, auch verschieden geschriebener Namen niederschlägt. Vergleicht man die weiblichen und männlichen Rufnamen, die das Bundesamt für Statistik (BFS 2024) für die Wohnbevölkerung ausweist, nach Geburtsjahrgängen, so zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den fünf häufigsten Namen in der Generation der heute ungefähr Hundertjährigen und jenen der eben Geborenen. Während die Frauen mit Jahrgang 1925 die biblischen Namen Anna, Deutsch 57 <?page no="94"?> Maria, Ruth oder die germanischen Namen Gertrud oder Hedwig tragen, lauten die Spitzenreiter im Jahr 2022 Emilia, Mia, Malea, Emma und Lina. Nebst einheitlich auslautendem -a fällt auf, dass die Namen ausschliesslich relativ stimmhafte Nasal- und Lateralkonsonanten enthalten. Bei den Männern mit Jahrgang 1925 sind die Namen Hans, Ernst, Walter, Josef und Max am häufigsten, die Buben mit Jahrgang 2022 heissen in der Deutschschweiz am häufigsten Noah, Liam, Leon, Matteo und Leano. Auch hier zeigt sich eine Vorliebe für die Konsonanten m, n und l und einer der beliebtesten Namen endet sogar auf -a, was lange Zeit Frauennamen vorbehalten war und früher von den Behörden einen geschlechtseindeutigen zweiten Vornamen einforderte. Als Beispiel dafür, welche Namen heutzutage in einer Familie vergeben werden, mag die Namenliste von neunzehn Urgrosskindern dienen, die als Verwandte eines fast hundertjährigen Verstorbenen namens Theodor in dessen Todesanzeige angeführt werden: Noelani, Nico, Gil, Naomi, Matteo, Leana, Livia, Timeo, Zoe, Lino, Zoe, Noa, Amelie, Levi, Laura, Florence, Lea, Alice, Rio (Luzerner Zeitung, 30. Januar 2024). Statistische Auswertungen umfangreicher Namendaten haben für Deutschland Ergebnisse erbracht, die insofern mit den Deutschschweizer Verhältnissen übereinstimmen, als neben einer Zunahme der Gesamtsonorität von Rufnamen (von Moser 2009 in seiner Untersuchung zur Vornamenwahl von Zürcher Eltern als «Regression zur Kindlichkeit» qualifiziert) eine Angleichung von Mädchen- und Bubennamen festgestellt werden kann. Nebst dieser Androgynisierung der Rufnamen zeigt sich zudem, dass sich die Namenpräferenzen in den vier Sprachgebieten - ebenso auf internationaler Ebene - einander annähern: 2021 ist der Bubenname Noah in der deutschen, französischen und italienischen Schweiz unter den Spitzenreitern; bei den Mädchennamen gehört Mia in allen Sprachgebieten zu den fünf am häufigsten vergebenen Namen; der Name Emma ist sowohl in der deutschwie französischsprachigen Schweiz sehr beliebt. Anzahl neugeborene Namenträger/ innen 2022 Anzahl Namenträger/ innen insgesamt Jahrgang mit den meisten Namenträger/ innen in der Deutschschweiz Männliche Rufnamen Gian 93 (4/ 0/ 2) 5431 (334/ 461/ 164) 2013: 222 Andrin 84 (0/ 0/ 2) 4042 (12/ 8/ 31) 2009: 177 Flurin 37 (0/ 0/ 0) 1416 (8/ 8/ 90) 2011: 54 Andri 36 (0/ 3/ 0) 1603 (17/ 12/ 72) 2002: 58 Weibliche Rufnamen Ladina 44 (0/ 0/ 0) 2725 (31/ 12/ 62) 2006: 122 Flurina 30 (0/ 0/ 0) 1478 (15/ 5/ 60) 2010: 50 Tab. 1: Rätoromanische Rufnamen in der Deutschschweiz. In Klammern steht jeweils die Anzahl der Namenbelege in den französischsprachigen / italienischsprachigen / rätoromanischen Regionen. Besieht man allerdings nicht nur die Spitzenreiter, die einen über die Sprachgrenzen hinweg einheitlichen onymischen Geschmack bei der Rufnamenwahl nahelegen, so zeigen sich Effekte, die der Schweizer Sprach(kontakt)situation geschuldet sind. Nimmt man nämlich aus den Angaben des BFS 2024 für das Jahr 2022 die Häufigkeiten bei der Deutschschweizer Namenvergabe bis zum Rang 200 in den Blick, so erscheinen hier die 58 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="95"?> rätoromanischen Namen Gian, Andrin, Flurin und Andri sowie Ladina und Flurina (vgl. Tab. 1). Diese Namen werden in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz kaum vergeben, wie auch insgesamt wenige Menschen mit diesen Namen ausserhalb der Deutschschweiz (und der Rätoromania) leben. Ein gewisser Anteil dieser rätoromanischen Namen mag von ausgewanderten Rätoromanen vergeben worden sein, was erklärt, dass rätoromanische Namen in der Regel in der Deutschschweiz häufiger sind als in «ihrem» Sprachgebiet. Das zeigt sich etwa daran, dass ein rätoromanischer Name wie Cla/ Clau (zu Nikolaus), der es nicht in die Bestenliste schafft, in der Deutschschweiz (mit 165 Namenträgern) trotzdem häufiger vorkommt als im rätoromanischen Gebiet («nur» 54 Namenträger). Dieses Zahlenverhältnis von ungefähr 3: 1 wird aber von den in Tabelle 1 angeführten Namen erheblich zugunsten der Deutschschweiz verschoben (vgl. BFS 2024). Die Beliebtheit rätoromanischer Rufnamen seit der Jahrtausendwende kann denn auch nicht mit einer Auswanderungswelle von Rätoroman/ innen erklärt werden, sondern ist als eine Art von Modetrend zu betrachten, die in der Deutschschweiz zu einem onymischen Alleinstellungsmerkmal führt. Die Beliebtheit Graubündens zeigt sich also nicht nur bei den Einstellungen zu dessen deutschen Dialekten, sondern auch auf onymischer Ebene, wo (gewisse) rätoromanische Rufnamen Zuspruch in der Deutschschweiz erfahren und dort lautlich oft ins Schweizerdeutsche eingepasst werden: So werden die zweisilbigen Namen häufig auf der ersten Silbe betont (schweizerdeutsch FLUrin vs. rätoromanisch fluRIN). Zu Familiennamen vgl. ► Berchtold/ Steiner_Band2. 5.3 Sprachpflege Die vielfältige Variation, die die Sprache in der Deutschschweiz ausmacht und die wir in diesem ganzen Buchkapitel aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet haben, war und ist immer wieder Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Daran haben sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch Vereine und Organisationen beteiligt, die sich für den Erhalt der Mundarten und die Pflege der Standardsprache einsetzten bzw. einsetzen. Aufgrund der Diglossiesituation der Deutschschweiz haben sich sprachpflegerische und -planerische Aktivitäten wechselweise, oft aber gleichzeitig auf beide Varietäten des Deutschen gerichtet. An beide wurden hohe Kompetenzansprüche gestellt, deren Förderung jeweils auch das erklärte Ziel der verschiedenen sprachpflegerischen Organisationen in der Deutschschweiz war. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts trifft man auf das Konzept der «reinen Mundart». 1874 forderte der Luzerner Gymnasiallehrer Dr. Jakob Bucher in einem Vortrag «von dem gebildeten Manne [ … ], daß er die heimische Mundart als Sprache der Mutter und des Herzens so rein und gut verstehe und spreche wie die reine Schriftsprache als Sprache des Verstandes» (Haas 1992: 595). Fast scheint es, als ob das Streben nach der doppelten sprachlichen Reinheit, nämlich der vollständigen Beherrschung eines Dialekts und der Standardsprache, auch die Diglossie selbst stabilisierten sollte. Mit dem Ideal einer doppelten Reinheit nämlich strebte man sowohl für die Standardsprache als auch für den Dialekt eine gleichermassen hohe Qualität an, die es nicht nötig machte, sich vom Dialekt als «minderer» Sprachform abzuwenden. Das Unternehmen des Schweizerischen Idiotikons kann in seinen Anfängen indirekt als Projekt der Sprachpflege verstanden werden, reagierte es doch mit dem «Aufruf» 1862 auf Deutsch 59 <?page no="96"?> Befürchtungen, dass die Mundarten im Begriff seien, zu verschwinden; aus diesem Grund sollten sie möglichst vollständig aufgezeichnet und vor ihrem Verschwinden bewahrt werden. 1904 kam es zur Gründung des Deutschschweizerischen Sprachvereins (DSSV). Einige der zwölf Gründungsmitglieder hatten sich über eine Mitgliedschaft im Allgemeinen Deutschen Sprachverein (ADSV) kennengelernt, und auch der Satzungsentwurf sah den DSSV als schweizerischen Zweig des ADSV vor. Der ADSV war nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/ 71 im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen lateinischer, also französischer, und germanischer, also deutscher Kultur entstanden. Der DSSV entwickelte sich jedoch eigenständig, was sich z. B. darin zeigte, dass die Vorschläge des ADSV zur Eindeutschung von Fremdwörtern, etwa im Sport (Tor ersetzt Goal), im Postwesen (freimachen ersetzt frankieren, Anschrift ersetzt Adresse) und bei der Eisenbahn (Fahrkarte ersetzt Billett, Bahnsteig ersetzt Perron) vom DSSV nicht übernommen wurden. So gehen zahlreiche Helvetismen im Schweizerhochdeutschen daraus hervor, dass die vom ASDV propagierten Fremdwort-Eindeutschungen in der Schweiz nicht übernommen wurden. Seit 1993 heisst der Verein Schweizerischer Verein für die deutsche Sprache (SVDS). Er fördert mit seinen Aktivitäten das Bewusstsein für beide Formen der deutschen Sprache in der Schweiz. Dazu gehört, dass der vom SVDS eingesetzte Dudenausschuss die Einträge der Helvetismen für jede Neuauflage des Duden Universalwörterbuchs prüft. Nur eine Episode in der Geschichte der Sprachpflege in der Deutschschweiz blieb Emil Baers Schwyzer Sproch-Biwegig (1938 - 1940). Baers Ziel wäre es gewesen, in Abgrenzung von Hitler-Deutschland eine alemannische und vom Hochdeutschen deutlich unterscheidbare Schweizer Standardsprache zu schaffen, was nicht gelang. Dennoch sollte Baers Initiative einiges an sprachpflegerischen Aktivitäten ins Rollen bringen. Aus «der Sorge um die wachsende politische und kulturelle Bedrohung von aussen, vor allem aber auch als direkte Reaktion auf das Wirken Emil Baers» (Schwarzenbach 1969: 158) begründeten Eugen Dieth und Adolf Guggenbühl 1938 den Bund Schwyzertütsch, der sich ausschliesslich die Pflege der Mundart zum Ziel setzte. Der Bund Schwyzertütsch - später Verein Schweizerdeutsch, ab 2018 mundartforum - fungierte etwa als Herausgeber der Reihe «Grammatiken und Wörterbücher des Schweizerdeutschen in allgemein verständlicher Darstellung», die sich der «guten Mundart» verpflichtete. Eugen Dieth verfasste überdies Richtlinien zur Verschriftlichung der Mundart. Die Dieth-Schrift, 1938 erstmals publiziert und 1986 überarbeitet von Christian Schmid, wird für die Verschriftung der Mundarten, besonders in der Mundartliteratur, noch heute empfohlen und auch in diesem Band angewandt (Dieth 1986). Am öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen gibt es einige Formate, die sich regelmässig Sprachenfragen der Deutschschweiz widmen. Genannt sei hier besonders die von Christian Schmid begründete Sendung Schnabelweid (heute: Dini Mundart - Schnabelweid) auf SRF 1, in der seit 1991 wöchentlich während einer Stunde dialektologische Themen für ein breites Publikum aufbereitet werden. Dies ist nur ein Beispiel von vielen dafür, welch ausgeprägtes Interesse die Deutschschweizer Bevölkerung, auch ausserhalb von Sprachpflegevereinen, ihrer eigenen vielfältigen Sprachensituation entgegenbringt. 60 Helen Christen, Regula Schmidlin <?page no="97"?> Bibliographie Ackermann, Tanja (2021). Bitte könnte ich vielleicht? 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Deutsch 67 <?page no="104"?> Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois Andres Kristol, Université de Neuchâtel 1 Aperçu historique: formation et délimitation des espaces dialectaux La Suisse romande est un pays de langue latine depuis près de deux mille ans, mais elle n ’ a pas toujours été de langue française. Historiquement, elle s ’ inscrit dans un espace que la linguistique appelle «francoprovençal» 1 depuis le XIX e siècle. Selon Gardette (1950), celuici s ’ est formé, après une première romanisation depuis la province romaine de la Narbonnaise (qui englobait le Languedoc, la Provence et la vallée du Rhône jusqu ’ à Genève), dans les zones de rayonnement des axes de transit romains reliant la plaine du Pô aux bassins rhodanien et rhénan par les cols de l ’ arc alpin occidental (Grand-Saint- Bernard, Petit-Saint-Bernard, Mont-Cenis, cf. carte n° 1). De là, le latin régional qui donnera naissance au francoprovençal a rayonné vers le Nord, vers Avenches, capitale de l ’ Helvétie romaine, Augusta (Augst, région bâloise) et Vindonissa (Windisch, canton d ’ Argovie) ainsi que, au nord du Jura, vers Besançon et la trouée de Belfort. Le francoprovençal forme ainsi une plaque tournante entre les dialectes nord-italiens (piémontais), occitans et oïliques, et le romanche à l ’ Est, dont il n ’ a été séparé que par la percée de l ’ alémanique au IX e siècle. Le contact avec le monde germanique ne semble cependant pas avoir laissé de traces structurelles significatives. Les premiers traits caractéristiques du francoprovençal prélittéraire, attestés surtout en toponymie, remontent aux débuts de la fragmentation de la latinité ́ tardive; ils peuvent être documentés à partir du VI e siècle. Le francoprovençal a donc participé à la toute première fragmentation dialectale du galloroman (Chambon/ Greub 2000, Kristol 2002). C ’ est une langue romane sui generis; ce n ’ est pas une subdivision secondaire de l ’ occitan (ou «provençal») ou une forme «archaïque» de la langue d ’ oïl qui s ’ en serait détachée vers le IX e siècle, comme l ’ affirment de nombreux travaux plus anciens (cf. p.ex. Tuaillon 1972, Knecht 1989: 128s.). Initialement, les limites linguistiques du francoprovençal englobent la Franche-Comté jusqu ’ au pied des Vosges (Jud 1939, Dondaine 1971, 1972; Chambon 2011, 2020, 2022), la 1 À l ’ origine, ce terme, forgé par Ascoli (1874) pour désigner une langue qui partage certains traits linguistiques avec les langues d ’ oïl et d ’ autres avec l ’ occitan (dont le provençal fait partie), s ’ est écrit franco-provençal. Cette terminologie induit en erreur: le francoprovençal n ’ est pas un mélange de français et de provençal, mais d ’ autres propositions terminologiques ne sont pas meilleures. Suite à une proposition de Gardette au congrès de Neuchâtel (cf. Marzys 1971), il a été décidé d ’ écrire francoprovençal en un mot, pour signaler que c ’ est une langue romane indépendante, présentant ses caractéristiques propres. Historiquement, en Suisse romande, la langue vernaculaire a été appelée roman, reman ou romand. Dans le Jura, de manière ponctuelle, on trouve aussi wallon, allusion à ses affinités avec le nord-est galloroman. <?page no="105"?> Suisse alémanique actuelle jusque à la Reuss et au sud du Rhin jusque dans la région de Bâle, ainsi que la haute vallée du Rhône (Kristol 2002, 2004, 2013b). Les limites au sud avec l ’ occitan (entre Vienne et Valence dans la vallée du Rhône et au sud de Grenoble) sont restées pratiquement stables jusqu ’ à l ’ époque moderne (Tuaillon 1964). En revanche, on observe un important recul au nord depuis le haut Moyen Âge (progression de dialectes oïliques de type bourguignon), de sorte que, au moment où apparaissent les premiers documents écrits en langue vernaculaire (XIII e siècle), les dialectes de la moitié septentrionale de la Franche-Comté et de l ’ actuel canton du Jura sont de type oïlique, avec cependant des traces de survivances francoprovençales relativement importantes dans le Jura suisse (Carles 2023). Le recul progressif du francoprovençal face à l ’ oïlique a encore été documenté, dans les parlers du haut Jura, dans la première moitié du XX e siècle (Lobeck 1945). Dans l ’ actuelle Suisse alémanique, la progression de l ’ alémanique commence vers la fin du VI e siècle. Elle n ’ a été enrayée qu ’ au cours du XIX e siècle, mais la stabilisation de la frontière linguistique s ’ est accompagnée de l ’ abandon rapide du francoprovençal par la population romande au profit du français (cf. chap. 5). Valence Romans Annonay Briançon Oulx Le Puy Dialectes d’oc Dial. além. Dial. piém. Dialectes Dialectes d’oïl francoprovençaux Pignerol Suse Turin Maurienne St-Jean de Grenoble Vienne La Tour du Pin St-Etienne Thiers Montbrison Vichy Roanne Villefranche Lyon Vaux Belley Chambéry Annecy Moutiers Aoste Genève Bourg Mâcon Sion Sierre Lausanne Lons Louhans Chalon Autun Dijon Dôle Besançon Pontarlier Neuchâtel Fribourg Berne Bienne Delémont Bâle Belfort Mt Blanc Mt Cenis Mt Genèvre Gd St-Bernard Pt St-Bernard Charolles Carte n° 1: La Suisse romande dans l ’ espace linguistique francoprovençal (d ’ après Tuaillon, 1972: 337) 2 2 La carte esquisse l ’ espace linguistique francoprovençal tel qu ’ il a pu être observé au début du XX e siècle. Depuis, de larges régions, désormais dédialectalisées (Neuchâtel, Vaud, Genève), ont entièrement passé au français. Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 69 <?page no="106"?> Le francoprovençal est caractérisé ́ par une dialectalisation extrême. Historiquement «organisé» autour de nombreux (micro-)centres directeurs au rayonnement très variable (Lyon, Grenoble, Genève, Fribourg, Sion, Aoste, etc.), écartelé ́ entre des régions aujourd ’ hui françaises, italiennes et suisses qui n ’ ont jamais connu d ’ unité ́ politique, exceptée leur appartenance à l ’ éphémère deuxième royaume de Bourgogne (888 - 1032), il n ’ a connu aucune standardisation linguistique. C ’ est un véritable laboratoire illustrant de nombreuses possibilités évolutives de la Romania occidentale. Dans l ’ espace alpin surtout, différentes évolutions phonétiques et différents micro-systèmes morphosyntaxiques coexistent souvent dans les mêmes régions et dans des villages immédiatement voisins; une observation spécifique ne s ’ applique souvent qu ’ à un parler déterminé. Cette importante variation qui distingue les parlers s ’ accompagne d ’ une forte variation interne aux parlers individuels qui a déjà inspiré Gauchat (1905) à de premières réflexions de nature sociolinguistique. Même si les premiers documents conservés remontent au XIII e siècle, les différentes régions francoprovençales n ’ ont jamais développé de tradition scripturaire commune. Resté essentiellement dévolu à la communication orale de proximité, le francoprovençal a toujours coexisté avec des langues écrites supra-régionales: le latin jusqu ’ au début du XVI e siècle dans les pays sous influence savoyarde, jusqu ’ à la fin de l ’ Ancien Régime dans l ’ État épiscopal du Valais (parties romanes et germanophones de l ’ actuel canton du Valais), puis le français. Habituellement, les auteurs locaux développaient chacun ses propres habitudes scripturaires basées sur le code graphique français. Ce dernier convient pourtant mal à une langue qui possède plusieurs sons à valeur phonématique inexistants en français ([ ĩ , ỹ , ũ ; θ , ð, ɬ ], etc.), et un accent tonique de mot phonologiquement pertinent, qui oppose oxytons et paroxytons: [ru ˈ za] ‘ rosée ’ v. [ ˈ ru ː za] ‘ rose ’ ; [si ˈ ri] ‘ cirer ’ v. [ ˈ si ː ri] ‘ cire ’ (cf. Tuaillon 1972: 336). Encore aujourd ’ hui, il n ’ existe aucun système graphique commun et utilisable pour tous les parlers (pour le Valais, cf. Maître/ Pannatier 2009) 3 . Pour la production littéraire plus ou moins sporadique, voir chap. 4. En Suisse romande, les fragmentations dialectales (carte n° 2) suivent souvent des limites politiques et religieuses (épiscopales) du Moyen Âge tardif; la Réforme protestante est à l ’ origine de certaines différenciations internes supplémentaires. 3 La graphie ‘ supradialectale ’ , pseudo-étymologique et autoproclamée «de référence» (ORA, puis ORB) de Stich (2001, 2003) suggère une historicité de l ’ écrit francoprovençal qui n ’ a jamais existé. Incohérente et scientifiquement inutilisable (Martin 2002, Fluckiger 2004), elle a cependant été adoptée par une trentaine de néolocuteurs actifs dans le mouvement «arpitaniste», très présents sur internet. 70 Andres Kristol <?page no="107"?> VS1 VS2 VS3 FR2 JU BE2 NE2 VD GE VD1 VD2 VD3 VD/ FR FR1 BE1 NE1 NE3 VD4 Carte n° 2: Les principales régions dialectales de la Suisse romande (d ’ après Gauchat 1904, simplifié) En Valais, les limites dialectales suivent assez exactement l ’ évolution des frontières politiques du canton (Kristol 2 2024: 612 - 618 et 625 - 632). L ’ est valaisan (VS1), correspondant à la partie romane de l ’ État épiscopal de 1384 à 1476, forme une unité linguistique particulièrement originale parmi les régions francoprovençales. C ’ est la seule région du galloroman (avec le wallon oriental) qui conserve le timbre [u] issu du Ū latin: lat. M Ū RU > [mur], D Ū RU [dur], contre [myr, dyr] partout ailleurs (cf. § 2.1.3). De même, c ’ est la seule région de la Romania occidentale à conserver une déclinaison à deux cas (comme en galloroman médiéval), un système qui s ’ appuie sur la déclinaison de l ’ article défini masculin et féminin, au singulier (cf. § 2.2.1). Le Bas-Valais (VS2), politiquement savoyard jusqu ’ en 1476, et surtout le Chablais (VS3), savoyard jusqu ’ en 1536, ont été beaucoup plus ouverts à des évolutions venant de Haute-Savoie, partageant de ce fait beaucoup de particularités linguistiques avec Genève, qui a été pendant longtemps le centre directeur de l ’ espace haut-savoyard. De nombreuses particularités du Chablais valaisan se retrouvent dans le district vaudois d ’ Aigle (VD1), première région savoyarde occupée par les Bernois en 1475, mais dépendant de l ’ évêché de Sion jusqu ’ à la Réforme, introduite en 1528. De manière analogue, Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 71 <?page no="108"?> l ’ appartenance de la région de Nyon (VD2) à l ’ évêché de Genève jusqu ’ à la Réforme se manifestait par un dialecte très proche du genevois. Anciennement, la Broye vaudoise formait une unité linguistique avec les régions fribourgeoises voisines (VD/ FR), mais a commencé à se distinguer des parlers fribourgeois à partir de la Réforme; désormais, plusieurs phénomènes suivent exactement les frontières cantonales et confessionnelles. Le Pays-d ’ Enhaut (VD3) appartenait aux comtes de Gruyère jusqu ’ au début du XVI e siècle. En 1554, le dernier comte, criblé de dettes, a dû céder son pays à ses principaux créanciers, Fribourg et de Berne. La Gruyère a ainsi été scindée en deux, le Pays-d ’ Enhaut devenant bernois (et rattaché au canton de Vaud en 1798). Même s ’ il partage certaines évolutions vaudoises, de nombreuses particularités de son patois rappellent encore son ancienne appartenance à la Gruyère. La Vallée de Joux (VD4) montre des affinités avec les parlers francoprovençaux du département du Jura en France voisine et ceux de la région de Nyon. Le canton de Fribourg avait une structure dialectale tripartite, distinguant les parlers de la Gruyère (gruvérin, FR1), ceux de la plaine et de la capitale (couètso, FR2) et ceux de la Broye (broyào, VD/ FR). Le gruvérin est le seul à avoir conservé une certaine vitalité jusqu ’ à l ’ époque actuelle. Le pays de Neuchâtel avait également une structuration dialectale assez marquée, distinguant en particulier le Val de Travers (NE1), les Montagnes neuchâteloises (NE2) et le reste du canton. Le long du lac on observait cependant aussi des influences vaudoises jusque dans la Béroche (district de Boudry, NE3). La principale frontière dialectale interne à la Suisse romande est celle qui sépare le francoprovençal (chap. 2) des parlers comtois septentrionaux, oïliques (chap. 3). Au terme du processus séculaire qui l ’ a refoulée vers le sud, elle se trouvait au début du XX e siècle le long du Chasseral, entre la Montagne de Diesse (BE1), très proche du type neuchâtelois, et le Vallon de St-Imier (BE2), celui-ci formant avec la Vallée de Tavannes une zone de transition entre le francoprovençal et le comtois d ’ oïl. Sur le haut plateau des Franches- Montagnes, La Ferrière, ancienne colonie neuchâteloise, appartenait au francoprovençal, Les Bois au type comtois. 2 Caractérisation linguistique du francoprovençal 2.1 Phonétique historique (phénomènes spécifiques choisis) 2.1.1 C ’ est à partir de certaines évolutions en phonétique historique que le francoprovençal a reçu sa première définition scientifique (Ascoli 1874): sa principale caractéristique est la double évolution de A tonique ou prétonique latin en syllabe libre (fig. 1): (a) conservation derrière consonne non palatale, comme en occitan ( PRÁTU > [pr ɑ ], occ. [prat], mais fr. [p ʁ e]), parfois avec vélarisation secondaire > [ ɔ ], mais (b) antériorisation du lieu d ’ articulation après palatale, comme en ancien français ( ‘ loi de Bartsch ’ ), avec de nombreuses évolutions dialectales ultérieures, toutes présentes en synchronie, dans les parlers actuels: 72 Andres Kristol <?page no="109"?> (a) PRÁTU > [pr ɑ ] > [pr ɔ ] ‘pré’ > [martʃˈ i , martsˈ i , marθˈ i , marfˈ i ] 4 , etc. (b) MERCÁTU > [martʃˈ ie ] > [marˈtʃ jˈe ] > [martʃˈ e , martsˈ e , marθˈ e ], etc. ‘marché’ > [martʃ jˈa ] > [martʃˈ a , martsˈ a ] Fig. 1: Évolution de Á [ latin, (a) sans ou (b) avec palatalisation 45 La double évolution de Á [ latin se retrouve devant consonne nasale (fig. 2). L ’ évolution postpalatale [jan > in] est documentée au VII e siècle sur des monnaies mérovingiennes datables et localisées (G RATIANOPOLE ‘ Grenoble ’ > Gracinopole, Gracinoble; cf. Chambon/ Greub, 2000). Le témoignage toponymique de la Romania submersa en Suisse alémanique occidentale oblige à la dater du VI e siècle au plus tard (Kristol 2002). (a) MÁNU ‘main’ > [m - ]; PÁNE ‘pain’ > [p - ] (b) CÁNE ‘chien’ > [tʃj ɛ̃ , tʃ ɛ̃ , ts ɛ̃ , ts ı ̃ ŋ , θ ɛ̃ ], etc. - IÁN - > [in] > [ ĩ , ɛ̃ ] Fig. 2: Évolution de Á [ latin devant nasale Une évolution analogue s ’ observe en syllabe atone finale (fig. 3). (a) PORTA ‘porte’ > [pˈɔrt a ] (b) VACCA ‘vache’ > [vˈats i , vˈaθ i ]; FILIA ‘fille’ > [fˈəʎ ə , fˈiʎ i ]; * MONTANEA ‘montagne, alpage’ > [montˈaɲ i ] Fig. 3: Évolution de A final atone En morphologie, cette évolution provoque la scission en deux paradigmes des verbes de la 1 re conjugaison latine (fig. 4). Même si dans les parlers actuels, l ’ analogie a éliminé certaines oppositions, elles restent attestées dans la plus grande partie du domaine: 4 Le système de transcription de l ’ ALAVAL utilisé ici place l ’ accent tonique (dans les mots plurisyllabiques) devant la voyelle accentuée (et non pas au début de la syllabe, comme en API standard). Il utilise [ , , ] pour les voyelles d ’ aperture moyenne, entre [e] et [ ɛ ], [ø] et [ œ ], [o] et [ ɔ ]. 5 Toutes les formes citées simplifient le polymorphisme réel des formes dialectales. Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 73 <?page no="110"?> (a) verbes à radical non palatalisant (ex. PORTÁRE ‘porter’) (b) verbes à radical palatalisant (ex. * MINDUCÁRE ‘manger’) infinitif (- ARE ) [portˈ a ] [mɛ̃ dzˈ i , mɛ̃ ðˈ i , mð i ] imparfait (- ABAM ) [portˈ aː vɔ] [mɛ̃ dzˈ iː vo, mɛ̃ ðˈ iː vɔ] participe passé (- ATU ) [portˈ a ] [mɛ̃ dzˈ i , mɛ̃ ðˈ i , mð jˈa ] Fig. 4: Évolution des verbes latins en - ÁRE 2.1.2 Un deuxième trait définitoire du francoprovençal découle de la diversité des voyelles finales atones. L ’ ancien français (et l ’ ensemble des parlers d ’ oïl) conserve une seule voyelle finale atone: [ ə ] issu de - A latin ( PORTA > porte) et comme voyelle d ’ appui après consonance lourde ( PAUP ( Ĕ ) RU > pauvre). Ce [ ə ] s ’ amuït dès le XVI e siècle (> [p ɔʁ t], [po ː v ʁ ]), d ’ où l ’ oxytonisme généralisé du français septentrional. Le francoprovençal distingue en principe quatre voyelles finales atones: • [a] < - A latin: FEMINA ‘ femme ’ > [f ˈɛ na], PORTA ‘ porte ’ > [p ˈɔ rta], • [ ɛ ̣ ] < - E latin, voyelle d ’ appui après consonance lourde: FRATRE ‘ frère ’ > [fr ˈɑʁ ], et au féminin pluriel (< lat. - AS ): FEMINAS ‘ femmes ’ > [f ˈɛ n ], • [ ɔ ] < - O latin, voyelle d ’ appui, après consonance lourde, et morphème de la 1 SG : FABRU ‘ forgeron ’ > [f ˈɑ vr ɔ ], ALT Ĕ RU ‘ autre ’ > [ ˈɑː tr ɔ ]; PORTO ‘ porter. IND . PRES .1 SG ’ > [p ˈɔ rt ɔ ], • [i] < - A latin postpalatal (cf. fig. 4): FILIA ‘ fille ’ > [f ˈ i ʎ i]. De nombreux parlers contemporains tendent pourtant à réduire cette diversité par l ’ affaiblissement (> [ ə ]) ou l ’ amuïssement de la voyelle finale atone dans de nombreuses unités lexicales. De manière définitoire, pour établir la limite septentrionale avec les parlers d ’ oïl, un parler est considéré comme francoprovençal tant qu ’ il maintient certains paroxytons. 2.1.3 À la différence de l ’ occitan, du français (à l ’ exception de l ’ Est wallon) et du galloitalien, le francoprovençal maintient le timbre [u] (< Ū latin) en partie jusque dans certains dialectes modernes. Dans l ’ Est valaisan, [u] étymologique est généralement conservé (cf. * HAB Ū TU > [a ˈ u, a ˈʊ p] à Montana, [a ˈ u, a ˈ uk] à St-Jean (Anniviers), etc. (ALAVAL carte n° 42315). Même les dialectes qui ont aujourd ’ hui [y] conservent des traces qui indiquent que [u] s ’ est longtemps maintenu, surtout quand l ’ évolution [u] > [y] a été bloquée par une consonne nasale: PL Ū MA ‘ plume ’ > [pl ˈɔ ma, p ʎˈɔ ma], etc.; cf. aussi l ’ article indéfini Ū NU , Ū NA > [ ɔ ̃ , ˈɔ na]. Dans de nombreux parlers, Ū se maintient en outre comme semi-voyelle [w] en hiatus, après la chute d ’ une consonne intervocalique: masc. * VEND Ū TU ‘ vendu ’ > [v ɛ ̃ d ˈ y], mais fém. * VEND Ū TA > [v ɛ ̃ dw ˈɑ ] (avec bascule de l ’ accent tonique sur le [a] final), masc. CR Ū DU ‘ cru ’ > [kry], fém. CR Ū DA ‘ crue ’ > [krw ɑ ]. 74 Andres Kristol <?page no="111"?> 2.1.4 Avec les parlers d ’ oïl, le romanche et la majorité des parlers nord-italiens (mais sans l ’ occitan), le francoprovençal a participé aux deux phases de diphtongaison spontanée des voyelles toniques latines en syllabe libre, avec des résultats divergents dans les parlers actuels (déplacements d ’ accent, effacement de l ’ élément atone, monophtongaisons secondaires): • première diphtongaison (< Ĕ / Ŏ latins): P Ě DE ‘ pied ’ > [p ˈ i ː e, p ˈ i ː a, pi; pje, pja], etc.; B Ŏ VE ‘ b œ uf ’ > [b ˈ ua, b ˈ ue, b ˈ uo, bu; bwe, bwu], etc. • deuxième diphtongaison (< Ĭ , Ē / Ŭ , Ō latins): N Ĭ VE ‘ neige ’ > [n ˈ a ɪ , n ˈ ae, n ɛ , n ɛ k], etc.; T Ē LA > [t ˈ a ɪ la, t ˈ e ɪ la, t ˈ e ɪɡ la, t ˈɛ la], etc. PR Ō DE ‘ assez, beaucoup, bien ’ > [pr ˈ a ʊ , pr ˈ a ʏ , prø, pru, pro, prok], etc. Dans plusieurs parlers valaisans (cf. les formes [nek, t ˈ e ɪɡ la, prok] ci-dessus), les diphtongues descendantes issues de la deuxième diphtongaison peuvent connaître une consonification du deuxième segment, traditionnellement appelée «apparition d ’ une consonne parasite» (Jeanjaquet 1931: 45; Keller 1958: 59 - 65) 6 . 2.1.5 Avec le français et le portugais, le francoprovençal fait partie des rares langues romanes qui possèdent des voyelles nasales ou nasalisées. Dans de nombreux parlers, même les voyelles orales du premier degré d ’ aperture ont leur équivalent nasal ([ ɪ ̃ , ʏ ̃ , ʊ ̃ ]). 2.1.6 Le francoprovençal partage avec le nord-occitan et la majorité des parlers d ’ oïl la palatalisation de C / G latins devant voyelle antérieure. Souvent, l ’ antériorisation du lieu d ’ articulation va beaucoup plus loin que dans les deux langues voisines. C ’ est aussi un important facteur de différenciation interne car la plupart des étapes intermédiaires du processus sont attestées dans les parlers contemporains. L ’ antériorisation la plus poussée se trouve dans des parlers savoyards de haute montagne, les formes les plus conservatrices dans certaines régions périphériques. Pour C latin devant voyelle antérieure en position forte, les principales étapes de l ’ évolution sont (1) > [t ʃ ] (> [ ʃ ]) > (2) [ts] (> [s]) > (3) [ θ ] > (4) [f] > (5) [ ɦ ]. Dans cette évolution, C EIJ - dont l ’ évolution se confond avec celle de T J - va toujours un pas plus loin que C A (cf. les formes pour * CANTI Ō NE ): • stade (1): Montagnes neuchâteloises, basse Vallée d ’ Aoste, basse vallée de l ’ Isère, certains parlers de la Matheysine: formes du type [t ʃ -] < CAMPU , [t ʃ - ˈ s ɔ ̃ ] < * CANTI Ō NE , [t ʃĩ , t ʃɛ ̃ , t ʃœ ̃ ], etc. < C Ā NE . • stade (2): Fribourg, Vaud, Valais central, moyenne et haute Vallée d ’ Aoste: [ts-] < CAMPU , [ts- θˈɔ ̃ ] < * CANTI Ō NE , [ts ĩ , ts ĩŋ , ts ɛ ̃ , ts œ ̃ ], etc. < C Ā NE . 6 En romanche des Grisons (cf. Lutta 1923: 88 - 90, 313; Grisch 1939: 24 - 28) l ’ évolution analogue est appelée «diphtongue durcie», ce qui décrit mieux l ’ évolution phonétique. En francoprovençal, la «consonne parasite» peut cependant se propager analogiquement à d ’ autres formes. Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 75 <?page no="112"?> • stade (3): Genève, majorité des parlers haut-savoyards, Chablais valaisan: [ θ -] (< CAMPU ), [ θ arb ˈɔ ̃ ] (< CARB Ō NE ), [ θ -f ˈɔ ̃ ] (< * CANTI Ō NE ). • les stades (4) et (5) ne se trouvent que dans certains parlers savoyards: [f- ɦˈɔ ̃ ] (< * CANTI Ō NE ); [ ɦ at] (< CATTU ), forme entendue à Fontcouverte-la-Toussuire (Haute- Maurienne) au printemps 2013. 2.2 Morphologie et syntaxe (phénomènes spécifiques choisis) 7 2.2.1 Maintien d ’ un système bicasuel fonctionnel L ’ Est valaisan est la seule région de la Romania occidentale qui maintient un système bicasuel (distinction d ’ un cas sujet et d ’ un cas régime) pleinement fonctionnel, disparu partout ailleurs vers la fin du Moyen Âge. Ce système ne se réalise cependant qu ’ à l ’ article défini singulier (cf. Kristol 2013a) 8 . En négligeant certains allomorphes et les noms à initiale vocalique qui ajoutent quelques complications, on en arrive au système suivant (fig. 5): M [mat ˈɔŋ ] ‘ garçon ’ F [m ˈ ata] ‘ fille ’ ; [dz ˈœʊ ] ‘ forêt ’ SUJET RÉGIME SUJET RÉGIME SG [l ʏ mat ˈɔŋ ] [l ɔ mat ˈɔŋ ] [l ʏ m ˈ ata] [l ʏ dz ˈœʊ ] [la m ˈ ata] [la dz ˈœʊ ] PL [l ɛ mat ˈɔŋ ] [l ɛ m ˈ at ɛ ] [l ɛ dz ˈœʊ ] Fig. 5: Le système bicasuel de l ’ Est valaisan • le nom masculin est invariable; les oppositions de nombre et de cas se réalisent par les formes de l ’ article défini: [l ʏ ] (sujet singulier), [l ɔ ] (objet singulier), [l ɛ ] (pluriel). • le nom féminin singulier est invariable; l ’ opposition sujet ~ régime est réalisée par l ’ article défini [l ʏ ] (sujet) ~ [la] (régime). Les noms de la 1 re déclinaison latine en - A connaissent une opposition morphologique entre -[a] (féminin singulier) et -[ ɛ ] (féminin pluriel), qui se double de la forme de l ’ article défini pluriel [l ɛ ], identique pour les deux genres. Les féminins remontant aux autres déclinaisons latines (p.ex. JURIS > [dz ˈœʊ , z ˈɔʊ ] ‘ forêt ’ ) sont invariables, comme les masculins. 2.2.2 Déterminants du nom (article défini et déterminants possessifs): existence ou non d ’ une distinction morphologique M / F au pluriel Une grande zone, du sud de Grenoble au lac Léman, avec la région de Nyon et le Chablais valaisan, distingue le genre grammatical au moyen de l ’ article défini non seulement au singulier ( M [l ʊ ]/ [l ɔ ] et allophones, F [la]), mais aussi au pluriel ( M ([l ʊ ]/ [l ɔ ] et allophones, F [le]/ [l ɛ ]/ [l ə ], etc.; cf. ALF cartes n° 141B, 226, ALJA cartes III et IV; Martin 1972; exemples du Chablais valaisan): 7 L ’ accent est mis sur des particularités structurelles qui distinguent le francoprovençal actuel des parlers oïliques et occitans. 8 Toutes les transcriptions phonétiques localisées sans autre indication bibliographique proviennent du corpus ALAVAL (Diémoz/ Kristol 2019), avec leur clip vidéo en ligne (https: / / alaval.unine.ch). 76 Andres Kristol <?page no="113"?> (1) [ ɔ ̃ lu t ɑ s ˈɔ ̃ l ɑ ̃ fe d ʏ m ˈ o ːʊ d ɛ ̃ ː lu ts-] Oh les blaireaux ils ont fait du mal dans les champs. (Troistorrents VS) (2) [le le dz ɛ ̃ 9 ɐ tset ˈ a ʋ - le b ˈ ote ʋ e l k ɑʁ d ɑɲˈ e ː ] Les .. les gens achetaient les souliers vers (= chez) le cordonnier. (Troistorrents VS) Après préposition (ex. 3 - 6), les formes masculines sont contractées, les formes féminines non: • préposition [a] + M . PL : (3) [le bw ɔ t ɪ m fa- mo ɪ tal ˈɔ ̃ ] Les chaussures elles me font mal aux talons. (Troistorrents VS) • préposition [a] + F . PL : (4) [a ɑ ̃ k ˈ ope la l-n a le f ˈɑ j ɛ ̣ ] Ah on coupe a laine aux brebis. (Troistorrents VS) • préposition [de] + M . PL : (5) [õ ʋ w ɑ pa me s ɔʋˈɛ ̃ de mots ˈ e] On (ne) voit plus souvent des éperviers (Troistorrents VS) • préposition [de] + F . PL : (6) [ ˈɑʋ o d le kw ə z ˈə n ɑ w ə d ˈ a ʋ e kw ʏ z ˈʏ n ə ] (J ’ )avais des cousine (j ’ )avais deux cousines. (Troistorrents VS) La même distinction caractérise les déterminants possessifs au pluriel (7 - 8): (7) [m ʊ par ˈɛ ̃ l ɐ tst ˈ av ɔ ̃ pa l dz-b ˈɔ ̈ lø lø dz-b ˈɔ ̃ n av ˈɛ l ʊ kaj ˈɔ ̃ se m ˈɛ m ɔ ] Mes parents ils achetaient pas le jambo le .. le jambon .. on avait le(s) cochon(s) soimême. (Vouvry) (8) [m bw ˈɔ tø m ɛ ̈ f ɔ ̃ m ɑ vø mmo ø ta ɐ tað ˈɔ ̃ ] Mes chaussures me font mal euh m.. mal au(x) tal.. talon(s). (Vouvry) Les parlers septentrionaux (sud du Jura français, Neuchâtel, Fribourg, Vaud), l ’ est du Valais et la Vallée d ’ Aoste ne distinguent pas les deux genres au pluriel des articles définis (cf. fig. 5) et des déterminants possessifs ([m ɛ , t ɛ , s ɛ , no, vo, ł o] et allophones). 9 [dz ɛ ̃ ] ‘ gens ’ (cf. GPSR 8, 258 - 265) et [b ˈ ote] ‘ chaussures ’ sont féminins. Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 77 <?page no="114"?> 2.2.3 Article partitif ou de partitif Le francoprovençal est scindé en deux groupes (cf. Kristol 2014) 10 , entre des parlers qui possèdent une simple préposition de partitive, invariable (système A), et ceux qui ont grammaticalisé un article partitif «complet», comme le français moderne (système B). Le sud du francoprovençal de France, le Valais central et la Vallée d ’ Aoste réalisent le système A; dans le nord du domaine (partie méridionale du Doubs, le Jura, le nord-est de l ’ Ain, le nord de la Haute-Savoie, les cantons de Vaud, Genève, Fribourg, Neuchâtel et le Chablais valaisan), la plupart des parlers réalisent le système B (ALJA, cartes 1562, 1563 pour le francoprovençal de France, TP, col. 40, 41, 43, 88, passim pour la Suisse romande). Pour l ’ emploi concret des formes, il convient de distinguer trois fonctions syntaxiques: (1) article indéfini, (2a) déterminant partitif de sans article ou (2b) article partitif «complet», et (3) article défini prépositionnel au génitif: francoprov. A francoprov. B (1) article indéfini (2a) déterminant partitif non articulé (3) article défini génitif (1) article indéfini (2b) article partitif (3) article défini génitif SG [ ɔ ̃ , ɔ na] [d ɛ ] [dy, d la] [ ɔ ̃ , ɔ na] [dy, d la] PL [d ɛ ] [di] [de, d le] Fig. 6: Les microsystèmes de l ’ article indéfini, du partitif et de l ’ article défini génitif en francoprovençal A et B Le système A utilise au singulier (1) un article indéfini (objets comptables) du type [ ɔ ̃ ( M )/ ɔ na ( F )], (2a) un déterminant partitif (objets massifs) invariable [d ɛ ] qui se distingue de (3) l ’ article défini prépositionnel au génitif [dy, d la]. Au pluriel - qui ne distingue pas les deux genres - on retrouve le déterminant invariable [d ɛ ] (syncrétisme de l ’ indéfini et du partitif); celui-ci se distingue de l ’ article défini pluriel au génitif [di]. Le système B utilise également (1) un article indéfini singulier [ ɔ ̃ ( M )/ ɔ na ( F )], mais (2b) un article partitif [dy, d la] dont la forme se confond avec (3) l ’ article défini au génitif [dy, d la]. Au pluriel, les deux genres sont distingués, mais les formes [de] ( M ) et [d le] ( F ) sont communes à l ’ article indéfini, l ’ article partitif et l ’ article défini génitif. Dans le système B, la grammaticalisation de l ’ article partitif va plus loin qu ’ en français standard, où elle a été inhibée par la norme: il s ’ utilise aussi, p.ex., après une négation ([ ɛ ̣ l ɑ t ʃɛ ̈ t ˈ av pa d le ˈ b ʁ öj ɛ ] ‘ elle achetait pas des habits ’ , Val-d ’ Illiez VS). Il en résulte deux micro-systèmes irréductibles à un même dia-système. 2.2.4 Possessifs Comme particularité morphologique de la série des déterminants possessifs, on signalera les formes du M . PL .1&2 (type [n ˈ otr ɔ ̃ , n ˈ utr ɔ ̃ , n ˈ u ɦ r ɔ ̃ , n ˈ u θ r ɔ ̃ ; v ˈɔ tr ɔ ̃ ], etc., avec une consonne médiane résultant du traitement du - ST latin dans les différents parlers), formées par analogie sur le M . SG .1/ 2/ 3 ([m ɔ ̃ , t ɔ ̃ , s ɔ ̃ ] (Hasselrot, 1939/ 40). Le type [n ˈ otr ɔ ̃ , v ˈɔ tr ɔ ̃ ], inconnu en dehors du francoprovençal, couvre la plus grande partie de celui-ci (Hasselrot 1966, carte), mais ne permet pas une identification univoque de tous les parlers; il manque dans 10 Pour la recherche ultérieure consacrée à l ’ expression de la partitivité en francoprovençal valaisan et valdôtain, cf. Stark/ Gerards 2021, Stark/ Davatz 2021 et Davatz et al. 2023. 78 Andres Kristol <?page no="115"?> plusieurs régions dont la ‘ francoprovençalité ’ est hors de doute (Valais central, Vallée d ’ Aoste, Nord vaudois, Neuchâtel, Jura français). Les féminins [n ˈ utra, n ˈ u θ ra; v ˈ utra], etc. (< NOSTRA , UOSTRA ) ne sont pas spécifiquement francoprovençaux. 2.2.5 Système pronominal 2.2.5.1 Pronoms personnels toniques Pour les pronoms personnels dits toniques, certaines langues romanes occidentales conservent un système bicasuel distinguant le sujet du régime (p.ex. it. io/ me); d ’ autres, comme le français moderne, ont abandonné l ’ opposition (fr. moi, sujet et objet: fr. moi je viens ~ il vient avec moi ). Les deux systèmes coexistent en francoprovençal: certains parlers maintiennent un système bicasuel (ex. 9 - 10), d ’ autres ont adopté un système acasuel (ex. 11 - 12): • système bicasuel, sujet (Arbaz): (9) e sos ˈɛ ̣ t ʃ i j ɔ ̈ k ʏ ʒ e ts ɪ so ɲˈ e Les chaussettes, suis je (= c ’ est moi) qui les ai tricoté. • système bicasuel, régime, après préposition (Arbaz): (10) v ɑ h ʊ t œ ̃ ʃɥɪ n ˈɪ d m ɛ Vastu te souvenir de moi? • système acasuel, sujet (Val-d ’ Illiez): (11) m ɔ ̃ k ʊ z ˈɛ ̃ ɛ ̣ pi m ɔ ̃ t əɲˈ a ʋ lø ː la fin ˈ -s d ə bu ʶʒ w ɑ z ˈ i ː Mon cousin et puis moi on tenait les.. la finance de bourgeoisie. • système acasuel, régime, après préposition (Val-d ’ Illiez): (12) va t ɔ̈ː t ɛ ̃ suvn ˈɛɪ ̃ d ə m Vastu te souvenir de moi? L ’ étude de la répartition géolinguistique des deux types reste à faire. Dans l ’ ALAVAL (carte 31010), le Bas-Valais, la Haute-Savoie voisine et la Vallée d ’ Aoste présentent le type acasuel; le Valais central le type bicasuel. 2.2.5.2 Clitiques sujets (CS) La morphosyntaxe des pronoms personnels sujets ‘ atones ’ (= CS) francoprovençaux a beaucoup intrigué la recherche (résumé bibliographique in Kristol 2018). Leur polymorphisme et leur variation interet intra-dialectale sont impressionnants. Les CS.2 SG sont obligatoires, plutôt réguliers pour la 1/ 2 PL , mais facultatifs, parfois très rares à la 1 SG / 3 SG . Les pourcentages d ’ emploi changent d ’ un parler à l ’ autre. Dans certains, il est régulier; dans d ’ autres il est facultatif, voire inexistant. Certains parlers ne possèdent qu ’ un pronom sujet tonique (CS nul). Les autres possèdent deux séries, tonique et clitique. Partout, la syntaxe de la 1 SG est différente de celle de la 2 SG ou 3 SG , et du pluriel. Certains parlers possèdent une série de CS complète, utilisés de manière presque régulière dans n ’ importe quel contexte. D ’ autres ont une série de CS complète, mais l ’ emploi de certaines formes est facultatif. Ailleurs encore, la série des CS est incomplète: certaines formes n ’ existent pas ou ne s ’ emploient pas. Les facteurs qui expliquent l ’ emploi des CS dans les parlers individuels restent à élucider (cf. aussi 2.2.6.2). Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 79 <?page no="116"?> 2.2.5.3 Sujet et objet neutre La moitié méridionale du galloroman, située grosso modo au sud de la Loire (parlers d ’ oïl, occitans et francoprovençaux), forme une unité typologique en maintenant une distinction formelle entre le clitique masculin et neutre, sujet et objet. L ’ opposition est réalisée avec des moyens divergents d ’ une région à l ’ autre (Clédat 1883; Vignon 1905, 1910; Martin 1974; Kristol 1991). Pour le sujet, dans la plupart des dialectes francoprovençaux concernés, l ’ opposition se fait entre [i] ( M ) et [o]/ [e] ( N ) ou l ’ inverse ([e] pour le masculin, [i] pour le neutre): bvv ‘ il. M buvait ’ , mais ĭ pl ŭ ‘ il. N pleut ’ (ALF, cartes 143 et 1035, P. 947 Bons-en-Chablais près de Genève). Pour l ’ objet direct (ALF, cartes 410, 745 et 1316), la répartition géolinguistique est similaire: le sud galloroman (français, francoprovençal et occitan) maintient la distinction. L ’ opposition se réalise par [l ɔ ] ( M ) - [ ɔ ]/ [u]/ [i] ( N ) en francoprovençal; lo et y dans les écrits en dialecte genevois de Pictet de Rochemont 1791 (cf. chap. 4). Le français régional de la zone correspondante, entre Genève et Grenoble, calque cette opposition par l ’ emploi d ’ un pronom personnel neutre y qui s ’ oppose au pronom masculin singulier le (Tuaillon 1983): j ’ y sais ‘ je sais cela ’ , j ’ y vois ‘ je vois cela ’ , mais je le vois ‘ je vois le parapluie ’ 11 . 2.2.5.4 Pronoms et déterminants démonstratifs; adverbes déictiques 2.2.5.4.1 De nombreux parlers possèdent une deixis tripartite, comparable aux structures du latin classique ( PROX . HIC / HAEC ~ DIST .1 ISTE / ISTA ~ DIST .2 ILLE / ILLA ), cf. ALAVAL, cartes 24010 - 24030: • M . SG . PROX [stig], DIST .1 [hig], DIST .2 [hlig] (formes de St-Jean VS), • F . SG . PROX [sta], DIST .1 [sa], DIST .2 [hla] (formes de Nendaz VS). Ce système, insuffisamment décrit jusqu ’ ici, est doublé d ’ une «triade» d ’ adverbes déictiques: PROX . [ ʃ i, ʃ e, si, se], DIST .1 [ ɛ ̃ ŋ tj ə , ı ̃ ŋ kj ˈɛ ], etc., DIST .2 [la, le, l ɛ , li], etc. Les parlers gruériens distinguent même quatre degrés de proximité-éloignement (Humbert 1945/ 46: 151), grâce à l ’ adverbe déictique (che ché inque lé), tout en ne distinguant que deux pronoms (sti et cî). 2.2.5.4.2 La principale forme du pronom démonstratif neutre est [s ɛ ̃ ]/ [ ʃɛ ̃ ]/ [ ʃɛ n], etc. (probablement < lat. * ECCE - INDE ). En francoprovençal vaudois et fribourgeois, ce pronom se plaçait systématiquement devant les formes nominales du verbe (infinitif, participe présent, participe passé; cf. Reymond/ Bossard 1979: 95): (13) On m ’ a cein contâ ‘ on m ’ a ça raconté ’ (14) On pâo pas cein dèvortolyî ‘ on peut pas ça détortiller ’ (15) Ein cein deseint ‘ en ça disant ’ Cette syntaxe peut se retrouver dans l ’ emploi de ça en français régional vaudois et fribourgeois (Bürgi 1999: 157 - 159; pour l ’ implantation géolinguistique précise du phénomène, cf. Avanzi 2020). 11 Pour la vitalité et l ’ implantation géolinguistique du y neutre en français régional contemporain, cf. aussi Avanzi (2016). 80 Andres Kristol <?page no="117"?> 2.2.6 Éléments de morphologie et de syntaxe verbales 2.2.6.1 La caractéristique la plus originale de la morphologie verbale est la bipartition, d ’ origine phonétique (cf. fig. 4), des verbes de la 1 re conjugaison latine. 2.2.6.2 Indicatif présent: L ’ IND . PRES .1 SG est marqué par le maintien de la désinence - O de la 1 re conjugaison latine dans la plupart des paradigmes: [m ap ˈɛː l ɔ ] ‘ je m ’ appelle ’ , [m ˈɛ t ɔ ] ‘ je mets ’ , [v ˈ e ː j ɔ ] ‘ je vais ’ , [dr ˈʏ m ɔ ] ou [drum ˈ e ʃɔ ] ‘ je dors ’ (avec suffixe inchoatif analogique), mais [ ʃ i]/ [ ʃ e] ‘ je sais ’ , [vw ɛ ̣ ]/ [v ˈʊɪ ]/ [w ˈɛɪ ] ‘ je veux ’ . Le morphème -[ ɔ ] distingue la 1 SG de la 2/ 3 SG , identiques pour tous les verbes. Paradigme type: ‘ prendre ’ 1 SG [pr ˈɛ ̃ ʒɔ ], 2 SG [t ə pr ɛ ̃ ], 3 SG [(i) pr ɛ ̃ ]. Cette répartition des formes pourrait expliquer en partie l ’ emploi obligatoire du clitique sujet de la 2 e personne du singulier (cf. § 2.2.5.2), alors que celui de la 1 SG est souvent rare voire inexistant, et celui de la 3 SG facultatif, mais d ’ autres facteurs entrent également en jeu (Kristol 2018). Dans la conjugaison en - Ā RE , les alternances vocaliques dues au déplacement de l ’ accent tonique entre le radical et la désinence sont relativement fréquentes (type [pl ˈœː r ɔ ] ‘ pleurer.1 SG ’ ~ [pl ɔ r ˈɛ ̃ ] ‘ pleurer1 PL ’ ). Dans les verbes en - Ī RE , la propagation analogique du suffixe inchoatif [ ɛ s] ou [ ɛʃ ] n ’ est pas rare. À Bagnes (Valais), [f ˈʊ j ɔ ] ‘ fuir.1 SG ’ coexiste avec [f ʊ j ˈə s ɔ ] (Bjerrome 1957: 105). 2.2.6.3 Imparfait: maintien, en principe, de deux séries de désinences, (a) en vpour les verbes en - Ā BAM , (b) sans -vpour les autres (< lat. * - Ē AM ): (a)[a ʁʋˈ a ʋɔ ] ‘ arriver. IMP .1 SG (verbes en - Ā RE à radical non palatalisant) [m ĩŋʒ j ˈɛ v ɔ ], [mð ˈ i ː v ɔ ] ‘ manger. IMP .1 SG ’ (verbes en - Ā RE à radical palatalisant) (b)[v ɛ ̃ d ˈɛ ] ‘ vendre. IMP .1 SG ’ [d ɛ ̣ v ˈɛ ] ‘ devoir. IMP .1 SG ’ [v ʏɲˈɛ ] ‘ venir. IMP .1 SG ’ En réalité, les formes en -vse sont très souvent propagées de manière analogique: [pr œ ̃ ʒʲˈ ev ɔ ] ‘ prendre. IMP .1 SG ’ (Miège, Valais) [fiz ˈ iv ɔ ̈ ] ‘ faire. IMP .1 SG ’ (Torgnon, Vallée d ’ Aoste) et les nombreuses solutions pour l ’ imparfait de ‘ voir ’ attestées dans les matériaux de l ’ ALAVAL: [v ɛ j ˈ ev ʊ ] ‘ voir. IMP .1 SG ’ (Les Marécottes, Valais) [v ɛ j ˈɑː v ɔ ] ‘ voir. IMP .1 SG ’ (Montana, Valais) [ve ˈɪ v ɔ ] ‘ voir. IMP .1 SG ’ (Torgnon, Vallée d ’ Aoste) Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 81 <?page no="118"?> 2.2.6.4 Pour les temps composés, une partie des parlers inverse les verbes auxiliaires ‘ être ’ et ‘ avoir ’ dans le passé composé d ’‘ être ’ ( ‘ être eu ’ pour ‘ avoir été ’ ). Le phénomène est ancien; il se trouve déjà dans les documents fribourgeois du XIV e siècle. La tournure reste habituelle dans les parlers du Valais épiscopal (régions de Sion et de Sierre; cf. ALAVAL, carte 42311), mais se trouve aussi ailleurs (exemple de Liddes, val d ’ Entremont): (16) my sov ˈ y ɲɔ ke l al ˈ a ɔ ̃ w ɪ la ʋ j ɛ dz ap ˈ y s ɔ ̃ (Je) me souviens qu ’ ils allaient avec la luge après (ils) sont it ˈ a w li tsar ɡˈɔ se k- l ə tsym ˈẽ l été avec les charrettes à deux roues quand le chemin il e ʒ u ɔ ̃ mw ɛ pi l ˈɑ rdz ɔ est eu (= a été) un peu plus large. Comme il apparaît en (16), ‘ être eu ’ est cependant concurrencé par ‘ être été ’ . Sous l ’ influence du français, on entend aussi ‘ avoir été ’ . 2.2.6.5 Les formes surcomposées, exprimant une ‘ bisantériorité ’ ou un passé définitivement révolu, également présentes en français régional du Midi, du grand Sud-Est de la France et de la Suisse romande (Cornu 1953), sont très vivantes en francoprovençal, surtout en emploi absolu: (17) d œ b ə t əɹˈɑɪ j en e ʒ y pl -t ˈ o Des betteraves j ’ en ai eu planté. (Lourtier) 2.2.6.6 Le francoprovençal fait partie de la grande zone de l ’ est galloroman qui possède un futur périphrastique formé avec ‘ vouloir ’ + INF , sans connotation volitive: [i n ə vu p ɑ tard ˈ i] ‘ il ne veut pas tarder ’ = ‘ il ne va pas tarder ’ (Duraffour 1932: 60). La forme reste très vivante en français régional, avec Neuchâtel, le Jura suisse et la Franche-Comté comme épicentre. Elle manque en revanche dans nos matériaux valaisans. Son implantation géolinguistique précise reste à étudier. 2.3 Lexique Dans l ’ impossibilité de présenter ici une analyse exhaustive du lexique caractéristique du francoprovençal 12 , quelques exemples significatifs illustreront les principaux phénomènes 13 . 12 L ’ étude scientifique du lexique dialectal de la Suisse romande incombe au Glossaire des patois de la Suisse romande GPSR (10 volumes, lettres A-G, publiés depuis 1924; la rédaction du volume H-I-J est actuellement en cours). 13 Pour d ’ autres exemples, voir aussi Avanzi dans ce volume. 82 Andres Kristol <?page no="119"?> 2.3.1 Le francoprovençal conserve certains éléments lexicaux pré-indoeuropéens désignant des réalités alpestres. Empruntés par le gaulois, puis à celui-ci par le latin régional devenu le francoprovençal, ils sont parfois entrés en français à l ’ époque moderne (XVI e - XVIII e siècles), p. ex. chamois, animal inconnu dans les régions d ’ origine des populations gauloises (Europe centrale) et dans le Latium, région d ’ origine du latin; chalet, à l ’ origine ‘ cabane en pierre, habitation du personnel d ’ alpage pendant l ’ été ’ , ou tomme ‘ sorte de fromage ’ . D ’ autres types lexicaux tels que darbon/ derbon ‘ taupe ’ sont entrés en latin local et ont été conservés en francoprovençal, mais sans être adoptés par le français commun. Loba/ lyoba, d ’ origine obscure, appel qui sert à rassembler les vaches à la traite, à l ’ alpage, reste connu grâce au Ranz des vaches gruérien (cf. chap. 4). 2.3.2 Le gaulois a laissé un petit lot de types lexicaux conservés uniquement en francoprovençal (à côté de ceux, plus nombreux, survivant en français commun), p.ex. b œ u, bou, bok (selon les dialectes, < celtique *bo-tegon ‘ maison du b œ uf ’ ), bien implanté dans une région qui va du Valais et de la Vallée d ’ Aoste jusqu ’ au Bugey, et du Léman jusqu ’ à la frontière sud du francoprovençal, anciennement attesté aussi dans le Jura vaudois et à Fribourg. Nant ‘ torrent ’ (< celt. *nantu- ‘ vallée ’ ) reste vivant dans le Chablais valaisan, en Savoie et dans une petite zone de rayonnement de Genève. 2.3.3 Quant à l ’ héritage latin, la recherche du XX e siècle distingue trois couches d ’ apports qui constituent la spécificité du latin de l ’ espace francoprovençal et helvétique en particulier: • une ancienne latinité «narbonnaise», commune à l ’ occitan et au francoprovençal, • une latinité «urbaine» hautement cultivée, nourrie de références littéraires, traditionnellement identifiée avec le rayonnement de la ville de Lyon et de ses écoles à l ’ époque romaine, mais qui reflète sans doute aussi la latinité d ’ une capitale comme Avenches (avec 20'000 habitants à l ’ époque romaine et une école de médecine bien attestée), • une latinité «transalpine», qui concerne tout spécialement la Suisse romande: elle situe l ’ espace francoprovençal dans l ’ axe des grandes voies de passage entre l ’ Italie du Nord et le Nord de la Gaule, notamment le couloir dit «romanique» qui va vers Trèves, capitale impériale de la Gaule septentrionale, et au-delà vers le wallon et le picard. Pour l ’ ancienne communauté entre l ’ occitan et le francoprovençal, on citera les noms de la noisette (Gardette 1962: 72 - 73), noisille (< lat. NUCICULA ), noix de coudre ‘ noix du coudrier, noisetier ’ , noiz menue ‘ petite noix ’ et noisette au nord de la France, mais avelana, avilana, aulana, etc. (occitan), alagne, alogne, olagne, ologne, ulagne, etc. (francoprovençal savoyard et romand) < lat. ABELLANA / * ABELLANIA . La latinité urbaine et littéraire du francoprovençal - langue de haute civilisation qui n ’ a pas pu maintenir son statut par rapport au français - est illustrée par le type molar(d) ‘ tertre, talus, tas de pierres, tas de terre, montagne ’ , bien attesté comme nom commun et en toponymie (Gardette 1959, 1962: 86 - 89). Molar(d) (< lat. M Ŏ L Ā RIS , dérivé de M Ŏ LA ‘ meule ’ ) apparait p.ex. chez Pline, dans la tournure LAPIS M Ŏ L Ā RIS ‘ pierre meulière ’ . Substantivé, Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 83 <?page no="120"?> M Ŏ L Ā RIS prend le sens de ‘ grosse pierre, rocher ’ , attesté chez Virgile et Ovide. Au V e siècle, on le retrouve chez le poète Sidoine Apollinaire, évêque de Clermont-Ferrand originaire de Lyon. Molar est spécifiquement francoprovençal, mais permet aussi d ’ identifier d ’ anciennes régions francoprovençales qui ont changé de langue (sud de la Bourgogne, Franche- Comté et, en Suisse alémanique, une large région située autour de Berne, germanisée vers le IX e siècle, où on trouve cinq toponymes du type Muhlern ([ ˈ m ʊ w ə r ə ] ou [ ˈ m ʊə l ə r ə ]), formes germanisées de molar (Kristol 2002, BENB I/ 3, 338s.). La Suisse romande conserve un vocabulaire latin spécifique inconnu des autres langues galloromanes, qu ’ elle doit au contact direct avec l ’ Italie du Nord (Gauchat 1919), p.ex. lat. SAXUM ‘ rocher ’ (> italien sasso) qui, au nord des Alpes, ne survit qu ’ en Suisse romande (Valais, Vaud) et en Haute-Savoie voisine sous une forme prononcée [se, si, ʃ e, ʃ ei] (souvent écrite scex pour éviter des associations d ’ idées inconvenantes), ou verdasse, verdzasse, bordiafe ‘ écureuil ’ (en Suisse romande, Savoie et Vallée d ’ Aoste) < lat. class. VIVERRA ‘ furet ’ (Pline). Ce type d ’ origine hautement littéraire, inconnu dans d ’ autres langues galloromanes, ne doit rien au rayonnement de Lyon; Lyon n ’ a pas été le seul centre culturel actif dans notre espace. 3 Caractérisation linguistique du franc-comtois (jurassien): un parler d ’ oïl de type bourguignon oriental 14 Une description cohérente des patois jurassiens doit également tenir compte de la Franche-Comté voisine. Frontières politiques et frontières linguistiques ne coïncident pas. Les parlers jurassiens font partie du comtois septentrional, dialecte d ’ oïl. La Franche- Comté méridionale (avec Pontarlier et Lons-le-Saunier, cf. carte n° 1) appartient au francoprovençal. Les parlers comtois du Jura suisse forment une pointe avancée du domaine d ’ oïl vers l ’ est. Cette «avancée» est pourtant plutôt une ligne de résistance: à l ’ époque romaine, le galloroman se prolongeait jusqu ’ au Rhin, voire au-delà. La «romanité» du Jura suisse, protégée par la topographie, a réussi à se maintenir face à la progression alémanique, alors que la plaine d ’ Alsace a été germanisée. Il est caractéristique pour cette situation que les dialectes jurassiens sont assez fortement marqués par des emprunts aux dialectes alémaniques (alsaciens surtout), alors que ces derniers ne connaissent pratiquement aucune influence jurassienne. 3.1 Phonétique historique (phénomènes spécifiques choisis) 3.1.1 Traits communs à l ’ ensemble des dialectes de l ’ Est (1) Dans tous les parlers de l ’ est galloroman, de la Belgique à la Suisse romande, dans les mots d ’ emprunt d ’ origine germanique datant du haut Moyen Âge, le w initial se conserve comme v - , vw ou w - , alors qu ’ il devient g dans les parlers de l ’ ouest et du centre (en français commun, les formes sont celles du centre). L ’ étendue exacte de la zone de conservation du v - , vw ou w change d ’ un mot à l ’ autre. Dans le Jura suisse, le nombre de 14 Pour une description plus détaillée, avec des cartes linguistiques à l ’ appui, voir Kristol ( 2 2024: 479 - 518). 84 Andres Kristol <?page no="121"?> mots avec v est particulièrement élevé: vadge, voidge 15 ‘ garde ’ (< ancien bas francique *warda), vadgeaie, voidgaie ‘ garder ’ (< germanique occidental *wardôn), vâson, vouéson ‘ gazon ’ (< ancien bas francique *waso), voiri, r ’ voiri ‘ guérir ’ (< ancien bas francique *warjan), etc. Dans les parlers modernes, pour de nombreux mots qui se ressemblent en français et en dialecte, l ’ influence de la langue commune tend cependant à refouler les formes traditionnelles avec v - . (2) Les dialectes du Nord et de l ’ Est galloroman sont caractérisés par l ’ absence de la consonne ddite épenthétique que les dialectes de l ’ Ouest et du Centre (et le français commun) insèrent dans les groupes consonantiques formés d ’ une consonne labiale (m) ou postdentale (n, l) suivis d ’ une liquide (r, l): comtois vardi, vardé ‘ vendredi ’ , cenres ‘ cendres ’ , voré ‘ voudrai ’ (< ancien français volrai), mor ‘ moudre ’ (< ancien français molre) et resannaie ‘ ressembler ’ . Ce phénomène distingue le comtois du francoprovençal, qui connait les mêmes épenthèses que le français commun. (3) Dans une grande zone orientale qui commence en Champagne et en Bourgogne et atteint sa densité maximale en Lorraine et en Franche-Comté, tout -rétymologique devant consonne dentale (d, t, l, s, z, n) tend à s ’ effacer, mais en laissant souvent une trace palatale. Ce résultat est constant en Franche-Comté; dans les formes dialectales traditionnelles, les parlers comtois ne possèdent plus de r devant consonne dentale. Lat. CORNUA ‘ corne ’ devient (la) coéne, au français chardon correspondent des formes comme [ ʃ ad ɔ ̃ , ʃ adj ɔ ̃ , t ʃɛ dj ɔ ̃ ], etc.; rtdevient [t ʃ ]: lat. PORTA > poûétche, l ’ ancien français tortel ‘ petite tourte ’ aboutit à totché, toétché. À cet égard, seule la vallée de Delémont fait exception en maintenant les groupes [rt] et [rd] (poèrt ‘ porte ’ , chòrd ‘ sourde). (4) Les parlers oïliques du nord et de l ’ est, de la Picardie à la Franche-Comté, connaissent une évolution spécifique du groupe plet blen position intervocalique: pet bse vocalisent en [u], qui peut se combiner avec la voyelle qui précède. En comtois d ’ oïl, les résultats concrets sont pourtant très variables. Lat. TAB ( U ) LA devient tôle, tâle ‘ table ’ dans deux zones comtoises, dont les parlers du Jura suisse. Lat. FAB ( U ) LA aboutit à fôle ‘ conte ’ , encore vivant en français regional. 3.1.2 Le comtois va avec le sud francoprovençal (5) L ’ évolution du groupe m ’ n- (primitif ou secondaire, dans des mots comme lat. SOMNUM ‘ somme ’ , FEM ( I ) NA ‘ femme ’ , SEM ( I ) NARE ‘ semer ’ , HOM ( I ) NE ‘ homme ’ , etc.) scinde l ’ espace galloroman en deux. Au nord, m ’ ndevient m-; au sud et dans le sud-est, en occitan et en francoprovençal, le résultat régulier est -n-: FEM ( I ) NA > [fam] dans le nord, [fan, f ˈ en ː a], etc. dans le sud, INTAM ( I ) NARE ‘ entamer ’ > entannaie en Ajoie. Pour ce phénomène, la Franche-Comté et la Bourgogne vont avec le francoprovençal, alors que la Lorraine va avec le nord et l ’ ouest de la France. Cette évolution dessine donc encore en quelque sorte le contour extrême de l ’ ancien espace francoprovençal tel qu ’ il a pu se présenter au moment de la fragmentation de la Galloromania, avant qu ’ il soit refoulé au nord jusqu ’ à la limite actuelle. (6) Le comtois d ’ oïl partage avec les parlers francoprovençaux voisins la palatalisation des groupes consonantiques kl-, gl - , fl-, plet blen position initiale de mot, ainsi que de 15 Les formes dialectales en italique sont celles de Vatré (1947) qui a créé une sorte de graphie de référence pour les parlers jurassiens. Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 85 <?page no="122"?> scl - . Comme en italien où le -lse palatalise en / j/ (cf. lat. CLAMARE > it. chiamare, etc.), ces groupes se palatalisent en franc-comtois et en francoprovençal, avec des résultats dialectaux très variés. Dans le cadre de cette évolution, pl-/ bldeviennent [pj] et [bj]: piait ‘ plat ’ , piaijaint ‘ plaisant ’ , piaîntche ‘ planche ’ , bianc ou biainc ‘ blanc ’ , biè ‘ blé ’ , bieu ‘ bleu ’ , etc. Ce phénomène manque en lorrain. Malgré les parallélismes entre l ’ italien, le comtois et le francoprovençal, l ’ évolution a dû se produire de manière indépendante et à différents moments au nord et au sud des Alpes. Elle est très ancienne en Italie centrale et méridionale; en comtois, elle ne se manifeste dans les textes dialectaux de Besançon qu ’ entre 1682 et 1750 (Dondaine 1972: 97). (7) L ’ est comtois, avec tout le Jura suisse, maintient la prononciation [t ʃ ] et [d ʒ ], comme en ancien français du XII e siècle (! ), dans les nombreux mots qui commencent par kou glatins devant a- (ou par [dj] comme dans lat. DIURNU > jour): CARRU ‘ char ’ > tchie, tchèe ou tchiè, CATTU ‘ chat ’ > tchait, * CASSANU ‘ chêne ’ > tchêne, CAMPU ‘ champ ’ > tchaimp. Le cabri (< latin tardif CABR Ī TUS ) se dit tchevri; fraîche se dit frâtche. Pour la consonne sonore correspondante [d ʒ ], cf, djâne ‘ jaune ’ (< lat. GALBINU ) et djoué/ djo ‘ jour ’ . La zone de [t ʃ ]/ [d ʒ ] se prolongeait dans les parlers francoprovençaux des Montagnes neuchâteloises, du Val-de-Ruz, de la Montagne de Diesse et de l ’ est du Littoral neuchâtelois, alors que le résultat majoritaire de ket de glatins devant aest [ts] et [dz] ([ts-, dz ˈ o ː n ɔ , dz ˈ o ː na], etc.) en francoprovençal de la Suisse romande (mais [ θ ] et [ð] à Genève, cf. § 2.1.6). L ’ est comtois et la partie orientale du canton de Neuchâtel - deux des régions linguistiques les plus périphériques de l ’ est galloroman - présentent (et présentaient) donc un phénomène de maintien commun. 3.1.3 Le chassé-croisé entre [ ɛ ] et [a] dans l ’ espace comtois (8) Un des phénomènes les plus déconcertants du phonétisme jurassien, en comparaison avec le français commun, c ’ est l ’ inversion entre les voyelles [ ɛ ] et [a] dans de nombreux contextes. En comtois, en bourguignon (Côte-d ’ Or) et en lorrain, à l ’ exception de quelques ilots, le A latin en syllabe fermée, resté intact en français, se palatalise en [ ɛ ] devant les consonnes dentales [t, d, s] et les affriquées [t ʃ , d ʒ , ts]. On y trouve donc [ ʃɛ ] ou [ ʃɛ t] ([t ʃɛ t] ‘ chat ’ dans le Jura, tchait chez Vatré; < bas latin CATTU -), [v ɛʃ ] ou [v ɛ t ʃ ] ‘ vache ’ (< lat. VACCA ), [fr ɔˈ m ɛʒ ] ou [fr ɔˈ m ɛ d ʒ ] (fromèdje), etc. ‘ fromage ’ (< bas latin FORMAT ( I ) CU ), etc. De même, le A latin en syllabe fermée suivi de nasale + consonne, parfaitement stable en français ( CAMPU > champ, INFANTE > enfant, etc.), devient [ ɛ ̃ ] dans le Jura suisse et le territoire de Belfort: tchaimp, afaint, tchaimbe ‘ jambe ’ , laimpe ‘ lampe ’ . En revanche, le [ ɛ ] français issu d ’ un Ĭ / Ē latin en syllabe fermée s ’ ouvre régulièrement en [a] dans le Jura suisse et les régions immédiatement voisines. Par conséquent, messe se dit mâsse, et prêter devient prâtaie, etc. Ce phénomène très fréquent concerne l ’ ensemble des diminutifs qui se terminent en et (masculin), ette (féminin) en français, mais aboutissent à at/ atte dans le Jura suisse, le territoire de Belfort et une petite région de la Haute-Saône: baîjat ‘ petit baiser ’ , boûébat ‘ petit garçon ’ ; baichatte ‘ jeune fille ’ (cf. l ’ ancien français basselette), miatte ‘ miette ’ , violatte ‘ violette ’ , etc. 86 Andres Kristol <?page no="123"?> 3.2 Phénomènes caractéristiques du lexique jurassien 3.2.1 Certains mots du lexique jurassien illustrent l ’ ancienne parenté entre le bourguignon, le comtois et le francoprovençal. Leur latinité spécifique les distingue du reste du domaine d ’ oïl; elle doit remonter aux débuts même de la fragmentation de la Galloromania. Le type à la soute, à la chotte ‘ à l ’ abri ’ (< lat. SUBSTARE ‘ se tenir dessous ’ ) a rayonné depuis l ’ Italie du Nord, à une époque très ancienne, et a encore atteint le nord de l ’ ancien protofrancoprovençal. Son aire comprend l ’ Italie du Nord (Piémont, Ligurie, Lombardie; cf. it. la sosta); de là, il se prolonge aussi vers les Grisons à l ’ est et à l ’ ouest vers l ’ occitan sur la rive gauche du Rhône. Le mot est bien implanté dans l ’ ensemble de l ’ espace francoprovençal et - avec la forme [asot, ɛ sut], etc. - en Bourgogne, en Franche-Comté et donc dans le Jura. Une implantation régionale comparable se trouve pour épelue [eply] s. f. ‘ étincelle ’ et ses variantes dialectales, communs à toute la Suisse romande, la Haute-Savoie, la Bourgogne (Côte-d ’ Or, Saône-et-Loire) et la quasi-totalité de la Franche-Comté jusqu ’ au pied des Vosges, mais sans pénétrer en lorrain. 3.2.2 Le Jura suisse est assez souvent une zone de refuge pour des types lexicaux très anciens, parfois attestés aussi en ancien français, mais qui ont disparu à l ’ époque moderne, en français ordinaire et dans les autres parlers galloromans. npa npa framboise èmr anbr Carte n° 3: Les dénominations de la framboise (Casanova/ Voillat 1985: 116) Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 87 <?page no="124"?> Pour la dénomination de la framboise (carte n° 3), le Jura constitue une zone de rencontre de trois formes remontant à une même base prélatine, présente dans les dialectes galloromans à l ’ est de la Meuse (Ardennes, Vosges, Jura), en francoprovençal, en occitan oriental jusque dans les Alpes-Maritimes, dans toute l ’ Italie du Nord jusqu ’ à la Méditerranée ainsi que dans les Grisons: c ’ est une forme *amb - , *amp ou *am - , qui se combine avec différents suffixes (cf. FEW 21: 93s.). Dans le Jura sud, la Montagne de Diesse présente le type francoprovençal caractéristique npo ̯ ua (GPSR 1: 446): c ’ est la base *amp avec un suffixe atone - [ua] d ’ origine inconnue. La forme du Jura central èmé ̩ r (GPSR 6: 284), qui était celle du Vallon de Saint-Imier, d ’ une partie des Franches-Montagnes et de la Vallée de Delémont (-mér à Moutier), représente la base *am- (sans le -p-), mais avec un suffixe en rd ’ origine également obscure. La forme septentrionale anbr (GPSR 1: 382), présente en Ajoie et dans une partie des Franches-Montagnes, constitue l ’ extrémité méridionale d ’ une aire qui se prolonge à travers l ’ est de la Franche-Comté et en direction du nord ouest jusque dans l ’ Aisne et les Ardennes. Les trois formes présentes dans le Jura conservent (ou conservaient) ainsi un extraordinaire témoin préhistorique - sur le point de disparaitre avec les derniers locuteurs patoisants - , alors que le français et les autres parlers d ’ oïl, avec framboise, ont adopté un emprunt très ancien au germanique. mouchette abeille (av lyə) mouche à miel mouche bénie mouchette ècht asèt Carte n° 4: Les noms dialectaux de l ’ abeille (Casanova/ Voillat 1985: 115) 88 Andres Kristol <?page no="125"?> L ’ insularité du Jura ressort bien des dénominations de l ’ abeille (carte n° 4). Les formes spécifiquement jurassiennes comprennent l ’ ensemble du Jura historique, de l ’ Ajoie jusqu ’ au district de La Neuveville: asèt en francoprovençal du Jura sud (district de La Neuveville), èchat (aîchatte selon Vatré) dans le Jura nord. Le centre de la Suisse romande (Fribourg, Broye vaudoise et Pays-d ’ Enhaut) possède un type ā ‘ abeille ’ qui correspond à l ’ évolution phonétique locale du latin classique Ă PIS , Ă PEM ‘ abeille ’ . C ’ est une des rares régions du galloroman où la forme latine a survécu telle quelle. Quant au jurassien asèt/ èchat, c ’ est un diminutif de ā avec le suffixe ette, sur la base de l ’ ancien pluriel ā s ‘ abeilles ’ . Dans le nord du Jura, cette forme subit l ’ inversion caractéristique entre [a] et [ ɛ ] ([as ɛ t] > èch-atte [ ɛʃ at]) (cf. §3.1.3). Quant aux autres formes sur cette carte, avlyə remonte à Ă P Ĭ C Ŭ LA ‘ petite abeille ’ , diminutif latin de APIS . Mouche à miel, mouche bénie et mouchette sont des créations qui, dans la majorité des parlers d ’ oïl, ont remplacé l ’ ancien français ef (pluriel es), également issu d ’ APIS . Les formes du Valais central ([m ɔ s ˈɛ t ə , m ɔ ts ˈɛ t ə ], etc.) qui représentent elles aussi le type mouchette semblent être une création indépendante. Le français commun moderne a emprunté à l ’ occitan la forme abeille qui remonte à Ă P Ĭ C Ŭ LA , comme la forme francoprovençale. Souvent, l ’ est comtois et le Jura suisse montrent ainsi une tendance très nette à conserver des types lexicaux disparus ailleurs au cours de l ’ histoire du français. La région s ’ est trouvée longtemps à l ’ écart des innovations linguistiques provenant de l ’ ouest: les anciennes frontières politiques caractérisant l ’ est comtois - avec la principauté protestante de Montbéliard qui n ’ a été rattachée à la France qu ’ en 1793, le territoire de Belfort qui appartenait politiquement à l ’ Alsace, et la principauté indépendante des évêques de Bâle - ont contribué à protéger ces particularités. 3.2.3 Une troisième spécificité jurassienne, ce sont les emprunts relativement nombreux aux parlers alémaniques voisins. Étant donné les contacts séculaires et intenses qui ont relié le Jura et la Franche-Comté orientale à l ’ Alsace - où l ’ évêque de Bâle était seigneur spirituel jusqu ’ à la Révolution française - ainsi que les régions de Bâle-Campagne, de Laufon jusqu ’ aux portes de Bâle, qui faisaient partie du même État, les dialectes jurassiens véhiculent différentes couches d ’ emprunts à l ’ alémanique. Seul le rattachement temporaire du Jura au canton de Berne, à partir de 1815, ne semble pas avoir laissé de traces linguistiques notables. L ’ emprunt gasse ‘ petite rue étroite non pavée, passage pour piétons entre deux maisons ’ (ALFC carte 238, Tappolet 1916: 51) est sans doute d ’ origine alsacienne; il est présent dans le Jura nord, à Montbéliard et à Belfort. Sa première attestation connue se trouve dans un document ajoulot rédigé vers 1599. Plusieurs emprunts jurassiens à l ’ alsacien sont employés avec un sens différent de celui de la langue d ’ origine. Ainsi, le verbe ritaie [rit ɛ ] ‘ courir ’ est attesté dans le Jura nord, le pays de Montbéliard et le territoire de Belfort (ALFC n° 1407, FEW 16: 693). Le passage de l ’ alsacien [ ˈʁ i ː t ə ]) ‘ aller à cheval ’ à ‘ courir ’ a dû se produire en comtois; [ ˈʁ i ː t ə ] ‘ courir ’ est inconnu en alsacien (et dans les autres dialectes alémaniques). L ’ évolution sémantique pourrait s ’ expliquer par une comparaison entre les piétons qui vont plus lentement que ceux qui vont à cheval (Tappolet 1916: 130). Ce qui parle en faveur d ’ un emprunt Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 89 <?page no="126"?> relativement ancien, c ’ est que le mot est devenu productif dans les parlers jurassiens, avec des dérivés tels que le substantif masculin lo ritou ‘ celui qui court bien ’ , et ‘ coureur de filles ’ , et le verbe s ’ enritaie ‘ s ’ enfuir ’ 16 . 4 Une tradition écrite modeste: documents littéraires en francoprovençal et en franc-comtois La production littéraire dialectale en Suisse romande est sporadique et actuellement quasi inexistante. En dehors du Ranz des vaches gruérien, mis en scène dans toutes les fêtes des vignerons à Vevey depuis 1819, et de la Chanson de l ’ Escalade, l ’ hymne «national» de la République et Canton de Genève, qui fête la victoire genevoise contre les Savoyards en décembre 1602 (Cé qu ’ é lainô ‘ Celui qui est là-haut ’ ), mais dont les paroles ne sont plus comprises, elle est aussi pratiquement oubliée. Les premiers textes sont du XVI e siècle, dans le Pays de Vaud et à Genève. En Valais, où le dialecte est resté vivant jusqu ’ au XXI e siècle, le premier texte conservé - qu ’ il est difficile de considérer comme «littéraire» - ne date que de 1785. Les genres sont variés, avec une préférence pour la chanson et les poèmes. Certains textes sont ludiques (Farces composées par le notaire Anselme Cucuat pour les festivités d ’ une abbaye 17 , Vevey, vers 1520; Conto dau craizu ‘ Conte de la lampe à huile ’ , poème humoristique anonyme, Lausanne, fin XVIII e siècle). En règle générale, les textes utilisent une langue riche et recherchée. À Genève, les textes sont surtout politiques ou identitaires: Chanson de la complanta (contre le clergé catholique, début du XVI e siècle), Placard de Jacques Gruet en patois genevois contre les ministres protestants (1547), qui a couté la vie à son auteur, Chansons sur l ’ Escalade (XVII e - XVIII e siècles), Conspiration de Compesières (1695), Couplets sur la médiation (1766). Au XVIII e siècle, Genève développe une véritable tradition d ’ écrits politiques dialectaux en prose: Lettre d ’ un batellier (1767), Lettre d ’ un Citoyen du Mandement (1776), Dialogues sur l ’ Assemblée nationale (Charles Pictet de Rochemont, 1791). À Neuchâtel, les premiers écrits présentent le problème de la succession à la tête de la principauté en 1707 (Harangue patoise de David Boyve et Reima dei chou du corti ‘ Poème des choux du jardin ’ dans lequel on compare les personnalités en lice à des légumes). Des chansons satiriques commentent les évènements de la seconde moitié du XVIII e siècle; au XIX e siècle, l ’ inspiration est plutôt folklorique ou nostalgique. Dans le Jura, le texte principal, les Paniers (1735/ 1736), poème satirique de Ferdinand Raspieler, est l ’ adaptation d ’ un poème anonyme bisontin. Le XIX e siècle voit une riche production de chansons patriotiques et folkloriques; la plus célèbre est sans doute la Chanson des Pétignats, écrite en français en 1833 et traduite en patois en 1854. À Fribourg, le notaire Jean-Pierre Python traduit en gruérien les Bucoliques de Virgile (1788); c ’ est la principale tentative littéraire d ’ «illustrer» la langue vernaculaire en Suisse romande. Au XIX e et au début du XX e siècle, une série d ’ auteurs (dont Louis Bornet et Cyprien Ruffieux) ont un certain succès auprès du public local, seul à même de comprendre la langue. 16 Pour d ’ autres exemples, voir Kristol ( 2 2024: 509 - 518). 17 Confrérie ou société de jeunesse (GPSR 1: 36 - 41). 90 Andres Kristol <?page no="127"?> 5 Aspects sociolinguistiques: la lente éviction des parlers romands par le français Le français écrit, dans sa forme régionale de l ’ est bourguignon et franc-comtois, commence à pénétrer en Suisse romande vers le milieu du XIII e siècle. Pour des raisons utilitaires, il commence à être enseigné aux enfants des bourgeoisies locales dans les petites villes de Suisse romande vers la fin du Moyen Âge, bien avant la Réforme protestante. La pratique du français comme langue écrite dans la population scolarisée, encore très minoritaire, ne menace cependant pas encore l ’ emploi absolument dominant du francoprovençal (et du comtois, dans le Jura) comme langue parlée de tous les jours. Ainsi, pendant plusieurs siècles, la Suisse romande est diglossique (vernaculaires francoprovençaux et comtois parlés/ français écrit), voire triglossique (avec le latin) dans les régions de tradition catholique. Cette situation se maintient partout jusque vers la fin du XVIII e siècle, dans toutes les couches de la société, même si, dans les régions protestantes, la connaissance du français augmente grâce à une scolarisation rapidement améliorée de toute la population. Il n ’ est pas possible, comme cela a souvent été fait, d ’ attribuer le recul de la pratique dialectale à une quelconque influence de la Réforme dans les cantons protestants. Un premier affaiblissement du vernaculaire local se manifeste dans la deuxième moitié du XVII e siècle à Genève dans les milieux des Natifs, descendants des réfugiés huguenots nés en ville, bénéficiant d ’ un permis de séjour sans avoir réussi à obtenir la bourgeoisie genevoise, désormais majoritaires dans la population, mais sans aucun droit politique. Exclus de la vie politique active, ils semblent avoir commencé à préférer le français, alors que le parler local restait la langue identitaire parfaitement vivante parmi les «vrais» Genevois, comme cela se manifeste dans certains écrits politiques rédigés en patois 18 dans la deuxième moitié du siècle, jusqu ’ à la Révolution genevoise de 1791. Le véritable recul de la pratique dialectale se produit à partir des années 1815, plus rapidement dans les villes et dans les régions industrialisées que dans les régions agricoles. Cette évolution est due à un ensemble de plusieurs facteurs concomitants, en partie autochtones, en partie d ’ importation française (l ’ idéologie de l ’ unilinguisme français qui se propage à partir de la Révolution et qui rejetait les patois et les langues régionales comme emblèmes de l ’ Ancien Régime, l ’ idée absurde aussi que la connaissance d ’ une autre langue - ou d ’ un patois - était nuisible à la maitrise du français). Parmi les facteurs autochtones, on mentionnera en particulier le principe du libre établissement de tous les Suisses dans l ’ ensemble de la Confédération en 1815, qui provoque un double mouvement de la population. L ’ industrialisation rapide et massive de l ’ Arc jurassien y attire une population croissante, originaire de toutes les régions du pays. Le mélange de populations provoque l ’ abandon rapide des parlers romands parmi les migrants internes d ’ origine romande, le français servant de «lingua franca». Le français, langue écrite bien connue grâce à une scolarisation désormais générale, devient langue parlée commune. Mais le français est également utilisé pour assimiler les nombreux migrants d ’ origine alémanique et surtout leurs descendants, par le moyen de l ’ école. Ainsi, concrètement, le patois traditionnel du Vallon de Saint-Imier, encore attesté comme parfaitement vivant dans les 18 En français régional de la Suisse romande, patois n ’ a pas toutes les connotations négatives qu ’ il a en français de France. Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 91 <?page no="128"?> premières années du XIX e siècle, est complètement éteint à la fin du siècle. Entre 1818 et 1900, la population de Bienne passe de 2987 habitants à 25 ’ 180; dès 1860, Bienne est considérée comme bilingue. Pendant la même période, la population du Jura francophone, qui était de 57 ’ 591 habitants en 1818, double presque: en 1900, on y compte 111 ’ 741 habitants. En 1966, selon l ’ Atlas de la Suisse, les parlers traditionnels sont complètement éteints dans le Jura sud et dans les cantons de Neuchâtel et de Genève. Ils résistent péniblement dans certaines régions agricoles du canton de Vaud (Jorat, Gros-de-Vaud, locuteurs généralement âgés de plus de 70 ans). Ils se maintiennent encore relativement bien dans les régions agricoles des cantons de tradition catholique, beaucoup moins touchées par les mouvements de population mentionnés, mais presque partout, la transmission linguistique aux jeunes générations avait cessé dans les années précédant la deuxième guerre mondiale. À l ’ heure actuelle, les derniers locuteurs et locutrices sont généralement âgés de plus de 70 ans. Même à Évolène, dernier village valaisan (et romand) réputé pour sa transmission pratiquement intacte du parler traditionnel, la rupture est imminente (ou désormais consommée): jusque dans les années 1970, la quasi-totalité des enfants de la commune apprenait le patois comme première langue en famille. En 1995, un tiers environ des enfants d ’ âge scolaire le parlait encore à la maison, surtout dans les familles où les deux parents étaient originaires du village, et 48.5 % de la population résidente le parlait régulièrement (Maître/ Matthey 2003, 2004). Quelques vingt-cinq ans plus tard et aux dernières nouvelles, la chaine de transmission semble cependant bien compromise. À l ’ heure actuelle, l ’ Office fédéral de la culture fait quelques efforts pour le maintien des derniers patois romands comme vecteurs de certaines traditions, dans le cadre de la Convention de l ’ UNESCO pour la sauvegarde du patrimoine culturel immatériel de l ’ humanité, mais cette convention ne protège que les traditions elles-mêmes, pas les langues. Seul le canton du Jura a inscrit «la conservation, l ’ enrichissement et la mise en valeur du patrimoine jurassien, notamment du patois» dans sa constitution de 1977 (article 42.2). Dans les trois régions romandes qui possèdent encore une certaine tradition dialectale vivante, les fédérations correspondantes se sont dotées de sites internet, avec de nombreux liens vers des outils didactiques (dictionnaires, documents sonores, etc.) 19 . Valais: https: / / www.patois.ch/ . Fribourg: https: / / patoisants.ch/ . Jura: https: / / www.imagejura.ch/ djasans/ 20 . Bibliographie ALAVAL = Diémoz, Federica / Kristol, Andres (éd.) (2019). 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Les traditions dialectales de la Suisse romande: francoprovençal et franc-comtois 95 <?page no="132"?> Français Mathieu Avanzi, Université de Neuchâtel 1 Introduction 1.1 Géographie Avec l ’ allemand et l ’ italien, le français est l ’ une des trois langues officielles de la Confédération. 1 D ’ après les dernières estimations de l ’ Office Fédéral de la Statistique (OFS 2021), 22.8 % des habitants de la Confédération (soit un peu moins de 2 millions de personnes) auraient le français comme langue principale. En vertu du principe de territorialité, 2 le français est langue officielle ou co-officielle dans les cantons les plus à l ’ ouest de la Confédération, à l ’ intérieur d ’ un espace qu ’ on a coutume d ’ appeler Suisse romande ou Romandie, et qui correspond à l ’ ensemble des subdivisions administratives où il est majoritairement pratiqué. Cela concerne : la totalité des communes des cantons de Genève, de Neuchâtel et de Vaud ; la quasi-totalité du canton du Jura ; 3 dans le canton de Berne, le district du Jura bernois (à l ’ exception de deux micro-communes situées sur la frontière avec le canton de Soleure, Schelten/ La Scheulte et Seehof/ Élay) et la ville bilingue de Biel/ Bienne (avec 43.1 % de francophones) ; les huit districts du Valais central et du Bas- Valais ainsi que l ’ ensemble des districts du canton de Fribourg (à l ’ exclusion des communes du district de Singine). 4 A l ’ échelle du vieux continent, la Suisse romande est la plus petite des trois principales régions francophones d ’ Europe, après la France et la Belgique. Mais même si le français est minoritaire sur le plan national en Suisse, il n ’ est nullement menacé par l ’ allemand, car massivement majoritaire, et non contesté dans son territoire traditionnel (en plus d ’ être institutionnellement protégé, v. note 2). En dehors de la Suisse romande, les francophones sont clairement peu nombreux : dans les cantons et les districts où cette langue n ’ est pas officielle ou co-officielle, le pourcentage des habitants francophones dépasse rarement les 5 %, et n ’ atteint en moyenne que 2.2 %. Compte tenu de son statut de seconde langue 1 V. Art. 70, § 1 de la Constitution fédérale de 1999, état le 1 er janvier 2021 : « Les langues officielles de la Confédération sont l ’ allemand, le français et l ’ italien. Le romanche est aussi langue officielle pour les rapports que la Confédération entretient avec les personnes de langue romanche ». 2 Principe qui stipule que chaque région linguistique du pays est associée à une langue officielle spécifique, et que l ’ usage de cette langue est privilégié dans les affaires publiques, l ’ éducation, l ’ administration et la communication officielle dans cette région (v. Art. 70, § 2 de la Constitution fédérale de 1999, état le 1 er janvier 2021). 3 Ederswiler est l ’ unique commune germanophone du canton du Jura, avec plus de 80 % de germanophones. Les modalités des votations, lors de la création du canton en 1978, ne lui ont pas permis de rejoindre le canton de Bâle Campagne avec lequel il n ’ a pas de frontière commune. 4 Le district du Lac/ Seebezirk est bilingue, avec l ’ allemand ou le français qui domine selon les communes. Une mention particulière pour la ville de Fribourg (district de la Sarine), officiellement bilingue comme Bienne, avec une minorité germanophone d ’ environ 20 %. <?page no="133"?> nationale, le français y demeure toutefois une langue de culture. Il y est enseigné tout au long de la scolarité obligatoire, dès l ’ école primaire ou secondaire (il existe même des lycées français à Berne, Zurich ou encore Bâle). Si l ’ on y regarde de plus près, le tableau doit toutefois être nuancé. Dans les Grisons, la première langue étrangère est l ’ allemand, l'italien ou le romanche (cela dépend de la zone linguistique, ► Rätoromanisch). Depuis le début des années 2000, les cantons de Suisse centrale, septentrionale ou orientale accordent la priorité à l ’ anglais, ce qui soulève en Suisse romande un problème de cohésion nationale. Le français demeure toutefois la première langue étrangère dans le reste des cantons alémaniques, et au Tessin (pour le débat sur le français et l ’ anglais dans l ’ enseignement, voir ► Sprachbeziehungen und nationale, überregionale Institutionen). Hors contexte scolaire, les derniers sondages du OFS (2021) indiquaient que parmi les personnes âgées de 25 ans ou plus qui apprennent une langue, le français se place en seconde position, exaequo avec l ’ allemand (tous deux à 15 %), mais loin derrière l ’ anglais (34 %). En dehors des territoires francophones, le français reste assez présent dans le domaine de la culture et du commerce, notamment en raison de l ’ affichage bilingue dans les gares ou sur les produits de supermarché. Par ailleurs, le français reste une langue de choix à laquelle les locuteurs germanophones aiment emprunter, à témoins l ’ existence des nombreux gallicismes qui colorent l ’ allemand que l ’ on parle en Suisse ( ► Deutsch). Enfin, dans le milieu du travail, le français garde encore souvent, devant l ’ anglais, le rôle d ’ une lingua franca : quand un Romand rencontre un Alémanique, c ’ est souvent en français qu ’ ils communiquent, les Alémaniques (comme les Tessinois) jouissant en général d ’ une maîtrise plus appuyée du français que les Romands de l ’ allemand ou de l ’ italien. Enfin, on rappellera que la neutralité suisse a permis au pays de devenir un centre international, notamment pour des organisations comme la Croix-Rouge et, plus tard, les Nations Unies à Genève. La présence de nombreuses autres organisations internationales à Genève et dans d ’ autres villes francophones de Suisse renforce l ’ usage et l ’ importance du français au niveau national, même si ces dernières années, l ’ anglais tende à s ’ imposer de plus en plus ( ► Englisch). 1.2 Histoire En Suisse, l ’ histoire du français est indissociable de celle des patois ou des dialectes dits galloromans, systèmes linguistiques qui constituent les formes évoluées du latin importé lors de la colonisation de l ’ actuelle francophonie d ’ Europe par les Romains ( ► Francoprovençal). Elle commence à peu près en même temps que dans la partie septentrionale de la France, avec l ’ abandon progressif du latin dans les textes écrits au profit des scriptae d ’ oïl propres aux différentes provinces septentrionales du Royaume de France (variétés de langue qu ’ on a coutume de regrouper sous l ’ étiquette d ’ ancien français). Au XVII e siècle, l ’ influence française augmente sur les terres les plus à l ’ ouest de l ’ actuelle Suisse, en particulier avec l ’ établissement de la République de Genève en tant que centre culturel et intellectuel francophone. Au XVIII e siècle, le français devient la langue de la diplomatie et des élites dans de nombreuses régions de Suisse, en raison de l ’ influence de la culture française et de l ’ adoption du français comme langue de cour dans de nombreux pays européens. A partir de la fin du XIX e siècle, l ’ instauration de l ’ école obligatoire, l ’ urbanisation galopante, les deux guerres mondiales puis l ’ apparition des médias de masse ont permis au français académique de s ’ imposer définitivement comme la première langue maternelle de la plupart des locuteurs de Suisse romande. Français 97 <?page no="134"?> Soulignons qu ’ au fil des siècles, la diffusion de la variété de français qui deviendra langue officielle de la France (aux dépens des parlers galloromans présents sur le territoire) ne s ’ est pas faite de façon uniforme : les locuteurs des cantons catholiques ont notamment conservé leurs patois plus longtemps que les locuteurs des cantons protestants. 5 Depuis la généralisation de l ’ enseignement primaire dans la deuxième moitié du XIX e siècle, il n ’ existe plus de locuteur unilingue. Et mis à part quelques cas isolés dans la commune d ’ Evolène (VS), plus aucun Romand n ’ apprend aujourd ’ hui le patois avant d ’ apprendre le français. Sur l ’ histoire du français et notamment la concurrence avec les dialectes galloromans en Suisse, l ’ évolution de la frontière entre la Suisse romande et la Suisse allemande, v. Knecht 1989 ; Chambon et Greub 2009 ; Aquino-Weber et al. 2019 ; Siouffi 2020 ; Kristol 2023 ; ► Francoprovençal. 2 Description interne 2.1 Français de référence et français régional Traditionnellement, on a coutume de décrire le français pratiqué en Suisse en se concentrant sur les différences qui le caractérisent par rapport au français de référence, variété par rapport à laquelle les locuteurs francophones d ’ Europe évaluent la légitimité linguistique de leurs productions ou de celles de leurs contemporains (Francard et al. 2010). Défini négativement comme la somme des utilisations du français enregistrées sans marques diatopiques dans les dictionnaires les plus vendus (des maisons d ’ édition telles que Larousse et Robert) et les grammaires en Europe, le français de référence est parfois aussi envisagé comme la variété présentée dans les manuels de français langue étrangère. D ’ un point de vue géographique cependant, le français de référence est souvent associé à la ville de Paris et à l ’ Île-de-France, que ce soit dans les représentations des sujets parlants ou sous la plume des chercheurs visant à définir les normes nationales de prononciation ou à enregistrer les mots et expressions qui n ’ appartiennent pas au français « général ». 6 2.2 D ’ où viennent les régionalismes ? Comme d ’ autres régions de la francophonie, le français que l ’ on parle en Suisse comporte un certain nombre de particularités linguistiques qui lui sont propres, et qui s ’ expliquent par l ’ histoire propre de cette région, et son caractère périphérique. On peut les regrouper 5 Comme le rappelle Kristol (2023, v. aussi ► Francoprovençal), le facteur décisif n ’ est pas confessionnel, mais économique. Les régions catholiques sont restées beaucoup plus longtemps rurales (mais dans les campagnes du canton de Vaud, les dialectes sont également restés vivaces jusqu'au XXe siècle). Sinon, les régions protestantes se sont massivement industrialisées (et par conséquent ont connu des mouvements de populations très importants) dès le début du XIXe siècle. 6 Les raisons en sont que la grande région parisienne joue, au niveau de la France, le rôle d ’ un « centre » (au sens que lui donne la sociologie, où il est défini en opposition au concept de « périphérie »). En France, les universités les plus prestigieuses se trouvent à Paris et dans ses environs ; c ’ est dans ces établissements que la plupart des hommes politiques nationaux étudient et apprennent à s ’ exprimer en public. De plus, tous les médias nationaux ont leur siège principal à Paris, d ’ où ils diffusent l ’ utilisation du français à travers des stations de radio, des chaînes de télévision et des journaux dans tout le pays. Paris abrite également l ’ Académie française, une institution créée au XVIIe siècle pour contrôler l ’ usage du français à travers son dictionnaire et sa grammaire. Bien que les membres actuels de l ’ Académie ne soient pas tous des linguistes, l ’ institution exerce toujours une certaine influence sur les politiques linguistiques françaises, et le français de référence. 98 Mathieu Avanzi <?page no="135"?> en quatre classes : les dialectalismes (§ 2.2.1), les emprunts aux autres langues nationales (§ 2.2.2), les phénomènes de maintien (§ 2.2.3) et les innovations (§ 2.2.4). 2.2.1 Dialectalismes Le français n ’ a pas toujours été la langue maternelle principale des Romands. Pendant des siècles, c ’ étaient les dialectes comtois (dans les régions que recouvrent grosso modo le Jura et le Jura bernois) et les dialectes francoprovençaux (dans les autres cantons) qui ont été parlés dans une situation de diglossie avec le français, comme le sont encore les variétés actuelles de suisse allemand avec l ’ allemand standard (variété qu ’ on appelle ‘ Hochdeutsch ’ , v. ► Deutsch). On en trouve des traces assez claires de ce substrat dans le français local actuel, surtout au niveau du vocabulaire lié aux domaines conceptuels relatifs à la vie rurale d ’ antan. Dans la série de ce qu ’ on appelle dialectalismes, signalons pêle-mêle : • Faune : cayon ( ‘ cochon ’ ), darbon ( ‘ taupe ’ ), modzon ( ‘ génisse ’ ), tasson ( ‘ blaireau ’ ) • Flore : cramiat ( ‘ pissenlits ’ ), pive ( ‘ cône du conifère ’ ), raisinet ( ‘ groseille à grappe ’ ) • Techniques agricoles : poya ( ‘ montée à l ’ alpage ’ ), pétole ( ‘ crottin de chèvre ’ ), mayen ( ‘ pâturage d ’ altitude moyenne ’ ) • Traditions folkloriques : bredzon ( ‘ veste à manches courtes bouffantes ’ ), dzaquillon ( ‘ costume féminin traditionnel fribourgeois ’ ), matze ( ‘ sculpture en bois ’ ) • Gastronomie : séré ( ‘ fromage blanc ’ ), cuchôle ( ‘ pain brioché fribourgeois ’ ), totché ( ‘ gâteau à la crème aigre ’ ), etc. Sur le plan géographique, les dialectalismes sont rarement communs à toute la Suisse romande, et souvent partagés avec les régions françaises voisines (Savoie, Franche- Comté). 2.2.2 Emprunts aux langues nationales En raison de la distance entre le Tessin et la Romandie d ’ une part, des Grisons et la Romandie d ’ autre part ; mais aussi du poids que les langues qui sont parlées dans ces régions ont au niveau national, les emprunts au romanche et à l ’ italien sont presque inexistants dans le français de Suisse. Tout au plus, on peut citer : ristrette ( ‘ café serré ’ , < it. ristretto, avec francisation de la finale) et dicastère ( ‘ division d ’ une administration communale dirigée par un membre de l'autorité exécutive ’ , < it. dicastèro). Compte tenu du fait que la majorité de la population est de langue maternelle allemande, compte tenu également du fait que les institutions fédérales se trouvent dans la capitale bernoise, à dominante germanophone, de nombreuses productions linguistiques françaises (textes de lois, de publicité, etc.) sont souvent des traductions de l ’ allemand. 7 Cette situation, dans laquelle les dialectes alémaniques jouent le rôle d ’ adstrats, a donné lieu à des emprunts du français à l ’ allemand ou ses dialectes, avec ou sans adaptation. Tous les domaines conceptuels du vocabulaire sont touchés, p. ex., de façon non-exhaustive : 7 Dans ce contexte, l ’ expression ‘ français fédéral ’ désigne le « français germanisé [ … ] des textes produits par l ’ administration centrale, ainsi que par les entreprises et agences de publicité dont le siège social est situé en Suisse alémanique », et par extension, le « français germanisé [ … ] pratiqué par les Suisses alémaniques » (DSR, s. v. ‘ français fédéral ’ ). Français 99 <?page no="136"?> • administration : Röstigraben ( ‘ frontière virtuelle qui sépare la Suisse romande de la Suisse alémanique ’ ), landammann ( ‘ président du gouvernement de certains cantons suisses alémaniques ’ ), etc. • gastronomie : knöpfli ( ‘ pâtes en forme de boulettes ’ ), spätzli ( ‘ pâtes en forme de lanières ’ ), zwieback ( ‘ sorte de biscotte ’ ), wienerli ( ‘ saucisse à chair rose ’ ), etc. • termes domestiques : poutser ( ‘ faire le ménage ’ , < all. putzen), papier-ménage ( ‘ essuietout ’ , probable calque de l ’ all. Haushaltspapier), foehn ( ‘ sèche-cheveux ’ ), etc. • argot scolaire : schinder ( ‘ tricher à un examen ’ , < all. schinden), être à la strasse ( ‘ être à la rue ’ ), schwentser ( ‘ sécher un cours ’ , < all. schwänzen), etc. On dénombre aussi quelques calques lexématiques et syntaxiques de l ’ allemand vers le français, à l ’ instar d ’ expressions comme peindre le diable sur la muraille ( ‘ alarmer exagérément dans le principal but d'effrayer ’ , < all. den Teufel an die Wand malen, litt. ‘ peindre le diable sur le mur ’ ), tenir/ serrer les pouces à quelqu ’ un ( ‘ souhaiter bonne chance à quelqu ’ un ’ , < all. jemandem/ für jemanden den/ die Daumen drücken/ halten) ou encore tirer ( ‘ infuser, en parlant du thé ’ , < all. den Tee ziehen lassen). 2.2.3 Phénomènes de maintien Au cours de l ’ histoire, la diffusion et l ’ expansion du français ne se sont pas produites en même temps, ni au même rythme. En fait, certaines innovations qui ont eu lieu en Île-de- France ne se sont pas nécessairement répercutées dans le reste des régions de l ’ Europe francophone. Par conséquent, un objet, un concept, une idée, une structure de phrase ou une prononciation auraient pu changer de nom dans un endroit, mais pas nécessairement dans un autre. On appelle phénomènes de maintien ces éléments linguistiques qui appartenaient au français à une certaine époque, mais qui, pour des raisons diverses, ont progressivement disparu du français de référence tout en survivant dans certaines régions du monde francophone en Europe. Un cas de figure assez célèbre concerne les triplets déjeuner/ dîner/ souper (formes utilisées en Suisse, mais aussi en Belgique ou Canada) et petit-déjeuner/ déjeuner/ dîner (formes reconnues comme appartenant au français de référence), où chacun des termes désigne les trois principaux repas de la journée (matin, midi et soir). A côté de ces éléments, on peut mentionner l ’ utilisation de l ’ adjectif brun pour qualifier la couleur que la plupart des Français appellent ‘ marron ’ , mais aussi le maintien du mot camisole pour désigner qu ’ on appelle plus communément un ‘ maillot de corps ’ . 2.2.4 Innovations Enfin, il existe des régionalismes qui ne sont ni empruntés aux dialectes galloromans ni aux autres langues parlées sur le territoire, ni les vestiges d ’ un état du français qui n ’ est plus celui qui fait office de système de référence internationalement. Ces régionalismes, que nous appellerons innovations, découlent de divers processus néologiques. Innovations sémantiques - La première sous-catégorie concerne des innovations qui affectent la sémantique d ’ un vocable, c ’ est-à-dire son sens. Ce scénario se produit lorsqu ’ un mot du français courant reçoit un sens particulier dans une région donnée, sens qu ’ il n ’ a pas ailleurs. 100 Mathieu Avanzi <?page no="137"?> Prenons l ’ exemple du mot cornet. Depuis les plus jeunes âges du français, le mot cornet désigne différents objets qui sont des cornes ou qui en ont la forme, comme un papier roulé en forme de cône. Il peut aussi désigner un contenant, notamment quand il s ’ agit de quelque chose qui se mange : un cornet de frites, un cornet de glace ou un cornet de pâtes. En Suisse (mais aussi dans l ’ est de la France), le mot cornet est employé en ce sens, mais aussi avec le sens de ‘ contenant formé d ’ une matière souple pliée, assemblée, et qui est ouvert seulement par le haut ’ , en d ’ autres termes pour désigner ce qu ’ on appelle ailleurs un sac ou un sachet. Il n ’ est pas difficile d ’ imaginer comment a pu se faire ce glissement sémantique. Dans certains commerces de détail, les produits vendus en vrac ou à la pièce étaient emballés dans des cornets. Par analogie de contenu et de matière, c ’ est le nom qu ’ on a dû donner aux premiers sacs en papier, apparus dans les années 1850, soit près d ’ un siècle avant les sacs en plastique, en 1965. Dans ces régions, le terme cornet s ’ est adapté pour désigner ces nouveaux contenants, et s ’ y est maintenu. Antonomases - Certaines innovations ne découlent pas de l ’ acquisition d ’ un nouveau sens à un nom commun existant, mais du recyclage de noms propres en noms communs. Par exemple, dans les cantons de l ’ Arc jurassien et à Fribourg, les locuteurs n ’ appellent pas le séchoir à linge étendoir (comme le préconisent les dictionnaires du français de référence), ils utilisent plutôt le mot stewi, qui constitue d ’ un point de vue étymologique le nom donné à la marque de structures métalliques pour sécher le linge, commercialisées par la compagnie STEiner WInterthur (fondée en 1947). Un autre exemple d ’ antonomase concerne la dénomination du correcteur liquide inventé pour corriger les erreurs d ’ écriture (initialement après avoir commis une faute de frappe sur une machine à écrire). En Suisse romande - comme dans les autres régions linguistiques de la Confédération d ’ ailleurs - le correcteur liquide a pris le nom de Tipp- Ex. Etymologiquement, il s ’ agit là aussi d ’ un nom de marque : c ’ est sous le nom de Tipp-Ex qu ’ une certaine compagnie allemande a commencé à commercialiser ce produit en Europe, ayant acquis la licence pour vendre le correcteur liquide créé aux Etats-Unis dès le début des années 1960. Là où le français de référence a proposé des équivalents pour éviter l ’ utilisation d ’ un nom de marque (blanc, blanco, blanc correcteur), le français de Suisse romande a conservé l ’ utilisation du nom propre, qui a fini par devenir un nom commun. Innovations formelles - Enfin, certains régionalismes émergent en même temps que l ’ objet, la personne ou la fonction qu ’ ils désignent, voire peu de temps après leur naissance. Les dénominations de ce que les Français appellent petite pelle ou pelle-à-balayures, et qui prend un peu partout en Suisse le nom de ramassoire, ou, dans les cantons de l ’ Arc jurassien, porte-cheni, pelle-à-cheni voire ordurière, constituent un cas d ’ étude éclairant. Les formes ramassoire et ordurière illustrent un premier type de création, la dérivation par affixation. Le premier est dérivé du verbe ramasser avec le suffixe -oire (qui sert à former des mots désignant un instrument, une machine ou un objet fonctionnel, voir arrosoir, balançoire, formés sur arroser et balancer) ; le second sur le substantif ordure avec le suffixe -ière (qui sert à former des noms de récipients à partir du nom du contenu). Quant aux variantes porte-cheni et pelle-à-cheni, elles constituent un second type de création, la composition. D ’ un point de vue morphologique, la dérivation et la composition sont les processus les plus productifs, mais notons qu ’ ils sont loin d ’ épuiser l ’ ensemble des possibles : on Français 101 <?page no="138"?> pourrait ajouter à la liste la siglaison (la PP, désigne la Place Pury à Neuchâtel), l ’ univerbation (bord du lac > bordulac) ou encore l ’ apocope (bordulac > bordu ou bordul). Sur le français de référence et la notion de régionalisme, v. Rézeau 2000. Pour un classement des régionalismes, ainsi que d ’ autres listes exemples, v. Voillat 1971 ; Manno 1997 ; Andreassen et al. 2010 ; Thibault 2017 ainsi que Avanzi 2019 et Rumpf 2024. Sur la question des régionalismes dans l ’ enseignement, v. De Pietro 2002. 3 Caractéristiques formelles du français romand actuel 3.1 Le vocabulaire Il n ’ est pas possible de donner ici un aperçu complet de l ’ histoire et de la géographie des régionalismes du français parlé en Romandie. Nous nous concentrerons sur trois éléments, choisis car ils illustrent les trois cas spécifiques distincts décrits ci-dessus (§ 2.2). Le premier vise à discuter de la notion de dialectalisme, en comparant deux cartes (fig. 1 et fig. 2) : l ’ une réalisée à partir de données récoltées à la fin du XIX e siècle, lorsque la population romande parlait l ’ un ou l ’ autre dialecte galloroman encore relativement couramment, l ’ autre à partir de matériaux recueillis au XXI e siècle, dans le cadre du projet Français de nos Régions (voir Enquête régionalismes 2016). L ’ objectif est de montrer qu ’ il n ’ y a pas de correspondance directe entre les deux systèmes, et que les mouvements de régression et d ’ expansion se produisent en même temps (§ 3.1.1). Le deuxième exemple donne une illustration du destin d ’ un phénomène de maintien, et de la complexité d ’ une situation qui s ’ installe lorsqu ’ entre en jeu une innovation par-dessus (§ 3.1.2). Le troisième exemple illustre enfin la dynamique des régionalismes du français parlé en Suisse romande, et montre les disparités générationnelles et géographiques qui caractérisent la vitalité des différentes dénominations d ’ un même objet (§ 3.1.3). 3.1.1 Dénominations du cardinal ‘ 80 ’ En Suisse romande, deux systèmes différents pour articuler l ’ adjectif cardinal 80 coexistent : le système décimal (sur une base dix) est celui auquel se rattache la forme huitante (ainsi que la forme octante) ; le système vigésimal (sur une base vingt), explique l ’ existence de la forme quatre-vingts. Comme on peut le voir sur la fig. 1, qui rend compte du pourcentage d ’ utilisation déclarée de la forme huitante, huitante qui est majoritaire dans les cantons de Vaud et de Fribourg, alors que le mot coexiste dans une certaine mesure en Valais avec quatre-vingts. Les faibles pourcentages d ’ utilisation de huitante récoltés dans les cantons de Genève et des cantons de l ’ Arc jurassien indiquent que dans ces régions, les sujets parlants préfèrent quatre-vingts : 102 Mathieu Avanzi <?page no="139"?> Fig. 1 : Vitalité de huitante en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) Dans les dialectes galloromans pratiqués à la fin du XIX e siècle (fig. 2), on retrouve l ’ utilisation des correspondants de huitante et de quatre-vingts en Valais, une majorité de huitante dans les cantons de Vaud et de Fribourg, ainsi qu ’ une majorité de quatre-vingts dans l ’ actuel canton du Jura (malgré quelques attestations d ’ octante). A Genève, les deux formes ont été relevées dans chacun des points d ’ enquête. Dans le canton de Berne, on constate l ’ existence de types octante et de huictante, dans le canton de Neuchâtel, une seule forme quatre-vingts (au point N30, qui représente le Cerneux-Péquinot) et plusieurs formes de type huictante ou huiptante. Français 103 <?page no="140"?> Fig. 2 : Dénominations du cardinal ‘ 80 ’ , source : Gauchat et al. 1912 - La comparaison des deux cartes nous permet de montrer que le français régional n ’ est pas un calque direct des patois aujourd ’ hui disparus, et que chacun des deux systèmes dispose de sa dynamique propre. Il est clair que la situation que l ’ on observe dans le canton de Genève s ’ explique par l ’ influence que les usages de la France voisine ont sur le français local : quatre-vingts, forme prestigieuse utilisée en France, y a chassé huitante. Dans les cantons de Berne et de Neuchâtel, on peut encore conclure à une influence du français de référence sur le patois, le terme octante étant un emprunt savant au latin datant du XVII e siècle, et non une évolution étymologique attendue (comme le sont les types qui se rattachent à huitante). Cette influence se manifeste de deux façons : par le remplacement 104 Mathieu Avanzi <?page no="141"?> de formes autochtones (dans la région de Courtelary, la présence simultanée de huitante et d ’ octante peut laisser penser que le second a remplacé le premier) et par la modification d ’ une forme dialectale existante (la présence d ’ un [k] dans huictante s ’ explique par l ’ influence d ’ octante sur huitante). Si l ’ on revient à présent au français moderne, on pourrait dire que si huitante s ’ est maintenu dans les cantons de Fribourg et de Vaud, de même que quatre-vingts dans le Jura et les deux formes dans le Valais, c ’ est en raison du substrat. Pour le canton de Neuchâtel et les districts francophones de Berne en revanche, le substrat ne peut pas expliquer la situation actuelle. C ’ est la politique linguistique de ces cantons, par le biais de l ’ enseignement, qui a permis l ’ uniformatisation que l ’ on constate aujourd ’ hui. 3.1.2 Dénominations du ‘ clignotant ’ A partir des années 1920, quand les premiers dispositifs de changement de direction sur les autos sont installés, ils prennent la forme de flèches lumineuses, et reçoivent en Suisse romande le nom de signofile, avant que la variante clignoteur ne fasse son entrée dans le vocabulaire, comme le montre la répartition des deux termes au fil du temps dans la presse : Fig. 3 : Distribution (en pourcentages relatifs) des formes clignoteur vs. signofile dans la presse romande de 1920 à 2009, source : E-News. Français 105 <?page no="142"?> De récents sondages laissent penser que dans les usages des Romands, des préférences cantonales se sont installées. Comme le montre la fig. 4, dans les cantons de l ’ Arc jurassien, c ’ est la variante clignoteur qui est préférée. Dans les cantons de Vaud, de Fribourg et du Valais, c ’ est l ’ inverse qui s ’ est produit : signofile est employé de façon majoritaire par rapport à clignoteur. Dans le canton de Genève comme dans le district de Porrentruy, c ’ est la variante clignotant qui est utilisée. Fig. 4 : Principales dénominations du dispositif lumineux pour signaler un changement de direction en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) Comment interpréter de tels résultats ? Plusieurs indices laissent penser que le scenario diachronique a été le suivant. Quand apparaissent les premiers dispositifs lumineux sur les voitures au début du XX e siècle, ils ont pris le nom de Signofil (en 1925, sans -e et avec une majuscule, ce qui laisse penser qu ’ il a dû s ’ agir d ’ un nom de marque). Quand le terme clignoteur arrive en Suisse dix ans plus tard (la première attestation remonte à 1935), il s ’ agit sans doute d ’ un emprunt au français de France. Senti comme une variante plus prestigieuse, ce terme est adopté dans la presse romande, et y supplante la forme signofile. 106 Mathieu Avanzi <?page no="143"?> La Suisse romande n ’ adopte pourtant pas de suite l ’ autre terme en usage en France, à savoir le terme clignotant, qui est la variante qui finit par entrer dans l ’ usage de ce côté de la frontière. Dans les usages des Romands, une répartition régionale opère alors au niveau des cantons. Neuchâtel jouant le rôle de centre pour l ’ Arc jurassien maintient l ’ usage du terme clignoteur, qui se diffuse alors dans les cantons du Jura et de Berne (il s ’ agit alors d ’ un phénomène de maintien, cette variante ayant disparu du français de référence). Les cantons de Vaud, de Fribourg et du Valais, ne renoncent pas à l ’ usage du mot signofile, qu ’ on peut alors traiter comme une innovation par antonomase. A Genève comme dans le district de Delémont (mais c ’ est aussi le cas dans les districts frontaliers du Jura, où la variante clignotant est connue, sans être majoritaire par rapport à clignoteur), le mot en usage de l ’ autre côté de la frontière est adopté. 3.1.3 Dénominations du ‘ maillot de bain ’ En Suisse romande, il existe au moins trois variantes en concurrence pour dénommer le vêtement léger que l ’ on enfile pour se baigner, et ces trois variantes sont utilisées de façon concomitante sur le territoire. Sur le plan générationnel en revanche, on observe une distribution des formes en fonction de l ’ âge des participants. Comme le montre la fig. 5, plus l ’ âge des participants augmente, et plus ils ont tendance à utiliser les variantes calosse ou costume de bain : Fig. 5 : Probabilité d ’ une réponse positive à la question « Utilisez-vous la forme maillot de bain/ costume de bain/ calosse pour désigner le vêtement léger de baignade ? », source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) Français 107 <?page no="144"?> Ces différences nous renseignent sur la dynamique de la variation régionale à l ’ intérieur de la Suisse, et sur l ’ influence du français de Paris. La forme costume de bain est clairement un phénomène de maintien : attestée en France encore au début du XX e siècle, elle a cessé depuis longtemps d ’ être utilisée dans l ’ Hexagone au profit de la locution maillot de bain. Elle demeure employée en Suisse, mais a sans doute été considérée comme vieillie à un moment donné. C ’ est pourquoi sans doute elle a commencé à être remplacée par une autre variante locale, calosse. Cette forme, qui semble être une création populaire formée sur le mot ‘ caleçon ’ à l ’ aide d ’ un suffixe -os(se) (qu ’ on retrouve dans des mots comme craignos, formé sur ‘ craint ’ ; crados, sur ‘ crade ’ ; calmos, etc.) sur une base cal- (voir les variantes argotiques calecif et calebar, avec les suffixes -if et -bar), est en effet attestée dans la presse depuis 1982. Les données montrent toutefois que calosse ne l ’ a jamais emporté sur costume de bain, et que les deux subissent actuellement la concurrence de la variante hexagonale, maillot de bain. 3.2 La grammaire En raison de leur rareté dans les productions de français dont on dispose (entretiens enregistrés, textes de presse, romans), les régionalismes grammaticaux restent encore les parents pauvres des études sur le français parlé en Suisse. Toutefois, toute personne examinant de près les sources (dictionnaires, inventaires des spécificités, glossaires, etc.) du français de Suisse peut néanmoins trouver des informations sporadiques concernant la sélection et l ’ ordre des pronoms (§ 3.2.1), la variation qui affecte le régime de certains verbes (§ 3.2.2), l ’ utilisation de certains lexèmes pour exprimer des significations spécifiques de temps et de modalités (§ 3.2.3) voire encore l ’ utilisation de certains adverbes (§ 3.2.4). 3.2.1 Sélection et ordre des pronoms Chaîne de clitiques - En français de référence, le pronom objet direct précède le pronom objet indirect en position enclitique, comme le montre (1a) : (1) a. rends -le -moi give-back. IMP : 2. SG it. ACC : 3. SG : MASC me. DAT : 1. SG b. rends -me -le give-back. IMP : 2. SG me. DAT : 1. SG it. ACC : 3. SG : MASC La variante proposée en (1b) est régionale du fait de la forme du pronom datif, me (forme dite clitique) et non moi (forme dite tonique). Cet état de fait est similaire à celui qui existait en ancien français, et qu ’ on retrouve aussi dans certains patois. Utilisation de ce/ ça impersonnel - Comme dans de nombreuses régions de l ’ Hexagone, le français qu ’ on parle en Suisse comporte des pronoms impersonnels dont la forme est celle de pronoms démonstratifs. On retrouve ce phénomène dans les phrases qui permettent de demander ou de dire l ’ heure (2), mais aussi avec des verbes météorologiques (3) : (2) a. il est quelle heure it. NOM : 3. SG be. PRES : 3. SG what time b. c ’ est quelle heure it. NOM : 3. SG be. PRES : 3. SG what time 108 Mathieu Avanzi <?page no="145"?> (3) a. il pleut it. NOM : 3. SG be. PRES : 3. SG b. ça pleut it. NOM : 3. SG be. PRES : 3. SG Pronoms accusatifs neutres - L ’ influence des dialectes francoprovençaux peut expliquer l ’ existence de pronoms dits « neutres » tels que ceux qui figurent dans (4b) et dans (4c) : (4) a. il le mange he. NOM : 3. SG : MASC it. ACC : 3. SG : MASC eat. PRES : 3. SG b. il y mange he. NOM : 3. SG : MASC it. ACC : 3. SG : MASC eat. PRES : 3. SG c. il ça mange he. NOM : 3. SG : MASC it. ACC : 3. SG : MASC eat. PRES : 3. SG En Suisse romande, l ’ usage du pronom y à la place du pronom le est propre aux régions de Genève et de Nyon, alors que l ’ antéposition de ça est un phénomène qu ’ on ne retrouve pas en dehors des frontières de la Broye (région à cheval sur les cantons de Fribourg et de Vaud). L ’ influence des mêmes dialectes explique également le placement en tête du pronom personne qui a été observé dans l ’ ensemble de la Suisse romande : (5) a. j ’ ai vu personne I. NOM : 1. SG have. PRES : 1. SG seen. PAST . PART nobody b. j ’ ai personne vu I. NOM : 1. SG have. PRES : 1. SG nobody seen. PAST . PART Dans les patois francoprovençaux, les correspondants de l ’ indéfini personne se placent avant le verbe conjugué (yé nyon vu, soit littéralement : j ’ ai personne vu). 3.2.2 Variation des régimes Un autre domaine de variation concerne la réalisation du régime de certains verbes. En français de référence, les verbes aider et faire chier se construisent avec un régime accusatif. En Suisse romande, il n ’ est pas rare de trouver ces verbes accompagnés d ’ un datif : on aide à quelqu ’ un, on fait chier à quelqu ’ un. L ’ influence de l ’ allemand a été invoquée pour expliquer l ’ utilisation du datif après le verbe aider (type jemandem helfen). Le fait que ce tour soit connu ailleurs dans la francophonie, et qu ’ il existait déjà en ancien français, invite à mitiger cette influence. On peut considérer en revanche que l ’ utilisation de la préposition pour après le verbe s ’ intéresser est un calque de l ’ allemand ou du suisseallemand (type sich für etwas interessieren), tout comme l ’ emploi de sur après le verbe attendre (warten auf, suiss. além. warten uuf). 3.2.3 Auxiliaires de temps et modalités Les temps verbaux et les modaux constituent un autre domaine assez sensible à la variation régionale. Comme les locuteurs du sud de la France ainsi que ceux de la région de Français 109 <?page no="146"?> Lyon, les francophones de Suisse utilisent régulièrement le passé surcomposé, qui implique l ’ utilisation de deux auxiliaires, ‘ avoir ’ et/ ou ‘ être ’ : (6) a. j ’ ai eu fumé I. NOM : 1. SG have. PRES : 1. SG have. PAST . PART smoke. PAST . PART b. je suis eu parti I. NOM : 1. SG être. PRES : 1. SG have. PAST . PART leave. PAST . PART En français de référence, les grammairiens acceptent assez bien l ’ utilisation du passé surcomposé lorsqu'il apparaît dans une proposition subordonnée. Les exemples en (6), où le passé surcomposé est lié à un verbe qui est le noyau d ’ une proposition principale, sont clairement régionaux. Les deux ne sont toutefois pas connus dans la même région. Au sein de l ’ Europe francophone, (6a) est beaucoup plus répandu que (6b). Le premier est utilisé non seulement en Suisse, mais aussi dans la moitié entière de la France métropolitaine, ainsi que dans la région de Lyon et en Bretagne. Le second est à peine utilisé en dehors de la Suisse. En français, la périphrase ‘ aller + V INF ’ est normalement utilisé pour exprimer le futur. En ancien français et en français classique, le verbe ‘ vouloir ’ était utilisé de la même manière. Plusieurs sources indiquent que ce verbe était attesté dans de nombreuses régions de France lorsqu ’ il était impliqué dans l ’ expression d ’ un événement météorologique, comme en (7a). Dans d ’ autres contextes, comme en (7b), il est restreint au français parlé dans le Jura franco-suisse : (7) a. il veut pleuvoir it. NOM : 3. SG want. PRES : 3. SG rain. INF b. tu veux tomber you. NOM : 2. SG want. PRES : 2. SG fall. INF Enfin, une autre variation régionale provient de l ’ utilisation du verbe ‘ oser ’ pour exprimer poliment la capacité de faire quelque chose. Ainsi, un étudiant à l ’ uni ne demande pas s ’ il peut poser une question, il demande s ’ il ose poser une question ; un passager dans le train ne s ’ assoit pas sans avoir auparavant demandé s ’ il osait s ’ assoir. Signalons que cet usage particulier du verbe oser se retrouve dans d ’ autres contextes, notamment dans des phrases négatives (on n ’ ose pas entrer), et/ ou un sujet inanimé (les dictionnaires n ’ osent pas être empruntés). Géographiquement, cet emploi régional du verbe oser ne jouit pas de la même vitalité : il semble relativement inconnu dans les cantons du Valais et de Genève, et peu utilisé dans le canton de Vaud. Dans les cantons de l ’ Arc jurassien et à Fribourg, il est en revanche très répandu. Cette observation, combinée avec l ’ existence d ’ emplois similaires en Alsace, laisse penser que ces emplois reproduisent (ou calquent) une partie des sens de l ’ allemand dürfen ; alors que ‘ oser ’ avec le sens de « se risquer à, avoir l ’ audace », correspond plutôt à l ’ allemand wagen. 3.2.4 Adverbes Signalons enfin que le français de Suisse romande comporte tout un tas d ’ adverbes dont l ’ utilisation est inconnue en France. Les exemples sous (8) - (10) illustrent la variation qui peut affecter les intensifieurs, qui trouvent leurs équivalents en français de référence avec des termes comme très, trop, vachement ou encore grave : 110 Mathieu Avanzi <?page no="147"?> (8) il est rentré de sa soirée, il était monstre fatigué (9) je suis assez à l ’ aise quand je rentre dans le box d ’ un étalon qui est franc fou (10) elle est sortie hier soir, il faisait pire chaud Soulignons également que certains usages sont cantonnés à des régions bien délimitées à l ’ intérieur de la Suisse, comme p.ex. : (11) on a l ’ habitude de se garder les enfants parmi (12) il faut qu ’ on discute, viens outre-en-çà (13) c ’ est droit ce que je lui ai dit ! En (11), parmi sert à indiquer un rapport de réflexivité, et pourrait être glosé par « les uns les autres », il s ’ emploie surtout dans le canton de Vaud et est connu à Fribourg [carte supp *1*]. En (12), l ’ adverbe outre-en-çà [carte supp *2*] est le résultat de la composition du morphème outre (qui sert dans les parlers valaisans à indiquer un déplacement sans changement de plan sur l ’ axe vertical) et d ’ en-çà, un adverbe en usage pour indiquer la proximité avec celui qui parle (son antonyme, en-là, s ’ utilise pour exprimer l ’ idée d ’ éloignement par rapport à celui qui parle). En (13) enfin, le modalisateur droit s ’ emploie surtout dans les cantons de l ’ Arc jurassien, il est synonyme de « exactement » [carte supp *3*]. D ’ autres exemples sont présentés et discutés dans Bürgi 1999 ; Voillat 1971 ; Avanzi 2018, 2019, 2020 ; Avanzi et Thibault 2024 ; Kristol 2023 ; Johnsen 2024. 3.3 La prononciation Sur le plan de la prononciation, nous ne pouvons pas signaler l ’ ensemble des faits remarquables, aussi nous contenterons-nous de présenter les phénomènes les plus saillants. 3.3.1 Le système vocalique Le français de Suisse romande a maintenu un système vocalique relativement conservateur par rapport au français de référence. De nombreuses oppositions survivent en Suisse alors qu ’ elles ont disparu en France, à l ’ instar de l ’ opposition entre [o] et [ ɔ ] en syllabe ouverte. Partout en Suisse (et dans une moindre mesure dans le canton de Genève et les districts de l ’ est du Valais romand), on oppose les éléments des paires comme mot/ maux, pot/ peau ou encore sot/ seau, le premier étant prononcé avec une voyelle ouverte [ ɔ ], le second avec une voyelle fermée [o]. Dans le canton du Jura et dans le Jura bernois, l ’ ouverture des voyelles de mots qui se terminent par -o graphique est une règle : on prononce euro, piano ou encore domino avec un o ouvert. Français 111 <?page no="148"?> Fig. 6 : Réalisation avec une voyelle finale ouverte du mot euro en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) 112 Mathieu Avanzi <?page no="149"?> L ’ opposition [e] ~ [ ɛ ] en syllabe ouverte se maintient de partout, à part dans certains districts de l ’ est du Valais romand, où l ’ on n ’ oppose pas toujours, voir piqué/ piquet ou encore piqué/ piquait, les deux étant prononcés avec une voyelle fermée [e], alors qu ’ ailleurs en Suisse romande, on prononce le second terme des couples avec une voyelle ouverte [ ɛ ] : Fig. 7 : Réalisation avec une voyelle finale ouverte du mot piquet en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) Français 113 <?page no="150"?> D ’ autres oppositions sont vieillissantes en Suisse. C ’ est le cas notamment de l ’ opposition entre [a] et [ ɑ ], que l ’ on a dans la paire rat/ ras (dans patte/ pâte, l ’ opposition de timbre a été supplée par la longueur) ou de l ’ opposition [ ɛ ̃ ] ~ [ œ ̃ ] la paire brin/ brun. Déjà affaiblie à Genève, la comparaison des données des juniors avec celle des seniors montre que ces oppositions perdent du terrain, et devraient finir par disparaitre, comme c ’ est le cas du français de référence : Fig. 8a : Pourcentage de participants de 25 ans et moins ayant affirmé faire l ’ opposition à l ’ oral entre brin et brun en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024). 114 Mathieu Avanzi <?page no="151"?> Fig. 8b : Pourcentage de participants de 45 ans et plus ayant affirmé faire l ’ opposition à l ’ oral entre brin et brun en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) Enfin, pour clôturer cet inventaire sur le système vocalique, signalons qu ’ en Suisse romande, l ’ opposition de quantité, qui permet de faire la différence, à l ’ oral, entre les membres de paires comme nu/ nue, mettre/ maître ou encore bout/ boue, se maintient encore Français 115 <?page no="152"?> relativement bien, et ce peu importe le canton. 8 Dans le canton de Vaud (avec des ramifications à Genève et dans le Bas-Valais), cette tendance à l ’ allongement s ’ accompagne parfois d ’ une mouillure, ce qui explique que des mots comme année, dictée ou potelée soient prononcés avec une finale de type [e ː j ] : Fig. 9 : Prononciation d ’ un [e] long et mouillé à la fin du mot année, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) 8 Dans le canton de Vaud, et sporadiquement à Genève et en Valais, l ’ allongement peut déboucher sur une diphtongaison de finale quand le mot termine par le son [i], par la production d ’ un schwa prosthétique si le son est [u] ou [y]. 116 Mathieu Avanzi <?page no="153"?> 3.3.2 Les consonnes L ’ articulation des consonnes - sur le plan consonantique, le français de Suisse romande connaît quelques sons qui n ’ existent pas en français de référence. C ’ est le cas notamment de la consonne constrictive vélaire dévoisée [ χ ], qu ’ on peut entendre dans de nombreux emprunts aux suisse allemand (kratz, ‘ chat ’ ; steckr, ‘ bâton ’ ), et qu ’ on retrouve dans d ’ autres contextes surtout chez les locuteurs du Jura. Signalons aussi les affriquées [t ͡ ʃ ] et [d ͡ z], qu ’ on peut entendre dans des mots comme crotchon ( ‘ entame du pain ’ ) et dodzet (surnom des Fribourgeois, forme patoise du prénom Joseph, très répandu autrefois à Fribourg - et connoté catholique), qui sont en usage un peu partout en Suisse romande, et dont l ’ existence est sans doute à mettre sur le compte du patois. Les consonnes finales - Une autre particularité du français qu ’ on parle en Suisse concerne les consonnes finales, qui sont parfois prononcées alors qu ’ elles restent muettes en français de référence. C ’ est le cas p.ex. du mot vingt, prononcé avec un -t final dans toute la Suisse, comme en Belgique et dans le grand est de la France, mais aussi du -t final dans des mots comme alphabet ou juillet (prononcés dans une partie du canton de Vaud avec des -t finals, soit [alfab ɛ t] et [ ʒɥ ij ɛ t], [carte supp *4*]). A l ’ inverse, en Suisse romande, on ne prononce pas la consonne finale du mot stand, ni celle du mot déficit ou du mot district. On peut encore ajouter à cette liste la prononciation particulière du mot cassis (sans -s final dans le Jura, alors que le français de référence dit [kasis]), ou la nonprononciation du -s final du mot ours quand il est au pluriel dans le canton de Neuchâtel (on dit un [(n)u ʁ ], des [zu ʁ ], [carte supp *5*]). Il s ’ agit souvent ici de phénomènes attestés dans d ’ anciens états du français, qui se sont maintenus en Romandie. On consultera pour une discussion d ’ ensemble Voillat 1971 ; Métral 1977 ; Schoch 1980 ; Andreassen et al. 2010 et Avanzi 2019, 2024 pour un aperçu en micro-diachronie. 3.3.3 Autres phénomènes remarquables D ’ autres phénomènes de prononciation typiques doivent être signalés. Dans les cantons de Fribourg, de Vaud, du Valais et du Jura, on tend à prononcer orthographiquement le mot foot (on dit [f ɔ t] et non [fut], comme en France [carte supp *6*]), on ne prononce pas le mot fuchsia [fu ʃ ja] mais [fuksja] (sans doute là-aussi l ’ influence de l ’ allemand). La prononciation avec le son [u] des voyelles finales de mots comme aluminium, podium ou erratum rappelle qu ’ en Suisse, les mots sentis comme des emprunts peuvent garder leur prononciation originale (avec une extension intéressante pour des mots comme chewinggum, prononcé avec un [u] final dans certains districts de l ’ est du Valais romand [carte supp *7*]). 3.3.4 Prosodie Accentuation - En français, l ’ accent - c ’ est-à-dire la mise en relief des syllabes dans la chaîne parlée - frappe les syllabes finales des groupes de mots dont le noyau n ’ est pas un schwa, de même que certaines syllabes initiales (quand le mot est long par exemple). En Suisse romande, la propension à l ’ accentuation des syllabes initiales est légèrement plus grande qu ’ en France. Compte tenu du fait que la plupart des mots du lexique sont dissyllabiques, ce phénomène a été interprété comme une propension plus grande à accentuer les pénultièmes. Français 117 <?page no="154"?> Intonation - L ’ inventaire des contours mélodiques du français de Suisse romande n ’ est pas si différent de celui du français de référence. Les quelques recherches qui ont été conduites sur le sujet ont permis de montrer qu ’ il existait en Suisse un contour mélodique assez particulier, qui semble surtout attesté dans les cantons de Vaud et de Genève, et qui s ’ actualise par un allongement significatif de la syllabe pénultième d ’ un mot, ainsi qu ’ une montée et une descente accusée sur les deux dernières syllabes : Fig. 10 : Spectrogramme et tracé intonatif de l ’ énoncé « elle est dans une situation où elle gagne pas vraiment sa vie », source : OFROM Débit - L ’ une des questions les plus débattues dans les médias repose sur l ’ idée que les Suisses romands articuleraient plus lentement que les Français, en d ’ autres termes qu ’ ils parleraient plus lentement. Plusieurs études ont cherché à vérifier cet état de fait, avec des résultats pas toujours cohérents entre eux, compte tenu du grand nombre de variables dont il faut tenir compte quand on analyse de tels phénomènes. On retiendra que si les Romands parlent plus lentement que les Français, c ’ est surtout une question générationnelle (c ’ est surtout vrai pour les seniors), et diatopique (il semblerait que les Genevois ne soient pas si lents par rapport à leurs compatriotes de l ’ arrière-pays). Les résultats de ces études sont présentés dans Avanzi et al. 2012 ; Schwab et Avanzi 2015. 3.4 Les accents des Romands : aspects sociolinguistiques Les accents des Romands - c ’ est-à-dire l ’ ensemble des indices sonores qui contribuent à reconnaître l ’ origine régionale d ’ une personne quand elle parle - ont été abordés sous deux principaux angles. Celui des représentations (§ 3.4.1) et celui de l ’ identification (§ 3.4.2). 3.4.1 Représentations Sur le plan des représentations, les Romands savent que le français qu ’ ils pratiquent est assez différent de celui que l ’ on pratique en Île-de-France. Compte tenu de leur position périphérique à l ’ Hexagone, nombreux sont ceux qui éprouvent envers les Français de l ’ insécurité linguistique, conscients que leurs productions ne correspondent pas à la même norme que celle qui a cours dans la capitale de l ’ Hexagone. D ’ un autre côté, les Romands restent très attachés aux particularités linguistiques de leur canton, nombreux sont ceux qui déclarent préférer l ’ accent de leur canton plutôt que celui d ’ un canton voisin. 118 Mathieu Avanzi <?page no="155"?> 3.4.2 Identification Sur le plan de l ’ identification, différentes expériences ont montré que les Romands n ’ arrivaient pas toujours à distinguer les locuteurs en fonction de leur région d ’ origine de façon très fine, mais que grosso modo, tout le monde arrivait à bien distinguer les locuteurs de Genève et du canton de Vaud. Ces mêmes expériences ont aussi révélé que dans une tâche de perception, les locuteurs tout venants avaient du mal à distinguer les accents des francophones et de Fribourg et du Valais, les deux étant souvent confondus. Dans la même veine, il s ’ est avéré assez complexe pour des auditeurs de faire la part, sur la base d ’ indices phonétiques uniquement, entre des locuteurs originaires des cantons du Jura, de Neuchâtel et des districts francophones de Berne, ce qui souligne la cohésion, sur le plan linguistique, de l ’ Arc jurassien. Pour une présentation et d ’ autres références en regard des aspects sociolinguistiques liés à la problématique des accents et des variétés romandes de français plus généralement, v. Singy 1996 ; Prikhodkine 2001 ; Avanzi 2023. 4 Conclusion En conclusion, ce chapitre a permis de dresser une vue d ’ ensemble des particularités du français pratiqué en Suisse à l ’ orée du XXI e siècle. Nous avons tout d ’ abord situé le français dans le contexte géographique et historique de la Confédération helvétique, soulignant ainsi son statut de langue officielle et son importance culturelle au sein du pays. Par la suite, nous avons établi quelques fondements théoriques et épistémologiques pour mieux appréhender les différences entre le français parlé en Suisse romande et celui de la France. Ces nuances linguistiques résultent d ’ une évolution historique, d ’ une coexistence avec d ’ autres langues nationales et régionales, ainsi que d ’ influences culturelles multiples, façonnant ainsi une variante spécifique du français. En analysant des exemples concrets, nous avons pu illustrer ces particularités linguistiques, notamment les différences lexicales, phonétiques, et syntaxiques qui font du français en Suisse romande une langue riche et complexe, empreinte d ’ une identité propre. En somme, ce chapitre démontre que le français qu ’ on pratique en Suisse est bien plus qu ’ un simple ersatz de la langue française de France ; c'est un témoignage vivant de l ’ histoire et de la diversité culturelle de la Suisse. Cette richesse linguistique mérite d'être célébrée et préservée, car elle constitue un pilier essentiel de l ’ identité nationale helvétique et de sa contribution à la francophonie mondiale. Les remarques constructives et les contributions précieuses d ’ Andres Kristol, d ’ André Thibault et des trois éditeurs du volume ont grandement enrichi le contenu de ce chapitre. Nous tenons à exprimer notre gratitude envers eux pour leur implication et leurs suggestions. Les précautions d ’ usage s ’ appliquent. Bibliographie Andreassen, Helen / Maître, Raphaël / Racine, Isabelle (2010). La Suisse. In : Detey, Sylvain / Durand, Jacques / Laks, Bernard / Lyche, Chantal (éds.). Les variétés du français parlé dans l ’ espace francophone : ressources pour l ’ enseignement. Paris/ Gap : Ophrys, 201 - 212. Français 119 <?page no="156"?> Aquino-Weber, Dorothée / Cotelli-Kureth, Sara / Nissile, Christel (2019). Contact entre patois et français en Suisse romande de 1800 à 1970 : l ’ unilinguisme revisité. Revue des langues romanes 123, 69 - 92. Avanzi, Mathieu (2018). Le pronom y accusatif en français régional et dans les dialectes gallo-romans : histoire et géographie. Lingvisticae Investigationes 41 (1), 62 - 86. Avanzi, Mathieu (2019). Cartographier les régionalismes de Suisse romande et de France voisine à l ’ ère des sciences participatives. Cahiers internationaux de sociolinguistique 14, 43 - 104. Avanzi, Mathieu (2020). Sur la géographie et la vitalité de l ’ antéposition de personne et de ça dans le français des Alpes et du Jura. L ’ Information grammaticale 166, 7 - 15. Avanzi, Mathieu (2023). L ’ identification géographique des accents des Romands. In : Aquino-Weber, Dorothée / Cotelli-Kureth, Sara / Kristol, Andres / Reusser-Elzingre, Aurélie (éds.). “ Coum ’ on étèila que kòoule … Come una stella cadente … Comme une étoile filante …” . Volume d ’ hommage en l ’ honneur de la Prof. F. Diémoz. Genève : Droz, 167 - 187. Avanzi, Mathieu (2024). Cartographie micro-diachronique de la variation phonologique du français en Suisse romande (1970 - 2020). In : Actes du 9 e Congrès Mondial de Linguistique françise (CMLF), non-paginé. Avanzi, Mathieu / Schwab, Sandra / Dubosson, Pauline / Goldman, Jean-Philippe (2012). La prosodie de quelques variétés de français parlées en Suisse romande. In : Simon, Anne Catherine (éd.). La variation prosodique régionale en français. Bruxelles : De Boeck/ Duculot, 89 - 119. Avanzi, Mathieu / Thibault, André (2024). Attention, tu veux tomber ! La périphrase verbale <vouloir + V INF > à valeur d ’ ultériorité : panorama diasystémique. Langue française 221, 55 - 69. Bürgi, Anne (1999). Le pronom ça en français vaudois. Vox Romanica 58, 149 - 171. Chambon, Jean-Pierre / Greub, Yan (2009). Histoire des variétés régionales dans la Romania : français. 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In : Actes du colloque de dialectologie francoprovençale organisé par le Glossaire des patois de la Suisse romande. Genève : Droz, 216 - 246. Français 121 <?page no="158"?> Appendice Suppl. 1 : Vitalité de l ’ utilisation de l ’ adverbe parmi au sens de « les uns les autres » en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) 122 Mathieu Avanzi <?page no="159"?> Suppl. 2 : Vitalité de l ’ utilisation de l ’ adverbe outre-en-ça en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) Français 123 <?page no="160"?> Suppl. 3 : Vitalité de l ’ utilisation de l ’ adverbe droit dans le contexte « c ’ est droit ça » en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) 124 Mathieu Avanzi <?page no="161"?> Suppl. 4 : Pourcentage de participants ayant affirmé prononcer la consonne finale du mot juillet en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) Français 125 <?page no="162"?> Suppl. 5 : Pourcentage de participants ayant affirmé ne pas prononcer la consonne finale du mot ours dans le syntagme « des ours » en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) 126 Mathieu Avanzi <?page no="163"?> Suppl. 6 : Pourcentage de participants ayant affirmé prononcer le mot foot avec la voyelle [ ɔ ] en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) Français 127 <?page no="164"?> Suppl. 7 : Pourcentage de participants ayant affirmé prononcer le mot minimum avec la voyelle [u] en français au début du XXI e siècle, source : Enquêtes Français de nos Régions (2015 - 2024) 128 Mathieu Avanzi <?page no="165"?> Italienisch: Landessprache Stephan Schmid, Universität Zürich 1 Einleitung: Italienisch in der Schweiz Gemäss Artikel 4 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft stellen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch die vier Landessprachen der Schweiz dar; im so genannten ‘ Sprachenartikel ’ (Artikel 70) werden zudem Deutsch, Französisch und Italienisch als Amtssprachen des Bundes festgelegt, in welchen Gesetze und amtliche Erlasse vorliegen müssen. Die Reihenfolge bei der Nennung dieser vier Sprachen beruht auf der Anzahl von Sprechenden innerhalb der Schweiz, weshalb man das Italienische oft auch als ‘ dritte Landessprache ’ bezeichnet. In der Tat nannten in einer demographischen Strukturerhebung, welche das Bundesamt für Statistik (BFS) im Jahr 2020 durchführte, 61.3 % der Befragten Deutsch als ihre ‘ Hauptsprache ’ , während 22.8 % Französisch und 8.0 % Italienisch angaben (BFS 2022a: 6). Betrachtet man die Entwicklung der entsprechenden Prozentzahlen im Lauf der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, so ergibt sich zunächst eine Zunahme der Italienischsprachigen von 5.9 % im Jahr 1950 auf 11.1 % im Jahr 1970, wonach aber bis zum Jahr 2000 eine kontinuierliche Abnahme auf 6.8 % erfolgte. Immerhin wurde in der Strukturerhebung 2017 Italienisch von 8.4 % der Befragten als Hauptsprache genannt (Casoni et al. 2021: 23), während in der jüngsten zur Verfügung stehenden Erhebung aus dem Jahr 2022 erneut eine leichte Abnahme auf 7.8 % zu verzeichnen ist (BFS 2024). Beim Vergleich dieser Prozentzahlen muss allerdings berücksichtigt werden, dass bei den alle zehn Jahren durchgeführten Volkszählungen bis 2000 jeweils die ganze Bevölkerung befragt wurde und dabei jeweils nur eine ‘ Hauptsprache ’ genannt werden konnte. Seit der Jahrtausendwende werden hingegen in häufigeren Abständen repräsentative demographische Strukturerhebungen durchgeführt, bei denen die Befragten auch mehr als eine Hauptsprache angeben können (vgl. ► Sprachenstatistik). Dabei ist wichtig festzuhalten, dass Italienisch nicht nur im angestammten Gebiet der Südschweiz (d. h. im Kanton Tessin und in den vier Bündner Tälern Puschlav, Bergell, Misox und Calanca) gesprochen wird, sondern zu einem nicht unwesentlichen Teil auch durch Teile der Bevölkerung in den anderen Landesteilen. Die erwähnten prozentualen Schwankungen der Italophonie innerhalb der gesamten Wohnbevölkerung der Schweiz sind in der Tat weniger auf die soziolinguistische Situation in der Südschweiz zurückzuführen, sondern vielmehr auf demographische und soziolinguistische Entwicklungen bei der Migrationsbevölkerung ausserhalb der italienischen Schweiz ( ► ItalienischMigration). Insgesamt wurde in den meisten statistischen Erhebungen der letzten Jahrzehnte das Italienische dennoch häufiger ausserhalb seines eigentlichen Gebiets als Hauptsprache genannt als in seinem angestammten Territorium: rechnet man die Prozentzahlen der <?page no="166"?> strukturellen Erhebung 2017 auf die Gesamtbevölkerung hoch, so lebten in diesem Jahr 279 ’ 004 Personen mit Italienisch als Hauptsprache in der italienischsprachigen Schweiz gegenüber 314 ’ 200 Personen in den anderen Landesteilen (Casoni et al. 2021: 31). Bereits diese wenigen demographischen Angaben belegen, dass das Italienische in der Schweiz einerseits in seinem angestammten Gebiet als Landessprache gut verankert ist, andererseits aber auch als Migrationssprache in mehrsprachigen Kontexten auftritt. Die grundlegende territoriale Unterscheidung zwischen der Svizzera italiana und den anderen Landesteilen vermag jedoch die Vielfalt der Erscheinungsformen der italienischen Sprache in der Schweiz nicht ganz zu erfassen. Dies zeigt das oft zitierte Schema von Berruto (2012), in welchem nicht weniger als 11 ‘ Erscheinungsformen des Italienischen ’ aufgezählt werden: Abb. 1: Erscheinungsformen des Italienischen in der Schweiz. Quelle: Berruto 2012: 1 Das Baumdiagramm in Abb. 1, welches eine frühere Schematisierung von Moretti (2005: 18) aufgreift, nimmt zuerst anhand des bereits erwähnten territorialen Kriteriums eine erste Zweiteilung vor. Auf der linken Seite des Diagramms erscheinen die Italienischvarietäten innerhalb des eigentlichen Sprachgebiets (Kategorien 1 - 6), während auf der rechten Seite die Varietäten ausserhalb des Sprachgebiets aufgeführt werden (Kategorien 8 - 11); gewissermassen als Bindeglied steht in der Mitte das Italienische als Verwaltungs- und Geschäftssprache (italiano amministrativo e commerciale, Kategorie 7), welche sowohl innerhalb als auch ausserhalb der italienischen Schweiz verwendet wird. Ein zweites wichtiges Kriterium ist dasjenige der Muttersprache: im eigentlichen Sprachgebiet ebenso wie ausserhalb wird das Italienische einerseits von Muttersprachlern und andererseits von L2-Lernenden verwendet. Auf der linken Seite des Schemas wird aufgrund eines zusätzlichen politischen und territorialen Parameters zwischen den Kantonen Tessin (Kategorie 1) und Graubünden unterschieden, wobei letzterer noch in die Bezirke Moesa, Bergell und Puschlav unterteilt wird (Kategorien 2 - 4). Der vorliegende Beitrag behandelt das Italienische als schweizerische Regionalvarietät sowie als Landes- und Amtssprache (also die Kategorien 1 - 6 und 7 im Schema der Abb. 1). Im Abschnitt 2 liegt der Fokus auf der italienischsprachigen Schweiz (den Kategorien 1 - 4 130 Stephan Schmid <?page no="167"?> im Schema von Abb. 1), indem neben sprachsoziologischen Fragen - insbesondere zur Stellung des Deutschen oder zum Verhältnis zwischen Italienisch und Dialekt - auch variationslinguistische Aspekte der lombardischen Dialekte und des Regionalitalienischen erörtert werden. Daran anschliessend wird im Abschnitt 3 das Italienische in seiner Funktion als Landes- und Amtssprache behandelt (Kategorie 7 in Abb. 1). Im Abschnitt 4 folgt ein kurzer Ausblick auf sprach- und bildungspolitische Aspekte im Zusammenhang mit der dritten Landessprache. Wie aus der Struktur des Schemas in Abb. 1 sowie aus den oben genannten demolinguistischen Eckdaten hervorgeht, ist das Italienische in der Schweiz auch ausserhalb seines angestammten Territoriums als Migrationssprache (Kategorien 8 - 11) sehr verbreitet: diese Varietäten werden in einem separaten Kapitel des vorliegenden Handbuchs besprochen ( ► ItalienischMigration). Einführungen zum Italienischen in der Schweiz auf Deutsch findet man bei Lurati 2000 und Bianconi 2009. Übersichtsbeiträge auf Italienisch bieten Moretti und Casoni 2016 sowie Baranzini und Casoni 2020; vgl. auf Englisch Moretti 2003, Moretti et al. 2021 sowie die bibliographischen Hinweise in Humbert et al. 2023. Für die Auswertungen der demolinguistischen Daten des BFS siehe u. a. Bianconi 1995, 2005, Bianconi und Borioli 2004, Pandolfi et al. 2016, Casoni et al. 2021. Die neusten Daten findet man auf dem Portal des BFS (BFS 2024). 2 Die italienischsprachige Schweiz (Tessin und Graubünden) Wie aus dem Schema in der Abb. 1 ersichtlich ist, bildet die sog. ‘ italienische Schweiz ’ alles andere als einen einheitlichen Sprachraum; Lurati (2000: 179) spricht denn auch von einer gewissen ‘ Künstlichkeit ’ des Terminus Svizzera italiana. Italienischbünden besteht sogar aus drei geographisch nicht zusammenhängenden Gebieten, und die heutige politischadministrative Aufteilung ist ihrerseits das Ergebnis von unterschiedlichen historischen Entwicklungen. Das Tessin gehörte im Spätmittelalter zum Herzogtum Mailand und wurde zwischen 1403 und 1515 von den drei Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden erobert, welche südlich der Alpen Landvogteien errichteten, woran heute noch die drei Burgen in Bellinzona erinnern; 1803 wurde das Tessin zu einem eigenständigen und unabhängigen Kanton (Bianconi 2009). Wie das Tessin standen die Südbündner Täler bis ins 15. Jahrhundert unter der Herrschaft des Herzogtums Mailand. Danach schlossen sich Misox und Calanca dem Grauen Bund an, Bergell und Puschlav dem Gotteshausbund; zwischen 1512 und 1797 waren zudem Bormio, das Veltlin und das Valchiavenna bündnerische Untertanengebiete. Der heutige Kanton Graubünden entstand ebenfalls 1803. Als kirchliche Verwaltungsbezirke galten für das Tessin die Bistümer Mailand und Como, für Misox und Calanca (und ab 1867 auch das Puschlav) das Bistum Chur. Die Reformation konnte sich im Bergell und z. T. im Puschlav durchsetzen, während sie im Tessin nur in Locarno für eine kurze Dauer Fuss fasste (Salvioni 1907, Bianconi 2009). Neben den politischen und konfessionellen Gegebenheiten spielen für die heutigen Sprachräume der italienischen Schweiz auch verkehrstechnische und wirtschaftliche Faktoren eine Rolle. Im sprachlichen Alltag der Südschweiz werden traditionellerweise neben dem Italienischen auch lokale italo-romanische (lombardische) Mundarten gesprochen, wobei aus soziolinguistischer Sicht der Dialekt im Vergleich zur deutschsprachigen Schweiz eine Italienisch: Landessprache 131 <?page no="168"?> deutlich schwächere Position einnimmt, die eher Parallelen aufweist zur Situation in gewissen Regionen Italiens. Selbst innerhalb des Tessins bestehen zum Teil erhebliche regionale Unterschiede: im nördlichen Kantonsteil (Sopraceneri) sind die Mundarten eher verbreitet als im Süden (Sottoceneri) und in den städtischen Agglomerationen weniger als in abgelegenen Dörfern. Die geographische Zweiteilung des Tessins in Sottoceneri und Sopraceneri bezieht sich auf die Lage ‘ unterhalb ’ (sotto) oder ‘ oberhalb ’ (sopra) des Monte Ceneri-Passes und ist tief in der populären Kultur verankert, z. B. in der historischen Rivalität zwischen den beiden Eishockey-Teams Lugano und Ambrì-Piotta. Innerhalb des Sprachrepertoires kommt dem Dialekt klar die Funktion einer low variety zu, die vorwiegend im Familien- und im Bekanntenkreis gesprochen wird; es wäre in der italienischen Schweiz unvorstellbar, eine politische Diskussion im Fernsehen auf Dialekt zu führen. Ein wesentlicher Unterschied zur Deutschschweiz besteht zudem in der Tatsache, dass viele Personen als Muttersprache die high variety Italienisch haben und allenfalls über eine passive Kompetenz des Dialekts verfügen, diesen im täglichen Sprachgebrauch aber nicht aktiv verwenden. Die sprachliche Situation der Südschweiz lässt sich im Wesentlichen anhand zweier allgemeiner Charakteristika umreissen (Moretti und Casoni 2016, Moretti et al. 2021): Auf der einen Seite verfügt das Italienische über eine relativ starke Stellung gegenüber anderen Landes - und Nichtlandessprachen, während auf der anderen Seite der Dialektgebrauch kontinuierlich zurückgeht (was allerdings in Italienischbünden weniger ausgeprägt zu sein scheint als im Tessin). 2.1 Italienisch und Deutsch in der italienischsprachigen Schweiz Die starke Stellung der italienischen Sprache lässt sich eindeutig aus den statistischen Erhebungen der letzten Jahrzehnte ablesen. Im Jahr 2020 wurde das Italienische in seinem Sprachgebiet von 88.6 % der Befragten als Hauptsprache genannt - ein Wert, der sogar leicht höher liegt als derjenige des Deutschen und des Französischen in den jeweiligen Sprachregionen (BFS 2022a: 7 - 8). Vor allem aber ist dieser Wert in den letzten dreissig Jahr stetig gestiegen, von 83.3 % in der Volkszählung 2000 (Lüdi und Werlen 2005: 13) zu 87.8 % in der strukturellen Erhebung 2010 - 12 (Pandolfi et al. 2016: 77). Rechnet man diese Prozentzahlen auf die tatsächliche Bevölkerung hoch, so ergibt sich von 2010 bis 2017 eine Zunahme der Italophonie von 257 ’ 347 auf 279 ’ 004 Personen (Casoni et al. 2021: 31). Wenn man bedenkt, dass im Verlauf des letzten Jahrhunderts die Nennungen des Italienischen im Tessin kontinuierlich abgenommen hatten (von 97.2 % im Jahr 1900 zu 82.8 % im Jahr 1990), dann kann man hier von einer eigentlichen Tendenzwende sprechen. Bezüglich der Mehrsprachigkeit der Bevölkerung im italienischen Sprachgebiet ist erwähnenswert, dass die anderen Landessprachen häufiger als Hauptsprachen genannt werden als in der deutschen und der französischen Schweiz, allerdings mit leicht abnehmender Tendenz: Deutsch wurde 2010 von 10.3 % und 2020 von 9.6 % der Befragten genannt, beim Französischen waren es 4.7 % im Jahre 2010 und 4.2 % im Jahr 2020 (BFS 2022a: 7). Weniger häufig werden hingegen die Nichtlandesprachen genannt. Zudem scheint das Italienische bei der ausländischen Wohnbevölkerung leicht stärker in den familiären Sprachgebrauch integriert zu werden als das Französische und v. a. das (Schweizer-)Deutsche in den entsprechenden Sprachregionen (Lüdi und Werlen 2005: 35). Im nationalen Kontext ist hier vor allem die Stellung des Deutschen im Tessin von 132 Stephan Schmid <?page no="169"?> Interesse, welche in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in der Öffentlichkeit zum Teil kontrovers diskutiert wurde. Die ‘ Sonnenstube ’ der Schweiz stellt für Deutschschweizer seit jeher eine beliebte Feriendestination dar, und neben dem Erwerb von Zweitwohnungen war lange Zeit auch eine gewisse Zuwanderung durch Deutschschweizer zu vermerken. So liessen sich etwa in abgelegenen, von der Entvölkerung betroffenen Bergdörfern vereinzelt so genannte ‘ Aussteiger ’ (it. neorurali) aus der Deutschschweiz nieder, um in eher bescheidenen Verhältnissen zu leben (z. B. von der Ziegenhaltung). Zahlenmässig mehr ins Gewicht fällt der Häuserbesitz in gehobenen Wohnlagen mit Seesicht - z. B. in den Dörfern oberhalb von Locarno und Ascona - durch wirtschaftlich besser gestellte und oft im Pensionsalter stehende Personen. Die Region Locarno zeigte in der Auswertung der Volkzählung 2000 den höchsten Anteil von deutschsprachiger Bevölkerung; allerdings stellte auch hier der deutsche Monolingualismus eher die Ausnahme und die Zweisprachigkeit die Regel dar (Bianconi 2005: 207 - 227). Sprachliche Spannungen mit den Deutschschweizern können nicht zuletzt im Rahmen des Massen- und Tagestourismus entstehen, wenn etwa Besuchende mit Einheimischen auf Schweizerdeutsch - anstatt in der Standardsprache - kommunizieren. So erstaunt es nicht, dass in den letzten Jahrzehnten im Tessin zum Teil Ängste vor einer ‘ sprachlichen Überfremdung ’ oder ‘ Germanisierung ’ auftauchten (siehe z. B. Berruto und Burger 1987: 388, Moretti et al. 2021: 265). Als demographischer Gradmesser für eine solche allfällige ‘ Germanisierung ’ bieten sich die Nennungen des Italienischen und Deutschen als Hauptsprache in den Volkszählungen an (Wunderli 1968, Berruto und Burger 1985: 32 - 36, Bianconi 2005: 158 - 170). Betrachtet man dabei die Entwicklung in einigen besonders ‘ kritischen ’ Gemeinden, so lässt sich zwischen 1970 - 2000 aber eine gewisse ‘ Stabilisierung ’ feststellen, mit Ausnahme von sehr kleinen Dörfern wie z. B. dem abgelegenen Indemini (Bianconi 2005: 158 - 170). Für einzelne Gemeinden mit einem traditionell eher starken Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung kann im Gegenteil eine Zunahme des Italienischen vermeldet werden. Dies trifft z. B. auf die oberhalb von Locarno gelegene Ortschaft Orselina zu, die lange als absoluter Spitzenreiter des Deutschen galt. Während der Anteil der Italienischsprachigen in Orselina zwischen 1920 (54.7 %) und 1960 (47.2 %) auf einem zwar ziemlich niedrigen Niveau relativ konstant blieb (Wunderli 1968: 301), so sank dieser Prozentsatz zwischen 1970 und 1980 auf weniger als 40 %, um sich dann aber zwischen 1990 und 2000 wieder langsam der 50 %-Quote zu nähern (Bianconi 2005: 170); die Strukturerhebungen 2016 - 2020 ergeben nun sogar einen deutlich höheren Anteil der Italienischsprachigen von 66.0 % (BFS 2022b: 32), der natürlich auch auf die Möglichkeit, mehrere Hauptsprachen anzugeben, zurückzuführen ist. Im Tessin wurde in der Strukturerhebung 2010 - 12 von 11.0 % der Befragten Deutsch oder Schweizerdeutsch als Hauptsprache genannt; davon waren 5.0 % einsprachig und 5.9 % zweisprachig mit Italienisch (Moretti und Casoni 2016: 404). In Bezug auf die Sprachsituation im Kanton Tessin scheint die Schweizer Soziolinguistik heute die wenig alarmistische Haltung von Berruto und Burger (1985, 1987) übernommen zu haben, die bereits vor vierzig Jahren Entwarnung gegeben hatten (siehe in diesem Sinne Bianconi 1994: 18, Bianconi 2005: 166, Taddei Gheiler 2004: 52, Moretti et al. 2021: 265). Berruto und Burger waren in ihren Studien zum Schluss gekommen, dass das Italienische im Tessin in keiner der drei von ihnen betrachteten Dimensionen bedroht ist: Italienisch: Landessprache 133 <?page no="170"?> erstens besteht keine massive Zuwanderung durch Deutschsprachige, zweitens dringt das Deutsche - abgesehen vielleicht vom Tourismus - nicht in die soziolinguistischen Domänen des Tessiner Sprachrepertoires ein, und drittens sind die nicht sehr zahlreichen Einflüsse des Deutschen auf die sprachlichen Eigenheiten des Tessiner Regionalitalienischen aufgrund der gesellschaftlichen Realität zwar unvermeidbar, aber durchaus überschaubar. Wenn wir uns nun Italienischbünden zuwenden, so befindet sich das Italienische hier in einer dreifachen Minderheitsposition - nämlich gegenüber den anderen beiden Kantonssprachen, gegenüber dem Italienischen im Tessin und gegenüber den anderen Landessprachen (Moretti und Casoni 2016: 408). Trotzdem verfügt das Italienische in den Südbündner Tälern über eine deutlich stärkere Stellung als das Rätoromanische in seinem Gebiet, wenn man etwa die Hauptsprache in der Strukturerhebung 2010 - 12 betrachtet. Hier wurde das Italienische von 88.7 % der Befragten genannt, was in etwa der Situation im Tessin entspricht; allerdings liegen die Nennungen des Deutschen mit 14.6 % etwas höher als im Tessin mit 11.1 % (Moretti und Casoni 2016: 404, 408). Zudem lebten im gleichen Zeitraum von den 20 ’ 277 Personen mit Italienisch als Hauptsprache (ca. 10 % der Gesamtbevölkerung des Kantons) nur knapp mehr als die Hälfte (52.5 %) im angestammten Sprachgebiet, während die restlichen 47.8 % im deutsch - oder romanischsprachigen Teil des Kantons wohnten (Pandolfi et al. 2016: 280 - 281). Innerhalb des Kantons Graubündens hat der Anteil der Italienischsprachigen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zwar von 15.8 % im Jahr 1970 auf 10.2 % im Jahr 2000 abgenommen (Picenoni 2008: 10). Betrachtet man aber die vier Täler getrennt, so ergibt sich anhand der Volkszählungen von 1990 und 2000 ein relativ stabiles Bild: Puschlav (91 % von 4 ’ 427), Bergell (75 % von 1 ’ 503), Calanca (81 % von 809) und Misox (89 % von 6 ’ 662). Das Bergell scheint seit längerer Zeit die Region mit der höchsten Mehrsprachigkeit zu sein (Bianconi 1998), die ansatzweise mit der Situation in Romanischbünden vergleichbar ist. Eine besondere Stellung nimmt das zur Gemeinde Bregaglia gehörige Dorf Maloja ein (Grünert et al. 2008: 201 - 208), welches geographisch im Oberengadin liegt und bereits in den Volkszählungen 1990 und 2000 einen - im Vergleich zum Bergell insgesamt - höheren Anteil an Deutschsprachigen aufwies, nämlich 42 % und 37.5 % gegenüber 47.8 % und 53 % von Italienischsprachigen (Grünert et al. 2008: 201). Noch ausgeprägter ist die Mehrsprachigkeit in der geographisch im Oberhalbstein - d. h. in Mittelbünden - liegenden Ortschaft Bivio, wo der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung von 30.9 % im Jahr 1970 auf 55.4 % im Jahr 2000 anstieg, während derjenige der Italienischsprachigen von 50.4 % auf 29.4 % abnahm, ebenso wie derjenige der Romanischsprachigen von 18.3 % auf 12.3 % (Grünert et al. 2008: 220); die entsprechenden Prozentzahlen für 2014 ergeben 57.3 % für Deutsch, 25.5 % für Italienisch und 3.8 % für Bündnerromanisch. Im Gegensatz zu den anderen, eher kompakten italienischsprachigen Gegenden Graubündens fungiert bei Bivio der Julierpass eben gerade nicht als ‘ Sprachgrenze ’ (vgl. Adam-Graf 2023: 111). Die Geschichte des Begriffs Svizzera italiana wird in Morinini 2017, 2021, Morinini und Tomasin 2019 aufgearbeitet. Die Stellung des Deutschen im Tessin wird ausführlich diskutiert bei Berruto und Burger 1985, 1987, Taddei Gheiler 2004: 50 - 55, Moretti und Casoni 2016: 405, Moretti et al. 2021: 13 - 14. Die soziolinguistische Situation von Italienischbünden analysiert Picenoni 2008, während Grünert et al. 2008 die Ergebnisse einer umfassenden Studie über die Dreisprachigkeit im 134 Stephan Schmid <?page no="171"?> Kanton Graubünden darlegen. Eine soziolinguistische Bestandesaufnahme aufgrund der Strukturerhebung 2010 - 12 findet sich zudem bei Pandolfi et al. 2016: 271 - 303. Kristol 1984 untersuchte die Dynamik des Sprachkontakts innerhalb der mehrsprachigen Dorfgemeinschaft von Bivio. 2.2 Italienisch und Dialekt in der italienischsprachigen Schweiz Während also das Italienische in der Südschweiz seine Stellung gegenüber extraterritorialen Sprachen - insbesondere gegenüber dem Deutschen - wahren kann, so ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer starken Verschiebung im Gebrauch der lokalen Varietäten Italienisch und Dialekt gekommen. In der ersten soziolinguistischen Studie im Kanton Tessin wurden im Jahr 1976 mehr als 1 ’ 160 Personen in 25 Ortschaften zu ihrem Sprachverhalten befragt (Bianconi 1980: 17 - 21). Die modellhafte Untersuchung liefert einen detaillierten Einblick in die interne Differenzierung der Tessiner Sprachsituation vor 50 Jahren aufgrund von soziolinguistischen Variablen wie Region, Alter, soziale Schicht sowie Gesprächssituation. Die Ergebnisse belegen einen regen Dialektgebrauch auch in öffentlichen, nicht-familiären Bereichen (wie etwa im Freundeskreis, im Arbeitsplatz oder im Militär), der je nach sozialer Gruppe - z. B. bei über Sechzigjährigen oder in der Unterschicht - über 80 % der Befragten umfasst (Bianconi 1980: 69 - 122). Insgesamt ist der Mundartgebrauch - im Vergleich zum Italienischen - tendenziell höher im Sopraceneri als im Sottoceneri (vor allem in ruralen gegenüber urbanen Gemeinden), bei älteren Personen als bei Jüngeren, in der unteren sozialen Schicht als in der Oberschicht (letzteres trifft v. a. auch für Jugendliche in Berufsausbildung im Vergleich zu Studierenden an Hochschulen). Neben Italienisch oder Dialekt wurde von den Befragten auch häufig die Kombination ‘ Italienisch und Dialekt ’ gewählt: für die Kommunikation am Arbeitsplatz nannten in der Gesamtstichprobe 36.4 % Italienisch, 41.1 % Italienisch und Dialekt, 22.6 % Dialekt. Diese Prozentzahlen weisen auf einen häufigen Sprachwechsel (Code-switching) auch ausserhalb der Familie hin, wie er z. B. von Collovà und Petrini (1981 - 82) in einer Metzgerei in Comano (Bezirk Lugano) dokumentiert wurde (vgl. auch Moretti und Spiess 2002: 269). Interessanterweise wurde aber in einer 1996 durchgeführten Umfrage bei 56 Mittelschülern das Code-switching zwischen Italienisch und Dialekt eher negativ bewertet (Antonini und Moretti 2000: 80 - 84). Für die sprachliche Situation in den siebziger Jahren belegte diese erste soziolinguistische Studie im Tessin insgesamt einen deutlich höheren Gebrauch des Dialekts im Vergleich etwa zur benachbarten Region Lombardei (Berruto und Burger 1987: 369). Auf der anderen Seite wies die beträchtliche Variation innerhalb der Tessiner Bevölkerung - insbesondere das Sprachverhalten von jüngeren, sozial besser gestellten Personen in städtischen Wohngebieten - auf einen sich abzeichnenden Wandel hin in Richtung mehr Italienisch und weniger Dialekt. Nach Auffassung von Bianconi (1980: 121 - 121) entsprach die Sprachsituation des Tessins nicht mehr einer Diglossie gemäss der klassischen Definition von Ferguson (1959), sondern befand sich eher in einer Übergangsphase zwischen einer ‘ Diglossie mit gesellschaftlicher Zweisprachigkeit ’ und einer ‘ gesellschaftlichen Zweisprachigkeit ohne Diglossie ’ (vgl. Fishman 1972, Kapitel 6). In der Tat haben sich die in den siebziger Jahren erkennbaren Tendenzen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts fortgesetzt, wie die Daten der Volkszählung von 1990 und insbesondere von 2000 belegen. Am Arbeitsplatz und in der Schule verwendeten im Jahr 2000 56.2 % Italienisch: Landessprache 135 <?page no="172"?> Italienisch, 17.2 % Italienisch und andere Sprachen, 13.9 % Italienisch und Dialekt, während nur noch 4.1 % hauptsächlich Dialekt sprachen. Betrachtet man das Sprachverhalten in der Familie, so zeigten sich 2000 erneut regionale Unterschiede, da im Raum Lugano-Mendrisio (Sottoceneri) mehr Italienisch und weniger Dialekt gesprochen wird als im Raum Bellinzona-Locarno (Sopraceneri). Im ganzen Kanton Tessin lassen sich zudem vier ‘ geofunktionelle ’ Wohnzonen oder Kreise ausmachen: bewegt man sich von den Zentren und deren Umgebung in Richtung Hinterland und Berggebiete, so nimmt der Gebrauch des Dialekts zu, während umgekehrt der Gebrauch des Italienischen abnimmt - von einem Maximalwert von 61.1 % im Zentrum von Lugano bis zu einem Minimalwert von 26.1 % im Berggebiet von Bellinzona (Bianconi 2005: 191). Somit erstaunt es nicht, dass im Vergleich der Tessiner Daten von 2000 mit denjenigen der Strukturerhebung von 2010 - 12 die Angaben ‘ nur Italienisch ’ weiter gestiegen sind (von 41.4 % auf 45.3 %), während die Angaben ‘ nur Dialekt ’ drastisch von 16.0 % auf 12.1 % und die Nennungen ‘ Italienisch und Dialekt ’ leicht von 17.4 % auf 16.3 % gesunken sind. In den letzten 50 Jahren hat sich im Tessin das Verhältnis zwischen Dialekt und Hochsprache grundlegend verändert, so dass es sich heute fundamental von der Sprachsituation der Deutschschweiz unterscheidet. Vielmehr gleicht der Dialektabbau und die Zunahme des Italienischen innerhalb der Familie der allgemeinen statistischen Tendenz in Italien (Vietti und Dal Negro 2012). Der Unterschied zur Deutschschweiz und die Gemeinsamkeit mit Italien beruhen hauptsächlich auf der Existenz von monolingualen Sprechern des Italienischen und der Verwendung der Standardsprache in der Familie. Dementsprechend bezeichnen Moretti und Casoni (2016: 407) die Sprachsituation des Tessins nicht mehr als (Makro-)Diglossie, sondern als ‘ Dilalie ’ : mit diesem Begriff definiert Berruto (1987) die asymmetrische Konfiguration eines Sprachrepertoires, in welchem die Standardsprache nicht mehr ausschliesslich für formale Zwecke in öffentlichen Sprechsituationen vorbehalten ist, sondern zunehmend auch in informelle und persönliche Domänen vordringt (vgl. Baranzini und Casoni 2020). Italienischbünden unterscheidet sich vom Tessin nicht nur bezüglich der Stellung des Deutschen, sondern auch im Verhältnis zwischen Italienisch und Dialekt. In der Volkszählung 1990 wurde das Italienische ziemlich selten als Familiensprache angegeben (mit einem Minimalwert von 10.0 % im Bergell und einem Maximalwert von 17.1 % im ans Tessin grenzenden Kreis Roveredo), während der Dialekt sehr häufig genannt wurde (zwischen 40.7 % im Bergell und 52.3 % im ans Veltlin grenzenden Kreis Brusio); Italienisch und Dialekt wurden von 16.0 % im Bergell genannt und von 24.5 % im Calancatal (Bianconi und 1997: 229). Auch die Volkszählung 2000 ergab für Italienischbünden im Vergleich zum Tessin mit 17.5 % einen deutlich schwächeren Gebrauch des Italienischen in der Familie, während 43.5 % der Befragten den Dialekt und 17.6 % die Kombination von Italienisch und Dialekt nannten; wie Moretti (2008: 374) bemerkt, liegen diese Werte sehr nahe bei denjenigen des Veneto, der italienischen Region mit dem höchsten Mundartgebrauch. Einzig in Bivio zeigt sich ein deutlich anderes Bild aufgrund der starken Stellung der anderen Sprachen, während sonst eine relativ stabile Situation vorherrscht mit einer leichten Abnahme des ausschliesslichen Dialektgebrauchs und einer leichten Zunahme verschiedener Formen der Mehrsprachigkeit. Vergleicht man die Summen aller möglichen Nennungen für die Familiensprache in den Daten der Volkszählung 2000 und der Struk- 136 Stephan Schmid <?page no="173"?> turerhebung 2010 - 12, so bestätigt sich zwar die Tendenz einer leichten Verschiebung vom Dialekt zum Italienischen; dennoch überwiegt die Mundart nach wie vor klar gegenüber der Standardsprache. Zur Unterscheidung zwischen Sopraceneri und Sottoceneri siehe Schnyder 2017a/ b, Moretti und Spiess 2002: 261. Nach der Pilotstudie von Bianconi 1980 findet man spätere demolinguistische Daten zur Entwicklung des Gebrauchs von Italienisch und Dialekt im Kanton Tessin bei Bianconi und Antonini 1997: 208 - 222, Bianconi 2005: 182 - 206, Pandolfi et al. 2016: 229 - 270. Für den Kanton Graubünden findet man die entsprechenden Angaben bei Bianconi 1995: 222 - 232, 2005: 231 - 248, Pandolfi et al. 2016: 271 - 303, Casoni et al. 2021: 71 - 75. 2.3 Italo-romanische Dialekte im Tessin und in Graubünden Die Dialektlandschaft der italienischen Schweiz wurde seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv erforscht und dokumentiert. So stellt z. B. der von den Schweizer Romanisten Karl Jaberg und Jakob Jud veröffentlichte Sprach - und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS) ein Grundlagenwerk der italienischen Sprachgeographie dar, zu dem in den 1920er Jahren anhand eines ausführlichen Fragebuchs u. a. in 18 Ortschaften der italienischen Schweiz - davon 5 im Kanton Graubünden - umfangreiche Daten erhoben wurden (für neuere Forschung zum AIS siehe ► Donzelli_et_al_Band2). Als eigentlicher Begründer der Dialektologie in der italienischen Schweiz gilt jedoch der Tessiner Carlo Salvioni (1858 - 1920), der 1907 das Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana (VSDI) - eines der vier nationalen Wörterbücher der Schweiz - ins Leben rief. Von diesem dialektologischen und ethnographischen Grundlagenwerk sind seit 1952 neun Bände und 102 Faszikel erschienen. Zudem wurde 2004 das zweisprachige Wörterbuch Lessico dialettale della Svizzera italiana (LSI) in fünf Bänden veröffentlicht, in denen der Dialektwortschatz ins Italienische übersetzt wird; nützlich ist auch das vom LSI abgeleitete und 2013 veröffentlichte Repertorio italiano-dialetto (RID), welches umgekehrt von den italienischen Lemmata zu den Mundartwörtern führt. Seit 2002 ist das VSI zusammen mit einer Forschungsstelle für Ortsnamenforschung dem Centro di dialettologia e di etnografia (CDE) in Bellinzona angegliedert. Carlo Salvioni war auch Mitglied in der Leitenden Kommission des Phonogrammarchivs der Universität Zürich. Unter seiner Leitung entstanden 1929 in Bellinzona Dialektaufnahmen mit Sprechern aus 19 Tessiner Ortschaften, deren Ethnotexte in einer Neuausgabe vorliegen, einschliesslich einer Übersetzung ins Italienische, einer phonetischen Transkription sowie einer CD mit Tonaufnahmen (Bernardasci und Schwarzenbach 2016); vier ebenfalls in den 1920er Jahren entstandene Dialektaufnahmen aus Italienischbünden wurden separat publiziert (Bernardasci 2021). Eine weitere Neuausgabe enthält drei Tessiner Dialekttexte, die für die Landesausstellung 1939 aufgenommen worden waren (Glaser und Loporcaro 2012). Umfangreiche Sammlungen von mündlichen Dialekttexten entstanden ab den Siebziger Jahren zuerst unter dem Titel Dialetti svizzeri am Phonogrammarchiv und anschliessend in der Reihe Documenti orali della Svizzera italiana (DOSI) am CDE. Auf dem Web-Portal des Phonogrammarchivs kann man zudem dialektale Versionen des Paralleltexts Nordwind und Sonne aus 10 verschiedenen Tessiner und Bündner Ortschaften lesen und hören. Die in der italienischen Schweiz gesprochenen Mundarten sind lokale Varianten des Lombardischen, welches wie Piemontesisch, Emilianisch-Romagnolisch und Ligurisch zu Italienisch: Landessprache 137 <?page no="174"?> den so genannten gallo-italischen Dialekten gehört, die wiederum zusammen mit den venetischen Mundarten die Gruppe der norditalienischen Dialekte bilden. Alle Mundarten nördlich der Linie Rimini - La Spezia haben u. a. die lateinischen Doppelkonsonanten vereinfacht (vgl. it. mamma vs. lomb. mama), stimmlose intervokalische Verschlusslaute sonorisiert (vgl. it. ortica ‘ Brennessel ’ vs. lomb. urtiga) und die unbetonten Endvokale ausser - A getilgt (vgl. it. donna, uomo vs. lomb. dona, om). Aufgrund der letzten lautlichen Entwicklung sind viele Wörter, die im Italienischen zwei Silben aufweisen, in lombardischen Dialekten einsilbig, (vgl. it. forno ‘ Ofen ’ vs. lomb. forn, it. latte ‘ Milch ’ vs. lomb. lacc). Die zahlreichen Konsonantenverbindungen im Lombardischen haben auch einen Einfluss auf dessen Sprachrhythmus, der eher dem Bündnerromanischen als dem Standarditalienischen gleicht (Schmid 2023). Die Bezeichnung ‘ gallo-italisch ’ verweist auf den vermuteten Einfluss der in diesem Gebiet ansässigen Kelten auf das lokale Vulgärlatein, ähnlich wie bei den gallo-romanischen Varietäten in Frankreich und in der Schweiz. Analog zum Französischen haben sich z. B. in den meisten gallo-italischen Dialekten die lat. Vokale Ū / Ŏ zu ü/ ö entwickelt (vgl. it. luna vs. lomb. lüna, it. fuoco ‘ Feuer ’ vs. lomb. fök). Die lombardischen Dialekte können ihrerseits in drei Gruppen eingeteilt werden, nämlich ostlombardisch, westlombardisch und alpinlombardisch (Merlo 1960: 4), wobei der Fluss Adda die Grenze zwischen den ersten beiden Gruppen bildet. Mailand und Pavia liegen also im Westen, Bergamo und Brescia im Osten; alpinlombardische Dialekte werden in Italien in der Provinz Sondrio gesprochen. Die italo-romanischen Mundarten der Schweiz sind somit zum Teil westlombardisch (Sottoceneri und südliches Sopraceneri) und zum Teil alpinlombardisch (nördliches Sopraceneri und Italienischbünden). Die erwähnten lautlichen Charakteristika des Lombardischen treten in den meisten Tessiner und Bündner Dialekten auf, wobei sich in einzelnen Ortschaften ü/ ö wieder zu u/ o zurückgebildet haben (Moretti und Spiess 2002: 263). Zudem weisen verschiedene Mundarten z. T. recht komplexe Systeme von Vokalharmonie auf, in denen sich die Endvokale den betonten Stammvokalen anpassen - z. B. lunu ‘ Mond ’ in Chironico oder tère ‘ Erde ’ in Claro; beide Dörfer liegen in der Leventina (Delucchi 2016: 392, 415). Im ebenfalls verbreiteten Phänomen des Umlauts gehen umgekehrt morphologisch bedeutsame Vokalalternanzen in Stammsilben auf frühere Endvokale zurück, wie z. B. in Mendrisio denc ‘ Zahn ’ vs. dinc ‘ Zähne ’ (Lurà 1987: 52; vgl. Moretti und Spiess 2002: 263), wobei die phonetische Assimilation an den Endvokal - I der Pluralform aufgrund von dessen Schwund nicht mehr transparent ist. Zu den typischen lautlichen Merkmalen der alpinlombardischen Dialekte zählen einerseits die Palatalisierung von lat. C / G vor A und anderseits die Hebung von lat. betontem A zu / ɛ / (Salvioni 1907: 157; Moretti und Spiess 2002: 263); beide Phänomene erscheinen im Ausdruck i chjèuwri [i ˈ c ɛ u ̯ ri] ‘ die Ziegen ’ , der im Dialekt von Brugnasco (Airolo) belegt ist (Glaser und Loporcaro 2012: 118). Dieselben Lautwandelphänomene sind z. T. auch in anderen ‘ nordromanischen ’ Varietäten eingetreten wie etwa im Bündnerromanischen oder im Französischen (vgl. it. capre ‘ Ziegen ’ mit fr. chèvres). Einzelne alpinlombardische Mundarten weisen heute nur noch die Hebung von betontem A , nicht aber die Palatalisierung der velaren Verschlusslaute auf; dies ist z. B. der Fall von Olivone im Bleniotal, wie der Vergleich von [ ˈ v ɛː ka] ‘ Kuh ’ mit it. vacca zeigt (Bernardasci 2022: 21, 36). In anderen Dialekten, z. B. in Cavergno im Maggiatal, scheint der palatale Verschlusslaut [c] 138 Stephan Schmid <?page no="175"?> zumindest in der deutlich artikulierten Lesesprache noch erhalten zu sein, wie experimentalphonetische Untersuchungen zeigen (Bernardasci und Negrinelli 2018: 107 - 109). Lautlich konservativ sind einzelne Bündner Dialekte: in der Bergeller Mundart von Soglio sind lateinische Doppelkonsonanten erhalten geblieben (z. B. terra ‘ Erde ’ ; vgl. Loporcaro et al. 2005: 599), während die Bergeller und Puschlaver Dialekte in der Regel die lat. Konsonantenverbindungen mit l bewahrt haben: vgl. plén ‘ voll ’ und blanch ‘ weiss ’ mit it. pieno und bianco (Grassi 2008: 460 - 462). In der Morphologie sind Besonderheiten bei der Pluralbildung der Artikel zu vermerken. Viele Tessiner Dialekte verwenden den gleichen Artikel für weibliche und männliche Substantive, wie das obige Beispiel i chjèuwri [i ˈ c ɛ u ̯ ri] aus der Leventina zeigt. Feminine Pluralbildungen auf -n (vermutlich von der 3. Pluralform der Verben entlehnt) findet man in einzelnen Bündner Dialekten (Grassi 2008: 457 - 458): dieses Suffix tritt im Misox beim Nomen auf (la vacan ‘ die Kühe ’ ), im Bergell beim Artikel (lan vaca). In der Verbalmorphologie zeichnet sich der Puschlaver Dialekt durch den Erhalt von -s in der zweiten Person Singular aus: ta védas ‘ du siehst ’ , ta fas ‘ du machst ’ (Grassi 2008: 462). Ein sozio-linguistisches Kuriosum von Poschiavo bestand in der Existenz von zwei konfessionellen Dialektvarietäten, die sich sowohl im Wortschatz als auch in einigen Verbformen unterschieden (Grassi 2008: 462 - 463): So verwendeten die Katholiken für ‘ Tante ’ und ‘ Onkel ’ zia und ziu, die Reformierten hingegen amia und barba; Partizipien der ersten Konjugation endeten für Katholiken auf -ù, für Reformierte auf -à (z. B. guardù vs. guardà ‘ geschaut ’ ). Heute scheinen diese Unterschiede kaum noch vorhanden zu sein. An der Schnittstelle zur Syntax ist das Vorhandensein von sowohl betonten als auch unbetonten Subjektpronomen zu erwähnen, welches Tessiner und Bündner Mundarten mit den norditalienischen Dialekten insgesamt gemein haben: mi a mangi ‘ ich esse ’ , ti ta mangiat ‘ du isst ’ , lü/ le al/ la mangia ‘ er/ sie ist ’ usw. (siehe Spiess 1956, Lurà 1987: 154 - 155, Vassere 1993: 14 et passim, Moretti 1999: 94). Lurati (2000: 198) weist auf die analogen Strukturen im Französischen hin (moi je mange, toi tu manges); wichtig ist dabei zu erwähnen, dass in den lombardischen Dialekten die proklitischen Pronomen bei den meisten Personen gesetzt werden müssen, während sie im Standarditalienischen fakultativ sind (ø mangio, mangi, mangia usw.). Ein weiterer Unterschied zwischen den norditalienischen Dialekten und dem Standarditalienischen betrifft die Verwendung des bestimmten Artikels mit Possessivadjektiven und Vornamen: ul me óm, la me dona ‘ mein Mann, meine Frau ’ , ul Mario, la Maria (auf Italienisch mio marito, mia moglie sowie einfach Mario und Maria). Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, ausführlich auf Besonderheiten im Wortschatz der Dialekte eingehen zu wollen angesichts der sehr grossen lexikalischen Vielfalt, welche im VSI und insbesondere in den 21 bisher erschienenen Bänden der Reihe Le voci dokumentiert wird. So bringt ein kurzer Blick auf die Karte 614 des AIS für den Begriff ‘ Heidelbeere ’ mindestens fünf verschiedene lexikalische Typen ans Licht, von denen keiner mit it. mirtillo übereinstimmt. Unter dem Gesichtspunkt des Sprachkontakts können einige Germanismen in der Leventina (z. B. bría ‘ Brei ’ oder crúach ‘ Krug ’ ; vgl. Lurati 1976: 80) erwähnt werden, ebenso sowie bündnerromanische Lehnwörter im Bergell (z. B. davént ‘ fort ’ oder gügént ‘ gerne ’ ; vgl. Grassi 2008: 459). Aus soziolinguistischer Sicht zentral ist die heute weit verbreitete Ersetzung von traditionellen Dialektwörtern durch Lexeme, die dem Italienischen näherstehen. So ergibt Italienisch: Landessprache 139 <?page no="176"?> z. B. ein Vergleich der ursprünglichen AIS-Daten mit der neuen Erhebung im Rahmen des Projekts AIS, reloaded ( ► Donzelli_et_al_Band2) für zwei Verwandtschaftsbezeichnungen in mehreren Ortschaften eine klare Tendenz zur Relexifizierung: amia ‘ Tante ’ und gendru ‘ Schwiegersohn ’ sind im Lauf eines Jahrhunderts durch zia und géner ersetzt worden, wobei es sich im ersten Fall um einen anderen Worttyp und im zweiten Fall um eine phonotaktische Angleichung handelt (Loporcaro et al. 2021: 124 - 125). In einer variationslinguistischen Analyse der Ortsmundart von Cevio im Maggiatal beschreibt Michele Moretti (1988) ein dialektales Kontinuum, an dessen Polen zwei verschiedene Varietäten A und B stehen: zahlreiche lexikalische Dubletten vom Typus [c ɛ ]/ [ka] für ‘ Haus ’ belegen die Koexistenz des traditionellen alpinlombardischen Dialekts mit einer innovativen Varietät, die sich an der Tessiner koiné orientiert. Diese im Volksmund dialètt dala ferovia ‘ Eisenbahnerdialekt ’ genannte Varietät (a Marca 2021: 172) stellt einen Regionaldialekt dar, der sich entlang der Nord-Süd-Achse zwischen Airolo und Chiasso in der Akkomodation bei Sprechern aus verschiedenen Kantonsteilen entwickelt hat und sich linguistisch durch die Ersetzung lokaler Charakteristika mit weniger markierten, an urbanen Dialekten oder am Italienischen orientierten Formen auszeichnet (Petrini 1988: 32). Im Widerspruch zur allgemeinen Tendenz des Dialektabbaus zugunsten der Standardsprache stehen Erscheinungen, die auf eine Renaissance des Dialekts im Tessin hinweisen. So untersucht Bruno Moretti (1999) ‘ marginale ’ Dialektvarietäten bei drei Gruppen von Sprechern, die in abnehmenden Grad mit dem Dialekt vertraut sind; die letzte Gruppe besteht sogar aus eigentlichen L2-Sprechern, deren Dialekt z. T. typische Phänomene von Lernervarietäten aufweisen wie etwa die Auslassung der oben genannten proklitischen Subjektpronomina (Moretti 1999: 106 - 110). In diesem Zusammenhang ist zudem zu erwähnen, dass der Tessiner Dialekt mitunter auch in der Kommunikation in den sozialen Medien auftaucht, meistens allerdings in der Form von Code-switching mit der Basissprache Italienisch (Casoni 2011). Für einen Überblick zur Dialektlandschaft der italienischen Schweiz siehe Salvioni 1907, Lurati 1976: 11 - 103 und 2000: 197 - 208, Moretti und Spiess 2002: 261 - 265; ein Profil der Dialekte Italienischbündens wird von Grassi 2008 skizziert. 2.4 Die Regionalvarietät der italienischen Schweiz Neben der mündlichen Alltagskommunikation im Dialekt wurde in der Südschweiz seit Jahrhunderten auch die italienische Schriftsprache verwendet, wie u. a. die umfangreichen Forschungen des Locarneser Philologen, Sprachhistorikers und Soziolinguisten Sandro Bianconi anhand von Texten aus verschiedenen Jahrhunderten belegen (Bianconi 1989, 2001, 2009, 2013). So wurde während des Herzogtums Mailand im 15. Jahrhundert eine norditalienische Kanzleisprache geschrieben, die neben lateinischen und dialektalen Elementen auch Formen der sich herausbildenden Norm auf toskanischer Grundlage enthielt. Unter der anschliessenden Herrschaft der Urkantone wurde die Verbreitung der Schriftsprache v. a. durch die katholische Kirche gefördert, welche sich im Zug der Gegenreformation - ebenso wie die Reformatoren in Italienischbünden - am Modell der toskanischen Literatursprache orientierte. Nach der Erlangung der kantonalen Selbst- 140 Stephan Schmid <?page no="177"?> ständigkeit im 19. Jahrhundert setzte sich insbesondere der Lehrer und spätere Bundesrat Stefano Franscini für die öffentliche Bildung und den Italienischunterricht ein. Die Sprachvarietät der italienischen Schweiz - it. italiano della Svizzera italiana, von Baranzini und Casoni (2020) als ISIt abgekürzt - wird oft als ‘ Regionalitalienisch ’ (it. italiano regionale) bezeichnet - ein Begriff, der auch für die Regionalvarietäten Italiens verwendet wird und implizit auf die Gebietskörperschaften der Italienischen Republik Bezug nimmt (vgl. Canepari 1980, Cortelazzo und Mioni 1990). Auf die Schweiz bezogen spricht man in erster Linie von einem italiano regionale ticinese ‘ Tessiner Regionalitalienisch ’ (Lurati 1976: 119 - 129, Lurati 1992: 188), abgekürzt als IRT bei Petralli (1990), weniger häufig von einem ‘ Bündner Regionalitalienisch ’ (Moretti 2008: 376, Pandolfi 2009: 12). Andererseits kann man das ISIt aber auch als nationale oder ‘ staatliche ’ Varietät auffassen; so spricht Pandolfi (2009: 9 - 12) von einem italiano statale, welches dem Tessiner und dem Bündner Regionalitalienisch übergeordnet ist (vgl. auch Baranzini und Casoni 2020). Eigentlich kommt diese Auffassung bereits im Schema der Abb. 1 zum Ausdruck: so setzt allein schon der oberste Knoten im Baum (italiano in CH) implizit eine Differenzierung gegenüber einem nicht explizit genannten italiano in I voraus, so wie die Verzweigungen der linken Seite (Kategorien 1 - 4) auf eine innere Differenzierung des ISIt hinweisen. Auf das Schweizer Italienisch als ‘ staatliche Varietät ’ und das damit verbundene Konzept des Italienischen als einer ‘ plurizentrischen ’ Sprache soll im Zusammenhang mit dem italiano amministrativo e commerciale eingegangen werden (Kategorie 7 im Schema von Abb. 1). Auch wenn vor allem im lexikalischen Bereich ‘ regionales ’ (oder ‘ kantonales ’ ) Italienisch und ‘ staatliches ’ Italienisch (oder ‘ Bundesitalienisch ’ ) nicht immer leicht voneinander zu unterscheiden sind und sich im Gegenteil z. T. sogar deutlich überlappen, so soll an dieser Stelle zunächst eine regionale Perspektive eingenommen werden, die sich aufgrund der Forschungslage hauptsächlich auf das Tessiner Italienisch fokussiert. Aus Platzgründen können hier nur wenige Eigenschaften in der Aussprache und im Wortschatz, z. T. aber auch in der Grammatik und der Textgestaltung erwähnt werden. Fast am einfachsten lässt sich das Tessiner Regionalitalienisch auf der lautlichen Ebene beschreiben, wo das dialektale Substrat am deutlichsten in Erscheinung tritt (vgl. Bianconi 1980: 124 - 128, Taddei Gheiler 2004: 37 - 38, Baranzini und Casoni 2020). So gesehen stellt das Tessiner Italienisch eine Variante der lombardischen Regionalvarietät dar, mit welcher es viele Charakteristika teilt (vgl. Bianconi 1980: 124 - 128, Heinz und Schmid 2021: 156 - 168). Zum Beispiel ist wie in Mailand die Verteilung der betonten vorderen Mittelvokale é und è aufgrund der Position im Wort vorhersehbar: das geschlossene é erscheint wortintern in offener Silbe und vor Nasalkonsonant (also in béne ‘ gut ’ und témpo ‘ Zeit ’ im Gegensatz zur Standardaussprache bène und tèmpo), während das offene è wortintern in geschlossenen Silben und am Wortende in offenen Silben auftritt (also in dètto ‘ gesagt ’ und perchè ‘ warum ’ im Gegensatz zur Standardaussprache détto und perché; vgl. Antonini und Moretti 2000: 15). In Bezug auf die Unterscheidung zwischen stimmlosem und stimmhaftem s herrschen die gleichen Verhältnisse wie in ganz Norditalien: der Sibilant ist stimmhaft zwischen Vokalen und vor stimmhaften Konsonanten (z. B. in casa ‘ Haus ’ oder Svizzera), in anderen Umgebungen ist er stimmlos (z. B. in strada ‘ Strasse ’ oder penso ‘ ich denke ’ ). In einem Wort wie penso realisieren manche Sprecher aber / s/ als / ts/ - ein Phänomen, das in der Lombardei fehlt und eher für Mittelitalien typisch ist. Wie in weiten Italienisch: Landessprache 141 <?page no="178"?> Teilen Norditaliens wird im Tessin wortfinales n manchmal velar ausgesprochen wie das deutsche Graphem ng (z. B. in non è [no ŋ ɛ ] ‘ ist nicht ’ ). Ebenso neigen ältere dialektnahe Sprecher zur Kürzung der Langkonsonanten in Wörtern wie detto [ ˈ d ɛː to] ‘ gesagt ’ (anstatt [ ˈ det ː o]) oder pesce [ ˈ pe ːʃ e] ‘ Fisch ’ (anstatt [ ˈ pe ʃː e]). Der Konsonant r wird von einigen Sprechern mit dem Halszäpfchen artikuliert (was man auch in gewissen Gegenden der Lombardei oder im Piemont beobachten kann), während in Italien die vordere Artikulation mit der Zungenspitze vorherrscht. Mit der Lombardei teilt die Tessiner Aussprache die Tendenz, intervokalisches v in Wörtern wie lavoro ‘ Arbeit ’ zu schwächen oder ganz zu tilgen (Bianconi 1980: 126, Sanga 1984: 18). Als einen der auffälligsten Aspekte des Tessiner Regionalitalienischen bezeichnete schon Bianconi (1980: 128) die Phonologie auf Satzebene; allerdings fehlen bis heute Beschreibungen der charakteristischen Satzmelodie - eine Lücke, die anhand der mittlerweile verfügbaren technischen Mittel (kostenfreie Software) und der beträchtlichen Fortschritte sowohl in der internationalen als auch in der italienischen Prosodieforschung jetzt geschlossen werden könnte. Weniger betroffen scheint insgesamt die morposyntaktische Ebene zu sein. So lassen sich einige Phänomene ausmachen, die zwar durchaus im Tessineritalienischen auftreten, daneben aber auch in norditalienischen Regionalvarietäten anzutreffen sind oder eher allgemein dem Substandard - dem so genannten italiano popolare - zugeordnet werden können (siehe dazu Bianconi 1980: 127 - 148, Taddei Gheiler 2004: 38 - 40, Moretti 2011: 1437, Baranzini und Casoni 2020). Interessante Forschungsperspektiven eröffnen sich durch mehrere korpusbasierte Analysen der Texte von drei Tessiner Tageszeitungen, die im Sammelband Linguisti in contatto erschienen sind (Moretti et al. 2009: 239 - 367; siehe insbesondere Ferrari 2009). Im Vergleich zur Zeitungssprache in Italien unterscheidet sich die Prosa der Tessiner Blätter anhand einer Reihe von sprachlichen Parametern. So zeigt sich z. B. eine Präferenz für aus Nominalphrasen bestehende Titel sowie allgemein für kürzere und eher lineare syntaktische Strukturen, die nur beschränkt Elemente der gesprochenen Sprache aufnehmen. Insgesamt neigt der Schweizer Stil weniger zu rhetorischer Brillanz als zu einer gewissen Sachlichkeit, welche der Verständlichkeit der Texte zuträglich ist. Die italienische Sprache zeigt eine beträchtliche regionale Variation nicht nur auf der Ebene der Aussprache (Canepari 1980; Heinz und Schmid 2021: 156 - 171), sondern vor allem auch im Wortschatz. Die grosse Anzahl und Vielfalt von Heteronymen (also von Begriffen, für die in den Regionen unterschiedliche Wörter gebraucht werden) wurde zum ersten Mal exemplarisch vorgeführt in der bahnbrechenden Zürcher Dissertation von Robert Rüegg (1956), die erst 60 Jahre später von Sandro Bianconi ins Italienische übersetzt wurde. Zum Beispiel sagt man für ‘ Wassermelone ’ in Süditalien cocòmero und in Norditalien angùria, so wie die ‘ Ente ’ im Süden pàpera und im Norden ànatra heisst; besonders lang ist die Liste der Heteronyme für den Begriff ‘ die Schule schwänzen ’ . Das ISIt nimmt natürlich an diesen makroregionalen Unterschieden im italienischen Wortschatz teil, weist darüber hinaus aber einige lexikalische Besonderheiten (Helvetismen oder Ticinesismi) auf, die in der Kommunikation zwischen Schweizern und Italienern zu Missverständnissen führen können und auch als Kuriosa in populärwissenschaftlichen Publikationen erörtert werden; vgl. das von den Journalisten Savoia und Vitale (2008) 142 Stephan Schmid <?page no="179"?> veröffentlichte Wörterbuch Svizzionario (einer Wortverschränkung aus Svizz(era) und (d) izionario). Die lexikalischen Besonderheiten des schweizerischen Italienisch sind einerseits durch Sprachkontakt bedingt (insbesondere mit dem Deutschen und dem Französischen), entspringen andererseits aber auch der faktischen Notwendigkeit, Dinge und Begriffe zu benennen, die in Italien nicht existieren. Aus formaler Sicht kann man vier Kategorien von lexikalischen Regionalismen unterscheiden: 1. nicht integrierte Lehnwörter, 2. semantische Lehnprägungen (ein Wort existiert zwar auch im in Italien verwendeten Italienischen, erhält aber in der Schweiz aufgrund des Einflusses einer Kontaktsprache eine neue Bedeutung), 3. Neubildungen durch Ableitung, 4. Lehnübertragungen (insbesondere mittels Komposita). Betrachten wir die erste Kategorie von Regionalismen, also die eigentlichen Lehnwörter, so erstaunt zunächst, dass ins Italienische integrierte Dialektalismen nicht sehr zahlreich zu sein scheinen (Pandolfi 2006: 46 - 47). Ein interessantes Beispiel stellt das Gliederungssignal bon ‘ gut ’ (ausgesprochen als bong) dar, welches sowohl in den Tessiner Mundarten als auch im gesprochenen Italienisch relativ häufig erscheint und als eigentliche Modalpartikel unterschiedliche Bedeutungsnuancen aufweist (siehe Bianconi 1980: 150; Pandolfi 2009: 60 - 63). Als Einrichtungen mit einem gewissen Lokalkolorit und touristischem Mehrwert darf man grotto und mazza (nostrana) nennen. Das Substantiv grotto (oft auch mit Diminutiv grottino) bezeichnet in Norditalien meist einen Weinkeller, während es im Schweizer Italienischen die Zusatzbedeutung ‘ einfaches, rustikales Restaurant ’ aufweist (Petralli 1990: 102 - 103); grotto wird auch im Deutschen als Helvetismus verzeichnet (Ammon et al. 2016 2 : 296). Das Substantiv mazza hat im Italienischen die Grundbedeutung ‘ Keule ’ , bezieht sich im Tessin aber auf die Schlachtung des Schweins (meist in Verbindung mit dem Adjektiv nostrana ‘ hausgemacht ’ , ‘ aus der Gegend ’ ) und metonymisch auf die daraus gewonnenen Fleischerzeugnisse (Petralli 1990: 210). Im Bereich der Gastronomie findet man aber auch zahlreiche unveränderte Lehnwörter aus dem Deutschen und Französischen. Zum Beispiel bietet der Catering-Service des Bahnhofsrestaurants Bellinzona ein Bürli con Fleischkäse e cetriolini an, und auf vielen Speisekarten der italienischen Schweiz stösst man neben der Bratwurst auch auf französische Bezeichnungen wie Cervelat oder Raclette und Fondue. In solchen Fällen ist nicht nur das Wort, sondern die Speise selbst aus der Deutschschweiz bzw. der Romandie eingeführt worden. Aber auch ausserhalb des gastronomischen Wortschatzes findet man nicht integrierte Lehnwörter aus dem Deutschen für Gegenstände wie le rolladen (in Italien le tapparelle) oder lo schlafsack (in Italien il sacco a pelo); aus dem Französischen stammt die lavette ‘ Waschlappen ’ (it. salvietta). Neben der Übernahme von unveränderten Lehnwörtern aus den anderen Landesprachen sind als zweite Helvetismuskategorie die semantischen Lehnprägungen zu verzeichnen, bei denen bereits vorhandene italienische Wörter in Analogie zu verwandten Wörtern im Deutschen oder Französischen verwendet werden. Dies ist zum Beispiel der Fall beim Verb riservare und dem davon abgeleiteten Substantiv riservazione, das analog zum deutschen Reservation gebildet ist (welches seinerseits einen Helvetismus darstellt gegenüber Reservierung; vgl. Ammon et al. 2016 2 : 592); die in Italien verwendeten Lexeme Italienisch: Landessprache 143 <?page no="180"?> sind prenotare/ prenotazione und so erstaunt es nicht, dass die von Petralli (1990: 127) befragten italienischen Gewährspersonen vor allem das Substantiv riservazione rundweg ablehnten, während riservare/ riservazione im Tessin seit jeher eine hohe Akzeptanz aufweisen (Bianconi 1980: 181; Antonini und Moretti 2000: 126; Pandolfi 2006: 57; Filipponio 2017: 169). Ähnliche Beispiele sind accademico ‘ Akademiker bzw. Person mit Hochschulabschluss ’ (in Italien laureato, während das Substantiv accademico sich auf ein Mitglied einer Akademie bezieht) oder das umgangssprachliche posta für ‘ Postauto ’ . Im Tessin versteht man unter confederati ‘ Mit-Eidgenossen ’ (also Schweizer Bürger aus einem anderen Kanton), in Italien hingegen die Südstaaten im amerikanischen Sezessionskrieg. Das Wort germanico wird im Tessin als Substantiv für ‘ deutsche Staatsangehörige ’ verwendet und weniger als Adjektiv mit der Bedeutung ‘ germanisch ’ , so wie der Ausdruck Svizzera interna sich auf die ganze Deutschschweiz bezieht und nicht nur auf die Kantone der Innerschweiz im Sinne von ‘ Zentralschweiz ’ (Ammon et al. 2016 2 : 348). Aus dem Schulalltag sind nota ‘ Zeugnisnote ’ (it. voto) und pausa ‘ Pause ’ (it. intervallo) zu erwähnen (beide in Analogie zum Deutschen); in italienischen Schulen stellt die nota (disciplinare) einen Verweis dar. Als Beispiel für die dritte Kategorie von Helvetismen, die Neubildungen, mag das Wort mappetta dienen. Dabei handelt es sich um eine im Italienischen im Prinzip mögliche Ableitung durch Anfügen des Diminutivs -etta an das Substantiv mappa, was auf Italienisch allerdings nicht ‘ Mappe ’ , sondern ‘ Karte, Plan ’ bedeutet; unter mappetta versteht man im Tessin eine ‘ Klarsichthülle ’ (it. custodia trasparente), in Anlehnung an das schweizerdeutsche Mäppli. Eine ähnliche Neubildung ist cremino ‘ Kaffeerahm in kleinem Plastikbehälter ’ , der zum caffè crème (auch caffè tazza grande) serviert wird; der von crema abgeleitete Diminutiv cremino und der hybride Ausdruck caffè crème - ein Helvetismus übrigens auch im Schweizerhochdeutschen, vgl. Ammon et al. 2016 2 : 154) - existieren in Italien ebenso wenig wie die damit bezeichnete Art des Kaffeekonsums. Als Beispiel für die vierte Helvetismuskategorie, die morphologische Lehnübertragung, kann das bereits erwähnte ‘ Postauto ’ erwähnt werden, welches offiziell auto postale heisst; in Italien, wo die Postbetriebe keine Buslinien betreiben, bezeichnet man den Überlandbus meist als corriera. Insgesamt stellt der Wortschatz sicher die am besten untersuchte Strukturebene des Schweizer Italienischen dar. So findet man bei bereits bei Petralli (1990: 407 - 427) eine lange alphabetische Liste von Ticinesismi, die er sechs italienischen Gewährspersonen vorgelegt hatte, während auf der anderen Seite Bianconi (1980) und Antonini und Moretti (2000) die Akzeptanz häufiger Regionalismen bei Tessiner Informanten untersuchten. Neue methodische Wege in der Datenerhebung gehen Baranzini und Casoni mit ihrem Projekt lìdatè ‘ dort bei Dir ’ , welches das Ziel verfolgt, mittels crowdsourcing zu einer quantitativen Kartografierung der Regionalismen zu gelangen (www.lidate.ch). Ein Kapitel für sich stellen die gross angelegten empirisch-quantitativen Arbeiten von Elena Pandolfi dar. Bereits die detaillierte Vorstudie (Pandolfi 2006) enthält neben verschiedenen Wortlisten auch ein umfangreiches Korpus mit Transkripten von Radio- und Fernsehsendungen sowie von spontanen Gesprächen, während das auf einem Korpus von 400 ’ 000 Wörtern beruhende Lessico di frequenza dell ’ italiano parlato nella Svizzera italiana (LIPSI) ein eigentliches Frequenzwörterbuch zur Verfügung stellt. Die Analysen in 144 Stephan Schmid <?page no="181"?> Pandolfi (2009) sind nicht nur lexikologischer, sondern vielmehr auch korpuslinguistischer Natur: ein Vergleich mit Korpora aus Italien ergibt z. B. für das LIPSI eine höhere ‘ lexikalische Dichte ’ (berechnet als prozentualer Anteil der Inhaltswörter an der Gesamtzahl aller Wörter). Auch die in der bereits erwähnten Monografie von Antonini und Moretti (2000) veröffentlichten soziolinguistischen Studien zur Wahrnehmung des Regionalitalienischen gehen wesentlich über die Analyse des Wortschatzes hinaus: untersucht werden insbesondere die expliziten und impliziten Einstellungen von Tessiner Jugendlichen zu verschiedenen regionalen Varietäten des Italienischen (auch aus Italien). Daraus bestätigt sich das soziolinguistische Gesamtbild, wonach das Italienische sich im Tessin von einer ‘ Stiefmuttersprache ’ - wie der Titel lingua matrigna des Buchs von Bianconi (1980) suggeriert - zu einer ‘ Muttersprache ’ (lingua materna) im eigentlichen Sinn entwickelt hat (Antonini und Moretti 2000: 141). Einen Überblick zur Geschichte des Regionalitalienischen findet man auf Deutsch bei Lurati 2000: 185 - 196 sowie bei Bianconi 2009, eine etwas längere Abhandlung auf Italienisch bei Lurati 1992: 145 - 161. Petralli 1990 stellt die erste spezifische Studie zum Tessiner Wortschatz dar, dem später das quantitativ ausgerichtete Frequenzwörterbuch von Pandolfi 2009 folgte. Zum Wortschatz des Italienischen in der Südschweiz vgl. die ausführliche Abhandlung von Lurati 1976: 120 - 206, die empirische Untersuchung bei Bianconi 1980: 150 - 176 sowie die umfangreiche Arbeit zum Tessiner Regionalitalienischen von Petralli 1990. Neueren Datums sind die korpusbasierten Analysen von Pandolfi 2006 und 2009. Nützliche Zusammenfassungen bieten Taddei Gheiler 2004: 40 - 47 und Moretti 2011: 1436 - 1437. 3 Italienisch als Landes- und Amtssprache Die oben erwähnten Helvetismuskategorien 2), 3) und 4) (semantische Lehnprägungen und morphologische Lehnbildungen) sind nicht nur typisch für das Regionalitalienische der Südschweiz, sondern geradezu konstitutiv für das italiano amministrativo e commerciale (Kategorie 7 im Schema der Abb. 1), welches zwar einen integralen Bestandteil - gewissermassen eine Untermenge - des ISIt oder IRT darstellt, daneben aber auch auf der anderen Seite des Gotthardpasses erscheint und sogar nicht unwesentlich ausserhalb des eigentlichen Territoriums der italienischen Schweiz geprägt wird, wie der Pfeil im Schema der Abb. 1 andeutet. Während die Regionalismen im Wortschatz des ISIt sich im Prinzip auf alle Bereiche der aussersprachlichen Wirklichkeit beziehen können, verweist die von Berruto (2012) in seinem Vortrag verwendete Umschreibung amministrativo e commerciale auf eine Fachsprache im weitesten Sinne, die eigentlich aus zwei Sphären besteht - einer ‘ amtlichen ’ und einer ‘ kommerziellen ’ . Berruto (1984) hatte die lexikalischen Besonderheiten dieser beiden fachsprachlichen Register unter den Oberbegriff italiano elvetico gestellt. Allerdings wurde die einschlägige Terminologie in der späteren Fachliteratur zum Teil recht unterschiedlich gehandhabt, wie derselbe Autor (2012: 4) zusammenfassend in einem zweiten Schema festhält: Italienisch: Landessprache 145 <?page no="182"?> Abb. 2: Mögliche Konzeptualisierungen des Verhältnisses zwischen italiano elvetico (IE) und italiano della Svizzera italiana (ISI). Quelle: Berruto 2012: 4 Im Fall A ist die Regionalvarietät der italienischen Schweiz (ISI) Teil einer nationalen Varietät (IE), während im Fall B - wie vorher angedeutet - das IE als Fachsprache eine Untermenge des Italienischen der Südschweiz bildet; im Fall C haben IE und ISI nur eine relativ kleine Schnittmenge. In einer vierten Perspektive wären IE und ISI deckungsgleich: so schlägt Pandolfi (2006: 11) vor, im Gegensatz zu Berruto unter italiano elvetico das ‘ Italienisch der italienischen Schweiz ’ zu verstehen (also das ISIt von Baranzini und Casoni 2020), während man für die Kategorie 7 im Schema 1 den Terminus italiano federale - gewissermassen ‘ Bundesitalienisch ’ - verwenden soll, der ursprünglich von Lurati (1976: 170) in einer Fussnote eingeführt wurde; diesem Vorschlag schliessen sich Moretti und Casoni (2016: 402) an. Der Begriff italiano federale wird jedoch von Egger und Ferrari (2016: 499) in einem engeren Sinne gebraucht, nämlich ausschliesslich für das von den politischen Behörden und der Verwaltung der Schweizerischen Eidgenossenschaft verwendete Italienisch (vgl. auch Egger 2019). Einen Ausweg aus diesem terminologischen Dilemma bietet vielleicht der kürzlich von Angela Ferrari vorgeschlagene Ausdruck italiano istituzionale ‘ institutionelles Italienisch ’ , der sich auf sprachliche Besonderheiten im Gebrauch des Italienischen bei kantonalen und nationalen Behörden in der Schweiz bezieht. Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die zentralen Sprachdienste der Bundeskanzlei (Cancelleria federale, abgekürzt CaF), welche die Ergebnisse von angewandter linguistischer Forschung umsetzen in Leitlinien für das Verfassen von amtlichen Texten; beispielhaft sei hier auf verschiedene Beiträge im Sammelband von Egger et al. (2013) sowie auf die Monografie von Egger (2019) verwiesen. Aus soziolinguistischer Sicht drängt sich an dieser Stelle eine Bemerkung zum Konzept der ‘ plurizentrischen ’ Sprachen auf, welches zuerst von Ammon (1989, 2005) und, mit Bezug auf Kloss (1978), von Clyne (1989, 1992) sowie später insbesondere auch von Muhr (2012) propagiert worden ist. Bemerkenswerterweise fehlte das Italienische lange in der Liste der als plurizentrisch bezeichneten Sprachen - im Gegensatz zu den beiden Schweizer Landessprachen Deutsch und Französisch, denen im von Clyne (1992) herausgegebenen Sammelband je ein Kapitel gewidmet ist. Der Vorschlag von Pandolfi (2009: 107), das Italienische als plurizentrische Sprache zu betrachten, wurde von Berruto (2011) zum Anlass genommen, die explizite Frage italiano lingua pluricentrica? zu stellen und nach Abwägung verschiedener Überlegungen schlussendlich positiv zu beantworten. Ausschlaggebend ist dabei einerseits der Umstand, dass die Schweiz und Italien in der Tat zwei verschiedene Staaten (und somit zwei verschiedene ‘ kulturelle Zentren ’ mit 146 Stephan Schmid <?page no="183"?> unterschiedlicher ‘ nationaler Identität ’ ) darstellen, andererseits aber auch die Feststellung, dass die strukturellen und soziolinguistischen Mechanismen des italiano elvetico sich von denjenigen der italienischen Regionalvarietäten unterscheiden. Zum gleichen Schluss kommt Hajek (2012: 163), wobei er im Kielwasser von Ammon (2005: 297) und Muhr (2012) das Schweizer Italienisch als ‘ nicht-dominant ’ bezeichnet im Gegensatz zur ‘ dominanten ’ Varietät Italiens. Gemäss Moretti und Pandolfi (2019: 4) nimmt das schweizerische Standarditalienisch auf der von Ammon (1989: 90 - 92) vorgeschlagenen vierstufigen Endonormativitätsskala für plurizentrische Sprachen die schwächste Position ein, nämlich diejenige eines ‘ rudimentären Zentrums ’ . Auf jeden Fall scheint der plurizentrische Charakter der italienischen Sprache noch nicht im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit angekommen zu sein; immerhin führt die Ausgabe 2012 des einsprachigen Wörterbuchs Zingarelli 34 Helvetismen an, die in Pandolfi (2017: 356 - 357) aufgelistet werden. Diese nicht-dominante staatliche Varietät des Schweizer Italienisch soll in der Folge nochmals anhand einiger weniger lexikalischer Besonderheiten illustriert werden, wobei die Helvetismen hier weniger Regionalismen als eigentliche statalismi im Sinne von Pandolfi (2009) darstellen. Diese sind allerdings nicht auf das politische Vokabular des italiano istituzionale beschränkt, sondern umfassen durchaus auch Begriffe des alltäglichen Gebrauchs, wie der Terminus italiano amministrativo e commerciale im Schema der Abb. 1 andeutet. Der Einfachheit halber verwenden wir als Synonym dafür den ursprünglich von Berruto (1984) geprägten Begriff des italiano elvetico. Zwei Mechanismen liegen der Schöpfung von lexikalischen Helvetismen zugrunde. Einerseits besteht eine Notwendigkeit, Dinge und Begriffe zu bezeichnen, die in Italien nicht vorhanden sind. Andererseits zeigt sich ein Bedürfnis, auch auf der Ausdrucksebene möglichst nahe an den anderen Landessprachen zu sein, so dass der innerschweizerischen Verständlichkeit mehr Gewicht zukommt als der Kompatibilität mit der dominanten Varietät Italiens. In diesem Zusammenhang spricht Berruto (1984) von ‘ panhelvetischen Tripletten ’ : gemeint ist die Tatsache, dass für den gleichen Begriff in den drei Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch möglichst ähnliche Termini verwendet werden. Von den vier formalen Kategorien von Helvetismen, die für das Tessiner Regionalitalienisch unterschieden wurden, sind die nicht integrierten Lehnwörter (Kategorie 1) im italiano elvetico praktisch nicht existent. Hingegen findet man zahlreiche semantische Lehnprägungen (Kategorie 2), bei denen ein Lexem eine andere Bedeutung erhält als in Italien. Nicht besonders verbreitet sind Neubildungen mittels derivationeller Suffixe (Kategorie 3), während Lehnübertragungen insbesondere von Komposita (Kategorie 4) wohl den Löwenanteil der lexikalischen Besonderheiten des helvetischen Italienisch ausmachen. Als ein Beispiel für das italiano commerciale kann das Wort azione angeführt werden, welches auf Italienisch eigentlich ‘ Aktion, Handlung ’ bedeutet, von den Schweizer Grossverteilern im Sinne von ‘ Sonderangebot mit reduziertem Preis ’ verwendet wird; es handelt sich um eine semantische Lehnprägung analog zum schweizerhochdeutschen Aktion, aber eigentlich besteht keine wirkliche Notwendigkeit für die Einführung dieses Helvetismus, da auch der in Italien geläufige Ausdruck offerta speciale zur Verfügung stünde. Das Angebot der Schweizerischen Bundesbahnen enthält hingegen eine Reihe von Begriffen, die im italienischen Tarifsystem nicht vorhanden sind und deshalb mit Lehn- Italienisch: Landessprache 147 <?page no="184"?> übertragungen ausgedrückt werden müssen, so etwa abbonamento generale ‘ Generalabonnement ’ , abbonamento metà-prezzo ‘ Halbtaxabonnement ’ oder carta giornaliera ‘ Tageskarte ’ ; für die Benutzung von Schweizer Autobahnen muss eine in Italien nichtexistierende vignetta autostradale ‘ Autobahnvignette ’ gekauft werden. Aus dem Bereich der Sozialversicherungen stammen Lehnübertragungen wie cassa malati ‘ Krankenkasse ’ (in Italien: mutua) oder drei Ausdrücke für die obligatorische private Altersvorsorge: cassa pensione ‘ Pensionskasse ’ , previdenza professionale ‘ berufliche Vorsorge ’ und secondo pilastro ‘ zweite Säule ’ . Als letztes Beispiel aus dem bürokratischen Alltag soll das schweizerische formulario ‘ Formular ’ erwähnt werden, dem in Italien ein modulo entspricht (vgl. u. a. auch ► Spanisch). Bei der Benennung von politischen Institutionen der Schweiz findet man typischerweise eine Reihe von Lehnübertragungen bzw. von triplette panelvetiche. Dies betrifft z. B. die Schweizer Regierung Consiglio federale ‘ Bundesrat ’ und die Regierungen des Kantons Tessin (Consiglio di Stato ‘ Staatsrat ’ ) und des Kantons Graubünden (Governo ‘ Regierung ’ ), ebenso die Parlamente auf Bundesebene (Consiglio nazionale ‘ Nationalrat ’ - in der Pressesprache manchmal auch elliptisch il Nazionale genannt - und Consiglio degli Stati ‘ Ständerat ’ ) sowie auf Kantonsebene (Gran Consiglio ‘ Grosser Rat ’ in der Repubblica e Cantone Ticino und im Kanton Graubünden). Die Regierungsmitglieder stehen einem Dipartimento ‘ Departement ’ vor, wofür in Italien die Bezeichnung Ministero ‘ Ministerium ’ verwendet wird (Dipartimento bezeichnet dort entweder eine Abteilung eines Ministeriums oder ein Universitätsinstitut). Ein Kuriosum des Schweizer Standards sowohl im Italienischen als auch im Deutschen sind la trattanda ‘ das Traktandum ’ und die lista delle trattande ‘ Traktandenliste ’ , im Gegensatz zu den in Italien und Deutschland geläufigen ordine del giorno ‘ Tagesordnung ’ bzw. punto all ’ ordine del giorno ‘ Punkt auf der Tagesordnung ’ . Zum politischen Alltag gehören zudem die iniziativa popolare ‘ Volksinitiative ’ , womit die Stimmberechtigen einen Vorschlag für eine Teilrevision der Bundesverfassung zur Volksabstimmung bringen können, sowie das postulato ‘ Postulat ’ , mit dem Parlamentsmitglieder die Regierung beauftragen können, gewisse Massnahmen zu prüfen. Auch die dritte formale Kategorie der Helvetismen, die morphologischen Neubildungen, sind im politischen Sprachgebrauch gut vertreten, wie die folgenden zwei Beispiele zeigen: controprogetto ‘ Gegenvorschlag ’ (z. B. des Parlaments auf eine Volksinitiative), cantonalizzazione ‘ Kantonalisierung ’ , d. h. die Übertragung einer öffentlichen Aufgabe an den Kanton (anstatt z. B. an eine politische Gemeinde). Staatlichen und normativen Charakter hat auch die Terminologie der Schweizer Armee, für deren italienische Bezeichnung die panhelvetische Triplette aber aufgelöst wurde zugunsten des exonormativen Esercito svizzero, welches sich gegenüber dem früher gebräuchlichen Armata svizzera durchgesetzt hat. Die verschiedenen Phasen der Wehrdienstpflicht werden jedoch mit Helvetismen bezeichnet wie im Fall der scuola reclute ‘ Rekrutenschule ’ und des corso di ripetizione ‘ Wiederholungskurs (WK) ’ , deren Absolvierung im libretto di servizio ‘ Dienstbüchlein ’ der Armeeangehörigen festgehalten wird. An der Schnittstelle zwischen Politik und Privatwirtschaft findet man einige Helvetismen in der Terminologie der so genannten ‘ Sozialpartnerschaft ’ (partneriato sociale). Bestandteile dieser seit 1937 angewandten Praxis, die als ‘ Arbeitsfrieden ’ (pace del lavoro, auch pace sociale) bezeichnet wird, sind etwa der ‘ Gesamtarbeitsvertrag ’ (contratto collettivo di lavoro, CCL) sowie der ‘ Landesmantelvertrag ’ (contratto nazionale mantello, 148 Stephan Schmid <?page no="185"?> CNM), die von den ‘ Sozialpartnern ’ (partner sociali) - d. h. den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften - ausgehandelt werden. Neben diesen technischen Termini, die Lehnübertragungen aus dem Deutschen darstellen, weist der gewerkschaftliche Diskurs auf Italienisch auch einige weitere Helvetismen auf, die aufgrund von semantischen Lehnprägungen entstanden sind (Schmid 1982): darunter fallen z. B. collega ‘ Kollege ’ (= Gewerkschaftsmitglied), partecipazione ‘ betriebliche Mitbestimmung ’ und branca im Sinne ‘ Branche, Wirtschaftssektor ’ (in Italien wird branca eher für eine Teildisziplin einer Wissenschaft verwendet). In einer neueren Arbeit zum italiano elvetico untersucht Filipponio (2017) die Akzeptanz von 128 Helvetismen bei 81 Informanten unterschiedlichster Herkunft - von monolingualen Deutschschweizern und bilingualen Italienern der zweiten Generation in der Deutschschweiz über Tessiner bis zu Grenzgängern im Tessin und Informanten aus der Lombardei und der Toskana. Je nach lexikalischem item zeigen sich verschiedene Kontinua zwischen den Gruppen, wobei tendenziell die Akzeptanz der Helvetismen bei den in der Deutschschweiz ansässigen Informanten am höchsten und bei den in Italien lebenden Personen am niedrigsten ist. Bei einigen Ausdrücken - etwa treno a destinazione di Lugano (eine Lehnübertragung aus dem französischen train à destination de … ) ergibt sich jedoch ein klarer Gegensatz zwischen ‘ Schweizern ’ und ‘ Italienern ’ (Filipponio 2017: 166). In den letzten Jahren hat sich die Forschung zum italiano istituzionale von der rein lexikalischen Betrachtungsweise in eine andere Richtung entwickelt, die sowohl korpuslinguistische als auch textlinguistische oder pragmatische Methoden und Perspektiven miteinbezieht. An erster Stelle ist hier das Korpus It - Ist_CH zu nennen, welches unterschiedliche Textsorten umfasst wie u. a. Gesetze und Verordnungen des Bundes und der Kantone Tessin und Graubünden, Parlamentsdebatten, Internetauftritte, Pressemitteilungen, Mitteilungen in den sozialen Medien sowie Urteile des Bundesgerichts und des Tessiner und Bündner Obergerichts (Ferrari et al. 2022). Untersucht wird zum Beispiel die Kommunikation der Behörden während der COVID-Pandemie (Kunz 2022, Ferrari 2024), die Verständlichkeit von Gesetzestexten (Canavese 2022) oder von Sprachmaterialien im Zusammenhang mit der beruflichen Vorsorge (Felici und Griebel 2022). Der ‘ Urtext ’ zum italiano elvetico ist Berruto 1984. Einzelne Studien findet man u. a. in einem thematischen Heft der Zeitschrift Studi Italiani di Linguistica Teorica e Applicata (XLV, 3, 2016) sowie in den drei vom OLSI herausgegebenen Sammelbänden Linguisti in Contatto. 4 Die dritte Landessprache der Schweiz: staats- und bildungspolitische Aspekte Das Gesamtbild der italienischen Sprache in der Schweiz - einschliesslich der lombardischen Mundarten - zeugt von einer vielfältigen Dynamik und Lebendigkeit. Insbesondere verfügt die dritte Landessprache in ihrem angestammten Territorium über eine starke Position, weshalb die Angst vor einer «schleichenden Germanisierung» (Lurati 2000: 210) heute nicht mehr sehr verbreitet zu sein scheint. Diese gefestigte Stellung des Italienischen in seinem Sprachgebiet (insbesondere im Tessin) ist zwar mit einem Rückgang des Dialektgebrauchs verbunden, welcher jedoch den allgemeinen Tendenzen im italienischen Sprachraum folgt. Auch im Rahmen des dreisprachigen Kantons Graubünden halten sich sowohl das Italienische als auch die lombardischen Dialekte, wobei Italienisch: Landessprache 149 <?page no="186"?> gewisse Unterschiede bestehen zwischen dem ans Tessin grenzenden Bezirk Moesa und den anderen Südbündner Tälern. Nichtsdestotrotz gab die Stellung der dritten Landessprache immer wieder Anlass zur Besorgnis, insbesondere in Bezug auf ihr Gewicht in der nationalen Politik sowie auf den Italienischunterricht in den anderssprachigen Landesteilen. So hielt Lurati (2000: 210) das Italienische in der Schweiz für «eine Sprache zwischen formeller Anerkennung und tatsächlicher Marginalisierung» und sprach von einem «krasse(n) Ungleichgewicht zwischen Rechtsgleichheit und Chancengleichheit». Verschiedene Exponenten der Zivilgesellschaft setzen sich mit Nachdruck für die Förderung des Italienischen innerhalb der viersprachigen Schweiz ein; als Beispiele können die Veröffentlichungen des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Renato Martinoni (2010, 2011) sowie die Tätigkeit der privatrechtlichen Vereinigung Coscienza Svizzera genannt werden. Das 2012 von den Kantonen Tessin und Graubünden gegründete Forum per l ’ italiano in Svizzera operiert als Dachorganisation, der zahlreiche staatliche und nicht-staatliche Institutionen angehören, darunter die Vereinigung der Italienisch-Lehrpersonen in der Schweiz (ASPI). Einzelne Bestrebungen gegen den Abbau des Italienischunterrichts nördlich des Gotthards waren zum Teil erfolgreich: so konnte zum Beispiel im Jahr 2011 das Italienischangebot in den Gymnasien des Kantons St. Gallen erhalten werden; ebenso lehnten die Stimmberechtigten des Kantons Graubünden 2018 eine Volksinitiative ab, welche nur eine Fremdsprache an der Primarschule einführen wollte (wodurch der Italienischunterricht zugunsten des Englischen zurückgedrängt worden wäre). In dieser Situation übt das Osservatorio linguistico della Svizzera italiana eine wichtige Funktion aus. Das OLSI betreibt einerseits Grundlagenforschung, wodurch es insbesondere einen Index von Indikatoren für die Messung der Vitalität einer Minderheitssprache erarbeitet hat (Moretti et al. 2011, Casoni et al. 2018). Mit diesem Instrument kann man die Lage des Italienischen der Schweiz empirisch überprüfen und allfällige kritische Bereiche eruieren (Casoni et al. 2021). Die entwickelten Indikatoren sind z. T. ‘ demolinguistisch ’ (z. B. die Entwicklung der Anzahl von Personen, die Italienisch als Primär- oder Sekundärsprache verwenden), sie betreffen aber auch die Rolle des Italienischen als Amtssprache, die Verfügbarkeit von Italienischunterricht in der gesamten Schweiz und die Präsenz des Italienischen im Kulturangebot. Für die Deutschschweiz hat man z. B. festgestellt, dass eine gewisse Zahl von Personen das Italienische zwar als ‘ Kindheitssprache ’ nennen, es im Erwachsenenalter aber als ‘ Sekundärsprache ’ einstufen. Zum Schluss sind auch innovative Ansätze im Bereich der Sprachlernforschung und Fremdsprachendidaktik zu nennen. So wurde in einem an der Universität Bern angesiedelten Nationalfonds-Projekt ein Minimal-Lehrgang in Italienisch entwickelt und wissenschaftlich ausgewertet, welcher im Rahmen von Projektwochen Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe 1 eine minimale kommunikative Italienisch-Kompetenz vermitteln und gleichzeitig deren Motivation erhöhen konnte, diese Sprache weiter zu lernen (Bernasconi et al. 2009). Das Lehrmittel italiano subito bietet konkrete Unterrichtsmaterialien, um in 28 Lektionen ein solches Projekt durchzuführen, während das Selbstlernmittel Capito? (Pandolfi et al. 2014) mittels der Entwicklung von rezeptiven Kompetenzen einen Zugang zur Sprachenwelt der italienischen Schweiz ermöglicht. 150 Stephan Schmid <?page no="187"?> Bibliographie Adam-Graf, Noemi (2023). Reise durch die Sprachräume Graubündens. Chur: Institut für Kulturforschung. AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928 - 1940). Sprach - und Sachatlas Italiens und der Südschweiz. 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Anschliessend (Abschnitt 3) wird die Sprache mit ihren regionalen Varietäten aufgrund einiger lautlicher, morphosyntaktischer und syntaktischer Kriterien sowie der historischen Schichtung des Wortschatzes charakterisiert. Der nachfolgende Teil widmet sich der Situation des Rätoromanischen in neuerer Zeit. Aufgrund von sprachenstatistischen Daten und Erkenntnissen aus der Forschung wird die soziolinguistische Situation umrissen (Abschnitt 4). Darauf werden zwei wichtige sprachpolitische Massnahmen der letzten Jahrzehnte, die Entwicklung der Standardsprache Rumantsch Grischun und der Ausbau des Sprachenrechts, thematisiert (Abschnitt 5). Abschliessend wird darauf hingewiesen, wie das Rätoromanische als Identitätsfaktor über Medien, Gebrauch im öffentlichen Raum sowie in Musik und Literatur gefördert wird (Abschnitt 6). 2 Zur Sprachgeschichte 2.1 Die Sprachbezeichnungen Romanisch, Rätoromanisch und Bündnerromanisch Die konkurrierenden Bezeichnungen - Romanisch, Rätoromanisch, Bündnerromanisch - erfordern einige Erklärungen zur Begriffsgeschichte und zu den heutigen Verwendungen. In der Schweiz hat sich Rätoromanisch als Bezeichnung der am wenigsten verbreiteten Landessprache, die ihr angestammtes Gebiet im Kanton Graubünden hat, durchgesetzt. In Graubünden selbst wird im Alltag Romanisch verwendet. Noch zu Beginn der 2000er Jahre war in Graubünden auch auf behördlicher Ebene Romanisch üblich (siehe Grünert et al. 2008: 307, 366). Die Revision des Bündner Sprachenrechts in Anlehnung an die Vorgaben des Bundes ab 2002 (siehe Abschnitt 5.2) hat im kantonalen amtlichen Gebrauch zu einer häufigeren, wenn auch nicht konsequenten Verwendung von Rätoromanisch geführt. Die Sprachbezeichnung Romanisch ist gleichlautend mit dem Fachbegriff - zur Bezeichnung der aus dem Vulgärlatein hervorgegangenen romanischen Sprachen - und wird daher in der Fachliteratur gemieden. Eindeutig sind die Eigenbezeichnungen ruma(u)ntsch, romontsch (zurückgehend auf ROMANICE ‘ in der Volkssprache, im Gegensatz zum Lateinischen ’ ) und die davon abgeleiteten Bezeichnungen im Italienischen und Französischen <?page no="193"?> (romancio, romanche). Die in anderssprachigen Kontexten am häufigsten verwendete Eigenbezeichnung rumantsch [ru ˈ man ʧ ] repräsentiert nicht unangefochten die Sprache in ihrer Gesamtheit. Zwar ist diese Form in mehreren Regionen - im Unterengadin, in Surmeir und im Schams - verbreitet und gilt auch in der seit 1982 entwickelten überregionalen Standardsprache Rumantsch Grischun. Gerade die sprecherreichste Regionalvarietät, das Surselvische, hebt sich jedoch mit romontsch [ro ˈ m ɔ n ʧ ]/ [r ɐˈ m ɔ n ʧ ] davon ab, und auch das Oberengadinische tritt mit einer eigenen Lautung, rumauntsch [ru ˈ m ɛ n ʧ ], hervor. Die im Deutschen üblich gewordene Bezeichnung Rätoromanisch ist gelehrter Herkunft. Placidus Spescha (1752 - 1833) führte sie in einem Beitrag mit dem Titel «Die Rhäto- Hetruskische Sprache» (1805) ein, in dem er seine Muttersprache - im Bestreben sie zu adeln (Badilatti 2017: 57 f.) - auf eine rätisch-etruskische Basis zurückführte. Die Bezeichnung rhäto-romanisch verwendete er in der Ankündigung dazu, dass seine Darstellung «als Einleitung zur rhäto-romanischen Sprachlehre» von Mattli Conradi dienen werde (Decurtins 1993: 47). Im 19. Jahrhundert wurde Rätoromanisch auch auf romanische Varietäten ausserhalb Graubündens ausgedehnt, zunächst auf solche mit Bezug zu Siedlungsgebieten der Räter. Ludwig Steub (1843: 22) kritisierte zwar, dass «[d]ie Sprache der Romanschen in Graubündten [ … ] von einigen noch immer rätisch genannt» werde, räumte aber ein: «Gegen den Ausdruck rätoromanisch ist dagegen nichts einzuwenden, als daß darauf auch das Ladin der Grödner und Enneberger Anspruch machen kann». Nachdem Graziadio Isaia Ascoli (1829 - 1907) in der Klassifikation der romanischen Sprachen 1873 die favella ladina als Typ postuliert hatte, dem er das Rätoromanische Graubündens, das Dolomitenladinische und das Friaulische zuordnete, führte Theodor Gartner (1843 - 1925) Rätoromanisch 1883 als äquivalenten Oberbegriff im Deutschen ein. Wegen des nur teilweise gegebenen Bezugs zu Gebieten der ehemaligen Provinz Rätien wurde diese Begriffsverwendung kritisiert, sie hat sich aber dennoch durchgesetzt. Angesichts der sich somit ergebenden Mehrdeutigkeit des Begriffs Rätoromanisch wurde in wissenschaftlichen Publikationen auch Bündnerromanisch zur Bezeichnung des Rätoromanischen Graubündens üblich. Allerdings ist dieser Begriff insofern ungenau, als zu den romanischen Varietäten Graubündens auch alpinlombardische - der Bündner Südtäler Calanca, Misox, Bergell und Puschlav - gehören. Abschliessend lässt sich festhalten, dass im engeren Sinn verstandenes Rätoromanisch mit der Absicht eingeführt und verbreitet wurde, der damit bezeichneten Sprache Anerkennung zu verschaffen. Für Alltagssituationen, in denen die Sprache häufig thematisiert wird, hat sich diese Bezeichnung nie als adäquat erwiesen. In der vorliegenden Darstellung wird der im öffentlichen Diskurs in der Schweiz verankerten Bezeichnung Rätoromanisch gegenüber dem rein wissenschaftssprachlichen Bündnerromanisch der Vorzug gegeben. Zu den Begriffen Rätoromanisch und Bündnerromanisch siehe Liver 2010: 15 - 28; Decurtins 1993: 47. Zur Eigenbezeichnung für ‘ Rätoromanisch (Graubündens) ’ siehe HWR: 674 f. Rätoromanisch 157 <?page no="194"?> 2.2 Das rätoromanische Sprachgebiet und die Begründung rätoromanischer Schrifttraditionen Als Drusus und Tiberius, die Stiefsöhne des Kaisers Augustus, 15 v.Chr. die Gebiete, welche die Provinz Rätien bilden sollten, unter römische Herrschaft brachten, war die Voraussetzung für das Entstehen desjenigen Zweigs des Vulgärlateins gegeben, aus dem das Rätoromanische Graubündens hervorgehen sollte. In welcher Art und Weise sich die Romanisierung in der Provinz Rätien vollzog, ist nicht gesichert. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Romanität im heutigen Graubünden nach fünf Jahrhunderten römischer Herrschaft gefestigt war. Nach dem Untergang des weströmischen Reiches setzte mit einer Periode ostgotischer Herrschaft (493 - 537) und der darauffolgenden Eingliederung ins Frankenreich die politische Orientierung nach Norden ein. Zunächst genoss Rätien allerdings eine weitgehende Selbstbestimmung. Die Herrscher, die Praesides Raetiae, die oft gleichzeitig das Bischofsamt innehatten, waren bis ins 8. Jh. Einheimische. Nach dem Tod des Bischofs Tello im Jahr 765 setzte Karl der Grosse in Chur einen deutschen Grafen ein, womit die Germanisierung der Führungsschicht begann. Als Rätien im Vertrag von Verdun (843) dem ostfränkischen Reich zugeteilt wurde, wechselte auch das Bistum Chur vom Erzbistum Mailand zur Erzdiözese Mainz. Neben den Herrschaftsverhältnissen führten Bevölkerungsbewegungen zur Stärkung des germanischen Elementes. Die Alemannen liessen sich Ende des 5. Jh. im Rheintal zwischen dem Bodensee und dem Hirschensprung nieder, drangen allmählich rheinaufwärts vor und bewirkten bis im 12. Jh. im Rheintal nördlich des heutigen Graubündens den vollständigen Wechsel zum Deutschen. Ab Ende des 13. Jh. drang das Deutsche zusätzlich mit der Einwanderung von Oberwalliser Bauern und deren Gründung von Walserkolonien ein, zunächst in unbesiedelten Höhen, später auch in tiefer gelegenen Gebieten, wo bereits Romanen ansässig waren. Im 14. und 15. Jh. kam es zu politischen Zusammenschlüssen, die gegen die Herrschaft der grossen Lehensherren, hauptsächlich des Bischofs von Chur, und die Ansprüche des Reichs gerichtet waren: Der Gotteshausbund (1367), der Graue oder Obere Bund (1424) und der Zehngerichtebund (1436) wurden gegründet und verbündeten sich untereinander zum Freistaat der drei Bünde (1524). Im mehrsprachigen Freistaat kam dem Deutschen die Funktion der Verhandlungs- und Amtssprache zu, obschon es noch nicht die Sprache der Bevölkerungsmehrheit war. Selbst in den rätoromanischen Regionen - eine Ausnahme bildete das Oberengadin - wurde das Latein als Schriftsprache der Verwaltung und des Rechts zunächst durch das Deutsche abgelöst. Auf der Ebene der Mündlichkeit, so bei Gerichtsverhandlungen, ist allerdings von der Verwendung des Rätoromanischen auszugehen. Während im Mittelalter nur sporadisch Anlässe zum schriftlichen Gebrauch des Rätoromanischen bestanden, wie man aus den wenigen schriftlichen Zeugnissen schliessen kann, waren im Zeitalter der Reformation und der Gegenreformation die politischen, geistesgeschichtlichen und (druck)technischen Voraussetzungen zur Begründung von Schrifttraditionen gegeben. Ab dieser Zeit wurde in verschiedenen regionalen Varietäten des Rätoromanischen religiöse Literatur - Bibelübersetzungen, Katechismen, Gesangsbücher und Streitschriften - in gedruckter Form verbreitet. Von 1560, als das Neue Testament im Oberengadinischen erschien, bis 1615 sind dreizehn gedruckte Werke in vier regionalen Varietäten - in chronologischer Abfolge: Ober- und Unterengadinisch, Sutselvisch und Surselvisch - und in zwei konfessionellen Subvarietäten des Surselvi- 158 Matthias Grünert <?page no="195"?> schen bekannt. Die dezentrale Entwicklung der Schriftlichkeit von Beginn an ist der Tatsache geschuldet, dass sich kein kulturelles Zentrum rätoromanischer Prägung hatte herausbilden können. In der Stadt Chur war die Oberschicht germanisiert worden, und nach dem Stadtbrand von 1464 hatte der Zustrom deutschsprachiger Handwerker zur Dominanz des Deutschen geführt. Die territoriale Verbreitung des Rätoromanischen in der Reformationszeit unterscheidet sich nicht wesentlich vom Mehrheitsgebiet um die Mitte des 19. Jh., das bis heute als «traditionelles rätoromanisches Sprachgebiet» verstanden wird. Dieses Gebiet, das von Furer (2005: 135) bei der Analyse der Volkszählungsdaten umrissen wurde, hat sich insbesondere im Zusammenhang mit der Darstellung der Gebiete der fünf rätoromanischen Idiome - von Westen nach Osten: Surselvisch (Sursilvan), Sutselvisch (Sutsilvan), Surmeirisch (Surmiran), Puter [pu ˈ ter] (Oberengadinisch) und Vallader [v ɐˈ lad ə r] (Unterengadinisch) - ins Bewusstsein vieler eingeprägt (siehe Karte 1). 1 Karte 1: Die traditionellen Gebiete der rätoromanischen Idiome in Graubünden, basierend auf Grünert et al. 2008: 461 Zu den Eckdaten der Sprachgeschichte siehe Liver 2010: 76 - 82; Coray 2008: 76 - 80. Zu den mittelalterlichen Zeugnissen des Rätoromanischen siehe Liver 2010: 85 - 93. Zur Begründung der Schriftsprachen siehe Liver 2010: 93 - 127; Darms 1989: 827 - 834; Darms 2015: 422. 1 In der Folge werden die drei deutschen Bezeichnungen Surselvisch, Sutselvisch und Surmeirisch sowie die beiden rätoromanischen Bezeichnungen Puter und Vallader bevorzugt. Rätoromanisch 159 <?page no="196"?> 2.3 Von der Begründung der Sprachbewegung bis zur Anerkennung des Rätoromanischen als Landessprache Mit der Aufnahme Graubündens in die mehrheitlich deutschsprachige Schweiz im Jahr 1803 nahm das Gewicht des Deutschen gegenüber dem Rätoromanischen zu. Die Einschätzung des Rätoromanischen als «Hindernis für die ökonomische Entwicklung und politische Integration des Kantons Graubünden sowie für die gesellschaftliche Mobilität» war weit verbreitet (Coray 2008: 96). Gleichzeitig wuchs das sprachwissenschaftliche Interesse am Rätoromanischen, und erste sprachfördernde Aktivitäten lassen sich verzeichnen. Davon zeugen die Herausgabe von Wörterbüchern, Grammatiken und Schulbüchern (letztere zunächst aufgrund privater Initiative, ab 1846 durch den Kanton) sowie die Entstehung einer rätoromanischen Presse in der Surselva und im Engadin in den 1830er und 1840er Jahren. Mit einer 1863 gegründeten überregionalen Gesellschaft, benannt Societad rhaetoromana, manifestierte sich der Beginn einer Spracherhaltungsbewegung. Die bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs - bis zur Anerkennung des Rätoromanischen als Landessprache - dauernde Phase dieser Bewegung wird auch als «rätoromanische Renaissance» bezeichnet. Auf der organisatorischen Ebene der Bewegung zeigten sich Anfangsschwierigkeiten. Erst die 1885 neu lancierte Societad Rhæto-romanscha konnte sich definitiv etablieren. Ihre beiden Hauptprojekte wurden das seit 1886 erscheinende Jahrbuch Annalas da la Societad Retorumantscha (AnSR) und das ab 1899 vorbereitete und seit 1939 publizierte historische Mundartwörterbuch Dicziunari Rumantsch Grischun (DRG). Dem Projekt einer einheitlichen Schriftsprache (romonsch fusionau), das vom Präsidenten der Gesellschaft, Gion Antoni Bühler (1825 - 1897), ab der Mitte der 1860er vorangetrieben wurde, war kein Erfolg beschieden (siehe Abschnitt 5.2). Neben der überregionalen Gesellschaft bildeten sich seit dem Ende des 19. bzw. dem Beginn des 20. Jh. regionale Sprachvereine, die näher an den Bedürfnissen der regionalen Sprachgemeinschaften agierten und mit ihren Periodika (v. a. Jahreskalendern) und Publikationsreihen zur Konsolidierung der regionalen Schriftkultur beitrugen. Zur Koordination der verschiedenen Aktivitäten wurde 1919 die Dachgesellschaft Lia Rumantscha gegründet, der auch als Verwalterin der von Bund und Kanton empfangenen Mittel eine wichtige Rolle zukam. In der Zeit, in der sich die Sprachbewegung organisierte, entfachte sich die Auseinandersetzung um die oben (Abschnitt 2.1) erwähnte von Ascoli postulierte unità ladina, die das Rätoromanische Graubündens, das Dolomitenladinische und das Friaulische typologisch zusammenfasste. Der Disput um diese Sprachklassifikation wurde für die Schweiz politisch brisant, als italienische Linguisten und weitere Intellektuelle nicht nur die Eigenständigkeit des Rätoromanischen Graubündens gegenüber den südlich angrenzenden lombardischen Mundarten in Frage stellten, sondern der rätoromanischen Gemeinschaft auch die Übernahme des Italienischen als Schriftsprache nahelegten und das rätoromanische Gebiet mehr oder weniger explizit für den italienischen Staat beanspruchten (Liver 2010: 17 f.). Als Exponenten der Sprachbewegung ab 1931 die Eingabe zur Anerkennung des Rätoromanischen als Landessprache (im damaligen Sprachgebrauch Nationalsprache) vorbereiteten, führten sie zunächst den Rückgang der Sprache als zentrales Motiv an. In der Folge gewann die irredentistische Bedrohung durch Italien an Gewicht und wurde zum Hauptargument in der Kampagne vor der Volksabstimmung 160 Matthias Grünert <?page no="197"?> von 1938 zur Revision des Sprachenartikels der Bundesverfassung. Die mit einem überwältigenden Ja-Stimmen-Anteil (91.6 %) angenommene Vorlage brachte dem Rätoromanischen eine symbolische Anerkennung als Teil des kulturellen Erbes der Schweiz. Gleichzeitig mit der Aufnahme des Rätoromanischen unter die Landessprachen wurde eine Unterscheidung zwischen Landes- und Amtssprachen eingeführt. Als Amtssprachen des Bundes galten nur Deutsch, Französisch und Italienisch. Zu Schulwesen und Presse siehe Deplazes 1990: 3 - 35. Zur Spracherhaltungsbewegung siehe Coray 2008: 93 - 104; Valär 2013. Zur einheitlichen Schriftsprache von G. A. Bühler siehe Darms 1989: 839 f.; Deplazes 1990: 39 - 50; Coray 2008: 110 - 117. Zur Auseinandersetzung um die unità ladina siehe Goebl 1990; Liver 2010: 15 - 26. Zum Status des Rätoromanischen auf Bundesebene siehe Acklin Muji 2004; Coray 2008: 90 f. 2.4 Die rätoromanischen Idiome und Mundarten Die Abgrenzung von fünf Idiomgebieten in der Bündner Sprachenlandschaft (s. Karte 1) stellt die Situation der regionalen Normierungen des geschriebenen Rätoromanischen seit dem Zweiten Weltkrieg dar. In der oben (Abschnitt 2.2) erwähnten ersten Phase der Gründung von Schriftsprachen in der Reformations- und Gegenreformationszeit traten bereits vier regionale Varietäten auf: Puter, Vallader, Sutselvisch und Surselvisch. Eine sutselvische Tradition wurde jedoch nicht begründet; zwischen den frühen sutselvischen Werken vom Beginn des 17. Jh. und dem heute geschriebenen Sutselvischen besteht keine Kontinuität. Die beiden engadinischen Varietäten Puter und Vallader entwickelten sich vom 16. Jh. Bis in die Gegenwart. In der Surselva bestanden über drei Jahrhunderte zwei konfessionelle Subvarietäten, bis sich in den 1920er Jahren weitgehend die katholische Orthografie durchsetzte. Gedruckte Werke auf Surmeirisch erschienen erst im 18. Jh. Da Surmeir während der Gegenreformation weitgehend durch Kapuziner aus Italien und Geistliche aus der Surselva kirchlich betreut wurde, gelangte das geschriebene Surmeirisch erst später zum Durchbruch. Im sutselvischen Mundartgebiet diente, wenn nicht Deutsch geschrieben wurde, lange Surselvisch als Schriftsprache. Erst in den 1940er Jahren wurde - als Teil einer Sprachförderaktion - das Sutselvische als fünftes und letztes Idiom kodifiziert. Von einer Schriftsprache, die der gesprochenen Sprache näher war, erhoffte man sich eine Stärkung des in der Region bedrängten Rätoromanischen. Der Sprachwechsel zum Deutschen, der in einem grossen Teil der Sutselva bereits weit fortgeschritten war, konnte jedoch mit den verfolgten Massnahmen nicht aufgehalten werden. Die Teilgebiete Heinzenberg (Mantogna) und Domleschg (Tumleastga) sind heute deutschsprachig, so dass praktisch nur noch im Schams (Val Schons) Sutselvisch geschrieben wird. Die Einteilung Romanischbündens in fünf Idiomgebiete betrifft die Ebene der schriftsprachlichen Normierung. Auf der Ebene der gesprochenen Mundarten sind die fünf Gebiete durch erhebliche innere Variation gekennzeichnet. An den Grenzen zwischen den Gebieten lassen sich zwar gewisse sprachliche Unterschiede festmachen, zahlreiche Phänomene betreffen jedoch Teile von Gebieten oder erstrecken sich über mehrere Gebiete. Der Darstellung der dialektalen Unterschiede widmet sich das Dicziunari Rumantsch Grischun (DRG), das die Idiomgebiete weiter in Mundartgebiete unterteilt, innerhalb derer jedem Aufnahmeort eine Sigle zugeordnet ist, so dass auch Eigenheiten von Dorfmundarten berücksichtigt werden. Im Kontinuum der mundartlichen Variation Rätoromanisch 161 <?page no="198"?> stellen die Idiome Referenzgrössen dar, auf die auch in der nachfolgenden Charakterisierung des Rätoromanischen zurückgegriffen wird. Teils werden in der Darstellung mehrere Idiome zusammengefasst, so die beiden engadinischen (Vallader und Puter), die drei rheinischen (des Einzugsgebiets des Rheins: Surselvisch, Sutselvisch und Surmeirisch) und innerhalb dieser spezifisch die beiden mittelbündnerischen (Surmeirisch und Sutselvisch). Zur regionalen Sprachnormierung nach der Begründung der Schriftsprachen siehe Darms 1989: 834 - 847; Liver 2010: 128. Zur Kodifizierung des Sutselvischen siehe Darms 1989: 846; Weinreich 2011: 271 - 279. Zum Sprachwechsel in der Sutselva siehe Weinreich 2011: 215 - 268. Zur dialektalen Gliederung des rätoromanischen Sprachraums siehe Schmid 1976. 3 Charakterisierung des Rätoromanischen 3.1 Phonetik und Phonologie Als besonders auffälliger, auch von den Sprechenden als zentral empfundener lautlicher Unterschied zwischen den grösseren rätoromanischen Regionen kann das Vorhandensein der gerundeten Vorderzungenvokale [y] und [ø] in den engadinischen Varietäten und ihr Fehlen in den rheinischen Varietäten bezeichnet werden. In den rheinischen Varietäten wurden die auf einer früheren Entwicklungsstufe vorliegenden Vokale [y] und [ø] entrundet, wobei die Ergebnisse regional im Öffnungsgrad ([i] - [e]) sowie bezüglich des Kriteriums «Monophthong - Diphthong» variieren. Lateinisch Engadinisch (Vallader/ Puter) Surmeirisch Surselvisch Bedeutung L Ū NA glüna [ ˈʎ yn ɐ ] gligna [ ˈʎ i ɲɐ ] glina [ ˈʎ in ɐ ] ‘ Mond ’ M Ū RU mür meir mir ‘ Mauer ’ F Ŏ LIU fögl [fø ʎ ] figl [fi ʎ ] fegl [fe ʎ ] ‘ Blatt ’ P Ŏ P ULU pövel pievel pievel ‘ Volk ’ Tabelle 1: Engadinisch [y] ( ‹ ü › ) und [ø] ( ‹ ö › ) mit Entsprechungen in rheinischen Varietäten Bei den Konsonanten ist das Inventar von Lauten, die aus Palatalisierungen hervorgegangen sind, von besonderem Interesse. Neben den palato-alveolaren Affrikaten [ ʧ ] (stimmlos) und [ ʤ ] (stimmhaft) kommen im Rätoromanischen von diesen abzugrenzende Konsonanten vor, die je nach Region unterschiedlichen Artikulationsbereichen zuzuordnen sind. Im Engadin, in Mittelbünden und in der unteren Surselva handelt es sich um postalveolare Affrikaten, [ ʨ ] und [ ʥ ] (stimmlos bzw. stimmhaft, Positionen 1b und 2b in Tabelle 2), deren Status gegenüber [ ʧ ] und [ ʤ ] (Positionen 1a und 2a) nicht stabil ist. In der oberen Surselva reichen die Realisierungen der von [ ʧ ]/ [ ʤ ] unterschiedenen Konsonanten bis in den postpalatalen Bereich, so dass je nachdem die Einstufung als palatale Okklusive, [c]/ [ ɟ ], angebracht ist (Positionen 1c und 2c). Tabelle 2 präsentiert die genannten Konsonanten in zwei Varietäten, Puter und Surselvisch, anhand derer auch die Verwendung unterschiedlicher Grafeme im Engadinischen ( ‹ ch › für [ ʨ ]) und in den rheinischen Varietäten ( ‹ tg › für [ ʨ ]/ [c]) ersichtlich wird. 162 Matthias Grünert <?page no="199"?> Für [ ʥ ]/ [ ɟ ] gilt vor palatalen Vokalen ‹ g › (girar ‘ drehen ’ , leger ‘ lesen ’ , güst ‘ richtig ’ , gö ‘ Spiel ’ ), in den anderen Fällen ‹ gi › (giat ‘ Katze ’ , giodair ‘ geniessen ’ , giuven ‘ jung ’ ). Puter Surselvisch Grafem Beispiel Grafem Beispiel 1) stimmlos a) palato-alveolar [ ʧ ] ‹ tsch › tschatta ‘ Pfote ’ ‹ tsch › fatscha ‘ Gesicht ’ b) postalveolar [ ʨ ] ‹ ch › chatta ‘ findet ’ ‹ tg › fatga ‘ gemacht ’ c) palatal [c] 2) stimmhaft a) palato-alveolar [ ʤ ] ‹ dsch › dschela ‘ gefriert ’ - - b) postalveolar [ ʥ ] ‹ g(i) › giat ‘ Katze ’ ‹ g(i) › leger ‘ lesen ’ c) palatal [ ɟ ] Tabelle 2: Affrikaten und palatale Okklusive im Puter und im Surselvischen Die Beispielpaare tschatta vs. chatta und fatscha vs. fatga weisen auf den tendenziellen Phonemstatus von / ʧ / und / ʨ / hin. Die Opposition ist jedoch instabil bzw. insbesondere näher an der Sprachgrenze bereits aufgegeben worden, so in Orten Mittelbündens und im unteren Münstertal. Gesicherter ist sie im Innern des surmeirischen Gebietes und hauptsächlich in der oberen Surselva, wo anstelle der postalveolaren Affrikaten [ ʨ ] und [ ʥ ] auch die deutlicher abgehobenen palatalen Okklusive [c] und [ ɟ ] nachgewiesen sind, so etwa bei tgaun [cau ̯ n] ‘ Hund ’ und giug [ ɟ uk] ‘ Spiel ’ . Von Interesse ist die regionale Verteilung von Palatalisierungsergebnissen in unterschiedlichen Kontexten. Bei lateinischer Basis mit C - und G vor Palatalvokal ( E oder I ) bzw. mit J erfolgte im ganzen rätoromanischen Gebiet eine Palatalisierung, ebenso wie in den meisten romanischen Sprachen: Lateinisch Surselvisch Surmeirisch Puter Vallader Bedeutung C Ĭ N Ĕ RE tschendra [ ˈʧɛ ndr ɐ ] tschendra [ ˈʧɛ ndr ɐ ] tschendra [ ˈʧɛ ndr ɐ ] tschendra [ ˈʧɛ ndr ɐ ] ‘ Asche ’ G Ĕ LAT schela [ ˈʒɛ l ɐ ] schela [ ˈʒ el ɐ ] dschela [ ˈʤɛˑ l ɐ ] dschela [ ˈʒ e ː l ɐ ] ‘ gefriert ’ (3. P.Sg.) J Ŭ V Ĕ NES giuvens [ ˈɟ uv ɐ ns] giovens [ ˈʤ ou ̯ v ə ns] giuvens [ ˈʤ u ː v ə ns] giuvens [ ˈ j ʊː v ə ns] ‘ Junge ’ (Pl.) Tabelle 3: Palatale Reflexe von lat. C - und G - + E / I sowie lat J - 2 Ein anderes Bild präsentiert sich bei den Nachfolgern von lat. CA - und GA -, einem Palatalisierungskontext, den Romanischbünden nur mit der Galloromania teilt (vgl. C Ā NE > fr. chien). Während sich das Engadin hier durchweg durch Palatalisierungsergebnisse auszeichnet, weisen die rheinischen Varietäten oft die velaren Okklusive [k] und [ ɡ ] auf. In der nachfolgenden Tabelle ist neben vier regionalen Varietäten auch eine lokale 2 Die phonetischen Angaben in den Tabellen 3 und 4 sind der Zusammenstellung lokaler Formen bei Negrinelli (2025: Kap. 11) entnommen. Zu jeder Region wurde die aus unserer Sicht repräsentativste Form ausgewählt. Rätoromanisch 163 <?page no="200"?> Mundart, das in der obersten Surselva - im äussersten Westen des rätoromanischen Sprachgebietes - gesprochene Tuatschin (Mundart von Tujetsch/ Tavetsch) berücksichtigt. Dieses hebt sich, zusammen mit der Mundart der benachbarten Val Medel, vom übrigen Surselvischen durch zahlreiche nicht velare Reflexe ab, womit es sich mit den mittelbündnerischen und engadinischen Varietäten verbindet. Lateinisch Tuatschin Surselvisch Surmeirisch Puter Vallader Bedeutung C Ā NE tgaun [cau ̯ n] tgaun [ ʨɛ u ̯ n] tgang [ ʨ a ŋ ] chaun [ ʨɛː m] chan [ ʨ an] ‘ Hund ’ C Ā SA tgesa [ ˈ c ɛ z ɐ ] casa [ ˈ ka ː z ɐ ] tga, tgesa [ ʨ a], [ ˈʨ e ː z ɐ ] chesa [ ˈʨ e ː z ɐ ] chasa [ ˈʨ a ː z ɐ ] ‘ Haus ’ * G Ă TTU giat [ ʥ at] giat 3 [ ʥ at- ] gat [ ɡ at] giat [ ʥ at] giat [ ʥ at] giat [ jat] ‘ Katze ’ C Ă T Ē NA cadeina [k ɐˈ dai ̯ n ɐ ] cadeina [k ɐˈ dai ̯ n ɐ ] cadagna [k ɐˈ da ɲɐ ] chadaina [ ʨɐˈ da ːɲɐ ] chadaina [ ʨɐˈ dai ̯ n ɐ ] ‘ Kette ’ G Ă LL Ī NA gaglina [ ɡɐˈʎ in ɐ ] gaglina [ ɡɐˈʎ in ɐ ] gagligna [ ɡɐˈʎ i ɲɐ ] gillina [ ʤ i ˈ li ɲɐ ] giallina [ j ɐˈ li ː n ɐ ] ‘ Huhn ’ Tabelle 4: Ergebnisse von Palatalisierungen (grau hinterlegt) vs. velare Reflexe von lat. CA - und GA - Aus den Tatsachen, dass in einigen Fällen überall Ergebnisse von Palatalisierungen vorliegen (z. B. C Ā NE > tgaun etc.) und dass sich die peripheren Gebiete Tujetsch und Val Medel wie weiter entfernte Gebiete verhalten, geht hervor, dass diese Palatalisierung einst ganz Romanischbünden erfasste. Sie konnte sich jedoch in Rheinischbünden nur teilweise durchsetzen bzw. wurde insbesondere in der Surselva rückgängig gemacht. Aufgrund der räumlichen Verteilung der Lautungen wurde die These aufgestellt, dass die Regression von Chur ausgegangen sei, «unter lateinischem Einfluß, und vermutlich [ … ] mit deutscher Beteiligung» (Planta 1931: 112 f., nach Liver 1995: 78). Zu den gerundeten Vorderzungenvokalen siehe Schmid 1976: 9 f.; Bossong 2008: 182. Zur Palatalisierung siehe Negrinelli 2025, insbesondere Kap. 2.3, Kap. 3.2.2 und Kap. 11, zu den dabei berücksichtigten neueren Daten zu den Messpunkten des Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS) siehe Loporcaro et al. 2019. Zur rätoromanischen Palatalisierung im gesamtromanischen Kontext siehe Bossong 2008: 37 f., 184 f., 283 f. 3.2 Morphosyntax Aspekte der Adjektiv- und Pronominalflexion sowie die Verfügbarkeit von Verbformen und Verbalperiphrasen sollen im morphosyntaktischen Bereich einige Besonderheiten und die starke regionale Differenzierung aufzeigen. Eine Eigenheit bei der Flexion der Adjektive und Partizipien im Surselvischen ist die morphologische Unterscheidung nach attributiver und prädikativer Funktion im Masku- 3 In gewissen Fällen, wie bei g(i)at, weist auch die an Tujetsch und Val Medel anschliessende Region der Surselva, die Cadi, ein Palatalisierungsergebnis auf [ ʥ at], während der grössere Teil der Surselva den Velarlaut verwendet [ ɡ at]. 164 Matthias Grünert <?page no="201"?> linum Singular. Während die attributive Form endungslos ist, wird die prädikative durch das Morphem -s markiert. Die attributive Form kann sich ausserdem durch Stammverschiedenheit von der prädikativen unterscheiden, wie bei bien, das sich auch von den übrigen Formen des Flexionsparadigmas abhebt (buna f., buns m. pl., bunas f. pl.). (1) in bien vin Il vin ei bun-s. (Liver 2009: 2798) ein gut[ M . SG . ATTR ] Wein der Wein ist gut- M . SG . PRED ‘ ein guter Wein ’ ‘ Der Wein ist gut. ’ (2) sco hosp envidau (LQ 30.03.2015: 6) Mintgin ei envidau-s [ … ]. (LQ 10.05.2023: 5) als Gast eingeladen[ M . SG . ATTR ] jeder ist eingeladen- M . SG . PRED ‘ als eingeladener Gast ’ ‘ Jeder ist eingeladen. ’ Neben den Formen mit Genusmarkierung verfügt das Surselvische über eine in Bezug auf Genus unmarkierte prädikative Form. Sie lautet gleich wie die attributive maskuline Form und wird mit Subjekten wie quei ‘ das ’ und igl ‘ es ’ verwendet: (3) Quei / igl ei bien. (Liver 2009: 2798) ‘ Das / es ist gut. ’ Die Unterscheidung zweier maskuliner Formen und deren Verhältnis zu der in Bezug auf Genus unmarkierten Form des Adjektivs findet Entsprechungen in der Morphologie der Demonstrativa. Das Surselvische kennt jeweils zwei maskuline Formen, so den Demonstrativartikel quei (m.) ‘ dieser ’ und das Demonstrativpronomen quel (m.) ‘ dieser ’ : (4) Quei cunti Quel [fest] ei mes, quel ei tes [ … ]. (DRG 14: 104) DEM . ART . M Messer DEM . PRO . M ist meiner DEM . PRO . M ist deiner ‘ dieses Messer ’ ‘ Dieser [im Kontext: Stab] ist meiner, dieser ist deiner. ’ Der maskuline Demonstrativartikel quei ‘ dieser ’ (quei cunti, Bsp. 4) ist gleichlautend mit dem unmarkierten Demonstrativpronomen quei ‘ das ’ (quei ei bien, Bsp. 3), was dem Verhältnis beim Adjektiv entspricht, wo die maskuline attributive Form (in bien vin) gleich lautet wie die in Bezug auf Genus unmarkierte prädikative Form (quei ei bien). Davon heben sich die Verhältnisse in Mittelbünden und im Engadin ab, wo die attributive und die prädikative Funktion des Adjektivs morphologisch nicht unterschieden werden und die Artikelfunktion und die pronominale Funktion des Demonstrativums meistens (ausgenommen ist ein Teil der Sutselva) nicht unterschieden werden. Im verbalen Bereich sei zunächst auf den Ausdruck des Futurs hingewiesen. Neben der Möglichkeit, bevorstehende Handlungen mit der Präsensform darzustellen, bestehen im Rätoromanischen zwei spezifische Zukunftsausdrücke, das synthetische Futur im Engadinischen und Surmeirischen, das wie das entsprechende Futur anderer romanischer Sprachen gebildet ist (z. B. Vallader pajar ‘ bezahlen ’ > eu pajar-à, vgl. it. pagher-ò, fr. je paier-ai), und die Futurperiphrase «vegnir ‘ kommen ’ a ‘ zu ’ + Infinitiv», die vor allem in den rheinischen Varietäten genutzt wird. Für den reinen Zukunftsausdruck werden die Futurformen bzw. die Futurperiphrase selten verwendet. Wenn sie zum Einsatz kommen, wird meistens (auch) eine Modalität ausgedrückt, wie die folgenden Beispiele zum synthetischen Futur im Vallader (5) und zur Futurperiphrase im Surselvischen (6) veranschaulichen. Satz (5) wird am ehesten als Annahme zu einem bevorstehenden Ereignis verstanden, während Satz (6) eine Annahme zu einem gegenwärtigen Sachverhalt vorbringt. Rätoromanisch 165 <?page no="202"?> (5) Daman gnar-à la s-chaffa nouva. (Arquint 2020: 222) morgen kommen- FUT .3 SG der Schrank neu ‘ Morgen wird der neue Schrank kommen. ’ (6) Viver d-il fotografar vegn ad esser grev, ni buc? (LQ 20.12.2016: 3) Leben von- ART . Fotografieren AUX [ PRS .3 SG ] zu sein schwierig oder nicht ‘ Vom Fotografieren zu leben wird schwierig sein, nicht wahr? ’ Eine weitere Besonderheit im verbalen Bereich stellen die Nutzung des Konjunktivs und - im Surselvischen, teils auch im Sutselvischen - neu gebildete konjunktivische Formen dar. Ausser bei zielgerichteter Modalität (Wille, Wunsch) und eingeschränkter Gewissheit, wie allgemein in den romanischen Sprachen, ist der Konjunktiv im Rätoromanischen auch bei indirekter Redewiedergabe üblich, dies nicht nur in Nebensätzen nach übergeordneten Ausdrücken der verbalen Äusserung, sondern - wie im Deutschen - über die Satzgrenze hinaus, wo weiterhin auf eine zuvor erwähnte Redeinstanz Bezug genommen wird. In Beispiel (7) leitet ha detg ‘ sagte ’ die indirekte Rede im nachfolgenden Kompletivsatz ein. In diesem sowie auf zwei weiteren Stufen syntaktischer Abhängigkeit wird konsequent der Konjunktiv gesetzt (Verbformen in Kursivschrift), wobei dieser Modus im Nebensatz mit per che ‘ damit ’ auch durch die zielgerichtete Modalität motiviert ist. Im anschliessenden unabhängigen Satz stehen weiterhin Konjunktivformen, die die Abhängigkeit des Gesagten von der zitierten Person markieren. (7) Ina passanta ha detg enviers la FMR ch ’ ella hagi gest viu ch ’ in vendider tagli naven la scorsa giudem il pigniel e fetschi in pez per ch ’ il pigniel mondi bein en il pei ni en la vasa. Far naven la scorsa giudem il pigniel seigi falliu, perquei che lu survegni la plonta buca aua avunda e vegni secca enteifer paucs dis. (LQ 22.12.2023: 9) ‘ Eine Passantin sagte gegenüber der FMR [Fundaziun Medias Rumantschas], dass sie gerade gesehen habe, dass ein Verkäufer die Rinde zuunterst am Tännchen wegschneide und eine Spitze mache, damit das Tännchen gut in den Sockel oder die Vase passe. Die Rinde zuunterst am Tännchen wegzumachen sei falsch, weil der Baum dann nicht genug Wasser bekomme und innerhalb weniger Tage austrockne. ’ Im Surselvischen ist der Konjunktiv morphologisch besonders stark markiert, mit dem bei regelmässigen Verben in allen Personen auftretenden Morphem -i - . Mit Hilfe dieses Morphems wurden ab dem 17./ 18. Jh. neue Verbformen gebildet, einerseits solche, in denen das Morphem -ss- (in der älteren Sprache häufiger Vergangenheitskonjunktiv, heute vorwiegend Konditional) mit dem Morphem -ikombiniert wird (fuss ‘ wäre ’ + -i > fuss|i), andererseits solche, in denen das Morphem -iauf den Imperfektstamm folgt (er|a ‘ war ’ + -i > er|i, fagev|a ‘ machte ’ + -i > fagev|i). Damit sind Verbformen entstanden, die den Ausdruck der Eventualität (8) bzw. des imperfektiven Aspekts (9) mit der Signalisierung der indirekten Redewiedergabe verbinden. (8) «2005 han els dumandau sch ’ jeu fussi promts da s ’ engaschar per quella [gruppa]», raquenta Barclamiu Andreoli. (LQ 23.05.2023: 3) ‘ «2005 fragten sie mich, ob ich bereit wäre, mich für diese [Gruppe] einzusetzen», erzählt Barclamiu Andreoli. ’ (9) «Gia da mattatscha saltavel e cantavel jeu tut persula en mia combra», raquenta ella. Ella eri plitost ina temeletga, fagevi denton adina bugen teater [ … ]. (LQ 27.09.2023: 5) 166 Matthias Grünert <?page no="203"?> ‘ «Schon als Mädchen tanzte und sang ich ganz allein in meinem Zimmer», erzählt sie. Sie sei eher eine Scheue gewesen, habe jedoch immer gerne Theater gespielt. 4 ’ Abschliessend sei eine in der neueren Sprache aller Regionen aufgekommene Progressivperiphrase erwähnt: esser ‘ sein ’ + vida / vi da ‘ an ’ (+ m. Art. il) + Infinitiv. Diese Periphrase, die offensichtlich den deutschen am-Progressiv (am + Infinitiv + sein) nachbildet, ist in der Umgangssprache verbreitet und in der neueren Zeitungssprache sowie in der informellen schriftlichen Alltagskommunikation gut nachgewiesen. (10) Eis vida luvrar? (Stark et al. 2014 - 2020: chat 885, msg 452) bist an arbeiten ‘ Bist du am Arbeiten? ’ (11) Eu sun vi_dal leger quist text (Stark et al. 2014 - 2020: chat 634, msg 2168) ich bin an ART . M lesen diesen Text ‘ Ich bin diesen Text am Lesen. ’ Bei Beispiel (11) zeigt sich in der deutschen Übersetzung die geringere Akzeptabilität des am-Progressivs mit bestimmten Objekten (hier: diesen Text, siehe Flick und Kuhmichel 2013: 59 f., 66). Im Rätoromanischen, wo das Objekt nicht von der Verbalperiphrase umklammert wird, sondern auf diese folgt, scheint keine solche Einschränkung zu bestehen. Zur Flexion von Adjektiven, Partizipien und Demonstrativa siehe Liver 2010: 134 f.; Maurer- Cecchini 2021: 40; Arquint 2020: 81 f., 111, 155. Zum Ausdruck des Futurs siehe Arquint 2020: 182 - 186, 222 f.; Liver 2010: 144. Zur Nutzung des Konjunktivs und neu gebildeten konjunktivischen Formen siehe Grünert 2003: 116 - 129, 141 - 153, 556 - 558. 3.3 Syntax Zwei syntaktische Eigenheiten sollen vorgestellt werden: die Verbzweitstellung, die das Rätoromanische Graubündens insgesamt charakterisiert, und die im Engadinischen anzutreffende Differentielle Objektmarkierung. In deklarativen Hauptsätzen, in denen das Subjekt nicht die erste Komponente ist, gilt im Rätoromanischen, ebenso wie im Deutschen, die Subjekt-Verb-Inversion. Das Verb besetzt also die zweite Stelle, wenn ein Satz z. B. mit einem Adverbiale (12) oder einem Objekt (13) beginnt. Das Subjekt folgt erst nach dem Verb. Anders als im Deutschen kann ein nominales Subjekt im Engadinischen auf den ganzen Verbalkomplex (ha tut ‘ hat genommen ’ in Bsp. 13) folgen, während im Surselvischen, wie im Deutschen, das nominale Subjekt stets nach der konjugierten Verbform steht (ha Nuot priu ‘ hat Nuot genommen ’ , Grünert 2018: 26). (12) Daman vegn-a sü-l Piz Umbrail [ … ]. (LQ 30.07.1998: 8) ‘ Morgen gehe_ich auf_den Piz Umbrail. ’ 5 4 Im Deutschen ist die indirekte Wiedergabe vergangener Sachverhalte nur bei Verwendung einer zusammengesetzten Form möglich (sei gewesen bzw. habe gespielt für die rätoromanischen Imperfektformen eri und fagevi). 5 In den Zitaten (12) und (13) und in den dazu gehörenden Übersetzungen gelten folgende Markierungen: vorangestellte Konstituente ( ≠ Subjekt), Verb, Subjekt. Rätoromanisch 167 <?page no="204"?> (13) Ils zurplins ha tut Nuot. (Biert 2009: 78, nach Grünert 2018: 25) die Zündhölzer hat genommen Nuot ‘ Die Zündhölzer hat Nuot mitgenommen. ’ (Biert 2009: 79, nach Grünert 2018: 25) Kaiser und Casalicchio (2023) kommen in einem Vergleich zwischen dem Rätoromanischen Graubündens, dem Dolomitenladinischen und dem Fraulischen zum Schluss, dass die Verbzweit-Eigenschaft im Rätoromanischen Graubündens am ausgeprägtesten ist und sich in der Entwicklung von der älteren zur neueren Sprache noch verstärkt hat. Dass sich die Mundarten der auf deutsches Gebiet ausgerichteten Dolomitentäler, Gröden und Gadertal, bezüglich der Verbzweitstellung ähnlich verhalten wie das Rätoromanische Graubündens, macht die Erklärung dieses Zuges aufgrund des deutschen Einflusses besonders plausibel. Eine Besonderheit des Engadinischen, zu der es Entsprechungen in verschiedenen romanischen Sprachen und Mundarten gibt, von der iberischen Halbinsel bis nach Rumänien, ist die partielle Markierung des direkten Objekts mit einer Präposition, meistens a. Da diese Markierung unter gewissen Bedingungen auftritt, insbesondere bei menschlichen und persönlichen sowie bei definiten Objekten, hat Georg Bossong dafür die Bezeichnung der Differentiellen Objektmarkierung (DOM) eingeführt. Stimm (1986: 446 f.) konnte in seiner Untersuchung zum Unterengadinischen die Markierung am konsequentesten bei Personalpronomen (14) und weiteren Pronomen, wie Demonstrativa und Indefinita (tuots ‘ alle ’ , minchün ‘ jeder ’ , ingün ‘ keiner ’ ), bei Eigennamen (15) sowie bei Verwandtschaftsbezeichnungen mit Possessiva nachweisen. (14) Ma a tai cugnuosch-i, Anton! (Stimm 1986: 419) Aber DOM du[ OBL .] kennen[1. SG ]_ich Anton ‘ Aber dich kenne ich, Anton! ’ (15) El tschercha ad Eva. (Stimm 1986: 428) Er sucht DOM Eva ‘ Er sucht Eva. ’ Als schwankend erwies sich der Gebrauch bei Nomen mit dem bestimmten Artikel. Bei Verzicht auf Markierung kann tendenziell davon ausgegangen werden, dass «nur eine Kategorie bezeichnet» wird, «ohne konkrete Referenz auf eine bestimmte Person» (Bossong 2008: 187). Verschiedene Fälle (wie Bsp. 16 ohne DOM) situieren sich in einem Grenzbereich, der beide Interpretationen zulässt, wo die Markierung also möglich, aber nicht zwingend ist. (16) Duonna Cilgia [ … ] es currüda a clomar il meidi. (Stimm 1986: 436) Frau Cilgia [ … ] AUX .3. SG gelaufen zu rufen ART . M . SG Arzt ‘ Frau Cilgia lief, um den Arzt zu rufen. ’ Zur Verbzweitstellung siehe Linder 1987: 94 f.; Liver 2010: 147 f.; Grünert 2018; Kaiser und Casalicchio 2023. Zur Differentiellen Objektmarkierung siehe Bossong 2008: 40, 187; Stimm 1986. 3.4 Wortschatz Der Wortschatz soll in seiner historischen Schichtung umrissen werden, die im Zusammenhang mit dem obigen Einblick in die Sprachgeschichte (Abschnitt 2.2 - 2.4) sowie angesichts der Hinweise auf den Sprachkontakt (Abschnitt 3.2 - 3.3 und Abschnitt 4.2) von Interesse ist. 168 Matthias Grünert <?page no="205"?> Folgende drei Hauptbestandteile des Wortschatzes lassen sich unterscheiden: (1) die zahlenmässig wenig ins Gewicht fallenden vorrömischen Elemente, (2) das aus dem Vulgärlatein ererbte Material und die darauf basierenden Neubildungen sowie (3) Entlehnungen, vor allem aus dem Germanischen/ Deutschen, dem Italienischen und dem Latein. Beim Material (neo)lateinischer Herkunft, in dem auch das Französische eine Rolle spielt, sind klare Zuordnungen sowie das Nachverfolgen von Entlehnungswegen manchmal schwierig. Von vielen der vorrömischen Alpensprachen ist recht wenig bekannt. Das auf sie zurückgehende Wortgut wird daher in den etymologischen Wörterbüchern (DRG, HWR) oft generisch als «vorrömisch» oder «vorromanisch» eingestuft. Da es besonders mit dem alpinen Lebensraum verbunden ist, trägt es trotz seines beschränkten Umfangs zur Charakterisierung der Sprache bei. Dazu gehören z. B. dschember 6 ‘ Arve ’ , dascha ‘ Tannreisig ’ , tschess ‘ Adler ’ , chamuotsch ‘ Gämse ’ , crap ‘ Stein ’ , grip ‘ Felsen ’ , piz ‘ Bergspitze, Gipfel ’ , ruosna ‘ Loch ’ , tegia ‘ Alphütte ’ , signun ‘ Senn ’ , gramma ‘ Rahm ’ , schliousa ‘ Schlitten ’ . Der aus dem Vulgärlatein ererbte Wortschatz weist einerseits Gemeinsamkeiten mit den grösseren benachbarten Sprachräumen auf: chantar ‘ singen ’ , durmir ‘ schlafen ’ , (ve)gnir ‘ kommen ’ , chasa ‘ Haus ’ , terra ‘ Erde ’ , ura ‘ Stunde ’ , bel ‘ schön ’ , cuntaint ‘ zufrieden ’ , grand ‘ gross ’ , forsa ‘ vielleicht ’ , mal ‘ schlecht ’ , tard ‘ spät ’ . Andererseits hebt sich das Rätoromanische mit zahlreichen Worttypen von diesen Sprachräumen ab (wobei der Gegensatz auf der dialektalen Ebene teils zu relativieren ist): surselvisch anflar ( AFFL Ā RE ), in den anderen Varietäten c (h)attar ( CAPT Ā RE ) ‘ finden ’ , allgemein tadlar ( T Ĭ TUL Ā RE ) ‘ (zu)hören ’ , cudesch ( C Ō DICEM ) ‘ Buch ’ , maisa ( M Ē NSAM ) ‘ Tisch ’ , ora ( AURAM ) ‘ Wetter ’ , alb ( Ă LBUM ) ‘ weiss ’ , cotschen ( C Ǒ CCINUM ‘ scharlachrot ’ ) ‘ rot ’ , mellan (überall ausser im Vallader, aus M Ē LINUM ‘ quittengelb ’ ) ‘ gelb ’ , adüna ( AD Ū NUM ) ‘ immer ’ , fich ( F Ĭ CTUM ) ‘ sehr ’ . Bemerkenswert ist auch, dass ein Teil des charakteristischen Wortschatzes auf die rheinischen Varietäten beschränkt ist: encurir (* INQUAER Ī RE ) ‘ suchen ’ , entscheiver ( INC Ĭ PERE ) ‘ anfangen ’ , patertgar ( P Ĕ R - + TRACT Ā RE ) ‘ denken ’ , vitg ( V Ī CUM ) ‘ Dorf ’ , ditg (* D Ī U ) ‘ lange ’ , entochen ( Ĭ NTER H Ǒ C - QUE + Präp. en ‘ in ’ ) ‘ bis ’ (wobei die drei letztgenannten auf früheren Sprachstufen auch im Engadin belegt sind). Rheinischbünden bewahrt somit eine Latinität, die sich von derjenigen Italiens stärker unterscheidet. Das Engadinische weist dagegen mehr Gemeinsamkeiten mit dem Italienischen auf, was allerdings auch auf Entlehnungen zurückzuführen ist. Surselvischem encurir und entscheiver stehen engadinisches tscherchar ‘ suchen ’ ( C Ĭ RC Ā RE , vgl. it. cercare) und cumanzar ‘ anfangen ’ (* COM Ĭ NITI Ā RE , vgl. it. cominciare) gegenüber, surselvischem patertgar und entochen die Italianismen pensar (pensare) ‘ denken ’ und fin (fino) ‘ bis ’ im Engadinischen. Während Entlehnungen aus dem Italienischen in besonderem Masse das Engadinische charakterisieren, stellen Entlehnungen aus dem Deutschen eine in ganz Romanischbünden mächtige Lehnschicht dar. Italianismen können erst später eindeutiger festgemacht werden. Datierungen für die vorliterarische Zeit, vor dem 16. Jh., lassen sich schwer vornehmen. Gehäuft treten Italianismen von der zweiten Hälfte des 17. bis ins erste Drittel des 20. Jh. auf, einer Periode intensiver Migrationsbewegungen zwischen dem Engadin 6 Die Beispiele werden meistens gemäss Stichwort (der Kartei) des DRG zitiert, das so weit wie möglich der unterengadinischen Form in der Orthografie der Zeit des Publikationsbeginns (1939) entspricht. Mehrere Formen werden angegeben, wenn sie lautlich von Interesse sind. Rätoromanisch 169 <?page no="206"?> und Italien. Demgegenüber ist der germanische bzw. deutsche Einfluss ein von der Spätantike bis in die Gegenwart deutlich hervortretender Faktor. Unauffällig sind verschiedene sehr alte Germanismen, die das Rätoromanische mit anderen romanischen Sprachen teilt, wie etwa frais-ch ‘ frisch ’ (frisk), guardar ‘ schauen ’ (*wardon) und guerra ‘ Krieg ’ (*werra). Bereits charakteristischer für Romanischbünden ist die Fortsetzung von germanisch wald, mit sehr unterschiedlich lautenden Formen: surselvisch uaul, unterengadinisch dialektal (g)ua(u)t, engadinisch und surmeirisch god/ gôt sowie sutselvisch gòld/ vòld (wobei [ ɡ ] verschiedentlich zur Vermeidung des in romanischen Sprachen unüblichen Anlautes [u ̯ ] aufgetreten ist). Aus dem Althochdeutschen entlehnt sind z. B. glieud (liut) ‘ Leute ’ , giavüschar (gawunsk(j)an) ‘ wünschen ’ und lubir (laubjan) ‘ erlauben ’ , aus dem Mittelhochdeutschen buonder (wunder) ‘ Neugier ’ , nüz (nutz) ‘ Nutzen ’ und gratiar (gerâten) ‘ geraten, gelingen ’ . Neben Wortentlehnungen sind Bedeutungsentlehnungen und Lehnbildungen zu erwähnen: lai ist der Fortsetzer von lat. LEX ‘ Gesetz ’ , hat sich jedoch semantisch an mittelhochdeutsches ê, ewe ‘ göttliches Gesetz, Ehe ’ angelehnt und ist schliesslich auf die Bedeutung ‘ Ehe ’ eingeschränkt worden; von derschar ‘ richten, urteilen ’ (für älteres derscher, aus lat. * D Ĕ RGERE für DIR Ĭ GERE ‘ richten, lenken ’ ) wurde in Analogie zu deutsch richten - Richter das Substantiv derschader ‘ Richter ’ abgeleitet. Unter den Entlehnungen aus dem Deutschen treten einige Bereiche besonders hervor, z. B. Bezeichnungen für wirtschaftliche Tätigkeiten: pur ‘ Bauer ’ (vorherrschende Form aus dem Schweizerdeutschen vs. unterengadinisch paur aus dem Tirolerdeutschen), maister ‘ Handwerksmeister, Schreiner, Zimmermann ’ (daneben spezifischere tischler, tischmaher, zimermon), pec/ peker ‘ Bäcker ’ , schneder ‘ Schneider ’ . Zu den meisten wurden später romanische Alternativen, darunter Neubildungen sowie Entlehnungen aus dem Italienischen, propagiert, grösstenteils mit Erfolg: Vallader falegnam / Surselvisch scrinari ‘ Schreiner ’ , marangun/ lennari ‘ Zimmermann ’ , fuorner/ pasterner ‘ Bäcker ’ , cusunz ‘ Schneider ’ (siehe Decurtins 1993: 214). Eine Reihe von Verben wurden mit rätoromanischen Suffixen von deutschen Stämmen abgeleitet: maniar ‘ meinen ’ , malegiar ‘ malen ’ , schenghegiar ‘ schenken ’ . Im Surselvischen sind angepasste schweizerdeutsche Adjektive und Adverbien auf -ig/ -i(ch) > -i auffällig: gleiti ‘ schnell ’ , husli ‘ fleissig ’ , vieti ‘ wütend ’ . Zu erwähnen sind auch in der Alltagssprache häufig verwendete Partikel. Einige kommen in allen Regionen vor (schon, halt, also), zahlreichere sind in Rheinischbünden gebräuchlich (aber, eba ‘ eben ’ , grad ‘ gerade ’ , toch ‘ doch ’ , zuar ‘ zwar ’ ), wobei sie verschiedene Funktionen mit dem (Schweizer-)Deutschen teilen können (schon und grad als Temporaladverbien und Abtönungspartikel, aber und also als Konjunktionen und Abtönungspartikel), in ihrer Verwendung aber auch eingeschränkt sein können (eba und toch nur als Abtönungspartikel). Im Engadinischen fallen aus dem Italienischen entlehnte Partikel auf: apunta (angepasstes appunto) ‘ eben ’ , dunque ‘ also ’ , però ‘ jedoch ’ . Viele Lehnübersetzungen kamen mit Partikelverben auf, die deutsche Präfixverben wiedergeben, sowie mit Nomen+Präposition+Nomen-Verbindungen als Reflexe deutscher Nominalkomposita. In beiden Fällen wurde eine im Rätoromanischen angelegte Struktur sprachkontaktbedingt vermehrt genutzt. Neben Partikelverben, die Bewegungen spezifizieren und semantisch transparent sind, wie ir sü ‘ hinaufgehen ’ oder portar davent ‘ wegtragen ’ , sind immer mehr Nachbildungen deutscher Präfixverben mit lexikalisierter Semantik in Gebrauch gekommen, wie z. B. dar sü ‘ (ein Vorhaben) aufgeben, (eine 170 Matthias Grünert <?page no="207"?> Schularbeit, eine Bestellung) aufgeben ’ und dar giò ‘ (eine Arbeit) abgeben ’ . Ähnlich haben deutsche Nominalkomposita rätoromanische Reflexe hervorgerufen: Schulhaus > chasa da scoula (gegenüber it. scuola und fr. école ohne Spezifizierung des Gebäudes), Bohrmaschine > maschina da fourar (gegenüber den Suffixbildungen it. perforatrice und fr. perceuse). Von den Instanzen der Sprachförderung werden Neubildungen nach Wortbildungsverfahren vorgeschlagen und verbreitet, so Ableitungen wie squitschader ‘ Drucker ’ (squitschar ‘ drucken ’ mit Suffix -ader) und arcunar ‘ speichern ’ (zu arcun ‘ Speicher ’ ) oder Komposita des Typs tschentaplantschius ‘ Bodenleger/ in ’ (verbales Element tschentazu tschentar ‘ setzen ’ + plantschius ‘ Böden ’ ). Letztere Bildung ist auf die rheinischen Varietäten beschränkt, wo sie lautlich angepasst wurde (von der zitierten surselvischen Form zur surmeirischen tschaintapalantschias bzw. sutselvischen tschaintapalantschieus, siehe PG). Im Engadinischen wurde dasselbe Verfahren mit anderen Worttypen angewandt: Vallader louvafuonds, Puter louvafuonzs (siehe DPV). Im Puter wäre zwar für ‘ Fussboden ’ palintschieu verfügbar, im Vallader jedoch nur fuond. Als verbales Element kommt tschaintaim Engadin nicht in Frage, da tschantar/ -er ‘ sitzen ’ , nicht ‘ setzen ’ bedeutet. Das Beispiel veranschaulicht die überregionale Vitalität von Wortbildungsverfahren und gleichzeitig die Herausforderungen, die sich aus der regional divergierenden Sprachentwicklung für den Sprachausbau ergeben. Zur Schichtung des rätoromanischen Wortschatzes und zu den vorrömischen Elementen siehe Liver 2012: 50 - 68. Zu den germanischen Elementen siehe Liver 2012: 150 - 203. Zu Lehnübersetzungen aus dem Deutschen siehe Grünert 2022: § 4.3. Zu den Italianismen, Latinismen und Gallizismen siehe Grünert 2022: § 5 - 6. Zu den Etymologien siehe DRG und HWR. 4 Die soziolinguistische Situation 4.1 Sprachenstatistische Daten Als Graubünden der Eidgenossenschaft beitrat (1803), waren etwa 36 ’ 700 Personen, die Hälfte der Bündner Bevölkerung, rätoromanischer Muttersprache. Eine ungefähr gleich grosse Gruppe (36 ’ 472 Personen) wurde bei der eidgenössischen Volkszählung von 1900 in Graubünden registriert, diese machte jedoch nur noch ein gutes Drittel (34.9 %) der Kantonsbevölkerung aus. Ein weiteres Jahrhundert später, im Jahr 2000, als pro Person einerseits die «Hauptsprache» (bestbeherrschte Sprache), andererseits die regelmässig gesprochenen Sprachen erhoben wurden, zeigten sich folgende Verhältnisse: 27 ’ 038 Personen (14.5 %) bezeichneten Rätoromanisch als ihre Hauptsprache, dagegen umfasste die erweiterte Gruppe Rätoromanisch Sprechender, d. h. all jener, die das Rätoromanische bei mindestens einer von drei Fragen zu den Sprachen genannt hatten - (1) Hauptsprache, (2) regelmässig in der Schule / im Erwerbsleben / im Beruf gesprochene Sprachen, (3) regelmässig zu Hause / mit den Angehörigen gesprochene Sprachen - deutlich mehr Personen: 40 ’ 168 (21.5 %). 7 Neben der starken Abnahme des rätoromanischsprachigen Bevölkerungsanteils im Verlauf zweier Jahrhunderte dokumentieren die statistischen Daten die in neuerer Zeit in der rätoromanischen Gruppe verbreitete Mehrsprachigkeit. Für das 19. Jh. sind zwar keine Angaben zum nicht mehrsprachigen Bevölkerungsanteil 7 Zu den im Laufe der Zeit veränderten Kriterien der Datenerhebung und zur Rolle des Rätoromanischen in der Sprachenstatistik ► Sprachenstatistik, ► Sprachbeziehungen und nationale, überregionale Institutionen. Rätoromanisch 171 <?page no="208"?> verfügbar, doch finden sich in Zusammenhang mit der Entstehung der rätoromanischen Presse in den 1830/ 40er Jahren Aussagen zur damals verbreiteten Einsprachigkeit in den stark rätoromanischen Regionen (Deplazes 1990: 26). Weinreich (2011: 202) dokumentiert noch in der Mitte des 20. Jh. «Remnants of Romansh monolingualism» in der Surselva und im Unterengadin. Während die Zahlen für die ganze Schweiz im 19. Jh. noch nicht wesentlich von denjenigen für Graubünden abweichen, ändert sich dies ab der Mitte des 20. Jh. markant. 1960 lebten von den insgesamt 49 ’ 823 Personen rätoromanischer Muttersprache 11 ’ 409 (22.9 %) ausserhalb Graubündens. Die Volkszählung von 2000 verzeichnete gesamtschweizerisch 35 ’ 095 Personen mit Rätoromanisch als Hauptsprache (davon 8057, d. h. 23 % ausserhalb Graubündens) und 60 ’ 816 regelmässig Rätoromanisch Sprechende (davon 20 ’ 648, d. h. 34 % ausserhalb Graubündens). Im Jahr 2000 wurde zum letzten Mal eine Vollerhebung durchgeführt, die ein differenziertes Bild der rätoromanischen Präsenz in den damals noch zahlreicheren und kleinflächigeren Gemeinden ermöglichte (siehe Karte 2). Karte 2: Rätoromanisch als Hauptsprache und/ oder regelmässig gesprochene Sprache in Graubünden, 2000 (vom BFS für diese Publikation erstellte Karte) Aus den Daten von 2000 geht hervor, dass von den Personen mit Rätoromanisch als Hauptsprache nur 56.4 % (19 ’ 779 Personen) in Gemeinden lebten, in denen mindestens die Hälfte der Bevölkerung Rätoromanisch sprach, wo also von einer grösseren Vitalität der lokalen Sprache ausgegangen werden kann. Von den Rätoromanisch Sprechenden insgesamt waren sogar nur zwei Fünftel (39.6 % bzw. 24 ’ 075 Personen) in diesem stärker rätoromanisch geprägten Gebiet wohnhaft. Diese Gegenüberstellungen machen deutlich, dass ein beträchtlicher Teil der Sprachgruppe auch lokal in Minoritätssituationen lebt (siehe Abschnitt 5.2 zur «Diaspora»). 172 Matthias Grünert <?page no="209"?> Im Jahr 2010, als die im Zehnjahresrhythmus durchgeführten Vollerhebungen durch jährliche Strukturerhebungen ersetzt wurden, hat sich nochmals ein Kriterium geändert: Statt nur einer können mehrere Hauptsprachen angegeben werden. Bis zu drei Nennungen pro Person werden vom Bundesamt für Statistik berücksichtigt. Die letzten verfügbaren Daten für 2021 lassen für den Kanton Graubünden auf 28 ’ 050 Personen (14.1 %) und gesamtschweizerisch auf 39 ’ 691 Personen (0.46 %) mit Rätoromanisch als Hauptsprache schliessen (BFS 2023). Die im Vergleich zu 2000 höheren absoluten Zahlen entsprechen anteilmässig einem Rückgang, in Graubünden von 14.5 % auf 14.1 % und gesamtschweizerisch von 0.48 % auf 0.46 %, dies obschon die neue Erhebungsart - mit der Zulassung von Mehrfachnennungen - die Erwähnung des Rätoromanischen begünstigt. Die zusammengefassten Daten der von 2016 - 2020 durchgeführten Strukturerhebungen («gepoolte Strukturerhebung») belegen, dass in vielen Gemeinden des rätoromanischen Sprachgebiets die Rätoromanisch- und die Deutschanteile zusammen über 110 % ergeben, in zwei Gemeinden (Val Müstair und Muntogna da Schons) sogar über 120 %, woraus ersichtlich wird, dass etliche Befragte beide Sprachen als Hauptsprachen genannt haben. Aufgrund der Daten, die während mehrerer aufeinanderfolgender Jahre erhoben wurden, ist also (in den nach zahlreichen Fusionen auch grossflächiger gewordenen Gemeinden) die regionale Verteilung der Sprechenden doch darstellbar (siehe Karte 3, welche die Rätoromanischanteile visualisiert). Als Gebiete mit einem Anteil des Rätoromanischen als Hauptsprache von über 50 % treten die Surselva von Ilanz/ Glion an aufwärts, die zwei mittelbündnerischen Gemeinden Muntogna da Schons und Surses sowie das Unterengadin mit dem daran anschliessenden Münstertal hervor. Dem ist beizufügen, dass in drei Gemeinden dieser Gebiete höhere Werte für Deutsch als für Rätoromanisch ver- Karte 3: Rätoromanisch als eine von möglicherweise mehreren Hauptsprachen in Graubünden, 2016 - 2020, basierend auf BFS 2022: 26 f. Rätoromanisch 173 <?page no="210"?> zeichnet wurden: in Ilanz/ Glion, Muntogna da Schons und Surses. Eine Mitteilung des Bundesamtes für Statistik von 2022, über die neue Zuteilung der beiden letztgenannten Gemeinden zum deutschen Sprachgebiet aufgrund der aktuellen statistischen Daten, sorgte für Irritation (LQ 05.01.2023: 8). Die Gliederung in Sprachgebiete aufgrund des statistischen Mehrheitsprinzips stand in diesem Fall im Gegensatz zu den amtssprachlichen Regelungen im Kanton Graubünden (siehe dazu Abschnitt 5.2): Surses ist eine rätoromanischsprachige Gemeinde (welche die lokale Situation im mehrsprachigen Bivio berücksichtigt), während die Gemeinde Muntogna da Schons Rätoromanisch und Deutsch als Amtssprachen verwendet und eine rätoromanische Schule führt. Zur Sprachenstatistik von 1803 bis 2000 siehe Coray 2008: 84 - 86. Zu den Volkszählungsdaten von 2000 nach Gemeinden siehe Grünert et al. 2008: 39 - 49. Zu den Daten der gepoolten Strukturerhebung von 2016 - 2020 siehe BFS 2022: 26 f. Zu den Kriterien der Datenerhebung mit Bezug auf das Rätoromanische siehe Coray 2017. Zur Gliederung in Sprachgebiete aufgrund des statistischen Mehrheitsprinzips siehe Coray 2017: 161 f.; BFS 2022: 2. 4.2 Regionale und lokale Situationen Zu den genauer beleuchteten Sprachverhältnissen gehören diejenigen der Sutselva - der Gegenden Imboden (Plaun), Domleschg (Tumleastga) und Heinzenberg (Mantogna) - in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Uriel Weinreich (1926 - 1967) untersuchte diese Region in seiner Pionierarbeit zu den Kontakten zwischen Schweizer Landessprachen, denen er seine 1951 an der Columbia-University eingereichte Dissertation widmete (publiziert postum im Jahr 2011). Gestützt auf seine Feldforschung und auf Daten, welche die Lia Rumantscha zu den Sprachkompetenzen der Bevölkerung erhoben hatte, dokumentierte Weinreich die schwache Weitergabe des Rätoromanischen in den zahlreichen gemischtsprachigen Familien, das Ausbleiben sprachlicher Integration bei Zugezogenen und das Fehlen oder die höchstens marginale Präsenz des Rätoromanischen im wirtschaftlichen Leben sowie in Schule, Kirche, Presse und Verwaltung in der Sutselva. Aus der Bestandesaufnahme ging deutlich hervor, dass das Rätoromanische in der Region jeglichen Prestiges entbehrte. Auch angesichts der schwachen «Raetoroman ethnic consciousness» und des dominierenden, nicht sprachbezogenen Bündner Zusammengehörigkeitsgefühls äusserte sich Weinreich skeptisch gegenüber den Zielen der einige Jahre zuvor initiierten Sprachförderaktion, in deren Rahmen man in der Sutselva rätoromanische Kindergärten gegründet, Kindergärtnerinnen geschult und eine regionale Schriftnorm entwickelt hatte (siehe Abschnitt 2.4). Die Dynamik, die sich anhand statistischer Daten bis ins 19. Jh. zurückverfolgen liess, präsentierte sich Weinreich als Prozess des Sprachwechsels. In einem völlig anderen Kontext führte Clau Solèr von 1976 - 1981 seine Forschung zum Sprachgebrauch durch. Die von ihm untersuchte lokale Gemeinschaft von Lumbrein in der Val Lumnezia mochte bei einem Anteil der Personen rätoromanischer Muttersprache von 98.3 % (410 von 417 Personen gemäss der Volkszählung von 1980) fast einsprachig erscheinen, aber dennoch war das (Schweizer-)Deutsche prägender Bestandteil des Alltags: Schweizerdeutsch war selbstverständlich im Kontakt mit Unbekannten und gelangte über Verwandtenbesuche in die Familien sowie in nachbarschaftliche Kindergruppen, wo es auch unter Rätoromanischsprachigen gebraucht wurde; Deutsch dominierte den Medienkonsum. Rätoromanisch kam in gemischtsprachigen Gruppen, in denen die Deutschsprachigen zumindest über eine rezeptive Kompetenz des Rätoromanischen ver- 174 Matthias Grünert <?page no="211"?> fügten, immerhin zum Zug. Solèr dokumentierte auch den Sprachkontakt im gesprochenen Rätoromanischen, insbesondere in der Arbeitssprache, wo er bei zunehmender Ausrichtung auf moderne Technik (in der Abfolge Landwirt - Maurer - Schreiner - Elektriker - Automechaniker) mehr Transferenzen aus dem Deutschen feststellte. Statistisch so kompakte rätoromanische Ortsgemeinschaften wie im Lumbrein der 1970/ 80er Jahre gibt es nicht mehr. Der Anteil Anderssprachiger hat überall zugenommen und damit auch die mehrsprachige Praxis im Alltag derer, die Rätoromanisch können. Die Präsenz des Rätoromanischen im öffentlichen Leben variiert aber immer noch stark. Neben Ortschaften mit rätoromanischsprachigen Mehrheiten, in denen die Lokalsprache in vielen sozialen Kontakten verwendet wird, gibt es solche mit eingeschränkten Nutzungsmöglichkeiten, wo jedoch der Status des Rätoromanischen als Unterrichtssprache in der Volksschule weiterhin besteht. Dieser Status manifestiert sich vorwiegend in der traditionellen rätoromanischen Schule, in der auf Primarstufe (1. - 6. Schuljahr) Rätoromanisch die Unterrichtssprache ist und Deutsch ab dem 3. Schuljahr als Fach geführt wird, während auf der Oberstufe (7. - 9. Schuljahr) Deutsch zur Hauptunterrichtssprache wird, Rätoromanisch aber in einem Teil der Fachbereiche weiterhin zum Zug kommt. In einigen Oberengadiner Gemeinden und in Trin (ebenso wie in Klassen in Ilanz/ Glion, Domat/ Ems und Chur) werden dagegen Rätoromanisch und Deutsch ab dem 1. Schuljahr nebeneinander als Unterrichtssprachen verwendet. Sowohl die traditionelle rätoromanische Schule als auch das in neuerer Zeit entwickelte zweisprachige Schulmodell verlangen von Anderssprachigen eine Anpassung. Dadurch allein wird jedoch - wenn nicht eine Stützung durch eine vitale Lokalsprache erfolgt - kaum eine Sozialisierung über das Rätoromanische ermöglicht. Zwischen der Schule als einer «Bastion des Romanischen» und dem ausserschulischen Umfeld kann sich ein Gegensatz einstellen, wie er für einen grossen Teil des Oberengadins prägend ist. Wie sich das Verhältnis in den stärker rätoromanisch geprägten Regionen zum Deutschen verändert hat, dokumentiert die von 2006 - 2008 durchgeführte sprachbiografische Studie von Renata Coray und Barbara Strebel (2011) aus der erfahrungsbasierten Sicht der Sprechenden. Befragte, die zwischen den 1940er und 1960er Jahren geboren sind und den grössten Teil ihres Lebens in Breil/ Brigels in der Surselva bzw. in Sent im Unterengadin verbracht haben, berichten von ihren Konfrontationen mit dem Deutschen als fremder Sprache in der Kindheit, wobei sie diese Erfahrung als etwas Besonderes, als im Gegensatz zur Erfahrung der Gegenwart stehend, hervorstreichen. Ihrem eigenen mühsamen Erlernen des Deutschen in der Schule und der Lehre stellen sie die aktuelle Situation gegenüber, in der die Kinder in der Regel früher mit Deutsch in Kontakt kommen und schon vor Schuleintritt über gute Deutschkenntnisse verfügen. Zum Sprachwechsel in der Sutselva siehe Weinreich 2011: 215 - 268. Zu den Revitalisierungsbemühungen in der Sutselva siehe Weinreich 2011: 269 - 299. Zum Sprachgebrauch in Lumbrein siehe Solèr 1983: 96 - 186. Zur regional variierenden Vitalität des Rätoromanischen siehe Grünert et al. 2008: 57 - 126, 387 - 389. Zu den Schulmodellen in Romanischbünden siehe Cathomas 2005: 155 - 166; Simmen 2015. Zum Stellenwert des Deutschen aus der Sicht der Rätoromanischsprachigen siehe Coray und Strebel 2011: 30 - 33, 184 f., 271 - 274. Rätoromanisch 175 <?page no="212"?> 5 Sprachenpolitik 5.1 Die überregionale Standardsprache Rumantsch Grischun Die historisch begründete «Mehrspurigkeit» in der Verschriftlichung des Rätoromanischen (siehe Abschnitt 2.2) wurde besonders bei überregionaler Zusammenarbeit als Nachteil empfunden. So stiess sich der Hauptbegründer der Societad Retorumantscha, Gion Antoni Bühler (1825 - 1897), ab den 1860er Jahren an dieser Situation (siehe Abschnitt 2.3). Er erachtete die «Vereinigung der romanischen Dialekte» («uniun dels dialects romanschs», Coray 2008: 112) als wünschenswert, entfaltete eine breite publizistische Tätigkeit in seinem eher spontan entwickelten romonsch fusionau und unterrichtete dieses auch am Bündner Lehrerseminar. Mit seinem Projekt blieb er ein Einzelkämpfer. Nach einer weiteren erfolglosen Einzelinitiative in den 1950er Jahren, dem Interrumantsch von Leza Uffer (1912 - 1982), ergab sich in den 1980er Jahren eine Situation, in der die Lancierung eines breiter abgestützten Standardisierungsprojekts aufgrund einer diesem Vorhaben wohlgesinnten Konstellation von Kräften möglich war. Der 1980 gewählte Sekretär der Lia Rumantscha (LR), Bernard Cathomas (*1946), beauftragte 1982, in Absprache mit dem LR-Vorstand, den Romanistikprofessor Heinrich Schmid (1921 - 1999) von der Universität Zürich mit der Ausarbeitung von Richtlinien für eine überregionale Schriftsprache. Schmids Konzept für Rumantsch Grischun (RG), welches Entscheide nach dem Mehrheitsprinzip innerhalb der drei Idiome Sursilvan, Vallader und Surmiran vorschlug, bei unklaren Fällen die Mundartebene einbezog und transparenten Lösungen den Vorzug gab, vermochte auch skeptisch Eingestellte zu überzeugen. Bezüglich der Anwendungsperspektive wurde an Informationsveranstaltungen betont, dass RG «keine Konkurrenz zu den existierenden Idiomen sein solle und in erster Linie für Publikationen vorgesehen sei, die bisher auf Deutsch verfasst worden waren und sich an alle Rätoromanen richteten (z. B. Formulare, Plakate, Reklame etc.)» (Coray 2008: 139). In den 1980er Jahren schritt die Kodifizierung und Implementierung von RG rasch voran. Ein Wörterbuch konnte vorgelegt werden, die Lia Rumantscha erhielt viele Übersetzungsaufträge, und sogar der Bund begann, die neue Schriftsprache in Übersetzungen zu verwenden. Ab 1988 wurden kritische Stimmen gegenüber dem zu forschen Vorgehen der Lia Rumantscha laut, und in den folgenden Jahren (1989 - 1992) lässt sich eine Polarisierungs- und Protestphase festmachen, in der gegensätzliche Sprachkonzeptionen aufeinanderprallten. Die RG-Befürwortenden traten für eine gemeinsame Schriftsprache als modernes und effizientes Kommunikationsmittel ein, mit dem Ressourcen gespart werden können, währenddem die Opponenten die emotionalen und identitären Aspekte der an die eigene Region gebundenen «Herzsprache» (lungatg dil cor, siehe Coray 2008: 405) ins Zentrum stellten. Im Gegensatz zum Bund zögerte die Bündner Regierung mit einem Entscheid zu RG und gab 1993 eine Untersuchung zu dessen Akzeptanz in Auftrag. Gemäss den 1995 veröffentlichten Resultaten befürworteten 66 % der Befragten eine gemeinsame Schriftsprache, wobei 44 % RG und 22 % ein Idiom in dieser Funktion wünschten. Die kontrovers diskutierten Ergebnisse erlaubten dem Kanton nicht mehr als die partielle Einführung von RG als Amtssprache. Nachdem die Bündner Stimmbevölkerung - allerdings nicht die Stimmbevölkerung in den rätoromanischsprachigen Gemeinden - einer Gesetzesrevision zugestimmt hatte, wurde RG im Jahr 2001 zur einzigen rätoromanischen Schriftvarietät 176 Matthias Grünert <?page no="213"?> des Kantons. Auf Bundesebene erhielt das Rätoromanische 1996, bei der Revision des Sprachenartikels, den Status einer Teilamtssprache. Diese «gesicherte gesetzliche Basis für die Übersetzungen von wichtigen amtlichen Texten ins Romanische» (Coray 2008: 90) bedeutete auch die Sanktionierung der Verwendung von RG durch den Bund. Nach der Etablierung von RG als Amtssprache auf Bundes- und Kantonsebene setzte 2003, mit dem Entscheid des Bündner Grossen Rates, Lehrmittel für die Volksschule nur noch in RG herauszugeben, eine neue Phase ein. Die Einführung von RG als schriftliche Schulsprache begann 2005 in einer ersten Gruppe von Gemeinden, erreichte aber wichtige Teile Romanischbündens - das gesamte Engadin und die obere Surselva - nicht. Widerstand gegen die Einführung von RG in der Schule wurde bereits zum Zeitpunkt des Lehrmittelentscheids laut, aber erst 2011 organisierte er sich in Vereinen Pro Idioms, die rasch grossen Zustrom erhielten und politischen Druck ausübten. Somit konnte die Möglichkeit, Lehrmittel in den Idiomen herauszugeben, bei der Revision des kantonalen Schulgesetzes im Jahr 2011 verankert werden. In der Folge kehrten fast alle Gemeinden, die RG eingeführt hatten, zum Idiom zurück. Heute wird RG nur noch in den zweisprachigen Klassen der Stadt Chur und der Gemeinde Domat/ Ems sowie in der Schule von Trin verwendet. Bereiche, in denen RG eine komplementäre Funktion erbringt, sind die Medien und der institutionelle Sprachausbau. In der seit 1997 erscheinenden Tageszeitung La Quotidiana wird über Inhalte, die nicht einzelne Regionen betreffen, in RG berichtet. Das Medienunternehmen Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR), ein Tochterunternehmen der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR), führt seinen Web-Auftritt (https: / / www.rtr.ch) in RG und verwendet dieses auch für abgelesene Texte in den Radionachrichten, während für Beiträge in den Nachrichten sowie für alle übrigen Sendungen die gesprochenen Varietäten zum Zuge kommen. Das heisst, dass nicht die normierten Regionalvarietäten, sondern kleinräumigere Varietäten gesprochen werden. So bekommt man z. B. auch das vom übrigen Surselvischen abweichende Tuatschin (siehe Abschnitt 3.1) oder das sich vom Vallader des Unterengadins unterscheidende Jauer (Münstertaler Mundart) zu hören. Für den Sprachausbau kommt dem von der Lia Rumantscha betreuten Pledari grond (PG) für RG, der umfangreichsten Wortschatzdatenbank des Rätoromanischen, eine grosse Bedeutung zu. Insbesondere für aktuelle Wortschatzbereiche findet sich hier der reichste Bestand an Einträgen. Was in den Idiom-Wörterbüchern (die teils ins System des PG integriert und teils über Links von der Website des PG aus erreichbar sind) nicht enthalten ist, kann der RG-Datenbank entnommen und phonetisch sowie orthografisch an die gewünschte regionale Varietät angepasst werden. Die überregionale Schriftsprache RG, für die teilweise ein zum Hochdeutschen in der Deutschschweiz analoger Status gefordert wurde, wird heute vor allem von gewissen Berufsgruppen - im Maturitäts- und im Hochschulbereich, in Medien, Sprachförderung und Verwaltung - verwendet. Der sich damit abzeichnende Stellenwert kommt der eingeschränkten Funktion, die man sich bei der Lancierung des Projektes vorstellte, näher als dem später angestrebten Status einer von allen zu lernenden Schriftsprache. Zur Lancierung des Standardisierungsprojekts RG siehe Coray 2008: 132 - 139; Cathomas 2023: 43 - 50. Zu den Prinzipien der Kodifizierung von RG siehe Schmid 1985. Zu den Auseinandersetzungen um RG siehe Coray 2008: 141 - 160, 176, 192 - 222; Cathomas 2023: 90 - 117, 151 - 153. Zu Rätoromanisch 177 <?page no="214"?> politischen Entscheiden in Zusammenhang mit RG siehe Coray 2008: 161 - 164, 172 - 174, 192 - 194; Grünert et al. 2008: 366 - 368; Grünert 2018/ 19: 170 f. Zu RG in den Medien siehe Cathomas 2023: 133 - 138. 5.2 Vom Gebietsschutz zur Sorge um die rätoromanische Diaspora Nach der Anerkennung als Landessprache 1938 änderte sich längere Zeit nichts an der rechtlichen Situation des Rätoromanischen. Von 1947 bis in die 1980er Jahre scheiterten verschiedene Versuche, den Gebietsschutz des Rätoromanischen in ein kantonales Sprachengesetz einzuschreiben. Der Bündner Nationalrat Martin Bundi (1932 - 2020) setzte sich daher zum Ziel, die gesetzliche Verankerung des Territorialitätsprinzips zugunsten der Minderheitensprachen auf Bundesebene herbeizuführen, wozu er 1985 eine Motion zur Revision des Sprachenartikels einreichte. Die Motion verlangte auch die partielle Anerkennung des Rätoromanischen als Amtssprache des Bundes. Bundi löste eine Diskussion aus, die über die Minderheitenproblematik hinausging und sich auch den Beziehungen zwischen den Sprachgemeinschaften widmete. In den Parlamentsdebatten (1992 - 1995) standen sich Verfechter zweier bisher ungeschriebener sprachrechtlicher Grundlagen gegenüber: die Verfechter des Territorialitätsprinzips, die auf staatliche Regulierung setzten, und die Befürworter der Sprachenfreiheit, denen an verbesserter Verständigung und Schutz der nationalen Sprachminderheiten auch ausserhalb ihres Sprachgebietes gelegen war. Da sich die beiden Gruppen nicht auf eine Lösung einigen konnten, liess sich die Revision nur unter Verzicht der Erwähnung sowohl des Territorialprinzips als auch der Sprachenfreiheit abschliessen. So wurde eine Fassung vom Parlament verabschiedet und 1996 von der Stimmbevölkerung gutgeheissen, die sich auf unumstrittene Inhalte beschränkte: «die Verständigung und den Austausch unter den Sprachgemeinschaften», die «Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und italienischen Sprache» sowie die Anerkennung des Rätoromanischen als Amtssprache des Bundes «[i]m Verkehr mit den Rätoromanen» (Coray 2004: 260). Bereits drei Jahre später (1999) konnten allerdings die beiden umstrittenen Elemente im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung integriert werden. Als der Bündner Grosse Rat 2002 die Totalrevision der Kantonsverfassung in Angriff nahm, musste das Sprachenrecht aufgrund der neuen Vorgaben der Bundesverfassung angepasst werden. So wurde ein Sprachenartikel verabschiedet, in den das Territorialitätsprinzip im Zusammenhang mit der Bestimmung der Amts- und Schulsprachen eingeschrieben war: «[die Gemeinden und Kreise] achten dabei auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten» (Coray 2008: 92). Konkretisiert wurde das Territorialitätsprinzip im seit 2008 geltenden Bündner Sprachengesetz. Dieses stuft Gemeinden mit mindestens 40 % Rätoromanisch Sprechenden (wofür die Verbindung «Hauptund/ oder regelmässig gesprochene Sprache» gemäss Volkszählung 2000 zugrunde gelegt wurde, siehe Abschnitt 4.1) als «einsprachige» Gemeinden ein, Gemeinden mit zwischen 20 % und 40 % Rätoromanisch Sprechenden als «mehrsprachige» Gemeinden (BR 492.100, Art. 16). Während in einsprachigen Gemeinden die angestammte Sprache Amtssprache ist, muss sie in mehrsprachigen Gemeinden als eine der Amtssprachen berücksichtigt werden. Bezüglich der Schule gilt, dass der Unterricht grundsätzlich in beiden Gemeindekategorien in der angestammten Sprache erfolgt, dass aber mehrsprachige Gemeinden die Führung 178 Matthias Grünert <?page no="215"?> einer zweisprachigen Schule - in der bereits auf Primarstufe in zwei Sprachen unterrichtet wird - beantragen können (BR 492.100, Art. 19 - 20). Der Schwellenwert von 40 % für die Zuordnung zum rätoromanischen Sprachgebiet sorgte im Bündner Grossen Rat für Diskussionen und führte dazu, dass das Referendum ergriffen wurde, weshalb die Bündner Stimmbevölkerung über die Vorlage befinden musste. Es muss auch festgehalten werden, dass das Gesetz für Gemeinden, die im Bereich um 40 % liegen, keine Wirkung hat, da früher gefasste Beschlüsse zum Status und Gebrauch von Sprachen sowie früher etablierte Praktiken nicht angepasst werden mussten (BR 492.100, Art. 27). Samedan z. B., wo 42.2 % Rätoromanisch Sprechende erfasst wurden, hatte sich vor In-Kraft-Treten des Gesetzes als zweisprachig erklärt und musste folglich nicht eine «einsprachige» Gemeinde werden. Angesichts des mehrsprachigen Charakters von Samedan wäre eine solche amtssprachliche Einstufung auch fragwürdig. Hier zeigt sich die Problematik, dass der beabsichtigte starke Schutz der Minderheitssprache nicht umsetzbar ist und die in diesem Sinn verankerte Gesetzgebung einen symbolischen Charakter hat. Allerdings ist zu anerkennen, dass der vom Sprachengesetz gesetzte Rahmen - auch mit der Kontrollfunktion der kantonalen Behörden - bei der Fusion sprachlich heterogener Gemeinden bewirkte, dass das sprachliche Regime der neu gebildeten Gemeinden (z. B. Ilanz/ Glion, 2014) bewusster erarbeitet wurde. Nachdem sich bis in die 2000er Jahre die Erhaltungs- und Fördermassnahmen zugunsten des Rätoromanischen auf das rätoromanische Sprachgebiet konzentriert hatten, rückten in jüngster Zeit vermehrt die ausserhalb des Sprachgebiets lebenden Rätoromanischsprachigen (siehe Abschnitt 4.1) ins Zentrum der öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit. Die Situation im anderssprachigen Umfeld wurde unter dem seit längerem gebräuchlichen Begriff der diaspora rumantscha thematisiert. Eine vom Bundesamt für Kultur in Auftrag gegebene, 2019 publizierte Evaluation empfahl eine «systematische Abklärung der Bedürfnisse» im Hinblick auf den mit besonderen Herausforderungen verbundenen Erhalt des Rätoromanischen ausserhalb des Sprachgebiets (Bisaz et al. 2019: 59 nach Cathomas und Graf 2022: 127). Zur Diskussion und Umsetzung des Territorialitätsprinzips in Graubünden siehe Viletta 1978; Etter 2017, insbesondere zur Fusion von Ilanz/ Glion; Grünert 2018/ 2019: 171 - 174. Zur Revision des Sprachenrechts auf Bundesebene siehe Coray 2004. Zur rätoromanischen Diaspora siehe LIR 1: 271; Cathomas und Graf 2022. 6 Rätoromanische Identität im gesellschaftlichen Kontext In einer Darstellung des Rätoromanischen sind auch verschiedene Manifestationen rätoromanischer Identität im gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen. Neben sprachlichen Identitätsträgern - Literatur und Gesang, in denen auch der Metadiskurs zum Rätoromanischen tradiert wird - spielen Institutionen und Medien, als Bereiche des gesellschaftlichen Austauschs und als Vermittler kultureller Erzeugnisse, eine wichtige Rolle. Über die Gesangskultur, die in Romanischbünden seit der rätoromanischen Renaissance einen hohen Stellenwert einnimmt, manifestiert sich auch in neuster Zeit rätoromanische Identität. Seit den 1980er Jahren ist das Schaffen von chantauturs und chantauturas, die sich von der traditionellen Gesangskultur losgelöst haben, mit dieser aber immer wieder in Rätoromanisch 179 <?page no="216"?> einen Dialog treten, ein wesentlicher Bestandteil des kulturellen Lebens. Im musikalischen Bereich Tätige erhalten durch Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR) eine Plattform. Abgesehen davon, dass rätoromanische Musik einen Teil des Musikprogramms ausmacht, sind spezielle Projekte zu erwähnen, wie die seit 2005 bestehende Produktionsreihe Top pop rumantsch, die jungen Talenten Auftritte ermöglicht, die von der Liedermacherin Astrid Alexandre von 2012 - 2014 durchgeführte Konzertreihe ChantAuTour. ChantauturAs rumantschAs sin turnea, 8 die «zu einer regelrechten Demonstration der lebendigen Musikszene und Sprache Romanischbündens heran[reifte]» (Decurtins 2019: 475), oder Berichterstattungen von RTR, z. B. zum noch jungen Festival da la chanzun rumantscha (erstmals 2019 in Trun), das Neukompositionen in der traditionellen Gesangskultur fördert. Das literarische Schaffen, das früher hauptsächlich über Periodika und Publikationsreihen der regionalen Sprachvereine Leserinnen und Leser erreichte, findet seit 2010 in der mit Fördergeldern finanzierten Chasa Editura Rumantscha (CER) eine zusätzliche Publikationsplattform. Weitere Akteure sind die Uniun per la Litteratura Rumantscha (ULR), früher Uniun per scripturas e scripturs rumantschs (USR), die seit 1978 das Jahrbuch Litteratura herausgibt, die Verlegerin Mevina Puorger, die sich mit editionmevinapuorger in der Neuedition vergriffener Klassiker spezialisiert hat, aber auch neue Werke herausgibt, und der Verlag Ediziun Apart, bei dem Originalwerke und Übersetzungen ins Rätoromanische erscheinen. Für die Literaturszene sind die von der USR bzw. ULR seit 1990 jährlich in Domat/ Ems organisierten Dis da litteratura ( ‘ Literaturtage ’ ) eine Institution geworden. Im Zusammenhang mit der Entwicklung im Medienbereich steht die Zunahme der informellen schriftlichen Alltagskommunikation seit den 2000er Jahren. Der in rätoromanischen Kurznachrichten untersuchte Sprachgebrauch zeichnet sich - im Vergleich zu anderssprachigen Kurznachrichten - durch eine hohe Frequenz von Code-Switching aus, das oft entsprechendes Code-Switching der informellen gesprochenen Sprache widerspiegelt. In ihrer diesbezüglichen Forschung zieht Claudia Cathomas den Schluss, dass angesichts der häufigen Insertion anderssprachiger Lexeme in die rätoromanische Satzstruktur das Code-Switching nicht als Zeichen der Spracherosion zu deuten sei. Die in gewissen Bereichen zu beobachtende Relexikalisierung über das Deutsche verhindert aus ihrer Sicht sogar, dass «ganz in eine andere Sprache gewechselt wird, was sich paradoxerweise positiv auf den Erhalt einer bedrohten Sprache auswirken kann» (Cathomas 2015: 364). In jüngster Zeit sind zwei neue Markierungen symbolischer Tragweite im öffentlichen Raum zu verzeichnen. Grossverteiler haben - angeregt durch die regionale Sprachförderung der Lia Rumantscha - ab 2017 in Ilanz/ Glion und Umgebung, danach auch in anderen Ortschaften des rätoromanischen Sprachgebietes rätoromanische Beschriftungen in den Ladenräumen eingeführt. 2020 hat die Rhätische Bahn im rätoromanischen Sprachgebiet die Sprachabfolge bei den Lautsprecherdurchsagen in den Zügen geändert. Statt an zweiter Stelle - nach dem Deutschen und vor dem Englischen - werden bevorstehende Halte seither zuerst auf Rätoromanisch angekündigt, dies in der jeweiligen 8 ChantAuTour basiert auf chantautur ‘ Liedermacher ’ und ist als ‘ Gesang/ Liedermacher auf Tournee ’ verstehbar, in Entsprechung zu ChantauturAs rumantschAs sin turnea ‘ Romanische LiedermacherInnen auf Tournee ’ (geschlechtergerechte Personenbezeichnung mit Binnen-A im Rätoromanischen). 180 Matthias Grünert <?page no="217"?> regionalen Varietät: proxima fermada … ‘ nächster Halt …’ in der Surselva, prosma fermeda im Oberengadin und prosma fermada im Unterengadin. Die veranschaulichte Präsenz des Rätoromanischen in Bereichen des sozialen Lebens weist auf Angebote und Möglichkeiten hin, die mehr oder weniger wahrgenommen werden, immer in einem Kontext, in dem auch das Deutsche verfügbar ist. Auch aus den sprachpolitischen Massnahmen - wie der Etablierung von Rumantsch Grischun in gewissen Bereichen oder den Veränderungen im Sprachenrecht - gehen Angebote hervor, etwa zur Nutzung von Terminologien, Informationsquellen oder Gelegenheiten des Sprachgebrauchs bzw. zur Erarbeitung und Umsetzung von Sprachenregimes in gewissen Kontexten. Den sprachpolitischen, sprachplanerischen sowie kulturellen Bemühungen und Aktivitäten sind allerdings sprachenstatistische Daten und Forschungsergebnisse gegenüberzustellen, die für die Zukunft des Rätoromanischen auf grosse Herausforderungen schliessen lassen. Zur Gesangskultur siehe Decurtins 2019: 117 - 120, 351 - 481; Valär 2013: 102, 167 - 169. Zur informellen schriftlichen Alltagskommunikation siehe Cathomas 2015. Zur Präsenz des Rätoromanischen im öffentlichen Raum siehe Caviezel 2022. Bibliographie Acklin Muji, Dunya (2004). La première révision de l ’ article des langues. 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Kim and William Labov. Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins. 184 Matthias Grünert <?page no="221"?> Gebärdensprachen Penny Boyes Braem, Forschungszentrum für Gebärdensprache, Basel 1 Einleitung Anders als vielfach angenommen gibt es keine universelle Gebärdensprache. Stattdessen sind gegenwärtig 159 Gebärdensprachen dokumentiert. In der Schweiz werden drei Gebärdensprachen verwendet: die Deutschschweizerische Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Françaises Suisse Romande (LSF-SR) und die Lingua dei Segni Svizzera Italiana (LIS-SI). Gebärdensprachen sind analog zu den besser bekannten Lautsprachen natürliche Sprachen und als solche voll entwickelte sprachliche Systeme. Sie werden im täglichen Leben für dieselben Zwecke verwendet wie gesprochene Sprachen: um konkrete und abstrakte Inhalte in allen Bereichen zu kommunizieren (von Alltagsunterhaltungen über technische Erklärungen oder wissenschaftliche Informationen bis zu Theater und Poesie). Die meisten Gebärdensprachen sind untereinander nicht verständlich, obwohl einige Gebärdensprachen - wie einige gesprochene Sprachen - historisch verwandt sind. Die Gebärdensprachen in Westeuropa und Nordamerika haben historische Perioden durchlaufen, in denen sie von der sie umgebenden Gesellschaft überhaupt nicht als Sprachen anerkannt wurden, sondern eher als eine sehr primitive Form der Kommunikation, die von Menschen mit Behinderung verwendet wurde (siehe Abschnitt 2). Alle Gebärdensprachen haben eine komplexe Struktur, die sich unabhängig von der gesprochenen Sprache ihrer Region im Laufe der Zeit in gehörlosen Sprachgemeinschaften entwickelt hat. Viele dieser Strukturen sind an die visuelle/ körperliche Modalität angepasst, in der sie wahrgenommen und produziert werden (siehe Abschnitt 3). Für einen Überblick über die verschiedenen Verwendungen von Gebärdensprachen siehe Boyes Braem 2014. Eine Liste der derzeit dokumentierten Gebärdensprachen findet sich in Eberhard et al. 2024. 2 Soziokulturelles Umfeld der Schweizer Gebärdensprachen 2.1 Wechselnde Erziehungsmethoden für gehörlose Menschen 2.1.1 Bis in die 1980er-Jahre Die Mehrheit (ca. 90 %) der Kinder, die mit einer hochgradigen Hörbehinderung geboren werden, werden in hörende Familien hineingeboren, die keine Gebärdensprache kennen. Bis in die jüngste Vergangenheit hat diese Gruppe eine Gebärdensprache erst nach dem Eintritt in die Grundschule gelernt, oft von älteren Kindern. Die Schulen für Gehörlose folgten immer noch der Priorität, die auf einem einflussreichen Pädagogenkongress 1880 in Mailand beschlossen worden war: Alle gehörlosen Kinder sollten in erster Linie das <?page no="222"?> Sprechen und Lippenlesen lernen. Die bis anhin in vielen Klassenzimmern verwendete Gebärdensprache wurde als primitive Form der Kommunikation abgestempelt und aus den Klassenzimmern verbannt. Diese rein oralistische Pädagogik wurde später in vielen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten übernommen. Auch in allen grossen kantonalen Schulen der Deutschschweiz und im italienischsprachigen Raum herrschten bis in die 1980er-Jahre ausschliesslich oralistische Methoden vor. Das Ergebnis war nicht nur, dass die Lautsprachkompetenzen der Schüler am Ende nicht besonders hoch waren, sondern auch, dass die Zeit, die für das Erlernen der gesprochenen Sprache aufgewendet wurde, weniger Zeit für das Lernen anderer Fächer liess. Zudem wirkte sich die Stigmatisierung und das Verbot der Gebärdensprache auch negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler/ innen aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trugen die Anhänger/ innen der eugenischen Bewegung in der Schweiz zur Unterdrückung dieser Sprache bei, indem sie Gehörlose aufforderten, nicht zu heiraten, und wenn doch, keine Kinder zu bekommen. Allgemein zur Geschichte gehörloser Gemeinschaften und ihrer Gebärdensprachen während dieser Zeit siehe z. B. Lane 1994a; Fischer und Lane 1993; Wolff 2012. Speziell zur Schweiz siehe Caramore 1988; Boyes Braem et al. 2001; Gebhard 2007; Hesse et al. 2020; Wiener 2023. Zu den eugenischen Bewegungen und den Gehörlosen siehe Biesold 1984 und Wyss 2011. 2.1.2 Ab den 1980er-Jahren: neue Bildungsmethoden mit Gebärden In den 1980er-Jahren begannen Pädagog/ innen in vielen Ländern ihre Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der rein oralistischen Methoden in Gehörlosenschulen zu äussern. Aus Enttäuschung und beeinflusst durch die Schriften ihrer amerikanischen Kolleg/ innen waren die Verantwortlichen in einigen europäischen Schulen auch offen dafür, neue Erziehungsmethoden auszuprobieren. Zum Beispiel besuchten einige Lehrpersonen der Zürcher Gehörlosenschule die Gallaudet University für Gehörlose in Washington, DC. Gottfried Ringli, der Direktor der Kantonalen Gehörlosenschule Zürich (1961 - 1990), führte ein «gebärdetes Deutsch» ein, bei dem die Wortfolge im Satz derjenigen der gesprochenen Sprache entspricht. In deutschsprachigen Schulen hiess das Lautsprachbegleitende Gebärden (LBG). Der Zweck dieser Methode war es, die deutsche Sprache besser unterrichten zu können, und nicht, eine echte Gebärdensprache zu verwenden oder zu lehren. Doch immer mehr Menschen stimmten dem zu, was der Psycholinguist François Grosjean (1999) in seiner Broschüre formulierte: Das Recht des gehörlosen Kindes, zweisprachig aufzuwachsen. In der französischen Schweiz wurde in den Gehörlosenschulen in Genf, Fribourg und Lausanne ein zweisprachiges Programm (LSF-SR/ Französisch) eingeführt. Später bot die Gehörlosenschule in Basel auf experimenteller Basis eine bilinguale Klasse und die Zürcher Schule einige Schulstunden pro Woche an, in denen gehörlose Lehrpersonen in Gebärdensprache unterrichteten. Zur Methode der lautsprachbegleitenden Gebärden siehe Prillwitz und Wudtke 1988. Die ersten zweisprachigen Programme an den Schulen in Zürich und Genf werden in Maye et al. 1987 beschrieben. Zum Recht gehörloser Kinder auf Zweisprachigkeit siehe Grosjean 1999. 186 Penny Boyes Braem <?page no="223"?> 2.1.3 Aktuelle Situation (2024) und Ausblick Zwei Faktoren spielen für die Art und den Gebrauch der Gebärdensprachen heute und in Zukunft eine Rolle: Neue medizinische Technologien, insbesondere die weit verbreitete Cochlea-Implantation und die Integration gehörloser Kinder in Schulen mit hörenden Kindern. Ein Cochlea-Implantat (CI) ist eine Kombination aus einem elektronischen Gerät, das chirurgisch hinter dem Ohr implantiert wird, und einem externen Gerät. Die Cochlea- Implantation wurde in der Schweiz in den späten 1970er-Jahren eingeführt. Aktuell erhalten viele gehörlose Kinder schon sehr früh ein CI (ab etwa 12 Monaten) und kommen in den für den Spracherwerb entscheidenden ersten Jahren oft überhaupt nicht mit der Gebärdensprache in Berührung. Die Mehrheit der gehörlosen Kinder in allen Teilen der Schweiz ist heute in Regelschulklassen mit hörenden Kindern integriert. Infolgedessen wurden viele der alten regionalen Schulen für Gehörlose geschlossen oder in eine andere Art von Institution umgewandelt. Obwohl viele gehörlose Kinder heute nach der Grundschule in eine öffentliche Sekundarschule mit hörenden Kindern integriert werden, entscheiden sich einige für eine spezielle Sekundarschule für Hörgeschädigte mit Wohnmöglichkeiten in einem Internat oder einer ähnlichen Wohngruppe in Zürich oder Freiburg. Nach der Sekundarschule absolvieren viele Gehörlose eine Berufslehre nach dem für die Schweiz typischen dualen Ausbildungssystem, bei dem die Lehrlinge in Betrieben ausgebildet werden und auch die Berufsschule besuchen. So werden zum Beispiel viele gehörlose und schwerhörige Schüler aus der ganzen Deutschschweiz an der Berufsschule für Hörgeschädigte in Zürich unterrichtet. Einige, meist schwerhörige, Schüler besuchen die Berufsmaturitätsschule, die der Berufsschule für Hörgeschädigte angegliedert ist. An den oben genannten Sekundar- und Berufsschulen sind fast alle Hauptlehrer hörend und nur wenige beherrschen die Gebärdensprache. An der Sekundarschule für Gehörlose werden Gebärden hauptsächlich im Wohnheim verwendet. Da etwa zwei Drittel der Personen, die derzeit die Zürcher Berufsschule besuchen, einen geringeren Grad der Hörbehinderung haben (manchmal aufgrund einer frühen Cochlea-Implantation), verständigen sie sich untereinander oft in der Lautsprache statt in der Gebärdensprache. Trotz all dieser Faktoren entscheiden sich viele Mitglieder der jüngsten Hörgeschädigten-Kohorte als Erwachsene dafür, Spätlernende einer Gebärdensprache zu werden. Diese jüngsten Veränderungen in der Art und Weise wie die Gebärdensprache gelernt wird, haben auch einen Einfluss darauf, wie, wo und in welcher Form die Schweizer Gebärdensprache heute und in Zukunft verwendet wird. Zur Verwendung der Gebärdensprache durch Kinder, die ein CI erhalten haben, siehe Stocker 2002; Haug et al. 2012; Hänel-Faulhaber 2014; Wilkinson und Morford 2020. Zu ethischen Fragen des CI siehe Erni 2002 und Lane 1994b. Für weitere Informationen über einen zweisprachigen/ modalen Lehrplan in Zürich siehe Bachmann et al. 2021, für zweisprachige Programme in Lausanne, Jaccaud 2009. Hohenstein et al. 2018 gibt einen Überblick über den Zugang von Gehörlosen und Schwerhörigen zur Hochschulbildung in der Deutschschweiz. 2.2 Präsenz der Gebärdensprachen in der Schweizer Gesellschaft In der Mitte des 20. Jahrhunderts kamen verschiedene Faktoren zusammen, die an vielen Orten der westlichen Welt zu einer positiveren Sicht auf die Gebärdensprachen führten. Die Sichtweise, dass Gehörlose in erster Linie Behinderte sind, die geheilt werden müssen, Gebärdensprachen 187 <?page no="224"?> wurde allmählich durch eine neuere ersetzt, die Gehörlose als sprachliche Minderheit betrachtet. Der Begriff gehörlos wurde zu Deaf Gain uminterpretiert und mit einer Form sensorischer, kognitiver, kultureller und kreativer Vielfalt gleichgesetzt, die zum Wohl der Menschheit beitragen kann. Das Konzept einer Sprachgemeinschaft und Deaf Gain verbreiteten sich in den europäischen Ländern in den folgenden Jahren schnell. Mit der Verbreitung des Zugehörigkeitsgedankens zu einer Gehörlosenkultur kam auch die Idee des Deaf Pride auf, eine Bewegung für eine stärkere Anerkennung der gebärdeten Sprachen in der Schweiz. Ein Meilenstein war die Deaf Pride-Parade, bei der 1981 eine grosse Anzahl von Schweizer Gehörlosen durch die Strassen von St. Gallen marschierte, um das Internationale Jahr der Behinderten zu begehen. Gehörlose Gebärdensprachbenutzende und Forschende in der Schweiz begannen, DSGS und die anderen Schweizer Gebärdensprachen als gleichwertig mit anderen Schweizer Minderheitensprachen anzusehen. Mit einer wachsenden Zahl von Dolmetschern und ihrer Präsenz vor allem im Fernsehen, wurden der Öffentlichkeit nicht nur die Existenz, sondern auch die Ausdrucksmöglichkeiten der Gebärdensprache zunehmend bewusst. Zur internationalen Deaf Gain-Bewegung siehe Bauman und Murray 2009. 2.3 Offizieller Status und Gebärdensprachbenutzer Gegenwärtig liegen keine offiziellen Zahlen über die Verwendung von Gebärdensprache als bevorzugte Sprache in der Schweiz vor. Der Schweizerische Gehörlosenbund (SGB-FSS 2023) schätzt die Zahl von Geburt an gehörloser oder schwerhöriger Personen auf ca. 10 ’ 000 (0.2 % der Bevölkerung) und geht davon aus, dass fast alle im Alltag eine Gebärdensprache verwenden. Von diesen Gehörlosen leben ca. 7 ’ 000 Personen in den 18 deutschsprachigen Kantonen, 2 ’ 500 in den 7 französischsprachigen und 500 im italienischsprachigen Tessin. Eine wichtige und ungeklärte Frage ist, ob diese Formel für die jüngere Generation von gehörlosen Kindern noch gültig ist, da diese routinemässig mit Cochlea-Implantaten versorgt werden. Zu den Zahlen von gehörlosen und schwerhörigen Gebärdensprachbenutzenden kommen nach einer Schätzung, die sich auf die Anzahl von Teilnehmenden an Gebärdensprachkursen stützt, noch etwa 13 ’ 000 hörende Gebärdensprachbenutzende dazu. Zahlen betreffend hörender Kinder von gehörlosen Eltern ( ‘ Children Of Deaf Adults ’ / CODAs), welche die Gebärdensprache ebenfalls verwenden, liegen keine vor. Da die Schweizer Verfassung jedem Menschen die Freiheit garantiert, eine Sprache seiner Wahl zu verwenden, gibt es in diesem Sinne keine «offizielle» Unterdrückung der Schweizer Gebärdensprachen. Die Bundesregierung fasste ihre Position zur Frage der Anerkennung der Gebärdensprache in der Schweiz im Jahr 2020 wie folgt zusammen: [ … ] Die Schweiz gehört zu den Staaten, die die Gebärdensprache nicht ausdrücklich anerkennen. Ausnahmen bilden die Verfassungen der Kantone Zürich und Genf. Bund und Kantone anerkennen allerdings die Bedeutung der Gebärdensprache im Alltag von gehörlosen Menschen. Sie sehen zahlreiche Massnahmen vor, um die Verwendung der Gebärdensprache und die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Teilhabe von gehörlosen Menschen zu fördern [ … ]. Für den Bundesrat ist eine Anerkennung der schweizerischen Gebärdensprachen keine zwingende Voraussetzung, um die soziale Teilhabe von hörbehinderten und gehörlosen Menschen weiter zu verbessern. Die bestehenden Ansätze lassen sich im Sinn einer tatsächlichen Anerkennung 188 Penny Boyes Braem <?page no="225"?> der Sprache und Kultur der Gehörlosen weiterentwickeln. Die bestehenden Regelungen und Massnahmen, insbesondere die Behindertenpolitik des Bundesrats, stellen hierfür einen geeigneten Rahmen dar. Der Bundesrat hat deshalb das Eidgenössische Departement des Innern beauftragt, den Dialog mit den Organisationen der Gehörlosen sowie den involvierten Stellen des Bundes und der Kantone auszubauen und die im Bericht erwähnten Verbesserungsmöglichkeiten zu prüfen (BR 2021). Der Schweizerische Gehörlosenverband vertritt den Standpunkt, dass diese Verwendung der Gebärdensprache in verschiedenen Situationen variabel und mit Unsicherheiten behaftet bleibt, solange die Gebärdensprache weiterhin nicht offiziell als natürliche Sprache der gehörlosen Minderheitenkultur anerkannt wird, wie es in anderen europäischen Ländern der Fall ist. So wurde zum Beispiel während der COVID-Pandemie zunächst keine Gebärdensprache für die im Fernsehen übertragenen offiziellen Informationen der Regierung zur Verfügung gestellt, bis der Schweizerische Gehörlosenverband dagegen protestierte. Links zur Anerkennung der Gebärdensprachen finden sich in Anhang I. Zur Information der Schweizer Bundesregierung über die COVID-Epidemie vgl. Stephens 2021. 3 Die sprachliche Struktur der Gebärdensprachen und die Auswirkungen der visuellen/ körperlichen Modalität Wie bereits erwähnt, sind Gebärdensprachen analog zu den besser bekannten Lautsprachen natürliche Sprachen und als solche voll entwickelte sprachliche Systeme. Die Tatsache, dass Gebärdensprachen in der visuellen/ körperlichen Modalität produziert und wahrgenommen werden, hat Konsequenzen für ihre sprachliche Struktur. Diese Modalität ermöglicht es Gebärdensprachen, die folgenden Faktoren zu nutzen, die bei akustischen/ gesprochenen Sprachen nicht in gleichem Masse vorhanden sind: • einen dreidimensionalen Raum, • gleichzeitige Bedeutungskomponenten, • Ikonizität auf vielen Ebenen der sprachlichen Struktur. In diesem Kapitel werden die Aspekte der Gebärdensprache thematisiert, die besonders von ihrer Modalität beeinflusst werden. Die meisten Beispiele von Gebärden stammen aus der Deutschschweizerischen Gebärdensprache (DSGS), da zu dieser die meiste Forschung existiert. Gebärden werden durch unflektierte Wörter gekennzeichnet, die in Grossbuchstaben geschrieben werden (so genannte Identitäts- oder ID-Glossen). Siehe Anhang II für weitere Konventionen, die für die Notierung der Gebärden verwendet werden. Ausführlichere Beschreibungen zu verschiedenen Aspekten von Gebärdensprachen finden sich in den Handbüchern von Pfau et al. 2012; Eichmann et al. 2012; Jaeger 2020; Volterra et al. 2022; Boyes Braem 1990/ 1995. Eine Online-Grammatik der DSGS bietet Tissi 2024. 3.1 Produktion und Wahrnehmung in der visuellen/ körperlichen Modalität Der Gebärdenraum Eine der wichtigsten Möglichkeiten, die die visuelle/ körperliche Modalität bietet und die in der Modalität der gesprochenen Sprache nicht verfügbar ist, ist die Nutzung des Gebärdensprachen 189 <?page no="226"?> dreidimensionalen Raums für sprachliche Zwecke. Im Gegensatz etwa zu Pantomimen, die eine ganze Bühne als Raum nutzen können, führen Gebärdensprachbenutzende fast alle Bewegungen in einem begrenzten Gebärdenraum aus (siehe Abb. 1a). Abb. 1: (a) Der Gebärdenraum (b) Drei Zonen der relativen Sehschärfe, aus Siple 1978: 99 Das Wahrnehmungsfeld Das visuelle Wahrnehmungsfeld des Adressaten beeinflusst nicht nur die Grösse des Gebärdenraums, sondern auch die verwendeten Gebärden. Der Empfänger fokussiert sich primär auf das Gesicht des Gebärdenden und weniger auf die Hände, so dass die grösste Sehschärfe im Bereich des Gesichts, innerhalb der beiden inneren Ringe in Abb. 1b, liegt und im äusseren Ring weniger scharf wird. Dies widerspiegelt sich beim Gebärdenden darin, dass Gebärden, die näher am Gesicht ausgeführt werden, kleinere Veränderungen der Handform, der Aufführungsstellen und der Bewegungen aufweisen als Gebärden weiter weg vom Gesicht. Zudem werden Gebärden unterhalb des Halses eher mit beiden Händen und mit symmetrischen Komponenten und grösseren Bewegungen produziert. Produktionszeit für eine Gebärde vs. einen Gebärdensatz Die Produktionszeit für eine Gebärde ist zwar länger als für ein gesprochenes Wort - was nicht verwunderlich ist, da die Produktion manueller Gebärden körperlich grössere Bewegungen erfordert als die Bewegungen des Stimmapparates - aber auf der Satzebene ist die Produktionszeit für Gebärdensprache gleich lang, wenn nicht sogar kürzer als für die gleiche Mitteilung in gesprochener Sprache. Dies ist möglich, weil Gebärdensprachen nicht nur sequenzielle Einheiten wie in der gesprochenen Sprache (als Morpheme und Wörter) produzieren, sondern auch ihre Modalität durch die simultane Produktion und Wahrnehmung vieler Bedeutungskomponenten nutzen können. Weitere Vergleiche darüber, wie die Modalität Wahrnehmung und Produktion beeinflusst, finden sich in Bellugi und Fischer 1972 und Caselli et al. 2022. 3.2 Die manuellen und nicht-manuellen Teilkomponenten der Gebärden Eine Gebärde ist keine globale Einheit, sondern hat - wie Wörter - Teilkomponenten. Die grundlegenden Komponenten der Form der Gebärde - analog zur phonologischen Ebene gesprochener Sprachen - sind sowohl manuell als auch nicht-manuell. Die manuellen Komponenten der Gebärde sind die Handform, die Handstellung, die Ausführungsstelle und die Bewegung. 190 Penny Boyes Braem <?page no="227"?> In jeder Gebärdensprache wird eine begrenzte Anzahl von Handformen verwendet, die sich von Sprache zu Sprache unterscheiden kann. Es gibt einige Handformen, die nur in wenigen Gebärdensprachen zu finden sind, da sie schwieriger zu produzieren oder wahrzunehmen sind. Es gibt aber eine kleine Gruppe von Handformen (Abb. 2), die von Forschern als die Grundhandformen angesehen werden. Sie kommen in vielen Gebärdensprachen vor, werden bei visuellen Wahrnehmungsaufgaben am wenigsten verwechselt und sind - wahrscheinlich aufgrund der leichten Artikulierbarkeit - diejenigen, die von gehörlosen Kindern zuerst erworben werden. Abb. 2: (a) Handformen aus verschiedenen Gebärdensprachen; diejenigen innerhalb der umschliessenden Linie werden in Schweizer Gebärdensprachen verwendet. (b) Die Grundhandformen Die Handstellung bezeichnet die Orientierung der Handfläche und/ oder die Richtung der Fingerspitzen (wenn die Finger ausgestreckt sind) oder die Richtung der Mittelhandknochen (wenn die Finger gekrümmt sind). Die Ausführungsstelle bezieht sich auf den Ort, an dem eine Gebärde ausgeführt wird. Die Ausführungsstelle kann auf dem Körper des/ der Gebärdenden oder auch im neutralen Raum vor der Brust sein, wobei «neutral» bedeutet, dass die Platzierung im Raum keine weitere semantische oder grammatische Bedeutung hat. Gebärdende können auch im Kontext von Gebärdensätzen bestimmten Bereichen im Gebärdenraum eine Bedeutung zuweisen (siehe die Diskussion über räumliche Loki in Abschnitt 3.4). Gebärdensprachen kennen zwei grundlegende Arten von Bewegungen: die gerichtete Pfadbewegung der Hand und die interne Bewegung der Finger. Gebärdensprachen 191 <?page no="228"?> Die Modifikation von Teilkomponenten kann zu unterschiedlichen Bedeutungen führen, zum Beispiel mit unterschiedlichen Handformen (Abb. 3a, b). Abb. 3: Die DSGS-Gebärden (a) SAGEN (b) FRAGEN Die nicht-manuellen Komponenten bestehen aus der Position, Form und/ oder Bewegung von Gesichtsteilen (Mund, Wangen, Augen, Nase, Augenbrauen), der Position und/ oder Bewegung des Kopfes, des Oberkörpers und der Arme sowie der Blickrichtung. Gesichts- oder Körpersignale von Lautsprachbenutzenden werden von Linguist/ innen oft als nonverbale (oder nichtsprachliche) Kommunikation eingestuft. In Gebärdensprachen können einige dieser Arten von Signalen ebenfalls als nonverbale Informationen fungieren, zudem aber auch wichtige sprachliche Funktionen erfüllen, insbesondere auf morphosyntaktischer, prosodischer oder diskursiver Ebene. Mundgesten Die unteren Gesichtskomponenten (Lippen, Mund, Wangen) werden eher verwendet, um Informationen über die Grösse eines Referenten oder die Art, Schwierigkeit oder Leichtigkeit einer Handlung zu vermitteln. Diese Arten von Mundbewegungen werden als Mundgesten bezeichnet und umfassen z. B. das plötzliche Öffnen oder Schliessen des Mundes oder das Pusten durch die Lippen. In der DSGS kann etwa die Gebärde KUCHEN von aufgeblähten Wangen begleitet sein, um anzuzeigen, dass es sich um einen grossen Kuchen handelt, oder ein Schürzen der Lippen, um die Information ‘ mit Leichtigkeit getan ’ hinzuzufügen. Die gleichzeitige Produktion dieser Art von Informationen führt dazu, dass oft keine separate manuelle Gebärde mit der gleichen Bedeutung (z. B. für ‘ gross ’ oder ‘ einfach ’ ) produziert werden muss - und spart damit Zeit bei der Produktion des gesamten Satzes. Mundbilder Die andere Art von Mundbewegung sind sogenannte Mundbilder. Mundbilder sind stimmlose Artikulationen, die mit Wörtern aus einer gesprochenen Sprache verwandt sind und die eine gewisse semantische Verbindung zur Bedeutung der Gebärde haben. Mundbilder können dazu dienen, zwischen Bedeutungen von Gebärden zu unterscheiden, die dieselben manuellen Komponenten aufweisen (zum Beispiel zwischen den Gebärden BRUDER und SCHWESTER). Mundbilder werden auch häufig bei Neologismen sowie bei Begriffen der gesprochenen Sprache, Namen von Orten oder Personen verwendet, die in der gehörlosen Gemeinschaft nicht sehr bekannt sind. Das Hinzufügen eines Mundbildes kann auch der Betonung eines Wortes dienen. Mundbilder, die über zwei oder mehr 192 Penny Boyes Braem <?page no="229"?> Gebärden beibehalten werden, fungieren auch als prosodisches Mittel zur Markierung von Phrasen. Gesichtskomponenten und Blick Obere Gesichtskomponenten (Augenbrauen, Augenöffnungsgrad) und Positionsänderungen des Kopfes und/ oder des Oberkörpers werden eher verwendet, um Satztypen (etwa Frage-, Relativ-, oder Konditionalsätze) hervorzuheben. Bei einfachen Aussagesätzen gibt es keine speziellen nicht-manuellen Markierungen. Für die anderen Satztypen werden spezielle nicht-manuelle Komponenten hinzugefügt. Diese Komponenten können zeitgleich nur eine Gebärde oder eine Reihe von Gebärden begleiten. Abbildung 4 zeigt den DSGS-Aussagesatz (a) ‘ Du bist gehörlos ’ ohne besondere nicht-manuelle Markierungen, (b) den Fragesatz ‘ Bist du gehörlos? ’ , bei dem nur das Heben der Augenbrauen, das Weiten der Augen und die Kopfposition die Frageform anzeigen. Abb. 4: DSGS-Beispiele für (a) den Aussagesatz ‘ Du bist gehörlos ‘ und (b) den Fragesatz ‘ Bist du gehörlos? ‘ Notation der Form-Komponenten Neben der Praxis, schriftliche ID-Glossen aus einer anderen Sprache zu verwenden, um die Bedeutung eines lexikalischen Elements anzugeben, haben Gebärdensprachforschende auch Notationssysteme für die Form des lexikalischen Elements entwickelt, wie es Linguisten schon lange für gesprochene Sprachen tun. Diese Notationen der Teilkomponenten der Gebärde ermöglichen es, sprachlich bedeutsame Veränderungen der Gebärde zu dokumentieren - zum Beispiel für Verb-Übereinstimmung oder adjektivische/ adverbiale Veränderungen oder für die Betonung, zum Beispiel, um den Agens, Patiens oder Empfänger eines Verbs anzugeben (wie in Abschnitt 3.5 besprochen). Formnotationen von Gebärden können aber auch Merkmale einer möglichen ikonischen Motivation der Gebärde aufzeigen, was diese Notationen hilfreich macht, wenn man die lexikalischen Netzwerke der Sprache betrachtet, die sowohl auf den formalen als auch auf den semantischen Merkmalen beruhen. Die Formnotation eignet sich auch für den Vergleich zwischen verschiedenen Gebärdensprachen und für die Aufzeichnung der Fehler, die Lernende einer Gebärdensprache machen. Forschende der DSGS haben oft das HamNoSys (Hamburger Notationssystem) verwendet, in dem spezielle Symbole die Unterkomponenten des lexikalischen Elements Gebärdensprachen 193 <?page no="230"?> darstellen. Doch obwohl eine solche detaillierte Annotation der Gebärde für spezielle Forschungszwecke oft notwendig ist, führt eine solche Notation von Sätzen oft zu schwer lesbaren langen Symbolreihen für alle Teilkomponenten der einzelnen Gebärden. Eine andere Methode, SignWriting, die aus einer Tanznotation entwickelt wurde und mehr ikonische und leicht zu erlernende Symbole verwendet, wird von einigen Gebärdenden auch für alltägliche Zwecke verwendet, z. B. zum Schreiben von E-Mails oder Skripten für Theateraufführungen in Gebärdensprache. Abbildung 5 zeigt die SignWriting-Notation der DSGS-Übersetzung des Titels dieses Buches (Sprachenräume der Schweiz). Abb. 5: SignWriting-Notation der DSGS-Übersetzung von ‘ Sprachenräume der Schweiz ’ Zu den Grundhandformen siehe Boyes Braem 1990/ 1995 und zu Mundbildern und Mundgesten in verschiedenen Gebärdensprachen Boyes Braem und Sutton-Spence 2001. Zu den Notationssystemen vgl. Boyes Braem 2012. 3.3 Ikonizität in der Gebärdensprache Anders als in Lautsprachen, wo Arbitrarität ein dominierendes Prinzip darstellt, ist Ikonizität auf vielen sprachlichen Ebenen der Gebärdensprache häufig. Das liegt vor allem daran, dass die visuelle/ körperliche Modalität viele Möglichkeiten bietet, Ikonizität als Werkzeug zur Vermittlung von Bedeutungen einzusetzen. Von den drei Methoden der Kommunikation - Zeigen, Beschreiben und Abbilden - machen Gebärdensprachen besonders regen Gebrauch vom Abbilden. Gebärden mit ikonischen Formen werden auch für abstrakte Konzepte verwendet, bei denen eine Form der visuellen Metapher beteiligt ist. So haben beispielsweise Gebärden, die dem Konzept ‘ Denken ’ nahestehen, in vielen Gebärdensprachen eine Ausführungsstelle im Bereich der Stirn. Grad der Ikonizität Gebärden können sich im Grad der ikonischen Beziehung zwischen ihrer Form und Bedeutung unterscheiden, wie die folgenden Gruppierungen zeigen: a. transparente Gebärden, bei denen der Zusammenhang zwischen Form und Bedeutung auch für Nichtgebärdende klar ist (z. B. die DSGS-Gebärde ESSEN, Abb. 6a) 194 Penny Boyes Braem <?page no="231"?> b. transluzente Gebärden, bei denen der Zusammenhang zwischen Form und Bedeutung deutlich wird, wenn die Bedeutung bekannt ist (z. B. die DSGS-Gebärde MÜHSAM, Abb. 6b) c. opake Gebärden, bei denen der Zusammenhang zwischen Form und Bedeutung auch bei Kenntnis der Bedeutung nicht klar ist (z. B. die DSGS-Gebärde EINVERSTANDEN, Abb. 6c) Abb. 6: Die DSGS-Gebärden: (a) ESSEN (b) MÜHSAM (c) EINVERSTANDEN Latente Ikonizität und künstlerische Formen der Gebärdensprache Gebärden durchlaufen im Laufe der Zeit häufig einen Wandel von ikonischen hin zu mehr arbiträren Einheiten. Es bleibt jedoch oft eine latente Ikonizität, die wiedererweckt werden kann. Dies geschieht bei der Schaffung neuer Gebärden und vor allem bei der Veränderung bestehender Gebärden für künstlerische Effekte. Ein Beispiel dafür ist eine Verschiebung der Ausführungsstelle der Gebärde GEHÖRLOS von den Ohren zu den Augen, um eine ‘ Taubheit auf den Augen vieler Hörender ’ anzuzeigen. Dieses Spiel mit den Gebärden steht im Mittelpunkt eines sehr aktiven Feldes von Gebärdensprachpoesie, Comedy, Theater, Music, Tanz sowie Gebärdensprachliteratur für Kinder. Zur Verwendung visueller Metaphern im Gebärden siehe Russo und Pietrandrea 2023, zur Ikonizität der Gebärdensprachen und ihre Bedeutung für die Sprachtheorie Volterra et al. 2022; Boyes Braem und Volterra 2023; Pizzuto und Volterra 2000. Zu den Bilderzeugungs-Techniken als Grundlage siehe Langer 2005, zur Verschiebung zu weniger Ikonizität in ASL siehe Frishberg 1979. Zur Gebärdensprache-Poesie siehe Sutton-Spence 2005; Sutton-Spence und Boyes Braem 2013. Links zu Videos von künstlerischen Produktionen mit Schweizer Gebärdensprachen finden sich in Anhang III. 3.4 Die Verwendung von Raum und Loki für die Identifizierung und Verfolgung von sprachlichen Referenten Gebärdende verwenden den dreidimensionalen Gebärdenraum, um auf Personen oder Objekte zu verweisen, die nicht tatsächlich anwesend sind. Dies geschieht häufig durch die Definition eines Bereichs oder einer Richtung im Gebärdenraum (als Lokus bezeichnet), der dann mit den spezifischen, für den Diskurs benötigten Referenten identifiziert wird. Die Festlegung dieses Lokus kann durch eine deiktische Gebärde (annotiert als INDEX für ‘ Indexierung ’ ) erfolgen, wie in Abb. 7 für den DSGS-Satz ‘ Die Mutter liebt den Bruder ’ . Hier verweist die INDEX-Gebärde auf einen Bereich im Gebärdenraum, der mit Gebärdensprachen 195 <?page no="232"?> ‘ Mutter ’ identifiziert wird, und einen anderen für den ‘ Bruder ’ . Die pronominale Referenz, die angibt, wer wen liebt, wird durch den Verweis auf die etablierten Loki vorgenommen. Abb. 7: Die Verwendung von räumlichen Loki für den pronominalen Verweis im DSGS-Satz ‘ Die Mutter liebt den Bruder ’ In Sätzen wie diesem mit nur zwei Referenten werden die Loki oft links und rechts vom Gebärdenden definiert, aber es gibt mehrere andere Konventionen für die Platzierung von Loki, die für eine Vielzahl von Situationen verwendet werden. In den nominalen und pronominalen Gebärden gibt es kein grammatisches Geschlecht wie Maskulinum, Femininum oder Neutrum. 3.5 Drei grundlegende Verbgruppen: einfache, übereinstimmende und Raumverben Es gibt drei grundlegende Verbformen. Im oben genannten Satz ‘ Die Mutter liebt den Bruder ’ (Abb. 7) ist die DSGS-Gebärde LIEBEN ein einfaches Verb, da keine morphologische Veränderung dieser Gebärde möglich ist. Übereinstimmungsverben lassen sich nach Ausführungsstelle, Handstellung und Bewegung dahingehend modifizieren, dass sie sich auf bereits etablierte Loki für Referenten beziehen, um die grammatische Person und Anzahl anzuzeigen. So inkorporieren zum Beispiel die DSGS-Übereinstimmungsverben SAGEN, FRAGEN, ERKLÄREN, BEZAHLEN, INFORMIEREN und ANSCHAUEN die Information darüber, wer Agens, Empfänger oder Patiens ist, indem die Bewegung vom Lokus des Agens beginnt (beispielsweise der Person, die etwas erklärt) und am Lokus des Empfängers oder Patiens endet, wie in den DSGS- Sätzen in Abb. 8. Auch hier sind keine separaten Pronomen ( ‘ ich/ mir ’ , ‘ er/ ihm ’ ) erforderlich, wenn die räumlichen Loki bereits in einem vorherigen Satz festgelegt werden. 196 Penny Boyes Braem <?page no="233"?> Abb. 8: Das DSGS-Übereinstimmungsverb ERKLÄREN: (a) ‘ Ich erkläre ihm ’ , (b) ‘ Er erklärt mir ’ Bei Raumverben werden die Komponenten modifiziert, um Ursprung, Ziel und Art einer Aktion anzuzeigen. Das System der räumlichen Loki wird auch verwendet, um den Ursprung und das Ziel verschiedener Arten von Aktionen aufzuzeigen (Abb. 9). Abb. 9: Das DSGS-Raumverb GEHEN in (a) ‘ Ich gehe morgens vom Laden zur Schule ’ und (b) ‘ Wenn die Schule zu Ende ist, gehe ich zurück zum Laden ’ Im ersten Satz (Abb. 9a) werden nach der Zeitangabe (MORGEN) der Laden und die Schule mittels lexikalischer Gebärden eingeführt und mit räumlichen Loki versehen. Erst danach werden diese mit dem Beginn und dem Ende der Bewegung des Verbs GEHEN synchronisiert. Im zweiten Satz (Abb. 9b) wird bei gleichbleibenden räumlichen Loki ein neuer Gebärdensprachen 197 <?page no="234"?> Zeitrahmen angegeben (SCHULE FERTIG), nach der sich die Bewegung des Verbs GEHEN vom Ort der Schule zum Laden bewegt. Diese Verwendung von räumlichen Loki führt dazu, dass die zeitaufwändige Produktion zusätzlicher lexikalischer Elemente wie von und nach nicht erforderlich ist. Die Gebärdenden müssen lernen, diese Loki richtig zu platzieren und zu verwenden. Kleinkinder verwenden Loki in ihren ersten Gebärden gar nicht. Wenn sie anfangen, sie zu verwenden, stapeln sie sie alle an einem Ort im Gebärdenraum. Erst im Alter von ca. 5 Jahren lernen sie, die Loki angemessen im Gebärdenraum zu platzieren, und beziehen sich in den folgenden Sätzen konsequent auf sie. Auch erwachsene Lernende der Gebärdensprachen haben Schwierigkeiten, dieses System von Loki so weit zu beherrschen, dass ihre Äusserungen für den Adressaten völlig klar sind. 3.6 Produktive Konstruktionen Alle in den vorangegangenen Beispielen genannten Gebärden sind lexikalisiert, d. h. sie haben stabile Grundformen und Bedeutungen, die in einem Wörterbuch beschrieben werden können (z. B. die Gebärden SCHULE, LIEBE, MUTTER). Es gibt aber noch eine andere Art von Gebärden, die in der Gebärdensprache häufig verwendet werden, und selten in Wörterbüchern auftauchen. Das liegt daran, dass diese Gebärden keine zitierfähige Grundform haben und ihre Bedeutung vom Kontext abhängt. Es handelt sich dabei um mehrkomponentige Formen, für die Forschende verschiedene Namen verwenden. Hier werden sie als produktive Konstruktionen beschrieben, die klassifizierende Handformen verwenden. Produktive Konstruktionen sind eine effiziente Nutzung der visuellen/ körperlichen Modalität, da sie gleichzeitig viele Aspekte der Lokalisierung, Aktionen, Handhabung oder Form einer Referenz vermitteln können. Um diese produktiven Formen zu verwenden, wird der Referent zunächst mit einer lexikalischen Gebärde identifiziert und danach durch eine geeignete «klassifizierende Handform» bezeichnet, die als eine Art Proform fungiert. In Beispiel 10 ist zum Beispiel eine flache, nach unten gerichtete Hand die klassifizierende Hand für ein grosses Fahrzeug wie ein Auto, mit Bewegungen, die (a) seine Richtung, (b) seine räumliche Ausführungsstelle mit einem anderen Objekt wie einem Tunnel oder (c) seine Art der Bewegung wie ‘ schnell ’ und ‘ kurvenreich ’ anzeigen können. Abb. 10: DSGS-Sätze mit produktiven Konstruktionen und Klassifikator-Handformen: (a) ‘ Das Auto, es fährt bergauf ’ , (b) ‘ Es fährt durch den Tunnel ’ , (c) ‘ Es fährt schnell in die Kurve ’ 198 Penny Boyes Braem <?page no="235"?> 3.7 Zeitausdrücke Lexikalische Zeitgebärden In Gebärdensprachsätzen wird der relevante Zeitpunkt oder Zeitraum in der Regel zuerst durch eine lexikalische Gebärde oder eine Gebärdenphrase markiert (z. B. HEUTE, GESTERN, MITTWOCH oder SPÄTER). Es wird davon ausgegangen, dass diese Zeitangabe in den folgenden Abschnitten des Diskurses erhalten bleibt, bis sie explizit geändert wird, so dass die Zeit nicht erneut auf den folgenden Gebärden markiert werden muss. Abgeschlossene Handlungen oder Ereignisse werden durch eine Gebärde angezeigt, die als FERTIG glossiert wird. Zum Beispiel wird ‘ Ich habe den Kuchen gegessen ’ als ICH KUCHEN ESSEN FERTIG gebärdet (ein weiteres Beispiel dafür in Abb. 9b). Zeitlinien Ereignisse werden in Gebärdensprachen oft in der Reihenfolge ihres Auftretens erzählt. Es gibt jedoch auch eine Möglichkeit, visuelle Metaphern zu verwenden, um sich auf bestimmte zeitliche Beziehungen von Ereignissen zu fokussieren, indem man Zeitlinien verwendet. Zeitlinien sind imaginäre Linien im Raum, die angeben, wann Ereignisse in Bezug auf einen vom Gebärdenden angegebenen festen zeitlichen Bezugspunkt stattfinden. Die Bedeutung der Zeitlinien kann sich von Kultur zu Kultur unterscheiden. Zum Beispiel assoziieren nicht alle Kulturen zukünftige Ereignisse mit Räumen vor der Person und vergangene Ereignisse mit Räumen nach der Person, wie es in Zeitlinie A verwendet wird. Die Zeitlinien in Abb. 11 sind einige, die in vielen europäischen Gebärdensprachen verwendet werden, einschliesslich derjenigen der Schweiz. Das ‘ X ’ markiert den angegebenen Referenzpunkt der jeweiligen Zeitlinie. Abb. 11: Vier der Zeitlinien, die in DSGS mit unterschiedlichen Referenzzeitpunkten verwendet werden: (a) bezogen auf ‘ jetzt ’ , (b) ‘ bis zu dieser Zeit ’ , (c) ‘ vor und nach dieser Zeit ’ und (d) ‘ ab dieser Zeit ’ 3.8 Rollenübernahme Die Übernahme der Rolle einer Person (oder eines Objekts) wird sehr häufig verwendet. Die Darstellung von Informationen in einer Teilnehmerrolle kann mit weniger Gebärden erfolgen, als es für eine Beschreibung nötig wäre. Gebärdende wechseln nicht nur sehr oft, Gebärdensprachen 199 <?page no="236"?> sondern auch sehr schnell zwischen den Rollen ‘ Erzähler ’ und ‘ Teilnehmer ’ , was für die Lernenden der Sprache eine Herausforderung darstellt. Für eine Studie über den Rollenwechsel bei DSGS siehe Bürgin 2006. 3.9 Lexikon Dialekte der schweizerischen Gebärdensprache Die schweizerischen Gebärdensprachen setzen sich aus regionalen Dialekten zusammen, die sich vor allem auf lexikalischer Ebene voneinander unterscheiden. Für die DSGS existieren fünf Dialekte, die auf die früheren Internate für Gehörlose in den Regionen Basel, Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich zurückzuführen sind. Gehörlose Kinder von rätoromanisch sprechenden Eltern oder Kindern aus Liechtenstein haben in der Regel eine Gehörlosenschule in einem deutschsprachigen Kanton besucht und verwenden ebenfalls die DSGS. Die Dialektunterschiede werden nebst weiteren Informationen in der grossen Korpus-Lexikon-Datenbank festgehalten, die in den letzten zwei Jahrzehnten zu Forschungszwecken für DSGS-Gebärden aufgebaut wurde. Die Dialekte der LSF-SR umfassen jene von Genf, Lausanne, Neuenburg, Freiburg und Sion. Zu den regionalen Varietäten der LIS-SI gibt es zwar keine Untersuchungen, aber informellen Berichten gehörloser Personen zufolge sind zwei Dialekte dieser Sprache in Gebrauch: einer rund um die Stadt Lugano und ein weiterer rund um Bellinzona. Erstellung neuer Gebärden DSGS- und LSF-SR-Nutzer unterscheiden sich scheinbar v. a. in den Techniken, auf die sie zurückgreifen, wenn in ihrer Sprache keine Gebärde für ein Konzept existiert, das sie kommunizieren wollen. DSGS-Benutzer verwenden häufig stimmlose Mundbilder (deutschähnliche Wörter oder Wortanfänge) zusammen mit ihren manuellen Gebärden. Benutzer von LSF-SR hingegen neigen dazu, initialisierte Gebärden zu bilden, indem sie als Handform die Handform des Fingeralphabets für den ersten Buchstaben des geschriebenen Wortes verwenden. Da nur wenige DSGS-Benutzer das Fingeralphabet beherrschen, ist die Verwendung von initialisierten Gebärden bei der Schaffung neuer DSGS Gebärden nicht üblich, ausser bei der Schaffung neuer Fachbegriffe (z. B. das Fingeralphabet- ‘ i ’ in der Handform in der Gebärde für ‘ Insulin ’ ). In der LIS-SI werden sowohl Mundbilder als auch das Fingeralphabet verwendet. Namensgebärden In etlichen Gebärdensprachen geben Gehörlosenfamilien oder gemeinschaften, Gehörlosen zusätzlich zu ihren gesetzlichen Namen auch individuelle Namensgebärden. Viele Namensgebärden in der DSGS sind auf eine typische Tätigkeit oder Geste (etwa das Zurückstreichen der Haare) oder ein Körpermerkmal (wie zum Beispiel ein Grübchen) der Person zurückgeführt. Bei den Namen, die als neutraler angesehen werden, wird der Anfangsbuchstabe des offiziellen Namens der Person verwendet, jedoch mit einer besonderen Bewegung oder an einer besonderen Ausführungsstelle (zum Beispiel die Fingeralphabet-Handform für ‘ p ’ am Mundwinkel für die Namensgebärde der Autorin dieses Kapitels). Da in der Schweiz erste Namensgebärden oft von anderen Kindern in der Schule vergeben werden, können sie sich mit dem Erwachsenwerden ändern. Die 200 Penny Boyes Braem <?page no="237"?> Gehörlosengemeinschaft erstellt auch Namensgebärden für berühmte Personen, politische Persönlichkeiten oder Filmstars. Zum Beispiel bezieht sich eine Namensgebärde für Albert Einstein auf seinen markanten Schnurrbart oder für den Schweizer Tennisstar Roger Federer auf das Stirnband, das er während der Spiele trägt. Auch Orte werden mit Namensgebärden versehen. Viele der DSGS-Gebärden für Schweizer Kantone basieren auf einem Merkmal der Kantonsflagge: Für den Kanton Graubünden basiert die Gebärde zum Beispiel auf der Form eines grossen Horns auf der Stirn des Steinbocks. Die Namensgebärde für die Schweiz ist das Nachzeichnen eines kleinen Kreuzes auf der Brust. Zu den Dialekten der DSGS siehe Boyes Braem 1983, 2001b. Zu allen drei Schweizer Gebärdensprachen siehe Boyes Braem und Rathmann 2010. Für eine Beschreibung des korpusverknüpften Lexikons für DSGS siehe Boyes Braem 2001a und https: / / www.fzgresearch.org/ deutsch/ projects. html (Stand: 25.07.2024). Zum DSGS-Wörterbuch für Fachbegriffe siehe Boyes Braem et al. 2012. Zu Neologismen im LSF-SR siehe Strasly 2013. Für eine Studie über die Namensgebärden der DSGS siehe Tissi 1993. 3.10 Sprachkontakt Ältere Generationen der Schweizer Gebärdenden scheinen mehr Elemente der gesprochenen Sprache in ihre Gebärden zu mischen und sich im Allgemeinen mehr auf das Lippenlesen zu verlassen als jüngere Gebärdende (z. B. durch mehr Mundbilder). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Generationen vor den 1980er-Jahren in einer Zeit aufgewachsen sind, in der die gesprochene Sprache in den Schulen Vorrang hatte und der Gebrauch der Gebärdensprache nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch von Gehörlosen selbst in der Öffentlichkeit unterdrückt wurde. Im Vergleich zu den älteren Nutzern der Gebärdensprache scheinen die jüngeren auch mehr räumliche Techniken zur Darstellung von pronominalen Referenzen sowie produktivere Gebärdenstrukturen zu verwenden, die sie vielleicht in anderen Sprachen gesehen haben. Heute ist es aufgrund persönlicher Kontakte und der Mitgliedschaft in nationalen Verbänden (wie Gehörlosen-Sportvereinen) sowie erweiterten Möglichkeiten der visuellen digitalen Kommunikation nicht ungewöhnlich, dass Schweizer Gehörlose mehr als eine Gebärdensprache beherrschen. Viele gehörlose Schweizer Gebärdensprachbenutzende verwenden auch International Sign (IS). Diese Form der Gebärden wird zwischen Gehörlosen, die keine gemeinsame Gebärdensprache kennen, sowie zum Dolmetschen bei internationalen Konferenzen verwendet. Sie gilt als Kommunikationsform, aber nicht als Sprache, da sie keine stabile Grammatik und eine grosse Variationsbreite aufweist. Entlehnte Gebärden aus anderen Gebärdensprachen finden zwar ihren Weg in das DSGS-Lexikon, aber die Richtung dieser Entlehnungen scheint uneinheitlich zu sein. DSGS-Benutzende sind zum Beispiel offen für Entlehnungen aus der LSF-SR. LSF-SR- Benutzende hingegen berichten, dass sie sich gegen Gebärden aus der DSGS wehren, die als die Sprache der Mehrheit der Schweizer Gehörlosen angesehen wird. DSGS-Nutzende ihrerseits neigen dazu, sich gegen Lehneinheiten aus der Deutschen Gebärdensprache (DGS) zu wehren. Im Allgemeinen haben Gehörlose aus dem Tessin mehr Kontakt mit Gebärdensprachbenutzenden aus Italien als mit jenen aus der deutsch- und französischsprachigen Schweiz. Die um Bellinzona verwendete LIS-SR-Variante ist auch stärker von den Gebärdensprachen Eingewanderter aus dem ehemaligen Jugoslawien, Litauen und Polen beeinflusst. Gebärdensprachen 201 <?page no="238"?> Die verschiedenen Kontaktarten der Gebärdensprachen der Schweiz widerspiegeln sich darin, dass gehörlose DSGS- und LSF-SR-Benutzende ausdrücken, dass sich ihre Sprachen in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Es sind neue Gebärden hinzugekommen, um neue Konzepte auszudrücken, die oft mit neuen Technologien zusammenhängen. Lexikalische Veränderungen können nicht nur das Ergebnis der erwähnten Entlehnungen oder Vermischungen sein, sondern auch eine Folge von sich ändernden sozialen Normen. Eine ältere DSGS-Geste für ‘ Frau ’ zum Beispiel zeigt die Form einer Brust an. Da diese Gebärde zunehmend als sexistisch und damit unhöflich empfunden wurde, wurde sie durch eine neutralere ersetzt, bei der Zeigefinger und Daumen leicht in das Ohrläppchen kneifen, was ikonisch auf einen Ohrring verweist. Die Gebärdensprache vieler jüngerer Gehörloser wurde auch durch den Erwerb von mehr Metawissen über ihre Sprache beeinflusst. Dies kann das Ergebnis einer Ausbildung zu professionellen Gebärdensprachlehrenden oder der Teilnahme an Forschungsprojekten über ihre Sprachen sein. Die Kenntnisse der DSGS kann auch beeinflussen, wie junge Gebärdende schriftliche Textnachrichten verfassen, vgl. Meili (2024). Zum International Sign siehe Rosenstock und Napier 2015. Über Sprachkontakt und Sprachwechsel siehe Boyes Braem und Rathmann 2010, zum wachsenden Metawissen Fontana et al. 2015; Boyes Braem 2024. 3.11 Register, Stil und Gespräch Studien aus vielen Gebärdensprachen stellen Unterschiede zwischen formellen und informellen Gebärdenstilen fest. So neigen Gebärdende in formellen Situationen dazu, die Gebärden grösser und langsamer zu gestalten, häufiger zwischen der dominanten und der nicht dominanten Hand zu wechseln und die Intensität oder Wichtigkeit einer Sache eher mit lexikalischen Elementen als mit nicht-manuellen Komponenten anzuzeigen. Das formellere Register zeichnet sich auch durch eine geringere Verwendung ikonischer Strukturen (z. B. produktive Gebärden oder konstruierte Rede/ Handlung), eine häufigere Verwendung von sequenziellen Einheiten (die der gesprochenen Sprache ähnlicher sind) und eine stärkere Verwendung von Mundbildern aus. Die Mundgesten werden oft so verändert, dass sie weniger auffällig sind. Zu Registern in verschiedenen Gebärdensprachen siehe Hillenmeyer und Tilmann 2012; Volterra et al. 2022. Zu Höflichkeit in DSGS siehe Boyes Braem und Tissi 2023 und zu Gesprächsanalysen Groeber und Pochon-Berger 2014; Girard-Groeber 2015. 3.12 Gebärdensprache lernen und sprachlich bewerten Gehörlose Früh- und Spätlernende Der Zeitpunkt des Erlernens der Gebärdensprache scheint - wie bei gesprochenen Sprachen - einen Einfluss auf die spätere Produktion zu haben. Eine Studie, in der die Produktion von Gebärden durch gehörlose Früh- und Spätlernende von DSGS verglichen wurde, ergab, dass sich die beiden Gruppen nicht nur im Umfang ihres Wortschatzes oder in ihrer Fähigkeit, simultane grammatikalische Strukturen zu verwenden, unterschieden, sondern auch in ihrem Gebrauch von Mundbildern. Beide Gruppen verwendeten Mundbilder, aber - im Gegensatz zu den Spätlernenden - verwendeten die Frühlerner mehr Mundbilder, die sich über mehrere Gebärden erstreckten, als prosodische Technik zur 202 Penny Boyes Braem <?page no="239"?> Markierung von Phrasen. Die Frühlernenden begleiteten zudem bestimmte Arten von Reden (insbesondere Erzählungen) mit einer rhythmischen Seitwärtsbewegung des Oberkörpers. Die gehörlosen Spätlernenden hingegen bewegten ihren Oberkörper nur zu einer Seite, meistens um ein begleitendes Gebärden zu betonen, ähnlich wie Hörende es beim Sprechen tun. Eine der wenigen Studien über den Erwerb einer Schweizer Gebärdensprache war eine Longitudinalstudie zu DSGS-Gebärden eines gehörlosen Kindes im Alter von 8; 2 und 9; 5 Jahren (Fosshaug 2010). Diese Studie dokumentiert, dass das Kind sogar in diesem Alter noch dabei war, produktive Verbkonstruktionen mit klassifizierenden Handformen zu lernen, so wie es erwachsene DSGS-Gebärdende tun. Zu prosodischen Markierungen gehörloser früher Lernender siehe Boyes Braem 1995, 1999. Eine der wenigen Longitudinalstudien über den Erwerb von DSGS durch gehörlose Kinder findet sich in Fosshaug 2010. Hörende Lernende, Spracheinschätzung und sich entwickelnde Technologie Da immer mehr Hörende Gebärdensprachen lernen - sei es für ihren Beruf oder einfach nur zum Vergnügen - besteht die Notwendigkeit, ihre Fortschritte zu bewerten, um den Lernenden ein Feedback zu geben, aber auch, um die Lehrmaterialien zu verbessern. Eine Studie hat beispielsweise ergeben, dass die Bewegung die fehleranfälligste manuelle Komponente in den Daten der Lernenden ist. Mehrere Schweizer Projekte haben zur Entwicklung von Instrumenten zur Beurteilung der Beherrschung einer Gebärdensprache beigetragen. Dazu gehörte die Entwicklung von Technologien zur automatischen Erkennung von Gebärden sowie von gebärdenden Avataren, die den Lernenden Feedback geben. Die Entwicklung von Gebärde-Avataren ist auch für andere Zwecke nützlich, z. B. für die Möglichkeit, die Anonymität einer Person in der Öffentlichkeit, insbesondere im Internet, zu wahren. Denn im Gegensatz zur Veröffentlichung von schriftlichen Äusserungen der gesprochenen Sprache beinhaltet die Veröffentlichung einer Videobotschaft in Gebärdensprache auch die Veröffentlichung der Identität der Person, die gebärdet. Zu Fehlern hörender erwachsener Lernender von DSGS siehe Ebling et al. 2021. Über Fortschritte bei diesen Entwicklungen beim Lehren und Testen der Gebärdensprache siehe Haug et al. 2022a, Haug et al. 2022b. Für die Entwicklung eines frühen DSGS-Avatars siehe Ebling 2016. 4 Schlussbemerkungen Das Hauptziel dieses Kapitels war es, einen Überblick über die drei Schweizer Gebärdensprachen zu geben, mit Hintergrundinformationen über Merkmale, die in allen Gebärdensprachen gefunden wurden. Obwohl es seit den 1980er-Jahren Studien zu den Gebärdensprachen in der Schweiz gibt, sind diese alle noch zu wenig erforscht. Vor allem zu den grundlegenden sprachlichen Aspekten der Gebärdensprachen in den französischen und italienischen Gebieten des Landes gibt es noch keine Studien. Es gibt wenig bis keine Forschung darüber, wie kleine Kinder eine der drei Sprachen erwerben. Die Gebärden in allen Sprachen der jüngeren Generation, die früh mit Cochlea-Implantaten versorgt und in hörende Schulen integriert wurden, sollten untersucht und mit Daten aus früheren Generationen verglichen werden, um Hinweise auf einen möglichen Sprachwandel zu finden. Eine Gebärdensprachen 203 <?page no="240"?> interessante Kooperationsstudie würde sich mit der Frage befassen, inwieweit sich die drei Schweizer Gebärdensprachen von den Gebärdensprachen der Nachbarländer wie Deutschland, Frankreich und Italien unterscheiden, wobei sich auch die Frage stellt, inwieweit es sich um eigenständige Sprachen handelt oder ob es sinnvoller wäre, von Dialekten zu sprechen. Ausgehend von der sich entwickelnden Technologie und den derzeitigen allgemeinen Methoden für die Erziehung gehörloser Kinder bei denen die Gebärdensprache wenig oder gar nicht zum Einsatz kommt, könnten die drei Gebärdensprachen der Schweiz als gefährdete Sprachen gelten. Viele Menschen weisen jedoch darauf hin, dass diese Gebärdensprachen für Hörgeschädigte weiterhin nützlich sind. So betonte der Weltverband der Gehörlosen auf seiner Konferenz 2023 zum Thema «Gebärdensprachen als gefährdete Sprachen» die Vorteile der «bimodalen Zweisprachigkeit» für gehörlose Kinder mit Cochlea-Implantaten, da Gebärdensprachen nicht nur eine natürliche, von technologischen Innovationen unabhängige Methode der Kommunikation sind, sondern Studien zufolge auch die kognitiven Fähigkeiten des hörgeschädigten Kindes und den Erwerb einer gesprochenen Sprache fördern. Die Konferenz bekräftigte ihre Überzeugung, dass Gebärdensprachen «ein Gewinn für die gesamte Menschheit» (WFD) sind. Aus der Sicht vieler Linguisten sind Gebärdensprachen eine bis vor kurzem verborgene natürliche Ressource, die die Kreativität der Menschen bei der Schaffung eines vollwertigen sprachlichen Systems für die face-to-face Kommunikation in Abwesenheit von Sprachlauten zeigt. Die Herausforderung für Linguisten besteht darin, die Erkenntnisse aus den Strukturen dieser visuellen/ körperlichen Sprachen in angepasste theoretische Modelle der Sprache einzubringen, die immer noch stark auf den schriftlichen Formen gesprochener Sprachen basieren. Die Schweiz nimmt bei der Beantwortung der oben genannten Fragen einen besonderen Platz ein, da sie ein Land ist, in dem nicht nur mehrere gesprochene Sprachen nebeneinander existieren, sondern auch drei (! ) Gebärdensprachen. Ich möchte insbesondere Thüring Bräm, Sarah Ebling, Mary Fox und Maya Bräm-Dubé sowie den Herausgebern dieses Buches für ihr Feedback zu Entwürfen dieses Textes danken. Ich möchte mich auch bei den folgenden Personen bedanken, die Informationen und Kommentare zu verschiedenen Abschnitten dieses Textes geliefert haben: François Grosjean, Tobias Haug, Peter Hemmi, André Marty, Silja Reidemeister, Irene Strasly und Katja Tissi. Bildnachweis Wenn nicht anders vermerkt, stammen alle Illustrationen und Fotos von Katja Tissi. Bibliographie Hinweis: Alle VUGS Hefte sind als PDF verfügbar unter https: / / fzgresarch.org/ VUGS.html. Bachmann, Peter / Westhues, Claudia / Michel, Ursula Witschi (2021). Lehrplan DSGS: Fachlehrplan Deutschschweizerische Gebärdensprache. Zürich: Pädagogisches Zentrum für Hören und Sprache HSM in Münchenbuchsee SEK3 - Oberstufe für Gehörlose und Schwerhörige in Zürich Zentrum für Gehör und Sprache ZGSZ. 204 Penny Boyes Braem <?page no="241"?> Bauman, Dirksen / Murray, Joseph (2009). Reframing: From Hearing Loss to Deaf Gain. Deaf Studies Digital Journal 1, 1 - 10. Abrufbar unter: https: / / www.researchgate.net/ publication/ 264845480_Reframing_From_Hearing_Loss_to_Deaf_Gain (Stand: 07.04.2024) Bellugi, Ursula / Fischer, Susan (1972). A comparison of sign language and spoken language. Cognition 1, 173 - 200. BR 2021 = Bundesrat. Medienmitteilungen. 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II Konventionen für das Notieren von Gebärden: ID-Glosse: Dies ist ein Wort-Etikett, das eine der Hauptbedeutungen einer Gebärde wiedergibt. ID-Glossen werden verwendet, um eine Gebärde einfach, eindeutig, systematisch und konsistent zu identifizieren und in einem annotierten Korpus der Gebärdensprache zu suchen. Eine ID-Glosse verwendet die unflektierte Form des Wortes und wird in Grossbuchstaben geschrieben, um anzuzeigen, dass es sich nicht um eine vollständige Übersetzung aller Bedeutungen handelt, die die Gebärde in verschiedenen Kontexten haben kann. Dominante und nicht-dominante Hand: Für viele Menschen ist die rechte Hand die aktive oder dominante Hand, für andere ist es die linke Hand. In allen hier verwendeten Abbildungen ist die rechte Hand des Gebärdenden die dominante Hand. Gebärdende vs. Betrachter-Perspektive: Platzierungen und Bewegungen im Raum werden aus der Perspektive des Gebärdenden und nicht aus der Perspektive des Betrachters dokumentiert. Nicht-manuelle Komponenten: Der Geltungsbereich der gleichzeitig produzierten nichtmanuellen Komponenten wird in einer Zeile über den Glossen der manuellen Gebärden, die sie begleiten, vermerkt. III Zu Videos künstlerischer Produktionen mit schweizerischen Gebärdensprachen siehe folgende Hinweise (Stand aller Website-Links 15.01.2024): Theaterfestivals: www.movo-art.ch in der deutschen Schweiz und www.ecoute-voir.org in der französischen Schweiz. Poetry Slams: www.deafslam.ch. Musik mit Gebärdensprachdolmetschen: www.mux3.ch. Rap-Musik in der DSGS: https: / / mixitmusic.ch und Tanz mit Gebärdensprache: (https: / / www.m2act.ch/ projects/ tanzworkshop-kreation-tanzvermittlung-koerperbildsinnsprache/ ). Gehörlosenproduziertes Internet-Fernsehen mit Nachrichten sowie künstlerischen Produktionen in DSGS: https: / / www.youtube.com/ @FOCUSFIVETV/ featured. Bücher und Videos mit Gebärdensprache für Kinder: https: / / www.youtube.com/ @srfkids Gebärdensprachen 209 <?page no="246"?> English Mercedes Durham, Cardiff University 1 Introduction The situation of English in Switzerland is rather different from the other languages discussed in this volume. While it is neither a national nor an official language, it nevertheless has touches of official status, and is used in far more contexts and by far more people than the other extranational languages covered, especially in work environments. The use of English by Swiss people among themselves, in addition to its use with people from outside the country, has led some researchers to consider it a de facto intranational lingua franca (Dürmüller 2002, Durham 2003), or put more strongly, the fifth Swiss national language (Watts and Murray 2001). This rather remarkable position in the Swiss linguistic context warrants examining English in a chapter of its own. Although the primary focus of this chapter will be its lingua franca status, similarly to other extranational languages, there are people in Switzerland who learn English as a heritage language and acquire it from their parents who are originally from Englishspeaking countries, and this chapter will consider this group, too. The lingua franca status of English in Switzerland is of course tied to its status as a global lingua franca and the fact that it is a second or additional language for millions of speakers across the world and is used in television, music, social media as well as for tourism. The use in Switzerland, however, goes well beyond contacts with tourists and people on social media. For instance, Durham (2014) gives the example of a medical students ’ association where Swiss students with French, German and Italian as their mother tongues chose to use English in their emails with each other to facilitate communication. This underlines the special status of English in Switzerland and its place as a near national language. This chapter will present the situation of English in Switzerland and examine how it is used from several angles. In section 2, it will introduce recent census results in order to give a sense of the extent of English use within the country and to its contexts of use. This section will also discuss how English is taught in Switzerland in the different cantons and what this shows about the status of English. Section 3 will delve into the various historical and contemporary reasons for the importance of English in the country today. It will start by discussing early contacts with English speakers in Switzerland (e. g. British travellers on Grand Tours of Europe in the 18 th and 19 th century) before turning to more contemporary reasons (e. g. the high numbers of international and national companies where English is an important working language). Section 4 will come back to the current situation of English in Switzerland and consider how linguistic attitudes have also influenced the situation. It will also address how the situation has changed over the past <?page no="247"?> 20 years, when the potential lingua franca status of English in Switzerland first began to be discussed in detail and how the Covid-19 pandemic may have precipitated a further increase in English. The final two sections will attempt to disentangle what the current use of English (and the reasons for its use) might mean for it as a potentially unique variety within Switzerland (section 5) and what the likely trajectory of English in Switzerland will be in the future (section 6). On English as a lingua franca see Mauranen and Ranta 2009; Meierkord 2006, 2013; Seidlhofer 2011. On English as lingua franca in Switzerland see Dürmüller 2002; Durham 2003; Lüdi and Werlen 2005. On English as “ fifth Swiss national language ” see Watts and Murray 2001. 2 English in numbers This section will examine results from various Swiss National Censuses, particularly the most recent ones, but earlier ones as well, to see where, how and how much English is used in the country. 2.1 Introducing the census The census findings will be broken down into main languages in general (section 2.2), English as a home language (section 2.3), English as a working language (section 2.4) and, using additional data from the National Statistics Office, the regular use of English (section 2.5). The section will also present the schooling policies across different cantons of Switzerland (section 2.6) in terms of first foreign language taught and ages when this teaching starts (although see ► Pfenninger/ Becker_Band2, for a more detailed discussion of the school context). Only the responses of permanent resident population aged above 15 years old in Switzerland are used for the calculations presented in this chapter. Originally, as is the case in many other countries, a census of the full population was taken every ten years (starting in 1850). Since 2000, this has changed and rather than a full population census, a sample of the population (around 5 %) is collected more regularly. This allows a more complete overview of demographic shift, which balances out the risk that some smaller changes might be under or overreported. The Swiss National Statistics Office (Fr. Office Nationale de Statistique, OFS) regularly releases reports on demographic changes, including those related to language use. At the same time, they also release the raw data which is what will be used in this paper. It is worth noting that the census questions have changed too. Pre-2000, respondents were only allowed to choose one main language, although they could then specify subcategories if relevant (to report their use of High German vs. Swiss German for example). Currently, respondents can choose up to three main languages (see ► Sprachenstatistik for a further discussion of this). The openness of the current question allows this multilingualism to be recorded. Respondents pre-2000 were able, as they are now, to select more than one language when reporting on use in the home, at work and at school. 2.2 Number of main languages As noted above, Swiss respondents can choose more than one main language, although the criteria in terms of what constitutes a main language are relatively strict. The question English 211 <?page no="248"?> is given as “ what is your main language, i. e. the one you think in and know best ” adding that “ if you think in more than one language in which you are fluent, add them below ” (OFS 2023a: 35). The census results from 2021 show that 84 % of residents in Switzerland report one single main language. Note that for this question, Standard German and Swiss German are treated as the same language, so in fact far more speakers are bilingual or more properly bidialectal than reported here (OFS 2023b). The cantons with the highest rates of people reporting two or three main languages are Geneva (25 %), Basel-City (21 %) and Vaud (20 %). 2.3 English as a main or home language The possibility that some respondents choose work languages as main languages (despite the wording of the question above) means that in order to get a sense of English as a heritage language in Switzerland, it is best to consider responses to the home language question (OFS 2023c). In 2021, these results show that 6.3 % of the Swiss population spoke English as one of their home languages (note that English is reported as a main language just under 6 % of the time). The cantons with the highest rates are Zug (13 %), Basel-City (11 %), Geneva (11 %), Zurich (10 %) and Vaud (8.5 %). Most cantons are much lower, with the Jura not quite reaching 2 %. This largely reflects the overall number of incomers to each canton and also which cantons have more international companies (where English is often spoken). Müller and Roth (2021: 13) note that in 2019, the non-national language which is most frequently reported as a main or home language across the country is English, followed by Albanian, Portuguese and Spanish. It is important to reemphasize that English sits somewhere between the national languages and the migration/ heritage languages discussed in this volume. It is not a national language of Switzerland unlike French, German, Italian and Romansh, but it is used more widely than many migration/ heritage languages. Its use as a home language highlights the number of immigrants from English speaking countries who are permanent residents and who might have been so for several generations. Added to those, there will be immigrants working in predominantly English-speaking settings (e. g. multinational companies, international schools) who might remain in Switzerland only for a few years (rather than settle permanently) but who have English as their main language. The use of these speakers is not identical to the more general use of English as a lingua franca in Switzerland, although of course the presence of schools and institutions of higher education that have English as the main language naturally contribute to the wider situation of English in Switzerland. This kind of use is nevertheless important to discuss and to present here before turning to the wider Swiss situation. Additionally, it is likely that its status as a lingua franca provides advantages as a heritage language as well. As will be discussed in detail in section 2.6, children in Switzerland learn English in school, so these children will have an opportunity to learn their home language in a school setting, which is very different from most other heritage languages in Switzerland. 2.4 English as a working language The rates for English at work are much higher than for use in the home in the 2021 census results (OFS 2023d and 2023e). Taking only the working population (61 % of overall 212 Mercedes Durham <?page no="249"?> respondents) into account, we find that 21 % report using English as one of their languages at work. This represents around one in five of the total working population. Considered alongside the other national languages (see figure 1 below), it is the fourth most frequently spoken language at work overall. This relatively low position obscures the fact that in all the linguistic regions, but the Romansh one, English is the second most frequently reported language for work (if German and Swiss German are counted together in the German speaking regions). In fact, in the German and French speaking regions it is chosen almost twice as often as the other non-regional languages combined (22 % vs. 13 % and 20 % vs. 13 % respectively). Fig. 1: Languages used at work in Swiss linguistic regions adapted from OFS 2023d There are of course cantonal differences as well. As might have been expected from the home language results, some cantons have much higher rates of English use at work than others. As before, the 5 cantons with the highest rates of people using English at work are Zug (40 %), Basel-City (36 %), Zurich (30 %), Geneva (30 %) and Vaud (23 %). The cantons with the fewest people using English at work are between 6 and 11 %. Given these high rates of English use, who is using English at work and what jobs are most likely to require it? Table 1 provides the breakdown in terms of the most relevant social categories. Each row within a category (e. g. nationality) is calculated separately when reporting English at work (which is why the numbers do not come out to 100 %). The second percentage column shows the proportion of the overall working population represented which is particularly relevant for the differentiation of socioeconomic groups (e. g. around 70 % of population work in academic professions and senior management, intermediate professions, and qualified non-manual occupations). Here the proportions within a category do come out to 100 %. There are few differences in terms of gender and the effect of age is less strong here than in section 2.5, so these are not presented. English 213 <?page no="250"?> Percentage reporting using English at work Proportion of overall working population Overall 21 Nationality Switzerland 19 73 EU/ EFTA 29 19 Other European state 21 4 State outside Europe 32 4 Socioeconomic group Top management 34 3 Liberal and related professions 37 3 Other self-employed 13 9 Academic professions and senior management 41 20 Intermediate professions 22 28 Qualified non-manual occupations 14 19 Qualified manual occupations 5 8 Unskilled employees and workers 4 7 Apprentices (in dual basic vocational training) 12 3 Non-attributable employees (missing or unclear basic data or an unplausible combination) 17 2 Highest completed education Compulsory school 7 13 Secondary level II 13 42 Tertiary level 33 45 Tab. 1: Percentages of English use at work for various social categories, values from OFS 2023d Table 1 confirms that settled incomers to Switzerland are more likely to use English at work than Swiss nationals. Top and senior management, liberal and academic professions, which represent around 26 % of the population, have the highest rates of English use (34 - 41 %). Qualified manual occupations and unskilled workers (15 % of population), instead are at 5 and 4 % respectively. When the relative proportion of people working in the various sectors is taken into account though, it is clear that English at work is common across the country. Different job types can also explain for the most part why the higher the level of education the more English use is found. This matches what previous studies in Europe have found with respect to the financial benefit of English at work (Hahm and Gazzola 2022). About a third of tertiary level educated workers in Switzerland, who make up 45 % of the working population, use English on a regular basis. It is worth noting however, that even in the group who have only done obligatory schooling, 7 % report using English at work at least once per week. 214 Mercedes Durham <?page no="251"?> 2.5 Regular language use Müller and Roth (2021) present the results of a 2019 survey of linguistic practice in Switzerland compiled for the National Statistics Office. For our purposes, the most important section relates to languages used regularly in Switzerland. The main census does not include questions about this, e. g. the question discussed in section 2.3 only deals with languages spoken at home or with family but does not focus on languages used when watching tv, on the internet and so on. The survey took regularly to mean languages that are spoken, read or written at least once a week (Müller and Roth 2021: 8). In terms of English, the survey found that 45 % of respondents used English regularly (i. e. at an even higher rate than recorded for work above). This rate was slightly higher in German speaking and French speaking cantons compared to Ticino (Müller and Roth 2021: 21). The breakdown by age is also useful for our analysis. 72.7 % of respondents aged 15 - 24 use English regularly, while respondents aged 25 - 39 use it 59 %. This then decreases for each older age group with the 75+ respondents using English regularly around 15 %. Since regular use includes various forms of use, such as watching tv or participating on social media, the results showcase how pervasive English is in the Swiss sphere even, and especially, beyond work. With well over half of respondents below 39 using English on a weekly basis, there cannot really be a debate that English is not an important language nationally, especially given that it is found across all age groups. In many respects, this regular use can be compared to Sundkvist ’ s (2009) notion of extramural English. She primarily uses it to describe occasions where English is used outside of formal schooling, e. g. when playing video games or listening to English language music, but here it is taken to be any use of English that is outside schooling or outside of work, so more informal uses. English as a lingua franca in Switzerland is a work language, but an everyday one too. 2.6 English in schooling The number of English speakers within the Swiss population who use it for work is not completely remarkable, when one considers that it is taught to nearly all school children and has been since before the 1990s. This means that at least two entire generations have been taught it and that the teaching was in a context where the status of English was increasing in the country. The Swiss Conference of Cantonal Ministers of Education (EDK 2023a) provides clear information about the introduction of languages in Swiss classrooms in different cantons. The information about language instruction focuses on first and second ‘ foreign ’ languages taught in Swiss cantons. Foreign here is intended as a language not spoken in the canton as often it is national languages that are being discussed. As can be seen in figure 2, while all the French speaking cantons and all the French speaking areas in bilingual cantons have German as the first new language and English as the second, the situation in German speaking cantons is more mixed. Some have French as the first foreign language and then English, while others (mostly north-eastern cantons) have reversed this. This means that in cantons such as Zurich, children learn a nonnational foreign language before one of the other national languages. English 215 <?page no="252"?> Fig. 2: First obligatory foreign language from EDK 2023b The situation in the cantons of Ticino and the Grisons is more complicated. In Ticino, French is the first language taught, followed by German (leaving English as a potential additional third language), whereas in German speaking parts of the Grisons, Romansh or Italian are the first foreign languages taught, followed by Italian or Romansh and then English. In the Italian and Romansh speaking parts of the Grisons, German is the first foreign language, followed by English ( ► Rätoromanisch). When students start with English (i. e. in some German speaking cantons), it is around 5 th grade (so around 10 years old), whereas when they learn it as a second foreign languages it is in seventh grade (around 12 years old). The results of section 2.5 can add insight into why some German cantons have chosen to introduce English first; people are more likely to use English as a second work language within their individual language regions than the other national languages. Taken together, the examination of the census and other results offered by the National Statistics Office as well as insight into how and when English is taught in school confirm its important presence in Switzerland. We now turn to a discussion about how this situation came to be. On the situation of English in Switzerland around 2000, see Lüdi and Werlen 2005. Recent statistical data can be found in OFS 2023a, 2023b, 2023c, 2023d, 2023e, as well as in Müller and Roth 2021. On English in the Swiss educational system, see EDK 2023a and 2023b. 216 Mercedes Durham <?page no="253"?> 3 The Past and Present of English in Switzerland 3.1 Phases and types of English in Switzerland The situation of English in Switzerland today can be explained by both historical and current factors. Dürmüller (2002) notes that the expansion of English as a lingua franca in Switzerland took place largely after the second world war. The presence of English speakers in Switzerland predates this considerably, however, and the numbers of Englishspeaking travellers to Switzerland and the various reasons for their presence set the scene for the later post WW2 increase and today ’ s use of English in the country (sections 3.2 - 3.4). English speaking people have visited Switzerland for a variety of reasons in the past four and a half centuries. Many of these reasons also contribute to the number of speakers of English as a heritage language in Switzerland. Alongside these, the current situation of English as a world-wide lingua franca and the presence of numerous multinational companies in Switzerland today also can help us better understand how English came to be so important (sections 3.5 - 3.7). 3.2 Grand Tours, Grand Authors and Grand Heights Tourism of various kinds has been integral to the economic success of Switzerland for at least two hundred years. English speaking travellers have come to Switzerland as part of their Grand Tours of Europe since the early 19 th century and the country has been more broadly important for alpinism since around the same time. A subcategory of the travellers to Switzerland (including English speaking ones) for tourism are those that in the nineteenth and early twentieth centuries came for tuberculosis sanitoriums. The notion of Switzerland as a desirable place for wealthy Brits and Americans to visit was solidified by authors writing about and living in the country. One need only consider the fact that the Shelleys, Byron, Polidori and others spent a summer at Villa Diodati near Geneva in the summer of 1816 and that Frankenstein (1818) was first conceived there, and numerous Romantic poems were composed about Switzerland (or nearby France), to see examples of the pervasiveness of Switzerland as a desirable location. Henry James ’ Daisy Miller (1878) has Vevey as one of its key locations and it is also mentioned in Louisa May Alcott ’ s (1868) Little Women. Madeleine L ’ Engle ’ s young adult novel And Both were Young (1949) deals with a Swiss boarding school (above Montreux). Not only did Ian Fleming make James Bond half Swiss in his novels (his mother is said to be from the canton of Vaud), but of course one of the films, On Her Majesty ’ s Secret Service (1969) is partly set in Switzerland. For many of these authors, and, not to mention the less literary tourists from English speaking countries, English would have served as a lingua franca both with other visitors and the Swiss people they communicated with (even if many would have had some French or some German). Even today English speakers made up a high percentage of tourists to Switzerland. For example, in 2019 (chosen to avoid changes due to the Covid-19 pandemic), around 20 % of all overnight stays in the country were from people with the United States or the United Kingdom as permanent places of residence (Swiss Tourism Federation 2020), making them the 2 nd and 3 rd highest countries respectively (Germany took 1 st place). In addition, it is likely that many of the tourists from China, the Gulf States and India (which represented English 217 <?page no="254"?> the top 4 th , 7 th and 8 th number of stays) would use English rather than a Swiss national language when visiting. 3.3 Boarding schools A second historical source of English speakers to Switzerland comes from educational institutions (i. e. boarding schools and international schools). Although some of these schools would have national Swiss languages as their official languages, in many of them English is the main language in classes or the main language for some of its programmes, e. g. programmes that allow students to gain (advanced) secondary school qualifications from the UK such as GCSEs (General Certificate of Secondary Education) and A-levels (Advanced levels) and the US (AP and SAT courses) as well as the International Baccalaureate. These boarding, international and finishing schools still exist today, with the first founded in the late nineteenth century, e. g. Le Rosay in 1880. Many of these are on, or near, Lake Geneva (e. g. Aiglon College and Beau Soleil which are both in Villars), which, as noted, was popular with English-speaking writers and British people on Grand Tours, but they can be found in other parts of Switzerland as well (e. g. Institut auf dem Rosenberg in St Gallen and The American School in Switzerland and the International School of Ticino, both in Ticino). 3.4 Religious settlement The English reformation in the 16 th century led to a Catholic exodus across Europe (including among supporters of King Charles I) and some settled in Switzerland. A second wave of religious settlement in Europe and Switzerland came later when Mary was put on the throne in 1553 and early Protestant Reform ministers left England (and Scotland). For example, John Knox, founder of the Presbyterian Church of Scotland, found support in Geneva from Calvin and others and lived there several years (Ridley 1968). There are at least a dozen English or Scots churches in Switzerland (where English is the main language) today which were founded either around or before the Reformation (e. g. the Holy Trinity Church in Geneva traces its origins back to the 16 th century) or during the heyday of English-speaking tourists (e. g. the Scots Kirk in Lausanne founded in the 19 th century, see Holy Trinity Geneva 2024, Scots Kirk 2024). This is primarily relevant for heritage speakers rather than a wider source of influence of Swiss population, however. 3.5 English in International and National institutions There have been numerous international (and now also national) companies and institutions based in Switzerland which use English as their main operating language since the start of the 20 th century. A key example is the United Nations in Geneva, as there are numerous non-governmental organizations based there. Switzerland was chosen because of its neutrality (Switzerland did not in fact become a member of the UN until 2002). There are, however, dozens and dozens of other examples, such as FIFA in Zurich or one of the many pharmaceutical companies based in Switzerland. Using English as a main operating language does not mean that no other languages are used within a company, but rather, as Lüdi (2016: 73) makes clear, English is an additional language and is not seen as replacing other languages, as speakers are able to make use of their extended linguistic repertoires at work. 218 Mercedes Durham <?page no="255"?> 3.6 Immigration to Switzerland Although this is not the main cause for the use of English in Switzerland, it is important to note that immigration to Switzerland from speakers of English (as a main or additional language) will have had some influence on the rate of English use in Switzerland. As other chapters in this volume make clear, Switzerland has a large immigrant population (with close to 30 % of the population born outside of Switzerland). English speakers comprise but a small part of this, but the status of English as a world-wide lingua franca means that for some, the initial language used in Switzerland is English and only then are the official languages used. Additionally, some locations (e. g. where international schools or companies are based) may in some cases have much higher rates of English speakers than the country as a whole. As was shown in section 2.3, some cantons have far higher rates of speakers of English as a main language (as well as of speakers of English at work) than others. They are generally ones where immigration of English speakers is higher as well. 3.7 English as a world-wide lingua franca English fulfils various economic, communication and academic purposes in Switzerland, but this is the case in Europe more generally. As noted previously, it is difficult to talk about English in Switzerland without addressing its current use the world over. Not only in Switzerland, but in many other nations, English is the international lingua franca. Overall, there are 1.457 billion speakers of English of which 1.08 billion are L2 speakers (around 75 %), and 373 million are L1 speakers (Eberhard et al. 2023). This puts English as the most spoken language in the world, but counting only L1 speakers, it comes third as Mandarin and Spanish have more speakers. L2 is not a completely accurate term, as some of these speakers grew up using English as one of their main languages but not necessarily their mother tongue. This is the case of countries (e. g. India and Kenya), where English is an official language but not the only one nor often the most important one. The importance of English in the 21 st century is tied to the power of Britain in colonial times and the cultural and economic power of the United States since the 20 th century but also the soft power that English language culture and media has around the globe today (Durham 2014). In Switzerland, English serves lingua franca functions and is regularly used across all age groups, but it remains a language that is taught at schools and for which there are assumed to be clear norms (Modiano 1999, ► Pfenninger/ Becker_Band2). That is to say, that despite high extramural use of English (Sundqvist 2009, Sundqvist and Sylvén 2016), people in Switzerland still look to Standard varieties of English and, at least at work, hold them as a model. This contrasts with the notion of English as a lingua franca as viewed by Seidlhofer (2011), where the expectation is that speakers are not so concerned by L1 norms. The extent of English use by Swiss nationals with each other sets the country apart from others where English has a comparable lingua franca status and means that Switzerland might represent an early case of how English as a lingua franca can gain national and cultural importance within countries where it is not a national or colonial language. English 219 <?page no="256"?> 3.8 History of English in Switzerland as a way to understand the situation today Although the reasons behind the use of English have changed in Switzerland in the past two hundred years, these initial contacts and the initial views of British and American travellers partially explain how English came to have the foothold it has in the country today. While each on their own would not have been sufficient to influence the present use of English, taken alongside the more recent causes, they have contributed. Although English-speaking tourists to Switzerland might be thought of as too transient to fully mark the Swiss linguistic landscape, the fact that they existed (and still exist) means that the possibility of English being used by a substantial number of Swiss people was always there and to some extent almost seems natural as tourism remains a key industry particularly in Swiss alpine regions. On the evolution of English since 1945, see Dürmüller 2002. On English travellers to Switzerland, see Tissot 1995; Heafford 2006; Barton 2008. On English boarding schools, see Swann 2007. On English as a language in institutions in Switzerland, see Lüdi 2016. On English in Europe, see Cenoz and Jessner 2000; Dürmüller 2001; Hoffman 2000; Phillipson 2003. 4 Attitudes towards English in Switzerland Beyond the concrete causes for the importance of English in Switzerland, it is worth discussing what people ’ s attitudes are towards it and what reasons they give for their own use of it. As discussed above, all Swiss children learn at least two foreign languages by the time they are 12 - 13, with English favoured by many over national languages learned as L2s. This is partly tied to the fact that speakers of the various languages in Switzerland are not always as proficient in their compatriots ’ languages as they are in English even when they have learnt them during their schooling, and that English is often perceived as easier to learn. An additional justification for the use of English in multilingual and/ or multinational companies is that English is seen by some to represent a neutral language choice over the Swiss national languages as it puts everyone at an equal disadvantage (i. e. nobody is using their main language). It is worth noting however, that not everyone sees this as a neutral choice. Becker (2023) examined teachers ’ and students ’ attitudes towards the use of English and its position as a lingua franca in Switzerland and found that in some cases nationalistic concerns led to the use of English being seen as a danger to Swiss national cohesion. These concerns have so far not stopped the increase of English in the 21 st century. Overall, these attitudes demonstrate that while for some English is the most logical language for some types of intranational communication, for others it is viewed far more negatively and as something to be fought against. In practice, it seems likely that the use of English is decided on a case-by-case basis - some situations and some people will use English and others will choose a national language or several languages (Durham 2014). On attitudes towards English as a lingua franca in Switzerland, see Durham 2014; Ronan 2016; Becker 2023. 220 Mercedes Durham <?page no="257"?> 5 Swiss (in) English and English in Swiss languages 5.1 Swiss English? The discussion thus far raises the question about whether the linguistic situation has led to a creation of a national variety of English: a Swiss English that could be distinguished from other L2 Englishes and which would be the same in all the Swiss linguistic regions. While the amount of English used and, at this stage, the length of time it has been spoken, may suggest that a unique variety may exist, it remains very difficult to be sure of this. Any case for it could only be made on lexical and morphosyntactic grounds, as English speakers from different language backgrounds still sound very different. The English spoken in Switzerland obviously includes many helveticisms (e. g. fondue, raclette, canton, federal council, Abonnement General/ Generalabonnement [AG/ GA]), which in some cases have made it to English spoken beyond Swiss borders. These words are clearly Swiss English, but in themselves are not sufficient to posit for a completely ‘ unique ’ Swiss English. To examine such aspects in more detail, a Swiss National Science Foundation project was set up in the early 21 st century to look at precisely this (Trudgill et al. 2001 - 2005), but the three strands of research tied to it (Droeschel 2011, Durham 2014 and Rosenberger 2010) did not find anything particularly conclusive. Some features were found to be shared across speakers from different Swiss regions, but at the time there was not sufficient evidence to make a clear case for a fully separate variety and this does not seem to have changed in the past decade despite even more English use in Switzerland. This is, first of all, because some of the features that are held up as examples of Swiss English are seen as errors or deviations from Standard English by some Swiss speakers themselves rather than regional distinctions, so the supposedly correct form is used by some and not by others. Secondly, the features that do exist tend to be ones related to both language acquisition processes and to processes such as new dialect formation (where several varieties coalesce into one). The case of variation between will and going to to express the future is an example of the difficulty in disentangling these processes in a lingua franca situation. Examining variation in future tense forms, Durham (2014) found that the Swiss German, French and Italian users of English in her dataset were less likely to use going to than L1 speakers and favoured will even in cases where it was less likely to be used in Standard English, making it a potential case of Pan-Swiss English. However, it was deemed likely that this overuse of will could conceivably been found in German, French and Italian speakers of English outside of Switzerland too, which made any definite case for a Swiss variety harder to prove. Generally, it is difficult to convincingly state that some forms are truly Swiss English, and it is more likely that there are smaller groupings with distinctive ways of using English but which do not lead to country-wide use. As an example, many English speakers in Switzerland use agenda for what would primarily be called a diary by L1 English speakers, calquing the French or Italian word to English. Enough people view it as an error and/ or do not use it so it cannot be said to be a Swiss English word. It seems probable that with time, however, more potentially Swiss features will arise, even if the continued teaching of English with US or UK norms will mean that in many cases the transmission of these will be more difficult and they are more likely to simply be recreated in each new cohort of Swiss English learners. The recent increase in extramural English 221 <?page no="258"?> English may be what will help speed up a beginning of a distinctly Swiss English which is in part transmitted not in classroom, but from peer to peer. 5.2 English in Swiss languages Although there is no distinctively Swiss English, English has found its way into Swiss languages. The idea that English changes indigenous languages is well discussed, particularly in terms of vocabulary (Furiassi et al. 2012), although often findings are that the situation is not as dire as is made out to be by non-linguistics. It is not surprising that in Switzerland as well, we find some English words that have made their way into the national languages. The Federal Chancellery Office (2015) put together a list of 100 anglicisms found in the four Swiss languages and provided a discussion of how open or resistant the various languages are to English words. Discussions on anglicisms in Switzerland are much older than this, however. See, for example, Bon (1948) which discusses a selection of English words in Swiss German, as well as the comprehensive list of anglicisms in Swiss German that Dalcher began putting together in the 1960s (Dalcher s. a.). Beyond the lists, what may potentially demonstrate a higher level of English in the Swiss languages is the increasing tendency towards the adoption of complete idioms (e. g. “ Oh my god ” ) by the youngest generations of speakers (e. g. Pheiff 2023 discusses how easy is integrated into young speakers ’ Swiss German). It is probable that further similar examples exist across Switzerland and will be researched in the coming years. Any discussion of the influence of English on German, French and Italian in Switzerland must be taken alongside the fact that the Swiss languages have a substantial influence on each other as well. Many helveticisms (i. e. words which are distinctive to German, French or Italian in Switzerland) are in fact borrowings from the other national languages (e. g. foehn instead of sèche-cheveux ‘ hair dryer ’ in French from German). Ultimately the differences between Swiss and German, French or Italian varieties respectively are not primarily due to English, but to many other factors (see other chapters in this volume), although examining the contribution of English to Swiss languages is important as well. On the question of the existence of a “ Swiss English ” , see Durham 2014; Droeschel 2011; Rosenberger 2010. On English elements in Swiss national languages, see Bon 1948; Federal Chancellery office 2015; Pheiff 2023; Dalcher s. a. 6 Future of English This chapter has shown the ways English in Switzerland sits in an odd place. Within schooling, English is still treated as a foreign language, albeit one which is highly valued and taught early, but outside of school, it is used in a far higher number of domains than most foreign languages. The educational reforms and shifts towards English as the first foreign language (in some German cantons) took place in the late 20 th century meaning that we now have the second generation of children learning English as the first non L1 language they are taught and with the knowledge that it is used in the country. Added to this, the increasing extramural use of English by young (and older) people through social media, music, film 222 Mercedes Durham <?page no="259"?> and television and culture more generally, makes it ever more important and will affect how children use and learn the language. The situation of English in Switzerland as a national lingua franca may act as a bellwether for other countries in Europe and elsewhere. Although it is somewhat less likely that countries with a single main language will shift to English as an intranational lingua franca, it is possible in other multilingual situations and the amount of English used online across the world will contribute to that as well. Generally, in Switzerland, English is a home language for a few, but for most, it remains a language that, while used daily, is not a mother tongue. This is a key consideration when examining English in Switzerland and highlights that the official Swiss languages are not under threat from English. It is an important language within the country and is likely to remain so, but it is not, and is not likely to be, transmitted from generation to generation to the detriment of French, German and Italian, even if gradually there is more peer-topeer transmission in extramural contexts. The linguistic situation in Switzerland would need to shift substantially for this to change. In conclusion, English is an additional language in Switzerland, but there is no evidence that it is replacing or displacing any of the national languages. It may be displacing languages across linguistic regions (i. e. French is less important in German speaking regions and vice versa) but the linguistic regions themselves are not at risk. Furthermore, based on census results, although many Swiss people use several national languages regularly, most never do, so the addition of English is not taking away from that. References Barton, Susan (2008). 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Im Folgenden wird dargestellt, wie es zu diesem sprachlichen Sonderfall gekommen ist, warum die Samnaunerinnen und Samnauner neben dem südbairischen Dialekt noch weitere Formen des Deutschen sprechen und welche das sind. Dazu werden zunächst in Abschnitt 2 die wichtigsten historischen, demographischen, topographischen, geographischen und ökonomischen Eckdaten der Gemeinde Samnaun bzw. auch für die Sprachsituation relevante Entwicklungen dargestellt. In Abschnitt 3 wird die sprachliche Situation in Samnaun bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieben, als noch Rätoromanisch gesprochen wurde. In Abschnitt 4 wird die kurze Phase der Zweisprachigkeit bzw. die Germanisierung Samnauns behandelt. Schliesslich folgt ein Blick auf das neu germanisierte Samnaun zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Abschnitt 5), bevor in Abschnitt 6 die aktuelle Sprachsituation in Samnaun und die dort gesprochenen Varietäten des Deutschen ausführlich beleuchtet werden. 2 Eckdaten zu Samnaun Die politische Gemeinde Samnaun liegt direkt an der schweizerisch-österreichischen Staatsgrenze, und auch die Grenze zum italienischen Südtirol ist nicht weit entfernt (vgl. Abb. 1). Samnaun gehört zur Region Engiadina Bassa/ Val Müstair des Kantons Graubünden und besteht aus fünf Dörfern (auch Fraktionen genannt). Der politische Hauptort der Gemeinde ist Compatsch (auf 1715 M. ü. M. gelegen), wo sich neben der Gemeindeverwaltung auch die Schule und die Kirche befinden. Von Compatsch her steigt das Samnauntal in Richtung Westen an. Es folgen die beiden Fraktionen Laret (auf 1730 M. ü. M.) und Plan (1728 M. ü. M., die kleinste der fünf Fraktionen), danach auf 1799 M. ü. M. Ravaisch, wo sich die Talstation der Luftseilbahn zur Silvretta Arena (Skigebiet) <?page no="263"?> befindet. Das letzte Dorf im Samnauntal, auf 1840 M. ü. M. gelegen, ist Samnaun-Dorf, das dem Tal seinen Namen gegeben hat und mit vielen Einkaufsmöglichkeiten und zahlreichen Hotels das touristische Zentrum der Gemeinde bildet; in dieser Fraktion wohnen aktuell auch am meisten Personen. Die Gemeinde erstreckt sich entlang des Schergenbachs, eines Nebenflusses des Inns, auf einer Fläche von 56.3 km 2 , wovon aber nur 1.2 % Siedlungsfläche darstellen. Diese Lage zwischen zwei hohen Bergketten, die dazu führt, dass Samnaun geographisch gesehen eine der isoliertesten Gemeinden der Schweiz ist, ist für die sprachliche und auch für eine ökonomische Besonderheit des Ortes verantwortlich. Samnaun grenzt an das österreichische Bundesland Tirol (vgl. Abb. 1; Entfernung von Compatsch bis zum ersten österreichischen Ort jenseits der Grenze, Spiss, 3.4 km, bis zur Staatsgrenze 2 km). Die nächsten Schweizer Dörfer - Martina, Tschlin und Ramosch (Gemeinde Valsot) - liegen hinter der südlichen Bergkette, wo der Muttler mit seinen 3294 M. ü. M. den höchsten Punkt bildet. Die Entfernung beträgt nach Martina 9.6 km, nach Tschlin 10.3 km und nach Ramosch 14.0 km Luftlinie (jeweils von Compatsch aus); die Fahrstrecke zu diesen drei Orten ist aber um einiges länger: Martina 16.9 km, Tschlin 25.9 km und Ramosch 26.4 km. In diesen Gemeinden spricht nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerung das rätoromanische Idiom Vallader. Nördlich von Samnaun liegt die zweite Bergkette, die es vom österreichischen Paznauntal abgrenzt. Mit dem Paznauner Ort Ischgl teilt sich Samnaun seit Ende der 1970er- Jahre ein gemeinsames Skigebiet, das dem Wintertourismus, der in den 1930er-Jahren in Abb. 1: Karte von Samnaun und Umgebung (Karte: Philipp Stoeckle) Deutsch in Samnaun 227 <?page no="264"?> Samnaun Einzug gehalten hatte, neuen Aufschwung bescherte und die Gemeinde bis heute wirtschaftlich massgeblich prägt. Diese Bedeutung des (Winter-)Tourismus wird auch an den statistischen Kennzahlen zur Wirtschaftsstruktur erkennbar: Von den 1 ’ 170 Beschäftigten in Samnaun arbeiten 92.5 % im Dienstleistungssektor (Schweizer Durchschnitt: 76.1 %), von den 157 Betrieben sind 125 (79.6 %) dem 3. Sektor zuzurechnen (Schweizer Durchschnitt: 78.3 %). Vor dem Aufkommen des Tourismus im Verlauf des 20. Jahrhunderts war das Wirtschaftsleben Samnauns landwirtschaftlich geprägt; bis Mitte des 19. Jahrhunderts lebte der Ort von Selbstversorgung (vgl. dazu Abschnitt 3). Zusätzlichen Aufschwung verleiht dem Tourismus der Status Samnauns als Zollausschlussgebiet, den es seit 1892 hat und der es zu einem attraktiven Ort für Einkaufstouristinnen und -touristen macht. Diesen Status erlangte Samnaun aufgrund seiner Lage: Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Dorf nämlich durch eine Strasse mit der Schweiz verbunden (vgl. dazu weiter unten). Die ursprünglich einzige Verbindung talauswärts bestand zunächst (und bis 1911) aus einem Saumweg (bzw. ab 1830 einem Ochsenkarrenweg), der auf österreichischem Boden vorbei an Spissermühle nach Spiss und von dort über Noggels nach Pfunds führte (vgl. Abb. 2). Über diesen Weg, der Samnaun mit den Tiroler Gemeinden Spiss und Pfunds verband, entwickelte sich mit der Zeit Handelstätigkeit; diese kam aber nach der Gründung des schweizerischen Bundesstaates im Jahr 1848 und der daraus folgenden Zentralisierung des Zollwesens massiv ins Stocken. Als 1892 ein österreichisches Zollamt bei Finstermünz errichtet werden sollte, stellte die Gemeinde Samnaun schliesslich ein Gesuch an den Bundesrat, Samnaun «von der schweizerischen Zollinie auszuschließen» (Margadant 1973: 49). Der Status als Zollausschlussgebiet federte also die topographiebedingten Nachteile Samnauns im zunehmenden Handel mit dem Tirol ab und wurde auch nach der Eröffnung der Zufahrtsstrasse über Schweizer Gebiet 1912 mehrfach bestätigt, zuletzt 1993. Abb. 2: Gegend, wo der ehemalige Saumweg von Samnaun nach Pfunds verlief. Quelle: Bundesamt für Landestopografie swisstopo Aktuell leben in Samnaun 736 Einwohnerinnen und Einwohner (ständige Wohnbevölkerung), wovon 77.9 % schweizerische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind. Von diesen sind 82.4 % Gemeindebürger: innen von Samnaun selbst, was einerseits für eine hohe Sesshaftigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner spricht, andererseits aber sicherlich auch mit der Einbürgerung von ausländischen Personen, die sich aus familiären Gründen in Samnaun niederlassen (Heirat mit ansässigen Samnaunerinnen und Samnaunern), 228 Susanne Oberholzer <?page no="265"?> zusammenhängt. Zusätzlich halten sich 453 Personen mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung (aus EU- und EFTA-Staaten) in Samnaun auf, was im Zusammenhang mit der Wirtschaftsstruktur Samnauns (hoher Anteil von Beschäftigten im Wintertourismus) steht. Während die Bevölkerung des übrigen Engadins, zu dem Samnaun gehört, grossmehrheitlich evangelisch-reformiert ist, sind die Einwohnerinnen und Einwohner Samnauns heute (römisch-)katholisch. Zwar gab es seit dem 16. Jahrhundert eine reformierte Minderheit in Samnaun, die mit der katholischen Mehrheit friedlich koexistierte. Im Zuge des Dreissigjährigen Krieges und der Bündner Wirren fielen aber anfangs des 17. Jahrhunderts österreichische Truppen in Samnaun ein und versuchten mithilfe von Kapuzinerpatres, von dort aus das gesamte Engadin zu rekatholisieren. In Samnaun gelang dieses Vorhaben: Die reformierten Bewohnerinnen und Bewohner konvertierten oder verliessen Samnaun, sodass Samnaun heute die einzige katholische Gemeinde im Engadin ist. Samnaun verfügt über eine gemeindeeigene Schule, die von den Kindern und Jugendlichen des gesamten Samnauntals besucht wird. Es ist also möglich, die gesamte obligatorische Schulzeit (Kindergarten plus neun Jahre Schule) in der Gemeinde selbst zu absolvieren. Der Besuch der Berufsfachschulen bzw. allenfalls des Gymnasiums folgt dann aber ausserhalb des Samnauntals, sodass die jungen Samnaunerinnen und Samnauner das Tal nach der obligatorischen Schulzeit für die weitere Ausbildung zumindest zeitweise verlassen müssen. Heute gelangt man sowohl über Schweizer Staatsgebiet als auch von Österreich her nach Samnaun. Die Zufahrtsstrasse, deren Bau von 1907 bis 1912 erfolgte und die auf Abb. 3: Karte der Strassenverbindungen nach Samnaun von Martina (CH) bzw. Pfunds (A) herkommend. Quelle: Bundesamt für Landestopografie swisstopo Deutsch in Samnaun 229 <?page no="266"?> Schweizer Gebiet gelegen ist, führt von Martina über Vinadi direkt nach Samnaun. Von Österreich herkommend führt die Strasse von Landeck über das oberste Oberinntal (Pfunds, Spiss) nach Samnaun (vgl. Abb. 3). Samnaun ist über eine Postautolinie erschlossen, die sowohl in Martina (CH) als auch Pfunds (A) Haltestellen bedient. Für die statistischen Angaben zu Samnaun siehe Bundesamt für Statistik 2021: 3323 sowie Gemeinde Samnaun 2023. Für weitere Hintergrundinformationen zu Samnaun siehe Schmid 1974. Für genauere Informationen zum Zollausschlussgebiet siehe Margadant 1973. Für Angaben zu den Bündner Wirren siehe Färber 2011. 3 Das rätoromanische Samnaun Samnaun war seit jeher vom Taleingang her schwer zugänglich; daher liegt die Vermutung nahe, dass das isolierte Tal über die Pässe besiedelt worden ist. Die Besiedelung Samnauns könnte vom Engadin her erfolgt sein; vermutlich stammten die ersten Siedler aus der Engadiner Gemeinde Ramosch, zu der Samnaun lange Zeit gehörte. Diese siedelten wohl zunächst in Samnaun(-Dorf), vermutlich vor 1000, da Samnaun erstmals 1089 urkundlich erwähnt wurde. Sesshaft wurden diese Bauern, die sich im Sommer wohl über den Fimberpass (2609 M. ü. M.) und das Zeblasjoch (2538 M. ü. M.) in das Samnauntal begaben und im Herbst wieder ins Unterengadin zurückkehrten, um 1200. Durch die schwere Zugänglichkeit war das Tal im Winter oft komplett abgeschnitten. Einen Zugang zur Aussenwelt ermöglichte darüber hinaus der oben erwähnte Ochsenkarrenweg in Richtung Spiss und Pfunds. Dieser führte dazu, dass die Samnaunerinnen und Samnauner mit dem angrenzenden Tirol Beziehungen pflegte. Jenal (1946: 40) geht davon aus, dass diese «schon frühzeitig sehr rege» und «mehr geistig-kultureller als wirtschaftlicher Art» waren, wobei der Zeitpunkt, auf den sich «frühzeitig» bezieht, nicht näher bestimmt wird. Ein weiterer Saumpfad existierte über den Pass Fuorcla Seblas (2545 M. ü. M.) und führte ins Tiroler Paznauntal. Für diesen gilt aber dasselbe wie für die Pässe in die Schweiz; er war nur im Sommer problemlos begehbar. Bis ins 16. Jahrhundert hinein war der Kontakt mit den angrenzenden Nachbarinnen und Nachbarn in (Nord- und Süd-)Tirol ein innerromanischer Sprachkontakt. Auch die Tirolerinnen und Tiroler sprachen eine rätoromanische Varietät. Es ist davon auszugehen, dass die direkte Nachbarschaft Samnauns um 1570 noch zweisprachig (Rätoromanisch- Deutsch) war (aufgrund von Angaben eines rätischen Gerichtsschreibers, siehe Klausmann und Krefeld 1986: 122). Wenn die Samnaunerinnen und Samnauner also in den Jahrhunderten zwischen Besiedelung und dem 16. Jahrhundert ins heutige Tirol gelangten, konnten sie sich vermutlich ohne grosse Probleme in ihrer romanischen Mundart verständigen. Es ist allerdings nicht ganz klar, wie intensiv der Kontakt zu jener Zeit bereits war. Zwar gab es sicherlich schon längere Zeit verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Tirol: So kam es zu Hochzeiten zwischen katholischen Samnauner: innen und den ebenso katholischen Tiroler: innen; erste (vereinzelte) Familien, in denen der Tiroler Dialekt gesprochen wurde, lebten wohl bereits seit dem 17. Jahrhundert im Tal. Aber die Handelsbeziehungen wurden erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts intensiv(er). Bis dahin scheint Samnaun «ein geschlossener Wirtschaftskreis mit vorwiegender Selbstversorgung» gewesen zu sein (Jenal 1946: 39). Nur wenige Güter mussten demnach mit 230 Susanne Oberholzer <?page no="267"?> dem Tirol gehandelt werden: Es wurde ein «bescheidener Handel und Warenaustausch [ … ] zur Ergänzung der aus heutiger Sicht sehr anspruchslosen Lebensgrundlage betrieben» (Jenal-Ruffner 2009: 17). Der Handel mit dem Tirol scheint sich dann aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts intensiviert zu haben und für die Bauern in Samnaun auch lukrativ geworden zu sein. Dadurch intensivierten sich auch die Kontakte mit den Tirolerinnen und Tirolern, die mittlerweile einen südbairischen Dialekt sprachen. Diese vermehrten Kontakte zeigen sich auch im Rätoromanischen ( ► Rätoromanisch), das die Samnauner: innen bis ins 19. Jahrhundert gesprochen haben. Dieses wurde immer stärker von Tiroler Einflüssen, besonders in der Aussprache, die ausführlich untersucht wurde (siehe Ritter 1981), durchdrängt. So zeigen sich beispielsweise Entrundungstendenzen sowohl für ö wie auch ü (es wurde beispielsweise «der engadinische Umlaut ö [ … ] durch Einfluss des Tirolischen, das kein ö kennt, zu é ̣ / ḗ ̣ entrundet», Ritter 1981: 124 - 125), Desonorisierung von ursprünglich stimmhaften romanischen Konsonanten im Anlaut und intervokalisch sowie die Verwirrung zwischen b und v im Anlaut und intervokalisch durch den Einfluss des Tiroler Lautes [ß] in bacha/ vacha ‘ Kuh ’ (vallader: vacha), begl/ vegl ‘ alt ’ (vallader: vegl), die das Samnauner Romanische vom restlichen Vallader, dem rätoromanischen Idiom des Unterengadins) unterschieden (siehe Kramer 1982). Das Wissen über das ausgestorbene Samnauner Vallader verdanken wir Florian Melcher und Robert von Planta, die dieses in Samnaun zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1899 - 1910) im Zuge der Erhebungen für den Dicziunari Rumantsch Grischun (DRG) aufgezeichnet haben. Diese Aufzeichnungen fanden mit den wenigen allerletzten Sprecherinnen und Sprechern des Samnauner Vallader statt - die Phase der Germanisierung des Samnauntales war nämlich Ende des 19. Jahrhunderts/ anfangs des 20. Jahrhunderts fast vollständig abgeschlossen. Für ausführliche Informationen zum ausgestorbenen rätoromanischen Idiom Samnauns siehe Ritter 1981 bzw. auch Kramer 1982. Für die Geschichte Samnauns siehe die Angaben in Jenal 1946 bzw. Jenal-Ruffner 2009 sowie Schmid 1974. 4 Die Zeit der Germanisierung Den genauen Zeitpunkt, wann die Germanisierung ihren Anfang nahm, kann man nicht mit Sicherheit feststellen (vgl. Gröger 1924: 104), zumal auch das Archiv von Ramosch, zu dem Samnaun gehörte, anfangs 20. Jahrhundert einem Brand zum Opfer fiel. Gröger geht davon aus, dass sich das Rätoromanische bis anfangs des 19. Jahrhunderts (wohl um 1820/ 30) unangefochten hielt und in Samnaun bis zu diesem Zeitpunkt ausschliesslich (oder vorwiegend) Rätoromanisch gesprochen wurde. Anschliessend folgte eine längere Phase der Zweisprachigkeit, die bis ungefähr 1870 andauerte. Es muss aber bedacht werden, dass - wie oben erwähnt - schon früher sowohl die Eheschliessungen zwischen Samnauner: innen und Tiroler: innen zu innerfamiliärer Zweisprachigkeit geführt haben als auch der Erwerb des Deutschen für die Kommunikation mit den Tirolerinnen und Tirolern zumindest für diejenigen Samnaunerinnen und Samnauner, die intensive(re) Handelsbeziehungen pflegten, schon länger eine Notwendigkeit war. Die einzige Form des Deutschen, mit der die Samnauner Bevölkerung zu jener Zeit häufig in Berührung kam, war diejenige der Tiroler Nachbarinnen und Nachbarn, eine südbairische Varietät (vgl. dazu Abschnitt 5). Die zweisprachige Phase mündete letztlich in der vollständigen Deutsch in Samnaun 231 <?page no="268"?> Germanisierung der Gemeinde Samnaun und somit dem Aussterben des lokalen rätoromanischen Dialekts. Ende des 19. Jahrhunderts sprachen im Tal nur noch wenige sehr alte Leute Romanisch (vgl. Klausmann und Krefeld 1986: 122 nach Gartner 1883); der letzte Sprecher des Romanischen starb im Jahr 1935. Der Grund für die im 19. Jahrhundert immer stärkere Ausbreitung des Deutschen im Samnauntal wird allenthalben in der Anstellung eines aus Südtirol (Malser Heide) stammenden Lehrers im Jahr 1825 gesehen. Etwa zur gleichen Zeit wurde für die Predigt in den Gottesdiensten kein Rätoromanisch mehr verwendet, «mit ziemlicher Sicherheit [ … ] zwischen 1810 und 1822» (Gröger 1924: 104, Fn. 3), als der Pfarrer aus Nauders (Tirol) amtete. Danach folgten aber wieder zwei Bündner Pfarrer, aus Riom bzw. Müstair. Geblieben von der langen rätoromanischen Vergangenheit sind Samnaun heute lediglich die vielen romanischen Flur- und Ortsnamen (auch jene der fünf Fraktionen Compatsch, Laret, Plan, Ravaisch und Samnaun) sowie aus dem Romanischen stammende Familiennamen (wie Carnot, Jenal, Zegg und Denoth). Vereinzelt finden sich noch Spuren abseits der Onomastik, wie beispielsweise das Lexem nouna ‘ Grossmutter ’ (vallader: nona). Für Informationen zur Germanisierung Samnauns siehe Gröger 1924. 5 Das deutschsprachige Samnaun zu Beginn des 20. Jahrhunderts Der seit anfangs des 20. Jahrhunderts in Samnaun gesprochene Dialekt ist ein Tiroler Dialekt wie in der angrenzenden Nachbarschaft. Die lautlichen Besonderheiten dieses Dialekts - im Vergleich mit jenen der benachbarten Tiroler Dialekte - sind 1924 in einer Ortsgrammatik von Gröger festgehalten wurden. Diese ist also nur zwölf Jahre nach der Strasseneröffnung erschienen und bildet damit einen Sprachstand ab, der noch nicht (oder kaum) von den vermehrten Kontakten mit anderen Varietäten als dem Tiroler Dialekt der Nachbarschaft beeinflusst war. Zu jener Zeit wohnten in Samnaun rund 300 Einwohnerinnen und Einwohner. Der südbairische Dialekt, wie er anfangs des 20. Jahrhunderts in Samnaun gesprochen wurde, wird von Gröger als eine Mischung aus zwei Tiroler Dialekten, jenem von Pfunds und jenem von Nauders, beschrieben. Es ist anzunehmen, dass während einer gewissen Periode (jener der Zweisprachigkeit), ein «Schwanken» (Gröger 1924: 133) herrschte und einige Samnauner: innen in erster Linie Pfundser Dialektmerkmale übernahmen, andere hingegen diejenigen von Nauders. Daraufhin folgte eine zweite Phase mit einem «Schwanken beim Einzelindividuum», in der sich die Formen vermischten. «Die von den verschiedenen Punkten des Tiroler Gebietes zuströmenden Einflüsse dauerten, sich gegenseitig bekämpfend, während dieser Periode individuellen Schwankens in wesentlich gleicher Weise fort» (Gröger 1924: 133). Schliesslich kam ein Gleichgewicht in Form des von Gröger beschriebenen Dialekts zustande, sowohl mit Merkmalen der Nauderser als auch der Pfundser Lautung. Dass der Einfluss der Nauderser bzw. der Vinschgauer Lautung auf den Samnauner Dialekt anfangs 20. Jahrhundert trotz der grösseren geographischen Nähe Samnauns zu Pfunds/ Spiss so gross ist, hängt wohl mit dem ersten deutschsprachigen Lehrer in Samnaun, der wie oben erwähnt aus der Malser Heide stammte, sowie dem aus Nauders stammendem deutschsprachigen Pfarrer in der Zeit von 1810 bis 1822 zusammen. 232 Susanne Oberholzer <?page no="269"?> Neben den in Abschnitt 3 erwähnten Einflüssen des Tiroler Dialekts auf das Samnauner Rätoromanische, hat natürlich auch das rätoromanische Substrat Spuren im südbairischen Dialekt Samnauns hinterlassen. Als Beispiele dieses Einflusses gelten u. a. die Entnasalierung betonter Vokale (siehe Gröger 1924: 135 - 136), die Fortisierung im Auslaut von -d und -g sowie die fehlende Affrizierung von k, mit Ausnahme der Stellung im Auslaut (siehe Gröger 1924: 138). Gröger wagte im Jahr 1924 die Prophezeiung, dass die für den Samnauner Dialekt geltenden Eigenheiten in «nächste[r] Zukunft» keinen Veränderungen unterliegen dürften bzw. höchstens noch stärker ausgeprägt würden, weil «der Verkehr mit dem Tirol bereits seit der Eröffnung der neuen Straße, ganz besonders aber infolge der durch den Krieg bedingten Verschiebung der Verhältnisse merklich zurückgegangen» sei (Gröger 1924: 134). Was er nicht in Betracht zog, war die Möglichkeit des wachsenden Einflusses des Schweizerdeutschen auf die Sprache in Samnaun, weil zu jener Zeit auch nicht absehbar war, welch grosse Auswirkungen die Strasseneröffnung auf das Tal haben würde. Zu jenem Zeitpunkt, anfangs der 1920er Jahre, spielte das alemannische Schweizerdeutsch aber noch keine grosse Rolle im Tal. Trotz seiner sprachlichen Besonderheit - als einzige bairischsprachige Gemeinde in der ansonsten alemannischsprachigen Deutschschweiz - wurde Samnaun vonseiten der Schweizer Dialektforschung vernachlässigt: Weder für den Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) noch für das Schweizerische Idiotikon (Id.) wurden in Samnaun Daten erhoben. Hingegen schlossen die österreichischen Dialektologinnen und Dialektologen Samnaun in ihre Erhebungen mit ein: Es bildete sowohl für den Vorarlberger Sprachatlas (VALTS) als auch für den Tirolischen Sprachatlas (TSA) einen Ortspunkt, und auch Kranzmayer und Hornung waren 1958 für eine Aufnahme für das Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ) in Samnaun. Diese vermerkten im Aufnahmeprotokoll, dass die Aufnahme «etwas verkehrssprachlich» gewesen sei. In der Tat hört man auf der Aufnahme, wie eine von zwei Gewährspersonen immer wieder vom Ortsdialekt in Richtung Standarddeutsch shiftet, also basisdialektale Merkmale weglässt und standardnähere oder standardkonforme Merkmale realisiert, und im Gespräch mit den Explorator: innen eine Zwischenvarietät auf der Dialekt-Standard-Achse verwendet, wie sie im bairischen Raum wegen des Dialekt-Standard-Kontinuums erwartbar ist (siehe dazu auch Abschnitt 6.3). Für den Sprachstand in Samnaun anfangs des 20. Jahrhunderts siehe die Ortsgrammatik von Gröger 1924. 6 Aktuelle Sprachsituation in Samnaun Seit der Strasseneröffnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die sozioökonomische Situation der Gemeinde Samnaun stark verändert. Wie stark, zeigt eine Passage aus «Das Samnaun. Eine morphologisch-wirtschaftsgeographische Studie» von Carl Jenal aus dem Jahr 1946: Seit 1938 wird die Straße auch im Winter für Autoverkehr offen gehalten. [ … ] Die Verkehrsentwicklung vom Säumerwesen zum Autoverkehr erfolgte während eines kurzen Menschenalters. Vor 30 Jahren trugen die Leute Mehl und andere Lebensmittel, sogar junge Schweine, aus dem Tirol herein. Heute ist es möglich, trotz vieler Aufenthalte, an einem einzigen Tage von Genf nach Samnaun zu reisen. (Jenal 1946: 46) Deutsch in Samnaun 233 <?page no="270"?> Aus einer stark landwirtschaftlich geprägten isolierten Gemeinde wurde ein Ort, der vor allem vom Tourismus lebt und dessen Bevölkerung sich bis heute mehr als verdoppelt hat. Vor allem der Tourismus hat über die Jahre zu vielfältigeren Kontakten der Samnauner Bevölkerung geführt: Nachdem diese jahrelang vor allem Kontakt mit den Nachbarinnen und Nachbarn im angrenzenden Österreich gepflegt hat, eröffnete die Strasse neue Möglichkeiten an (sprachlichen) Begegnungen. Mit dem Tourismus kamen nun vor allem Schweizerinnen und Schweizer ins Tal, gefolgt von Personen aus Deutschland als zweitgrösster Gästegruppe. Die Samnaunerinnen und Samnauner gelangten nun viel schneller in die Schweizer Umgebung, die Wege der Jugendlichen führten sie für die schulische bzw. die Berufsbildung zumindest vorübergehend aus der südbairischen Gemeinde heraus. Zusätzlich kamen mit Radio und Fernsehen zwei Massenmedien auf, die ebenfalls zu vermehrtem (rezeptiven) Kontakt mit den Varietäten der restlichen Deutschschweiz - alemannische Dialekte einerseits, (Schweizer) Standarddeutsch andererseits - führten. In den Kriegsjahren wurden zudem «zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht die traditionell engen Kontakte zu Tirol unterbrochen» (Ruch 2019: 74). Dies alles hat dazu geführt, dass sich die Sprachsituation in Samnaun heute zumindest teilweise anders präsentiert als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Beschreibung in der Ortsgrammatik von 1924, die einen Sprachstand erfasst hat, der wohl kaum bis gar nicht durch die vermehrten Kontakte, die sich durch die Strasseneröffnung ergeben haben, beeinflusst war. Aktuelle Sprachdaten aus Samnaun zeigen, dass die autochthonen Samnaunerinnen und Samnauner heute über drei, teilweise auch vier Varietäten des Deutschen verfügen: • südbairischer Ortsdialekt • alemannischer Dialekt (erlernter Zweitdialekt) • Standarddeutsch • Zwischenvarietät auf der Dialekt-Standard-Achse Dabei kommen diese in unterschiedlichen Kommunikationssituationen zum Einsatz: der südbairische Ortsdialekt in der Ingroup-Kommunikation unter autochthonen Bewohnerinnen und Bewohnern Samnauns - und mit den Nachbarinnen und Nachbarn des benachbarten Nord- und Südtirols (allenfalls mit geringfügigen Anpassungen), der alemannische Dialekt im Kontakt mit Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern sowie Rätoromaninnen und Rätoromanen, die alemannisches Schweizerdeutsch sprechen, in Samnaun selbst, aber auch ausserhalb des Tals, Standarddeutsch für die Verständigung mit Gästen aus Deutschland und allochthonen Gästen, die Standarddeutsch sprechen, und die Zwischenvarietät auf der Dialekt-Standard-Achse - sofern vorhanden - mit Personen aus entfernteren bairischsprachigen Gegenden Österreichs (und allenfalls Bayern). Diese wurde von einigen Samnaunerinnen und Samnaunern bei den Erhebungen 2019 und 2023 im Gespräch mit dem standarddeutschsprechenden Explorator aus Österreich eingesetzt. 6.1 Südbairischer Ortsdialekt Nach wie vor stabil zeigt sich der südbairische Ortsdialekt in Samnaun - und dies trotz intensivem und jahrelangem Kontakt mit dem Alemannischen der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern. Diesen verwenden die Samnaunerinnen und Samnauner für die Kommunikation untereinander. Eine Ausnahme bildet die Schule, wo Standard- 234 Susanne Oberholzer <?page no="271"?> deutsch Schulsprache ist. Anders als früher kommen die Lehrpersonen heute in der Tendenz aus der Deutschschweiz (oder manchmal aus Samnaun selbst), und nicht mehr aus Tirol. 6.1.1 Phonologie Das heute in Samnaun gesprochene Samnaunerdeutsche (von den Einheimischen so oder Samnauner Dialekt genannt) zeigt einen südbairischen Vokalismus und unterscheidet sich nach wie vor klar von den alemannischen Dialekten der Deutschschweiz (von den Einheimischen Schweizerdeutsch genannt). Im Vergleich mit dem Schweizerdeutschen fallen die diphthongierten Realisierungen der mittelhochdeutschen (mhd.) Langvokale â, ê, î, ô, û, œ , ǖ / iü auf, für die das Hochalemannische die Monophthonge beibehalten hat (vgl. Tab. 1). Bei mhd. æ zeigt sich der für das Bairische charakteristische Monophthong aa. mhd. Phonem Laut im Samnauner Dialekt 1 Beispiele Laut im Hochalemannischen 2 â ou strouss ‘ Strasse ’ schouf ‘ Schaf ’ moula ‘ malen ’ òò ê ea zeacha ‘ Zehen ’ leararin ‘ Lehrerin ’ gean ‘ gehen (Infinitiv) ’ ee î ai ais ‘ Eis ’ kraida ‘ Kreide ’ wain ‘ Wein ’ ii ô oa groass ‘ gross ’ stroa ‘ Stroh ’ toat ‘ Tod ’ oo / òò û au maura ‘ Mauer ’ trauba ‘ Traube ’ maus ‘ Maus ’ uu æ aa kaas ‘ Käse ’ schaar ‘ Schere ’ èè 1 Für die Vokale im Samnauner Dialekt nutze ich eine orthographische Umschrift in der Art, wie sie die Dieth-Schreibung (vgl. Dieth 1986) für die alemannischen Dialekte der Deutschschweiz darstellt, jedoch mit Ausnahme der für das Bairische üblichen Verschriftung des å-Lautes für eine verdumpfte a- Qualität. Dies ist auch dadurch bedingt, dass sonst der phonologische Gegensatz zwischen der verdumpften und der nicht-verdumpften a-Qualität des bairischen Samnauner Ortsdialektes nicht sichtbar wäre. Vokallänge wird durch Verdopplung des Vokals dargestellt. Wo nötig, setze ich darüber hinaus den Gravis ein, um eine offene obzw. e-Qualität darzustellen. 2 Für die Umschrift der Vokale im Hochalemannischen wurden die Konventionen des Kleinen Sprachatlas der deutschen Schweiz (KSDS, Christen et al. 2010: 216 - 249) genutzt und das Hochalemannische von Chur, der Kantonshauptstadt des Kantons Graubünden, als Bezugsmundart gewählt. Wo die Laute im KSDS fehlen, wurde der SDS (via www.sprachatlas.ch; Stand: 20.03.2024) konsultiert. Deutsch in Samnaun 235 <?page no="272"?> mhd. Phonem Laut im Samnauner Dialekt Beispiele Laut im Hochalemannischen œ ea schean ‘ schön ’ greasser ‘ grösser ’ peasa ‘ bösen ’ öö ǖ , iü ai mais ‘ Mäuse ’ haiser ‘ Häuser ’ fraint ‘ Freund ’ hai(n)t ‘ heute ’ lait ‘ Leute ’ üü Tab. 1: Mhd. Langvokale im Samnauner Ortsdialekt Die Reflexe der mittelhochdeutschen Diphthonge (Tab. 2) sind - mit Ausnahme des Diphthongs ou - ebenfalls die für das Südbairische charakteristischen Diphthonge. Das mhd. ou wird in Samnaun zu / o: / vereinfacht. Samnaun befindet sich - wie auch die nähere Umgebung auf österreichischer Seite - im sogenannten bairisch-alemannischen Übergangsgebiet, wo sich die Dialekte bereits einige Merkmale mit den angrenzenden alemannischen Dialekten teilen. Die Beibehaltung bzw. Vereinfachung des mhd. Diphthongs ou (zu oo) ist eines der Charakteristika des Südbairischen im Übergangsgebiet (anstelle der Entwicklung zu a wie in verkafn ‘ verkaufen ’ , glab ‘ (ich) glaube ’ wie im übrigen südbairischen Raum). Weitere Merkmale sind beispielsweise der Schwund des auslautenden n (in unbetonten Silben) sowie das Diminutivsuffix -le/ -ele anstelle des südbairischen -l. mhd. Phonem Laut im Samnauner Dialekt Beispiele Laut im Hochalemannischen iu ui stuir(-rout), stuira ‘ Steuer(rad), steuern ’ fuir ‘ Feuer ’ üü ei oa Goass ‘ Geiss/ Ziege ’ oans ‘ eins ’ proat ‘ breit ’ ai ou oo inkoofa ‘ einkaufen ’ gloobt ‘ (er) glaubt ’ òu ie ia liabs ‘ liebes ’ ie / ia uo ua guat ‘ gute ’ ua üe ia fiass ‘ Füsse ’ pliamli ‘ Blümelein ’ üe / üa Tab. 2: Mhd. Diphthonge im Samnauner Ortsdialekt Bei den mittelhochdeutschen Kurzvokalen (vgl. Tab. 3) sind die Unterschiede zwischen dem Südbairischen und dem Alemannischen nicht zahlreich; viele Vokale haben dieselben Reflexe in beiden oberdeutschen Varietäten. Charakteristisch ist die durchgehende Verdumpfung von mhd. a zu å, wie sie auch im übrigen bairischen Sprachraum gilt, aber beispielsweise auch im Zürichdeutschen vorkommt. Ein weiterer Unterschied zwischen 236 Susanne Oberholzer <?page no="273"?> Südbairisch und Alemannisch sind die entrundeten Realisierungen von mhd. ü bzw. ö, die aber in Samnaun mit gerundeten Realisierungen konkurrieren. Die gerundete Realisierung von ü kann einem horizontalen Konvergenzprozess geschuldet sein, also durch Standardeinfluss erklärt werden, zumal im angrenzenden Österreich dieselben Tendenzen feststellbar sind. Bei ö muss davon ausgegangen werden, dass dies in Samnaun die ursprünglichere Realisierung von mhd. ö ist und dass e sich als jüngere Variante ausgebreitet hat, bedingt durch den Dialektkontakt mit den angrenzenden Tiroler Dialekten. Die Variante e überwiegt, sodass sich die Frage stellt, ob die ö-Realisierungen konservierte ältere Formen oder ebenfalls das Resultat eines vertikalen Angleichungsprozesses ans Standarddeutsche sind (wie in Tirol). Beim Sekundärumlaut (mhd. ä) besteht in Samnaun Variation zwischen Primärumlautrealisierungen -e und Sekundärumlautrealisierungen -a. mhd. Phonem Laut im Samnauner Dialekt (orthographische Umschrift) Beispiele Laut im Hochalemannischen a å 1 påch ‘ Bach ’ kåppa ‘ Kappe ’ wårm ‘ warm ’ a a vor / ʃ / a ʃ ascha(r) ‘ Asche ’ tascha ‘ Tasche ’ è ë e / è de recht ‘ den rechten ’ gwest ‘ gewesen ’ è ë vor / l/ al galt ‘ Geld ’ malcha ‘ melken ’ è e e / è letscht ‘ letzte ’ e / è i i isch ‘ ist ’ ì o ò no ‘ noch ’ ò u u durch ‘ durch ’ (d)unta ‘ unten ’ hunt ‘ Hund ’ u ä a / è pach(le) / pech(er) ‘ Bäche ’ part / pert ‘ Bärte ’ hals / hels ‘ Hälse ’ è(è) ö e(e) / ö(ö) peck(li) ‘ Böcke ’ derfer ‘ Dörfer ’ kneedle / knöödle ‘ Knödel ’ zepf(le) / zöpf ‘ Zöpf ’ fresch / frösch ‘ Frösche ’ ö(ö) ü i(i) / ü(ü) schlissel ‘ Schlüssel ’ tiir / tüür ‘ Türe ’ miil / müül ‘ Mühle ’ würscht(le) ‘ Würste ’ fünf ‘ fünf ’ ü(ü) Tab. 3: Mhd. Kurzvokale im Samnauner Ortsdialekt Deutsch in Samnaun 237 <?page no="274"?> Die hier präsentierten Daten stammen aus einer Untersuchung (siehe Oberholzer 2020), die diejenigen Merkmale auf phonologischer Ebene fokussiert, in denen sich südbairische und (hoch-)alemannische Varietäten unterscheiden. Aus diesem Grund wurde insbesondere der betonte Vokalismus untersucht und kann hier nur eine Auswahl an konsonantischen Merkmalen dargestellt werden. Der Konsonantismus im südbairischen Ortsdialekt von Samnaun fällt u. a. durch folgende Merkmale auf: Anlautendes mhd. b wird fortisiert (wie im angrenzenden Tirol): pruader ‘ Bruder ’ , paur ‘ Bauer ’ , påch ‘ Bach ’ . Intervokalisch wird b spirantisiert und in Samnaun als Laut nahe an [ß] realisiert: houßa ‘ haben ’ , åßer ‘ aber ’ , geißa ‘ geben ’ ; dasselbe gilt für b nach l bzw. (teilweise) r wie in ålßa ‘ immer ’ und örßa (aber auch örba) ‘ erben ’ . Auch intervokalisch d wird teilweise spirantisiert realisiert (wiðer ‘ wieder ’ , aber auch wider). Anlautendes mhd. / k/ wird teilweise als Affrikate realisiert: kxlea ‘ Klee ’ , kxnedle ‘ Knödel (Pl.) ’ , dasselbe gilt nach / n/ : bènkx ‘ Bänke ’ , nach / l/ hingegen gilt [x] (malcha ‘ melken ’ ). Mhd. s wird im Samnaunerdeutschen auch wortintern palatalisiert vor t wie in geschter ‘ gestern ’ , schweschter ‘ Schwester ’ , ebenso vor p wie in innschprugg ‘ Innsbruck ’ . Auslautendes g ist geschwunden in einigen Substantiva mit dem Suffix -ig wie den Wochentagen, z. B. sunti ‘ Sonntag ’ , maanti ‘ Montag ’ , aber auch in houni ‘ Honig ’ (das aber bereits in Konkurrenz mit hounig steht) oder kxiini ‘ König (auf Spielkarten) ’ (das aber ebenfalls bereits teilweise durch kxöönig ersetzt wird). Folgende aus Übersetzungsaufgaben stammende Sätze mögen einen Eindruck in den südbairischen Samnauner Ortsdialekt geben: (1) S Fuir isch ts wårm gwest, di Kuacha sain dunta gånz schwårz verprennt. ‘ Das Feuer war zu stark, die Kuchen sind ja unten ganz schwarz gebrannt. ’ (Wenkersatz 6) (2) I verstea enk nit, es miassets a pissli lauter reida. ‘ Ich verstehe euch nicht, ihr müsst ein bisschen lauter reden. ’ (Wenkersatz 31) Diese Sätze wurden im Jahr 2019 und 2023 von autochthonen Saumnaunerinnen und Samnaunern in ihren Samnauner Dialekt übersetzt (mündlich übersetzt ausgehend von einem auditiven, in bundesdeutschem Standarddeutsch eingesprochenen Stimulus). 6.1.2 Morphologie und Syntax Im Bereich der Pronominalmorphologie zeigt sich mehrheitlich der Zusammenfall von Akkusativ und Dativ, der sogenannte Akkusativ-Dativ-Synkretismus, wie er für das Südbairische erwartbar ist. Dabei liegt eine gewisse Präferenz für die Dativ-Formen vor, um den Nichtsubjektkasus zu markieren. Ausnahmslos ist der Synkretismus für die Personalpronomen der 1. und 2. Person Singular, wo sowohl in der Funktion direktes Objekt wie auch indirektes Objekt ausschliesslich Dativformen verwendet werden: mir/ mer ‘ mich/ mir ’ und dir/ der ‘ dich/ dir ’ : (3) di peasa gens paissa der toat ‘ die bösen Gänse beissen dich tot ’ (Teil von Wenkersatz 14). Dies gilt auch für die reflexive Verwendung: (4) i fürcht mer ‘ ich fürchte mich ’ . Kein klares Bild zeigt sich hingegen bei den Personalpronomen der 3. Person Singular, wo teilweise Akkusativ-Dativ-Zusammenfall vorliegt: im Maskulinum teils mit Akkusativ- 238 Susanne Oberholzer <?page no="275"?> Form, teils mit Dativ-Form, im Femininum mit Dativ-Form. Teilweise bleibt aber die Unterscheidung von Akkusativ und Dativ erhalten, dazu folgendes Beispiel für das Femininum, wo sowohl iara (Dativ) als auch sii (Akkusativ) vorkommen kann. (5) iara hån i gseicha ‘ sie habe ich gesehen ’ neben sii hån i gseicha. Ebenfalls kennzeichnend für das Bairische ist die Verwendung der Formen es ‘ ihr ’ (Nominativ) sowie enk ‘ euch ’ (Akkusativ und Dativ) beim Personalpronomen der 2. Person Plural: (6) es miassats ‘ ihr müsst ’ (7) i verstea enk nit ‘ ich verstehe euch nicht ’ Das Personalpronomen der 1. Person Plural lautet im Akkusativ und Dativ ins ‘ uns ’ . Bei der Verbalmorphologie verfügt der in Samnaun gesprochene südbairische Ortsdialekt über das folgende Paradigma, das sich durch einen zweiförmigen Plural auszeichnet und die für bairische Dialekte charakteristische Verbalendung der 2. Pers. Pl. auf -ts: houßats ‘ (ihr) habt ’ , saits ‘ (ihr) seid ’ zeigt (vgl. Tab. 4). Die 2. Pers. Sg. endet auf postalveolaren Frikativ -sch (maltisch ‘ meldest ’ , håsch ‘ hast ’ , pisch ‘ bist ’ ). houßa ‘ haben ’ sain ‘ sein ’ 1. P. Sg. i hån i pin 2. P. Sg. du håsch du pisch 3. P. Sg. er håt er isch 1. P. Pl. miir houßa miir sain 2. P. Pl. es houßats es saits 3. P. Pl. sii houßa sii sain Tab. 4: Flexionsparagdigma der Verben sein und haben im Samnauner Ortsdialekt Das ge-Präfix beim Partizip II fällt vor Plosiven weg, in anderen Kontexten kommt es zur e-Synkopierung: procha ‘ gebrochen ’ , pliißa ‘ geblieben ’ , gseicha ‘ gesehen ’ , gwest ‘ gewesen ’ . Folgt auf das synkopierte geein h, erfolgt Fortisierung: khet ‘ gehabt ’ . Durch den erwähnten Schwund von auslautendem -n enden die im Standarddeutschen auf -en auslautenden Verbalformen hier vokalisch, falls der Vokal unbetont ist: gseicha ‘ gesehen ’ , paissa ‘ beissen (3. Pers. Plural) ’ , inkoofa ‘ einkaufen ’ . Bei betontem Vokal bleibt das auslautende -n erhalten: gean ‘ gehen ’ (Infinitiv), sain ‘ sein ’ (Infinitiv) bzw. ‘ sind ’ (1. und 3. Pers. Plural). Der Diminutiv wird im Samnauner Ortsdialekt mittels -li-Suffix, wie im Schweizerdeutschen, gebildet. Diese Form bzw. eine Form auf -ele/ -le ist für Samnaun erwartbar, da dies eines der Merkmale des bairisch-alemannischen Übergangsgebiets ist ( ≠ südbairische Diminutivendung l): pussli ‘ Küsschen ’ , pissli ‘ bisschen ’ , tischli ‘ Tischchen ’ . Ein weiteres, syntaktisches Merkmal ist die Verbverdoppelung beim Verb gean: geamer gan inkoofa ‘ gehen wir einkaufen ’ bzw. i gea … die nouna ga psuacha ‘ ich gehe die Grossmutter besuchen ’ , die auch in den schweizerdeutschen (und Vorarlberger) Dialekten verbreitet ist. Schliesslich werden im Samnauner Ortsdialekt die Relativsatzanschlüsse - wie auch in den Deutschschweizer (und Vorarlberger) Dialekten - mit der Partikel wo gebildet, und zwar in allen drei Kasus (Nominativ, Akkusativ, Dativ), allen Genera und Numeri. Deutsch in Samnaun 239 <?page no="276"?> 6.1.3 Lexik Was die Lexik betrifft, bedauerte bereits 2009 der gebürtige Samnauner Jenal-Ruffner (2009: 125) in seinen «Streiflichtern auf das Alltagsleben vergangener Zeiten» den «Vermischungs- und Verwässerungsprozess der Samnauner Mundart», der zum Verlust von «Mundartausdrücken» führe. Die aktuellen Daten zeigen gewisse Abbautendenzen: Neben den typisch bairischen Formen der Wochentage eerti ‘ Dienstag ’ und finsti ‘ Donnerstag ’ existieren bei jüngeren Personen teils (ausschliesslich) die standardsprachlicheren Formen dienschti und donnerschti (eerti und finsti als Erinnerungsformen, aber nicht mehr produktiv genutzte Lexeme). Das Lexem paisswurm ‘ Schlange ’ wird bei der jüngeren Generation durch standardnahes schlånga ersetzt. Wie weiter oben erwähnt, bedrängt standardnahes kxöönig ursprüngliches kxiini und hounig ursprüngliches houni. Das Lexem gwanter ‘ Kleider ’ wird insbesondere bei den jüngeren Sprecher: innen durch standardnahes klaider verdrängt. Das von Jenal-Ruffner (2009: 250) genannte litscha ‘ Schmetterling ’ wird nicht mehr verwendet, nur schmetterling. muina ‘ Katze ’ und wuchel ‘ Hund ’ , beide gemäss Jenal- Ruffner «kindersprachlich», werden vereinzelt spontan von erwachsenen Personen genannt. Hingegen hält sich das Lexem für ‘ Eichhörnchen ’ oacherli stabil (südbair. oachkatzl), ebenso buss(e)li ‘ Küsschen/ Kuss ’ , eerdepfel ‘ Kartoffeln ’ sowie der Romanismus nouna ‘ Grossmutter ’ . Ebenso erhalten sind die Samnauner Lokaladverbien oucha ‘ hinunter/ herunter ’ , aucha ‘ hinauf/ herauf ’ , inna ‘ hinein/ herein ’ sowie aussa ‘ hinaus/ heraus ’ . Die Zugehörigkeit Samnauns zur Schweiz zeigt sich bei folgenden aus dem Französischen ins Schweizerdeutsche entlehnten Lexemen, die Eingang in den Samnauner Ortsdialekt gefunden haben: glacé ‘ Speiseeis ’ , vello ‘ Velo/ Fahrrad ’ . Der Konsonant in vello ist geminiert, da im Südbairischen keine Kurzvokale in offener Tonsilbe möglich sind. Für die Phonologie des Samnauner Ortsdialektes siehe Oberholzer (zur Publ. angenommen a), für den Aspekt des Kasussynkretismus siehe Oberholzer (zur Publ. angenommen b). Für eine ausführlichere Beschreibung des Projekts zu Samnaun, aus dem die hier präsentierten Daten stammen siehe Oberholzer 2020. 6.2 Alemannisches Schweizerdeutsch als Zweitvarietät All die Kontakte mit Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern in erster Linie in Samnaun selbst, aber auch ausserhalb des Samnauntals haben, wie oben erwähnt, dazu geführt, dass die Samnaunerinnen und Samnauner heute über produktive Kenntnisse des alemannischen Schweizerdeutsch verfügen. Hinweise darauf in der Literatur gab es seit 1985 (Gabriel 1985), Erhebungen in Samnaun in den Jahren 2019 sowie 2023 haben dies bestätigt. Dieses Alemannische erlernen die Samnaunerinnen und Samnauner ungesteuert und sekundär, meist im Kindesalter oder als Jugendliche. Dies geschieht meistens im Tal im Kontakt mit Touristinnen und Touristen, Bekannten der Eltern oder spätestens dann, wenn die Samnauner: innen das Tal aus beruflichen bzw. schulischen Gründen verlassen müssen, in der Berufslehre oder im Militär. Sie verwenden dieses erlernte Schweizerdeutsch im Gespräch mit Personen aus der Deutschschweiz sowie mit Rätoromaninnen und Rätoromanen, die Alemannisch als erlernte Zweitsprache verwenden. Die alemannische Varietät ist keine einheitliche, sondern zeichnet sich durch interindividuelle Variation aus. So bezeichnen die Sprecherinnen und Sprecher selbst ihre eigene aleman- 240 Susanne Oberholzer <?page no="277"?> nische Varietät als Schweizerdeutsch, aber häufig nicht mit einem - sonst in der Deutschschweiz sehr üblichen - Zusatz einer Kantonsmundart wie Bündnerdeutsch, sondern eher als Mischung oder «Kauderwelsch». Bei den neuen Daten zeigt sich beispielsweise Variation zwischen dem - von Eckhardt (2016: 131) als «Markenzeichen des ‘ Bündner Dialekts ’ » bezeichneten aspirierten kh und anderen Realisierungen: (8) khind vs. chind ‘ Kind ’ (9) kxatze vs. khatza vs. chatz ‘ Katze ’ Auch der für das Bündnerdeutsche charakteristische Sprosslaut bei -rn am Wortende wird von einigen Samnauner: innen konsequent realisiert, von anderen im Wechsel mit den Wortformen ohne Sprosslaut, von einigen auch gar nicht: (10) gäära vs. gärn ‘ gern ’ (11) moora vs. moorn ‘ morgen ’ Beim finalen Vokal der Infinitive variieren sie zwischen einem - für das Bündnerdeutsche charakteristischen - a-haltigen Laut und einem näher an Schwa liegenden Laut: (12) gfaara vs. gfaare ‘ gefahren ’ (13) trinka vs. trinke ‘ trinken ’ Aber nicht nur zwischen den Sprecherinnen und Sprechern liegt Variation bei der Realisierung des Schweizerdeutschen vor, sondern sie variieren auch intraindividuell, wie folgende zwei Beispiele (14) und (15) illustrieren, die jeweils von einem Sprecher (Bsp. 14) bzw. einer Sprecherin (Bsp. 15) stammen: (14) xatze ‘ Katze ’ - khind ‘ Kind ’ (15) nit - nöt ‘ nicht ’ Die Erstvarietät der Samnauner: innen hinterlässt Spuren in ihrem alemannischen Dialekt in Form von einigen phonologischen Interferenzen, beispielsweise die Spirantisierung von intervokalisch [b] bzw. [d] wie in laaðe ‘ Laden ’ , aßer ‘ aber ’ ; die Fortisierung von [b] im Anlaut wie in plaui ‘ blaue ’ , palkon ‘ Balkon ’ , pruuche ‘ (ich) brauche ’ ; die Verdumpfung von mhd. a in åßer oder die Diphthongierung von mhd. â in toul ‘ Tal ’ . Auch im Bereich der Lexik treten, wenn auch seltene, Interferenzen auf: alm statt alp (aber mit unverdumpftem a-Laut) sowie dunnerschti anstelle von dunschtig/ donschtig ‘ Donnerstag ’ (aber nicht das Samnauner Lexem finsti). Da sich das Kasussystem zwischen alemannischem Schweizerdeutsch und südbairischem Samnaunerdeutsch unterscheidet, gibt es auch Interferenzen in diesem Bereich, in Form von Akkusativ-Formen für die Funktion indirektes Objekt (Bsp. 16) bzw. Dativ-Formen für die Funktion direktes Objekt (Bsp. 17): (16) mir hent in gern gholfe ‘ wir haben ihm gern geholfen ’ (17) was mer e bitz stöört ‘ was mich ein bisschen stört ’ 6.3 Standarddeutsch und Zwischenvarietät auf der Dialekt-Standard-Achse Die Samnaunerinnen und Samnauner verfügen für die Kommunikation insbesondere mit Personen aus Deutschland über Standarddeutsch: Dieses ist interindividuell vor allem bezüglich Phonologie sehr unterschiedlich und teils auch stark dialektal geprägt. Daneben existiert, wie bereits in Abschnitt 5 erwähnt, eine Zwischenvarietät auf der Dialekt- Standard-Achse (vgl. Fussnote 43). Dies ist für ein bairisches Dialektgebiet erwartbar, Deutsch in Samnaun 241 <?page no="278"?> unterscheidet aber Samnaun in einem weiteren Punkt von der diglossischen Deutschschweiz. Die Zwischenvarietät kommt bei der erwähnten Untersuchung (vgl. Abschnitt 6.1) im Gespräch mit dem österreichisches Standarddeutsch sprechenden Explorator zum Einsatz. In einigen Fällen wird für dieses Setting aber auch Standarddeutsch verwendet ohne klar erkennbare Merkmale einer Zwischenvarietät. Folgendes Beispiel (18) soll illustrieren, wie eine Gewährsperson in der Zwischenvarietät mit dem Standarddeutsch sprechenden Explorator kommuniziert und zwischen dialektaleren Merkmalen und standarddeutschen Merkmalen shiftet. So fehlt beispielsweise der finale Konsonant in i ‘ ich ’ , scho ‘ schon ’ , jetz ‘ jetzt ’ , vo ‘ von ’ , anlautendes pwird fortisiert in pin ‘ bin ’ , prauchmers ‘ brauchen wir es ’ , pissl ‘ bisschen ’ (statt samn. pissli), die Verneinung lautet nit statt nicht und der a-Laut wird teilweise verdumpft (åber ‘ aber ’ , jedoch ohne Frikativ wie im Ortsdialekt). Darüber hinaus werden klar basisdialektale Formen verwendet - oanfach ‘ einfach ’ - , und teils sogar bei denselben Lexemen zwischen dialektaler und standardkonformer Lautung variiert - z. B. gästen - gäschte, i - ich, jetzt - jetz, einfach - oanfach. Gleichzeitig kommen auch rein standarddeutsche Lautungen vor - z. B. auch, allem, macht, jahren, mittlerweile. (18) also i pin jetzt zurzeit oder scho jetz seit X jahren mittlerweile hier in samnaun im X zuständig [ … ]. im winter prauchmers scho. [ … ] weil das isch ein öschterreicher und sonsch alles südtiroler. [ … ] den, den wir jetz da haben, der kommt vo X [ … ]. mit den gästen halt hauptsächlich hochdeutsch, scho auch schweizerdeutsch mal, aber ja, und sonsch halt eben dann, wenns würklech ausländische gäschte sind [ … ]. oder sehr viel italienisch. åber da håb ich dann die südtiroler arbeitskollegin [ … ] jo, wir haben einfach so a pissl vo allem was, [ … ] wås jetz an öschterreicher jo nit macht oder an deutscher jo auch nit macht, i glaub, då simmer oanfach a pissl speziell mit unsrer sprache. ‘ Also ich bin jetzt zurzeit oder schon jetzt seit X [Zahl zwecks Anonymisierung durch X ersetzt] Jahren mittlerweile hier in Samnaun im X [Name zwecks Anonymisierung durch X ersetzt] zuständig [ … ]. Im Winter brauchen wir es schon. [ … ] Weil das ist ein Österreicher und sonst alles Südtiroler. [ … ] Den, den wir jetzt hier haben, der kommt aus X [Name zwecks Anonymisierung durch X ersetzt]. Mit den Gästen halt hauptsächlich Hochdeutsch, schon auch einmal Schweizerdeutsch, aber ja, und sonst halt eben dann, wenn es wirklich ausländische Gäste sind. [ … ] Oder sehr viel Italienisch. Aber da[für] habe ich dann die Südtiroler Arbeitskollegin. Ja, wir haben einfach so ein bisschen von allem etwas, [ … ] was jetzt ein Österreicher ja nicht macht oder ein Deutscher ja auch nicht macht, ich glaube, da sind wir einfach ein bisschen speziell mit unserer Sprache. ’ Für das Vorhandensein einer Zwischenvarietät/ Umgangssprache auf der Dialekt-Standard-Achse gibt es bei den befragten Samnauner: innen aber keinerlei Bewusstsein: Sie gehen davon aus, dass ihnen für ihr Sprachhandeln drei unterschiedliche Sprachformen des Deutschen zur Verfügung stehen: Samnaunerdeutsch, Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. 6.4 Sprachliches Spektrum: Zusammenfassung Die aktuellen Daten aus Samnaun zeigen klar, dass die autochthonen Samnaunerinnen und Samnauner für die Kommunikation untereinander nach wie vor den südbairischen Ortsdialekt verwenden. Ab spätestens dem Erwachsenenalter verfügen sie darüber hinaus für die Kommunikation mit alemannischsprachigen Deutschschweizerinnen und Deutsch- 242 Susanne Oberholzer <?page no="279"?> schweizern (und Rätoromaninnen und Rätoromanen) über eine erlernte alemannische Zweitvarietät. Durch diese klare Zweiteilung (zwischen zwei distinkten Varietäten) findet keine Akkommodation innerhalb des südbairischen Ortsdialektes statt, wenn mit Deutschschweizer: innen kommuniziert wird, weil in dieser Situation kein Südbairisch, sondern Alemannisch - allenfalls mit südbairischen Interferenzen - zum Einsatz kommt. Es hat also trotz jahrzehntelangem Kontakt keine dauerhafte Anpassung ans Alemannische stattgefunden, was einerseits mit geographischen, andererseits aber auch mit attitudinalen Faktoren zusammenhängt: Trotz absoluter Randlage in der Schweiz ist Samnaun nicht eine Sprachinsel, sondern Teil des zusammenhängenden (süd-)bairischen Dialektraums, der die Dialekte auf der anderen Seite der Grenze umfasst. Zu diesem pflegen die Samnauner: innen nach wie vor intensive Beziehungen, auch familiäre Bande bestehen nach Österreich und Südtirol, was die Beibehaltung des Tiroler Dialekts unterstützt. Mit ihren direkten Nachbarinnen und Nachbarn in Nord- und Südtirol muss sich die Samnauner Bevölkerung aufgrund der grossen Ähnlichkeit des eigenen Dialekts nicht oder nur geringfügig sprachlich anpassen. Zu Chur, dem deutschsprachigen Zentrum des Kantons Graubünden, zu dem Samnaun gehört, müssen über die Strasse rund 140 Kilometer zurückgelegt werden. Zudem sprechen die nächsten Schweizer Nachbar: innen nach wie vor Vallader. Diese Faktoren haben eine stärkere sprachliche Annäherung an die Schweiz und eine stärkere kulturelle Orientierung in Richtung Schweiz wohl ebenfalls verhindert. Der sprachliche «Sonderstatus» ist den Samnauner: innen sehr bewusst, stärkt letztlich wohl auch das Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinde und hilft dabei, den südbairischen Dialekt zu bewahren. Das Schweizerdeutsche der Samnaunerinnen und Samnauner weist Interferenzen aus der südbairischen Kontaktvarietät auf, insbesondere im Bereich der Phonologie und der (Pronominal - )Morphologie, ohne jedoch seinen alemannischen Charakter zu verlieren. Es ist für die Samnauner: innen selbstverständliche Varietät im Umgang mit Personen aus der Deutschschweiz. Für die Kommunikation mit Gästen aus Deutschland wird gemäss Aussagen der Samnaunerinnen und Samnauner das Standarddeutsche verwendet, das die Samnauer: innen auch als Schulsprache kennenlernen. Es ist anzunehmen, dass für die Kommunikation mit Personen aus östlicheren österreichischen Bundesländern tendenziell die Zwischenvarietät auf der Dialekt-Standard-Achse zum Einsatz kommt, in der zwischen Basisdialekt und Standardsprache graduell hin- und hergewechselt werden kann. Das Bewusstsein dafür, dass «Deutsch in Samnaun» nicht nur aus Samnaunerdeutsch, Schweizerdeutsch und Standarddeutsch besteht, fehlt jedoch. Die Sprachgeschichte der kleinen Bündner Berggemeinde Samnaun war in den vergangenen rund 200 Jahren eine bewegte, wie gezeigt wurde: von einer ursprünglich rätoromanischen Gemeinde über eine kurze Phase der Zweisprachigkeit hin zur einzigen nicht-alemannischen Gemeinde der Deutschschweiz mit einem bairischen Ortsdialekt, von einem Samnauner in der Befragung scherzhaft «die fünfte Landessprache» genannt. Die geschilderten äusseren Einflüsse und veränderten sozioökonomischen Rahmenbedingungen sorgten schliesslich in den vergangenen 100 Jahren für neue Dynamik und führten zur aktuellen Sprachsituation mit bidialektalen Sprecher: innen. Deutsch in Samnaun 243 <?page no="280"?> Für vertiefte Informationen zu den aktuellen Sprachdaten aus Samnaun und zum dazugehörigen Forschungsprojekt zur Sprachvariation in Samnaun siehe Oberholzer (Oberholzer zur Publ. angenommen a, zur Publ. angenommen b, im Druck, in Vorb.), zum stabilen Ortsdialekt in Samnaun siehe Oberholzer (Oberholzer zur Publ. angenommen a, zur Publ. angenommen b). Literatur Bundesamt für Statistik (2021). Regionalporträts 2021: Gemeinden: Samnaun. Neuchâtel: BFS, ThemaKart. https: / / dam-api.bfs.admin.ch/ hub/ api/ dam/ assets/ 15864446/ master Christen, Helen / Glaser, Elvira / Friedli, Matthias (Hrsg.) (2010). Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz. Frauenfeld: Huber. Dieth, Eugen (1986). Schwyzertütschi Dialäktschrift. 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Gleichzeitig ist die konstitutionelle Erbmonarchie auf parlamentarischer Grundlage eines der reichsten Länder der Welt, wobei sich die Entwicklung vom armen Bauernstaat zum reichen Industrie- und Dienstleitungsstandort seit dem zweiten Weltkrieg in kürzester Zeit vollzogen hat. Eine wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung stellte neben politischer Stabilität und günstigen Steuergesetzen vor allem der Zollanschlussvertrag mit der Schweiz dar - der sich 2023 zum 100. Mal jährte - und die damit einhergehende Übernahme der Schweizer Währung (im Rahmen des sogenannten Währungsvertrags). Die enge Bindung zwischen den beiden Ländern widerspiegelt sich etwa in der scherzhaften Redeweise, Liechtenstein sei der 27. Kanton der Schweiz, oder auch darin, dass es einen eigenen Wikipedia-Artikel für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern gibt (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liechtensteinisch-schweizerische_Beziehungen, Stand: 16.09.2024). Die Nähe zwischen Liechtenstein und der Schweiz erschöpft sich aber keineswegs in diesen vertraglichen Regelungen oder der geografischen Nachbarschaft, die ja auch zu Österreich besteht, sondern ist wesentlich auch durch den Sprachgebrauch (und damit auch kulturell) geprägt: Beide Länder gehören zum alemannischen Dialektgebiet, sodass im Alltag vorwiegend alemannische Dialekte gesprochen (und zunehmend geschrieben) werden, während das gemeinhin als ‘ Hochdeutsch ’ bezeichnete Standarddeutsch der schriftlichen, offiziellen, formelle(re)n und bildungsbezogenen Kommunikation dient; und in beiden Ländern ist die dialektale Vielfalt und die Identifikation mit und über diese gesprochenen Dialekte entsprechend gross. Der Sprachraum Liechtenstein zeichnet sich trotz seiner geringen Fläche durch mindestens drei grössere Dialektregionen aus: die alemannischen Talmundarten, die sich zwischen ‘ Oberland ’ und ‘ Unterland ’ mit der Dialektgrenze in Schaan signifikant unterscheiden, und die Walsermundart im Triesenberg. Während es jedoch in der Schweiz eine reiche und seit Jahrzehnten florierende dialektologische, variations- und soziolinguistische Forschungslandschaft gibt, findet sich zur Sprach- und Dialektsituation in Liechtenstein kaum Forschung neueren Datums. Im Folgenden gebe ich zunächst einen Überblick, der (sprach-)geografische und (sprach-)geschichtliche Aspekte aufgreift und die liechtensteinische Bevölkerungsstruktur inklusive gesprochener Sprachen darstellt. Anschliessend gehe ich auf die Sprachsituation in Liechtenstein ein, wobei zunächst ein Forschungsüberblick erfolgt sowie eine aktuelle Umfrage zum Sprachgebrauch vorgestellt wird. Es folgt die Beschreibung der dialektalen <?page no="283"?> Gliederung sowie des in Liechtenstein gesprochenen Hochdeutschs, wobei auch Ergebnisse der Umfrage hinzugezogen werden. Schliesslich wird ausblickend auf neue(re) Tendenzen eingegangen. 2 Sprachraum Liechtenstein: Geografie, Geschichte, Bevölkerung 2.1 (Sprach-)Geografie und (Sprach-)Geschichte Der 1719 durch den Zusammenschluss der Grafschaften Vaduz (heutiges ‘ Oberland ’ ) und Schellenberg (heutiges ‘ Unterland ’ ) zum Reichsfürstentum Liechtenstein erhobene Kleinstaat liegt zwischen der Schweiz und Österreich; er grenzt dabei im Osten an das österreichische Vorarlberg, im Westen an den schweizerischen Kanton St. Gallen und südlich an Graubünden. Das Gebiet des heutigen Fürstentums gehört im ersten vorchristlichen Jahrtausend zum rätischen Siedlungsraum, wobei sich von Norden her übergreifende keltische Kultureinflüsse beispielsweise in Ortsnamen (Bendern, Nendeln, Mäls) bis heute erhalten haben. Nach der Eroberung durch die Römer breitete sich ab 15 v. Chr. neben den rätischen und keltischen Mundarten auch die lateinische Sprache aus. Diese wurde mit dem Untergang des römischen Reiches und der damit ab dem 3. Jahrhundert einhergehenden Germanisierung zunächst des nördlichen und anschliessend des südlichen Rätiens durch die Alemannen nach einer zweisprachigen Übergangszeit von der deutschen Sprache verdrängt: Genaueres über die Auseinandersetzung der Alemannen mit den ansässigen Romanen ist nicht bekannt, aber sicher ist, dass es Jahrhunderte dauerte, bis die deutsche Sprache über das Rätoromanische die Oberhand gewann und weiter, bis das Rätoromanische im Lande vollständig verschwunden war. (Jutz 1934: 44) Zum dahinterstehenden langwierigen und komplexen Ablöseprozess (genauer dazu ► SprachlicheVorgeschichte) trug eine weitere Entwicklung seit dem Ende des 13. Jahrhunderts bei: Die Einwanderung der Walser, die sich im Zuge ihrer Wanderbewegungen auch in den unterrätischen Raum begeben und dabei auch im liechtensteinischen Triesenberg niedergelassen haben. All das führte letztlich nicht nur zur endgültigen Durchsetzung der deutschen Sprache, sondern damit einhergehend auch zu einer dialektalen Vielfalt im Gebiet des heutigen Fürstentums. 2.2 Bevölkerungsstruktur und Sprachen Liechtenstein hat heute auf seinem Gebiet 39 ’ 724 Einwohner: innen, wobei der Anteil der ständigen Bevölkerung mit anderer Staatsangehörigkeit gemäss den aktuellsten Erhebungen des Amtes für Statistik derzeit 34.4 % beträgt. Der grösste Teil stammt dabei aus den deutschsprachigen Nachbarstaaten, davon 27.9 % aus der Schweiz, 17.2 % aus Österreich und 13.6 % aus Deutschland (siehe Abb. 1). Die Zahl der eingebürgerten Personen ist aufgrund der restriktiven Gesetze in Liechtenstein konstant gering. In den Jahren 2018 bis 2022 wurden 691 Personen eingebürgert, davon 42.2 % aus den deutschsprachigen Ländern Schweiz (17.1 %), Österreich (15.3 %) und Deutschland (9.8 %). Weitere eingebürgerte Personen stammen aus der Türkei (13.2 %), aus dem Kosovo (12 %) und aus Bosnien und Herzegowina (7.1 %); für die restlichen 25.5 % werden keine genaueren Angaben gemacht (Statistikportal Liechtenstein). Überdies ist Doppelbürgerschaft in Liechtenstein nicht erlaubt, es gibt also auch viele Schweizer: innen, die sich bewusst nicht einbürgern Sprachen in Liechtenstein 247 <?page no="284"?> lassen, um so ihren Schweizer Pass behalten zu können. Das erklärt zumindest teilweise die Diskrepanz zwischen den beiden Grafiken in Abb. 1 und 2, deren Daten zudem nicht aus dem gleichen Jahr stammen. Schweiz Schweiz Schweiz Österreich Östterreich Österreich Deutschland Deuttschland Deutschland Italien Ittalien Italien Portugal Porttugal Portugal Türkei Türkkei Türkei Andere Staaten Andere Sttaatten Andere Staaten Abb. 1: Anteil nicht-einheimischer Bevölkerung nach Herkunftsländern per 31.12.2023. Quelle: Statistikportal Liechtenstein Bei den nicht-deutschsprachigen Ländern sind Italien (8.9 %), Portugal (4.9 %) und die Türkei (3.7 %) die häufigsten Herkunftsländer in Liechtenstein lebender Personen mit anderer Staatsangehörigkeit (siehe Abb. 1). Die restlichen 23.8 % umfassen Staatsangehörige anderer Staaten, wobei Kabatek et al. (2022: 159) aufzeigen, dass Spanien und der Kosovo als nächstgrosse Herkunftsländer auf die Türkei folgen. Die Bevölkerungsstruktur widerspiegelt sich grundsätzlich auch in den zu Hause gesprochenen Sprachen, wie Abb. 2 belegt: Mit grossem Abstand angeführt durch den Liechtensteiner Dialekt folgen andere deutschsprachige Dialekte mit 11.9 % und Hochdeutsch mit 7.7 %. Über 92.4 % der Bevölkerung sprechen zu Hause somit zumindest auch (es waren Mehrfachangaben möglich) eine Varietät des Deutschen als Hauptsprache - verstanden vom Amt für Statistik als «die Sprache in der gedacht und die am besten beherrscht wird» (https: / / www.statistikportal.li/ de/ themen/ bevoelkerung/ bevoelkerungsstruktur, Stand: 16.09.2024). Diese Einteilungen sind keineswegs unproblematisch (siehe dazu auch ► Sprachenstatistik), zumal die Kategorie ‘ anderer deutschsprachiger Dialekt ’ sehr unscharf und nicht klar von der Kategorie ‘ Liechtensteiner Dialekt ’ abgegrenzt ist. Für Schweizer: innen beispielsweise, die schon länger in Liechtenstein leben, liegt dann die Auswahloptionen ‘ Liechtensteiner Dialekt ’ vielleicht näher als die unspezifische zweite Dialektkategorie. Italienisch, Portugiesisch und Türkisch werden jeweils nur von etwas mehr als einem Prozent der Bevölkerung zu Hause gesprochen, ebenso Spanisch und Serbisch/ Kroatisch, die in der Grafik zwar nicht eigens erfasst sind, wie es aber in den Rohdaten ersichtlich wird. Andere Sprachen - darunter Russisch, Französisch und Arabisch - nehmen insgesamt einen Anteil von 4.1 % ein, sind aber als Einzelsprachen mit maximal 0.5 % vertreten. 248 Karina Frick <?page no="285"?> Es finden sich entsprechend auch kaum (öffentlich sichtbare) Reflexe nicht-einheimischer Sprachen in offiziellen Kontexten etwa im Hinblick auf die Informationen auf Gemeinde- oder Landesebene (vgl. dazu beispielsweise die Internetauftritte der Gemeinden oder der Landesverwaltung). In der Schule gibt es allerdings - neben Englischunterricht ab der 1. Primarstufe und Französischunterricht ab der 1. Sekundarstufe sowie einem Wahlfachangebot - die Option auf sogenannte Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK). Der Unterricht findet an verschiedenen Schulen zu Randzeiten statt und wird in der Regel durch Vereine oder die Botschaften der Herkunftsländer finanziert. Liechtensteiner Dialekt: 72.6% Liechttenstteiner Dialekktt: : 7722.6% Liechtensteiner Dialekt: 72.6% Anderer Anderer deutschsprachiger deutschsprachiger Dialekt: 11.9% Dialekkt: : 11.9% Anderer deutschsprachiger Dialekt: 11.9% Hochdeutsch: 7.7% Hochdeuttssch: : 77.77% Hochdeutsch: 7.7% Italienisch: 1.3% Italienisch: : 1.3% Italienisch: 1.3% Türkisch: 1.1% Türkkissch: : 1.1%% Türkisch: 1.1% Portugiesisch: 1.2% Porttugiesisch: : 1.22%% Portugiesisch: 1.2% Andere Sprachen: 4.1% Andere Sprachen: : 44.1%% Andere Sprachen: 4.1% Ohne Angabe: 0.1% Ohne Angabe: : 0.1%% Ohne Angabe: 0.1% Abb. 2: Zu Hause und mit Angehörigen gesprochene Sprachen per 31.12.2020. Quelle: Statistikportal Liechtenstein Für die weiteren Ausführungen relevant ist zudem die Beobachtung, dass der Anteil an Personen, die zu Hause Liechtensteiner Dialekt sprechen, seit der letzten Befragung im Jahr 2015 leicht abgenommen hat: damals waren es noch 73.9 % und somit 1.3 % Prozentpunkte mehr Dialektsprecher: innen. Dass diese Abnahme auch der Wahrnehmung in der Bevölkerung entspricht, zeigen die neuen Umfragedaten (siehe Abschnitt 5). Zur Geschichte der Liechtensteiner Mundarten: Jutz 1934; Stricker 1981; Gabriel 1985 - 2017. Zum HSK-Unterricht: Schulamt des Fürstentum Liechtensteins 2018. Zu den statistischen Angaben: Statistikportal Liechtenstein. 3 Dialektlandschaft Liechtenstein 3.1 Forschungsüberblick Der sehr hohe Stellenwert der Mundart(en) in Liechtenstein spiegelt sich - anders als in der Schweiz - nur bedingt in entsprechenden Forschungsaktivitäten wider. Zwar geriet Liechtenstein schon früh in den Blick dialektologischer Forschungen, sodass es zwischen 1926 und 1930 auch in die damals wegweisenden Wenker-Erhebungen für den Marburger deutschen Sprachatlas eingeschlossen wurde. Die 24 Bögen aus Liechtenstein sind in Marburg erhalten. Sprachen in Liechtenstein 249 <?page no="286"?> Davon abgesehen gibt es nur eine überschaubare Anzahl Studien meist älteren Datums, die sich ausschliesslich mit dem Sprachraum Liechtenstein auseinandersetzen. Die meisten davon widmen sich phonologischen, syntaktischen oder morphologischen Gesichtspunkten oder beschäftigen sich mit Fragen der Sprachgeschichte oder Toponomastik. Liechtenstein wird darüber hinaus immer wieder in Studien benachbarter Sprachräume miteinbezogen: Am prominentesten ist das sicherlich im Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluss des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus (VALTS) (Gabriel 1985 - 2017) der Fall; es handelt sich hierbei um das wichtigste und umfassendste dialektologische Werk, das auch das Fürstentums einbezieht. Daraus entstand als populärwissenschaftlich angelegte und für Laien zugängliche Ausgabe ein Kleiner Sprachatlas von Vorarlberg und Liechtenstein (Klausmann 2012). Auch im Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) sowie im Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards (AADG) ist Liechtenstein mitberücksichtigt. Das Liechtensteinische Standarddeutsch wird im Variantenwörterbuch (Ammon 2004; Ammon et al. 2018) sowie in der Variantengrammatik des Standarddeutschen (2018) thematisiert, wobei die Datengrundlage eher schmal ist: In beiden Werken wurde jeweils nur eine Landeszeitung (das ‘ Liechtensteiner Vaterland ’ ) ausgewertet, sodass die Anzahl Belege häufig nur beschränkt aussagekräftig ist (zu einigen Beispielen siehe Abschnitt 4). Weder die Tonaufnahmen Arno Ruoff (1985, 2009) noch die Tonsammlung der liechtensteinischen Ortsmundarten von Roman Banzer (1998 - 2000) wurden meines Wissens wissenschaftlich ausgewertet. Sprachgebrauch und Spracheinstellungen sowie das Verhältnis zum Standarddeutschen spielen in den genannten Studien insgesamt eine marginale Rolle, lediglich die Dissertation von Banzer R. (1998) setzt sich mit der Frage nach dem Gebrauch des Dialekts und des Standards in unterschiedlichen Domänen sowie «sozialen und situativen Rededeterminanten» - im Sinne von aussersprachlichen Einflussfaktoren wie Mobilität - auseinander. 3.2 Aktuelle Umfrage Aufgrund der lückenhaften Forschungslage zur aktuellen Sprachsituation ist für den vorliegenden Beitrag mithilfe der finanziellen Unterstützung der Kulturstiftung Liechtenstein eine Umfrage durchgeführt worden, um etwas über die Sprachgewohnheiten und -einstellungen der Liechtensteiner Bevölkerung in Erfahrung zu bringen. Trotz der ideologischen Schwierigkeiten, die mit Fragen zur Sprache unweigerlich verbunden sind, sind Umfragen mit der gebotenen Vor- und Umsicht nach wie vor nicht nur eine gängige, sondern auch eine ergiebige Methode der Sprach- und insbesondere der Dialektforschung. Die im Rahmen dieses Artikels vorgestellten Ergebnisse sind jedoch nicht als repräsentativ zu verstehen, sondern sollen vielmehr einzelne Schlaglichter auf Wahrnehmungen der bzw. Einstellungen zur Sprach- und Dialektsituation in Liechtenstein werfen. Die Auswahl der Umfrageteilnehmer: innen erfolgte mithilfe einer Zufallsstichprobe (von Personen bis und mit Jahrgang 2006) durch das Amt für Statistik. 1 Die so erhobenen 3000 Personen (rund 7.5 % der Gesamtbevölkerung) wurden postalisch kontaktiert mit der Bitte, einen Online-Fragebogen zur Sprachsituation in Liechtenstein auszufüllen. Nachdem der Rück- 1 Grosser Dank geht an dieser Stelle an Marie-Anne Morand, die mir bei der Erstellung und Auswertung des Fragebogens beratend zur Seite stand. Ich bedanke mich zudem herzlich bei Simon Gstöhl, der sowohl die technische Umsetzung des Fragebogens übernommen als auch die Stichprobe gezogen hat. 250 Karina Frick <?page no="287"?> lauf in der ersten Runde gering war (ca. 10 % aller kontaktierten Personen haben den Fragebogen ausgefüllt), erfolgte nach vier Wochen ein Erinnerungsschreiben, wodurch noch einmal etwa gleich viele Personen an der Befragung teilnahmen. Insgesamt kamen so 659 (teil-)ausgefüllte Fragebogen zusammen, von denen wiederum diejenigen 9 Teilnehmer: innen aussortiert wurden, die mehr als 60 % des Fragebogens unbeantwortet liessen. Für 581 der verbliebenen 650 Teilnehmer liegen sowohl Wohnort als auch Jahrgang vor; die Verteilung ist in Tabelle 1 ersichtlich. 1931 - 1940 1941 - 1950 1951 - 1960 1961 - 1970 1971 - 1980 1981 - 1990 1991 - 2000 2001 - 2006 Balzers 1 6 14 16 18 11 6 4 76 Eschen- Nendeln 3 10 11 15 11 5 4 59 Gamprin- Bendern 2 5 5 8 3 4 27 Mauren- Schaanwald 2 2 8 12 14 5 7 9 59 Planken 1 4 2 1 1 9 Ruggell 4 6 3 9 6 5 3 36 Schaan 3 11 13 19 25 13 11 5 100 Schellenberg 1 1 3 2 4 4 3 18 Triesen 3 8 20 9 11 19 2 72 Triesenberg 1 3 4 12 3 9 4 6 42 Vaduz 2 1 9 20 14 18 11 8 83 9 34 76 125 116 97 76 48 Σ 581 Tab. 1: Verteilung der Teilnehmenden nach Wohnort und Jahrgang In der Teilnehmer: innenzahl widerspiegeln sich auch die Einwohner: innenzahlen der Gemeinden mit Schaan als bevölkerungsreichster (ca. 6000 Einwohner: innen) und Planken (ca. 480 Einwohner: innen) als bevölkerungsärmster Gemeinde des Fürstentums. Die in der Umfrage enthaltenen Fragen betrafen beispielsweise die von den Personen gesprochenen Sprachen (inkl. Kompetenzen, Sprech- und Schreibkontexte, Identifikation), die Einstellungen zu Dialekt und Hochdeutsch, in diesen Varietäten festgestellte Veränderungen sowie - falls es sich um Dialektsprecher: innen handelt - wahrgenommene Unterschiede in den verschiedenen Landesdialekten. Wenn im Folgenden auf quantitative oder qualitative Ergebnisse aus der Umfrage Bezug genommen wird, wird jeweils die Frage aus dem Fragebogen wörtlich oder sinngemäss angegeben. 3.3 Dialektale Gliederung: Unterland, Oberland und Triesenberg Liechtenstein gehört, wie die Deutschschweiz, zum alemannischen Sprachraum, der darüber hinaus auch den Süden Deutschlands, das westliche Österreich (Vorarlberg Sprachen in Liechtenstein 251 <?page no="288"?> und Teile Tirols) und das Elsass umfasst. Liechtenstein ist dabei der einzige Staat, der komplett im alemannischen Dialektraum liegt. Die für das Alemannische in der Deutschschweiz beschriebenen Merkmale, die sich auch in Liechtenstein finden, betreffen etwa Langvokale und Diphthonge aus dem Mittelhochdeutschen (huus für ‘ Haus ’ oder guet für ‘ gut ’ ), den Zusammenfall von Nominativ und Akkusativ, den Anschluss von Relativsätzen mit wo, das fehlende Präteritum und stattdessen die Vergangenheitsbildung durch das Perfekt oder das Doppelperfekt (er hät gässe gha, ‘ er hat gegessen gehabt ’ ), die Reduktion der definiten und indefiniten Artikel, die Verbverdoppelung (sie goht gi schaffa, ‘ sie geht gehen arbeiten ’ ) sowie Besonderheiten in der Wortbildung (z. B. Verbbildungen wie käffela ‘ Kaffee trinken ’ , herbschtela, ‘ Anzeichen von Herbst zeigen ’ ) usw. (siehe ausführlich dazu ► Deutsch). Zu den wichtigsten allgemeinen lautlichen Merkmalen der in Liechtenstein gesprochenen Dialekte (ausgenommen aber z. T. der walserische Dialekt im Triesenberg) zählt zunächst die Senkung von mhd. i, ü und u zu [e], [ø] und [o] - die allerdings auch in der Ostschweiz und in Vorarlberg auftritt - in Wörtern wie Beld ( ‘ Bild ’ ), Fesch ( ‘ Fisch ’ ), Schössla ( ‘ Schüssel ’ ), Schtoba, ( ‘ Stube ’ ). Vor Nasalen hat die Senkung jedoch nicht stattgefunden (z. B. Wintr ‘ Winter ’ oder Rind ‘ Rind ’ usw.). Des Weiteren ist die Vokalspaltung bei mhd. o zu nennen, das sowohl offen (z. B. in Ròss ‘ Ross ’ , Hòsa ‘ Hose ’ ) als auch geschlossen (z. B. in Khnoblet ‘ Knoblauch ’ , Vogel ‘ Vogel ’ ) gesprochen wird. Bezüglich des Konsonantismus wird in Liechtenstein der ch-Laut nach k und l zuweilen zu einem h abgeschwächt, z. B. in mälha ‘ melken ’ . Über diese allgemeinen Merkmale hinaus zeichnet sich Liechtenstein aber trotz seiner geringen Grösse vor allem im Hinblick auf die lautliche Entwicklung durch eine erstaunliche dialektale Vielfalt aus. Diese Vielfalt schlägt sich in drei grösseren Dialektregionen nieder, wobei zunächst zwischen der höchstalemannischen Walsermundart im Bergdorf Triesenberg und den Talmundarten unterschieden werden muss. Erstere hebt sich deutlich von den Talmundarten ab und zeigt im Grunde die gleichen Charakteristika wie die Walserorte in Vorarlberg, der Schweiz und Deutschland. Traditionelle sprachliche Merkmale der im Triesenberg gesprochenen Mundart sind beispielsweise die walserische sch-Aussprache in unmittelbarer Umgebung palataler Vokale (böösch, ‘ böse ’ ; schii, ‘ sie ’ ), die im Vergleich zu den Talmundarten nicht gesenkten mittelhochdeutschen Hochzungenvokale (Milch vs. Melch, ‘ Milch ’ ; Suppa vs. Soppa ‘ Suppe ’ ) oder Besonderheiten in der Adjektivflexion, die vom Verschwinden bedroht sind (siehe Abschnitt 5.1). Darüber hinaus können auch die Talmundarten weiter untergliedert werden, wobei die Mundart- Abb. 3: Dialektale Gliederung in Oberland (dunkelgrau), Unterland (hellgrau) und Triesenberg (weiss), aus Banzer R. 1998: 194 252 Karina Frick <?page no="289"?> grenze in Schaan mit der historisch-politisch bedingten Aufteilung in ‘ Oberland ’ und ‘ Unterland ’ (ehemals Grafschaft Vaduz und Schellenberg, siehe Abschnitt 2.1) zusammenfällt. Einige besonders auffällige Unterschiede sind in Tabelle 2 aufgeführt. mhd. Oberland Unterland ei vor Nasal Monophthong [æ: ], z. B. Schtää ( ‘ Stein ’ ) nasalisierter Monophthong [õ: ], z. B. Schtõõ ( ‘ Stein ’ ) ie vor Nasal Beibehaltung des Diphthongs [ ɪ : ə ], z. B. niena ( ‘ nirgends ’ ) nasalisiertes [ ẽ : ], z. B. n ẽẽ na ( ‘ nirgends ’ ) â und ô vor Nasal Geschlossen [o: ], z. B. in Sooma, Boona ( ‘ Samen ’ , ‘ Bohne ’ ) Offen(er) [ ɔ ̃ : ], z. B. in Sòòma, Bòòna ( ‘ Samen ’ , ‘ Bohne ’ ) uo bzw. üe vor Nasal Beibehaltung des Diphthongs [ ʊ : ə ] bzw. [ ʏ : ə ], z. B. in Bluema, grüe ( ‘ Blumen ’ , ‘ grün ’ ) monophthongiert zu offenem [ ɔ ̃ : ], bzw. [ œ ̃ : ], z. B. in Blòòma, grö ̀ ö ̀ ( ‘ Blumen ’ , ‘ grün ’ ) Dehnung in offener Silbe partiell durchgeführt, z. B. Maga ( ‘ Magen ’ ) konsequent gedehnt, z. B. Maaga ( ‘ Magen ’ ) u und ü vor r + Konsonant Senkung zu [o] bzw. [ø], z. B. Dorscht, Förscht ( ‘ Durst ’ , ‘ Fürst ’ ) Diphthongierung zu [ ʊə ] bzw. [ ʏə ], z. B. Duerscht, Füerscht ( ‘ Durst ’ , ‘ Fürst ’ ) Tab. 2: Auswahl an Ausspracheunterschieden zwischen Oberland und Unterland, mehrheitlich Banzer A. 2011 entnommen Aufgrund seiner geografischen Lage im Norden des Landes hängen dabei die dialektalen Varianten im Unterland sprachlich mit dem vorarlbergerischen Rheintal zusammen. Im Westen hingegen verläuft mit der Landesgrenze auch die wichtige «kchalt/ chalt»-Grenze (nhd. kalt) (Jutz 1934: 54), auch als «Chind/ Kind-Linie» (Gabriel 1981: 60) bezeichnet: Es handelt sich hier um das germanische k im Anlaut, das in Liechtenstein (mit der Ausnahme Triesenberg) zu kh aspiriert wird, während im Schweizerdeutschen (ausser in Teilen Graubündens und im Raum Basel) ein als besonders charakteristisch wahrgenommener Reibelaut gesprochen wird. Aufgrund dieses Merkmals werden die liechtensteinischen Talmundarten dem Niederalemannischen oder Südalemannischen zugeordnet. Innerhalb dieser Dreiteilung der liechtensteinischen Mundartlandschaft werden weitere Differenzierungen vorgenommen. Auch die Teilnehmer: innen der Umfrage gehen in einer knappen Mehrheit (44 %) davon aus, dass Liechtenstein - den politischen Gemeinden entsprechend - insgesamt elf verschiedene Dialekte aufweist, während 41 % sich für die Dreiteilung aussprechen. Von den Personen (12 % der Umfrageteilnehmenden), die eine abweichende Einteilung vorschlagen, sprechen sich einige dafür aus, den Dialekt in der südlichsten Gemeinde Balzers gesondert zu zählen. Das deckt sich auch mit den Befunden der sprachwissenschaftlichen Forschung, die die Nähe des Balzner Dialekts zum Sarganserland und den angrenzenden Zonen der Bündner Herrschaft beschreibt und in diesem Zusammenhang folgende Besonderheiten in der Lautung nennt: Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Laute vor Nasal. Wie wir nach unserer Erhebung durch Beobachtung festgestellt haben, verhalten sich die Balzner in der Realisation von Vokalen vor Nasalen auch noch in anderen Fällen als bei mhd. e vom restlichen Sprachen in Liechtenstein 253 <?page no="290"?> Oberland abweichend. So in [b œ n ə ] statt [b ʏ : n ɪ ] Bühne und [k œ nn ə ] statt [kønn ə ] können. (Banzer R. 1998: 201; weitere Beispiele in Banzer A. 2011) Die Mundart in Balzers wird abgesehen von diesen lautlichen Differenzen aber auch im Hinblick auf das Sprechtempo, den Wortschatz und die Sprachmelodie als auffällig beschrieben. Gesonderte Untersuchungen zur Sprachmelodie stehen aus, weitere Unterschiede auf der lautlichen Ebene sind im VALTS erfasst. Isny Oberstaufen Bregenz Dornbirn Feldkirch Laterns Vaduz Triesenberg Bludenz Brand Schruns Bezau Damüls Hindelang Friedrichshafen Chur Oberstdorf St. Anton am Arlberg Galtür S T . G A L L E N APPENZELL G R A U B Ü N D E N T I R O L V O R A R L B E R G B A Y E R N B A D E N - W Ü R T T E M B E R G LIECHTEN- STEIN S C H W E I Z Ö S T E R R E I C H D E U T S C H L A N D A l l g ä u M o n t a f o n B r e g e n z e r w a l d W a l g a u P r ä t t i g a u K l o s t e r t a l P a z n a u n t a l S t a n z e r t a l L e c h t a l K l e i n e s W a l s e r t a l G r o ß e s W a l s e r t a l Tannberg Arlberg Ill Ill Landquart Rhein Bodensee Lech Alfenz Iller Bregen zer Ac he Trisanna broo a t broit/ brooit brait/ braait brait brääit brääit bròòt bròòt bròòt bräit bräit broo a t brou a t braat braat braat braat braat bräät bräät bräät broo a t broo a t 5 10 km 0 nach VALTS II 84 offener o-Laut: bròòt offener, sehr offener, überoffener ä-Laut: bräät zu braat brääit, bräit broit/ brooit broo a t brait/ braait Die Liechtensteiner Mundarten Die mundartliche Entwicklung des „ei“ in breit Karte 22 Abb. 4: Aussprache von ei in breit in Liechtenstein und angrenzend, aus Klausmann 2012: 56 Trotz der genannten Unterschiede ist das Verstehen der verschiedenen Dialekte in der Regel gewährleistet, wie auch die Teilnehmer: innen der Umfrage in den Freitextantworten (die hier und im Folgenden in Originalschreibweise wiedergegeben werden) festhalten: 254 Karina Frick <?page no="291"?> (1) Trotz der markanten Unterschiede sind die Dialekte (v. a. für Liechtensteiner) gut zu verstehen und es können sich in der Regel alle problemlos verständigen (2) wennt dr obrländer dialekt vrstohsch, vrstohsch dr untrländr anawäg. bem bärger wörds je noch alter vom gegaöbr scho betz schwieregr, abr grundsätzleg gohts doch no guat. (wenn du den Oberländer Dialekt verstehst, verstehst du den Unterländer sowieso. Beim Triesenberger wird es je nach Alter des Gegenübers doch etwas schwieriger, aber grundsätzlich geht es doch noch gut) Es zeigt sich, dass die Unterschiede - und damit potentiell einhergehende Verstehensschwierigkeiten - zwischen den Talmundarten und der triesenbergerischen Walsermundart als markanter wahrgenommen werden als diejenigen zwischen den Talmundarten. Zu den Liechtensteiner Wenker-Erhebungen: Fleischer 2017; Schallert 2012, 2013. Zur Forschung zu den Liechtensteiner Mundarten: Burgmeier 2006, Schallert 2012. Zu den Merkmalen des Alemannischen in der Deutschschweiz: Christen 2019. Zu allgemeinen Merkmalen der Liechtensteiner Mundarten: Klausmann 2007, 2012. Zur Lautung: Jutz 1925, 1934; Gabriel 1966, 1981, 1985 - 2017; Banzer R. 1998; Banzer A. 2011. Zur Syntax: Haraldsen 1979; Burgmeier 2006; Schallert 2012, 2013, 2014. Zum Sprachgebrauch und Spracheinstellungen: Frick 1964; Banzer R. 1998. Zur Morphologie: Schädler 1915; Jutz 1925, 1995; Banzer A. 1997. Zur Liechtensteiner Namenkunde: Stricker et al. 1999. Tonaufnahmen der Liechtensteinerer Mundarten: Ruoff 1985, 2009; Banzer R. 1998 - 2000. Zu Umfragen als Instrument der Sprach- und Dialektforschung: Duchêne und Humbert 2018, Busch 2010. Zum Reibelaut im Schweizer(hoch)deutschen: Hove 2008; Steiner et al. 2023. Die Perzeption von Dialekten durch linguistische Laien behandeln ► Adam-Graf/ Bachmann_Band2. 4 Standardsprache Gemäss Artikel 6 der liechtensteinischen Verfassung von 1921 gilt die deutsche Sprache als (einzige) Staats- und Amtssprache (https: / / www.gesetze.li/ konso/ pdf/ 1921.015, Stand: 16.09.2024). Als Standardsprache - in Liechtenstein ebenso wie in der Schweiz als ‘ Hochdeutsch ’ bezeichnet - findet sie allerdings, analog zur Schweiz, vor allem in schriftlichen Kontexten Anwendung, während sie in ihrer gesprochenen Form in Liechtenstein eine sehr untergeordnete Rolle spielt und tendenziell noch weniger bedeutend ist als in (Teilen) der Schweiz. Frick (1964: 12) beurteilt das in den 60er-Jahren allerdings noch ganz anders, wenn er schreibt: «Der Liechtensteiner von heute hört in Kirche und Schule, durch Radio und Fernsehen fast ausschliesslich schriftdeutsche Worte.» Die Schule, oder genereller das Bildungssystem, ist vermutlich die Domäne, die am stärksten mit dem Hochdeutschen assoziiert ist und auch am meisten Menschen betrifft bzw. wohl der einzige Ort ist, an dem der mündliche Hochdeutschgebrauch überhaupt systematisch vorgesehen ist. Hochdeutsch ist dabei aus integrations- und bildungspolitischen Gründen über entsprechende gesetzliche Regelungen theoretisch bereits im Kindergarten als Unterrichtssprache verankert, auch wenn es praktisch durchaus Ermessensspielraum gibt. Für Kinder mit nicht-deutscher Erstsprache ist das zweite Kindergartenjahr obligatorisch. Ziel dieser Regelungen ist gemäss Liechtensteiner Lehrplan, dass Kinder beim Eintritt in die Volksschule sowohl Erfahrungen im Dialekt als auch im mündlichen Hochdeutschgebrauch mitbringen, an die im Deutschunterricht angenüpft werden kann. Dort wird ein situationsangepasster und sprachlich korrekter Umgang mit den beiden Varietäten gelehrt und ihre Funktionen reflektiert. Interessant ist hierbei auch der Umstand, dass gemäss Lehrplan bei steigender Kompetenzstufe eine «Hochlautung nahe Sprachen in Liechtenstein 255 <?page no="292"?> Standardsprache» angestrebt wird, die - im Vergleich zu tieferen Kompetenzstufen - nur «leicht mundartlich und erstsprachlich gefärbt sein» soll (Schulamt des Fürstentum Liechtenstein 2018: 79). Daneben gehören Kirche, Gerichte sowie das Parlament (der Landtag) auch in der Gegenwart weiterhin zu den Domänen, in denen bevorzugt Standardsprache verwendet wird; allerdings auch dort mit Ausnahmen, z. B. bei der Predigt, je nach Beteiligtenstruktur oder Thema. 2 Alle anderen Domänen - darunter inzwischen auch der jeweils einzige Radio- und Fernsehsender in Liechtenstein, die abgesehen von den Nachrichten die meisten Sendungsformate dialektal gestalten - zeichnen sich durch Mundart-Präferenz aus. Der (mündlich-kommunikative) Alltag zahlreicher Menschen spielt sich also letztlich vorwiegend oder sogar ausschliesslich in Dialekt ab. Dies bestätigen auch die Antworten verschiedener Gewährspersonen in der Umfrage, wenn sie auf die Frage nach dem in Liechtenstein gesprochenen Hochdeutsch folgendes antworten: (3) hier im Land spricht jeder Dialekt unter sich. Hochdeutsch, dann sind es Ausländer, die in Liechtenstein arbeiten und wohnen. (4) Welches gesprochene Hochdeutsch in Liechtenstein untereinander reden wir Dialekt. (5) Gesprochenes Hochdeutsch gibt es für mich nur im Landtag Auch wenn es dazu keine gesonderten Untersuchungen gibt, so ist doch anzunehmen, dass ähnliche Einstellungen gegenüber dem gesprochenen Hochdeutsch bestehen, wie es in der Schweiz der Fall ist. Diese schlagen sich zum Beispiel in der Einschätzung der eigenen Kompetenzen als eher mittelmässig nieder oder äussern sich in einem Unbehagen oder gar einer Abneigung gegenüber dem mündlichen Gebrauch des Hochdeutschen, weil dieses als unpersönlich, steif und unvertraut gilt. Dies zeigen auch die Ergebnisse der Umfrage. In den Antworten auf die Fragen «Wie gefällt Ihnen das in Liechtenstein gesprochene Hochdeutsch? » und «Welche Assoziationen verknüpfen Sie mit dem in Liechtenstein gesprochenen Hochdeutsch? » zeigt sich, dass viele der in der Forschung für das Schweizerhochdeutsche beschriebenen Sprachideologeme - verstanden als Teilüberzeugungen, aus denen sich Sprachideologien zusammensetzen - auch in Liechtenstein gegenüber dem dort gesprochenen Hochdeutsch verankert sind; so zum Beispiel die Idee, es gäbe ein «reines» (in Deutschland gesprochenes) Hochdeutsch (8), das sich in der Aussprache (9), in Rhythmus und Sprechtempo (10) oder auch der Satzstellung (9) manifestiert und das die Liechtensteiner: innen aufgrund ihres dialektal geprägten Kommunikationsalltags (8), in dem Hochdeutsch als Fremdsprache wahrgenommen wird (7), weder gut zu sprechen in der Lage seien noch dies gerne täten (6). (6) Ein sehr trauriges Bild. Wenn Menschen auf Hochdeutsch sprechen oder antworten müssen (im Kindergarten, in der Schule, im Geschäfte..), sind viele Menschen ohne Freude, ohne Lust, wie unter Zwang. (7) Hochdeutsch ist und bleibt eine «Fremdsprache» in unserem Raum. (8) weil in Liechtenstein hauptsächlich Dialekt gesprochen wird, hat man oft Mühe, ein reines Hochdeutsch zu sprechen (9) Teils komische Aussprachen oder falsche Satzstellungen durch den Einfluss unserer Dialekte 2 Gemäss Auskunft einer Landrichterin können Verhandlungen auch in Dialekt stattfinden, sofern alle Beteiligten diesen verstehen und sprechen; das sei allerdings oft nicht der Fall. 256 Karina Frick <?page no="293"?> (10) [ … ] Wenn Liechtensteiner: innen Hochdeutsch sprechen, klingt es oft etwas schwerfällig und merkwürdig betont. Meistens sprechen wir auch zu langsam, das Spritzige vom Hochdeutschen fehlt. Wir verwenden auch Dialektwörter, welche es im Hochdeutschen so nicht gibt. Damit verbunden sind auch stereotype, ebenfalls sprachideologisch geprägte Zuschreibungen (11): Dem Hochdeutsch, das in Liechtenstein gesprochen wird, hört man seine rurale Herkunft an, es verweist auf ländlich lebende Sprecher: innen. Diese Zuschreibungen scheinen sowohl dem Selbstbild zu entsprechen als auch von aussen (12) herangetragen zu werden. (11) Der Liechtensteiner spricht ein Hochdeutsch, wo gleich hörbar ist, dass er aus einer ländlichen Gegend kommt. (12) Deutsche Bekannte sind immer wieder erstaunt, was für uns ‘ Hochdeutsch ’ ist. (13) das in Liechtenstein gesprochene Hochdeutsch ist besser als jenes der Schweizer : -) Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass sich auffällig viele Personen vom Schweizerhochdeutschen abgrenzen (13) und das in Liechtenstein gesprochene Hochdeutsch höher bewerten. Das mag auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sein, eine davon dürfte im Kontrast des ch/ k(h)-Anlautes entlang der oben erwähnten ‘ Chind/ Kind-Linie ’ liegen sowie den verschiedenen Varianten des ch-Lauts im Inlaut, der in Liechtenstein velar, in der Schweiz uvular realisiert wird. In beiden Fällen ist die liechtensteinische Aussprachevariante dem als prestigeträchtiger geltenden deutschländischen Standard näher, während gleichzeitig die schweizerische Reibelaut-Aussprache als besonders auffälliges Merkmal des Schweizerhochdeutschen zu gelten scheint. Von solchen aussprachebedingten Unterschieden und einigen Besonderheiten im Wortschatz (z. B. Ausländer- und Passamt, in Behandlung ziehen, Gratulationsempfang, Gemeindebauführer, Hausgesetz, Landeskanal, Landesphysikus, Kappile usw.) abgesehen, ist der gegenwärtige Überschnei- Abb. 5: Bewertung der Dialekte und des liechtensteinischen Standards nach Gefallen Sprachen in Liechtenstein 257 <?page no="294"?> dungsbereich zwischen der liechtensteinischen und der schweizerischen Standardvarietät (resp. der Einfluss der letzteren auf die erstere) insgesamt sehr gross, was sicherlich auch auf die einleitend dargestellten engen wirtschaftlichen und (bildungs-)politischen nachbarschaftlichen Beziehungen zurückzuführen ist. Das spiegelt sich auch in der Variantengrammatik wider, in der sich nur in Einzelfällen abweichende Tendenzen für die beiden Länder finden lassen (vgl. aber z. B. die Perfektbildung mit sein und haben, bei der sich leichte Verschiebungen zeigen). Die in den freien Textantworten zu beobachtende Tendenz in Richtung negativer Wahrnehmung des gesprochenen Hochdeutsch widerspiegelt sich indes auch in der quantitativen Auswertung der Antworten auf die Frage nach dem Gefallen der unterschiedlichen Dialektregionen (Oberland, Unterland und Triesenberg) einerseits und des Liechtenstein-Hochdeutsch andererseits (siehe Abb. 5). Während sich der Balken bei allen drei Dialektregionen sehr deutlich im Bereich «sehr gut» befindet, ist die Situation beim Hochdeutsch unentschiedener; «sehr gut» jedenfalls gefällt das in Liechtenstein gesprochene Hochdeutsch nur wenigen (rund 7.7 %) an der Umfrage beteiligen Personen. Zum Liechtensteiner Standarddeutsch siehe Ammon 2005; Ammon et al. 2018; Variantengrammatik des Standarddeutschen 2018. Zum Hochdeutsch in den Liechtensteiner Schulen: Wolfinger 2006; Schulamt des Fürstentum Liechtensteins 2018. Zu den Einstellungen zum Schweizerhochdeutschen: Scharloth 2005, 2006; Sieber 2010. Zu Standardsprachideologien: Maitz und Elspaß 2011. 5 Neue(re) Tendenzen 5.1 Ausgleichsbzw. Angleichungstendenzen? Die im öffentlichen Diskurs in der Schweiz immer wieder geäusserten Befürchtungen, die Dialekte könnten, wenn nicht verschwinden, dann sich doch immer stärker aneinander bzw. vor allem an die Stadtdialekte angleichen ( ► Deutsch), finden sich in ähnlicher Form auch in Liechtenstein. So begründet Eugen Gabriel die für den VALTS 1964 in Liechtenstein erhobenen Aufnahmen damit, den «älteren mundartlichen Wortschatzes und Lautstandes, der in unserer Zeit verlorenzugehen droht» dokumentieren zu wollen, vor dem Hintergrund eines von ihm prognostizierten Sprachwandels: Mit einem Wort, die ‘ Welt ’ ist grösser, die Lebensweise nicht nur wenig, sondern grundlegend anders geworden. Diese neue Situation wird auch unweigerlich die Sprache verändern. Wie, das lässt sich heute noch nicht in bestimmten Kategorien zeigen, doch tendiert die Entwicklung zu einer grösseren Vereinheitlichung hin, d. h. weitgehender Verlust der ortsmundartlichen Besonderheiten zugunsten einer allgemein verständlicheren, mehr oder weniger stark mundartlich gefärbten Umgangssprache. (Gabriel 1966: 183) Die hier angesprochenen Entwicklungen betreffen dabei nicht nur den Verlust dialektaler Lexik (insbesondere Begriffe aus der immer stärker zurücktretenden Landwirtschaft), sondern auch eine befürchtete Ausbreitung des Hochdeutschen sowie die Entwicklung hin zu einem Ausgleichsdialekt im Sinne des Verschwindens der dialektalen Kleinräumigkeit (bzw. der oben beschriebenen kleinräumigen Vielfalt) durch lautliche Angleichungsprozesse. Die Studie von Banzer R. (1998) untersucht - jedoch anhand einer relativ kleinen Proband: innenstichprobe - unter anderem «Lautwandel und Lautvariation» in den 258 Karina Frick <?page no="295"?> Liechtensteiner Mundarten. Darin stellt er fest, dass Neuerungen oft aus dem Standard sowie den benachbarten Dialekten stammen, wobei Vokale viel stärker betroffen seien als Konsonanten. Erwähnenswert sind dabei insbesondere die Entwicklungen von mhd. ei, das in allen liechtensteinischen Mundarten besonders von Wandel betroffen sei (siehe auch Abb. 4): «Grund hierfür dürfte sein, dass die aus dem mhd. ei entstandenen Monophthonge primäres Unterscheidungsmerkmal zu den benachbarten Dialekten der Ostschweiz sind» (Banzer R. 1998: 225), wo die Monophthonge im Rückgang begriffen sind (siehe SDS 1962, Band I: 116 - 119) und daher inzwischen mehrheitlich, ebenso wie im Hochdeutschen, eine diphthongische Lautung vorliegt. Entsprechend treten nicht-monophthongische, «mundartfremde Lautungen» (Banzer R. 1998: 225) zunächst vor allem in Neologismen auf und verbreiten sich von dort analogisch auf andere dialektale Wörter. Als Beispiele für diese Entwicklung führt er den Wandel von Läätera zu Leitera ( ‘ Leiter ’ ) oder von Sääl zu Seil ( ‘ Seil ’ ) an. Darüber hinaus stellt er fest, dass es eine deutliche Tendenz zur Anpassung der Unterländer Ortsmundarten an diejenigen im Oberland gibt, während er den umgekehrten Wandelvorgang nicht beobachten kann. Banzer A. (1997) untersucht Lautwandel ausschliesslich in der Walsermundart im Triesenberg. Dabei stellt er bei insgesamt 8 von 16 analysierten Merkmalen Varianz mit unterschiedlich starker Tendenz zur Neuerung fest; das betrifft beispielsweise die Flexion des prädikativen Adjektivs, die sich an die endungslosen Formen im Tal angleicht (bööscha wie in dr Ma ischd bööscha zu dr Ma ischd böösch, ‘ böse ’ ; chränchi wie in d ’ Frau ischd chränchi zu in d ’ Frau ischd chranch, ‘ krank ’ ) oder auch den Umlaut in den Adjektiven (äälti Frau zu aalti Frau, ‘ alte Frau ’ oder rööti hemmer zu rooti hemmer, ‘ rote Hemden ’ ); beides Entwicklungen, die er in den 90er-Jahren bereits als relativ weit fortgeschritten beschreibt und deshalb prognostiziert, dass «in Kürze die Besonderheiten des triesenbergerischen Adjektivs verschwunden sein werden.» (Banzer A. 1997: 45). Die Befürchtung, dass der Dialekt im Triesenberg sich am stärksten anpasst bzw. zu verschwinden droht, äussern auch viele Teilnehmer: innen der Umfrage. Weitere aktuelle Perspektiven auf Sprachwandelerscheinungen aus Sicht der Dialektsprecher: innen zeigen sich in den Antworten auf die Fragen «Haben Sie in den letzten Jahren Veränderungen im in Liechtenstein gesprochenen Hochdeutsch oder im Dialekt festgestellt» (es handelte sich um zwei separate Fragen), die folgendes Bild ergeben: Sprachen in Liechtenstein 259 <?page no="296"?> Abb. 6: Wahrnehmung von Veränderungen im Dialekt und im Hochdeutschen Die Grafik macht deutlich, dass den Dialekten sehr häufig viele oder mindestens vereinzelte Veränderungen zugeschrieben werden, während das Hochdeutsche von einer grossen Mehrheit als stabil wahrgenommen wird. Im weiteren wurden die Teilnehmer: innen gefragt, wie sich ihrer Meinung nach die Dialekte in Liechtenstein in den nächsten 20 Jahren entwickeln werden; dazu gab es vier Antworten zur Auswahl (siehe Abb. 7) sowie die Möglichkeit, die Antwort mittels eines Freitextfelds zu spezifizieren. Abb. 7: Einschätzung der Entwicklung der Dialekte 260 Karina Frick <?page no="297"?> Das Diagramm in Abb. 7 zeigt, dass eine Mehrheit der Umfrageteilnehmer: innen davon ausgeht, dass die Dialekte sich in den nächsten zwei Jahrzehnten aneinander angleichen (bzw. wie einige Personen explizit schreiben, sich noch stärker angleichen). Von einem Verschwinden der Dialekte hingegen gehen die wenigstens aus und fast ein Fünftel der Antwortenden prophezeit, dass die Dialekte sich nicht verändern und so bleiben, wie sie zum Zeitpunkt der Umfrage wahrgenommen werden. Die 9 %, die eine andere Entwicklung voraussagen, spezifizieren diese in ihren Freitextantworten, wobei sie häufig auch einen Wandel in Richtung Angleichung, z. B. an die Schweizer Dialekte (16), eine Vermischung (14) oder Verwässerung prognostizieren (15) oder einen stärkeren Einfluss des Englischen und damit einhergehend den Verlust von einheimischem Lexikon (17) befürchten. (14) Sehr viele Dialektwörter -Ausdrücke sind in den letzten Jahren verschwunden. Meine Kinder (30 und 33 Jahre) sprechen den Dialekt nicht mehr so rein wie wir es von früher her gewohnt sind. Die Vermischung der verschiedenen Dialekte in Liechtenstein ist schon weit fortgeschritten. Für mich ist das einfach schade. (15) Bei vielen Jugendlichen verwischt sich der Dialekt in einen Liechtensteiner Standard-Dialekt. Es tönt zwar fehlerfrei Liechtensteinerisch, kann aber keiner Gemeinde mehr zugeordnet werden. (16) werden nicht verschwinden, allerdings vermute ich, dass sie sich angleichen & evtl. noch Elemente aus anderen Dialekten einbauen, besonders aus Schweizer Dialekten (17) Verändern sich leider sehr, da die Jungen Leute alte Wörter vergessen und durch komische englische Wörter ersetzen. Auch hier finden wir, ähnlich wie bei den Antworten zum gesprochenen Hochdeutsch, viele gängige Ideologeme, die etwa von einer ursprünglichen «Reinheit» von Dialekten (14) ausgehen oder Sprachwandel auf die von Jugendlichen verwendeten Anglizismen (17) zurückführen. Eine weitere, in diesem Zusammenhang auch genannte Wandelerscheinung betrifft die Ausbreitung des geschriebenen Dialekts durch soziale Medien u. Ä., wie es für die Schweiz bereits ausführlich beschrieben wurde. Diesem Phänomen widmet sich das nächste und letzte Kapitel. 5.2 Dialekt und neue Medien Dass sich das Schreiben im Dialekt analog zur Schweiz auch in Liechtenstein ausbreitet (bzw. bereits ausgebreitet hat), ist aufgrund der vergleichbaren Sprachsituation und der engen kulturellen Vernetzung hochgradig erwartbar. Dabei löst sich die sogenannte ‘ mediale Diglossie ’ - also die Vorstellung einer prototypischen Verteilung von gesprochenem Dialekt gegenüber geschriebenem Hochdeutsch - zunehmend auf. Die Teilnehmer: innen der Umfrage wurden daher zu ihren aktuellen dialektalen Schreibgewohnheiten befragt («Wie häufig schreiben Sie die Sprache? ») wobei sich für die unterschiedlichen Kontexte, nach denen gefragt wurde, folgende Tendenzen zeigen: Sprachen in Liechtenstein 261 <?page no="298"?> Abb. 8: Schreiben im Dialekt in unterschiedlichen Kontexten Hierbei ist vor allem auffällig - wenn auch nicht überraschend - , dass in beruflichen und/ oder schulischen Kontexten die Dialektschreibfrequenz deutlich niedriger ist als in familiären oder freundschaftlichen Kontexten. Auch hier lohnt sich ein Blick in die Freitextantworten, von denen wiederum ein paar exemplarische Belege angeführt werden: (18) Der Dialekt wird mittlerweile immer häufiger geschrieben. Das war in meiner Jugend nicht der Fall. (19) Ich unterscheide zwischen Freunden und Familien, ob ich Dialekt oder Deutsch im Schreiben anwende. (20) Dialekt ist etwas was in der Schrift nichts zu suchen hat. (21) Ich stelle fest, dass besonders bei WhatsApp Dialekt geschrieben, aber meist «himmelschreiend» (z. B. haam statt hääm, oder ein Mix von Dialekten, vermischt mit Hochdeutsch (22) Ich schreibe oft in Mundart und da spielt die Rechtschreibung sowiso keine Rolle (23) Bin eigentlich froh, wenn meine Kinder im Dialekt schreiben, dann seh ich die Rechtschreibfehler nicht sehe. Habe aber komischerweise Mühe Dialekt zu lesen. Meine Kinder nutzen mittlerweile den Dialekt auch auf Meldungen wie WhatsApp. Manchmal ist es recht schwierig den Text gleich zu begreifen. Aber es zeigt mir, dass der Dialekt wieder an Zulauf gewinnt, vor allem in bisher ungenutzten Gebieten. Zum einen thematisieren die Kommentare das neue Phänomen des Dialektschreibens als solches (18), das häufig auch direkt kontextualisiert (19) wird, sowohl in Bezug auf das Medium als auch auf die Adressat: innen. Darüber hinaus wird im Sinne der verfestigten Vorstellung einer medialen Diglossie das Schreiben im Dialekt gänzlich abgelehnt (20) oder aber in Bezug auf konkrete Realisierungsmuster kritisiert (21), wobei die Kritik hier unmittelbar an die oben ausgeführten Befürchtungen zum Sprachwandel anknüpft. Auch das im wissenschaftlichen Diskurs häufig angeführte Argument der fehlenden Normierung (22) als (Mit-)Grund für die Beliebtheit dialektalen Schreibens wird in den Antworten genannt. Eine positive Perspektive findet sich in (23): Die Ausbreitung der Dialekte in schriftlichen Kontexten ist neben ihrer offensichtlichen Popularität sowohl ein Zeichen 262 Karina Frick <?page no="299"?> für ihre Persistenz als auch für ihre Dynamik - sie bleiben und sie passen sich kommunikativen Bedürfnissen an. Zum Wandel der Liechtensteiner Dialekte: Frick 1964; Gabriel 1966; Banzer A. 1997; Banzer R. 1998. Zum dialektalen Schreiben in der Schweiz: Aschwanden 2001; Christen 2004; Siebenhaar 2003, 2020; Frick 2017. Zur medialen Diglossie: Kolde 1981; für Liechtenstein beschrieben in Schallert 2012. 6 Zusammenfassung Der Sprachraum Liechtenstein ist in jüngerer Zeit kaum wissenschaftlich beforscht worden, was nicht nur aufgrund der dort vorherrschenden dialektalen Vielfalt ein grosses Versäumnis darstellt. In diesem Sinne schliesst der vorliegende Beitrag eine Lücke, da neben einer aktuellen Aufarbeitung der vorhandenen Arbeiten und der Darstellung der Sprach- und Dialektlandschaft in Liechtenstein auch das bisher kaum in den Blick genommene Verhältnis zur liechtensteinischen Standardsprache beschrieben wird. Mithilfe einer Umfrage konnten zudem einige neue Ergebnisse - die allerdings nur als Tendenzen zu verstehen sind - präsentiert werden; viele der darin beobachteten Einstellungen schliessen an Ergebnisse aus der Forschung zum Schweizer(hoch)deutschen unmittelbar an ( ► Deutsch). So zeigt sich beispielsweise, dass in Liechtenstein ähnliche ambivalente Einstellungen gegenüber dem gesprochenen Hochdeutsch vorzufinden sind wie in der Schweiz: Die Liechtensteiner: innen halten sich für wenig kompetent im Umgang mit der mündlichen Standardsprache und vermeiden ihren Gebrauch wenn immer möglich, sodass bis auf wenige Domänen (Schule, Gerichte, Parlament) die Mundart präferiert und vorherrschend ist. Auch im Hinblick auf Sprach- und Lautwandel wird nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur, sondern auch aus der Perspektive der Dialektsprecher: innen von einer Entwicklung in Richtung Angleichung der Dialekte ausgegangen. Diese wird angesichts der - für die Kleinräumigkeit bemerkenswert - grossen dialektalen Vielfalt, die von den Sprecher: innen sehr positiv bewertet und als identitätsstiftend wahrgenommen wird, mit Bedauern verfolgt. An der in der Dialektologie vorgenommen Gliederung der Dialektlandschaft in die Unterländer und Oberländer Talmundart einerseits und die triesenbergerische Walsermundart andererseits ist zum jetzigen Zeitpunkt dennoch festzuhalten. Bibliographie AADG = Kleiner, Stefan (2011 ff.). Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards (AADG). Unter Mitarbeit von Ralf Knöbl. Abrufbar unter: http: / / prowiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ AADG/ (Stand: 20.03.2024) AdA = Elspaß, Stephan / Möller, Robert (2003 ff.). Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA). Abrufbar unter: https: / / www.atlas-alltagssprache.de (Stand: 20.03.2024) Ammon, Ulrich (2004). Variantenwörterbuch des Deutschen: Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin: de Gruyter. Ammon, Ulrich / Bickel, Hans / Lenz, Alexandra (Hrsg.) (2018). Variantenwörterbuch des Deutschen: die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien Sprachen in Liechtenstein 263 <?page no="300"?> und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: de Gruyter. Aschwanden, Brigitte (2001). «Wär wot chätä? » Zum Sprachverhalten deutschschweizerischer Chatter. Abrufbar unter: https: / / www.mediensprache.net/ networx/ networx-24.pdf (Stand: 20.03.2024) Banzer, Anton (1997). Sprachwandel in Triesenberg. Phonologische und morphologische Veränderungen in der einzigen Walser-Mundart Liechtensteins. Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 94, 1 - 99. Banzer, Anton (2011). Sprache. In: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online, Version vom 31.12.2011. Abrufbar unter: https: / / historisches-lexikon.li/ Sprache (Stand: 08.03.2024) Banzer, Roman (1998). Die Mundart des Fürstentums Liechtenstein. 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Jiddisch ist die im Mittelalter entstandene Sprache der im deutschsprachigen Raum und in benachbarten Gebieten lebenden jüdischen Bevölkerung, die sich im Spätmittelalter nach Ostmitteleuropa und Osteuropa verbreitet hat. Im Gefolge dieser Entwicklung unterscheidet man heute zwischen Westjiddisch, dessen Zentrum Deutschland blieb, und Ostjiddisch, das hauptsächlich in demjenigen Gebiet gesprochen wurde, das dem einstigen Königreich-Grossfürstentum Polen-Litauen entsprach und nach heutigen Massstäben Zentral- und Ostpolen, Litauen, Südlettland, Weissrussland und grosse Teile der Ukraine umfasste (siehe Abb. 1). Von Letzterem her gelangte Ostjiddisch später auch über die Karpaten in das östliche Königreich Ungarn, dessen Gebiete heute mehrheitlich zur Slowakei, zur Ukraine und zu Rumänien gehören. Im frühen 19. Jh. gelangten jiddischsprachige Gruppen auch in das damals zum Osmanischen Reich gehörende Jerusalem, und ab den 1880er-Jahren breitete sich Jiddisch schliesslich nach Übersee aus. Westjiddisch ist ab dem ausgehenden 18. Jh. zugunsten des Deutschen und anderer Landessprachen aufgegeben worden und gilt heute als faktisch ausgestorben. Ostjiddisch hingegen erreichte im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jh. eine Blütezeit. Es wurde damals von gegen zehn Millionen Menschen gesprochen und brachte eine reiche Literatur hervor, die spätestens 1978 mit dem Nobelpreis für Isaac Bashevis Singer internationale Beachtung fand; auch gab es eine professionelle Theaterkultur und ein vielfältiges Pressewesen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Polen, Litauen und der Sowjetunion ein weltliches jiddisches Schulwesen vom Kindergarten bis zum Lehrerseminar sowie Institute für die Pflege und Erforschung der jiddischen Sprache und Literatur sowie der jüdischen Geschichte und Volkskultur gegründet. Das 1925 in Berlin gegründete, dann in Vilnius und heute in New York ansässige Jiddische Wissenschaftliche Institut (YIVO) existiert bis heute. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Anzahl der Sprecherinnen und Sprecher drastisch vermindert. Ursache hierfür ist in erster Linie die Ermordung von Millionen grossmehrheitlich jiddischsprachiger Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. Aber auch die stalinistische Repression in der Sowjetunion und der Antisemitismus im kommunistischen Polen trugen das Ihrige dazu bei. Weitere wesentliche Faktoren waren die zionistisch-hebraistisch motivierte Ablehnung des Jiddischen in Israel und die schon Ende des 19. Jh. einsetzende und im 20. Jh. beschleunigte Assimilation an die Sprache der Mehrheitsbevölkerung, insbesondere an das Russische im Zarenreich beziehungsweise in der Sowjetunion und an das Englische in Nordamerika. <?page no="304"?> Um 2020 wird Ostjiddisch von rund 500 ’ 000 bis 650 ’ 000 Personen ganz überwiegend in den Vereinigten Staaten, Kanada, England, Belgien und Israel gesprochen. Der grösste Teil der Jiddischsprachigen ist heute Mitglied einer der zahlreichen orthodoxen religiösen Gemeinschaften des Judentums (in erster Linie Chassidim, überdies in Jerusalem auch nichtchassidische Gruppierungen). Gering an Zahl, aber umso rühriger im gesellschaftlichen und kulturellen Leben sind überdies säkular orientierte, sich vielfach als «Jiddischisten» verstehende Personen, die ganz bewusst trotz anderssprachiger Umgebung die jiddische Sprache pflegen, sie ihren Kindern weitergeben oder sie selbst als Erwachsene erlernen. In der Schweiz muss Jiddisch aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Westjiddisch hat hierzulande eine im Mittelalter anhebende, verschiedentlich unterbrochene und schliesslich ab dem 17. Jh. zunehmend auf das aargauische Surbtal fokussierte Tradition, bis es im 20. Jh. erloschen ist; ihm ist der zweite Abschnitt gewidmet. Das heute in der Schweiz gesprochene Jiddisch ist hingegen das Ostjiddische, um das es im dritten Abschnitt geht: Seine Präsenz hierzulande setzt im späten 19. Jh. ein, wird seit dem Zweiten Weltkrieg durch Zuzug stetig erneuert und ist auf die Stadt Zürich konzentriert. 1.2 Kurze Übersicht über die Sprachgeschichte und die Dialekte Jiddisch wird gerne als «Komponentensprache», das heisst als eine auf verschiedenen Grundlagen beruhende Sprache dargestellt: Das Grundgerüst von Wortschatz, Lautung und Grammatik geht auf mittel- und oberdeutsche Dialekte des Mittelhochdeutschen zurück, wozu eine grosse Zahl althebräisch- und aramäischstämmiger Wörter, eine sehr kleine Zahl altromanischer Wörter und - mit Ausnahme des südlichen Übergangsjiddisch fast nur das Ostjiddische betreffend - zahlreiche slawische, das heisst polnische, weissrussische und ukrainische Wörter, Satzstrukturen und Lehnprägungen treten. Ab dem 19. Jh. gelangten mit der Moderne auch viele neuhochdeutsche und russische Wörter ins Jiddische, und im 20. Jh. kamen englische (in Nordamerika und England), neuhebräische (in Israel) und je nach Wohnort solche aus anderen Sprachen hinzu. West- und Ostjiddisch haben sich im Laufe der Jahrhunderte stark auseinanderentwickelt. Da die Geschichte des mittelalterlichen Judentums in Deutschland weitgehend im Dunkeln liegt und die jiddische Textüberlieferung nicht vor dem späten 14. Jh. einsetzt, gibt es zur Herausbildung der jiddischen Sprache verschiedene Theorien. Das Westjiddische, wie wir es aus dem Surbtal kennen, erinnert an die rheinfränkischen Mundarten zwischen Frankfurt am Main und Karlsruhe. Das Ostjiddische, wie es uns heute begegnet, gleicht hingegen viel stärker dem Ostmitteldeutschen und zeigt überdies gewisse bairische Züge. Was das Ostjiddische vom Westjiddischen zudem unterscheidet, ist die Beeinflussung des Ersteren durch die slawischen Umgebungssprachen. Im Weitern darf man davon ausgehen, dass die jiddischen Mundarten in Ostmitteleuropa vielfach im Sprachkontakt mit deutschen Siedlerdialekten standen, die im Spätmittelalter in zahlreichen polnischen Städten gesprochen wurden und selbst Ausgleichsmundarten waren. Alles in allem bilden die jiddischen Dialekte eigenständige sprachliche Systeme, die nicht mehr ohne weiteres auf bestimmte deutsche Mundarten beziehungsweise eine «Urheimat» zurückgeführt werden können. Die jiddische Literatursprache fusste vom Spätmittelalter bis in das 18. Jh. auf dem Westjiddischen. Als dessen Sprecher sich mehr und mehr ans Deutsche assimilierten, 268 Christoph Landolt <?page no="305"?> übernahmen ostmitteleuropäische Druckereien die Herausgabe neuer Auflagen der bislang in Deutschland hergestellten Werke, womit eine zunehmende Anpassung an das Ostjiddische einherging: Beibehalten wurden Charakteristika, die zumindest einem Teil der ostjiddischen Dialekte ebenfalls eigneten, ersetzt aber solche, die in keinem ostjiddischen Dialekt vorkamen. Die Schaffung einer modernen, überregionalen und breit rezipierten Literatursprache war dann das Verdienst der ostjiddischen Schriftsteller, angefangen bei den drei «Klassikern» Mendele Mojcher Sforim (eigentlich Scholem- Jankew Abramowitsch, 1836 - 1917), Scholem Alejchem (Scholem Rabinowitsch, 1859 - 1916) und Jizchok Lejb Perez (1852 - 1915). Alle Schriftsteller des 20. Jh. haben an deren Standard nur noch gefeilt, ihn aber nie in Frage gestellt. Die Versuche vonseiten akademischer Institutionen, Sprachplanung zu betreiben, waren hingegen nur sehr eingeschränkt erfolgreich. Am bedeutendsten ist die Verkündung einer Standardorthographie durch das oben erwähnte, damals in Vilnius ansässige YIVO 1937, die freilich wegen gewisser die Tradition nicht berücksichtigender Neuerungen bis heute da und dort auf Widerstand stösst, sowie die Schaffung einer abweichenden, in ihrer phonetischen Schreibung noch radikaleren Standardorthographie in der Sowjetunion 1928, die inzwischen keine Rolle mehr spielt. Was das in diesem Kapitel vorgestellte Jiddisch angeht, ist allerdings zu bemerken, dass das Surbtaler Jiddisch ausserhalb von wissenschaftlichen Texten nur wenig verschriftet worden ist - etwa in Inventaren, Protokollen und Memorbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts - und dass die in chassidischem Jiddisch verfassten Texte sich nicht nach der Orthographie des YIVO, sondern an älteren, im säkularen Ostjiddisch längst veralteten Konventionen richten (siehe Abschnitt 3.3.2.2). Für die Aussprache hat sich im literarischen Jiddisch, anders als in den Bereichen Grammatik und Wortschatz, kein allgemein anerkannter und angewandter Standard durchgesetzt. Das YIVO propagierte zwar eine nordostjiddisch basierte Aussprache, wie sie die Elite im zwischenkriegszeitlichen Vilnius pflegte. Sie hat den Vorteil, weitgehend mit der Schreibung übereinzustimmen, und wird auch für Transkriptionen sowie im Fremdsprachenunterricht verwendet. Parallel dazu gab es auch eine Bühnenaussprache («Theaterjiddisch»), die auf den zentral- und südostjiddischen Dialekten basiert und damit der Sprechweise der grossen Mehrheit der Jiddischsprachigen entgegenkam. Im faktischen Sprachgebrauch der meisten Muttersprachlerinnen und Muttersprachler spielten und spielen beide Standards allerdings eine untergeordnete bis überhaupt keine Rolle. Die Karte in Abbildung 1 (an Katz 1983 und dem LCAAJ orientiert) gibt das historische Sprachgebiet wieder, wie es hinsichtlich des Ostjiddischen bis in den Zweiten Weltkrieg Bestand hatte und hinsichtlich des Westjiddischen um 1900 noch resthaft fassbar war. Jiddisch 269 <?page no="306"?> ÖSTERREICH RUSSLAND SCHWEDEN POLEN BELARUS UKRAINE MOLDAU LETTLAND LITAUEN SLOWAKEI ITALIEN UNGARN RUMÄNIEN SERBIEN BOSNIEN & HERZEGOVINA TSCHECHIEN DEUTSCHLAND SCHWEIZ FRANKREICH DÄNE- KROATIEN SLOWENIEN L. BELGIEN NIEDER- LANDE MARK BULGARIEN Minsk Kiew Chișinău Wien Zürich Genf Vilnius Riga München Luxemburg Lyon Amsterdam Avignon Marseille Genua Triest Zagreb Bologna Arad Nancy Antwerpen Prag Nürnberg Regensburg Flensburg Berlin Leipzig Belgrad Frankfurt Köln Stettin Frankfurt Moskau Smolensk Klaipėda Kaliningrad Danzig Posen Warschau Lemberg Debrecen Budapest Brest Lublin Târgu Mureș Hermannstadt Newel Miskolc Breslau Ostrava Sumy Kursk JIDDISCH JIDDISCH JIDDISCH JIDDISCH Nordostjiddisch Südostjiddisch Zentralostjiddisch nördliches Übergangsjiddisch südliches Übergangsjiddisch WES WEST- OS OST- Abb. 1: Das historische Sprachgebiet des Jiddischen in Europa Die jiddischen Dialekte werden herkömmlich nach dem Lautsystem unterschieden. Darüber hinaus gibt es weitere Unterscheidungskriterien. Die wesentlichsten Unterschiede im Vokalismus sind in Tabelle 1 dargestellt (die Ausgangslage bildet das Mittelhochdeutsche, abgekürzt mhd.): mhd. Vokal Surbtaler Westjiddisch Zentralostjiddisch Südostjiddisch Nordostjiddisch Standardostjiddisch (YIVO) Theaterjiddisch Standarddeutsch a faare fuurn furn forn forn furn fahren ā schloufe schluufn schlufn schlofn schlofn schlufn schlafen ë leebe lejbn lejbn, libn lèbn lèbn lejbn leben ē schnej schnaj schnej schnej schnej schnej Schnee ī zajt zaat zat zajt zajt zajt Zeit ō brout brojt brojt brejt brojt brojt Brot u frum frim frim frum frum frim fromm ū hous hous, hoos hou ṣ , hu ṣ hoj ṣ hoj ṣ hoj ṣ Haus ei flaasch flajsch flejsch flejsch flejsch flejsch Fleisch ou baam boum boum bojm bojm bojm Baum Tab. 1: Hauptzüge jiddischer Grossraumdialekte 270 Christoph Landolt <?page no="307"?> 1.3 Begriffe und Umschrift Die hier verwendeten Begriffe Jiddisch, Westjiddisch und Ostjiddisch sind allgemein eingebürgert, wenn auch hinsichtlich Westjiddisch nicht ganz unumstritten. Die Surbtaler sagten ihrem Idiom nie «Jiddisch», sondern jidischdajtsch, also ‘ jüdischdeutsch ’ . Die osteuropäischen Juden sagten alltagssprachlich mame-loschn ‘ Muttersprache ’ , im Unterschied zu loschn-kojdesch, der ‘ Sprache des Heiligen ’ , das heisst Hebräisch und Aramäisch. Jiddisch ist eine im frühen 20. Jh. erfolgte Eindeutschung von amerikanisch Yiddish und dieses wiederum eine Anglisierung von jiddisch jidisch, was schlicht ‘ jüdisch ’ bedeutet. Im dritten Abschnitt ist von charedischen und chassidischen Juden beziehungsweise von den Charedim und Chassidim die Rede. Charedisch (vielfach charejdisch ausgesprochen) bedeutet ‘ gottesfürchtig ’ , Charedim (Charejdim) die ‘ Gottesfürchtigen ’ . Der Begriff charedisch hat sich in neuerer Zeit im Sinne von ‘ streng orthodox ’ etabliert. Das im Deutschen übliche ultraorthodox wird im Folgenden wegen seines potentiell negativen Beiklangs vermieden. Chassidim sind die Angehörigen einer im Polen des 18. Jh. auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstandenen religiösen Bewegung, die gegenwärtig die grösste Gruppe innerhalb der traditionell (das heisst nicht modern) ausgerichteten Orthodoxie bilden. Im Unterschied zu nichtchassidischen Charedim, die in örtlichen Gemeinden organisiert sind, gehören die Chassidim weltweit bestimmten Gruppierungen an, die sich jeweils um einen geistlichen Lehrer (rebbe), das Oberhaupt dieser Gruppierung, scharen. Geschrieben wird Jiddisch so gut wie ausschliesslich mit hebräischen Buchstaben. In diesem Kapitel gebrauchen wir eine Umschrift, die der Schweizer Dialektologe Eugen Dieth für die Schreibung des Schweizerdeutschen entworfen hat ( ► Deutsch). Sie sollte einerseits für Deutschsprachige und linguistische Laien leicht verständlich sein und gibt anderseits die beschriebenen verschiedenen Dialekte ohne Umweg über eine abstrahierte Standardlautung möglichst direkt wieder. Dabei steht die Doppelschreibung von Vokalen und Konsonanten für deren Länge, und das Gravis bezeichnet eine mittlere Öffnung des Vokals, wenn sie in Opposition zur geschlossenen Realisierung des Vokals stehen kann (vgl. zürichdeutsch lèère ‘ leeren ’ vs. leere ‘ lehren, lernen ’ ). Diese Schreibweise wurde in einigen Publikationen auch von Florence Guggenheim-Grünberg für die Wiedergabe der surbtalerjiddischen Mundart verwendet. Die Doppelschreibung langer Vokale findet sich aber auch in Solomon Birnbaums Umschrift für das Jiddisch aller Sprachstufen und regionen und insbesondere für das Zentralostjiddische, das hinsichtlich der Gegenwartssprache seine Referenz war. Für die Wiedergabe der Diphthonge wird im Folgenden allerdings entgegen Dieth die in der Jiddistik nicht unübliche Schreibweise aj, ej, oj verwendet, die allfällige Verwechslungen zwischen den ersteren beiden ausschliesst. Ferner setzen wir für die im Surbtaler Jiddisch vorkommenden Nasalierungen über den betroffenen Vokal eine Tilde, und das jiddische stimmhafte s bezeichnen wir mit einem untergesetzten Punkt. Die jiddischen Substantive schreiben wir klein; die hebräische Schrift kennt keine Unterscheidung zwischen grossen und kleinen Buchstaben. Eine Einführung in die Geschichte und Kultur des Gesamtjiddischen geben Aptroot und Gruschka 2023. Für einen sprachwissenschaftlichen Überblick siehe Birnbaum 2015 und Schäfer 2023a, für die Sprachgeschichte Birnbaum 1997, Blosen 1986, Kerler 2004 sowie Weinreich 2008, zur Dialektologie Katz 1983, LCAAJ und Schäfer 2023b. Jiddisch 271 <?page no="308"?> 2 Westjiddisch 2.1 Juden in der Schweiz und im Surbtal In verschiedenen Städten der nachmaligen Schweiz gab es schon im Mittelalter jüdische Gemeinden, deren Mitglieder aus der oberrheinischen Tiefebene, aus Frankreich und aus Savoyen stammten. Sie sprachen damit wohl deutsch und romanisch basierte Idiome, sodass wir auch mit der Präsenz des Altjiddischen in der Schweiz rechnen dürfen. Nachweise hierfür gibt es allerdings nicht. Dass der in hebräischer Schrift verfasste Urfehdebrief von 1385 aus Zürich deutsch und nicht jiddisch ist, ergibt sich daraus, dass selbst zentrale jüdische Begriffe deutsch umschrieben statt original hebräisch wiedergegeben sind - so heisst es etwa für «Torah» in ganz christlicher Manier «Herrn Mose Buch». Nach den Pogromen im Gefolge der Pestzüge 1348/ 1349 wurden die Juden mancherorts vertrieben, und 1489 erging von der Tagsatzung (Versammlung der Abgesandten der eidgenössischen Orte) ein Beschluss, dass die jüdische Bevölkerung per 1491 die gesamte damalige Eidgenossenschaft verlassen müsse. Ab dem späten 16. Jh. gibt es wieder Nachweise für kleine jüdische Gruppen in der Nordschweiz, die aus Süddeutschland zugezogen waren. In den Gemeinden Lengnau und Endingen, die damals zur gemeinen Herrschaft «Grafschaft Baden» gehörten und heute im Kanton Aargau liegen, wird erstmals 1622 beziehungsweise 1678 die Präsenz von Juden bezeugt. Während des Dreissigjährigen Krieges (1618 - 1648) verstärkte sich der Zuzug aus den verwüsteten Gebieten am Mittelrhein. In den 1650er-Jahren gestattete die Tagsatzung in mehreren Beschlüssen, dass Juden in der Grafschaft Baden verbleiben durften - in günstiger Nähe zum Zurzacher Markt. Im Rahmen einer Erneuerung des Schutz- und Schirmbriefes 1776 wurde präzisiert, dass sie sich in den beiden Gemeinden Endingen und Lengnau im Surbtal niederlassen mussten, den beiden «Judendörfern» der Schweiz. Weil ihnen die meisten Berufe verboten waren, lebten sie vom ländlichen Kleinhandel und entsprechend in grosser Armut. Aber auch den später wichtig werdenden Pferdehandel kann man schon für das 17. Jh. nachweisen. Die erste Synagoge in Lengnau wurde 1750, diejenige in Endingen 1764 eingeweiht; die heutigen Gebäude stammen von 1848 beziehungsweise 1852. Im Jahre 1634 wurden rund zwanzig jüdische Haushaltungen in der Grafschaft Baden gezählt, 1702 35 Familien, 1774 in Endingen und Lengnau 108 Familien mit 553 Personen und 1809 240 Haushaltungen. Die Helvetische Republik (1798 - 1803), welche das schweizerische Recht zu modernisieren suchte, brachte der jüdischen Bevölkerung nur eine geringfügige Verbesserung ihrer Rechtsstellung. Aber schon diese reichte, dass Christen im Zurzachbiet sie als «Profiteure» betrachteten und im sogenannten Zwetschgenkrieg 1802 die Häuser der Endinger und Lengnauer Juden plünderten. Noch 1862 scheiterte ein aargauisches Emanzipationsgesetz - im gleichen Jahr führte allerdings der benachbarte Kanton Zürich die Niederlassungsfreiheit für Juden ein, sodass umgehend die Israelitische Cultusgemeinde Zürich gegründet werden konnte. 1866 schliesslich gewährte eine Teilrevision der Bundesverfassung der jüdischen Bevölkerung die schweizweite Freizügigkeit. Im Gefolge der neu gewährten Niederlassungsfreiheit setzte ab den 1860er-Jahren eine anhaltende Abwanderung der Surbtaler Juden - insbesondere nach der Stadt Zürich - ein, welche die 272 Christoph Landolt <?page no="309"?> Bevölkerungszahl von Endingen und Lengnau noch während Jahrzehnten schrumpfen liess, siehe Tabelle 2 (Einwohnerzahlen nach Fleischer 2005: 10): Jahr Endingen Lengnau total jüdische Bevölkerung Anteil an Gesamtbev. total jüdische Bevölkerung Anteil an Gesamtbev. 1850 1941 990 51 % 1761 525 30 % 1880 1456 455 31 % 1335 206 15 % 1920 1066 80 8 % 1172 73 6 % 1950 1082 15 1 % 1355 8 0 % Tab. 2: Anteil der jüdischen Bevölkerung in Endingen und Lengnau 1850 - 1950 Zuwachs hat das Schweizer Judentum ab dem 19. Jh. durch Niederlassungen aus dem Ausland erfahren. So sind zahlreiche Elsässer Juden nach Basel gekommen, und in Zürich sind die aus Ostmitteleuropa und Osteuropa stammenden Familien stark vertreten (hierzu Abschnitte 3.1 und 3.2.3). Die heutige jüdische Bevölkerung der Schweiz konzentriert sich auf Basel, Genf und Zürich, wo es jeweils mehrere Gemeinden verschiedener Prägung gibt. Die Gemeinden an anderen Orten sind meist nur klein. Zur Geschichte der Juden in der Schweiz siehe Guggenheim-Grünberg 1976, Knoch-Mund et al. 2007 und Weldler-Steinberg 1966/ 1970. 2.2 Surbtaler Jiddisch Das im aargauischen Endingen und Lengnau früher gesprochene Jiddisch gehörte wie das einstige Jiddisch des Elsasses und Baden-Württembergs zum Südwestjiddischen. Es existierte in zwei Varianten. Die gewöhnliche, im Alltag gesprochene Sprache war das jidischdajtsch ‘ Jüdischdeutsch ’ . Daneben gab es die Sondersprache looschen ekhoudesch ‘ Sprache des Heiligen ’ , eigentlich die Bezeichnung des Hebräischen, aber zugleich auch der Name einer Art jiddischer Geheimsprache der Pferde- und Viehhändler. Der Unterschied lag im Anteil hebräisch-aramäischer Wörter: Während dieser im jidischdajtsch rund 2 Prozent (bei Frauen) bis 8 Prozent (bei Männern) des Wortschatzes ausmachte und zu etwa 70 Prozent aus Substantiven bestand, erreichte er im looschen ekhoudesch über 30 Prozent und bestand lediglich zu rund 55 Prozent aus Substantiven. Um 1900 existierte das Surbtaler Jiddisch noch als Vollmundart, ebenso wie das Elsässer und das südbadische Jiddisch. Westjiddische Vollmundarten gab es zu dieser Zeit sonst nur noch in Ostfriesland und im heute österreichischen Burgenland sowie in Ungarn. In den meisten Gebieten Deutschlands, wo einst Westjiddisch gesprochen worden war, existierte es schon damals nur noch als stark mit Deutsch vermischte Halbmundart oder lediglich noch als eine mit Resten von Jiddisch durchsetzte deutsche Varietät. Ab dem ausgehenden 19. Jh. wurde das Surbtaler Jiddisch nicht mehr an die Kinder weitergegeben. Erstens waren damals die beiden ländlichen jüdischen Gemeinden in Auflösung begriffen, und der neue, städtische Lebensraum führte in sprachlicher Hinsicht zu einer raschen Assimilation. Zweitens war das eigene Idiom auch im Surbtal selbst nicht unumstritten: Der Endinger Rabbiner Leopold Wyler (1805 - 1857), der in Frankfurt am Main mit dem Gedankengut der jüdischen Aufklärung in Kontakt gekommen war, hielt Jiddisch 273 <?page no="310"?> Jiddisch für rückständig und trachtete danach, es durch die Landessprache zu ersetzen. Und drittens forderten im 19. Jh. auch christliche Befürworter der Judenemanzipation im Aargau, dass die Juden ihr «absonderliches Idiom» aufgäben. Die Nachkommen von Surbtaler Juden hatten im 20. Jh. ein unterschiedliches Verhältnis zur Muttersprache ihrer Vorfahren: Während einige dem Idiom der (Gross - )Eltern gegenüber neutral oder positiv eingestellt waren, sprachen andere in durchaus abwertender Absicht vom «Jargon». Am längsten scheint es sich als Berufsjargon der Pferde- und Viehhändler erhalten zu haben, die es in der Gegenwart von Nichtjuden gebrauchten. Für die Tonaufnahmen des Surbtaler Jiddisch, die heute die Grundlage unseres ganzen Wissens bilden (siehe Abschnitt 2.4), standen zum grossen Teil Personen zur Verfügung, die in den 1870er- und 1880er-Jahren geboren wurden und damit das Idiom wohl noch als Erstsprache erlernt hatten. Darüber hinaus gibt es gesprochene und geschriebene Texte von Sekundärsprechern, Personen, die das Surbtaler Jiddisch nicht mehr muttersprachlich erworben, aber von den Eltern, Grosseltern oder anderen älteren Personen gehört haben und daher über so viel Sprachwissen verfügten, dass sie es rekonstruieren konnten. Letzte Reste leben bis heute bei den Nachfahren in Gruss- und anderen Formeln fort, so gut schabes ‘ guten Sabbat ’ , gut woch und gut jaar ‘ Gruss zum Ausgang des Sabbats ’ (wobei die jiddischen Lautungen wuch und jòòr an diejenigen von deutsch Woche und Jahr angepasst sind), gut jontef ‘ guten Feiertag ’ . Doch auch die Nichtjuden im Surbtal verfügten über einen beträchtlichen jiddischen Wortschatz. Noch um 1980 konnte eine Aargauer Zeitung eine ganze Liste meist hebräischstämmiger Wörter publizieren, die im Munde der Surbtaler Christen weiterlebten. Es ist auch überliefert, dass nichtjüdische aargauische Soldaten im Militärdienst «Jiddisch» (oder vielmehr ein jiddisch durchmischtes Schweizerdeutsch) sprachen, wenn sie von den Kameraden nicht verstanden werden wollten. Zum Surbtaler Jiddisch siehe Guggenheim-Grünberg 1950, 1964, 1966, 1969 und 1973 sowie Fleischer 2004, 2005, 2012 und 2020, zum Westjiddischen im Allgemeinen Fleischer 2018. Spezifisch zur Phonologie ist Guggenheim-Grünberg 1958, zu den Ortsnamen Guggenheim-Grünberg 1965, zur Kulturgeschichte Brosi 1990 und zur Sprachgeschichte Guggenheim-Grünberg 1955 und 1977 zu vergleichen. Wörterbücher sind Guggenheim-Grünberg 1983 sowie Bollag und Weibel 1995, vom Sonderwortschatz der Pferdehändler handeln Guggenheim-Grünberg 1954 und 1981. Über die Aufnahmen zum Sprachatlas der deutschen Schweiz schrieben Thommen 1987 und 1994 sowie Weinreich 2009. Zur Lautung des aschkenasischen Hebräisch sowie der hebräischstämmigen Wörter im Jiddischen siehe Katz 1993 und Birnbaum 1997. 2.3 Sprachstruktur des Surbtaler Westjiddisch Abschnitt 2.3 basiert weitestgehend auf der Auswertung der Aufnahmen von Guggenheim-Grünberg sowie den zugehörigen Kommentaren (Guggenheim 1966 und Fleischer 2005). 2.3.1 Phonologie Ein Grund, weshalb sich Westjiddisch im Surbtal so lang erhalten hat, dürfte darin liegen, dass es sich vom Hochalemannisch der Nachbarn recht deutlich unterschied. Während Letzteres beispielsweise die mittelhochdeutschen Langvokale ī , ū und ǖ (Wii, Huus, Züüg) sowie die mittelhochdeutschen Diphthonge ie, ue und üe (lieb, Fuess, müed) erhalten hat, 274 Christoph Landolt <?page no="311"?> finden sich diese im Surbtaler Jiddisch im ersten Fall zu aj, ou, aj diphthongiert (w-j ̃ , hous, zajg) und im zweiten Fall zu langen i, u, i monophthongiert (liib, fuuss, miid). Überdies kennt Surbtaler Jiddisch entgegen dem benachbarten Hochalemannisch, wo mittelhochdeutsch ei und ou zu äi und au geworden sind (Fläisch, Baum), hier die Monophthongierung zu einem langen a (flaasch, baam). Ein weiterer deutlicher Unterschied ist, dass mittelhochdeutsch ö, ü und üe sich im Jiddischen zu e und i entrundet finden (Ressle, iber, miid), im Hochalemannisch aber unverändert geblieben sind (Rössli, über, müed). Diese und weitere Merkmale setzten dem Entstehen einer Mischmundart, wie sie sich in den jüdisch besiedelten Ortschaften Deutschlands herausgebildet hat, höhere Barrieren entgegen. Um die Unterschiede zwischen Surbtalerjiddisch und Surbtalerdeutsch zu demonstrieren, führen wir in Tabelle 3 Beispiele aus dem Lautbereich an; Ausgangspunkt ist das Mittelhochdeutsche (Mhd.). Mhd. Surbtalerdeutsch Surbtalerjiddisch Bedeutung a alt, baade, mache, Nacht alt, baade, mache; vor cht: naacht alt, baden, machen, Nacht ā dòò, emòòl, schlòòffe, nòòch, Jòòr dou, emoul, schloufe; vor ach-Laut und r: nòòch, jòòr da, einmal, schlafen, nah, Jahr ä Chälbli, Händler, Wäägeli khelble, hendler, weegele Kälblein, Händler, Wägelchen ǟ Chèès, Mèèndig, lèèr, wèèr khees, meentig; vor r: lèèr, wèèr Käse, Montag, leer, wäre e Gescht, rette, legge, zelle; vor Nasal: Ändige, Längle gescht, rette, Endinge, Lengle/ Lìngle; gedehnt: lejge, zejle Gäste, retten, Endingen, Lengnau, legen, zählen ë ässe, lääbe, Wääg; vor r: èèr, schtèèrbe esse, leebe, weeg; vor r: èèr, schtèrbe essen, leben, Weg, er, sterben ē Schnee, mee, wenig, Leerer schnej, mej, wejnig; vor r: lèèrer Schnee, mehr, wenig, Lehrer i wider, sind; vor r: Bìre, Wììrt wider, sin; vor r: bèère, wèrt wieder, sind, Birnen, Wirt ī schriibe, Wii, Zit schrajbe, w-j ̃ , zajt schreiben, Wein, Zeit o Bode, bòre, hole, wone bode; vor r: bòre; gedehnt: houle, woune Boden, bohren, holen, wohnen ō Brood, grooss, root brout, grous, rout Brot, gross, rot ö chöne, Rössli, Döörffer, gwöndli khene, ressle; vor r: dèrfer; gedehnt: gewejnlich können, Rösslein, Dörfer, gewöhnlich ȫ böös, Bröödli, schöön, ghööre bejs, brejtle, sch ẽ j ̃ ; vor r: hèère böse, Brötlein, schön, hören u jung, Zucker, Zùùg, chùrz, Wùùrzle jung, zugger, zuug; vor r: khòrz, wòrzel jung, Zucker, Zug, kurz, Wurzel ū fuul, Huus, Muul, Buuch, bruuche foul, hous, moul (auch faul, haus, maul); vor ch: bòòch, bròòche faul/ durchtrieben, Haus, Maul, Bauch, brauchen Jiddisch 275 <?page no="312"?> Mhd. Surbtalerdeutsch Surbtalerjiddisch Bedeutung ü über, Müli, schüttle; vor r: t ǜǜ r, W ǜǜ rscht iber, miil, schittle; vor r: dèrr, Wèrscht über, Mühle, schütteln, dürr, Würste ǖ Lüüchter, Züüg, tütsch lajchder, zajg, dajtsch Leuchter, Zeug, deutsch ei Fläisch, häiss, mäine flaasch, haas, maane Fleisch, heiss, meinen ou au, Baum, lauffe aach, baam, laafe auch, Baum, laufen öu fröie fraje freuen ie lieb, Lied, spiegle liib, liid, spiigle lieb, Lied, spiegeln [i ː ] uo Fuess, Chue, Schuel fuuss, khuu, schuul Fuss, Kuh, Schule/ Synagoge üe Brüedere, Hüener, müed briider, hiiner, miid Brüder, Hühner, müde chs Flachs, Ochs, sächs flaggs, oggs, seggs Flachs, sechs, Ochs [ks] k- Chind, choo, Chriide khind, khume, g(g)rajd Kind, kommen, Kreide ck, k- Zucker, trinke, Schtuck zugger, dringge, schtigg Zucker, trinken, Stück t- Täil, tänke, tood daal, dengge, dout Teil, denken, tot Tab. 3: Surbtalerdeutsch und Surbtalerjiddisch im Direktvergleich Weitere auffällige Unterschiede: • Während das Schweizerdeutsche nur den velaren ch-Laut hat, unterscheidet Surbtalerjiddisch zwischen einem alveopalatalen ch (das fast wie sch tönt) und einem velaren ch. • Betonte, in der Regel lange Vokale sind im Surbtalerjiddisch nasaliert, wenn ihnen ursprünglich ein n folgte (etwa w-j ̃ ‘ Wein ’ ), Surbtalerdeutsch kennt keine Nasalierungen. • Das surbtalerdeutsche r ist ein Zungen-r, das surbtalerjiddische ein Zäpfchen-r. • Surbtalerdeutsch kennt allein stimmloses s, Surbtalerjiddisch unterscheidet zwischen stimmhaft (zum Beispiel in haa ṣ e ‘ Hasen ’ ) und stimmlos (zum Beispiel in singe ‘ singen ’ ). Die hebräisch- und aramäischstämmigen Wörter des Surbtaler Jiddisch unterliegen den gleichen Lautgesetzen wie die deutschstämmigen Wörter. So wurden Vokale vor dem ach- Laut gesenkt (z. B. o, vgl. nedoowe ‘ Spende ’ , aber bròòche ‘ Segen ’ ), und ursprüngliche Langvokale wurden diphthongiert (behejme ‘ Grossvieh ’ , choudesch ‘ Monat ’ ). Die jiddische Alltagssprache kann sich hierbei von der hebräischen Gebetssprache unterscheiden: Findet sich in Ersterer vor ch oder r ein Monophthong (schumlèèchem ‘ eine Begrüssungsformel der Männer ’ , tòòre ‘ Torah ’ ), lauten die gleichen Wörter in der liturgischen Sprache diphthongisch scholaum alejchem und tauro. Zu beachten ist übrigens, dass der hebräischaramäischen Komponente des Jiddischen die aschkenasische Lautung der mittel- und osteuropäischen Juden und nicht die sephardische des Mittelmeerraums (und der modernen Staatssprache Israels sowie der christlichen Theologie) zugrunde liegt. 2.3.2 Wortschatz Im jiddischen Wortschatz fallen die hebräisch- und aramäischstämmigen Wörter am meisten auf, wie die folgende Auswahl aus dem Surbtaler Jiddisch zeigt (weitere Beispiele finden sich im Abschnitt über die Morphologie). 276 Christoph Landolt <?page no="313"?> • Den Bereich Religion, Kultus, Recht und Familie betreffen beispielsweise almen ‘ Witwer ’ , almoone ‘ Witwe ’ , balboos ‘ Hausherr ’ , balbooste ‘ Hausherrin ’ , bròòche ‘ Segen ’ , chasene ‘ Hochzeit ’ , choosen ‘ Bräutigam ’ , emuune ‘ Glaube ’ , jontef, juntef ‘ Feiertag ’ , khaal ‘ jüdische Gemeinde ’ , khale ‘ Braut ’ , khejferoofes ‘ Friedhof ’ (wörtlich ‘ Grab der Väter ’ ), lefaje ‘ Beerdigung ’ , mazejwe ‘ Grabstein ’ , minig ‘ Brauch ’ , mischpòòche ‘ Familie ’ , mischpet ‘ Prozess ’ , nedoowe ‘ Gabe, Spende ’ , nefèère ‘ Sünde ’ , pasgene ‘ in religiösen Dingen entscheiden ’ , pfile ‘ Gebetsbuch ’ , rachmoones ‘ Barmherzigkeit, Mitleid ’ , schabes ‘ Samstag, Sabbat ’ , schadchen ‘ Ehevermittler ’ , schechte ‘ rituell schlachten ’ , schiddich ‘ vermittelte Ehe ’ , zdoogge ‘ Almosen ’ . Hierzu gehören auch Begriffe, die mit dem jüdischen Mondkalender verbunden sind: choudesch ‘ Monat ’ , lefoone ‘ Mond ’ , roschchoudesch ‘ Neumond ’ . • Auch Abstrakta sind vielfach hebräischstämmig, etwa chochme ‘ Weisheit ’ , dales ‘ Armut ’ , emes ‘ Wahrheit, wahrhaftig ’ , gewuure ‘ Kraft ’ , gòòrel ‘ Schicksal, Los ’ , hanooe ‘ Vergnügen ’ , khaas ‘ Wut ’ , khoofed ‘ Ehre ’ , ma ṣ el ‘ Glück ’ , mòòre ‘ Angst ’ , naaches ‘ Zufriedenheit ’ , rouges ‘ Zorn, Ärger ’ , khòòch ‘ Kraft ’ , schoolem, schuulem ‘ Friede ’ , sèèchel ‘ Verstand ’ , sgoone ‘ Gefahr ’ , simche ‘ Freude ’ , sof ‘ Ende ’ , taam ‘ Geschmack ’ , zòòres ‘ Sorgen ’ . • Der Berufswortschatz enthält ebenfalls viele hebräischstämmige Lexeme: behejme ‘ Grossvieh, Rind ’ , injen ‘ Handel ’ , khoune ‘ Käufer ’ , melòòche ‘ Arbeit ’ , sòòcher ‘ Händler, Kaufmann ’ , zchòòre ‘ Ware, Stoff ’ . In der Geheimsprache der Pferdehändler konnten alle bedeutungstragenden Wörter hebräischstämmig sein: di susem hen ooser nid abmegajnt - di tofi schugged harbe, un di glaufim sin ooser z verkhinjene ‘ Die Pferde haben wirklich nicht abgeschlagen. Die guten kosten viel, und die Gäule sind wirklich nicht zu verkaufen ’ . • Aber auch Wörter aus dem unspezifischen Wortschatz können hebräischstämmig sein, so chafer ‘ Genosse, Freund ’ , choolem ‘ Traum ’ , chooleme ‘ träumen ’ , diire ‘ Wohnung ’ , ganef ‘ Dieb, Schelm ’ , mòòchel s-j ̃ ‘ verzeihen ’ , oulem ‘ Welt, Öffentlichkeit ’ , pfue ‘ Getreide ’ , poonem, puunem ‘ Gesicht ’ , matoone ‘ Geschenk, Schmuck ’ , milchoome ‘ Krieg ’ , schee ‘ Stunde ’ , schigger ‘ betrunken ’ , schoute ‘ Dummkopf, Narr ’ , schtuss ‘ Dummheit ’ , sod ‘ Geheimnis ’ , soone ‘ Feind ’ . • «Christliche» Wörter werden in die jüdische Kultur eingepasst, so wurde bei tamestrajbelich ‘ Johannisbeeren ’ der namengebende Johannes der Täufer durch den Monatsnamen Tammus ‘ Juni/ Juli ’ ersetzt. Auch die deutschstämmige Lexik des Surbtaler Jiddisch kennt Wörter, die dem Alemannischen des Surbtals und überhaupt der Deutschschweiz unbekannt sind oder dort anders gebraucht werden. Dies gilt besonders für die Verwandtschaftswörter ette ‘ Vater ’ , memme ‘ Mutter ’ und hèèdle oder hèrrle ‘ Grossvater väterlicherseits ’ (wörtlich «Herrlein»); unbekannt ist die Herkunft von baa ‘ Grossmutter, alte Frau ’ . Ein gascht ist im Surbtaler Jiddisch ein ‘ armer Durchreisender ’ , ein ‘ Habenichts ’ , eine geschtin eine ‘ bedürftige Frau ’ - natürlich das gleiche Wort wie alemannisch Gascht ‘ Gast ’ , aber noch näher an der ursprünglichen Bedeutung ‘ Fremdling ’ . Eine ältere Bedeutung hat sich auch in mer sin frajnd bewahrt, was ‘ wir sind verwandt ’ bedeutet. Andere surbtalerjiddische Wörter dünken uns aus alemannischer Perspektive sehr deutschländisch, beispielsweise hòrche ‘ zuhören ’ statt schweizerdeutsch lose. Surbtalerjiddisch geniit «erfahren, geübt» war noch im Schweizerdeutsch des 15. und 16. Jh. als geniet bekannt. Surbtalerjiddisch goller ist ein Hahn - im älteren Schweizerdeutsch ist der Goll, Gool oder Gööl ein Possentreiber oder Jiddisch 277 <?page no="314"?> Narr und der Goller ein Rotkehlchen. Minich ist eine Speise, die weder Milch noch Fleisch enthält und damit nach den jüdischen Speisegesetzen zu beidem gegessen werden kann - dahinter steckt Münch oder Mönch, der als ewig Enthaltsamer eben auch «neutral» ist. Eine Besonderheit des Westwie des Ostjiddischen sind alte romanischstämmige Wörter. Das Surbtaler Jiddisch kennt etwa bensche ‘ segnen ’ (vgl. lat. benedicere), bilzel ‘ Mägdlein, Magd ’ (vgl. lat. *pullicella), braje ‘ bitten, einladen ’ (vgl. lat. prec ā ri), frimselich ‘ Fadennudeln ’ (vgl. lat. vermiculus ‘ Würmchen ’ ), lajene ‘ lesen, insbesondere aus der Torah vorlesen ’ (vgl. lat. legere), nittelnacht ‘ Heiligabend, Weihnacht ’ (vgl. lat. n ā t ā lis), òòre ‘ beten ’ (vgl. lat. ō r ā re), planchene ‘ weinen, plärren ’ (vgl. lat. plangere), sargenes ‘ Totenkleidung ’ (vgl. mittellat. sarg[i]a, sar[i]ca ‘ feines Wolltuch ’ ) und schaalet ‘ am Vortag angekochte Speise, die über Nacht weiterköchelt und so am Sabbat warm gegessen werden kann ’ (vgl. altfranzösisch chalant ‘ wärmend ’ ). Auch eine Reihe Frauennamen, die noch im 19. Jh. im Surbtal gebräuchlich waren, gehen aufs Romanische zurück, etwa Bejle (Bella), Dolze (Dolce) und Schprinz (Esperanzia). Die Surbtaler Juden bezogen auch die nähere und weitere geographische Umgebung in ihre Sprache ein; einige Beispiele mögen dies illustrieren. Endingen: surbtalerjiddisch (sjidd.) Endinge, schweizerdeutsch (schwz.) Ändige; Lengnau: sjidd. Lengle, Lingle, schwz. Längnau; Tegerfelden: sjidd. Deegerfelde, schwz. Tägerfäld; Döttingen: sjidd. Dettinge, schwz. Töttige; Kaiserstuhl: sjidd. Khaa ṣ erstuul, schwz. Chäiserstuel; Zurzach: sjidd. Zòrzich, schwz. Zùùrzi; Würenlingen: sjidd. Wèrlinge, schwz. Wür(e)linge; Würenlos: sjidd. Wèrelous, schwz. Würeloos; Lenzburg: sjidd. Lenzborig, Linzborig, schwz. Länzbrg; Zürich: sjidd. Zèrich, schwz. Züri. 2.3.3 Morphologie und Morphosyntax Eine zusammenfassende Darstellung der Grammatik des Surbtaler Jiddisch gibt es bislang nicht. Die folgenden Bemerkungen basieren auf einer Auswertung von Florence Guggenheim-Grünbergs Aufnahmen sowie den beiden Wörterbüchern (siehe Abschnitt 2.4). 2.3.3.1 Deklination Die Pluralbildung der deutschstämmigen Substantive stimmt typologisch weitgehend mit derjenigen der benachbarten deutschen Mundarten überein: • daag ‘ Tag ’ - deeg ‘ Tage ’ , zajt ‘ Zeit ’ - zajte ‘ Zeiten ’ , khuu ‘ Kuh ’ - khii ‘ Kühe ’ , glaas ‘ Glas ’ - gleeser ‘ Gläser ’ . • Daneben treten Plurale hebräischen Ursprungs auf (vgl. unten). Nicht ungewöhnlich ist die Endung - (e)s: jung ‘ Jüngling, Sohn ’ - junges ‘ Jünglinge, Söhne ’ , lifedaaler ‘ Fünfliber, Fünffrankenstück ’ - lifedaaler(s) ‘ Fünfliber (Pl.) ’ , dine ‘ Wähe, flacher Kuchen ’ - dines ‘ Wähen ’ , khuuche ‘ Kuchen ’ - khuuches ‘ Kuchen (Pl.) ’ , mère ‘ Stute, Mähre ’ - mères ‘ Stuten ’ . Selten hingegen ist die Endung -em, beispielsweise naar ‘ Narr ’ - neroonem ‘ Narren ’ . • Der Plural des Diminutivs geht auf ch aus, wogegen im Schweizerdeutschen des Mittellands wie im Standarddeutschen dessen Plural mit dem Singular identisch ist: Singular bòòcherle ‘ kleiner Junge, Schüler ’ , brejtle ‘ Brötchen ’ , gutele ‘ Guetsli, Keks ’ , jingle ‘ Junge, Knabe ’ , khelble ‘ Kälblein ’ , maadle ‘ Mädchen ’ , aber Plural bòòcherlich, brejtlich, gutelich, jinglich, khelblich, maadlich. 278 Christoph Landolt <?page no="315"?> Surbtalerjiddische Substantive, die aus dem Hebräischen und Aramäischen stammen, behalten in der Regel die Pluralbildung der Gebersprache bei. • Besonders Maskulina gehen im Plural häufig auf -em aus, was der hebräischen Endung -im entspricht. Infolge des mit der Pluralisierung verbundenen Übergangs von der Betonung der ersten Silbe auf die (ursprüngliche) Mittelsilbe tritt dabei oft auch Vokalwechsel auf: cha ṣ er ‘ Schwein ’ - cha ṣ èèrem ‘ Schweine ’ , ganef ‘ Dieb ’ - ganoufem ‘ Diebe ’ , schejgez ‘ nichtjüdischer Knabe ’ - schgouzem ‘ nichtjüdische Knaben ’ , schochen ‘ Nachbar ’ - schchejnem ‘ Nachbarn ’ ; ein feminines Beispiel ist kejle ‘ Gerät, Gefäss ’ - kejlem ‘ Geräte, Gefässe ’ . • Die Pluralendung - (e)s, die dem aschkenasisch-hebräischen Morphem -aus (Iwrit: ot) entspricht, kommt bei Maskulina ebenfalls vor, etwa chof ‘ Schuld ’ - choufes ‘ Schulden ’ , kool ‘ Stimme ’ - koules ‘ Stimmen ’ , choolem ‘ Traum ’ - chaloumes ‘ Träume ’ . Typisch ist sie aber insbesondere für die zahlreichen Feminina auf auslautendes Schwa wie behejme ‘ Rind ’ - behejmes ‘ Rinder ’ , mediine ‘ Gegend ’ - mediines ‘ Gegenden ’ , mizfe ‘ Gebot, gute Tat, Aufruf zur Torahlesung ’ - mizfes ‘ Gebote, gute Taten ’ . • Vereinzelt werden hebräischstämmige Wörter auch nach deutschen Regeln dekliniert; so kann der Plural von jontef ‘ Feiertag ’ sowohl mit hebräischem Morphem als jomtoufem als auch mit deutschstämmigem Morphem als jontefer gebildet werden. Es gibt auch Beispiele mit hebräischstämmig-deutschstämmiger Doppelendung: Neben dem Plural jeloodem ‘ Kinder ’ (Singular jeeled) gibt es auch die um deutschbasiertes er ergänzte Variante jeloodemer; vielleicht hat hier das synonyme khinder hereingespielt. Im Wort schee ‘ Stunde ’ liegt eine ursprüngliche pluralische Umlautung von o zu e vor, die in den Singular eingedrungen ist, vergleiche den ostjiddischen Singular scho. Das Adjektiv, der Artikel und das Pronomen haben im Surbtaler Jiddisch keine besondere Form im Dativ Plural, dieser stimmt mit dem Nominativ Plural überein: surbtalerjiddisch ous di alti zajte gegenüber surbtalerdeutsch us den alte Zite ‘ aus den alten Zeiten ’ , surbtalerjiddisch mit dajni krumi aage gegenüber surbtalerdeutsch mit diine chrumben Auge ‘ mit deinen krummen Augen ’ . Nach Präpositionen folgt im Surbtaler Jiddisch häufiger ein Dativ als im Schweizerdeutschen und Standarddeutschen. Es heisst jiddisch im hous khume; uf der welt khume; s esse is im oferòòr -j ̃ egschtellt wòre; kan ich zejlen ouf der? ; fòr deene und nicht wie im Surbtalerdeutschen mit Akkusativ i s Huus choo ‘ in das Haus kommen ’ , uf d Wält choo ‘ auf die Welt kommen ’ , s Ässen isch i s Oferoor gschtellt wòòrde ‘ das Essen ist in das Ofenrohr gestellt worden ’ , chan i uf di zele? ‘ kann ich auf dich zählen? ’ , für die ‘ für diese ’ . 2.3.3.2 Konjugation Manche Verbformen des Surbtaler Jiddisch weichen von den schweizerdeutschen ab. • s-j ̃ ‘ sein ’ : is ‘ ist ’ , sin ‘ sind ’ , gewee (oder auch gewee ṣ e) ‘ gewesen ’ vs. surbtalerdeutsch sii, isch, sind, gsii; • hõ ũ ‘ haben ’ : hot ‘ hat ’ , hen ‘ haben (Pl.) ’ , ghet ‘ gehabt ’ vs. surbtalerdeutsch haa, hät, händ, ghaa; • wòre ‘ werden ’ : wòrd ‘ wird ’ , wòre(d) ‘ werden (Pl.) ’ , wòre ‘ (ge)worden ’ vs. surbtalerdeutsch wèèrde, wììrd, wèèrded, wòòrde; Jiddisch 279 <?page no="316"?> • g ẽ j ̃ ‘ gehen ’ , scht ẽ j ̃ ‘ stehen ’ , khume ‘ kommen ’ , seje ‘ sehen ’ vs. surbtalerdeutsch gòò, schtòò, choo, gsee; Hebräisch- und aramäischstämmige Verben des Surbtaler Jiddisch sind zumeist vollständig in die Struktur der schwachen germanischstämmigen Konjugation integriert: • bejgere ‘ krepieren ’ - gebejgert ‘ krepiert ’ , jarschene ‘ erben ’ - gejarschent ‘ geerbt ’ , pasgene ‘ in religiösen Dingen entscheiden ’ - gepasgent ‘ entschieden ’ . • Gewisse, sogenannt paraphrastische Verben bestehen aus einem hebräischen Partizip Präsens und dem deutschstämmigen Hilfsverb s-j ̃ ‘ sein ’ , so etwa mòòchel s-j ̃ ‘ verzeihen ’ , mekhadisch s-j ̃ ‘ segnen ’ , sich mehane s-j ̃ ‘ sich freuen ’ . Sie werden im Jiddischen herkömmlich mit «haben», nicht wie aus deutscher Sicht zu erwarten mit «sein» gebildet: mer hot di lefoone mekhadisch gewee ‘ man hat den Mondsegen gebetet ’ . Das Surbtaler Jiddisch kannte ursprünglich den verbalen Einheitsplural auf e, wie er für am Oberrhein gesprochene Mundarten zwischen Frankfurt und Basel üblich ist. Unter dem Einfluss des Surbtalerdeutschen kommen allerdings auch Endungen des Einheitsplurals auf ed vor, sodass in den Aufnahmen aus dem 20. Jh. neben dem Typus mir, ir, si khume auch der Typus mir, ir, si khumed ‘ wir kommen, ihr kommt, sie kommen ’ zu hören ist. Das Präfix geist im Surbtaler Jiddisch ausser vor f, g, h, s, sch, wo es zu ggekürzt wird (gfale ‘ gefallen ’ , gange ‘ gegangen ’ , ghèèrt ‘ gehört ’ , gseie ‘ gesehen ’ , gschtande ‘ gestanden ’ ), immer in seiner Vollform erhalten. So stehen zum Beispiel surbtalerjiddisch gekhaaft ‘ gekauft ’ , geleebt ‘ gelebt ’ , gemaant ‘ gemeint ’ , geblougt ‘ geplagt ’ , gedrungge ‘ getrunken ’ , gewunsche ‘ gewünscht ’ , --gezunde ‘ angezündet ’ surbtalerdeutschem gchaufft, gläbt, gmäint, plòòget, trunke, gwünscht, aazündt gegenüber. Ein Präteritum gibt es im Surbtaler Jiddisch nicht, für die Vergangenheit wird das Perfekt verwendet. An Formen des Konjunktivs II finden sich etwa hett ‘ hätte ’ , wèèr ‘ wäre ’ , deet ‘ täte ’ , khemed ‘ käme ’ , dèrfte ‘ dürften ’ , khent ‘ könnte ’ , meescht ‘ müsstest ’ . Finite Formen können mittels des Hilfsverbs «tun» umschrieben werden: ich deet epes saage ‘ ich würde etwas sagen ’ . 2.3.4 Kurzvergleich mit dem Ostjiddischen Im Lautsystem stimmen Surbtaler Jiddisch und Ostjiddisch unter anderem darin überein, dass beide die frühneuhochdeutsche Diphthongierung und Monophthongierung sowie die Entrundung kennen (siehe Abschnitt 2.3.1). Ansonsten zeigt das südwestjiddische Lautsystem gegenüber dem ostjiddischen eine grosse Selbständigkeit und stimmt in vielem mit demjenigen der deutschen Mundarten am nördlichen Oberrhein (Grossraum Frankfurt - Karlsruhe) überein. Der hebräisch-aramäische Bestandteil des Wortschatzes im Surbtaler Jiddisch ist mit demjenigen des Ostjiddischen weitgehend deckungsgleich. Im deutschstämmigen Bestandteil finden sich einige typische Unterschiede, besonders im Bereich der Verwandtschaftsbezeichnungen, wo im Ostjiddischen die slawischstämmigen tate ‘ Vater ’ , ṣ ejde/ ṣ ajde ‘ Grossvater ’ und bobe/ bube ‘ Grossmutter ’ gelten. Im Bereich der Morphologie zeigt sich ein Unterschied im verbalen Plural, wo das Standardostjiddische anders als das Südwestjiddische den auch im Standarddeutschen geltenden zweiförmigen Plural auf -n, -t, -n kennt. 280 Christoph Landolt <?page no="317"?> 2.4 Dokumentation Zum ersten Mal wurde das Surbtaler Jiddisch 1934 von Otto Gröger (1876 - 1953), dem leitenden Redaktor des Schweizerischen Idiotikons und Leiter des Phonogrammarchivs der Universität Zürich, auf eine Gelatinefolie aufgenommen. Die Aufnahme wurde 1966 auf Schallplatte und 2000 auf CD herausgegeben. 1946 machte Konrad Lobeck (1914 - 1977) in Lengnau schriftliche Aufnahmen für den Sprachatlas der deutschen Schweiz. Sie sind im gedruckten Werk jeweils ausserhalb der Karte unter «zusätzliche Orte» (Ortsnummer 18J) verzeichnet. Da die jüdische Bevölkerung im Surbtal weder Landwirtschaft noch Handwerke betrieb, benutzte Lobeck das Fragebuch für städtische Informanten. Aber auch so mussten aufgrund der unterschiedlichen religiösen und kulturellen Verhältnisse etliche Fragen unbeantwortet bleiben, und handkehrum wurden verschiedene Eigenheiten des Surbtaler Jiddisch nicht erfasst, weil das Fragebuch auf das alemannische Schweizerdeutsch ausgerichtet war. Lobeck bezeichnete die Aufnahmesituation als «nicht restlos befriedigend», weil seine Informantin immer wieder ins Schweizerdeutsche fiel. Die originalen Aufzeichnungen sowie das Typoskript einer sprachwissenschaftlichen Einordnung durch Uriel Weinreich (siehe unten) werden am Schweizerischen Idiotikon in Zürich aufbewahrt. Am bedeutendsten sind die Aufnahmen von Florence Guggenheim-Grünberg (1898 - 1989), die grossmehrheitlich mithilfe eines Tonbandgeräts vorgenommen wurden. Die in Bern geborene Pharmazeutin war mit Henri Guggenheim verheiratet, einem Pferdehändler mit Endinger Bürgerrecht. Den Entschluss, die jiddischen Dialekte aus dem Surbtal aufzunehmen und für spätere Generationen festzuhalten, fasste sie 1939 an der Schweizerischen Landesausstellung in Zürich: Dort waren zwar alle möglichen Schweizer Mundarten zu hören, aber das von ihrem Gatten gelegentlich noch gesprochene Surbtaler Jiddisch fehlte. So machte sie bei Personen, die aus Endingen und vereinzelt auch aus Lengnau, aus Südbaden und aus dem Elsass stammten, von 1950 bis 1963 mehrere Aufnahmen. Zum Teil wurde sie von ihrem Mann begleitet, der «eine Atmosphäre von Vertraulichkeit» schuf. Unterstützung in technischen Belangen gewährte Rudolf Brunner vom Phonogrammarchiv. Zu ihren Forschungen wurde sie überdies von Max Weinreich ermuntert, dem zeitweiligen Direktor des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts in New York. In den frühen 1980er-Jahren folgten noch ein paar wenige Aufnahmen von Sekundärsprechern. 1950 erschien eine erste Schallplatte, und 1966 kamen zwei weitere in der Reihe Schweizer Dialekte in Text und Ton heraus, zusammen mit einem Begleitband, in dem das Gesprochene transkribiert, übersetzt und kommentiert wird. Im Weitern machte sie auch Aufnahmen und schriftliche Befragungen von mittlerweile zumeist in der Schweiz wohnenden Personen betreffend das Westjiddisch in Württemberg, Bayern, Hessen, im Rheinland und im Burgenland, die zum Teil in ihren Sprachatlas Jiddisch auf alemannischem Sprachgebiet von 1973 einflossen. Andere Publikationen von Guggenheim-Grünberg handeln vom Lautsystem, von den Ortsnamen und von der Pferdehändlersprache, und in einem kleinen Wörterbuch versammelte sie hauptsächlich die Wörter hebräisch-aramäischen Ursprungs. Die originalen Aufnahmen liegen zum grösseren Teil im Staatsarchiv Aargau («Florence Guggenheim Archiv zur Geschichte, Sprache und Volkskunde der Juden in der Schweiz») und zum kleineren im Phonogrammarchiv der Universität Zürich. Letzteres hat im Jahr 2000 die Platten von 1966 auf CD herausgegeben. Jiddisch 281 <?page no="318"?> 2005 gab Jürg Fleischer zahlreiche weitere, bis anhin unveröffentlichte Aufnahmen heraus, ergänzt um einen umfassenden Kommentar. Im Jahr 1960 machte der bekannte Sprachwissenschafter Uriel Weinreich (1926 - 1967) von der New Yorker Columbia University für seinen Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry einige Aufnahmen. Die originalen Tondokumente befinden sich an der Columbia University, Kopien im Staatsarchiv Aargau. 1995 veröffentlichten Michy Bollag (1925 - 2004) und Karl Weibel (1921 - 2013) gemeinsam ein Wörterbuch des Endinger Jiddisch, das auf ihren beiden Sammlungen gründete. Es präsentiert hebräisch- und aramäischstämmige sowie vereinzelte weitere Wörter, zu denen Bollag jeweils einen Beispielsatz schrieb, und enthält überdies einige ebenfalls von ihm verfasste Texte. Die Autoren hatten am Jiddischen ein antiquarisches Interesse und ihr Sprachwissen fusst auf ihrer Erinnerung, weshalb eine Auswertung mit der nötigen Vorsicht anzugehen ist. 3 Ostjiddisch 3.1 Aus Ost(mittel)europa stammende Juden in der Schweiz Juden aus dem russischen Zarenreich, zu dem auch Polen, das Baltikum, Weissrussland und die Ukraine gehörten, kamen erstmals an der Wende vom 19. zum 20. Jh. in die Schweiz. Verfolgung sowie wirtschaftliche Not zwangen sie, ihre Heimat zu verlassen. In Zürich liessen sie sich in den damaligen Arbeiterquartieren nieder, in Aussersihl und Alt- Wiedikon. Ein Teil schloss sich der bestehenden Israelitischen Cultusgemeinde an. Andere hingegen fühlten sich in den Zürcher Gemeinden nicht wohl - zwischen dem alteingesessenen Schweizer Judentum und den Zuwanderern aus Ostmitteleuropa und Osteuropa bestanden grosse Unterschiede in Mentalität und Tradition. So gründeten Letztere mehrere eigene Betlokale. Für 1916 nannte das Jüdische Jahrbuch für die Schweiz sieben «Synagogen und Minjonim [Gebetsgemeinschaften] der eingewanderten osteuropäischen Juden», die neben den beiden schon bestehenden Gemeinden, der 1862 gegründeten Israelitischen Cultusgemeinde und der 1895/ 98 davon abgespaltenen konservativeren Israelitischen Religionsgesellschaft, eine selbständige Existenz führten. 1911 gründeten die aus dem Zarenreich Gekommenen den Verein Agudas Achim ( ‘ Bund der Brüder ’ ), dessen erster Präsident aus Odessa in der heutigen Ukraine stammte. Agudas Achim ist bis heute eine charedische Gemeinde, die dem polnischen Ritus folgt - im Gegensatz zur ebenfalls charedischen Israelitischen Religionsgemeinschaft, die den deutschen Ritus pflegt. Die Muttersprache der damals in die Schweiz gekommenen Ostmittel- und Osteuropäer war im Allgemeinen Ostjiddisch. Deren Nachkommen gingen indes meist schon bald zum Schweizerdeutschen über. Das heute in der Schweiz gesprochene Jiddisch geht auf spätere Zuwanderungen zurück. Seine Sprecher gehören zumeist chassidischen Gruppierungen an. Da Zürich das Zentrum des schweizerischen Chassidismus bildet, können sich die folgenden Ausführungen auf diese Stadt konzentrieren. Zur Geschichte der Juden ost(mittel)europäischer Herkunft in der Schweiz siehe Knoch-Mund et al. 2007 und Jüdische Gemeinde Agudas Achim 2011. 282 Christoph Landolt <?page no="319"?> 3.2 Der Chassidismus 3.2.1 Geschichtlicher Abriss Der Chassidismus (zu hebräisch Chassid, Chossid ‘ Frommer ’ ) war in seinen Anfängen eine religiöse Erweckungsbewegung mit einem ausgeprägten sozialen Profil. Er hat seine Wurzeln in mehreren voneinander unabhängigen, aber ähnlich gerichteten Bewegungen und entstand im 18. Jh. im damaligen Königreich-Grossfürstentum Polen-Litauen. Seine ideologischen und historischen Ursprünge werden traditionell mit der Person und der Lehre von Jisroel ben Elieser (1698/ 1700 - 1760) verbunden, bekannt als der Ba ’ al Schem Tow ( ‘ Herr des Guten Namens ’ , abgekürzt Bescht). Das 18. Jh. war für das polnische Judentum eine Zeit des Umbruchs: Die traditionellen jüdischen Institutionen sowie die Rabbiner verloren an Ansehen, 1764 wurde der «Rat der vier Länder» (Grosspolen, Kleinpolen, Ruthenien und Wolhynien) - ein Gremium, das von den Gemeinden zur Klärung gemeinsamer Angelegenheiten beschickt wurde - abgeschafft, und die sozialen Spannungen wuchsen. In dieser Zeit gewann der Chassidismus unter der osteuropäischen jüdischen Bevölkerung rasch eine grosse Anhängerschaft: Diese scharte sich an den verschiedenen Orten um einen geistigen Führer, genannt Zaddik ‘ Gerechter ’ , Admor ‘ (Akronym für) unser Herr, Lehrer und Meister ’ oder Rebbe ‘ Rabbi ’ , der dank seinem Prestige und seiner Integrität zum Vermittler zwischen Himmel und Erde wurde. Ausgehend von diesen Führungspersönlichkeiten bildeten sich schliesslich chassidische «Höfe» oder Dynastien heraus, die meistens nach dem Ort benannt sind, wo sie gegründet wurden, und deren Oberhäupter die Gemeinschaften vielfach bis heute leiten. Nach und nach entwickelte sich der Chassidismus zu einem Bollwerk des jüdischen Konservatismus und wendet sich bis heute gegen Modernisierung und Säkularisierung. Der Holocaust, jiddisch der Churbn ‘ Zerstörung ’ , brachte auch den Chassidismus beinahe zum Erlöschen. Im Laufe der 1950er-Jahre gelang es jedoch zahlreichen charismatischen Persönlichkeiten, ihre Anhänger wieder neu zu formieren. Die heutigen Zentren liegen nicht mehr in Ost(mittel)europa, sondern in den Vereinigten Staaten und in Israel, wo auch die gegenwärtigen Rebbes ihren Sitz haben. Der Anteil der Chassidim an der gesamten jüdischen Bevölkerung liegt mit geschätzten 750 ’ 000 Personen weltweit bei etwa 5 Prozent; bezogen auf einzelne Länder kann er auch deutlich höher sein. Gemäss dem Historical Atlas of Hasidism, dessen Zahlen hier gerundet wiedergegeben werden und sich auf das Jahr 2016 beziehen, leben etwa 62 ’ 100 chassidische Familien in Israel, 53 ’ 500 in den Vereinigten Staaten, 5 ’ 500 im Vereinigten Königreich, 3 ’ 400 in Kanada, 1 ’ 800 in Belgien, 1 ’ 000 in Australien und 550 in Frankreich. Auf dem achten Platz folgt die Schweiz mit 219 chassidischen Familien bzw. rund 1 ’ 100 - 1 ’ 200 Einzelpersonen, was rund 6 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung der Schweiz von rund 18 ’ 000 Personen ausmacht. Da so gut wie alle Schweizer Chassidim in Zürich leben, ist deren Anteil an den rund 6 ’ 000 Juden, die auf Stadtgebiet leben, allerdings bedeutend grösser. 3.2.2 Chassidismus und Jiddisch Für viele Charedim spiegelt Jiddisch die Bewahrung des Lebensstils einer idealisierten ost(mittel)europäischen Vergangenheit. Es kann für heutige Chassidim neben ihrer auf das 18. Jh. zurückgehenden Kleidung und anderen sozialen Praktiken ein wichtiges Mittel Jiddisch 283 <?page no="320"?> sein, eine authentische ethnische und religiöse Identität zu erhalten. In gewissen Gemeinschaften wird Jiddisch als quasiheilige Sprache betrachtet, die von Generationen rechtschaffener Juden gesprochen worden ist. In denjenigen Gruppierungen, die den Zionismus strikt ablehnen, ist Jiddisch überdies Ausdruck der Opposition gegen den modernen jüdischen Staat, der als eine Rebellion gegen Gott empfunden wird, weil er nicht der vom Moschiach (Messias) errichtete Gottesstaat ist. Alles in allem wird Jiddisch mehr von Männern als von Frauen gesprochen, da Knaben schwergewichtig eine religiöse, in jiddischer Sprache stattfindende Ausbildung erhalten, wogegen Mädchen über eine breitere weltliche, in der Landessprache gehaltene Ausbildung verfügen und als Erwachsene dann auch mehr mit der säkularen Aussenwelt kommunizieren. Das heutige Zentrum des Jiddischen sind die Vereinigten Staaten, genauer die Region New York, wo es die alltägliche Sprache in einer ganzen Reihe chassidischer Gemeinschaften ist und wo die meisten für die Chassidim bestimmten jiddischen Bücher, Zeitungen und Magazine gedruckt werden. In den Vereinigten Staaten, wo der Historical Atlas of Hasidism für 2016 mit 285 ’ 000 Chassidim rechnet, sprachen laut der Volkszählung 2020 178 ’ 945 Personen im Alter von fünf und mehr Jahren zu Hause Jiddisch. Die Zahl erhöht sich deutlich, wenn auch diejenigen Personen hinzugerechnet werden, welche die Sprache dank ihrem Studium an der Talmudhochschule beherrschen, wo Jiddisch ein hohes Prestige hat. Die grösste chassidische Gemeinschaft sowohl der Vereinigten Staaten als auch der Welt überhaupt, die Satmarer (ursprünglich aus dem damals ungarischen und heute rumänischen Satu Mare stammend, nach dem Zweiten Weltkrieg aber durch Zuzüge von Personen anderer Herkunft neu gross geworden), ist zugleich eine derjenigen Gruppierungen, die am bewusstesten an der Sprache ihrer Ahnen festhalten. Weitere grosse Gruppierungen, die jiddischaffin sind, sind etwa die Belser (ursprünglich aus Bels in der heutigen Westukraine), die Bobower (ursprünglich aus Bobowa im heutigen Südpolen), die Skwerer (ursprünglich aus Skwyra in der heutigen Zentralukraine) und die Wi ṣ chnitzer (ursprünglich aus Wyschnyzja in der heutigen Westukraine); zahlreiche kleinere Gruppen wären ebenfalls zu nennen. Weniger jiddischaffin sind die israelbasierten Breslewer (ursprünglich aus Brazlaw in der Zentralukraine) und Gerer (ursprünglich aus Góra Kalwaria in Zentralpolen) sowie die in der inneren Mission aktiven Lubawitscher (ursprünglich aus Ljubawitschi an der weissrussisch-russischen Grenze; auch unter dem Namen Chabad bekannt, einem Akronym bestehend aus den Anfangsbuchstaben der hebräischen Wörter für «Weisheit», «Verstehen» und «Wissen»). Jiddisch erlebt gegenwärtig in den chassidischen Gemeinschaften einen Aufschwung. Während es besonders in antizionistischen Gruppierungen wie den Satmarern schon seit jeher eine starke Position einnahm, spielte es anderswo in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine weniger klar definierte Rolle. In jüngerer Zeit wird Jiddisch zunehmend als ein Teil der chassidischen Identität wahrgenommen, und so gibt es auch etwa bei den Gerern Bestrebungen, es wieder bewusster zu integrieren. Überdies kommt ihm seine Internationalität zugute - es ist quasi die Weltsprache der Chassidim. Je nach Region und je nach Sprecher kann es allerdings stark mit Wörtern aus dem Englischen und Neuhebräischen (Iwrit) durchsetzt sein; wenig von Kontaktsprachen beeinflusst soll das Jiddische Antwerpens sein. 284 Christoph Landolt <?page no="321"?> 3.2.3 Chassidim in Zürich Bei den Mitgliedern der chassidischen Gemeinschaften in Zürich handelt es sich fast ausschliesslich um Personen, die erst in jüngerer und jüngster Zeit nach Zürich gekommen sind. Die grössten chassidischen Gruppierungen Zürichs sind diejenigen von Ger und Bels, gefolgt von Wi ṣ chnitz, Tschernobil (ursprünglich aus Tschornobyl in der Nordukraine), Lubawitsch und Ru ṣ chin (ursprünglich aus Ruschyn in der Zentralukraine). Weniger zahlreich sind Alexander (ursprünglich aus Aleksandrów Ł ódzki in Zentralpolen), Bobow, Spink (ursprünglich aus S ă pân ț a in Nordrumänien), Slonim (ursprünglich aus Slonim im westlichen Weissrussland) und Bojan (ursprünglich aus Bojany in der Westukraine). Hinzu kommen solche Chassidim, die ungebunden sind. Eigene Betlokale, jiddisch schtiblech (Singular: schtibl), haben die Gerer, die Belser und neuerdings die Alexander. Einige weitere Betlokale werden von Chassidim verschiedener Zugehörigkeit besucht. Wie viele Personen in der Schweiz Jiddisch sprechen, ist nicht bekannt. In der letzten Volkszählung von 2000 wurde Jiddisch nicht separat ausgewiesen, weshalb das Bundesamt für Statistik über keine Daten dazu verfügt. In den jüngeren Erhebungen sind die Fallzahlen für eine statistisch verlässliche Schätzung zu klein. Unter den Zürcher Chassidim ist es jedenfalls weit verbreitet. Wer mit den Sprachen Jiddisch und Schweizerdeutsch aufgewachsen ist, kann allerdings ohne Weiteres Zürichdeutsches in seine jiddische Rede integrieren. Jiddisch ist auch im Bildungswesen präsent. Für jüdische Kinder bestehen von den verschiedenen Gemeinden unabhängige, von gemeinnützigen Vereinen getragene und, soweit die obligatorische Schulzeit betreffend, vom Kanton Zürich bewilligte Privatschulen. Die folgende Übersicht beschreibt das Schulwesen für Kinder aus charedischen Familien: Den Kindergarten, Cheder Taschbar, besuchen die Knaben beider charedischer Gemeinden (Israelitische Religionsgemeinschaft und Agudas Achim). Dort findet der pädagogische Teil auf Schweizerdeutsch statt, wogegen die jüdischen Fächer je nach Lehrkraft auf Deutsch oder Jiddisch und zum Teil parallel für chassidische und nichtchassidische Kinder unterrichtet werden. Für die Primar- und die Sekundarstufe teilen sich die Heranwachsenden auf: Die Knaben der chassidischen Gemeinschaften besuchen während zehn Jahren die Talmud Toire Chajei Oilom, die sowohl die Primarschule (mit etwa 150 Schülern) als auch die Sekundarstufe (mit etwa 60 - 70 Schülern) umfasst; Letztere trägt den traditionellen Namen Jeschiwe Ketane ‘ kleine Jeschiwe ’ . Hier wird der religiöse Unterricht, der etwa die Hälfte der gesamten Unterrichtszeit ausmacht, auf Jiddisch und der weltliche auf Deutsch abgehalten. Die Knaben aus nichtchassidischen religiösen Familien besuchen hingegen die Jüdische Schule Knaben - Tif ’ eres Doniel, eine Primar- und Sekundarschule (Letztere unter dem Namen Mechine le ’ Jeschiwe), wo die Unterrichtssprache auch in den religiösen Fächern in der Regel Deutsch ist; die daran anschliessende Jeschiwe le ’ Zeirim wird hingegen aufgrund der Herkunft der Lehrer mehrheitlich auf Jiddisch geführt. Für den weiterbildenden Besuch an einer Jeschiwe gedoile ( ‘ grosse Jeschiwe ’ ) gehen die jungen Zürcher Chassidim vornehmlich nach Israel. Die Töchter aus charedischen Familien - unabhängig, ob chassidisch oder nichtchassidisch - besuchen nach dem von den Gemeinden organisierten Kindergarten die Jüdische Schule Zürich, an der auf Deutsch unterrichtet wird. Zum Chassidismus siehe Assaf et al. 2008 sowie Wodzi ń ski und Spallek 2018, zum Verhältnis zwischen Charedim und Jiddisch Assouline 2017 und 2019, zu demjenigen zwischen ehemaligen Jiddisch 285 <?page no="322"?> Charedim und Jiddisch Benedict 2022, zum jüdischen Schulwesen in der Schweiz Fridmann 2014. Abschnitt 3.2.2 basiert teilweise, Abschnitt 3.2.3 vollständig auf persönlichen Auskünften. 3.3 Chassidisches Jiddisch 3.3.1 Dialektologische Zuordnung Die heute mit Bezug auf die Sprecherzahl weltweit und auch in Zürich dominierende Variante des Jiddischen ist diejenigen des modernen chassidischen Jiddisch. Es ist der zentralostjiddischen oder, wie sie auch genannt wird, zentraljiddischen Dialektgruppe zuzuordnen (vgl. Abb. 1). In der Alltagssprache wird Zentralostjiddisch gemäss seinem historischen Verbreitungsgebiet gerne «polnisches» Jiddisch (pojlisch), «galizisches» Jiddisch (galizianisch) sowie - mit Bezug auf die bis nach dem Ersten Weltkrieg in Ungarn gelegenen chassidischen Zentren südwestlich der Karpaten, also Gebiete, die heute hauptsächlich zu Rumänien und zur Ukraine gehören - «ungarisches» Jiddisch (ungerisch/ ingerisch) genannt. Innerhalb dieses zentralostjiddisch basierten chassidischen Jiddisch haben sich weitestgehend die spezifischen Merkmale des «ungarischen» Jiddisch durchgesetzt. Auch die jiddischen Mundarten von chassidischen Gemeinschaften, die ihren Ursprung im südostjiddischen und nordostjiddischen Sprachgebiet haben (das gemäss den heutigen Staatsgrenzen im Wesentlichen in der Ukraine und in Moldawien beziehungsweise in Litauen und Weissrussland lag), werden seit der Nachkriegszeit vom «ungarischen» Jiddisch be- und verdrängt. Nordostjiddisch geprägt ist indes nach wie vor diejenige Variante, die in charedischen, aber nicht chassidischen Gemeinschaften Jerusalems gesprochen wird und auf eine im frühen 19. Jh. stattgefundene Auswanderung aus Litauen zurückgeht. Der gemeinjiddischen Dialektologie widmen sich Katz 1983, LCAAJ und Schäfer 2023b, spezifisch zum chassidischen Dialekt siehe Krogh 2014 sowie Sadock und Masor 2018. 3.3.2 Unterschiede zwischen dem literarischen und vorkriegszeitlichen Jiddisch einerseits und dem chassidischen Jiddisch anderseits Das chassidische Jiddisch unterscheidet sich vom literarischen Jiddisch (Standardjiddischen) einerseits und den jiddischen Dialekten des vorkriegszeitlichen Europas anderseits in mancherlei Hinsicht. Im Folgenden werden einige der auffälligsten Unterschiede vorgestellt. Die Daten zum literarischen Jiddisch stammen aus den einschlägigen Grammatiken der Standardsprache, diejenigen zum chassidischen Jiddisch aus Untersuchungen der gegenwärtigen Sprache in New York, Montreal, London, Antwerpen, Jerusalem und Benei Brak. Angesichts der starken Verflechtung der Zürcher mit den ausserschweizerischen Gemeinschaften ist davon auszugehen, dass die sprachlichen Merkmale der Letzteren auch auf Zürich zutreffen. An jeweils erster Stelle wird die standardsprachliche und vorkriegsmundartliche Situation vorgestellt, anschliessend deren Entsprechung im gegenwärtigen chassidischen Jiddisch. Die chassidisch-jiddischen Sprachdaten führen wir, der tatsächlichen Realisierung entsprechend, in der Lautung des zentralostjiddischen Dialekts an. Die Daten der literarischen Sprache sind - an Salomon Birnbaum orientiert - ebenfalls in einer zentralostjiddischen Lautung wiedergegeben; die Übernahme der beim Transkribieren sonst üblichen nordostjiddisch basierten Lautung würde die Distanz zum chassidischen Jiddisch nur unnötig vergrössern. 286 Christoph Landolt <?page no="323"?> 3.3.2.1 Flexion Der Artikel, das Adjektiv und das Substantiv werden im literarischen Jiddisch und in vielen zentralostjiddischen Dialekten der Vorkriegszeit wie in Tabelle 4 gezeigt dekliniert. Im Unterschied zum Deutschen gibt es im Singular bei den Maskulina und den Feminina sowie im Plural bei allen Genera keine von der Determiniertheit abhängige Unterschiede in der Flexion des Adjektivattributs, und der unbestimmte Artikel hat nur eine Form. Das jiddische Beispiel entspricht deutsch ‘ der grosse Mann ’ / ‘ ein grosser Mann ’ , ‘ die grosse Frau ’ / ‘ eine grosse Frau ’ , ‘ das grosse Kind ’ / ‘ ein grosses Kind ’ und so weiter: Maskulinum Femininum Neutrum bestimmt unbestimmt Nom. Sing. der grojser man / a grojser man di grojse frou / a grojse frou dus grojse kind a grojs kind Akk. Sing. dem grojsn man / a grojsn man Dat. Sing. Standard: der grojser frou Dialekt: (zu/ far) di grojse frou / Standard: a grojser frou Dialekt: (zu/ far) a grojse frou dem grojsn kind a grojs(n) kind Nom./ Akk. Plural di grojse mener / grojse mener di grojse frouen / grojse frouen di grojse kinder grojse kinder Dat. Plural (zu, far) di grojse mener / (zu, far) grojse mener (zu, far) di grojse frouen / (zu, far) grojse frouen (zu, far) di grojse kinder grojse kinder Tab. 4: Flexion von Artikel, Adjektiv und Substantiv im literarischen Jiddisch und in der Vorkriegsmundart Im Possessiv wird die Form des Dativs um ein -s ergänzt: dem / a grojsn mans biich, der / a grojser frous biich, dem / a grojsn kinds biich ‘ das Buch des oder eines grossen Mannes, der oder einer grossen Frau, des oder eines grossen Kindes ’ . Der maskuline und neutrale Dativ des Artikels, dem, wird sodann nach Präpositionen oft als mit ihr verschmolzenes m oder n realisiert: bam ‘ bei dem ’ , nuchn ‘ nach dem ’ . Im chassidischen Jiddisch der Gegenwart findet sich diese Struktur stark verändert vor: Genus und Kasus wurden weitestgehend aufgegeben. Neben dem unbestimmten weist nun auch der bestimmte Artikel eine einheitliche Form auf, die phonetisch als / di/ , / d ɛ / oder / d ə / realisiert und - meist losgelöst von der früheren Verteilung - «der» oder «di» geschrieben wird. Neben der Grundform des Adjektivs gibt es nur eine einzige flektierte, als - / ɛ / oder - / ə / realisierte Form, siehe Tabelle 5. Insbesondere in geschriebenen Texten des chassidischen Jiddisch finden sich noch Reste der früheren Flexion nach Genus und Kasus. Der neben di ist nicht ungewöhnlich, wogegen dem und dus selten geworden sind. Allerdings stimmt die Verwendung dieser Formen nur mehr oder weniger zufällig mit dem historischen Gebrauch überein; es Jiddisch 287 <?page no="324"?> handelt sich um reine Erinnerungsformen, die beliebig gesetzt werden. Am ehesten wird schriftsprachlich noch bei Lebewesen zwischen der und di gemäss früher allgemeinem Sprachgebrauch unterschieden: der man ‘ der Mann ’ , di frou ‘ die Frau ’ . Nach Präpositionen findet sich noch die Endung m bzw. n des einstigen männlichen und sächlichen Dativs des bestimmten Artikels, allerdings ganz unabhängig vom ursprünglichen grammatischen Geschlecht und damit auch bei weiblichen Wörtern: Während nejbn dem ojwn ‘ neben dem Ofen ’ auch aus Sicht der literarischen Sprache korrekt ist, sind Beispiele wie nuchn raachn wetschere ‘ nach dem reichhaltigen Abendessen ’ und zi dem altn frou ‘ zu der alten Frau ’ - wetschere und frou sind herkömmlich Feminina - nur im chassidischen Jiddisch möglich. Lehrbücher, die für Chassidim geschrieben werden, die Jiddisch erlernen wollen, nennen die drei grammatischen Geschlechter zwar, vermögen deren Verteilung aber nur ansatzweise zu erläutern. Auch Israeli, die vom Neuhebräischen (Iwrit) her zwei grammatische Geschlechter kennen, haben kein Sprachgefühl dafür, dass im Jiddischen mit der und di zwei verschiedene Genera ausgedrückt werden könnten. Auch im Bereich der Pronomen hat sich die Flexion stark verändert, wobei hier die Dialekte schon im Europa der Vorkriegszeit vielfältiger waren, als die literarische Sprache dies erahnen liesse. Die Deklination der Personalpronomen gleicht im literarischen Jiddisch und den früheren zentralostjiddischen Dialekten stark dem Deutschen, siehe Tabelle 6. Person Nominativ Akkusativ Dativ 1. Person Singular ich mich mir 2. Person Singular di dich dir 3. Person Singular er; ṣ i; es im (em); ṣ i; im (em) im (em); ir; im (em) 1. Person Plural (Standard: ) mir (Dialekt: ) ind ṣ ind ṣ ind ṣ 2. Person Plural (Standard: ) ir (Dialekt: ) ez (Standard: ) aach (Dialekt: ) enk (Standard: ) aach (Dialekt: ) enk höfliche Anrede ir aach 3. Person Plural ṣ aj ṣ aj ṣ aj Tab. 6: Flexion von Personalpronomen im literarischen Jiddisch und in der Vorkriegsmundart Einheitsgenus Nominativ/ Akkusativ Singular de/ di grojse man, frou, kind a grojse man, frou, kind Dativ Singular far de/ di grojse man, frou, kind far a grojse man, frou, kind Nominativ/ Akkusativ Plural de/ di grojse mener, frouen, kinder grojse mener, frouen, kinder Dativ Plural far de/ di grojse mener, frouen, kinder far grojse mener, frouen, kinder Tab. 5: Flexion von Artikel, Adjektiv und Substantiv im modernen chassidischen Jiddisch 288 Christoph Landolt <?page no="325"?> Die Pronomen ez und enk, die auch aus dem Bairischen bekannt sind, sind ein typisches Merkmal des Zentralostjiddischen; dem Nordostjiddischen, Südostjiddischen und literarischen Jiddisch sind sie fremd. Wie beim Artikel und dem Adjektiv treten im chassidischen Jiddisch auch bei den Personalpronomen Neuerungen in der Flexion auf. Akkusativ und Dativ verschmelzen zu einem gemeinsamen Objektiv, der je nach Sprechergemeinschaft der früheren Akkusativ- oder der früheren Dativform entsprechen kann. Im Plural breitet sich überdies, analog der bei der 1. Person schon im Zentralostjiddischen der Vorkriegszeit üblichen, ursprünglich aus dem Akkusativ und Dativ stammenden Nominativform in(d) ṣ nun auch in der 2. Person der ursprüngliche Objektiv enk in den Nominativ aus, siehe Tabelle 7. Person Nominativ Objektiv 1. Person Singular ich mich oder mir 2. Person Singular di dich oder dir 3. Person Singular er; ṣ i; es ejm (em); ṣ i oder ir; ejm (em) 1. Person Plural in ṣ 2. Person Plural enk höfliche Anrede ir aach 3. Person Plural ṣ aj Tab. 7: Flexion von Personalpronomen im modernen chassidischen Jiddisch Das System der Demonstrativpronomina im literarischen Jiddisch sieht wie in Tabelle 8 dargestellt aus, wobei dejer usw. die betonten (aber gleich geschriebenen) Varianten des Artikels der usw. sind: Nähe (deutsch: dieser, diese, dieses) Ferne (deutsch: jener, jene, jenes) Maskulin Feminin Neutrum Maskulin Feminin Neutrum Nom. Sg. dejer di duus jener jene jens Akk. Sg. dejm jenem Dat. Sg. dejer dejm jener jenem Plural di jene Tab. 8: Flexion der Demonstrativpronomen im literarischen Jiddisch und in der Vorkriegsmundart Im chassidischen System hat sich im Bereich der Demonstrativpronomen ein ganz neues System entwickelt. Wie beim Artikel sind Akkusativ und Dativ verloren gegangen, und an die Stelle der auch beim Artikel nicht mehr existenten Dreiheit der, di, dus tritt eine auf der betonten Variante des chassidischen Einheitsartikels de/ di zurückgehende neue Form ein, nämlich dej(e), wie Tabelle 9 zeigt. Jiddisch 289 <?page no="326"?> adjektivisch substantivisch / alleinstehend Nominativ Objektiv Nähe dej, deje dejs, deje, duus deje Ferne jene jens, jene jene Tab. 9: Flexion der Demonstrativpronomen im modernen chassidischen Jiddisch Über die Gründe für diesen durchgreifenden und rasch vonstatten gegangenen Wandel kann man nur mutmassen. 1. Einige heute dominante sprachliche Merkmale finden sich mehr oder weniger verbreitet schon in jiddischen Vorkriegsdialekten Europas. Es haben sich also bereits vorhandene Tendenzen, die im literarischen Jiddisch nicht sichtbar wurden, im chassidischen Jiddisch akzentuiert. 2. Die aus Ost(mittel)europa stammenden chassidischen Gemeinschaften formierten sich nach dem Holocaust in Amerika, England, Belgien, Israel und in weiteren Ländern neu. Es kam zu Dialektvermischungen und in der Folge zu neuen Ausgleichsmundarten. 3. Anders als vor dem Krieg, als Jiddisch die selbstverständliche Alltagssprache des grössten Teils der ost(mittel)europäischen Juden war, herrscht heute in chassidischen Familien häufig Mehrsprachigkeit. Überdies wird das Jiddisch der Charedim von solchen Personen beeinflusst, welche es erst als Zweitsprache erlernt haben. 4. Im Vergleich mit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als Jiddisch in Schule, Presse und Literatur omnipräsent war, ging die eine konservierende Wirkung zeitigende Schriftlichkeit in jiddischer Sprache nach dem Krieg stark zurück. Auch Jiddisch als Schulfach und überhaupt die bewusste Pflege des Jiddischen waren den Chassidim lange Zeit kein Anliegen und kommen erst in neuerer Zeit da und dort wieder auf. Die neuen Kontaktsprachen spielen hingegen (abgesehen vom Umbau der Lexik, siehe im Folgenden) eine ganz untergeordnete Rolle. Zwar kennt Englisch tatsächlich keine grammatischen Geschlechter, das in Antwerpen als Kontaktsprache fungierende Niederländisch aber schon, ebenso in Israel das Hebräische. Des Weiteren kennen Englisch und Hebräisch keine Adjektivflexion, das chassidische Jiddisch hat diese aber nicht vollkommen abgebaut, sondern lediglich auf eine einzige, neben der Grundform stehende Endung reduziert. Ganz eigenständig ist zweifellos die Entwicklung im Bereich der Demonstrativpronomen, wo die Kontaktsprachen nichts dergleichen kennen. Zum vorkriegszeitlichen Ostjiddisch bietet Birnbaum 2015 eine umfassende Übersicht, linguistische Einführungen sind Jacobs 2005 und Weissberg 1988, eine konzentrierte Darstellung Landolt 2019, und Sprachkontaktphänomene thematisiert Krogh 2001. Lerngrammatiken des Standardjiddischen sind Katz 1987 und Lockwood 1995, eine wissenschaftliche ist Mark 1978. Dem chassidischen Jiddisch gewidmet sind Krogh 2012, 2014, 2015 und 2018; spezifisch dessen Morphologie Belk, Kahl und Szendr ő i 2022a und 2022b, Belk, Kahl, Szendr ő i und Yampolskaya 2022 und Nove 2018, dessen Gebrauchsstandard Benedict 2021 und dessen Lehrbüchern Belk, Benedict und Kahn 2022. 3.3.2.2 Syntax, Wortschatz, Rechtschreibung Die Syntax ist von Kontaktsprachen wie Englisch und Neuhebräisch weitestgehend unbeeinflusst geblieben. Dennoch unterscheidet sie sich im chassidischen Jiddisch in 290 Christoph Landolt <?page no="327"?> einigen Punkten vom literarischen Jiddisch. Am auffälligsten dürfte die Ersetzung des mithilfe des Dativs ausgedrückten indirekten Objekts durch eine Präpositionalkonstruktion mit far ‘ für ’ sein. So heisst es im literarischen Jiddisch der tate hot geholfn dem kind ‘ der Vater hat dem Kind geholfen ’ , im chassidischen Jiddisch hingegen de tate hot geholfn far de kind. Ein Blick in die reichen Daten des Language and Culture Atlas of the Ashkenazic Jewry zeigt indes, dass die präpositionale Dativumschreibung schon in den vorkriegszeitlichen Mundarten gang und gäbe war, wobei diejenige mit far einen Schwerpunkt südlich der Karpaten hatte - der ursprünglichen Heimat der heute grössten chassidischen Gemeinschaft, der Satmarer. Typisch für das chassidische Jiddisch ist sodann die hohe Permeabilität, was die Übernahme von Wortschatz aus den Kontaktsprachen Englisch und Iwrit angeht. Hierzu muss freilich bemerkt werden, dass diese Fähigkeit grundsätzlich schon seit jeher ein Merkmal des Jiddischen war und zum Jiddischen als «Komponentensprache» (vgl. Abschnitt 1.2) geführt hat. Der unbedenkliche Einschluss englischer Wörter und Phrasen war übrigens auch bei den jüdischen Immigranten nach Nordamerika vor über hundert Jahren anzutreffen. Umgekehrt gab und gibt es im literarischen Jiddisch eine Tendenz zum Purismus, die durch die Tätigkeit des YIVO kräftig gefördert wurde - symptomatisch hierfür war dessen Kampf gegen neuhochdeutsche Lehnwörter. Unter den Charedim hat Sprachpflege hingegen keinen grossen Stellenwert, abgesehen von der in New York herausgegebenen Zeitschrift Maalos, die bekannt für ihre reflektierte Sprache ist. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass auch im chassidischen Jiddisch die vier konstituierenden Komponenten nach wie vor vertreten sind: die mittelhochdeutsch basierte, die hebräischaramäisch basierte, die slawisch basierte und die altromanisch basierte. Die slawisch basierte ist im modernen Jiddisch zwar tatsächlich deutlich geringer als im Jiddisch der Vorkriegszeit, aber deren Grundstock aus der Zeit vor 1800 ist auch heute noch vorhanden; die jüngeren Entlehnungen wurden hingegen durch neue, aus den gegenwärtigen Kontaktsprachen stammende abgelöst. Die chassidische Rechtschreibung weicht stark von derjenigen ab, die 1937 vom YIVO proklamiert wurde und im säkularen Schrifttum breite Anwendung findet. So fehlen in der chassidischen Schreibweise die für die YIVO-Orthographie typischen diakritischen Zeichen, die etwa die Laute / a/ ( אַ ) und / o/ ( אָ ), / ej/ ( ײ ) und / aj/ ( ײַ ) sowie / f/ ( פֿ ) und / p/ ( פּ ) unterscheiden. Mit dem aus der deutschen Rechtschreibung übernommenen Dehnungs-h ( ה ; etwa chassidisch ז ע ה ן vs. YIVO ז ע ן ṣ en ‘ sehen ’ ) führt sie eine aus dem Deutschen übernommene Praxis fort, die einst auch in der jiddischen Rechtschreibung ganz allgemein galt. Apostrophe trennen die hebräischstämmigen Wortbestandteile von deutschstämmigen (zum Beispiel chassidisch פ א ﬧ ’ ח י ד ו ש ’ ט vs. YIVO פֿ אַ ר ח י ד ו ש ט farchidescht ‘ verwundert ’ ) und verdeutlichen den - auch in der YIVO-Schreibung hochgehaltenen - Grundsatz, dass nichtsemitischstämmige und semitischstämmige Wörter und Wortbestandteile im Jiddischen andern orthographischen Regeln unterworfen sind. Auch in einer ganzen Reihe weiterer Einzelheiten weicht die chassidische von der säkularen bzw. nichtchassidischen Orthographie ab. Allerdings folgt sie damit weitgehend einer Praxis, die einst auch in Texten weltlich orientierter Verfasser üblich war. Die verschiedenen Rechtschreibreformen wurden von den Chassidim schlicht nie übernommen. Jiddisch 291 <?page no="328"?> Zur Syntax des chassidischen Jiddisch siehe Krogh 2012 und 2015 (zum Vergleich hierzu Schäfer 2023b), zum Sprachkontakt mit den koterritorialen Sprachen Assouline 2017 und 2019 sowie Krogh 2014 und 2018 und zur chassidischen Rechtschreibung Krogh 2014. 3.4 Forschungsstand Die philologische und sprachwissenschaftliche Beschreibung des Ostjiddischen hat ihre Anfänge um 1900. Starken Aufschwung nahm sie nach der Gründung des YIVO 1926. Als normativ, modern und säkular ausgerichtete Forschungsinfrastruktur verfolgte dieses die Entwicklung des chassidischen Jiddisch nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings nicht. Auch an den Universitäten wurde noch lange fast ausschliesslich das herkömmliche Jiddisch untersucht und gelehrt. Das charedische Jiddisch trat erst ab den späten 1990er- Jahren vermehrt in das Blickfeld der Forschung, und erst seit etwa 2010 erscheinen sprachwissenschaftliche Publikationen zu diesem Thema in dichterer Folge. Im Fokus der Forschung zum chassidischen und überhaupt charedischen Jiddisch stehen die Gemeinschaften der Region New York sowie Jerusalems, doch auch diejenigen der Region Montreal, von London, Antwerpen und Benei Brak wurden bislang berücksichtigt. Die Sprache und das Sprachverhalten der Zürcher Chassidim sind hingegen noch vollkommen unerforscht. Was sich auf das Jiddische in Zürich auswirken dürfte, ist, dass die chassidischen Gemeinschaften dieser Stadt im Vergleich mit denjenigen in den obgenannten Städten deutlich kleiner sind, wodurch sie mutmasslich einerseits stärker von den Verbindungen nach Nordamerika, England, Belgien und Israel sowie ganz generell von der Fluktuation der chassidischen Bevölkerung geprägt sind und zum andern stärker im Kontakt mit der (hier schweizerdeutschen) Landessprache stehen. Der Autor dankt Zoë Belk (Montreal) und Alec Leyzer Burko (New York und Warschau) für das Vermitteln von Fachliteratur zum chassidischen Jiddisch. Für Informationen, die sich nicht in der Sekundärliteratur finden, ist er überdies mehreren Personen aus dem charedischen Umfeld zu Dank verpflichtet, allen voran drei Chassidim: Benjamin Ollech (Zürich und Israel), Shmuel Indurski (Schulleiter Talmud Toire Chajei Oilom, Zürich) und einem weiteren, der ungenannt bleiben möchte; sowie für das nichtchassidische Schulwesen Samuel Schol (Schulleiter Tif ’ eres Doniel, Zürich) und Schie Sänger (Schulleiter Jüdische Schule Zürich). Die Auskunft zur Sprachstatistik der Schweizerischen Eidgenossenschaft hat Corine Di Loreto vom Bundesamt für Statistik (Neuenburg) beigesteuert. Bibliographie Aptroot, Marion / Gruschka, Roland (2023). Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. 2., durchgesehene Auflage. München: Beck. Assaf, David / Dan, Joseph / Jacobs, Louis / Mazor, Yaakov (2008). Hasidism. In: Hundert, Gershon D. (Hrsg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. Bd 1. New Haven: Yale University Press, 659 - 681. 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Jiddisch 295 <?page no="332"?> Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika Anja Hasse, Universität Zürich Guido Seiler, Universität Zürich 1 Einleitung Wenn im Schweizer Kontext von Sprachkontaktsituationen aufgrund von Migration die Rede ist, so ist es aus heutiger Sicht naheliegend, dabei zunächst an Sprachen zu denken, die aufgrund von Einwanderungen in die Schweiz gebracht worden sind (vgl. dazu die entsprechenden Beiträge in diesem Band). Jedoch war die Schweiz jahrhundertelang, bis Ende des 19. Jahrhunderts, ein Auswanderungsland. Die in diesem Kapitel ausführlich besprochene täuferische Auswanderung betrifft nur einen kleinen Ausschnitt der Schweizer Auswanderungsgeschichte insgesamt; es handelt sich dabei jedoch um jene Auswanderung, die sprachlich bis heute am meisten Spuren hinterlassen hat. In der Gesamtschau waren die Gründe für Auswanderung aus der Schweiz äusserst vielfältig. Bevölkerungsdruck, Armut und Unterbeschäftigung waren zentrale Faktoren, die für grössere Auswanderungswellen beispielsweise im 18. - 19. Jahrhundert nach Ostpreussen, Russland, Nord- oder Lateinamerika verantwortlich waren. Frühe Formen der Auswanderung waren der Eintritt in fremde Kriegsdienste, die Auswanderung von Geistlichen, die Bildungsauswanderung in ausländische Universitätsstädte oder die Auswanderung von beruflichen Spezialisten, z. B. von Tessiner Architekten nach Italien oder von bündnerischen Zuckerbäckern in verschiedene europäische Städte. Im 17. Jahrhundert siedelten sich zahlreiche Bauern und Landhandwerker aus der Deutschschweiz in den nach dem Dreissigjährigen Krieg stark entvölkerten Gebieten des Elsass und der Pfalz an. Das Streben nach mehr Wohlstand oder auch die besseren Perspektiven, Landwirtschaft zu betreiben, machten Nordamerika zu Ende des 19. Jahrhunderts zum Ziel von fast 90 % der Schweizer Auswanderer. Alle Landesteile der Schweiz waren von Auswanderung betroffen. Bekannte Beispiele für Auswanderungsziele des 19. Jahrhunderts, die die unterschiedliche regionale und sprachliche Herkunft illustrieren, sind in Osteuropa das Deutschschweizer Zürichtal (Krim) und das Waadtländer Š abo (Bessarabien, südwestlich von Odessa), in Nordamerika die zahlreichen nach Kalifornien ausgewanderten Tessiner, wo sie bedeutend zum Weinbau beigetragen haben, oder in Südamerika die Gründung von Nova Friburgo in Brasilien um 1819 durch Westschweizer. In den allermeisten Fällen gaben die Nachfahren der Auswanderer innert weniger Generationen ihre Herkunftssprache zugunsten der Mehrheitssprache auf, jedoch bildeten sich manchmal eigentliche Kolonien, in denen sich aus einer bestimmten Region stammende Auswanderer an demselben Ort niederliessen. Hier konnte sich die hergebrachte Sprache über einen längeren Zeitraum erhalten, da es in der neuen Heimat eine genügend <?page no="333"?> grosse Gemeinschaft gab, mit der in der Sprache kommuniziert werden konnte. Ein bekanntes Beispiel - neben den oben erwähnten Siedlungen - ist Green County (Wisconsin, USA) mit den Orten New Glarus und Monroe, über dessen sprachliche Entwicklung mehr bekannt ist als bei anderen Schweizer Siedlungen. New Glarus wurde 1845 von verarmten Auswanderern aus dem Glarner Sernftal gegründet. In der Folge gab es einen über längere Zeit anhaltenden kontinuierlichen Zustrom von neuen Auswanderern aus der Deutschschweiz. Noch in den 1940er-Jahren waren in Monroe schweizerdeutsche Dialekte häufig zu hören, jedoch ist auch hier der Wechsel zum amerikanischen Englischen in den vergangenen Jahrzehnten so weit vollzogen worden, dass heute nurmehr sehr wenige Wisconsin-Amerikanerinnen und -Amerikaner mit Deutschschweizer Wurzeln geringe Kenntnisse des Schweizerdeutschen haben. Diese sind entweder selbst noch in der Schweiz aufgewachsen und emigrierten als Kinder oder junge Erwachsene, oder ihre Eltern emigrierten kurz vor ihrer Geburt. Sie stammen aber nicht von der ursprünglichen Auswandererpopulation im 19. Jahrhundert ab, sondern von späteren Auswandererfamilien. Eine auffällige Ausnahme zum Sprachwechsel, wie er sonst in fremdsprachiger Umgebung beobachtet werden kann, bildet eine Gruppierung, deren Auswanderung durch religiöse Intoleranz und Verfolgung in der Schweiz motiviert war: die Täufer. Es handelt sich dabei um eine in der Deutschschweiz der Reformationszeit entstandene radikalprotestantische religiöse Minderheit. Die Täufer wurden in der Schweiz jahrhundertelang unbarmherzig verfolgt, was sie zur Auswanderung zwang, zunächst in etwas tolerantere Gebiete in Nachbarländern und schliesslich nach Nordamerika, wo ihre Religion und Lebensweise akzeptiert wurden. Die bekannteste, aber keineswegs einzige täuferische Gruppierung sind die konservativen Amischen Alter Ordnung (Old Order Amish). Wir finden in den verschiedenen täuferischen Strömungen ein ausserordentlich breites Spektrum von möglichen Szenarien vor, wie sich eine Sprachsituation und eine Sprache in der Emigration verändern und weiterentwickeln können. Der Kontakt zur Umgebungssprache Englisch spielt dabei eine wichtige Rolle, aber auch der Kontakt der deutschen Sprachinseldialekte untereinander. In diesem Kapitel versuchen wir, dieses Spektrum an dokumentierten Entwicklungen aufzuzeigen. Wir beginnen mit Hintergrundinformationen zum Täufertum und zur täuferischen Auswanderung (Abschnitt 2). Danach skizzieren wir die unterschiedlichen heute in Nordamerika von den Nachfahren der täuferischen Schweizer Auswanderer gesprochenen deutschen Dialekte (Abschnitt 3): Pennsylvaniadeutsch, mennonitisches Berndeutsch, Amish Shwitzer und das Shweitzer der wolhynischen Mennoniten. Der darauffolgende Abschnitt 4 fasst schliesslich zusammen, welche Entwicklungswege einer Minderheitensprache sich am Beispiel der Täufer ablesen lassen: Spracherhalt, (kontaktinduzierter) Sprachwandel, Sprachbzw. Dialektwechsel und Spracherosion. Zur Auswanderungsgeschichte allgemein siehe Schelbert 1976; Head-König 2007; Perrenoud 2011. Zu Green County, Wisconsin, siehe Lewis 1970; Auer 2021. 2 Täufer und Täufertum Das Schweizer Täufertum geht auf die Reformationszeit im frühen 16. Jahrhundert zurück. Im engeren Kreis um den Zürcher Reformator Huldrych Zwingli gab es unterschiedliche Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 297 <?page no="334"?> Vorstellungen darüber, in welchem Ausmass man sich von der vorherrschenden kirchlichen Tradition lösen sollte. Die radikaleren Strömungen wünschten sich eine Kirche, die ganz von staatlichen Institutionen und Machtgefügen unabhängig ist, die sich noch konsequenter als die entstehende Reformierte Kirche an der Nachfolge Christi orientiert und deren Mitglieder nicht durch Geburt bzw. Säuglingstaufe, sondern erst als erwachsene Person aufgrund einer gewollten Entscheidung der Gemeinschaft beitreten. Eine Säuglingstaufe sahen sie daher als ungültig an. 1525 tauften sich in Zürich Conrad Grebel, Felix Manz und Jörg Blaurock gegenseitig, und es kam endgültig zum Bruch zwischen Zwingli und seinen ehemaligen Weggefährten. Neben der Erwachsenentaufe waren und sind bis heute weitere wichtige Ideale dieser Gruppe und ihrer Nachfolger - Täufer, Taufgesinnte oder (abschätzig) Wiedertäufer genannt - strikter Pazifismus, Geringschätzung von materiellem Besitz, möglichst grosse Unabhängigkeit von weltlichen und (staats-)kirchlichen Institutionen, Verweigerung des Eids gegenüber der Obrigkeit und eine ausgeprägte Orientierung an der Bergpredigt. Die Verfolgung der Täufer setzte sofort ein. 1527 wurde Felix Manz als erster Täufer in Zürich durch Ertränken in der Limmat hingerichtet. Der letzte in Bern hingerichtete Täufer war Hans Haslibacher ( † 1571) und in Zürich Hans Landis ( † 1614). Die Verfolgung hielt jedoch bis ins 18. Jahrhundert an, u. a. durch Enteignungen und Zwangskonfiszierungen, Trennung von den Kindern, Inhaftierungen, Folter, Galeerenstrafen und aktiver Suche nach Täuferverstecken durch die im Bernbiet berüchtigten Täuferjäger. Die Verfolgung wurde von der staatlichen Obrigkeit durchgeführt, aber namentlich auch von der Reformierten Kirche gutgeheissen und vorangetrieben; in der breiten Bevölkerung genossen die Täufer dagegen oft Sympathie und Solidarität. Die Erinnerung an die Verfolgung in der Schweiz ist bei den heutigen täuferischen Nachfahren der Ausgewanderten immer noch sehr präsent und Teil ihrer Identität geworden. Beispielsweise wird man als Schweizer Besucher von Amischen in den USA gelegentlich gefragt, ob die Verfolgung in der Schweiz noch anhalte. Trotz der Verfolgung breitete sich das Täufertum in den reformierten Gebieten der Deutschschweiz rasch aus und bildete längere Zeit eine Art Subkultur in den ländlichen Gebieten. Um Mitte des 17. Jahrhunderts setzte eine grössere Auswanderung ein, die die Täufer v. a. aus den Kantonen Bern und Zürich in benachbarte, tolerantere Gebiete führte: in den (zu der Zeit zum Fürstbistum Basel gehörenden) heutigen Berner und jurassischen Jura, die Franche-Comté, das Elsass und die Pfalz. In all diesen Gebieten gibt es bis heute täuferische Gemeinden, die auf Schweizer Einwanderer zurückgehen, beispielsweise in Dühren (Sinsheim) im kurpfälzischen Kraichgau, wo sich 1650 als erste Schweizer Täufer die Zürcher Hans Müller und Hans Meili mit ihren Familien niederliessen, zu denen sich in den folgenden Jahren zahlreiche weitere v. a. Berner und Zürcher Täufer dazugesellten. 1693 spalteten sich die Schweizer Täufer in zwei Strömungen. Die eine Gruppe folgte dem ursprünglich aus dem Simmental stammenden, zu der Zeit aber im elsässischen Markirch/ Sainte-Marie-aux-Mines wirkenden Jakob Ammann, der u. a. eine besonders konsequente Gemeindedisziplin und Abgrenzung der Gemeinde gegen aussen forderte. Die auf Ammanns Wirken zurückgehenden Strömungen der Schweizer Täufer werden heute als Amische zusammengefasst, die anderen als Mennoniten (nach dem niederländischen Theologen Menno Simons). Bei beiden Gruppen gibt es heute ein Spektrum von sehr konservativen bis hin zu progressiveren Strömungen. Die konservativen Strömungen 298 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="335"?> werden als Amische bzw. Mennoniten Alter Ordnung (Old Order Amish und Old Order Mennonites) bezeichnet. Ab dem frühen 18. Jahrhundert setzt eine weitere Emigration von Schweizer Amischen und Mennoniten aus ihren europäischen Exilen ein. 1710 erreicht das Schiff Maria Hope das heutige Pennsylvania mit den schweizstämmigen Kraichgauer Mennonitenfamilien Baumann, Funk, Herr, Kündig, Meili, Müller und Oberholzer. Es ist die erste von zahlreichen schweizerisch-täuferischen Einwanderungen in die Neue Welt, von der das 1719 erbaute und bis heute erhaltene Hans Herr House nahe Lancaster (Pennsylvania) zeugt. Die Vorfahren der meisten heutigen Amischen in den USA wanderten um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Elsass und der Pfalz nach Pennsylvania ein und waren dort ein kleiner Teil einer insgesamt sehr umfangreichen deutschsprachigen Population. Eine weitere, für die folgenden Ausführungen sehr wichtige Migrationsbewegung fand gegen Mitte des 19. Jahrhunderts statt, als Berner Mennoniten aus dem Jura und Berner Amische aus der Franche-Comté nach Indiana übersiedelten. Aber auch Osteuropa war Auswanderungsziel für eine Gruppe von Schweizer Mennoniten aus der Pfalz, die schliesslich nach über einem Jahrhundert in Wolhynien (heutige Ukraine) gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika übersiedelte. Diese gleich dreifache Migration - zunächst in ein benachbartes toleranteres Gebiet, dann nach Osteuropa, von dort nach Amerika - ist selten bei den Schweizer Täufern, aber sie ist dasselbe Grundmuster wie bei den beiden anderen grossen deutschsprachigen täuferischen Gruppierungen, den (Niederdeutsch sprechenden) Russlandmennoniten und den (Tirolerisch-Kärntnerisch sprechenden) Hutterern. Die Vorfahren der Russlandmennoniten stammen ursprünglich aus den Niederlanden und siedelten sich zunächst im niederpreussischen Weichseldelta an, wo sie den lokalen Dialekt annahmen. Von dort zogen sie weiter in die heutige Ukraine und schliesslich in verschiedenen Migrationsbewegungen in zahlreiche Länder Nord- und Südamerikas. Die ursprünglich aus Tirol stammenden Hutterer liessen sich in Mähren nieder, von wo aus sie nach Siebenbürgen im heutigen Rumänien zogen (und dort auf die Landler trafen, die von Österreich deportierten Kärntner Protestanten), danach in die heutige Ukraine und schliesslich nach Kanada und in die USA. In der Schweiz haben bis heute mennonitische (aber keine amischen) Gemeinden überlebt, v. a. im Jura und im Emmental. Sie sind in der Konferenz der Mennoniten der Schweiz organisiert. Für Hintergründe zu allen Aspekten des Täufertums siehe die Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online, abrufbar unter: https: / / gameo.org. Zum frühen Täufertum in der Schweiz siehe Geiser 2011; Jecker 2012; Nolt 2015: Kap. 1; https: / / www.mennlex.de. Spezifisch für Bern siehe Dellsperger und Lavater 2007, für Zürich siehe Leu und Scheidegger 2007. Zur Auswanderung siehe Nolt 2015: Kap. 2 - 3, 5, sowie spezifisch zum Kraichgau https: / / www.täuferspuren.de/ . Zur Konferenz der Mennoniten in der Schweiz siehe https: / / www.menno.ch/ de/ . Eine Übersicht zu täuferischen Erinnerungsorten in der Schweiz ist zu finden auf https: / / www.menno. ch/ de/ die-mennoniten/ historische-staetten-spuren-2/ , von wo auch der Täuferführer der Schweiz von Rediger und Röthlisberger 2018 heruntergeladen werden kann. Zimmermann 2007 ist ein Roman über das Schicksal einer Täuferin im Emmental des 17. Jahrhunderts. Alle Webseiten zuletzt aufgerufen am 30.6.2023. Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 299 <?page no="336"?> 3 Sprachen der Täufer 3.1 Pennsylvaniadeutsch Wie in Abschnitt 2 erläutert, wanderten die Vorfahren der heutigen amerikanischen Amischen und Mennoniten zunächst nach Pennsylvania aus, bevor andere Gebiete insbesondere des Mittleren Westens besiedelt wurden. Zwischen 1683 und 1774 kamen um die 81 ’ 000 Deutschsprachige im Hafen von Philadelphia an, wobei ein Höhepunkt dieser Migrationsbewegung um 1750 erreicht wurde. Die Mehrheit dieser Menschen stammte aus einem Gebiet, das sich von der Schweiz auf beiden Seiten des Rheins nach Norden bis in die Pfalz erstreckt. Unter den Einwanderern dieser Zeit war das Pfälzische einer der vorherrschenden Dialekte, jedoch nicht der einzige. Die Sprecher dieser verschiedenen Dialekte, v. a. aus dem südwestdeutschen Sprachraum (einschliesslich der Deutschschweiz), kamen erst in den USA, zunächst in Pennsylvania, miteinander in Kontakt, was dort zur Entstehung des Pennsylvaniadeutschen führte. Die Sprache wird auf Englisch Pennsylvania Dutch oder Pennsylvania German genannt, auf Pennsylvaniadeutsch wird meist von Deitsch gesprochen, und in älteren Quellen findet sich die Bezeichnung Pennsilfaanisch. Der englische Begriff Pennsylvania Dutch weist jedoch nicht auf einen Bezug zu niederländischen Dialekten hin, sondern lässt sich dadurch erklären, dass im frühen amerikanischen Englischen sowohl German als auch Dutch für Deutsch verwendet wurden, wobei German eine neutrale bis formelle, Dutch eine eher informelle Konnotation hatte. Pennsylvaniadeutsch wurde anfänglich nicht nur von Täufern gesprochen. Von den oben genannten 81 ’ 000 Migranten und Migrantinnen waren nur etwa fünf Prozent Täufer, die überwiegende Mehrheit waren Anhänger anderer reformatorischer Strömungen. Noch bis ins 20. Jahrhundert bildeten die Täufer eine Minderheit unter den Pennsylvaniadeutschsprechern. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse dramatisch. Heutzutage gibt es nur noch wenige Pennsylvaniadeutschsprecher, die keiner täuferischen Gruppierung angehören, und die meisten dieser Personen sind über 70 Jahre alt. Die Mehrheit der Nachfahren dieser nicht-täuferischen Pennsylvaniadeutschsprecher sind mittlerweile monolinguale Sprecher des amerikanischen Englischen. Bei den pennsylvaniadeutschsprachigen Täufergruppierungen stellen wir hingegen ein starkes Bevölkerungswachstum aufgrund hoher Geburtenraten fest, was zu einem massiven Anstieg der Sprecherzahlen des Pennsylvaniadeutschen geführt hat. Das Pennsylvaniadeutsche wird von der Mehrheit der Amischen (und Mennoniten) Alter Ordnung als einzige Erstsprache erworben, d. h. Kinder erwerben Pennsylvaniadeutsch als Muttersprache, Englisch lernen sie meist erst in der Schule. Zudem stellt das Pennsylvaniadeutsche die Sprache dar, die innerhalb der Gemeinschaft gesprochen wird. Das Englische ist die Sprache, die mit Nicht-Amischen verwendet wird. Die absoluten Sprecherzahlen sind zwar schwierig zu erheben, da Amische Alter Ordnung an Volkserhebungen nicht teilnehmen, doch gibt es Schätzungen. Das Young Center for Anabaptist and Pietist Studies rechnet 2022 mit knapp 400 ’ 000 Amischen. Zwar sind nicht alle Amischen pennsylvaniadeutschsprachig, was die Zahlen relativieren könnte. Doch müssen zu den amischen Sprechern des Pennsylvaniadeutschen wiederum zusätzlich die konservativen Mennoniten Alter Ordnung hinzugezählt werden, die ebenfalls Pennsylvaniadeutsch sprechen. Die Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online gibt für das Jahr 2002 etwa 20 ’ 000 getaufte Mennoniten Alter Ordnung an, wobei die noch 300 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="337"?> ungetauften Kinder und Jugendlichen von dieser Zahl nicht erfasst sind. Aufgrund sehr hoher Geburtenraten in den konservativen Gemeinschaften verdoppeln sich die Sprecherzahlen des Pennsylvaniadeutschen mit jeder Generation. Insgesamt ist also mit einigen hunderttausend Sprechern des Pennsyvlaniadeutschen zu rechnen. Vor diesen demographischen Hintergründen gehört das Pennsylvaniadeutsche - wie auch andere Sprachen ultrakonservativer religiöser Minderheiten, die die gleichen demographischen Trends aufweisen, wie beispielsweise Amish Shwitzer, Hutterisch oder die chassidischen Varietäten des Jiddischen ( ► Jiddisch) - zu den am schnellsten wachsenden Sprachen der westlichen Welt. Aufgrund seiner Entstehung teilt sich das Pennsylvaniadeutsche viele sprachliche Merkmale mit dem Pfälzischen. In den USA hat sich die Sprache jedoch von den europäischen Vorläufern unabhängig weiterentwickelt, so dass wir auch zahlreiche Merkmale finden, die in keiner anderen deutschen Varietät belegt sind (vgl. Abschnitt 3.3 für einige Beispiele). Für einen kurzen Überblick zum Pennsylvaniadeutschen siehe Louden 2006 sowie ausführlich Louden 2016. Für demographische Daten siehe die Seite zu Amish Studies vom Young Center for Anabaptist and Pietist Studies, abrufbar unter: https: / / groups.etown.edu/ amishstudies/ Stand: 28.06.2023. 3.2 Mennonitisches Berndeutsch Nicht alle Täufer, die sich auf die in Abschnitt 2 beschriebenen Immigranten in die USA zurückführen lassen, sprechen Pennsylvaniadeutsch. Weitere täuferische Sprachen sind die in diesem Abschnitt beschriebene Varietät des mennonitischen Berndeutschen, das in den USA und in der Schweiz gesprochen wird, das in Abschnitt 3.3 vorgestellte Amish Shwitzer, dessen Sprecher alle in den USA leben, sowie das in Abschnitt 3.4 dargestellte Shweitzer der wolhynischen Mennoniten. Das mennonitische Berndeutsche wird heute noch in der Schweiz und vereinzelt von einigen älteren Personen in den USA gesprochen. Aufgrund der in Abschnitt 2 beschriebenen Verfolgung sahen sich viele Täufer gezwungen, die Schweiz zu verlassen. In einigen wenigen, zumeist abgelegenen Gegenden durften sie sich jedoch auch innerhalb des Landes ansiedeln. Zu diesen Gegenden gehört der heutige Berner und teilweise jurassische Jura, wo sich Täufer seit Beginn des 18. Jahrhunderts in zunehmender Zahl dank der Erlaubnis des Fürstbischofs des Bistums Basel ansiedeln konnten. Viele dieser Täufer stammten ursprünglich aus dem Emmental. Im Jura lebten sie auf den Anhöhen, die zuvor nur im Sommer bewirtschaftet wurden, während die sonst katholische und französischsprachige Bevölkerung weiterhin in den Tälern lebte. Die geographische, aber auch fortwährende soziale Isolation hatte zur Folge, dass die Täufer im Jura ihre Sprache, namentlich das Berndeutsche, über Generationen beibehielten, ohne dass sich diese nennenswert durch den Kontakt mit dem Französischen änderte. 1819 wanderte schliesslich beinahe die vollständige Mennonitengemeinde von Sonnenberg im Jura in die USA aus, wo sie in Ohio die Siedlung Sonnebärg gründeten. Von Sonnebärg in Wayne County (Ohio) ausgehend entstanden weitere Siedlungen, so auch in Adams County (Indiana) das Städtchen Berne im Jahr 1852 (14 Jahre nach Ankunft der ersten Mennoniten aus Ohio). Heutzutage handelt es sich dabei um eine relativ progres- Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 301 <?page no="338"?> sive Mennonitengemeinde. Aktuell gibt es sowohl in Wayne County (Ohio) als auch in Adams County (Indiana) noch wenige letzte Sprecher des Berndeutschen. Das mennonitische Berndeutsche in den USA ist nach wie vor strukturell weitestgehend mit jenem aus dem Jura vergleichbar, sofern man nur die Sprache der noch tatsächlich fliessenden Sprecher berücksichtigt. Beispielsweise finden wir in der Verbform er hilft einen Vokalwechsel gegenüber dem Infinitiv helfen, wie wir ihn aus dem Standarddeutschen und dem schweizerischen Berndeutschen kennen, vgl. die Übersetzung des Stimulus He helps us von einem Sprecher aus Wayne County (Ohio) in Beispiel (1), wo der Sprecher abweichend vom Stimulus das Adverb viu ‘ viel ’ ergänzt, das Objektpronomen us jedoch nicht übersetzt. 1 Der Vokalwechsel ist insofern bemerkenswert, als sich Pennsylvaniadeutsch und Amish Shwitzer diesbezüglich anders entwickelt haben, vgl. Abschnitt 3.3. Beispiel (1) zeigt überdies ein weiteres Merkmal, das die berndeutsche Herkunft des Dialekts illustriert: die Vokalisierung von / l/ in der Verbform hilft (also hiuft) und im Adverb viel (also viu). (1) Stimulus: He helps us. Berndeutsch (Ohio): Er hiuft viu. ‘ Er hilft viel. ’ Wie auch im Berndeutschen, das in der Schweiz gesprochen wird (aber anders als im Pennsylvaniadeutschen und Amish Shwitzer, vgl. Abschnitt 3.3), lautet im mennonitischen Berndeutschen in den USA das Demonstrativpronomen das und die Relativpartikel wo, vgl. (2) und (3) aus Wayne County, Ohio. (2) Stimulus: That ’ s the guy who came yesterday. Berndeutsch (Ohio): Das isch de Gumi wo geschter cho isch. ‘ Das ist der Mann, der gestern gekommen ist. ’ (wörtlich: ‘… wo gestern gekommen ist. ’ ) (3) Stimulus: That ’ s the guy who wasn ’ t able to come yesterday. Berndeutsch (Ohio): Das isch de Cherl wo geschter nit chöne het cho. ‘ Das ist der Mann, der gestern nicht kommen konnte. ’ (wörtlich: ‘… wo gestern nicht können hat kommen. ’ ) Direkte Entsprechungen zu den Beispielen des mennonitischen Berndeutschen aus den USA finden wir im mennonitischen Berndeutschen aus dem Jura und dem Emmental. Auch hier wechselt der Vokal zwischen dem Infinitiv helfen und der Verbform er hilft, wobei der Konsonant / l/ wiederum vokalisiert wird (hilft > hiuft), vgl. (4) zum mennonitischen Berndeutschen des Jura. Mennonitische Gewährspersonen aus dem Emmental übersetzen den Satz identisch. (4) Stimulus: Er hilft uns. Berndeutsch (Jura): Er hiuft üüs. ‘ Er hilft uns. ’ Als Demonstrativpronomen wird ebenfalls das verwendet, und der Relativsatzanschluss wird wiederum mit der Partikel wo gebildet, vgl. (5) als Beispiel einer Sprecherin aus dem Jura. Aus dem Emmental liegen identische Übersetzungen dieses Satzes vor. (5) Stimulus: Das ist der Mann, der gestern nicht kommen konnte. Berndeutsch (Jura): Das isch de Maa wo geschter nit hed chönne cho. ‘ Das ist der Mann, der gestern nicht kommen konnte. ’ (wörtlich: ‘… wo gestern nicht hat können kommen. ’ ) 1 Die Transkription der Beispiele ist an die «Dialektschrift» von Dieth (1938) angelehnt, der ein System entwickelte, mit Hilfe dessen sich die schweizerdeutschen Dialekte ohne den Einsatz von Sonderzeichen orthographisch abbilden lassen. 302 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="339"?> Das mennonitische Berndeutsche ist in den USA im Schwinden begriffen. Es gibt nur noch sehr wenige ältere Sprecher, die nachfolgenden Generationen sind monolinguale Sprecher des Englischen. Das Berndeutsche dieser wenigen Sprecher weist jedoch deutliche Parallelen zum mennonitischen Berndeutschen aus der Schweiz auf, wie die Beispiele hier gezeigt haben. Weitere Beispiele, die die Nähe zwischen dem mennonitischen Berndeutschen aus den USA und der Schweiz illustrieren, finden sich in Abschnitt 3.3. Auch im Jura hat sich die sprachliche Situation des mennonitischen Berndeutschen im letzten Jahrhundert deutlich verändert. Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 ermöglichte es den Täufern, ihre Niederlassung frei zu wählen. Gleichzeitig nahm die soziale Isolation ab, was sich darin zeigt, dass ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Bau von täuferischen Versammlungshäusern bewilligt wurde, dies nicht nur im Jura, sondern auch im Emmental und etwa in Basel. In der Folge nahm der Kontakt zwischen der berndeutsch- und der französischsprachigen Bevölkerung kontinuierlich zu. Ab den 1960er-Jahren fanden mennonitische Gottesdienste auch auf Französisch statt, und 1985 änderte die Altevangelisch Taufgesinnte Gemeinde Sonnenberg ihren Namen zu Evangelische Mennonitengemeinde Sonnenberg/ Eglise évangélique Mennonite du Sonnenberg. Heutzutage ist die mennonitische Gemeinschaft im Jura zweisprachig, wobei es diesbezüglich Unterschiede zwischen den Generationen, zwischen einzelnen Sprechern und zwischen Familien gibt. Damit hat sich zwar nicht die Struktur der Sprache geändert, wohl aber deren soziolinguistische Situation. Zum mennonitischen Berndeutschen im Jura und in den USA siehe Hasse 2022. Zum mennonitischen Berndeutschen im Jura siehe Siebenhaar 2004. 3.3 Amish Shwitzer In Adams County (Indiana), wo berndeutschsprachige Mennoniten den Ort Berne gründeten (vgl. Abschnitt 3.2), siedelten sich um 1840 auch berndeutschsprachige Amische an. Diese kamen anders als die berndeutschsprachigen Mennoniten nicht aus dem Berner Jura oder aus Ohio, sondern lebten zuvor in der Franche-Comté. Vergleichbar mit den Mennoniten im Jura bildeten auch sie vor ihrer Emigration eine berndeutsche Sprachinsel in französischsprachiger Umgebung. Während aber das Berndeutsche der Mennoniten in den USA im Aussterben begriffen ist, ist die Sprache der (ursprünglich) berndeutschsprachigen Amischen sehr lebendig. Die Amischen in Adams County (Indiana) nennen sich Swiss Amish (in Abgrenzung zu den pennsylvaniadeutschsprachigen Amischen) und ihre Sprache Shwitzer. Wie auch beim Pennsylvaniadeutschen ist es schwierig, die Sprecherzahlen von Amish Shwitzer zu eruieren. In Adams County (Indiana) leben nach Zahlen des Young Center for Anabaptist and Pietist Studies an die 10 ’ 000 Schweizer Amische, was Adams County zur fünftgrössten amischen Siedlung überhaupt macht. Dies sind jedoch nicht die einzigen Schweizer Amischen. Denn es gibt in mehreren Staaten, z. B. in Missouri, Michigan und Kentucky, Tochtersiedlungen. Daneben gibt es eine weitere amische Gruppe, die nicht Pennsylvaniadeutsch spricht, sondern eine Varietät, die eng mit Shwitzer verwandt ist: In Allen County, das unmittelbar an Adams County angrenzt, wird eine Varietät gesprochen, von der berichtet wird, dass sie anstelle der berndeutschen eher elsässische Merkmale habe. Eine weiterführende Analyse dieser Varietät steht derzeit noch aus. Ein anderer Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 303 <?page no="340"?> deutlicher Unterschied zwischen Adams County und Allen County besteht hinsichtlich der Verwendung des Englischen. Sehr untypisch für Amische Alter Ordnung ist in Allen County die grosse Rolle, die das Englische selbst für die Kommunikation innerhalb dieser amischen Gemeinschaft spielt. Amish Shwitzer weist deutlich schweizerdeutsche oder gar berndeutsche Züge auf. Das Wort für ‘ immer ’ lautet geng, und der englische Satz ‘ he is going to work ’ wird als er geit ge schafe übersetzt. Damit besteht in Amish Shwitzer das berndeutsche Adverb geng weiter, und nach dem Verb gehen erscheint die Partikel ge, so wie es in allen schweizerdeutschen Dialekten in teilweise unterschiedlicher Lautform belegt ist. Dennoch handelt es sich bei Amish Shwitzer nicht einfach um eine Varietät des Berndeutschen. Im Folgenden beschreiben wir erst Beobachtungen zum Wortschatz von Amish Shwitzer, dann zu seiner Grammatik. Dabei vergleichen wir Amish Shwitzer nicht nur mit mennonitischem Berndeutsch, sondern auch mit Pennsylvaniadeutsch und mit Englisch, also mit jenen Sprachen, mit denen Amish Shwitzer in Kontakt steht. Neben berndeutschen Wörtern, wie geng, besitzt Amish Shwitzer auch Wörter, die aus den Kontaktsprachen entlehnt sind. Beispiele für Entlehnungen aus dem Englischen, die nicht an das sprachliche System von Amish Shwitzer angepasst werden, sind etwa die Bezeichnungen der Schulfächer (History, Geography etc.). Selbst in einem auf Amish Shwitzer geäusserten Satz werden diese Begriffe gleich wie im amerikanischen Englischen ausgesprochen. Sprachlich weiter integriert ist das englische Lehnwort story in einem Kompositum wie Schtori-Biecher ‘ Bücher mit Kurzgeschichten ’ (wörtlich ‘ Story-Bücher ’ ). Zum einen wird die Aussprache von story an das lautliche System von Amish Shwitzer angeglichen (story > Schtori, parallel etwa zu Schtoff ‘ Stoff ’ ). Zum anderen wird das Lehnwort als Erstglied in einem Kompositum mit einem alemannischen Zweitglied (-Biecher) verwendet. Eine andere Form von Entlehnung liegt in Fällen von sogenannter Lehnbedeutung vor. Dabei wird nicht die Wortform, sondern eine Bedeutung entlehnt. Ein Beispiel ist die Bedeutungserweiterung des ursprünglich berndeutschen Verbs luege ‘ schauen ’ , das im amischen Shwitzer die neue Bedeutung ‘ aussehen ’ erhält, wie in Es luegt guet! ‘ Es sieht gut aus! ’ . Im Englischen bedeutet to look sowohl ‘ schauen ’ (z. B. Look at this! ) als auch ‘ aussehen ’ (z. B. That looks great). Das berndeutsche Verb luege trägt nur die erste Bedeutung, für die zweite Bedeutung wird das Verb uusgsee ‘ aussehen ’ verwendet. Amish Shwitzer hat hingegen die zweite Bedeutung von to look entlehnt, so dass Amish Shwitzer luege nun ebenfalls beide Bedeutungen, also ‘ sehen ’ und ‘ aussehen ’ , aufweist. Analoge Fälle sind Es schaffet guet ‘ Es funktioniert gut ’ (wörtlich ‘ Es schafft (arbeitet) gut ’ , vgl. Englisch It works well) oder Wo sit dir am blibe? ‘ Wo seid ihr untergebracht? ’ (wörtlich ‘ Wo seid ihr am Bleiben? ’ , vgl. Englisch Where are you staying? ). Auch aus dem Pennsylvaniadeutschen sind Wörter entlehnt worden. Beispiele dafür sind Hinkel für ‘ Huhn ’ oder Goul für ‘ Pferd ’ . Zwar gibt es das Wort Gaul auch in schweizerdeutschen Dialekten. Anders als in diesen hat die Bezeichnung Goul in Amish Shwitzer keine abwertende Bedeutung, sondern stellt den neutralen Begriff für ‘ Pferd ’ , ein in der amischen Kultur sehr wichtiges Tier, dar. Durch den Kontakt mit dem Pennsylvaniadeutschen wurde dieses Wort sozusagen semantisch aufgewertet. Im Folgenden interessiert uns nun, inwiefern wir in Amish Shwitzer grammatische Merkmale finden, die sich durch Sprachkontakt erklären lassen. Dies sind Merkmale, die sich nicht vom Berndeutschen herleiten lassen und die wir demnach auch nicht im 304 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="341"?> mennonitischen Berndeutschen finden, das - wie in Abschnitt 3.2 gezeigt - das in der Schweiz gesprochene Berndeutsche weitgehend weiterführt. Zum einen sehen wir in Amish Shwitzer keinen Vokalwechsel in der Verbform er hilft im Vergleich zum Infinitiv helfen. Zum anderen bleibt die für das Berndeutsche charakteristische Vokalisierung von / l/ aus, vgl. (6). (6) Stimulus: He helps us. Amish Shwitzer: E hälft is. ‘ Er hilft uns. ’ Anders als im mennonitischen Berndeutschen lautet das Demonstrativpronomen auf Amish Shwitzer sa(l) - und nicht etwa das - und als Relativpartikel tritt unter anderem as auf, vgl. (7). Die Relativpartikel wo, wie wir sie im mennonitischen Berndeutschen gesehen haben, wird von Shwitzer-Sprechern nicht verstanden, da für sie wo eine klar lokale Bedeutung hat. (7) Stimulus: That ’ s the guy who wasn ’ t able to come yesterday. Amish Shwitzer: Sa isch de Maan as het ned chente cho geschte. ‘ Das ist der Mann, der gestern nicht kommen konnte. ’ (wörtlich: ‘… as hat nicht könnten kommen gestern. ’ ) Wie erklären sich nun die Unterschiede zwischen Amish Shwitzer und mennonitischem Berndeutsch, wenn die geographischen und historischen Hintergründe beider Sprachen einander so ähnlich sind? Einen Hinweis bietet der Vergleich mit dem Pennsylvaniadeutschen. Wie in Amish Shwitzer sind auch im Pennsylvaniadeutschen Vokalwechsel bei Verben, wie zwischen Standarddeutsch helfen und er hilft, ausgeglichen. Diesen Ausgleich finden wir bereits im Pfälzischen. Beispiel (8) zeigt die pennsylvaniadeutsche Form von einer jungen Sprecherin aus Lancaster County (Pennsylvania): (8) Stimulus: He helps us. Pennsylvaniadeutsch: Ea helft uns. ‘ Er hilft uns. ’ Das Demonstrativpronomen sal, das zwar in Amish Shwitzer, nicht aber im mennonitischen Berndeutschen belegt ist, finden wir auch im Pennsylvaniadeutschen. Ebenso sehen wir eine Parallele im Relativanschluss zwischen Amish Shwitzer und Pennsylvaniadeutsch. Beide Sprachen verwenden die Partikel as, welcher im mennonitischen Berndeutschen die Partikel wo gegenübersteht, vgl. für beide Phänomene Beispiel (9). (9) Stimulus: That ’ s the guy who wasn ’ t able to come yesterday. Pennsylvaniadeutsch: Sal is de Man as geschta nit khume hat khene. ‘ Das ist der Mann, der gestern nicht kommen konnte. ’ (wörtlich: ‘… as gestern nicht kommen hat können. ’ ) Amish Shwitzer hat also berndeutsche Wörter (wie etwa das Adverb geng) und schweizerdeutsche Konstruktionen (wie etwa die Verwendung der Partikel ge in er geit ge schafe) erhalten. Gleichzeitig hat es Funktionswörter aus dem Pennsylvaniadeutschen entlehnt, wozu das Demonstrativum sal und die Relativpartikel as gehören, und es verhält sich etwa im ausbleibenden Vokalwechsel in der Entsprechung zu neuhochdeutsch er hilft wie das Pennsylvaniadeutsche. Im Folgenden möchten wir anhand eines weiteren Beispiels illustrieren, wie weit sich Amish Shwitzer in seiner Grammatik dem Pennsylvaniadeutschen angeglichen hat. Dabei wird ersichtlich, dass es grammatische Konstruktionen Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 305 <?page no="342"?> gibt, die sich Amish Shwitzer und Pennsylvaniadeutsch teilen, die im mennonitischen Berndeutschen, sei es jenes aus der Schweiz oder jenes aus den USA, so nicht existieren. Im Berndeutschen sind Konstruktionen mit am + Infinitiv, also Entsprechungen zu ich bin am Kochen, möglich, wenn sie eine progressive Bedeutung haben, also beschreiben, dass etwas gerade gemacht wird (z. B. Berndeutsch er isch grad am Rouke ‘ er ist gerade am Rauchen ’ ). Allerdings können sie nicht verwendet werden, um Zukunftsbezug auszudrücken, wie dies im Englischen möglich ist (z. B. Englisch I am leaving tomorrow). Im mennonitischen Berndeutschen wird der Stimulus Ich weiss nicht, wann sie kommen (werden) entsprechend ohne Progressiv übersetzt, vgl. (10) aus dem Jura bzw. (11) aus dem Emmental. Wird eine Konstruktion mit Progressiv suggeriert (also ich weiss nicht, wann sie am Kommen sind), wird diese von den Sprechern des mennonitischen Berndeutschen abgelehnt. (10) Berndeutsch (Jura): I weiss nid wän das si chöme. ‘ Ich weiss nicht, wann sie kommen. ’ (wörtlich: ‘… wann dass sie kommen ’ ). (11) Berndeutsch (Emmental): I wees ned wen si chöme. ‘ Ich weiss nicht, wann sie kommen. ’ Eine vergleichbare Übersetzung liegt aus dem mennonitischen Berndeutschen aus den USA vor, wobei hier der Stimulus I don ’ t know when they are coming lautet, vgl. (12) von einer Sprecherin aus Adams County (Indiana). Obwohl der englische Stimulus eine Progressivkonstruktion (they are coming) enthält, wird diese im mennonitischen Berndeutschen nicht verwendet. (12) Berndeutsch (Indiana): I weis ned wen si chöme. ‘ Ich weiss nicht, wann sie kommen. ’ Anders sieht dies in Amish Shwitzer aus, wo der gleiche Stimulus mit einer am- Progressivkonstruktion übersetzt wird, wie dies die Beispiele in (13) und (14) zeigen ( … si am cho sin bzw. … si sin am cho). (13) Amish Shwitzer: I weis nit wen si am cho sin. ‘ Ich weiss nicht, wann sie kommen. ’ (wörtlich: ‘… wann sie am Kommen sind. ’ ) (14) Amish Shwitzer: I weis ned wen as si sin am choa. ‘ Ich weiss nicht, wann sie kommen. ’ (wörtlich: ‘… wann dass sie sind am Kommen. ’ ) Während diese Konstruktion in dieser Funktion im mennonitischen Berndeutschen nicht vorkommt (weder in der Schweiz noch in den USA), finden wir direkte Entsprechungen zu (13) und (14) im Pennsylvaniadeutschen, vgl. (15). Analog zur ing-Form im Englischen kann die am-Konstruktion im Pennsylvaniadeutschen - und in Amish Shwitzer - ausdrücken, dass eine Handlung gerade vollzogen wird, oder sie kann - wie im konkreten Fall - Zukunftsbezug ausdrücken. Diese letztere Funktion ist uns sonst aus keinem anderen Dialekt des Deutschen bekannt. (15) Pennsylvaniadeutsch: Ich wees net wan si an khume sin. ‘ Ich weiss nicht, wann sie kommen. ’ (wörtlich: ‘… wann sie am Kommen sind. ’ ) Amish Shwitzer und Pennsylvaniadeutsch sind nicht nur darin vergleichbar, dass die am- Konstruktion Zukünftigkeit ausdrücken kann, sondern auch darin, dass die Konstruktion in ihrer progressiven Funktion (eine Handlung wird gerade vollzogen) sogar obligatorisch ist. Diese obligatorische Verwendung von Progressiv lässt sich mit den oben besprochenen Fällen von Lehnbedeutung vergleichen. Im (mennonitischen) Berndeutschen kann die Frage wo ist Peter gerade? entweder mit (vgl. das oben genannte Beispiel er isch am Rouke) 306 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="343"?> oder ohne Progressivkonstruktionen beantwortet werden (z. B. er roukt). Auf Englisch muss in einem solchen Kontext hingegen Progressiv verwendet werden (z. B. he is smoking). Pennsylvaniadeutsch und Amish Shwitzer haben nun nicht die Verbformen aus dem Englischen übernommen, sondern die abstrakte Regel, dass die Verwendung des Progressivs in diesem Kontext nicht (mehr) optional ist, wie dies noch im (mennonitischen) Berndeutschen der Fall ist. Dies ist jedoch nicht die einzige grammatische Entlehnung aus dem Englischen, die wir bei der Progressivkonstruktion im Pennsylvaniadeutschen und in Amish Shwitzer finden. In beiden Sprachen - und im Englischen - kann Progressiv im Passiv erscheinen. Als Beispiel gilt (16) für Amish Shwitzer. Bittet man Sprecher des mennonitischen Berndeutschen um eine Übersetzung desselben Stimulus, wird dieser ohne Progressiv und oft im Aktiv wiedergegeben, vgl. (17). Denn Progressiv ist im mennonitischen Berndeutschen in einer Passivkonstruktion generell nicht möglich. Beispiel (16) illustriert überdies den Gebrauch der Präteritumsform war im amischen Shwitzer, der im Berndeutschen nicht möglich ist (wohl aber im Pennsylvaniadeutschen). (16) Stimulus A year ago this house was still being built Amish Shwitzer: Es Joor zrig war s Huus als noch am bout were. ‘ Vor einem Jahr wurde das Haus immer noch gebaut. ’ (wörtlich ‘ Ein Jahr zurück war das Haus immer noch am Gebaut werden. ’ ) (17) Berndeutsch (Jura): Voremne Jaar simmer no am boue gsi. ‘ Vor einem Jahr sind wir noch am Bauen gewesen. ’ Nun kopieren Amish Shwitzer und Pennsylvaniadeutsch nicht vollständig die englische Grammatik. Zwar muss auf Amish Shwitzer und auf Pennsylvaniadeutsch Futur nahezu obligatorisch markiert werden, während auch dies im Berndeutschen nur optional gemacht wird. Die Verwendung der Progressivform, wie oben beschrieben, ist dabei nur eine Möglichkeit. Sowohl auf Amish Shwitzer als auch auf Pennsylvaniadeutsch gibt es neben der Progressivform weiter eine Futurbildung mit einem Hilfsverb, das dem neuhochdeutschen zählen entspricht. Wie auch im Englischen bestehen also mehrere Möglichkeiten der Futurbildung nebeneinander. Aber welche Konstruktionen im Einzelfall verwendet wird, kann vom Englischen her nicht vorhergesagt werden. Hier muss die Entlehnung anders beschrieben werden, und zwar als zweistufiger Wandelprozess. Zunächst hat das Pennsylvaniadeutsche aus eigenen formalen Mitteln neue Konstruktionen entwickelt, mit denen es die englische Obligatorizität des Zukunftsausdrucks weitgehend nachbaut. Dies ist u. a. die Futurbildung mit zählen. In einem zweiten Schritt hat Amish Shwitzer dieses System dann entlehnt, und zwar mit den Regeln (Futur muss weitgehend obligatorisch grammatisch markiert werden) und mit den Formen (zählen als Hilfsverb). Damit teilen sich Amish Shwitzer und Pennsylvaniadeutsch grammatische Konstruktionen, durch die sie vom mennonitischen Berndeutschen, aber auch von anderen deutschen Dialekten deutlich abgehoben werden. Die Ähnlichkeit zwischen Amish Shwitzer und Pennsylvaniadeutsch ist nicht zufällig, sondern resultiert einerseits aus intensivem Kontakt zwischen diesen beiden Sprachen, da beide von Amischen Alter Ordnung gesprochen werden, und andererseits aus dem Kontakt mit dem Englischen, das die Umgebungssprache darstellt. Die hier besprochenen Beispiele sind hierfür nur exemplarisch. Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 307 <?page no="344"?> Allerdings gibt es auch Belege dafür, dass Amish Shwitzer eigene Entwicklungen durchlaufen hat, die wir weder im Englischen noch im Pennsylvaniadeutschen finden. Ein Beispiel im Wortschatz ist der Schaff-Faari ‘ bezahlter nicht-amischer Fahrer, der die Amischen mit dem Auto an ihre Arbeitsplätze bringt ’ . Dieses Wort ist unseres Wissens im Pennsylvaniadeutschen unbekannt, und es scheint auch kein direktes englisches Äquivalent zu geben. Ein grammatisches Beispiel ist die Endung -t in der 3. Person Singular Präsens, die auch auf Modalverben übertragen worden ist (d. h. Verben wie können, müssen etc.), die weder im Berndeutschen noch im Pennsylvaniadeutschen oder Englischen eine solche Endung tragen: er choat ‘ er kann ’ (Berndeutsch er cha_), si must (Berndeutsch si mues_). 2 Im mennonitischen Berndeutschen aus den USA finden wir weder die zuletzt genannten Eigenentwicklungen von Amish Shwitzer noch die zuvor genannten Beispiele für kontaktinduzierten Sprachwandel. Das mennonitische Berndeutsche verhält sich damit sprachlich viel konservativer als Amish Shwitzer. Dieser Unterschied erklärt sich dadurch, dass Amish Shwitzer eine lebendige, im Alltag gesprochene Sprache ist, die sich durch die dauernde Sprechaktivität auch verändert hat und verändern kann. Dagegen ist im mennonitischen Berndeutschen in den USA der Sprachwandel quasi zum Stillstand gekommen. Wir sehen hier also zwei Phänomene, die sich gegenseitig bedingen: Die nur sehr eingeschränkte Verwendung der Sprache erschwert Innovationen in der Sprache, und fehlende Innovationen können wiederum ein Indikator dafür sein, dass die Sprache kaum noch verwendet wird. Zur Geschichte und Kultur der Schweizer Amischen in Adams County siehe Bachmann-Geiser und Bachmann-Geiser 1988. Zu Amish Shwitzer siehe Humpa 1996; Seiler 2017; Hasse und Seiler im Druck. Zu Unterschieden zwischen Amish Shwitzer und mennonitischem Berndeutsch in den USA siehe Hasse und Seiler 2023a. Zu Allen County siehe Thompson 1994; Petrovich 2013. 3.4 Das Shweitzer der wolhynischen Mennoniten Die Nachkommen der wolhynischen Schweizer Mennoniten leben heute in Kansas und South Dakota, USA. Die Migrationsgeschichte dieser «mobilen Sprachinsel» (Rein 1977: 11) ist besonders komplex. 1671 siedelt sich eine grössere Gruppe von Berner Täufern in der Pfalz (in der Gegend von Sippersfeld) an. Der erste bekannte Einwanderer war Jost Crayenbühl aus Zäziwil BE. Über ein Jahrhundert später, zwischen 1784 - 1786, wandern 28 Familien weiter nach Galizien (um Lublin im heutigen Polen). Sie ziehen 1797 weiter nach Wolhynien im Nordwesten der heutigen Ukraine, in die Gegend um Dubno. 1802 schliesst sich ihnen dort eine aus sechs Familien bestehende kleine Gruppe von Berner Amischen aus der Franche-Comté an. Nahezu alle wolhynischen Schweizer Mennoniten verlassen 1874 das zaristische Russland, als ihre bisherige Befreiung von der Wehrpflicht aufgehoben wird. Insgesamt 159 Familien siedeln nach South Dakota (Hutchinson und Turner Counties) und Kansas (Harvey County) über. Nur schon aus der Selbstbezeichnung der Sprache als Shweitzer (und nicht z. B. Shwitzer) wird deutlich, dass der Dialekt der wolhynischen Mennoniten kein Schweizerdeutsch ist. In den ca. hundert Jahren in der Pfalz hat ein vollständiger Dialektwechsel 2 Ohne historischen Zusammenhang mit Amish Shwitzer finden wir die t-Endung überdies in den Südwalser Sprachinseln im Piemont und ganz vereinzelt im Wallis (SDS III: 84, 86, 109). 308 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="345"?> zum Pfälzischen stattgefunden. Diesen pfälzischen Dialekt brachten die wolhynischen Mennoniten in polnisch- und ukrainischsprachiges Gebiet und hielten dort an ihm fest, ohne zu den Umgebungssprachen zu wechseln. Hopp und Putnam rechneten 2015 mit nur noch 25 - 30 hochbetagten Sprecherinnen und Sprechern in Kansas, wobei die Ausdrucksfähigkeit in Shweitzer generell eingeschränkt und die Kompetenzunterschiede sehr gross seien. Der weitgehende Sprachwechsel zum monolingualen Englischen muss sich in den letzten 50 Jahren vollzogen haben, denn Rein (1977: 11) berichtet, dass noch in den 1960er- Jahren der Dialekt von den meisten Erwachsenen als Erstsprache gesprochen, aber von Jugendlichen nurmehr passiv verstanden worden sei. Die folgenden, der Literatur entnommenen Beispiele machen deutlich, dass es sich beim wolhynischen Shweitzer um einen (Amerika-)Pfälzischen und nicht einen schweizerdeutschen bzw. berndeutschen Dialekt handelt. Wie im Pfälzischen, aber anders als in allen schweizerdeutschen Dialekten, ist mittelhochdeutsches -uozu einem langen uu monophthongiert worden, z. B. Fuus ‘ Fuss ’ , Kuu ‘ Kuh ’ (vgl. Berndeutsch: Fuess, Chue). Ebenfalls wie im Pfälzischen sind die mittelhochdeutschen Langvokale î und û diphthongiert worden wie in raise ‘ reissen ’ oder Haus ‘ Haus ’ , während das Berndeutsche hier den älteren Lautstand zeigen würde (riisse, Huus). Dagegen ist anlautendes k- (wiederum wie im Pfälzischen) erhalten, also kald ‘ kalt ’ , Kind ‘ Kind ’ , koche ‘ kochen ’ , während es im Berndeutschen zu chverschoben wäre (chalt, Chind, choche). Und wo Berndeutsch anlautendes pfzeigt, tritt im wolhynischen Shweitzer (wie im Pfälzischen) pauf, z. B. Plaum ‘ Pflaume ‘ , Peif ‘ Pfeife ’ (vs. Berndeutsch Pfluume, Pfiiffe). Rein (1977: 202) schliesst, dass die (endogamen, also genetisch von der lokalen Bevölkerung weiterhin isoliert lebenden) Mennoniten während ihres Pfälzer Exils «ungeachtet der sonstigen Distanz zu ihrer Umgebung [ … ] sich sprachlich an diese weitgehend angepasst» haben, so dass sie «als sprachliche Pfälzer» nach Osteuropa weiterwanderten. Der wolhynisch-mennonitische Dialekt hat sich somit zwar ebenso wie das Pennsylvaniadeutsche aus dem Pfälzischen entwickelt, jedoch gab es unseres Wissens nie einen Kontakt zwischen diesen beiden Sprechergruppen. Daher ist zu vermuten, dass das Wolhynische spezifische, in Amerika entstandene Entwicklungen des Pennsylvaniadeutschen nicht zeigt. Es ist sozusagen ein Vergleichsmodell für ein Amerikapfälzisch, das nicht Pennsylvaniadeutsch ist. Ein Beispiel, das den Unterschied illustriert, ist die Einleitung von Relativsätzen. Im Pennsylvaniadeutschen werden Relativsätze mit as (< dass) eingeleitet, vgl. (18); vgl. auch (9). (18) Pennsylvaniadeutsch: säl is de man as me an schafe sin mit moa ‘ Das ist der Mann, mit dem wir morgen arbeiten werden ’ (wörtlich: ‘… as wir am Schaffen sind mit morgen. ’ ) Im wolhynischen Shweitzer dagegen wird der Relativsatz, wie im Pfälzischen (und notabene Schweizerdeutschen), mittels wo eingeleitet, vgl. (19), vgl. auch (2), (3) und (5) zum mennonitischen Berndeutschen aus Europa bzw. aus Amerika: (19) Wolhynisch: die wo in die Schul jetzt sin(d) ‘ diejenigen, die jetzt in der Schule sind ’ (wörtlich: ‘ die, wo in die Schule jetzt sind. ’ ) Zur Geschichte der wolhynischen Mennoniten siehe Schrag 1959; Rein 1977: 9 - 11, 200 - 216; sowie die Seite der Swiss Mennonite Cultural & Historical Association, abrufbar unter: https: / / www.swissmennonite.org, Stand: 17.06.2023. Linguistische Einzelstudien sind Putnam 2012; Hopp Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 309 <?page no="346"?> und Putnam 2015. Zum Relativanschluss im wolhynischen Schweitzer vgl. Johannessen und Putnam 2020: 795. 4 Unterschiedliche sprachliche Entwicklungswege bei den Täufern Spracherhalt: Damit eine eingewanderte Sprache über einen längeren Zeitraum erhalten werden kann, müssen drei Faktoren zwingend gegeben sein: eine Gemeinschaft von möglichen Kommunikationspartnern, Domänen und die Weitergabe an die nächsten Generationen. Domänen heisst, dass es genügend Gesprächsthemen geben muss, die in der Minderheitensprache bewältigbar sind und für die der Gebrauch der Minderheitensprache sozial angemessen ist. Der wichtigste zwingende Faktor ist allerdings die Weitergabe der Sprache an die nächsten Generationen. Die hier vorgestellten (und viele weitere) Minderheitensprachen existieren nur in gesprochener Form, sie werden nicht schriftlich fixiert oder schulisch vermittelt und werden ausschliesslich im ungesteuerten frühkindlichen Erstspracherwerb erlernt. Damit die Kinder die Sprache erwerben können, müssen sie die Gelegenheit dazu haben, d. h. die erwachsenen Bezugspersonen müssen mit den Kindern in der Sprache interagieren. Wenn dies (wie bei den Amischen) eine kulturell übliche Praxis darstellt, wächst eine hinreichend grosse Sprachgemeinschaft heran; wenn die Minderheitensprache nur in einzelnen Familien an die nächste Generation weitergeben wird bzw. wurde (wie bei den Berner Mennoniten in Ohio und Indiana), wachsen bestenfalls vereinzelte kompetente Sprecher und Sprecherinnen heran, die aber als Erwachsene wenig oder keine Gelegenheit haben werden, die Sprache zu benutzen. Die hier vorgestellten täuferischen Gruppierungen sind teilweise konfessionell endogam. Das bedeutet, dass es üblich ist, innerhalb derselben Religionsgemeinschaft zu heiraten. Während bei den Amischen Zugehörigkeit zur amischen Kirche mit dem Beherrschen der Minderheitensprache einhergeht, ist bei den Berner Mennoniten in Ohio und Indiana und bei den wolhynischen Mennoniten die religiöse Zugehörigkeit entkoppelt von der sprachlichen, so dass die konfessionelle Endogamie nicht mehr unbedingt dafür sorgt, dass beide Elternteile der Minderheitensprache mächtig sind. Sehr wichtig für den Spracherhalt in einem Teil der täuferischen Gemeinschaften ist zudem die Nutzung der Minderheitensprache als Ausdruck einer separaten, von der Mehrheitsgesellschaft abgegrenzten Identität. Die Motivation zur Abgrenzung der eigenen Identität von der Mehrheitsgesellschaft ist bei den täuferischen Gruppierungen aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte generell sehr hoch. Es ist aber variabel, ob hierfür die Sprache genutzt wird. Bei den Amischen ist dies der Fall, und zwar allgemein in Abgrenzung von den ‘ Englischen ’ , wie sie die nicht-amische Bevölkerung nennen, aber auch inner-amisch bei den Schweizer Amischen in Indiana gegenüber ihren als Hochtitschi ‘ Hochdeutsche ’ bezeichneten, Pennsylvaniadeutsch sprechenden Glaubensgeschwistern. Dass ein Bewusstsein um die eigene Herkunft und Identität von der Sprache losgelöst und auf andere Ebenen verlagert sein kann, zeigen die (nahezu vollständig monolingual englischsprachigen) Berner Mennoniten in Indiana und Ohio: Einerseits ist ihre spirituelle Identität eine ‘ innerliche ’ Angelegenheit, die sie nicht mit äusseren Kennzeichen sichtbar machen, auch nicht (mehr) sprachlich. Andererseits begannen sie nach dem fast vollständig erfolgten Sprachwechsel, Swissness bewusst zu inszenieren, etwa an den jährlich in Berne (Indiana) im Sommer stattfindenden Swiss Days, oder in der Architektur, wo in Berne erst 310 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="347"?> in jüngerer Zeit deutliche Schweizer/ Berner Reminiszenzen erbaut worden sind, am augenfälligsten ist eine überdimensionierte Kopie des Berner Zytgloggeturms. Nichts davon findet sich bei den Amischen, aber durchaus in anderen Schweizer Siedlungen, wie z. B. in Green County (Wisconsin, USA). Welchen spracherhaltenden Einfluss Schriftlichkeit, Kodifizierung und schulische Vermittlung haben können, lässt sich an den hier besprochenen Dialekten nicht ablesen, da sie alle nur in mündlicher Form existieren und auch nicht unterrichtet werden. Immerhin kann aber festgehalten werden, dass Spracherhalt durchaus möglich ist, auch wenn Unterricht und Schriftlichkeit vollständig in der Mehrheitssprache erfolgen. Stabile Zweisprachigkeit im Englischen und im eigenen Dialekt ist in den amischen Gemeinschaften ein erstrebenswertes (und auch erreichtes) Ziel. Die Amischen sind untereinander - gar nicht so unähnlich wie ihre Deutschschweizer Vorfahren - medial diglossisch, d. h. die Schriftlichkeit findet in einer anderen Sprachform statt (Englisch; vgl. Standardsprache in der Schweiz) als die Mündlichkeit (Pennsylvaniadeutsch bzw. Shwitzer; vgl. Dialekte in der Schweiz). Ebenfalls keine Rolle spielt bei den hier besprochenen Gemeinschaften der Zustrom neuer Auswanderer, der in anderen Populationen durchaus spracherhaltend wirken kann, wie sich wiederum anhand von Green County (Wisconsin, USA) zeigen lässt: Erst nach Mitte des 20. Jahrhunderts nahm der Zustrom neuer Einwanderer stark ab und parallel dazu der Gebrauch des Schweizerdeutschen. (Kontaktinduzierter) Sprachwandel: Wie die Abschnitte 3.2 und 3.3 gezeigt haben, unterscheiden sich das mennonitische Berndeutsche und Amish Shwitzer auch hinsichtlich des Einflusses anderer Sprachen. Beide Sprachen haben zunächst in sozialer und teilweise auch geographischer Isolation bestanden. Die Sprachgemeinschaften des mennonitischen Berndeutschen in der Schweiz und in den USA haben diese Isolation in den letzten Jahrzehnten aufgebrochen. Die Sprachgemeinschaft in der Schweiz ist überwiegend zweisprachig geworden und spricht neben Berndeutsch nun auch Französisch; die Sprachgemeinschaft in den USA hat den Sprachwandel hin zum Englischen vollzogen. Die Schweizer Amischen halten an ihrer sozialen Isolation fest, indem sie sich von der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft deutlich abgrenzen. Bemerkenswerterweise ist Amish Shwitzer jedoch viel innovativer als das mennonitische Berndeutsche. Ein Grund dafür ist Sprachwandel, der durch Kontakt mit anderen Sprachen bedingt ist. In Abschnitt 3.3 werden Beispiele für Phänomene in Amish Shwitzer besprochen, die so nicht im mennonitischen Berndeutschen bestehen. Diese Phänomene sind teilweise durch den engen Kontakt mit dem Englischen und dem Pennsylvaniadeutschen entstanden, teilweise sind es Eigenentwicklungen von Amish Shwitzer. Sprachwechsel und Dialektwechsel: Am Beispiel des mennonitischen Berndeutschen in den USA und im Jura können wir in Echtzeit beobachten, wie sich Sprachwechsel vollzieht. In den USA gibt es nur noch wenige Sprecher des mennonitischen Berndeutschen, die alle über 70 Jahre alt sind. Diese Sprecher verwenden die Sprache vereinzelt noch mit ihren Ehepartnern, falls diese ebenfalls berndeutschsprachig aufgewachsen sind, doch selbst in diesen Ehen stellt Englisch die dominante Sprache dar. Die Kinder dieser letzten Sprecher des mennonitischen Berndeutschen haben, wenn überhaupt, teilweise Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 311 <?page no="348"?> noch passive Kenntnisse des Berndeutschen. Der Sprachwechsel vom Berndeutschen hin zum Englischen ist unter den bernstämmigen Mennoniten in Ohio und Indiana demnach fast vollzogen. Wenn die Schweizer Herkunft dennoch repräsentiert werden soll, dann geschieht dies über folkloristische Symbole. Im Jura ist der Sprachwechsel dagegen weniger weit fortgeschritten. Hier gibt es bis in die jüngsten Generationen Muttersprachlerinnen und Muttersprachler des Berndeutschen. Dennoch nimmt die Bedeutung des Französischen innerhalb der ursprünglich berndeutschsprachigen Gemeinschaft zu. Die Abnahme der sozialen Isolation, der die Mennoniten im Jura über Generationen ausgesetzt waren, ermöglicht intensiveren Kontakt mit Personen aus der unmittelbaren Umgebung und somit Sprachkontakt mit dem Französischen. In der jüngsten Generation wird Berndeutsch meist nur noch dann erworben, wenn beide Elternteile Berndeutsch sprechen. In zweisprachigen Familien überwiegt das Französische, da es auch die Umgebungssprache darstellt. Somit verhält sich das mennonitische Berndeutsche in jüngster Zeit so, wie es sich bei anderen Herkunftssprachen beobachten lässt und wie wir es für die zahlreichen anderen Schweizer Auswanderersprachen ebenfalls vermuten können. Typischerweise wird eine Sprache von Einwanderern der ersten Generation auch in fremdsprachiger Umgebung noch als Muttersprache gesprochen. Die zweite Generation wächst zweisprachig auf und spricht sowohl die Umgebungssprache als auch die Herkunftssprache der Eltern. Meist hat bereits die dritte Generation den Sprachwechsel vollzogen und wächst einsprachig in der Umgebungssprache auf. Der Sprachwechsel ist verlangsamt oder gar eine Zeitlang ganz aufgehalten, wenn beide Elternteile die Herkunftssprache sprechen oder wenn über einen längeren Zeitraum (wie in Green County, Wisconsin) neue Einwanderer dazustossen. Bemerkenswert am mennonitischen Berndeutschen - und zwar sowohl im Jura als auch in den USA - ist somit, dass der Prozess des Sprachwechsels viel später eingesetzt hat und von der ersten Besiedelung losgelöst ist. Beim mennonitischen Berndeutschen ist die erste Generation, wie wir sie sonst bei Herkunftssprachen kennen und nach der der Sprachwechsel einsetzt, nicht jene, die sich im Jura bzw. in den USA erstmals angesiedelt hat. Zu dieser Zeit hat nämlich die soziale und somit auch die sprachliche Isolation den Prozess des Sprachwechsels zunächst verhindert. Erst eine Öffnung dieser sozialen Grenze hat dazu geführt, dass der Sprachwechselprozess, wie wir ihn schon im 19. Jahrhundert erwartet hätten, im 20. Jahrhundert einsetzte. Einen Fall von vollständigem Dialektwechsel beobachten wir bei den wolhynischen Mennoniten zur Zeit ihres Exils in der Pfalz. Spätestens nach ca. drei Generationen ist ihr ursprünglich berndeutscher Dialekt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein vollkommen pfälzischer geworden. Diese Beobachtung ist sehr wertvoll, denn sie weist darauf hin, dass täuferische Gruppierungen in ihren europäischen Exilen im 17. - 19. Jahrhundert ihre Dialekte in anderssprachiger (französischer, polnischer, ukrainischer) Umgebung zwar erhalten haben, sich aber in sprachlich engverwandter aber doch andersdialektaler Umgebung bald sprachlich anpassten. Wir können daher vermuten, dass die ersten täuferischen schweizstämmigen Amerika-Einwanderer im 18. Jahrhundert bereits die Dialekte ihrer deutschsprachigen Exilumgebungen nach Pennsylvania brachten, d. h. Pfälzisch und Elsässisch, während im 19. Jahrhundert aus den anderssprachigen (nämlich französischen) Umgebungen des Juras und der Franche-Comté berndeutsche Dialekte nach Amerika gebracht wurden. 312 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="349"?> Spracherosion: Am mennonitischen Berndeutschen in den USA können wir noch einen weiteren sprachlichen Prozess beobachten, jenen der Spracherosion. In Wayne County (Ohio) gibt es nur noch wenige Sprecher und Sprecherinnen des Berndeutschen, und von diesen wiederum spricht nur eine Minderheit zumindest hin und wieder noch Berndeutsch. Häufiger sind Sprecher, die zwar berndeutschsprachig aufgewachsen sind, die jedoch im Laufe ihres Lebens den Sprachwechsel zum Englischen vollzogen haben. Wenn sie - teilweise nach Jahrzehnten - erstmalig wieder Berndeutsch sprechen, ist dieses Berndeutsch durch spracherodierende Prozesse charakterisiert. Solche Sprecher haben zwar gute passive Kenntnisse, wechseln im Gespräch jedoch sehr häufig von Berndeutsch auf Englisch, das zu ihrer dominanten Sprache geworden ist. Einerseits fehlt ihnen ein grosser Teil des Wortschatzes, andererseits haben sie grosse Schwierigkeiten, komplexere syntaktische Strukturen auf Berndeutsch zu bilden. Auch wenn wir im Jura ebenfalls einen zunehmenden Sprachwechsel feststellen können, liegen unseres Wissens keine Fälle von Spracherosion im Berndeutschen vor. Zum einen ist der Sprachwechsel nicht so weit fortgeschritten wie in den USA, so dass die Sprache in der Gemeinschaft noch über alle Generationen hinweg gebraucht werden kann, zum anderen besteht eine enge Verbindung zum deutschen Sprachgebiet. Zum Spracherhalt bei migrierenden religiösen Minderheiten siehe Louden 2016: 355 - 370, zu denen neben verschiedenen täuferischen Gruppen z. B. auch ultraorthodoxe Chassidim zu zählen sind. Zur Rolle von Identität und Abgrenzung bei der Entstehung und dem Erhalt des amischen Shwitzer siehe Hasse und Seiler 2023b. Zum Sprachkontakt zwischen Pennsylvaniadeutsch und Englisch siehe Louden 2019. Zu Unterschieden zwischen Shwitzer und mennonitischem Berndeutsch siehe Hasse und Seiler 2023a. Zu allgemeinen Fragestellungen der Kontaktlinguistik siehe Matras 2009 sowie den Klassiker Weinreich 1953. Zum ausbleibenden Sprachwechsel bei Täufern siehe Louden 2022. Zum Prozess des Sprachwechsels über Generationen hinweg betrachtet siehe Potowski 2013. Zur Spracherosion siehe Haugen 1938; Yilmaz und Schmid 2019. 5 Zusammenfassung Alle Landessprachen der Schweiz wurden durch Auswanderung in die unterschiedlichsten Regionen der Welt getragen. Die allermeisten Auswanderer bzw. ihre Nachkommen haben ihre hergebrachte Sprache früher oder später, nach einer Phase der Zweisprachigkeit, zugunsten der Mehrheitssprache aufgegeben. Unter besonderen Bedingungen können sich allerdings Sprachminderheiten über mehrere Jahrhunderte halten, nämlich dann, wenn die Auswanderer in der neuen Heimat eine relativ geschlossene Sprechergemeinschaft bilden und ihre Motivation hoch ist, die Sprache an die nächsten Generationen weiterzugeben. Beides ist der Fall bei verschiedenen Gruppierungen der ursprünglich aus der Deutschschweiz stammenden Täufer in Nordamerika. Als religiöse Minderheit in der Schweiz verfolgt, wanderten die meisten von ihnen im 17. Jahrhundert in angrenzende Gebiete und im 18. - 19. Jahrhundert nach Nordamerika aus, teilweise mit einer fast hundertjährigen Zwischenstation in Osteuropa. Bei ihrer sprachlichen Entwicklung spielen neben dem Kontakt zum amerikanischen Englischen auch Beziehungen zu anderen deutschen Dialekten eine zentrale Rolle. Das von der Mehrheit der Amischen Alter Ordnung gesprochene Pennsylvaniadeutsche ist im 18. Jahrhundert in Pennsylvania auf pfälzischer Grundlage entstanden und breitete sich dort auf die ganze damalige Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika 313 <?page no="350"?> deutschsprachige Population aus, auch auf die (mehrheitlich schweizstämmigen) Amischen. Das Shwitzer der sog. «Swiss Amish» in Indiana entwickelte sich aus dem Berndeutschen und zeigt starken Einfluss des Pennsylvaniadeutschen. Keine Auswirkungen solcher Dialektkontakte zeigen die mennonitenberndeutschen Dialekte im Berner Jura und in Ohio und Indiana. Die wolhynischen Mennoniten schliesslich wechselten schon im 17. - 18. Jahrhundert in ihrem Pfälzer Exil zum Pfälzischen, das sie ins zaristische Russland und schliesslich nach Kansas und South Dakota brachten. Auch die heutige Sprachsituation bei den verschiedenen täuferischen Gruppierungen ist heterogen. Während das amerikanische Mennonitenberndeutsche und das Shweitzer der wolhynischen Mennoniten nur noch von sehr wenigen älteren Personen aktiv gesprochen wird, werden bei den Amischen die Kinder weiterhin erstsprachlich im Pennsylvaniadeutschen bzw. im amischen Shwitzer sozialisiert. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass die Amischen ihre sprachliche Verschiedenheit von der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft als Merkmal der Identität und Abgrenzung nutzen. Bibliographie Auer, Anita (2021). Of Zibele and Bölle: Patterns of language variation in the Swiss language island New Glarus (North America). In: Werth, Alexander / Bülow, Lars / Pfenninger, Simone E. / Schiegg, Markus (Hrsg.). Intra-individual Variation in Language. Berlin/ Boston: De Gruyter, 283 - 314. doi: 10.1515/ 9783110743036-009 Bachmann-Geiser, Brigitte / Bachmann-Geiser, Eugen (1988). Amische. Die Lebensweise der Amischen in Berne, Indiana. Bern: Benteli. Dellsperger, Rudolf / Lavater, Hans Rudolf (Hrsg.) (2007). 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New York: Publications of the Linguistic Circle of New York. (Reprint: 1963, The Hague: Mouton). Zimmermann, Katharina (2007). Die Furgge. 7. Aufl. Bern: Zytglogge. 316 Anja Hasse, Guido Seiler <?page no="353"?> Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache Stephan Schmid, Universität Zürich 1 Einleitung Bekanntlich stellt das Italienische eine der vier Landessprachen dar, welche in den Kantonen Tessin und in Teilen des Kantons Graubünden gesprochen wird; zudem ist es Amtssprache der Schweizerischen Eidgenossenschaft (vgl. ► ItalienischLandessprache). Daneben bildet es in den übrigen Landesteilen die wichtigste ‘ Herkunftsprache ’ von Arbeitsmigranten, ähnlich wie etwa das Portugiesische oder das Spanische ( ► Spanisch und ► Portugiesisch); insgesamt leben in der Schweiz sogar mehr Italienischsprachige ausserhalb als innerhalb des angestammten Territoriums. Eine Reihe von Faktoren haben dazu geführt, dass diese Sprache nicht nur innerhalb der Migration aus Italien über mehrere Generationen überliefert wurde, sondern zum Teil auch von Einwanderern aus anderen Ländern und sogar von Teilen der einheimischen Bevölkerung verwendet wird. So nennt (Berruto 2012) unter den 11 ‘ Erscheinungsformen des Italienischen in der Schweiz ’ ausserhalb des angestammten Territoriums gleich vier verschiedene Varietäten (vgl. Abb. 1 in ► ItalienischLandessprache, rechte Seite des Schemas): 8. das Italienisch der italienischen Einwanderer, 9. das Italienisch der Tessiner Einwanderer, 10. das Italienisch der Deutschschweizer, 11. das Italienisch der nichtitalophonen Einwanderer. Die Kategorien 8 und 9 beziehen sich also auf das Italienische von Muttersprachlern aus Italien oder der Südschweiz, während die Kategorien 10 und 11 die Lernervarietäten von Deutschschweizern oder Immigranten mit einer anderen Muttersprache bezeichnen. In einer früheren Version dieses Schemas bei Moretti (2005: 18) werden noch zwei weitere Aspekte erwähnt, nämlich für die italienischsprachige Einwanderung der Faktor der Generation (erste, zweite und dritte Einwanderungsgeneration) und für die nicht-italienischsprachige Einwanderung die Sprachenverwandtschaft (Personen mit einer romanischen Muttersprache wie Spanisch und Portugiesisch verwenden das Italienische häufiger als Personen mit einer nicht-romanischen Muttersprache wie Türkisch oder Arabisch). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Behandlung des Italienischen als Landes- und Amtssprache ( ► ItalienischLandessprache) durch eine Beschreibung der vielfältigen Erscheinungsformen in der Diaspora in der Deutschschweiz zu ergänzen. Nach einer kurzen demographischen und historischen Einbettung wird zunächst das Italienische als Herkunftssprache bei der ersten, zweiten und dritten Generation erörtert, wobei auch die letzte Phase der Einwanderung nach der Jahrtausendwende erwähnt wird. Es folgen Streiflichter auf das Italienische als lingua franca und auf seine Verbreitung bei der Deutschschweizer Bevölkerung sowie einige Überlegungen zum soziolinguistischen ‘ Sonderfall ’ des Italienischen in der deutschsprachigen Schweiz. <?page no="354"?> Berruto 1991a und Moretti 2005 analysieren die Sprachrepertoires der drei italienischen Einwanderergenerationen. Auf Englisch findet man einen Überblick zum Italienischen in der Schweiz bei Moretti 2003a, Moretti et al. 2021, Humbert et al. 2023. Für die Auswertungen der demolinguistischen Daten des BFS siehe u. a. Antonini 1997, Bianconi 1995, 2005, Pandolfi et al. 2016, Casoni et al. 2021. 2 Das Italienisch der ersten Generation In den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg erlebte die Deutschschweiz eine noch nie dagewesene Einwanderung zunächst aus Italien, anschliessend auch aus anderen Ländern Südeuropas (vgl. ► Spanisch und ► Portugiesisch). Die Einwanderer kamen zunächst vorwiegend aus Norditalien, später zunehmend aus ländlichen Gegenden Süditaliens und sprachen als Muttersprache einen italo-romanischen Dialekt (Venezianisch, Sizilianisch, usw.). Dieser Dialekt diente innerhalb der Familie hauptsächlich als Paarsprache, während mit den Kindern in der Regel Italienisch gesprochen wurde. Sprachlich gesehen brachte die Auswanderung in die Schweiz somit in erster Linie eine ‘ Italianisierung ’ (Rovere 1977: 43) mit sich, d. h. eine vermehrte Verwendung der Nationalsprache auf Kosten des lokalen Dialekts des Herkunftsortes. Diese Zuwendung zur Nationalsprache entsprach einerseits den soziolinguistischen Tendenzen im Heimatland, wurde andererseits aber auch durch verschieden Faktoren in der Schweiz befördert. Zu erwähnen sind etwa Elternpaare aus verschiedenen Regionen Italiens oder sogar mit einem Partner aus einem anderen Land (hauptsächlich aus Spanien), daneben aber auch die Tatsache, dass das Italienische weit über den familiären Kreis verwendet werden konnte - insbesondere am Arbeitsplatz, aber auch mit Nachbarn oder in Geschäften. Brachten die italienischen Einwanderer also bereits ein Repertoire mit, das aus einem lokalen Dialekt und einer Varietät der Nationalsprache bestand, so wurden sie in der Schweiz mit einer ganz anders gelagerten Diglossie konfrontiert, in welcher die Deutschschweizer Dialekte gegenüber dem Schweizerhochdeutschen eine viel stärkere Position einnehmen. Das von Einwanderern der ersten Generation in der Schweiz gesprochene Deutsch ist in der Regel eine mehr oder weniger entwickelte Lernervarietät, die meist sowohl dialektale als auch hochsprachliche Elemente enthält. Allerdings wirkte sich die Diglossie z. T. negativ auf die Motivation auf, Deutsch zu lernen, da die in Abendkursen mühsam erworbene Kenntnisse der Standardsprache nur zum Teil die Kommunikation im Alltag erleichterten. Dieser Umstand sowie die Möglichkeit, sowohl mit anderssprachigen Migranten als auch mit Deutschschweizern Italienisch sprechen zu können, hat einerseits zu eher beschränkten Deutschkenntnissen geführt und andererseits zur Verbreitung des Italienischen als lingua franca beigetragen. Das Italienische von Einwanderern in der Deutschschweiz erscheint meist in der Form des so genannten italiano popolare (Rovere 1977). Diese Varietät wird typischerweise von Personen gesprochen, die als Muttersprache einen Dialekt haben und in der Regel über wenig Schulbildung verfügen; dementsprechend weist das italiano popolare zahlreiche grammatikalische Merkmale auf, die es von der Standardnorm unterscheiden. Das Sprachbeispiel (1) ist ein Ausschnitt aus einem längeren biographischen Text, der in der Anthologie von Rovere (1977: 251) veröffentlicht wurde. Der Autor wurde 1941 in einem Dorf der süditalienischen Provinz Potenza geboren, wo er nur sechs Jahre die Volksschule besuchen konnte; 1962 migrierte er in die Schweiz. 318 Stephan Schmid <?page no="355"?> (1) Io vorrei tantto tornare in ’ Italia all piu presto possibile ma la situazione e sempre peggiore, cio una famiglia ci vuole un lavoro costante ma questo manga ma io penzo sempre alla mia Italia aspetto un giorno o laltro [ … ] adesso ciò una bambina che a incomigiato le scuole e ancora piu difficile la mia decisione [ … ]. Miscuso i miei errori la mia grammatica e la cultura Italiana che mi mancca. ‘ Ich möchte sehr gern nach Italien zurückkehren so schnell wie möglich aber die Situation ist immer schlechter, ich habe eine Familie man braucht eine feste Arbeit aber das fehlt aber ich denke immer an mein Italien ich warte einen Tag oder einen anderen [ … ] jetzt habe ich ein Mädchen das die Schule angefangen hat meine Entscheidung ist noch schwieriger [ … ]. Ich entschuldige mich meine Fehler meine Grammatik und die italienische Kultur die mir fehlt. ’ Augenfällig sind in diesem Text die Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung: neben der spärlichen Verwendung von Interpunktionszeichen fehlen etwa die Akzente auf den Wörtern più ‘ mehr ’ und è ‘ ist ’ ; als eine Art Hyperkorrektur erscheinen doppelte - anstatt einfacher - Konsonanten in tantto und all. Gleich mehrere Phänomene tauchen in der Perfektform a incomigiato ‘ hat angefangen ’ auf: gegenüber dem standardsprachlichen ha incominciato fehlt das h beim Hilfsverb ha; die Schreibung gi anstatt ci gibt die in weiten Teilen Süditaliens verbreitete Lenisierung von intervokalischen Obstruenten wieder (/ t ʃ / → / d ʒ / ). Ebenfalls auf einen Einfluss der dialektnahen Aussprache zurückzuführen sind die Schreibungen penzo anstatt penso ‘ ich denke ’ und manga anstatt manca ‘ es fehlt ’ (allerdings auch hyperkorrekt mancca im letzten Satz). Typisch für das italiano popolare ist die Verbform cio bzw. ciò anstelle des standarditalienischen ho ‘ ich habe ’ ; für das Vollverb avere ‘ haben ’ wird mittlerweile auch in der Umgangssprache oft das mit dem Ortsadverb ci ‘ dort ’ verstärkte Pronominalverb averci gebraucht. Im sieben Seiten langen Text erscheinen auch andere lexikalische und morphosyntaktische Phänomene des italiano popolare wie z. B. das reflexive Pronominalverb mi o imparato ‘ ich habe mir gelernt ’ anstatt ho imparato ‘ ich habe gelernt ’ oder abweichende Formen des unbestimmten Artikels wie bei un straniero ‘ ein Ausländer ’ anstatt uno straniero. Zu den weiteren Merkmalen des italiano popolare bei Rovere (1977: 81 - 92) gehören u. a. 1. die unflektierte Form c ’ è ‘ es gibt ’ bezogen auf Nominalphrasen im Plural (c ’ era dei miei paesani ‘ es gab Leute aus meinem Dorf ’ anstatt c ’ erano usw.), 2. die Verwendung von ci als Dativklitikon der dritten Person (lui ci piaceva ‘ es gefiel ihm ’ im Gegensatz zum standarditalienischen a lui piaceva) und 3. die Verallgemeinerung des Hilfverbs avere ‘ haben ’ im Perfekt auf Kosten von essere ‘ sein ’ auch bei Bewegungsverben (ho saltato dalla finestra ‘ ich habe aus dem Fenster gesprungen ’ anstatt sono saltato dalla finestra). Das Sprachverhalten und die Sprachvarietät der ersten Generation wurde bereits in den Siebziger Jahren von Rovere 1974, 1977 ausführlich untersucht. Eine Illustration des Italienischen der ersten Generation findet man auch bei Moretti 2005: 21 - 32, während Berruto et al. 1993 das soziolinguistische Netzwerk einer in Winterthur lebenden Italienerin analysieren. Spracheinstellungen und Deutscherwerb der ersten Generation bilden den Gegenstand der Monografie von Zanovello- Müller 1998. 3 Das Italienisch der zweiten Generation Das Sprachrepertoire der Kinder der Einwanderer der ersten Generation umfasst im Prinzip die gleichen vier Varietäten wie dasjenige ihrer Eltern: 1. einen italo-romanischen Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache 319 <?page no="356"?> Dialekt, 2. Italienisch, 3. Schweizerdeutsch und 4. Standarddeutsch. Allerdings sind diese vier Varietäten anders gewichtet, wie aus Selbsteinschätzungen von in der Schweiz geborenen Jugendlichen hervorgeht (Schmid 2005a: 188): während bei den Eltern die Diglossie Dialekt-Italienisch dominant und die beiden lokalen Varietäten schwach ausgeprägt waren, so spielt bei den Kindern der Dialekt des Herkunftslandes eine eher marginale Rolle, während das Schweizerdeutsche eine zentrale Stellung einnimmt. Italienisch wird in der Regel vor dem Dialekt erworben und auch besser beherrscht, während das Schweizerdeutsche das Standarddeutsche nicht nur in der Erwerbsreihenfolge, sondern auch bezüglich der mündlichen Kompetenz übertrifft; Italienisch und Schweizerdeutsch sind somit die zentralen Varietäten dieses Repertoires aufgrund der Kommunikation im familiären und ausserfamiliären Alltag. Bezüglich der emotionalen Präferenz stehen hingegen beide italienischen Varietäten des Herkunftslands über denjenigen der Einwanderungsgesellschaft. Bei den schriftlichen Kompetenzen stufen die Jugendlichen selbst das Italienische tiefer ein als das sonst eher marginale Standarddeutsch, da letzteres die Sprache der schulischen Sozialisation darstellt und somit über ein höheres gesellschaftliches Prestige verfügt. Italienische Sprache und Geschichte wird an Schweizer Schulen zwar in den so genannten ‘ Kursen in heimatlicher Sprache und Kultur ’ (HSK) unterrichtet; diese bestehen jedoch aus wenigen Wochenstunden und sind fakultativ. Die Rechtschreibekompetenzen von italienischen Primarschülern in der Deutschschweiz sind dennoch mit denjenigen von Kindern in Italien vergleichbar, wie eine Studie in einer HSK-Klasse ergab (Schmid 2005a). So ergeben sich ähnliche orthographische Schwierigkeiten wie bei Erwachsenen mit wenig Schulbildung (vgl. Bsp. 1). Oft fehlen z. B. Interpunktionszeichen, Akzente in Wörtern wie più ‘ mehr ’ oder Doppelkonsonanten in Wörtern wie attento ‘ aufmerksam ’ . In Bezug auf das gesprochene Italienisch der zweiten Generation dokumentieren mehrere Studien eine hoch entwickelte mündliche Sprachkompetenz (Schmid 1990, 1993; Pizzolotto 1991). Wenig überraschend enthält das gesprochene Italienisch dieser Jugendlichen eine Reihe von morphosyntaktischen Merkmalen des italiano popolare, darunter die Vereinfachung der Artikelparadigmen (z. B. il svizzero ‘ der Schweizer ’ und i stranieri ‘ die Ausländer ’ anstatt lo svizzero und gli stranieri), das unflektierte c ’ è ‘ es gibt ’’ (c ’ è le stesse materie ‘ es gibt die gleichen Fächer ’ anstatt ci sono le stesse materie), der Gebrauch von ci als unbetontes Personalpronomen der dritten Person (i genitori ci piace ‘ den Eltern gefällt ’ im Gegensatz zum standarditalienischen ai genitori piace) oder die Verallgemeinerung des Hilfsverbs avere auch mit reflexiv verwendeten Verben (mi ho trovato il posto ‘ ich habe mir die Stelle gefunden ’ anstatt mi sono trovato il posto); im letzten Fall deckt sich der italienische Substandard mit der analogen Struktur im Deutschen. Insgesamt enthält das von den Jugendlichen gesprochene Italienisch aber ziemlich genau die Strukturen der Varietät, welche von deren Elterngeneration verwendet wird, was auf eine erfolgreiche Überlieferung der Herkunftssprache von der ersten zur nächstfolgenden Generation hinweist. Mehr noch: bei genauer Betrachtung erweist sich das Italienisch der zweiten Generation keineswegs als eine vereinfachte Sprachvarietät, im Gegenteil - eine linguistische Analyse von Interviews (Schmid 1986: 83 - 149) dokumentiert eine ganze Palette von sprachlichen Strukturen, welche konstitutiv sind für das gesprochene Italienisch schlechthin und somit nicht unbedingt dem Substandard zuzuschreiben sind. Dazu gehört die ausgiebige Ver- 320 Stephan Schmid <?page no="357"?> wendung von Gliederungssignalen und Modalpartikeln wie allora ‘ also ’ , cioè ‘ das ist ’ oder diciamo ‘ sagen wir ’ ebenso wie das Vorkommen von z. T. komplexen, durch die Informationsstruktur bedingten syntaktischen Strukturen wie Linksversetzungen (l ’ italiano lo so parlare bene ‘ Italienisch, das kann ich gut sprechen ’ ), Rechtsversetzungen (l ’ ho visto tre volte quel film lì ‘ ich habe ihn drei Mal gesehen, jenen Film dort ’ ) und Spaltsätzen (adesso è tre anni che gioco ‘ jetzt sind es drei Jahre, dass ich spiele ’ ). Somit legen viele Jugendliche der zweiten Generation eine sehr entwickelte kommunikative Kompetenz in ihrer Herkunftssprache an den Tag, welche von einer guten Erhaltung des Italienischen in der Deutschschweizer Diaspora zeugen. Auf ein breites Interesse stösst sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung das Phänomen der zweisprachigen Rede (Code-switching), dessen Verbreitung bereits in der Untersuchung von Franceschini et al. (1984: 55 - 59) belegt ist. Während die viersprachige Schweiz aufgrund des Territorialitätsprinzips eigentlich aus monolingualen Sprachgebieten besteht, lebte in den Achtziger Jahren zum ersten Mal eine soziale Gruppe eine andere Art von Mehrsprachigkeit vor. Die Enstehung des Code-switching bei der zweiten Italienergeneration wurde durch zwei gesellschaftliche Entwicklungen ermöglicht: Aus soziolinguistischer Sicht bestand zum ersten Mal eine relativ homogene und zahlenmässig konsistente bilinguale Gruppe, die in zwei Varietäten gleichmässig kompetent war, während sich gleichzeitig das Prestige der italienischen Migranten (und somit auch ihrer Sprache) bei der Schweizer Mehrheitsgesellschaft geändert hatte. In der Forschung ermöglichten durch teilnehmende Beobachtung entstandene Sprachaufnahmen und die darauf basierten Transkripte detaillierte Analysen der formalen und funktionalen Charakteristika der zweisprachigen Rede (insbesondere Pizzolotto 1991; Preziosa- Di Quinzio 1992; Russo 2013; Cazzorla 2018). Bezüglich der formalen Charakteristika ergibt eine quantitative Auswertung des Korpus von Russo (2013) einen leichten Unterschied zwischen dem Sprachverhalten von Universitätstudierenden und jungen Erwachsenen mit Berufsbildung (Schmid und Russo 2017: 240 - 241). Letztere praktizieren eine stärkere Form von Sprachmischung: zwar fallen 33 % der Fälle von Code-switching mit einem Sprecherwechsel zusammen und 14 % erfolgen zwischen zwei Sätzen innerhalb eines Redebeitrags, doch bei 22 % der Fälle handelt es sich um tag-switching (d. h. um die Einfügung von Gliederungssignalen aus der anderen Sprache) und bei 23 % um Sprachwechsel innerhalb des gleichen Satzes. Abb. 1 illustriert verschiedene Formen des Code-switching anhand der Transkription eines Gesprächsausschnitts mit vier Teilnehmenden: Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache 321 <?page no="358"?> Abb. 1: Verschiedene Formen des Code-switching. Quelle: Preziosa-Di Quinzio 1992, bearbeitet von Russo und Schmid 2017: 229 Von den dreizehn Gesprächsbeiträgen erfolgen drei ganz auf Italienisch (4, 7, 8) und fünf ganz auf Schweizerdeutsch (3, 9, 10, 11, 13); in 10 erscheint ein italienischer Name. Bei den fünf gemischten Beiträgen (1, 2, 5, 12, 14) überwiegt das tag-switching, wobei sowohl italienische als auch schweizerdeutsche Gliederungssignale vorkommen. In 1 und 5 wird ein direktes Objekt auf Italienisch in einen schweizerdeutschen Satz eingefügt, während in 2 bei der Konjunktion oder vom Italienischen ins Schweizerdeutsche gewechselt wird. Wie aus der Forschung zum Code-switching bekannt ist, erfüllt die zweisprachige Rede eine Vielfalt von universellen diskursiven und interaktionalen Funktionen. Diese umfassen u. a. die Wiedergabe von Zitaten, die emphatische Wiederholung des gleichen Inhalts in zwei Sprachen, die konnotativ markierte Bezeichnung von aussersprachlichen Referenten, das Ansprechen bestimmter Gesprächsteilnehmender sowie die Markierung unterschiedlicher Erzählebenen oder verschiedener kommunikativer Handlungen; alle diese Funktionen sind in der Forschung zum Gesprächsverhalten der zweiten Italienergeneration in der Deutschschweiz ausführlich dokumentiert. Zum Beispiel wird im Korpus von Preziosa-Di Quinzio (1992: 57) bei der Übertragung eines Fussballspiels eher mehr Italienisch und weniger Schweizerdeutsch gesprochen, während es sich bei einem Pokerspiel umgekehrt verhält. Auch im Korpus von Cazzorla (2018) wirkt sich die Art der kommunikativen Aufgabe (Map-Task vs. freies Gespräch) auf die Sprachwahl und das Ausmass der gemischtsprachigen Rede aus (Cazzorla und Schmid 2022: 196). Über die lokalen Sinneffekte bei einzelnen Gesprächsbeiträgen hinaus kann der Sprachwechsel an sich auch eine interpersonelle, soziale Bedeutung erlangen. Pizzolotto (1991: 153 - 162) untersuchte das Sprachverhalten einer italienischen Fussballmannschaft im Raum Zürich und unterschied aufgrund der Sprachbiographien eine Gruppe von ‘ Schweizern ’ von einer Gruppe von ‘ Italienern ’ : die Anzahl der Lebensjahre, die in Italien oder in der Schweiz verbracht worden waren, wirkte sich nicht nur auf die Einstellungen gegenüber diesen beiden Ländern aus, sondern auch auf die jeweils bevorzugte Sprach- 322 Stephan Schmid <?page no="359"?> varietät. In Konfliktsituationen neigte jede Gruppe dazu, vorwiegend die selbst bevorzugte Varietät zu verwenden, während man in versöhnlichen Situationen sich eher an die sprachlichen Präferenzen der anderen Gruppe anpasste. Insgesamt birgt die als gemischtsprachig gekennzeichnete Rede (z. B. mittels tag-switching) ein reiches kommunikatives Potential in sich, das in bilingualen Gemeinschaften extensiv genutzt wird. Somit stellen häufige Sprachwechsel unter Angehörigen der zweiten Italienergeneration eigentlich die unmarkierte Wahl dar, weshalb Franceschini (1998) aus einer pragmatischen Perspektive vorschlug, die zweisprachige Rede an sich als eine Art kommunikativen Kode zu betrachten. Daran knüpft die interessante Frage an, inwieweit die häufige Sprachmischung im Gespräch auf die Dauer zur Entstehung einer eigentlichen ‘ Mischsprache ’ führen kann (insbesondere, wenn sie keine spezifischen diskursive Sinneffekte mehr ausübt), was gemäss der von Auer (1999) entworfenen dynamischen Typologie der zweisprachigen Rede möglich wäre. Für die italienische Gemeinschaft in der deutschsprachigen Schweiz liefert jedoch eine vergleichende Analyse zweier Korpora mit einer zeitlichen Distanz von ca. 20 Jahren keine Hinweise auf eine mikrodiachrone Entwicklung in diesem Sinne (Schmid und Russo 2017). Dies bedeutet nicht, dass zwischen den verschiedenen Varietäten im Repertoire der Jugendlichen nicht auch verschiedenste Interferenzen auftreten können, insbesondere vom Schweizerdeutschen (welches unter dem Kompetenz-Aspekt am höchsten eingestuften wird) auf das Italienische. Allein im Titel der Lizentiatsarbeit von Preziosa-Di Quinzio (1992), Teoreticamente la firma fa indietro, erscheinen drei lexikalische Phänomene, die an ähnliche Prozesse im Tessiner Regionalitalienischen oder im italiano elvetico erinnern: das Adverb teoreticamente entstand als Neubildung nach dem deutschen Adjektiv theoretisch (das entsprechende italienische Wort wäre teoricamente), während die Bedeutungsveränderung des Substantivs firma (was auf Italienisch ‘ Unterschrift ’ bedeutet) eine semantische Lehnprägung nach dem deutschen Lexem Firma ‘ Geschäft ’ darstellt; das zusammengesetzte Verb fare indietro ist schliesslich eine Lehnübertragung nach dem schweizerdeutschen Modell hinderschi mache (wörtlich: ‘ rückwarts machen ’ = ‘ verlieren ’ ). Ausnahmsweise können auch hybride Wörter kreiert werden (Berruto 1998): so verbindet die Neubildung crazzetti ‘ Kratzer ’ (it. graffi) den deutschen Wortstamm kratzmit dem it. Diminutiv -ett-, während umgekehrt bei Zämpli ‘ Pfötchen ’ der schweizerdeutsche Diminutiv -li an den it. Wortstamm zamp - ‘ Pfote ’ angehängt wird. Solche Einmalbildungen entstehen aber meist spontan in spielerischer Absicht, deren sich die Wortschöpfenden vermutlich auch bewusst sind, und haben nichts mit der Schaffung einer Mischsprache im eigentlichen Sinn zu tun. Zu den ersten Studien über die zweite Generation gehören die von Rovere 1977: 295 - 362 veröffentlichten autobiografischen Schüleraufsätze sowie die soziolinguistische Umfrage von Franceschini et al. 1984. Eine Übersicht über den jeweiligen Stand der Forschung findet man bei Berruto 1991a, Moretti 2005: 33 - 41, Schmid 2005b: 136 - 141. Neuere Publikationen zum Codeswitching sind Schmid und Russo 2017 sowie Cazzorla und Schmid 2022. 4 Das Italienisch der dritten Generation Die Aussage, wonach die dritte Generation eine «grosse Unbekannte» darstellt (Moretti 2005: 42), trifft auch nach fast zwanzig Jahren noch zu. Dies hängt einerseits mit der noch Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache 323 <?page no="360"?> ungenügenden Forschungslage zusammen, andererseits aber auch mit der im Vergleich zur zweiten Generation ausgeprägteren interindividuellen Variabilität. So bestehen z. B. Unterschiede in Bezug auf die sprachliche Konstellation zwischen den Eltern: nicht selten zählt der Vater zur ersten Generation und die Mutter zur zweiten, auch wenn in den meisten Familien beide Eltern der zweiten Generation angehören; auch kann ein Elternteil bilingual mit Italienisch und der andere monolingual mit Schweizerdeutsch sein. Zudem bestehen unterschiedliche Präferenzen und Spracheinstellungen gegenüber der italienischen Herkunftssprache. Gerade bei Kindern ist der Einfluss der Gleichaltrigen sehr stark, so dass aus einem italienischen Monolingualismus im Vorschulalter ein (vermeintlich) schweizerdeutscher Monolingualismus während der Primarschule wird (Wyssmüller und Fibbi 2014: 35), der sich in der Pubertät wieder zu einem schweizerdeutsch dominanten Bilingualismus mit Italienisch entwickeln kann. Colacino (2009: 11) beschreibt das Sprachverhalten seiner eigenen Familie, wo sogar in der dritten Generation nicht nur Italienisch, sondern auch kalabresischer Dialekt gesprochen wird; ein solches Szenario stellt wohl aber eher die Ausnahme als die Regel dar. Zumindest zeigt die quantitative Auswertung der Dialoge zwischen zwei Geschwistern der dritten Generation im Korpus von Cazzorla (2018) ein anderes Bild, wo insbesondere bei der jüngeren Schwester das Schweizerdeutsche klar gegenüber dem Italienischen dominiert. Immerhin stellen Wyssmüller und Fibbi (2014: 29) aber fest, dass in einem Sample von 32 Jugendlichen der dritten Einwanderergeneration (davon 20 mit Herkunftssprache Italienisch und 12 mit Herkunftssprache Spanisch) «eine Mehrheit [ … ] die Sprache ihrer Grosseltern relativ fliessend» spricht und diese «primär innerhalb der (erweiterten) Familie» auch praktiziert. Hier sieht auch Moretti (2005: 42) den Unterschied zwischen der zweiten Generation, der er eigentlich eine ‘ gesellschaftliche Zweisprachigkeit ’ zuschreibt, und der dritten Generation, für welche der Bilingualismus primär einer innerfamiliären Dynamik folgt. Aufgrund der verfügbaren Evidenz scheint somit die Schlussfolgerung von Wyssmüller und Fibbi (2014: 29) plausibel, wonach die im Drei- Generationen-Modell der amerikanischen Soziolinguistik (vgl. Fishman 1972) vorgesehene Assimilation in Richtung eines Monolingualismus der Umgebungssprache bei der italienischen Migration in der Deutschschweiz nicht unbedingt eintreten muss. Bei Moretti 2005: 42 - 58 finden sich Transkripte von Interview-Ausschnitten mit vier Mädchen im Primarschulalter, deren Italienischkompetenzen sich aufgrund einer linguistischen Analyse auf einem Kontinuum zwischen native-like und Zweitsprache bewegen. 5 Die dritte Phase der italienischen Migration in der Deutschschweiz: das Sprachverhalten von Expats im 21. Jahrhundert Die drei bisher behandelten Generationen der italienischen Migration gehen alle auf deren zweite Phase im 20. Jahrhundert zurück und sind hier hauptsächlich aus der Perspektive der Herkunftssprache behandelt worden. Trotz unterschiedlicher Ausprägungen der Sprachrepertoires und der damit verbundenen Sprachkompetenzen und Sprachgebrauchsmuster können sie insgesamt der Kategorie 8 des Schemas in der Abb. 1 zugeschrieben werden. Dies gilt auch für die nächste Gruppe, die jedoch zur dritten Phase der italienischen Migration gehört. 324 Stephan Schmid <?page no="361"?> Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts - insbesondere nach der Weltfinanzkrise in den Jahren 2007/ 2008 - setzte eine neue Phase der italienischen Migration in die Schweiz ein. War der ‘ Migrationssaldo ’ der Italiener in der Schweiz von 1991 - 2001 noch leicht negativ (d. h. es zogen mehr Personen aus der Schweiz nach Italien als umgekehrt), so blieb dieser anfangs der Nullerjahre praktisch ausgeglichen, um dann zwischen 2007 und 2014 mehr oder weniger kontinuierlich zuzunehmen (d. h. es zogen wieder mehr Personen aus Italien in die Schweiz als umgekehrt; vgl. Natale und Krakenberger 2017: 200, Fibbi und Wanner 2020: 110). Die neue italienische Migration in die Deutschschweiz unterscheidet sich sozioökonomisch und kulturell in verschiedener Hinsicht von der früheren klassischen Arbeitsmigration (siehe Natale 2018, 2020; Natale und Krakenberger 2016, 2017). Wie bereits erwähnt, stammten die Einwanderer der zweiten Phase am Schluss hauptsächlich aus ländlichen Gebieten Süditaliens und verfügten in der Regel über eine geringe Schulbildung; in der Schweiz waren sie meist in handwerklichen Berufen tätig. Die neuen Zuwanderer stammen aus verschiedenen Regionen Italiens - auch aus urbanen Gegenden des Nordens (Natale 2020: 263) - und verfügen in der Regel über eine höhere Schul- oder Berufsausbildung; in Italien verfügen 27.7 % der Erwachsenen im Alter zwischen 25 - 34 über einen Hochschulabschluss, bei den neuen italienischen Einwanderern in der Schweiz sind es mit 46 % weit mehr (Fibbi und Wanner 2020: 119; ► Spanisch). Für diese Personen hat sich deshalb der Begriff cervelli in fuga ‘ Gehirne auf der Flucht ’ (Natale und Krakenberger 2016, 2017) eingebürgert, der vage an den englischen Ausdruck brain drain erinnert; daneben ist in der Schweiz auch der internationale Anglizismus Expat (eine Kürzung von expatriate) geläufig. Dementsprechend herrschen in der neuen italienischen Migration neue Berufsfelder vor: bei der von Natale und Krakenberger (2017: 202) untersuchten Gruppe ist insbesondere der Bereich der Forschung gut vertreten, neben leitenden Funktionen in der öffentlichen und privaten Verwaltung oder in der Industrie (Manager und Ingenieure). Es erstaunt somit nicht, dass die unterschiedlichen Voraussetzungen zwischen der zweiten und dritten Phase der Migration Auswirkungen zeigen auf die jeweiligen Sprachrepertoires und kommunikativen Netzwerke. Waren die allermeisten Einwanderer im letzten Jahrhundert Dialektsprecher, die dann in der Schweiz mit ihren Kindern und zum Teil auch an der Arbeit hauptsächlich das italiano popolare sprachen, so verlassen die Expats des 21. Jahrhunderts ein Italien, wo nur noch in einem Drittel der Familien Dialekt gesprochen wird; die wenigen neuen Zuwanderer, die den Dialekt auch in der Schweiz pflegen, stammen aus der Unterschicht (Natale 2020: 266, 285). Aufgrund ihrer Schulbildung bringen die Expats aber Kenntnisse in mindestens einer Fremdsprache mit, und in der Schweiz stellt das Englische für sie die eigentliche lingua franca dar - nicht nur an der Arbeit, sondern oft auch im Freundeskreis (Natale 2020: 268; ► Englisch). Die cervelli in fuga bilden eher soziale Netzwerke mit anderssprachigen Expats als mit Italienern der zweiten Generation, die sie z. T. als ‘ Schweizer ’ wahrnehmen (Natale 2020: 281 - 284). Im Gegensatz zu den Arbeitsmigranten des 20. Jahrhunderts finden italienische Expats leichter Zugang zu Deutschkursen in der Schweiz (welche z. T. von den Betrieben angeboten werden), aber auch sie empfinden die Deutschschweizer Diglossie als eine Hürde für die sprachliche Integration (Natale 2020: 274; Natale et al. 2023: 213); dazu kommt, dass die Schweizer in ihrem Umfeld gerne Englisch sprechen (Natale und Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache 325 <?page no="362"?> Krakenberger 2016: 469 - 471). Eine Pilotstudie mit jungen Italienischsprechenden im Raum Bern zeigte erstaunlicherweise keinen grossen Unterschied bezüglich der Deutschkenntnisse von italienischen Expats und Tessiner Studierenden, obwohl letztere bereits in ihrer Schulbildung ein beträchtliches Curriculum an Deutschunterricht absolviert haben (Natale et al. 2023: 209 - 210). Die neue italienische Migration in der deutschen Schweiz stellt insgesamt eine sehr dynamische Population dar. So handelt es sich offensichtlich um ‘ mobile Sprecher ’ (Marzo et al. 2021, Natale und Marzo 2023). Diese Mobilität hat einerseits eine rein räumliche Dimension: reisten die Immigranten im letzten Jahrhundert zweibis dreimal in ihren Heimatort (in den Sommerferien und vielleicht an Weihnachten und Ostern), so kann man bei gewissen Expats fast schon von Pendlertum sprechen, wenn die Besuche z. T. im Monats- oder Wochenrhythmus stattfinden (Natale und Marzo 2023: 216). Auf der anderen Seite hat diese Mobilität auch eine virtuelle Dimension durch die Entwicklung der modernen Kommunikationstechnologien und die Orientierung an - insbesondere ‘ sozialen ’ - Medien aus Italien (daneben bestehen auch Facebook-Gruppen wie Italiani in Svizzera). Das Italienisch der cervelli in fuga entspricht nicht dem italiano popolare, sondern eher der als neo-standard apostrophierten Varietät (Natale und Marzo 2023); bezüglich der Einstellungen gegenüber den Regionalvarietäten zeichnen sich insofern interessante Tendenzen ab, als die Expats der Mailänder Varietät weniger und der Neapolitaner Varietät mehr Prestige zuschreiben als dies in Italien der Fall ist. Einen Überblick zum Sprachverhalten der neuen italienischen Migration in der Deutschschweiz bieten die Aufsätze von Natale 2018 (auf Deutsch), 2020 (auf Italienisch). 6 Italienisch als lingua franca unter Migranten unterschiedlicher Herkunft Die sprachliche Situation der Deutschschweiz weist heute in mancher Hinsicht Züge einer sprachlichen ‘ Superdiversität ’ (Blommaert und Rampton 2011) auf, die sich in mannigfaltigen sozialen Netzwerken und individuellen Sprachrepertoires manifestiert. Auf der einen Seite verwenden italienische Expats oft die nicht-exterritoriale Sprache Englisch am Arbeitsplatz und im Freundeskreis, während auf der anderen Seite das Italienische nicht nur von Personen mit einem biografischen oder familiären Bezug zu Italien gesprochen wird, sondern auch von Migranten unterschiedlichster Herkunft. Dadurch trägt die Verwendung des Italienischen als lingua franca ebenfalls zu dieser Superdiversität bei. So dokumentiert eine neuere qualitative Untersuchung im Raum Bern den Gebrauch und die Struktur von italienienischen Lernervarietäten bei 23 Arbeitsmigranten aus Portugal, Spanien, Mexiko, Kuba, Peru, Montenegro, Sri Lanka und der französischen Schweiz (Giordano 2022). Aus quantitativer Sicht belegt die Bevölkerungsstatistik der Stadt Zürich (Rosin et al. 2016), dass Englisch zwar die am meisten verbreitete nicht-territoriale Arbeitssprache ist, aber immerhin gefolgt wird vom Italienischen, welches bei den Portugiesen sogar an erster Stelle steht; im Allgemeinen wird Italienisch am Arbeitsplatz häufiger verwendet von Personen mit fortgeschrittenem Alter und geringerer Schulbildung. Dass Italienisch von nicht-muttersprachlichen Einwandern in der Deutschschweiz gesprochen wird, war seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bekannt (Rovere 1977: 43) und erschien auch deutlich in den Daten der letzten beiden Volkszählungen: 1990 326 Stephan Schmid <?page no="363"?> gaben 20 ’ 071 Spanischsprachige und 8 ’ 335 Portugiesischsprachige an, Italienisch am Arbeitsplatz zu sprechen (Antonini 1997: 413), 2000 waren es 13 ’ 933 Spanischsprachige und 12 ’ 464 Portugiesischsprachige. In den drei nicht-territorialen Gebieten insgesamt (Deutschschweiz, Romandie und Rumantschia) sprachen 333 ’ 723 Personen aus 141 Ländern Italienisch am Arbeitsplatz, darunter 285 ’ 724 mit Schweizer und 111 ’ 276 mit italienischer Staatsangehörigkeit (Bianconi 2005: 267). Allerdings belegen die demographischen Daten für die Deutschschweiz einen Rückgang des Italienischen als Arbeitssprache: dieses wurde in den Volkszählungen von 1990 und 2000 von 13.2 % bzw. 11.1 % der Befragten genannt, während es bei den Strukturerhebungen von 2010 - 12 und 2017 noch jeweils 5.8 % waren (Casoni et al. 2021: 59). Dass eine extraterritoriale und nicht-dominante Sprache sich in einem Einwanderungsland als lingua franca ausbreiten konnte, stellt zweifelsohne ein aussergewöhnliches soziolinguistisches Phänomen dar, welches von Berruto (1991) unter dem Begriff ‘ Fremdarbeiteritalienisch ’ (FAI) thematisiert wurde. Verschiedene Faktoren mögen zur Verbreitung des FAI beigetragen haben, darunter: 1. das historische und demographische Primat der italienischen Migration; 2. die Konzentration der ausländischen Bevölkerung in gewissen Arbeitssektoren (wie der Bauwirtschaft, der Textilindustrie oder der Gastronomie); 3. die Bereitschaft von Schweizer Vorgesetzten, Beamten und freiberuflich Tätigen, Italienisch zu lernen; 4. die im Status als Nationalsprache begründete Verfügbarkeit von Medien und schriftlichen Gebrauchstexten; 5. der erschwerte Erwerb der lokalen Sprachvarietäten aufgrund der Diglossie (Schweizerhochdeutsch und alemannischer Dialekt). Moretti (2003b: 254, 256) spricht bezüglich des FAI sowohl von «Solidarität unter Gleichgestellten» als auch von «Abgrenzung der immigrierten Gruppe und der einheimischen Bevölkerung» und unterstreicht dabei inbesondere die zentrale Rolle der spanisch- und portugiesischsprachigen Bevölkerung in der Verbreitung des Italienischen als lingua franca; die nicht-italophonen Sprecher in der Deutschschweiz (Kategorie 11 des Schemas in der Abb. 1) werden bei Moretti (2005: 18) denn auch aufgrund ihrer romanischen oder nicht romanischen Muttersprache in zwei verschiedene Gruppen aufgeteilt. Aufgrund der naheliegenden Ähnlichkeit der ibero-romanischen Sprachen mit dem Italienischen fiel es dieser Gruppe leicht, die verwandte Sprache spontan zu erwerben. Als zahlenmässig grösste Gruppen von Nicht-Muttersprachlern, welche das FAI verwenden, lieferten Spanisch- und Portugiesischsprachige ihrerseits sprachlichen Input für Lernende mit entfernteren Muttersprachen. Die linguistische Analyse der italienischen Lernervarietäten von spanisch- und portugiesischsprachigen Arbeitern in der Deutschschweiz zeigt denn auch ein Erwerbskontinuum, das mit einer - durchaus schon elaborierten - Mischsprache beginnt und sich bis zu fortgeschrittenen (native-like) Varietäten entwickeln kann, welche sogar gewisse Gemeinsamkeiten mit dem italiano popolare aufweisen (Mazzuri 1990; Schmid 1994). Strukturelle Analysen italienischer Lernervarietäten in der Deutschschweiz bestätigen die z. T. beträchtlichen Unterschiede zwischen Sprechern je nach Muttersprache. So verwenden z. B. Spanischsprachige verschiedene zielnahe Formen des bestimmten Artikels, die in anderen Lernervarietäten oft weggelassen oder durch eine präpositionsähnliche Form de mit Artikelfunktion ersetzt werden: z. B. de uccello vedere de cane ‘ der Vogel sieht den Hund ’ (Berruto et al. 1990: 217). In seiner Hauptstudie zum ‘ Fremd- Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache 327 <?page no="364"?> arbeiteritalienischen ’ in der Deutschschweiz weist Berruto (1991b) denn auch auf gewisse Parallelen zwischen rudimentären Formen des FAI und der Entstehung von Pidginsprachen hin. Unter den sozialen Faktoren ist das ausgesprochen mehrsprachige Umfeld zu nennen sowie der durch die extraterritoriale Situation beschränkt verfügbare italienische Input, der z. T. auch in einem vereinfachten Register als Foreigner Talk vermittelt wird (vgl. Berruto 1993; Schmid 2003). Auch strukturell weist das FAI einige Ähnlichkeiten mit eigentlichen Pidgin-Sprachen auf. Neben einer stark reduzierten Flexionsmorphologie, die sich am auffälligsten in der Verallgemeinerung des Infinitivs manifestiert, sind einzelne Phänomene sprachlicher Reinterpretation zu nennen - darunter der bereits erwähnte ‘ Pseudoartikel ’ de, die Umdeutung von troppo ‘ zu viel ’ im Sinne von ‘ viel ’ (sento troppo lingua, wörtlich: ‘ ich höre zu viel Sprache ’ = ‘ ich höre viel Italienisch ’ ), der Gebrauch von niente ‘ nichts ’ und no ‘ nein ’ in der syntaktischen Funktion von ‘ nicht ’ (niente venuto con noi, wörtlich: ‘ nichts gekommen mit uns ’ = ‘ ist nicht mit uns gekommen ’ ) sowie die Verwendung des Ausdrucks c ’ è ‘ es gibt ’ anstelle von flektierten Formen des Verbs avere ‘ haben ’ (io non c ’ è bambini, wörtlich: ‘ ich es gibt nicht Kinder ’ = ‘ ich habe keine Kinder ’ ). Der ‘ Klassiker ’ zum Fremdarbeiteritalienischen ist Berruto 1991b; einen kurzen Überblick auf Deutsch bietet Moretti 2003b. Eine neuere Studie stammt von Giordano 2022. 7 Italienisch als Zweitsprache bei der Deutschschweizer Bevölkerung Aus den Daten der Volkszählung 2000 geht hervor, dass in der Deutschschweiz auch Teile der einheimischen Bevölkerung das Italienische als Arbeitssprache verwenden oder zumindest verwendet haben. Historisch gesehen besteht kein Zweifel, dass die Schweizer Vorgesetzten selbst zur Entstehung des ‘ Fremdarbeiteritalienischen ’ beitrugen. So gab bei einer in den frühen siebziger Jahren in Basel durchgeführten soziolinguistischen Untersuchung ein Drittel der befragten italienischen Arbeitskräfte an, dass ihre Vorgesetzten mit ihnen Italienisch sprachen; bei den Frauen waren es sogar zwei Drittel (Rovere 1974: 113, 125). In den frühen neunziger Jahren erklärte ein spanischer Angestellter der Zürcher Sihlpost, dass «fast alle Chefs» Italienisch sprächen: casi tutos los capos parlan italiano (Schmid 1994: 28). Ein in den achtziger Jahren vom Baumeisterverband veröffentlichter kleiner Sprachführer für Vorarbeiter enthält neben einzelnen Sprechakten wie dovete cominciare più presto al matino (sic) ‘ ihr müsst am Morgen früher anfangen ’ auch ein Glossar mit technischem Vokabular, darunter die Funktionsbezeichnungen conduttore de [sic] gru ‘ Kranführer ’ und baggerista ‘ Baggerfahrer ’ (Schmid 1989: 140). Das Kompositum conduttore de gru erinnert an die durch Lehnübertragung aus dem Deutschen geprägten Wortbildungsmechanismen des italiano elvetico (der italienische Terminus wäre gruista), enthält aber gleichzeitig anstelle der Präposition di eine Variante de, die im FAI als Artikel fungiert; die Mischform baggerista (in Italien conducente di escavatrice meccanica) verbindet hingegen das deutsche Substantiv Bagger mit dem italienischen Ableitungssuffix -ista für Berufsbezeichnungen (vgl. bar → barista) und stellt eine eigentliche Neubildung des ‘ Baustellenitalienisch ’ dar, die vermutlich von den italienischen Arbeitern selbst kreiert wurde. Im letzten Jahrhundert sprachen jedoch nicht nur Schweizer Angestellte in leitender Funktion Italienisch, sondern oft auch Personen in der Verwaltung oder im Gesundheits- 328 Stephan Schmid <?page no="365"?> wesen; die Universität Zürich bot z. B. in den siebziger Jahren spezielle Italienischkurse für Medizinstudierende an. Auch in gewissen Geschäften (z. B. in Metzgereien) konnte man sich früher auch auf Italienisch bedienen lassen. Gemäss einer repräsentativen Umfrage des Instituts scope im Jahr 1973 besassen 30 % von 774 Befragten Italienischkenntnisse (vgl. Berruto 1984), während die Untersuchungen im Rahmen des Nationalen Forschungsprojekts 56 in den Nuller Jahren deutliche Unterschiede in Bezug auf Muttersprache, Geschlecht und Alter aufzeigte. Über Italienischkenntnisse verfügten 40 % der Personen mit Schweizerdeutsch als Muttersprache gegenüber 26 % der Französischsprachigen, 38 % der Frauen gegenüber 29 % der Männer, 37 % der Personen im Alter von über 55 Jahren gegenüber 24 % der Personen im Alter zwischen 18 und 24 (Werlen et al. 2011: 76 - 77). Ein mittels partizipativer Feldforschung erhobenes Korpus in Basel dokumentierte in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahren weit verbreitete Italienischkenntnisse inbesondere bei Angestellten im Verkauf, welche erfolgreiche Interaktionen zwischen einer (vermeintlich) monolingualen italienischen Kundin und zahlreichen Verkäuferinnen ermöglichten (Franceschini 1999, 2012). Die Gesprächstranskripte zeigen die grosse Bandbreite dieses so genannten ‘ Kontaktitalienisch ’ auf, welche von sehr rudimentären Kenntnissen bis zu eher elaborierten Lernervarietäten reicht. Im ersten Fall werden z. B. einzelne italienische Wörter in schweizerdeutsche Äusserungen eingeschoben (jo quattro isch e bitz troppo he ‘ ja vier ist ein bisschen zu viel ’ ), während im zweiten Fall einsprachige Sätze mit z. T. komplexen morphosyntaktischen Strukuren geäussert werden: venga la mattina se vuol trovarmi ‘ kommen Sie am Morgen, wenn Sie mich antreffen wollen ’ (Franceschini 1999: 146, 140). Bemerkenswert ist, dass offenbar die wenigsten Informanten das Italienische im Rahmen von Sprachkursen gelernt haben; vielmehr entstand dieses Kontaktitalienisch durch ‘ Sprachadoption ’ (Franceschini 1999) im Rahmen eines ‘ unfokussierten Spracherwerbs ’ (Franceschini 2012), bei welchem Angehörige der gesellschaftlich dominanten Gruppe beiläufig und unbewusst Kompetenzen in einer nicht-dominanten Minderheitssprache erwerben, die dann bei Bedarf aktiviert werden können. Mittlerweile werden italienische Elemente oder Strukturen sogar in Form von crossing (Rampton 1995) oder polylanguaging (Jørgensen et al. 2015) in Gespräche auf Schweizerdeutsch eingefügt, etwa bei Abschiedsformeln wie bis domani ‘ bis morgen ’ oder … mer ghören is ‘ wir hören uns ’ (Franceschini 2012: 51, 42): im ersten Fall erfolgt der lexikalische Einschub eines sehr häufigen und bekannten italienischen Wortes, während im zweiten Fall eine Art von idiomatischer Interferenz nach dem Muster von ci sentiamo vorliegen könnte. Es ist möglich, dass solche Formen der Sprachadoption auch durch passiven Input von bilingualen Sprechern der zweiten Generation gefördert werden. Daneben zeugt das crossing auch von einem entspannteren Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft (im Gegensatz zu den Sechziger und Siebziger Jahren) gegenüber der italienischen Einwanderung, der man eher mit Sympathie begegnet. Die italienische Sprache hat in der Zwischenzeit ein gewisses Prestige erworben und ist nicht mehr in erster Linie mit der Arbeitsimmigration verbunden, sondern auch mit Bereichen wie Gastronomie, Mode und Musik. Davon zeugen zahlreiche pseudoitalienische Neologismen, die insbesondere bei Namen von Produktemarken oder Geschäften erscheinen. Ausgehend vom Prototyp Pizzeria ist neben der weit verbreiteten Einrichtung der cafeteria als Wortbildungsmodell die ticketeria der Stadtzürcher Verkehrsbetriebe zu nennen, dem in Zürich weitere Betriebe Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache 329 <?page no="366"?> folgten wie etwa die Condomeria, die Schreineria und die Beckeria (Schmid 1989: 141; Franceschini 2012: 52; Pellegrini et al. 2022: 45). Somit sind wir im Forschungsgebiet der linguistic landscape angelangt (Shohamy et al. 2010), welches die Sichtbarkeit von schriftlicher Sprache im öffentlichen Raum untersucht, wo sich die Superdiversität der modernen Gesellschaften exemplarisch manifestiert (Blommaert 2012). Eine quantitative Studie über die Städte Biel und Aarau (Moser 2017) ergab zwar einen sehr beschränkten Anteil des Italienischen (im einstelligen Prozentbereich), der meist bei dreisprachigen Schriftzügen in den Amtssprachen (deutsch, französisch, italienisch) oder im Zusammenhang mit der Gastronomie erscheint. Eine ethnographische Leseart wenden hingegen Pellegrini et al. (2022) an, die bei ihren ‘ Spaziergängen ’ durch das Little Italy von Zürich und Basel einerseits auf vielseitige Zeugnisse der italienischen Einwanderung treffen, andererseits aber auch auf die Verwertbarkeit der italienischen Sprache in der Gastronomie hinweisen. Ein schönes Beispiel für ‘ Sprachexposition ’ im Sinne von Franceschini (2012) ist das Aushängeschild einer Zürcher Fast-Food-Kette: «Italianità pura. Frischer Genuss in 4 Minuten» (Pellegrini und Cattacin 2018: 679). Eine frühe Beschreibung einzelner Formen des Italienischen bei Deutschschweizern findet man bei Schmid 1989, weitergehende Analysen (auf Deutsch) bei Franceschini 1999, 2012. 8 Das Italienische in der Deutschschweiz: ein soziolinguistisches Laboratorium Die italienische Sprache präsentiert sich in der deutschsprachigen Schweiz in vielfältigen Erscheinungsformen, die weit über den Rahmen einer typischen ‘ Herkunftssprache ’ hinausgehen. Ihre Lebendigkeit wird durch zahlreiche quantitative und qualitative Forschungsdaten belegt, insbesondere in Bezug auf die relative erfolgreiche Überlieferung bei den drei Generationen der italienischen Migration, welche nicht ganz zu den traditionellen Szenarien der Sprachsoziologie passt. Aussergewöhnlich ist sicher auch das Ausmass, in welchem das Italienische als nicht-dominante Einwanderungssprache von anderen Bevölkerungsgruppen spontan erworben wurde. Verschiedene Faktoren mögen zur Erhaltung und Verbreitung des Italienischen beigetragen haben: Zu nennen sind sicher der Status als Landessprache und die Nähe zu Italien, aber auch die demographische Konsistenz der italienischen Bevölkerung und die schwierige sprachliche Integration im Zusammenhang mit der lokalen Diglossie. Innerhalb des laboratorio elvetico (Moretti 2005) stellt insbesondere die Deutschschweiz für das Italienische eine interessante soziolinguistische Realität dar, deren zukünftige Entwicklung schwierig abzuschätzen ist. Bibliographie Antonini, Francesca (1997). Das Italienische ausserhalb des eigenen Sprachgebiets. In: Lüdi, Georges / Werlen, Iwar (Hrsg.). Die Sprachenlandschaft Schweiz. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik, 383 - 420. Auer, Peter (1999). 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Was wie eine provokative Aussage klingt, lässt sich in verschiedener Hinsicht ernsthaft begründen: • in keinem europäischen Land ausserhalb Spaniens ist der relative Anteil von Sprechern mit spanischer Muttersprache so hoch wie in der Schweiz, • Spanisch ist die fünftmeist gesprochene Sprache der Schweiz; es ist sowohl Muttersprache als auch Fremdsprache, • Spanisch ist nach Englisch die zweitmeist gelernte Nichtlandessprache der Schweiz. 11.1 % der Schweizerinnen und Schweizer über 25 geben an, dass sie Spanisch gelernt haben oder dabei sind, es zu lernen. Spanisch ist also in der Schweiz in verschiedener Hinsicht präsent: als Migrationssprache, als Herkunftsprache und als erlernte Fremdsprache. Bei den Sprechern, die Spanisch als Hauptsprache angeben, liegt es mit 2.4 % an siebter Stelle, als gelernte Sprache liegt es wie erwähnt auf Platz zwei der Nichtlandessprachen. Die Präsenz des Spanischen ist von einer «doppelten Regionalität» geprägt; einerseits konzentrieren sich die Sprecher vorrangig in der Westschweiz (Hauptsprache von 9.6 % der Genfer Bevölkerung 2018) und in den urbanen Regionen der Deutschschweiz, andererseits gibt es mehr Personen aus Spanien als aus Hispanoamerika, und bei den Spaniern kommt mehr als ein Drittel aus der Region Galicien, während bei den Hispanoamerikanern die am meisten vertretene Gruppe aus Personen aus der Dominikanischen Republik besteht. Dieser Beitrag wird die Geschichte und aktuelle Präsenz des Spanischen in der Schweiz darstellen. Dabei stützen wir uns bezüglich der demolinguistischen Daten v. a. auf die Informationen des Bundesamts für Statistik (BFS) und deren Aufbereitung und Darstellung in Kabatek et al. (2022) und in Kabatek und Castillo Lluch (2020 - ). Doch wollen wir uns nicht nur auf demografische Daten beschränken, es soll auch die Frage der Varietäten des Spanischen in der Schweiz und die Binnendifferenzierung der spanisch sprechenden Bevölkerung (sowie deren Konvergenz und Divergenz) besprochen werden. Zudem möchten wir Quellen zur Betrachtung des Spanischen in der Schweiz (u. a. Corpora) präsentieren und auf einige der wichtigsten Kontaktphänomene zwischen Spanisch und anderen in der Schweiz gesprochenen Sprachen eingehen. <?page no="371"?> 2 Die spanische Sprache Spanisch ist eine Weltsprache, die aktuell von ca. 600 Millionen Personen gesprochen wird, von denen der grösste Teil Spanisch als Erstsprache hat. Es ist in 21 Staaten National- oder Amtssprache und wird darüber hinaus in vielen Ländern (u. a. USA, Europa) als Migrationssprache, als Herkunftssprache oder als Zweit- oder Fremdsprache gesprochen. Spanisch ist nach dem Chinesischen die weltweit meistgesprochene Muttersprache. Zudem ist es nach Englisch, Mandarin und Hindi die viertmeist gesprochene Weltsprache und eine der am meisten gelernten Sprachen. Die Summe wächst ständig an. Die weltweite Verbreitung fusst auf der Expansion des kastilischen Dialekts auf der iberischen Halbinsel im Mittelalter im Zuge der so genannten Reconquista zwischen dem 8. und 15. Jh. (christliche Eroberung der ab 711 arabisch besetzten Gebiete) sowie auf der weltweiten Expansion und Kolonisation ab dem 15. Jh. (mit «Weltaufteilung» zwischen Portugal und Spanien im Vertrag von Tordesillas im Jahre 1494; ► Portugiesisch). Auch nach der Unabhängigkeit der meisten amerikanischen Kolonien im 19. Jh. bleibt Spanisch dort im allgemeinen Staatssprache und findet durch das Schulwesen oft sogar eine intensivere Verbreitung als zuvor. Spanisch gilt heute als Sprache mit plurizentrischer Norm und wird von einem Zusammenschluss der Akademien der spanischsprachigen Länder (ASALE, Asociación de Academias de la Lengua Española) normiert. Die Orthografie ist für alle Länder einheitlich und passiv-eindeutig, d. h. auch ein unbekannter spanischer Text kann u. a. durch eindeutige Akzentzeichen ohne Aussprachezweifel gelesen werden. Hingegen ist die Schreibweise der Formen konventionell und es gibt sowohl Zeichen, die nicht ausgesprochen werden und nur etymologisch begründet sind (<h>) als auch Synographe, so sind <b> und <v> Zeichen für die gleiche Aussprache, die positionell variiert (okklusiv [b] initial und nach Nasal, ansonsten approximativ [ β ]; bebo vino ‘ ich trinke Wein ’ ['be β o' β ino]; un buen vino ‘ ein guter Wein ’ [um'bu ̯ em'bino]. Innerhalb der romanischen Literatursprachen fällt Spanisch durch sein einfaches Vokalsystem (fünf Vokalphoneme mit Allophonen) auf, mit systematischer Diphthongierung von vulgärlateinisch ɛ und ɔ : bene > bien; bonu > bueno. Im Konsonantensystem haben sich wie in anderen romanischen Sprachen palatalisierte Laute wie / ɲ / (grafisch <ñ>, año ‘ Jahr ’ ) oder / ʎ / (grafisch <ll>, calle ‘ Strasse ’ , heute meist [j]) herausgebildet. Die Akzentposition im Wort ist bedeutungsunterscheidend ( ► Schwab_et_al_Band2). Morphologisch entspricht Spanisch ähnlich wie Italienisch einem Mischtyp zwischen synthetischen Formen mit Flexionsendungen (Genus, Numerus am Nomen, z. B. perro ‘ männlicher Hund ’ , ‘ Rüde ’ , perra ‘ Hündin ’ ; perros ‘ Hunde ’ ; Tempus, Modus, Numerus am Verb, z. B. trabajaron Indikativ ‘ sie arbeiteten ’ ) einerseits und periphrastisch gebildeten Formen andererseits (Kasus, z. B. la casita del perro ‘ das Häuschen des Hundes ’ ; bestimmte Verbaltempora z. B. he trabajado ‘ ich habe gearbeitet ’ ). Auffällig ist das doppelte System von Pronomen (betonte Pronomen und Klitika) mit der Möglichkeit der Klitikverdoppelung und differentieller Objektmarkierung (veo a Pedro ‘ ich sehe Pedro ’ im Gegensatz zu unbelebten Objekten veo la casa ‘ ich sehe das Haus ’ : (1) le/ lo veo a Pedro DAT / ACC sehen.1 SG DOM Pedro ‘ ich sehe Pedro ’ Spanisch 335 <?page no="372"?> (2) veo la casa sehen.1 SG DET Haus ‘ ich sehe das Haus ’ Die unmarkierte Konstituentenabfolge ist Subjekt-Verb-Objekt, wobei u. a. in bestimmten präsentativen, so genannten «thetischen» Konstruktionen auch die Reihenfolge Verb- Subjekt vorkommt (viene Pedro ‘ Pedro kommt ’ ). Trotz der enormen geografischen Ausdehnung gilt Spanisch als relativ einheitliche Sprache mit weitgehender gegenseitiger Verständlichkeit v. a. unter den Standardvarietäten; daneben zeigen sich v. a. im nähesprachlichen Bereich auch grosse Unterschiede in den verschiedenen Gebieten. Für das Spanische in der Welt siehe Otero Roth und Moreno Fernández 2016, Instituto Cervantes 2023; einen Überblick über verschiedene Aspekte bieten Kabatek und Pusch 2011. 3 Spanisch in der Schweiz: ein demolinguistischer Überblick Der folgende demolinguistische Überblick stützt sich v. a. auf die in Kabatek et al. (2022) gesammelten Daten (einschliesslich deren Zusammenfassung in Kabatek 2022) sowie auf weitere, teils aktuellere Quellen (u. a. Kabatek und Castillo Lluch (2020 - ), da die erwähnten Daten sich auf das Stichjahr 2020 beziehen. Den Hauptanteil der in der Schweiz lebenden Hispanophonen machen Personen aus, die aus einem der weltweiten spanischsprachigen Gebiete stammen und die ihre Sprache in die Schweiz mitgebracht haben; in erster Linie aus Spanien. Hinzu kommen Personen, die Spanisch als Fremdsprache lernen oder gelernt haben. Dieser Hintergrund führt zu einer mehrfachen Präsenz des Spanischen in der Schweiz, erstens als Migrationssprache, d. h. als Muttersprache spanischsprachiger Migrantinnen und Migranten oder als Heritage language der in der Schweiz aufgewachsenen oder aufwachsenden Folgegenerationen und zweitens als gelernte Sprache (es gibt eine relativ hohe Zahl von Sprecherinnen und Sprechern anderer Muttersprachen, die Spanisch gelernt haben oder dabei sind, die Sprache zu lernen). Erwähnt werden sollten auch zahlreiche spanischsprechende Personen, die als Besucherinnen und Besucher in die Schweiz kommen, sei es als Touristen oder aus beruflichen Gründen. Ihre Zahl ist schwer erfassbar, weshalb sie in den üblichen Statistiken (und auch im Folgenden) keine Berücksichtigung finden. In der spanischsprachigen Welt hat sich die Unterscheidung von Moreno Fernández und Otero Roth (2006) weit verbreitet, auf die sich auch das Instituto Cervantes beruft und die auch in Kabatek et al. (2022) Anwendung fand, wenn zwischen Personen mit muttersprachlicher Kompetenz, Personen mit begrenzter Kompetenz und Sprachlernenden unterschieden wird (wobei die Sprachlernenden eigentlich auch zur zweiten Gruppe hinzugehören). Abb. 1 vermittelt einen ersten Eindruck von der Grösse der verschiedenen Untergruppen in der Schweiz, wobei sich die Zahlen auf das Jahr 2020 beziehen. Rechnet man GDN, GLC und GALE zusammen, so kann man feststellen, dass Anfang 2020 (Bezugsdatum für das oben genannte Projekt) die Zahl der potenziell Spanisch Sprechenden in der Schweiz 558 ’ 654 betragen hat. Die Zahl stammt aus verschiedenen Quellen und setzt sich aus exakten Daten sowie aus Berechnungen und Schätzungen zusammen. Es liegt auf der Hand, dass die Zahlen, die die Demolinguistik liefern kann, auch wenn sie sehr genau berechnet werden, vor allem eine grobe Gesamtschau widerspiegeln, denn die Grundlage dieser Zahlen kann niemals alle möglichen Faktoren 336 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch <?page no="373"?> berücksichtigen, so dass sie mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind. Die folgende Infografik (Abb. 2) wurde vom Instituto Cervantes auf Basis der Daten von Kabatek et al. 2022 erarbeitet: Abb. 2: Infografik zum Spanischen in der Schweiz aus Instituto Cervantes 2022 auf der Basis der Daten von Kabatek 2022, die wiederum Kabatek et al. 2022 entnommen sind Abb. 1: Sprechergruppen des Spanischen in der Schweiz. Quelle: Kabatek et al. 2022, basierend auf der Klassifikation von Moreno Fernández und Otero Roth 2006. GUP = Grupo de Usuarios Potenciales (Gruppe der potenziell Spanisch Sprechenden); GDN = Grupo de Dominio Nativo (Gruppe mit muttersprachlicher Kompetenz); GCL = Grupo de Competencia Limitada (Gruppe mit beschränkter Kompetenz); GALE = Grupo de Aprendices de la Lengua Española (Gruppe der Spanisch Lernenden) Spanisch 337 <?page no="374"?> Der Beitrag von Humbert et al. ( ► Sprachenstatistik) weist auf die Gefahr der demolinguistischen Zahlen und deren verkürzter Aufarbeitung in solchen Infografiken hin. Dennoch sind solche Grafiken anschaulich und geben zumindest einen groben Eindruck der Sprachsituation wieder. Dabei gibt es drei grundlegende Kriterien, die jeder demolinguistischen Studie zugrunde liegen müssen: Erstens müssen die Zahlen aus möglichst zuverlässigen Quellen stammen und ihre Zusammenstellung muss nach transparenten und kohärenten Methoden erfolgen; zweitens müssen die Daten (sowohl innerhalb der Schweiz, z. B. Daten aus verschiedenen Zeiträumen, als auch ausserhalb der Schweiz, beim Vergleich von Bevölkerungsdaten mit anderen Ländern) durch vergleichbare Methoden entstanden sein; und drittens müssen bei der Beschreibung einer Realität wie der des schweizerischen Spanisch Besonderheiten des jeweiligen Landes berücksichtigt werden, was eine genaue Kenntnis der untersuchten Situation voraussetzt. 3.1 Spanisch in der Schweiz differenziert 3.1.1 Spanisch als Migrationssprache: geschichtlicher Hintergrund und «doppelte Regionalität» Aufgrund des ökonomischen Gefälles, das zwischen der Schweiz und praktisch allen spanischsprachigen Ländern besteht, ist die Schweiz ein attraktives Einwanderungsland für wirtschaftsbedingte Migration. Andere Faktoren wie die politische Neutralität, die Möglichkeit der freien Meinungsäusserung oder die hohe Qualität des Erziehungswesens sind gegenüber der ökonomischen Attraktivität sekundär, können aber in Einzelfällen auch relevant sein. Die folgende Grafik zeigt die Gesamtentwicklung der hispanophonen Immigration in den letzten Jahrzehnten: - 20 000 40 000 60 000 80 000 100 000 120 000 140 000 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 Spanien Hispanoamerika Abb. 3: Entwicklung der Zahl spanischsprachiger immigrierter Personen zwischen 1964 und 2018, aus Kabatek et al. 2022 Auch wenn es eine Vorgeschichte der hispanischen Präsenz in der Schweiz gibt, begann die Einwanderung einer grossen Zahl spanischsprachiger Personen - zunächst hauptsächlich aus Spanien - in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg war die Schweiz in mehrfacher Hinsicht ein 338 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch <?page no="375"?> attraktives Land. Da sie als neutraler Staat von den Schäden der beiden Weltkriege weitestgehend verschont geblieben war, konnte sie nach 1945 noch mehr als andere europäische Staaten am wirtschaftlichen Nachkriegsboom teilhaben, der dazu führte, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland gebraucht wurden, um der Binnennachfrage auf dem Arbeitsmarkt gerecht zu werden. Diese kamen zunächst v. a. aus Italien, was aufgrund der geografischen Nähe und der Präsenz des Italienischen als Landessprache der Schweiz nahe lag. Ende der 1950er Jahre stagnierte der Zustrom von Migranten aus diesem Land, das begann, Bedingungen für die Migranten zu fordern, die für die Schweiz mit zusätzlichen Kosten verbunden gewesen wären (Cerutti 1995, ► ItalienischMigration). Spanien bot sich daraufhin als attraktive Alternative an, und die Verhandlungen zwischen den beiden Ländern führten 1959 zur Abschaffung der Visumspflicht und zur Unterzeichnung eines Sozialversicherungsabkommens (Calvo Salgado und Prieto López 2019: 332) sowie im Jahre 1961 zu einem bilateralen Migrationsvertrag. Von da an stieg die Zahl der Spanierinnen und Spanier in der Schweiz an, bis sie 1972 ihren Höhepunkt erreichte. Im Zuge der Ölkrise ging die spanische Einwanderung zurück und Gruppen aus anderen Regionen gewannen an Bedeutung. Ab den 1980er Jahren (und bis heute) begann die hispanoamerikanische Einwanderung allmählich zu wachsen, auch wenn sie stets deutlich geringer war als die spanische. Ab 2008 nahm die spanische Einwanderung aufgrund der wirtschaftlichen Krise in Spanien erneut zu, wobei das Profil der Migrantinnen und Migranten in den letzten Jahren diversifizierter ist: kamen in den 50er und 60er Jahren noch vorrangig Personen mit geringer Bildung in die Schweiz, die v. a. in der Industrie, im Baugewerbe und im Dienstleistungssektor ihre Beschäftigung fanden, so waren es in den letzten Jahren vermehrt auch Personen mit Universitätsabschluss, die in allen Bereichen der Gesellschaft tätig sind. Dies hängt auch mit der Ausbreitung der Bildung in Spanien nach dem Ende der Francodiktatur (1975) und dem EU-Beitritt (1986) zusammen. Die spanischsprachige Immigration in die Schweiz ist von einer «doppelten Regionalität» geprägt: einerseits dominieren Personen aus bestimmten Herkunftsregionen, andererseits gibt es in der Schweiz bevorzugte Regionen für die spanischsprachige Bevölkerung. Was die Herkunft betrifft, so kommen mehr als 34 % der Spanier in der Schweiz aus Galicien im Nordwesten der Iberischen Halbinsel; eine auffällig hohe Zahl, denn Galicier machen nur 5.7 % der spanischen Bevölkerung aus (vgl. Abschnitt 5). Bei den Hispanoamerikanern ergibt sich eine ähnliche Auffälligkeit: die prozentual am stärksten vertretene Gruppe stammt aus der Dominikanischen Republik. Während bei den Spaniern die Männer unter den Migranten die Mehrheit bilden, sind es bei den Hispanoamerikanern die Frauen. Die zweite Regionalität betrifft die Regionen in der Schweiz, in welchen das Spanische präsent ist. Hier können einerseits die städtischen Gebiete in der Deutschschweiz genannt werden mit ihren Arbeitsmöglichkeiten in Industrie und über diese hinaus, andererseits aber vor allem die Westschweiz und innerhalb der Westschweiz in erster Linie die Region des Genfer Sees. Die beiden «spanischsten» Städte der Schweiz sind Genf und Lausanne. Gemäss unseren Berechnungen auf der Basis der Daten des Bundesamts für Statistik erklärt eine von 13 in Lausanne lebende und eine von 10 in Genf lebende Person, Spanisch als Hauptsprache zu verwenden. Die folgende Grafik aus dem Mapa del español en Suiza (Kabatek und Castillo Lluch 2020 - ) gibt einen Eindruck von der geografischen Verteilung der spanischsprechenden Migrantinnen und Migranten: Spanisch 339 <?page no="376"?> Karte 1: Bevölkerung mit Nationalität eines spanischsprechenden Landes im Jahre 2022. Quelle: Kabatek und Castillo Lluch 2020 - ; eigene Erarbeitung auf der Basis der Daten des BFS Fast zwei Drittel der Migranten aus Spanien konzentrieren sich auf nur drei Kantone, nämlich Genf, Waadt und Zürich, wo jeweils ca. 18 % der Zuwanderer leben, die peninsulare Varietäten des Spanischen sprechen. Die andinen und mexikanisch-zentralamerikanischen Varietäten sind ebenfalls in diesen drei Kantonen am deutlichsten konzentriert, wenn auch mit einer weniger ausgeglichenen Verteilung: Während die andinen Varietäten vor allem in Genf gesprochen werden (von fast 33 % der Gesamtheit der Einwanderer aus diesem Raum), sind die mexikanisch-zentralamerikanischen Varietäten sowohl in Genf als auch in Zürich stärker vertreten als im Rest des Landes. Im Waadtland findet sich allgemein eine hohe Konzentration verschiedener Varietäten; so lebt beispielsweise etwa ein Drittel der Migranten aus Chile hier (Kabatek et al. 2022: 60). Während für die erste Generation der Migranten anzunehmen ist, dass sie über muttersprachliche Kenntnisse des Spanischen verfügen, ist dies ab der zweiten Generation wesentlich problematischer, da es hier keine genauen statistischen Daten gibt und der Grad der Kompetenz von einer Reihe von Faktoren abhängt. Daten des BFS lassen annehmen, dass nur etwa ein Fünftel der Personen der zweiten Generation, also in der Schweiz geborene und aufgewachsene Kinder hispanophoner Migranten, zu Hause üblicherweise Spanisch spricht (Kabatek et al. 2022: 81). Ein wichtiger Faktor für die Förderung der Spanischkompetenzen der Heritage speaker auch im schriftlichen Bereich sind die Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK), die für Spanisch in der Schweiz von den so genannten Agrupaciones de Lengua y Cultura Españolas (ALCE) ‘ Gruppierungen spanischer Sprache und Kultur ’ durchgeführt werden, die vom spanischen Erziehungsministerium in Zusammenarbeit mit der Erziehungsabteilung der Spanischen Botschaft in Bern organisiert werden und ausschliesslich spanischen Staatsbürgern 340 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch <?page no="377"?> vorbehalten sind (wobei zahlreiche hispanoamerikanische Migranten auch über einen spanischen Pass verfügen). Der Unterricht umfasst drei Stunden pro Woche und findet in gemischten Klassen zwischen dem 7. und dem 18. Lebensjahr statt. Auffällig ist, dass das weltweit existierende System der ALCE in der Schweiz die absolut höchsten Zahlen an Schülern und Lehrern vorweist (fast 4 ’ 500/ 36 im Jahr 2019 - 20 im Gegensatz zu ca. 3 ’ 200/ 30 in Deutschland oder 2 ’ 200/ 21 in Frankreich). 3.1.2 Spanisch als Fremdsprache Im Gegensatz zum Portugiesischen, das in der Schweiz von mehr Muttersprachlern gesprochen wird als das Spanische ( ► Portugiesisch), ist Spanisch auch eine verbreitete Sprache im Erziehungswesen und in der Erwachsenenbildung. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig; sie liegen einerseits im grossen Kommunikationsradius, den die Weltsprache Spanisch erlaubt, andererseits in einer Kombination verschiedener Motivationen: Spanisch ist eine weltweit wirtschaftlich bedeutende Sprache, spanischsprachige Länder sind beliebte Reiseziele, und die Sprache wird mit verschiedenen Kulturphänomenen - vom Boom der lateinamerikanischen Literatur über Salsa, Tango, Regaetón bis hin zu spanischen Netflixserien - verbunden und im Allgemeinen positiv konnotiert. Zudem lässt die geografische Verteilung der Spanischlernenden in der Schweiz darauf schliessen, dass die im vorigen Abschnitt dargestellte Präsenz spanischer Muttersprachler als Katalysator für das Erlernen der Sprache wirkt: Mapa base: Oficina Nacional de Estadística de Suiza ! " # $%& ! # ! " # ' & ! # ( ") " *+ $ ' (, ! "# $ ! &' ( $ ) * ' . $ ) + , - / ! , - ! 55! 8 , © BFS / OFS / UST / FSO, ThemaKart - Neuchâtel 2018 0 10 20 30 40 50 km Karte 2: Anzahl Schülerinnen und Schüler an Gymnasien in der Schweiz, die Spanisch lernen (Bezugsjahr 2019), aus Kabatek et al. 2022: 137 Im öffentlichen Schulwesen ist Spanisch eine «späte» Sprache, da aufgrund der besonderen historischen Situation der Schweiz und der gesetzlichen Lage den Landessprachen Spanisch 341 <?page no="378"?> im Primarschulbereich der Vorzug eingeräumt wird. Die einzige Ausnahme ist Englisch, dessen Kenntnis als internationale Lingua franca mittlerweile praktisch in der ganzen Schweiz in unterschiedlichem Masse als Notwendigkeit anerkannt wird und das auch in frühe Phasen des Erziehungswesens eindringen konnte ( ► Englisch). Spanisch hingegen wird erst in der gymnasialen Schulausbildung und dort erst in der Sekundarstufe II angeboten, wo es jedoch eine je nach Ort häufig gewählte Option darstellt und meist als Schwerpunkt- und als Ergänzungsfach angeboten wird. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Schülerinnen- und Schülerzahlen der Jahre von 2000 bis 2019: Abb. 4: Anzahl Abschlüsse Spanischlernende in der Sekundarstufe II in der Schweiz von 2000 bis 2019, Wahlfach (rot) und Ergänzungsfach (blau), aus Kabatek et al. 2022: 118 Ein weiterer Bereich, in dem das Spanische sehr präsent ist, ist die Erwachsenenbildung: in den Volkshochschulen der Schweiz und in privaten Bildungseinrichtungen wie der Migros-Klubschule ist Spanisch eine der beliebtesten Sprachen. Zur Demografie des Spanischen in der Schweiz siehe Lüdi 1998a und 1998b, Kabatek et al. 2022, Kabatek 2022, Kabatek und Castillo Lluch 2020 - sowie Castillo Lluch 2023. Zur Geschichte der spanischsprachigen Migration siehe Calvo Salgado 2008. Daten zum Spanischen in der Schule siehe MEYFP 2020. Zu Spanisch als Heritage language und den Kursen der ALCE siehe Sánchez Abchi und Calderón 2016 und Sánchez Abchi 2018 und 2021. Zu Spanisch in Liechtenstein siehe Annex 1 in Kabatek et al. 2022. 4 Spanisch in Kontakt Spanisch ist in der Schweiz einerseits Kontaktsprache zu den Landessprachen, andererseits aber auch Kontaktsprache zu anderen Migrantensprachen. Seit den 1980er Jahren finden sich in Arbeiten zu den mehrsprachigen Praktiken von Immigranten in der Schweiz Bezüge zur spanischsprachigen Community; vor allem seit den 1990er Jahren rückt der französisch-spanische Kontakt in den Fokus, u. a. mit Untersuchungen zum Code-switching zwischen den beiden Sprachen v. a. unter jungen Heritage speakers der zweiten Generation. Diese Arbeiten erlauben erste Einblicke in die Kontaktsituationen des Spanischen, wobei bislang noch immer vorrangig partielle Untersuchungen vorliegen. Beson- 342 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch <?page no="379"?> ders hervorzuheben ist die Studie von Schmid (1994; ► ItalienischMigration), in der die Kontaktsituation zwischen Spanisch und Italienisch in der Deutschschweiz beschrieben wird. Da Italienisch nicht nur Landessprache ist, sondern auch dominierende Migrantensprache in den ersten Jahren der Immigrationswellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, lag es für die spanischsprachigen Immigranten nahe, im Arbeitskontext wenn möglich eher Italienisch als Deutsch zu lernen, da hier die Sprachbarriere viel geringer war und es zudem im Kreise der Migranten die Sprache war, die sich als Koiné etablierte, wie etwa folgendes Zeugnis aus Schmid (1994) illustriert: Abb. 5: Spanisch-Italienischer Kontakt, aus Schmid 1994: 28 Über den Arbeitskontext hinaus lernten die Spanier Italienisch auch durch das schweizerische Fernsehen in italienischer Sprache (bis zur Einführung des Kabelfernsehens und des Satellitenfernsehens in den 1990er Jahren, das den Empfang spanischsprachiger Programme ermöglichte). Zudem war Italienisch oft im nachbarschaftlichen Kontext präsent und es gab auch zahlreiche gemischte Ehen zwischen italienischsprachigen und spanischsprachigen Personen (Schmid 2009). Die sprachliche (und kulturelle) Nähe scheint auch dazu beizutragen, dass sich unter den verschiedenen Gruppen von Migranten Netzwerke bilden. In einer vor einigen Jahren im Kanton Zürich durchgeführten Studie zeigt sich, dass es wesentlich wahrscheinlicher ist, dass eine Person mit Hauptsprache Spanisch in Zürich auch Italienisch, Französisch oder Portugiesisch spricht, als dass sie Serbisch/ Kroatisch oder Albanisch spricht. Umgekehrt ist es für eine Person mit Albanisch als Hauptsprache viel wahrscheinlicher, Serbisch/ Kroatisch zu sprechen als Spanisch oder Portugiesisch. Man könnte also sagen, dass es im Falle des Kantons Zürich tendenziell ein «romanisches» und ein «balkanisches» Netzwerk zu geben scheint. Ob dies auf die ganze Schweiz extrapolierbar ist, ist fraglich und leider nicht systematisch untersucht; es gibt jedoch verschiedene Dimensionen der Identitätskonstrukte und der kulturell- und sprachbedingten Netzwerke, und wenn es einerseits in der Schweiz eine kolumbianische, eine peruanische und eine dominikanische etc. Community gibt, so gibt es eben auch eine lateinamerikanische, die neben Hispanoamerikanern auch die portugiesisch sprechenden Brasilianer mit einschliesst und zu zahlreichen Kontakten führt; und es gibt besondere Solidaritätsnetzwerke zwischen Portugiesen und Spaniern, insbesondere, wenn letztere aus Galicien stammen (siehe Abschnitt 5). Spanisch 343 <?page no="380"?> DEU 94 % ENG 9 % ITA 3 % FRA 1 % SPA 0 % POR 0 % ALB 7 % TUR 0 % TAM 0 % ARA 0 % RUS 1 % AND 6 % SEK DEU 79 % ENG 28 % ITA 11 % SEK 1 % SPA 6 % POR 4 % ALB 0 % TUR 0 % TAM 0 % ARA 6 % RUS 0 % AND 5 % FRA DEU 73 % ENG 25 % ITA 15 % FRA 9 % SEK 0 % POR 9 % ALB 0 % TUR 0 % TAM 0 % ARA 1 % RUS 0 % AND 4 % SPA DEU 97 % ENG 2 % ITA 2 % FRA 1 % SEK 11 % SPA 0 % POR 0 % TUR 1 % TAM 0 % ARA 0 % RUS 0 % AND 1 % ALB DEU 68 % ENG 20 % ITA 16 % FRA 11 % SEK 0 % SPA 16 % ALB 0 % TUR 0 % TAM 0 % ARA 0 % RUS 0 % AND 2 % POR DEU 84 % ENG 11 % FRA 10 % SEK 2 % SPA 9 % POR 6 % ALB 1 % TUR 0 % TAM 0 % ARA 0 % RUS 0 % AND 3 % ITA Abb. 6: Jeweilige Sprachkenntnisse von Personen verschiedener Hauptsprachen im Kanton Zürich: Italienisch, Serbisch/ Kroatisch, Französisch, Spanisch, Albanisch, Portugiesisch, aus Rosin et al. 2016 4.1 Spanisch als Kontaktsprache in der Schweiz Das in der Schweiz gesprochene Spanisch weist eine Reihe von Besonderheiten auf, die das Ergebnis des Kontakts mit anderen Sprachen im mehrsprachigen Repertoire der Spanischsprechenden sind. Dabei muss vor allem zwischen solchen Kontaktphänomenen unterschieden werden, die in der Sprache von Personen auftreten können, die Spanisch als L1 sprechen (typischerweise Einwanderer der ersten Generation), und jenen, die bei Muttersprachlern zu beobachten sind, die es zwar zu Hause als gesprochene Sprache gelernt haben, aber nicht als Distanzsprache und Schriftsprache in den frühen Phasen der Schulbildung (höchstens in der Sekundarstufe II). Für diese Sprecherinnen und Sprecher ist die Landessprache des jeweiligen Kantons die L1, und ihre Kenntnis des Spanischen variiert bezüglich verschiedener Parameter und führt zu den oben erwähnten unterschiedlichen Graden der Beherrschung zwischen muttersprachlich und eingeschränkt (u. a.: beide Eltern oder nur ein Elternteil spanischsprachig, Position in der Geschwisterreihe, Präsenz des Spanischen im Umfeld, Kontakte zu Familie oder spanischsprachigen Ländern etc.). Sprachkontaktphänomene wurden für spanische G1-Sprecher (Personen der ersten Migrantengeneration) beschrieben, die in längerem Kontakt mit dem Französischen gestanden haben (Castillo Lluch 2020a, 2023) sowie für spanische G2-Sprecher in Kontakt mit dem Deutschen (Jiménez Ramírez 2000 und 2001). Diese Beschreibungen basieren jeweils auf Korpora soziolinguistischer Interviews: in den letzten zehn Jahren wurden in der französischsprachigen Schweiz etwa hundert Interviews durchgeführt (COLESfran, vgl. Castillo Lluch und Diez del Corral Areta 2019 - , Castillo Lluch 2020b); in der 344 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch <?page no="381"?> deutschsprachigen Schweiz hat Jiménez Ramírez etwa dreissig Interviews durchgeführt, die Ende der 1990er Jahre aufgezeichnet wurden und die mit Notizen zur teilnehmenden Beobachtung und mit Beispielen schriftlicher Produktionen ergänzt wurden. Dabei ist zu bemerken, dass die Forschungslage asymmetrisch ist: Die meisten Studien konzentrieren sich auf das Spanisch der Migrantinnen und Migranten, analysieren aber nicht die Merkmale der von den Migrantinnen und Migranten gesprochenen Schweizer Landessprachen, d. h. die Auswirkungen des Sprachkontakts sind nicht konsequent in beide Richtungen untersucht worden, und es gibt zahlreiche Forschungslücken, die durch systematische Analysen verschiedener Generationen von Personen (G1, erste und zweite Folgegeneration von Heritage speakers bzw. G2 und G3) gefüllt werden müssten. Im Folgenden werden wir uns auf Kontaktphänomene im Spanisch von Sprechern im Kontakt mit dem Französischen in der ersten Generation von Migranten und auf Kontaktphänomene im Deutsch von Personen aus der zweiten Generation in der Deutschschweiz beschränken, da hierzu verschiedene Untersuchungen vorliegen. 4.1.1 Kontaktphänomene in der frankophonen Schweiz Mit Bezug auf Castillo Lluch (2020a und 2023) und ausgehend von den Daten des Korpus COLESfran lässt sich feststellen, dass zu den üblichen Phänomenen, die in der ersten Generation Spanischsprachiger bei längerem Kontakt mit dem Französischen beobachtet werden können, die Übertragung von lexikalischen Elementen mit Bezug zur Realität der Umgebung in Form von nicht-integrierten oder integrierten Entlehnungen gehört (typischerweise Ortsnamen, Volksbezeichnungen, Begriffe aus dem administrativen Bereich oder aus der Arbeitswelt, die den Sprechern eher auf Französisch zugänglich sind). Auch wenn im Korpus v. a. Nomina aus dem Französischen übernommen werden (z. B. estaje [es ˈ taxe] statt sp. prácticas ‘ Praktikum ’ von frz. stage, oder colocación statt sp. piso compartido ‘ Wohngemeinschaft ’ von frz. collocation), so finden sich doch auch verschiedene Fälle von Verben, die auf französischen Vorbildern beruhen und phonisch und morphologisch hispanisiert wurden, z. B. telecargar statt sp. descargar ‘ downloaden ’ nach frz. télécharger; refletar statt sp. reflejar ‘ widerspiegeln ’ nach frz. refléter; resiliar statt sp. rescindir nach frz. résilier. Auch Adjektive werden hispanisiert wie z. B. penible statt sp. penoso, lamentable ‘ kläglich ’ nach frz. pénible oder convivial statt sp. amistoso, relajado y agradable ‘ freundschaftlich ’ nach frz. convivial. Häufig finden sich auch semantische Lehnprägungen wie justo statt sp. correcto nach frz. juste ‘ korrekt ’ ; exprimir statt sp. expresar ‘ ausdrücken ’ nach frz. exprimer; hacer atención statt sp. prestar atención ‘ aufpassen ’ nach frz. faire attention. In anderen Fällen führt der Kontakt nicht zur Verwendung eines Lehnworts, sondern zur gehäuften Verwendung eines ähnlich klingenden, verwandten Begriffs aus dem Spanischen, der aber im Spanischen normalerweise weniger häufig verwendet wird als das entsprechende Wort im Französischen. Hier zeigt sich das, was Coseriu als «negative Interferenz» bezeichnet hat (vgl. Coseriu 1977): Die Interferenz ist «negativ», weil ihre Wirkung darin besteht, dass eine im Spanischen übliche Form nicht verwendet wird und systematisch eine beiden Kontaktsprachen gemeinsame Form gewählt wird, was zu einer Überrepräsentation des letzteren führt (Kabatek 1997 spricht hier von «Überschneidungsinterferenz» oder convergence, einem Phänomen, das besonders im Kontakt eng verwandter Sprachen häufig zu beobachten ist): so wird fast systematisch salario ‘ Lohn ’ nach dem Modell von frz. salaire verwendet, obwohl sueldo im peninsularen Spanisch die Spanisch 345 <?page no="382"?> häufigere und «normalere» Form wäre, auch wenn salario ebenfalls existiert. Ähnliche Beispiele sind comuna ‘ Gemeinde ’ nach frz. commune gegenüber sp. municipio oder inscribirse nach frz. s ’ inscrire ‘ sich anmelden ’ gegenüber sp. matricularse. In der Morphosyntax finden wir ebenfalls verschobene Frequenzen etwa im Falle des Subjektpronomens, das im Spanischen als pro-Drop-Sprache im Gegensatz zum Französischen nicht systematisch gesetzt werden muss. So erscheint im folgenden Beispiel die zweite Nennung von yo ‘ ich ’ redundant, da es eine Topik-Kontinuität zwischen den beiden Aussagen gibt. Eine solche Wiederholung ist charakteristisch für karibische Varietäten des Spanischen; sie findet sich jedoch in der Schweiz häufig auch bei Personen mit peninsularem Hintergrund: (3) y yo cuando estaba en el instituto, yo und ich als sein1 SG . IPFV in DET Gymnasium ich formé parte de un grupo de chicos, de alumnos teilhaben1 SG . PRF von ein Gruppe von junge Leute PL von Schüler PL ‘ Und als ich im Gymnasium war, war ich Teil einer Gruppe junger Leute, von Schülern. ’ Im Bereich der Verbalmorphologie ergibt sich durch Konvergenz mit dem Französischen eine Unterdifferenzierung im Gebrauch der Vergangenheitstempora, da systematisch die konvergente Form, nämlich das periphrastische Perfekt, für alle Arten vergangener Ereignisse bevorzugt wird, und zwar sowohl für hodiernale (wie im peninsularen Spanischen üblich) als auch für weiter zurückliegende (wo das Spanische synthetisches Perfekt bevorzugt): «el problema en la frontera en Ginebra fue que nos han detenido» ‘ das Problem an der Grenze in Genf war, dass sie uns zurückgehalten haben ’ , mit periphrastischem han detenido anstelle von im Spanischen üblichem synthetischem Perfekt detuvieron, wobei die Informantin hier im Jahr 2015 von einem Ereignis aus dem Jahr 1960 berichtet. Eine Simplifizierung ergibt sich auch durch den Verlust der für das Spanische charakteristischen differentiellen Objektmarkierung (bestimmte direkte Objekte müssen im Spanischen mit dem Objektmarker a markiert werden) in Fällen wie «había terminado desde hacía un año de cuidar ø los niños» anstelle von sp. «a los niños», nach Französischem Vorbild, oder «como conocí ø mi mujer, me quedé aquí» ‘ da ich meine Frau kennengelernt habe, bin ich hiergeblieben ’ statt «a mi mujer». Bezüglich der Präpositionen zeigt sich die Beeinflussung des Französischen etwa in Fällen von Ortsangaben: «no vive a Ginebra» statt sp. «en Ginebra» ‘ er/ sie lebt nicht in Genf ’ nach dem Modell von frz. «à Genève»; «llegamos acá en Suiza» anstelle von «a Suiza» ‘ wir kamen hier in die Schweiz ’ . Eine weitere Transferenz im Bereich der Präpositionen findet sich in der komitativ-koordinierenden Konstruktion vom Typ: (4) cuando nos casamos con María als uns heiraten1 PL . PRF mit Maria ‘ als Maria und ich heirateten ’ nach dem Modell von frz. quand on s ’ est marié avec Maria, gegenüber sp. cuando María y yo nos casamos. Schliesslich sei noch erwähnt, dass das Adverb mismo ‘ gleich ’ nach dem Modell von frz. même im Sinne von ‘ sogar ’ verwendet wird, anstelle von sp. incluso: «mismo hoy en día hago algunos errores al escribir en francés» ‘ sogar jetzt noch mache ich Fehler, wenn ich 346 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch <?page no="383"?> Französisch schreibe ’ ; zudem wird mismo si als konjunktivische Lokution (+ Indikativ) mit einem konzessiven Wert verwendet: (5) mismo si hay una fiesta chilena escuchas a casi todos selbst wenn es gibt eine Party chilenisch hören2 SG zu fast alle hablando francés y no español sprechend Französisch und nicht Spanisch ‘ Selbst wenn eine chilenische Party stattfindet, / Selbst auf chilenischen Partys hört man fast alle Französisch und nicht Spanisch sprechen. ’ Dahinter steht das französische Vorbild même s ’ il y a une fête chilienne, tu entends presque tout le monde parler français et pas espagnol, anstelle von sp. Aunque haya una fiesta chilena … . Unabhängig davon, dass dieses Phänomen auch in bestimmten Varietäten des Spanischen verbreitet ist (cf. RAE/ ASALE 2005: 439 und Kany 1969: 366), scheint eindeutig, dass seine Verbreitung sowohl in der ersten als auch in der zweiten Generation hier dem Kontakt mit dem Französischen zuzuschreiben ist. Ähnliches wurde auch im Spanischen in Quebec festgestellt (Pato 2020 und 2022). 4.1.2 Spanische Kontaktphänomene in der deutschsprachigen Schweiz Die Arbeit von Jiménez Ramírez (2001: 25) hat gezeigt, dass das G2-Spanisch in der Deutschschweiz nicht nur mit den deutschen Mundarten des sozialen Umfelds und mit Standarddeutsch in Kontakt steht, sondern auch mit dem Italienischen als Kommunikationssprache mit den Italienischsprachigen in ihrem Umfeld (siehe auch Schmid 1994) und mit dem Französischen als obligatorisch gelernter Landessprache. Folglich können die im Spanisch dieser G2-Sprecher verzeichneten Interferenzen neben dem Deutschen auch aus anderen Sprachen ihres Repertoires stammen. Zu den von Jiménez Ramírez aufgezeichneten Beispielen, die sich eindeutig durch den Kontakt mit dem Deutschen erklären lassen, gehört die wiederholte Verwendung von tampoco no als Lehnübersetzung von dt. auch nicht (im Ggs. zu sp. tampoco: «mi madre tampoco no hablaba siempre en español» ‘ Meine Mutter hat auch nicht immer Spanisch gesprochen ’ . Auch finden sich pronominale Lücken oder Strukturen mit im Spanischen ungrammatischen Pronomen: «eso ya ø dice todo» (< ‘ das sagt alles ’ ) statt «eso ya lo dice todo» oder umgekehrt: «incluso no lo notan que me he crecido en Suiza» (< ‘ sie bemerken es nicht, dass ich in der Schweiz aufgewachsen bin ’ ), oder ungrammatische Präpositionenverwendungen nach deutschem Vorbild: «en las ciudades [de] Friburgo y Biena» (< ‘ In den Städten ø Freiburg und Biel ’ ), «las enunciaciones siempre son interpretadas de cada uno» (< ‘ Aussagen werden von jedem interpretiert ’ ). Im Bereich des Wortschatzes finden sich ebenfalls Einflüsse, so etwa beim Gebrauch von calle ‘ Strasse in einem Ort ’ auch für carretera ‘ Landstrasse ’ nach dem Modell von dt. Strasse. Viele Phänomene können dem Kontakt mit dem Deutschen geschuldet sein, doch ist auch der Einfluss anderer Sprachen aus dem Repertoire der Sprecher zuweilen nicht auszuschliessen. So konvergiert das Deutsche mit dem Französischen in Existentialkonstruktionen mit haber und bestimmtem Artikel (siehe Abschnitt 4.1.1): «por eso había la guardería italiana» (< ‘ deshalb gab es den italienischen Kindergarten ’ , ‘ il y avait la garderie italienne ’ ). Spanisch 347 <?page no="384"?> Ähnliches ist der Fall bei der Kongruenz von gente mit Verben im Plural: «son gente que han crecido aquí» (< ‘ das sind Leute, die hier aufgewachsen sind ’ , ‘ ce sont des gens qui ont grandi ici ’ ) im Gegensatz zu sp. es gente que ha crecido aquí, im Singular. In zahlreichen Fällen gesellt sich zum Einfluss des Deutschen der des Französischen und des Italienischen, wenn etwa der Artikel in temporalen Konstruktionen wie den folgenden getilgt wird: «[el] sábado por la tarde» (< ‘ ø Samstag Nachmittag ’ , ‘ ø sabato pomeriggio ’ , ‘ ø samedi après-midi ’ ); oder wenn die Präposition en statt a mit Bewegungsverben verwendet wird: «yo vine con cinco años aquí en Suiza» (< ‘ Ich kam in die Schweiz, als ich fünf Jahre alt war ’ , ‘ Sono venuto in Svizzera …’ , ‘ Je suis arrivé en Suisse …’ ), oder beim Gebrauch pronominaler Verben ohne Pronomen, wie quedar anstelle von quedarse: «se van otra vez a Almuñécar y [se] quedan allí tres meses» (< ‘ Sie fahren wieder nach Almuñécar und bleiben dort drei Monate lang ’ , restano, ils restent) oder auch umgekehrt, wie bei recordarse anstelle von recordar: «Pedro se recuerda que … » (< ‘ Pedro erinnert sich …’ , si ricorda, se rappelle). Auch die Einfügung von Adverbien zwischen Auxiliar und Partizip kann verschiedenen Einflüssen zugeschrieben werden, wie in «hemos siempre dicho» (< ‘ wir haben immer gesagt ’ , ‘ abbiamo sempre detto ’ , ‘ nous avons toujours dit ’ ). Oder der Gebrauch des periphrastischen Perfekts für Handlungen zurückliegender Vergangenheit (im Gegensatz zur spanischen Norm): «Nos hemos conocido en el Centro español hace unos veinte años» (< ‘ Wir haben uns vor etwa zwanzig Jahren im Centro español kennen gelernt ’ , ci siamo conosciuti, nous nous sommes connus). Auch zeigt sich ein gehäufter Gebrauch von Passivkonstruktionen nach dem Vorbild der Kontaktsprachen. Bei Verben, die mit bestimmten Präpositionen gebildet werden, führen die Kontaktsprachen ebenfalls zu Veränderungen, so wird pensar oft mir a statt mit sp. en gebildet, nach dem Muster von denken an, pensare a, penser à. So auch bei Infinitivsätzen, die mit de eingeleitet werden: «decidí de hacer el bachillerato» (< ‘ ich habe entschieden die Matura zu machen ’ , ‘ ho deciso di fare …’ ‘ j ’ ai décidé de faire …’ ) statt sp. decidí hacer. Auf dem Gebiet des Wortschatzes können Beispiele wie concurrencia in der Bedeutung von competencia ‘ Konkurrenz ’ (oder cocorrenza/ concurrence) genannt werden, oder aprender ‘ lernen ’ auch mit der Bedeutung ‘ lehren ’ durch Lehnprägung von schweizerdeutsch leere sowie it. imparare oder frz. apprendre. Je nach dem zur Verfügung stehenden sprachlichen Repertoire und den Kompetenzen der Sprecher in den verschiedenen Sprachen kann man darüber spekulieren, welche Sprache(n) den betreffenden Transfer auslöst/ auslösen. Manchmal ist es offensichtlich, dass es eindeutig und ausschliesslich das Italienische ist, wie in Ausdrücken wie «cumplir los años» (< compiere gli anni, ‘ Geburtstag haben ’ ), oder in der Verwendung von tanto im Sinne von ‘ viel ’ analog zum Italienischen, oder von Wörtern wie cartulina als Äquivalent von sp. tarjeta ‘ Postkarte ’ analog zu it. cartolina. In diesem Zusammenhang stellt Jiménez Ramírez (2001: 21) bezüglich der Deutschschweiz fest, dass «der Einfluss des Italienischen auf das Spanische der zweiten Generation genauso gross ist wie der des Deutschen», schränkt dann aber ein, dass dies vor allem bei Universitätsstudenten und Kindern gemischter Paare mit einem italienischsprachigen Elternteil zu beobachten ist. Zum Sprachkontakt zwischen Spanisch und Italienisch in der Schweiz siehe Schmid 1994, 2008 und 2009. Zur Zweisprachigkeit der ersten Generation spanischer Migranten in der Westschweiz siehe Lüdi und Py 1983, 1984 und 1986 [ 4 2013], auch Grosjean und Py 1991. Py 2000 analysiert in der ersten uns bekannten Arbeit zur Immigration aus Hispanoamerika die französische Interlanguage 348 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch <?page no="385"?> einer mexikanischen Studentin in Neuchâtel. Zur zweiten Generation von Spaniern in der Westschweiz siehe Pujol 1990, 1991a, 1991b und 1993. Neuere Daten zum französisch-spanischen Kontakt in der Westschweiz bieten Castillo Lluch 2020a und 2023 sowie Castillo Lluch und Diez del Corral Areta 2019 - , zum Spanischen in der Deutschschweiz siehe Jiménez Ramírez 2001, Bossong 2009. Sánchez Abchi (2013, 2015, 2018, 2021) hat sich auf das Spanisch von Heritage speakers und deren Spracherwerb und Sprachgebrauch in der Schweiz spezialisiert, siehe auch Sánchez Abchi et al. 2016, 2017, 2018 und 2019. Zu Spracheinstellungen und -wahrnehmungen spanischsprachiger Emigranten siehe Bürki 2019a, 2019b sowie Bonomi und Bürki 2018. 5 Galicisch und Katalanisch in der Schweiz Die erwähnte Präsenz von Personen aus spanischen Regionen mit eigener Regionalsprache verdient einen Kommentar, da sie in sprachlicher und statistischer Hinsicht Relevanz hat. Sie betrifft zum einen das Katalanische, das in Katalonien, dem Land Valencia und den balearischen Inseln gesprochen wird, woher etwa ein Fünftel der in der Schweiz lebenden Personen spanischer Nationalität kommt. Die katalanische Community in der Schweiz ist einerseits durch Arbeitsmigration, andererseits schon seit dem spanischen Bürgerkrieg auch durch politische Migration geprägt. Es gibt in der Schweiz verschiedene Casals catalans, katalanische Kulturzentren, die sich in der Dachgesellschaft Casa nostra koordinieren und seit 60 Jahren eine Zeitschrift, Plançó, herausgeben. Katalanisch wird auch an verschiedenen Universitäten gelehrt (Eberenz-Greoles 2015 - 2017: 48). Die mit Abstand präsenteste Regionalsprache Spaniens in der Schweiz ist das Galicische. Sprachlich ist Galicisch, die Regionalsprache des Nordwestens der iberischen Halbinsel, die «Mutter» des Portugiesischen, das im Zuge der Reconquista aus dem Galicischen hervorging ( ► Portugiesisch). Alle Galicier sprechen heutzutage auch Spanisch, die grosse Mehrheit spricht aber auch Galicisch und bildet damit eine Art sprachliche Brücke zwischen Spanischsprachigen und Portugiesischsprachigen. Traditionell hatte das Galicische den Status eines regionalen Dialekts; im Zuge der Emanzipation der spanischen Regionalsprachen nach dem Ende der Franco-Diktatur wurden Baskisch, Katalanisch und Galicisch kooffizielle Sprachen in den jeweiligen Regionen und werden heute in den jeweiligen Regionen durch eine bewusste Sprachpolitik umfassend gefördert. In statistischer Hinsicht sind die spanischen Regionalsprachen in der Schweiz nicht ausreichend erfasst. In den Statistiken des BFS sind die Galicier - ebenso wie Katalanen und Basken - einfach «Spanier» und nicht getrennt aufgeführt. Dennoch gibt es durch das Spanische Nationale Statistische Institut (INE) und durch das Statistische Institut Galiciens Daten über die galicische Präsenz in der Schweiz. Suarez (2020) spricht aufgrund einer Schätzung von 80 ’ 000 Personen; in Kabatek et al. (2022) werden vorsichtigere Zahlen angegeben, wobei belegt ist, dass 37 % der in der Schweiz registrierten Personen spanischer Nationalität in Galicien geboren wurden. Es ist auffällig, dass in der Schweiz (und in Liechtenstein) Galicisch und die galicische Kultur oft auch an die in der Schweiz geborene Generation von Heritage speakers weitergegeben wird; die galicische Community pflegt ihre Identität in der Schweiz und in Liechtenstein in Kulturzentren und durch bestimmte kulturelle Eigenheiten (Dudelsackspiel, Volkstänze, kulinarische Events). Wie Katalanisch und Baskisch wird zuweilen auch Galicisch an der Universität Zürich gelehrt. Der traditionell (heute sicher weniger) eher arme Nordwesten der iberischen Halbinsel ist v. a. seit dem 19. Jahrhundert ein Emigrationsgebiet; Galicier sind auf der ganzen Welt Spanisch 349 <?page no="386"?> verstreut, insbesondere in Lateinamerika, doch auch in verschiedenen europäischen Ländern, wobei die Schweiz hier mit Abstand an erster Stelle steht, wie aus folgender Grafik ersichtlich: Abb. 7: Galicische Migranten in europäischen Ländern. Quelle: Méndez 2018 Es ist erwähnenswert, dass die galicische Bevölkerung in der Schweiz sowohl in Netzwerken organisiert ist, die sich durch den Bezug zur Herkunft definieren und andererseits in der zweiten und dritten Generation einen hohen Grad sozialer Integration in der Schweiz erreicht hat, wo sie wichtige Positionen von Fussballnationalspielern bis zu politischen Repräsentanten besetzt (so war etwa der ehemalige Bürgermeister von Genf, Alfonso Gómez, galicischstämmig und betonte dies auch immer wieder). Die Pflege des Kontakts zu den Herkunftsregionen hat zur Herausbildung von Migrationsketten geführt, deren Folge hohe Konzentrationen galicischstämmiger Personen an bestimmten Orten in der Schweiz und in Liechtenstein sind. Ein Beispiel ist die Stadt Delémont im Kanton Jura, wo im Jahr 2022 der weitaus grösste Anteil der 373 Spanier (bei 12 ’ 636 Einwohnern) galicischstämmig war. Ähnliches ist auch der Fall in Schaan, der grössten Stadt in Liechtenstein ( ► Liechtenstein). Aufgrund der hohen Gruppenkohärenz ist es - wie auch in anderen Migrantengruppen in der Schweiz - nicht selten, dass auch in der zweiten Generation innerhalb der Community geheiratet wird (Rodríguez Tembrás, im Druck). Calvo Salgado et al. (2010: 134) stellen fest, dass in den sechziger Jahren die ersten galicischen Migranten v. a. Genf und das Waadtland als Zielregionen auswählten; diese lagen geografisch am nächsten und waren durch das Französische als Landessprache kulturell näher als die deutschsprachigen Regionen. Doch bald wurden v. a. Zürich, Bern und Basel zu wichtigen Zentren für die galicische Migration. In Zürich hat sich die galicische Präsenz zwischen 1966 und 1976 mehr als verdreifacht. Calvo Salgado et al. 2010 dokumentieren die galicische Präsenz in der Schweiz und geben verschiedene Ausschnitte aus Interviews wieder, welche einen Einblick in die Sprachensituation geben: En realidade na casa falabamos sempre en galego e paréceme ben que fora así. Coñezo familias nas que os pais, que eran galegos, falaban cos seus fillos en español. Mais o español que se fala en Galiza non é para nada un español correcto, porque mesturamos todo e, ao cabo, as nenas e nenos non sabían falar ben nin español nin galego. Na casa nunca falabamos alemán, pois aínda que os meus pais o entendían, miña nai falaba pouco e o meu pai nada. A xente normalmente falaba con el en italiano. Eu só aprendín español na escola española e empecei con sete anos. Nas tardes dos mércores iamos sempre a miña irmá e máis eu ás clases, que normalmente eran relaxadas e pasabámolo ben, mais 350 Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch <?page no="387"?> aprender non aprendemos moito. A asistencia non era obrigatoria e podías simplemente avisar de que non ías. Estabamos toda a rapazada, de idades distintas, xunta no mesmo grupo cunha mestra. (María Rodríguez Domínguez, 1988 im Kanton Bern geboren mit Eltern aus Lugo und Pontevedra, in Calvo Salgado et al. 2010: 112) ‘ Also eigentlich sprachen wir zu Hause immer auf Galicisch und ich finde es auch gut, dass das so war. Ich kenne Familien, in denen die Eltern, die Galicier waren, mit den Kindern auf Spanisch sprachen, aber das Spanisch das man Galicien spricht ist überhaupt kein korrektes Spanisch, denn wir mischen alles, und am Ende konnten die Mädchen und Jungs weder Spanisch noch Galicisch richtig sprechen. Wir sprachen zu Hause nie deutsch, denn auch wenn meine Eltern es verstanden, sprach meine Mutter wenig und mein Vater nichts. Die Leute sprachen normalerweise mit ihm auf Italienisch. Ich habe Spanisch erst in der spanischen Schule gelernt und ich begann mit sieben Jahren. Mittwoch nachmittags gingen wir, meine Schwester und ich, immer in den Unterricht, der normalerweise recht locker war, und wir hatten Spass. Aber so richtig lernten wir eigentlich eher nichts. Die Anwesenheit war nicht Pflicht und man konnte einfach sagen, dass man nicht hinging. Wir waren da alle, die ganze Jugend, in verschiedenem Alter, alle zusammen mit einer Lehrerin. ’ Zum Galicischen und der galicischen Community in der Schweiz siehe Calvo Salgado et al. 2010, Suarez 2020, Rodríguez Tembrás (im Druck); zum Galicischen allgemein siehe Kabatek 2013. Zum Katalanischen in der Schweiz siehe Eberenz-Greoles 2015 - 2017. 6 Die Zukunft des Spanischen in der Schweiz Wie eingangs gesagt, ist die Schweiz in gewisser Hinsicht auch ein spanischsprachiges Land, und dies sowohl aufgrund der Migration aus spanischsprachigen Ländern als auch aufgrund des Interesses an Spanisch als Fremdsprache. Über die zukünftige Entwicklung der Präsenz des Spanischen zu spekulieren, macht wenig Sinn, doch lässt allein die Bedeutung der etablierten spanischsprachigen Bevölkerung einerseits und die Grösse der spanischsprachigen Welt andererseits vermuten, dass auch in Zukunft grössere Anzahlen von Personen aus spanischsprachigen Ländern in die Schweiz kommen und hier leben werden. Auch wenn wir gesehen haben, dass einige Aspekte des Spanischen in der Schweiz recht gut beschrieben sind, so gibt es doch auch zahlreiche Forschungslücken und interessante Gebiete, die noch zu erarbeiten wären. So wäre es interessant, die verschiedenen Kontaktsituationen des Spanischen in der Schweiz vergleichend zu untersuchen. Die Tatsache, dass Spanisch mit allen Landessprachen in Kontakt steht, führt zu einer einladenden empirischen Vergleichssituation. Ausserdem bieten der Kontakt zu anderen Sprachen (etwa Spanisch und Galicisch, Spanisch und Portugiesisch, Spanisch und Italienisch) sowie der Kontakt unter den verschiedenen Varietäten des Spanischen in verschiedenen Konstellationen umfassende Untersuchungsmöglichkeiten. Hinzu kommt die vertikale Achse des generationellen Wandels und die Frage des Spracherhalts oder Sprachverlustes. Auch gibt es bislang wenig Information zur Situation des Spanischen in der italienischsprachigen Schweiz. Ein weiterer Aspekt ist das Verhältnis von Spanisch als Muttersprache, Heritage language und Fremdsprache in verschiedenen sozialen Kontexten. Spanisch 351 <?page no="388"?> Bibliografie Bonomi, Milin / Bürki, Yvette (2018). Percepción lingüística y prácticas translingües en la diáspora latina en Suiza e Italia: una propuesta metodológica. Revista Internacional de Lingüística Iberoamericana 31, 69 - 98. Bossong, Georg (2009). Suiza: identidades lingüísticas complejas en un país plurilingüe. 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Spanisch 355 <?page no="392"?> Portugiesisch Johannes Kabatek, Universität Zürich 1 Einleitung Im Jahr 2022 waren die drei häufigsten Nachnamen im Kanton Waadt portugiesisch, im Kanton Neuchâtel sind es sogar die vier häufigsten. In der Gemeinde Täsch («Portäsch») bei Zermatt spricht die Bevölkerung mehrheitlich Portugiesisch und ist portugiesischer Herkunft. Neben solchen anekdotischen und regional begrenzten Rekorden zeigt sich die Präsenz des Portugiesischen in der Schweiz im ganzen Land. Portugiesisch ist nach Englisch die zu Hause am meisten gesprochene Nicht-Landessprache der Schweiz, mit ungleicher Verteilung und teils sehr hohen Sprecherzahlen (BFS 2024). In der Westschweiz sprechen mehr als 10 % Portugiesisch, auch in Graubünden und im Kanton Zürich ist das Portugiesische weit verbreitet, wobei die Sprache als «leise» Sprache gilt und die Portugiesen in der Schweiz als eher unauffällige Gruppe. Den weitaus grössten Anteil haben dabei die ca. 260 ’ 000 Portugiesen (2023), neben ca. 24 ’ 000 Brasilianern, rund 2 ’ 000 Angolanern und 965 Caboverdianern, die insbesondere in den urbanen Räumen leben. Personen aus anderen portugiesischsprachigen Ländern (Mosambik: 84, S-o Tomé und Príncipe: 15) gibt es nur wenige in der Schweiz (SEM 2023). Zu der ersten Gruppe der ständig in der Schweiz lebenden Personen, die unmittelbar aus einem portugiesischsprachigen Land stammen, kommen weitere: die in der Schweiz eingebürgerten Nachfahren der ersten Gruppe, die nicht mehr in der Ausländerstatistik gezählt werden und nicht-portugiesischsprachige Personen, die Portugiesisch lernen oder gelernt haben. Ungeachtet des hohen Anteils Portugiesischsprachiger an der Wohnbevölkerung spielt jedoch im Gegensatz etwa zum Spanischen das Portugiesische im Erziehungswesen eine untergeordnete Rolle: es ist eine Sprache, die vor allem zu Hause und bei der Arbeit gesprochen wird. Dennoch ist das Portugiesische auch präsent in der Sekundarschulausbildung und an den Universitäten. Zuweilen findet sich Portugiesisch auch in der Kommunikation zwischen Portugiesischsprachigen und anderen Romanischsprachigen (etwa mit Spanisch- oder Rätoromanischsprachigen). Über die ständige Wohnbevölkerung hinaus gibt es in der Schweiz eine weitere Gruppe nicht-ständiger Bevölkerung und eine relativ beachtliche Zahl von Touristen v. a. aus Brasilien. Der folgende kurze Beitrag soll, nach ein paar einleitenden allgemeinen Worten zur portugiesischen Sprache, ausgehend von der aktuellen demo- und geolinguistischen Situation die Geschichte der Präsenz des Portugiesischen in der Schweiz nachzeichnen und dabei verschiedene Faktoren für die Migration und die Präsenz der Sprache in der Schweiz beschreiben (einschliesslich der politischen Migration v. a. in die Westschweiz in Zeiten der Salazar-Diktatur und der Rückkehr von Migranten in den letzten Jahrzehnten). <?page no="393"?> In einem zweiten Teil wird die soziolinguistische Situation des Portugiesischen in der Schweiz skizziert und Portugiesisch als Sprache bestimmter sozialer Gruppen und als Kontaktsprache beschrieben. Dabei werden auch verschiedene Studien zum Spracherwerb und zum Portugiesischen als Heritage language in den Sprachregionen der Schweiz vorgestellt. 2 Weltsprache Portugiesisch Portugiesisch ist eine romanische (also vom Latein abstammende) Sprache und wird heute von ca. 265 Mio. Personen weltweit gesprochen, wobei die Zahlen wie bei allen Weltsprachen je nach Erhebungsmethode einigermassen uneinheitlich sind. Ethnologue gibt für 2023 219 Mio. Muttersprachler und 27.4 Mio. Sprecher von Portugiesisch als Zweit- oder Fremdsprache an, also eine angesichts der aktuellen Bevölkerungszahlen sicherlich untertriebene Gesamtzahl von 263.6 Mio. Personen. Das grösste portugiesischsprachige Land ist mit Abstand Brasilien (220 Mio. Einwohner 2024), gefolgt von Angola (37 Mio.), Mosambik (34.5 Mio.), Portugal (10 Mio.), Guinea-Bissau (2.1 Mio.) und Äquatorialguinea (1.55 Mio.), Osttimor (1.4 Mio.), Kapverden (0.58 Mio.) und S-o Tomé und Príncipe (0.24 Mio.) (Zahlen aus Countrymeters). Die Frage ist, wie viele Personen in den jeweiligen Ländern Portugiesisch sprechen; in Portugal sind es nahezu 100 %; für Brasilien nimmt man an, dass ca. 97 % der Bevölkerung Portugiesisch als Muttersprache hat, in Afrika sind die Anteile im Allgemeinen deutlich geringer. Die weltweite Verbreitung geht zurück auf die ersten Kolonialreiche ab dem 15. Jahrhundert und die Aufteilung der Welt zwischen Spanien ( ► Spanisch) und Portugal im Vertrag von Tordesillas 1494. Die portugiesischen Navigationstechniken und der durch den Unterbruch der Seidenstrasse gegebene Explorationsdruck beflügelten die Expansion Portugals in Afrika, Asien und Amerika, wobei die portugiesische Kolonisation (ähnlich der griechischen in der Antike) tendenziell eher eine Handelskolonisation der Küsten war und nicht zu einer durchdringenden Lusitanisierung der beherrschten Territorien führte. Dennoch wurde im Laufe der Jahrhunderte v. a. Brasilien nachhaltig lusitanisiert; in Afrika ist die Durchdringung des Portugiesischen etwa in Angola und Mosambik bis heute nur partiell; ein starker Anstieg des Anteils der Portugiesischsprechenden ist dort im Laufe dieses Jahrhunderts zu erwarten (UN 2017). Trotz des einheitlichen Sprachnamens ist Portugiesisch v. a. in Portugal und Brasilien sehr unterschiedlich; die Sprache wird heute oft als plurizentrisch oder bizentrisch charakterisiert (Silva 2014). Innerhalb der romanischen Sprachen ist Portugiesisch als iberoromanische Sprache eng mit dem Spanischen verwandt, weist aber ein wesentlich komplexeres phonologisches System auf: mit fünf verschiedenen Nasalvokalen sowie Nasaldiphthongen und Nasaltriphthongen, z. B. bom [bõ] ‘ gut ’ (Adj.), bem [b ɐ ̃ j], ‘ gut ’ (Adv.), vêm [ ˈ v ɐ ̃ j ɐ ̃ j] ‘ sie kommen ’ sowie mit stimmhaften und stimmlosen Sibilanten, z. B. peço [ ˈ p ɛ su] ‘ ich bitte ’ , peso [ ˈ p ɛ zu] ‘ Gewicht ’ . Phonotaktisch ist Portugiesisch von der Nachbarsprache weit entfernt, da es (allerdings ausschliesslich in den Varietäten Portugals) eine hohe Tendenz zur Vokalsynkopierung und der daraus resultierenden Bildung von in der Romania einzigartig komplexen Silben zeigt (z. B. desprezar [d ʃ p ɾˈ za ɾ ] ‘ geringschätzen, verachten ’ siehe Cunha- Gergel 2015; Heinz 2023: 105). Die Nasalität wird z. T. orthographisch markiert (<l-> [l ɐ ̃ ] ‘ Wolle ’ ); die Palatallaute werden durch die im Mittelalter aus dem Okzitanischen über- Portugiesisch 357 <?page no="394"?> nommenen Grapheme <nh> [ ɲ ] und <lh> [ ʎ ] wiedergegeben. Durch die Randlage in der Romania bewahrte das Portugiesische einige relativ «konservative» Besonderheiten in der Grammatik und im Wortschatz; gleichzeitig hat es innovative Züge wie z. B. flektierbare Infinitive entwickelt (1). (1) É urgente mudarmos os hábitos. Sein-3 SG dringend ändern- INF -1 PL DET Gewohnheit- PL ‘ Wir müssen dringend unsere Gewohnheiten ändern. ’ Historisch gesehen entstand Portugiesisch durch den Kontakt zwischen dem durch die Reconquista (die Rückeroberung der ab 711 maurisch eroberten Iberischen Halbinsel) nach Süden getragenen Galicischen (der Sprache des Nordwestens der Iberischen Halbinsel) und dem «Mozarabischen» (d. h. den unter arabischer Herrschaft gesprochenen romanischen Dialekten) v. a. nach der Eroberung der Hauptstadt Lissabon und der Absonderung Portugals als eigenständiger politischer Einheit. Die enge Verbindung zwischen Galicisch und Portugiesisch erlaubt bis heute eine weitgehende gegenseitige Verständigung, was in der Schweiz, wo mehr als ein Drittel der spanischen Migration aus Galicien kommt, Kontakte zwischen Personen aus dem Nordwesten Spaniens und aus Portugal fördert ( ► Spanisch und der dortige Abschnitt zu Galicisch). Die Unterschiede zwischen europäischem und brasilianischem Portugiesisch betreffen auch die Standardvarietäten; in Afrika hingegen sind die Standardvarietäten stärker an Portugal orientiert, auch wenn es im Bereich der Substandards grosse Abweichungen gibt. Brasilianisches Portugiesisch ist phonotaktisch silbenzählend und weist in der am weitesten verbreiteten Aussprache auffällige Palatalisierungen von / d/ und / t/ vor hellem Vokal auf (leite [ ˈ lejt ʃ i] ‘ Milch ’ , dia [ ˈ d ʒ i ə ] ‘ Tag ’ ). Subjektpronomina sind im brasilianischen Portugiesisch weitgehend obligatorisch; hingegen tendiert die Sprache dazu, im Diskurs erwähnte Objekte nicht obligatorisch auszudrücken (Wall und Kabatek 2022: 11) (2). (2) Eu conheci numa festa. Ich kennen-1 SG - PST in+ DET Fest ‘ Ich habe (ihn) bei einem Fest kennengelernt. ’ Durch die Grammatikalisierung von você (< vossa mercê, ‘ Eure Gnaden ’ ) als unmarkierte Form der Anrede der zweiten Person und von a gente (< a gente ‘ die Leute ’ ) als 1. Person Plural, die beide mit Verben in der dritten Person Singular konjugiert werden, wird das Verbalparadigma stark reduziert; im gesprochenen bras. Port. findet sich zudem Endungsabbau im nominalen und verbalen Bereich. Die Unterschiede zwischen europäischem und brasilianischem Portugiesisch sind z. T. so gross, dass es zu Verständigungsproblemen kommt; insbesondere Brasilianer empfinden europäisches Portugiesisch oft als schwer verständlich. Zum Portugiesischen in der Welt und zum Portugiesischen allgemein siehe Noll im Druck, Silva 2014, Wetzels et al. 2016, Martins und Carrilho 2016, Azevedo 2005. Aktuelle Sprecherzahlen siehe https: / / countrymeters.info/ , zur Bevölkerungsentwicklungsprognose siehe UN 2017. Zum brasilianischen Portugiesisch siehe Kabatek und Wall 2022. 358 Johannes Kabatek <?page no="395"?> 3 Portugiesisch in der Schweiz heute Portugiesisch ist die laut Bundesamt für Statistik (BFS 2024) zweitmeist zu Hause gesprochene Nichtlandessprache nach Englisch und wird 2022 von ca. 3.4 % der Wohnbevölkerung als Hauptsprache angegeben. Betrachtet man die Vergleichsdaten der in der Schweiz 2010 und 2020 gesprochenen Nichtlandessprachen, so fällt auf, dass praktisch alle (mit Ausnahme BKMS, ► Sprachbeziehungen und nationale, überregionale Institutionen), so auch Portugiesisch, Zuwächse aufweisen (Abb. 1), wobei für Portugiesisch allerdings seit 2016 ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist. Abb. 1: Häufigste Nichtlandessprachen und deren Entwicklung von 2010 und 2020, aus BFS 2022: 9 Die Zahl derjenigen, die angeben, mindestens einmal pro Woche Portugiesisch zu sprechen, liegt bei 4.8 %. Die Präsenz des Portugiesischen ist stark regional differenziert. So ist in der Westschweiz mit fast 10 % Anteil Portugiesisch sogar die erste Nichtlandessprache, noch vor Englisch (Abb. 2). Portugiesisch 359 <?page no="396"?> Abb. 2: Häufigste Nichtlandessprachen und deren Entwicklung von 2010 und 2020 im französischen Sprachgebiet, aus BFS 2022: 10 Da die aus Portugal Stammenden die grosse Mehrheit der Portugiesischsprachigen in der Schweiz bilden, sind sie es, die die geographische Verteilung des Portugiesischen besonders prägen. Insbesondere in der Region um den Genfersee und in Neuenburg und Freiburg, aber auch im Wallis und in Graubünden (und hier auch in ländlichen Räumen) sowie im Kanton Zürich ist die portugiesischstämmige Bevölkerung stark präsent (Abb. 3). Dies erklärt auch die eingangs erwähnte Namenshäufigkeit in der Westschweiz ( ► Berchtold/ Steiner_Band2). 360 Johannes Kabatek <?page no="397"?> Abb. 3: Anteil der Bevölkerung portugiesischer Nationalität an der ständigen Wohnbevölkerung ausländischer Herkunft im Jahr 2023, eigene Erarbeitung auf der Basis der Daten des SEM Im Falle der Personen mit brasilianischem Migrationshintergrund ist die Situation leicht verschoben: sie konzentrieren sich in erster Linie auf die urbanen Regionen von Zürich und am Genfersee und weniger auf die ländlichen Räume (Ähnliches trifft auch auf Personen aus den afrikanischen portugiesischsprachigen Ländern zu): Abb. 4: Anteil der Bevölkerung brasilianischer Nationalität an der ständigen Wohnbevölkerung ausländischer Herkunft im Jahr 2023, eigene Erarbeitung auf der Basis der Daten des SEM Portugiesisch 361 <?page no="398"?> Zur Präsenz des Portugiesischen in der Schweiz siehe BFS 2024, SEM 2023, Fibbi et al. 2010, Gonçalves und Vizentini 2022. 4 Geschichte der Migration Der Hauptanteil der portugiesischsprachigen Bevölkerung in der Schweiz gründet auf Arbeitsmigration. Die Arbeitsmigration in die Schweiz ist in erster Linie ein Phänomen der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg; sie beginnt mit italienischer Immigration, die ab den 50er Jahren ergänzt wird durch spanische Immigration ( ► Spanisch). In diesem Kontext ist die portugiesische Immigration eine vergleichsweise späte ( ► Albanisch). In den sechziger und siebziger Jahren kommen erste portugiesische Saisonarbeiter oft illegal und ohne soziale Absicherung für maximal neun Monate pro Jahr in die Schweiz. 1960 waren in der Schweiz gerade einmal 373 Portugiesen registriert; 1964 waren es 1409. Bis zur Nelkenrevolution im Jahre 1974 herrschte in Portugal unter dem Diktator Salazar und ab 1968 unter seinem Nachfolger Caetano eine restriktive Politik, deren Ziel es war, Emigration zu verhindern, um genügend Personal für die Kriege in Afrika zu haben und die Kolonien unter portugiesischer Herrschaft zu halten; dennoch gab es illegale Emigration v. a. nach Frankreich (Pereira 2020). Nach der portugiesischen Studentenbewegung zwischen 1962 und 1965 gingen zahlreiche junge Intellektuelle ins Exil, einige davon in die Schweiz, vorrangig nach Genf und Lausanne. Hier entstanden Mitte der sechziger Jahre zwei Zellen der portugiesischen kommunistischen Partei; 1965 wurde von Genf aus ein Aufruf zur Befreiung der in Portugal aus politischen Gründen inhaftierten Studenten publiziert. Die Anzahl der zur so genannten «Genfer Gruppe» gezählten portugiesischen Intellektuellen, von denen einige nach 1974 wichtige politische Ämter innehatten, war wohl eher gering; Pereira (2010) vermutet ca. 100 Portugiesen in Genf und Lausanne in den sechziger Jahren. Auch einige Oppositionelle aus den afrikanischen Kolonien lebten vor 1974 in der Schweiz. Nach der Nelkenrevolution 1974 änderte sich die Situation grundlegend. 1975 waren in der Schweiz 5'996 Portugiesen, die zumeist maximal ein Jahr im Land blieben. Ab 1979 gab es eine regelrechte Explosion; zwischen 1984 und 1992, dem «goldenen Zeitalter der Migration» (Marques 2008: 259), kamen durchschnittlich etwa 13 ’ 400 pro Jahr, von denen viele längerfristig blieben. Ab 1993 nahm die Zahl der Ankommenden erstmals wieder ab, doch stieg die Gesamtzahl weiter an. Erst ab 2016 gab es einen leichten Einbruch, der jedoch in jüngster Zeit durch neues Wachstum als überwunden angesehen werden kann. Es mag verwundern, weshalb die portugiesische Immigration in einer Zeit besonders blüht, in der Portugal durch die europäische Integration und den EU-Beitritt 1986 eigentlich in eine Phase der wirtschaftlichen Prosperität eintritt. Der Hauptgrund liegt bis in die Gegenwart in den enormen Lohnunterschieden beider Länder, welche dazu führen, dass die Schweiz, Liechtenstein und Luxemburg zu bevorzugten Zielen portugiesischer Migration geworden sind. Diese hatte zunächst, in den letzten Jahren der Salazar- Diktatur und nach der Nelkenrevolution, in erster Linie Frankreich als bevorzugtes Migrationsziel, was in Portugal zum Entstehen eines massiven francoportugiesischen Einflusses geführt hatte, der wesentlich zur Modernisierung des Landes in den siebziger und achtziger Jahren beitrug. Die mentale Nähe zu Frankreich und eine gewisse Frankophilie ebneten denn auch den Boden für den ab den 80er Jahren möglichen 362 Johannes Kabatek <?page no="399"?> Weg in die Schweiz, der einem Dammbruch gleich konsequenterweise v. a. die Westschweiz erfasste und sich bald auch über das französischsprachige Gebiet ins Wallis und (u. a. durch Beschäftigungsmöglichkeiten im Bau- und Tourismussektor) nach Graubünden ausdehnte. Heute ist die Schweiz nach Frankreich und den USA das Land mit der dritthöchsten Zahl an portugiesischstämmigen Migranten (Reto et al. 2018: 179). Die folgende Grafik zeigt den enormen Anstieg der portugiesischen Präsenz in der Schweiz ab 1980: Abb. 5: Entwicklung der portugiesischen Migration in die Schweiz von 1980 bis 2018, aus Azevedo 2020 Dass die Schweiz als eine Art wirtschaftliches Mekka angesehen wurde, führte v. a. zur Migration aus den südlichen und nördlichen Gebieten des Landes, die im Gegensatz zum Zentrum und der Achse Lissabon - Coimbra - Porto vom wirtschaftlichen Boom der 80er Jahre vergleichsweise wenig profitierten. Heute, fast ein halbes Jahrhundert nach Beginn der grossen Immigrationswelle, sind die Portugiesen in der Schweiz fest etabliert und haben eine führende Rolle in gewissen Sektoren (u. a. Reinigungsfirmen, Dienstleistungen, Baubranche), wobei die Migration des 21. Jahrhunderts auch vermehrt eine von Personen mit höherer Bildung ist (Mendes und Ramos 2023: 30). Seit 2020 existiert der Verband AGRAPS (https: / / agraps.ch) als Repräsentanz portugiesischer Akademiker in der Schweiz. Auch der laufende Migrationsstrom wird in beiden Ländern organisiert; Internetseiten locken mit ‘ 10 guten Gründen, um in der Schweiz zu arbeiten ’ («10 boas razões para trabalhar na Suiça», (https: / / infosuica.com/ 10-boas-razoes-trabalhar-na-suica/ ), mit vergleichenden Gehaltstabellen oder mit Erfahrungsberichten. Die Internetseite «Trabalho na Suiça» ( ‘ Arbeit in der Schweiz ’ bzw. ‘ Ich arbeite in der Schweiz ’ ) hat 80 ’ 000 Follower und veröffentlicht Anzeigen wie die folgende: Portugiesisch 363 <?page no="400"?> Abb. 6: Portugiesisch-deutsche Werbung für die Schweiz als Arbeitsort Doch auch wenn - Interviews mit portugiesischen Migranten zufolge (Marques 2008) - die Schweiz als Ort angesehen wird, um ein besseres Leben, «uma vida melhor» zu haben (3), ist das Ziel eines grossen Teils der Portugiesen in der Schweiz die Erfüllung von längerfristigen Träumen im Herkunftsland (4): (3) Emigrei por dificultades em Portugal … para fazer uma vida melhor. N-o foi por falta de trabalho, porque trabalho tinha eu lá, foi só porque lá n-o dava … ent-o vim para cá para tentar fazer uma vida melhor. (Marques 2008: 296, Interview Nr. 103) ‘ Ich bin emigriert aufgrund der Schwierigkeiten in Portugal … um ein besseres Leben zu haben. Nicht weil ich keine Arbeit gehabt hätte, denn Arbeit hatte ich dort, es war nur weil es dort nicht gereicht hat … darum kam ich hierher, um ein besseres Leben zu versuchen. ’ (4) O meu desejo foi sempre fazer uma casa. Mas o dinheiro que ganhava naquele tempo mal dava para comprar um terreno, quanto mais para fazer uma casa. A certa altura soube que o fazendeiro para o qual trabalhava ia vender umas terras aqui nesta zona que me interessava comprar, pois já tinha pensado que aqui seria um bom local para construir uma casa. Mas como eu n-o tinha dinheiro, o que é que eu havia de fazer? [ … ] Soube que estavam abertas as inscrições para a emigraç-o e ent-o resolvi inscrever-me. (Marques 2008: 299, Interview Nr. 16) ‘ Mein Wunsch war es immer, ein Haus zu bauen, doch das Geld, das ich in jener Zeit verdiente reichte nicht einmal, um ein Stück Land zu kaufen, geschweige denn um ein Haus zu bauen. Irgendwann erfuhr ich, dass der Gutsbesitzer, für den ich arbeitete, ein paar 364 Johannes Kabatek <?page no="401"?> Stück Land in der Gegend, die mich interessierte, verkaufen würde, denn ich dachte schon länger, das wäre eine gute Gegend, um ein Haus zu bauen. Aber da ich kein Geld hatte, was sollte ich denn tun? Ich erfuhr, dass Listen offen waren für die Emigration und dann habe ich es geschafft, mich einzuschreiben. ’ Sehr häufig bilden sich Migrationsketten, bei denen Personen aus dem sozialen Umfeld in Portugal anderen Personen folgen, die bereits emigriert sind (5): (5) O grande esquema de entrada na Suíça é o do amigo que chama o amigo, o irm-o que chama o irm-o, ou primo que chama o primo, etc., e uma parte menor entra através de processos sobre o controlo administrativo do Estado. (Marques 2008: 305, Interview Nr. 9) ‘ Das Hauptschema, um in die Schweiz zu kommen, ist das des Freundes, der einen Freund ruft, des Bruders, der einen Bruder ruft oder des Cousins, der einen Cousin ruft; nur ein kleiner Teil kommt über die Verwaltungskontrolle des Staates. ’ Zur Geschichte der portugiesischen Migration in die Schweiz siehe Marques 2008; zur politischen Migration siehe Pereira 2010; statistische Daten siehe Azevedo 2020. 5 Portugiesisch als Unterrichtssprache Im Gegensatz zur Nachbarsprache Spanisch ( ► Spanisch) ist Portugiesisch im Unterricht an öffentlichen Schulen kaum präsent. Es gibt einige wenige Gymnasien, die Portugiesisch in der Sekundarstufe II anbieten, dazu verschiedene Privatschulen wie die International School of Geneva oder das Internat Collège Alpin Beau Soleil. Portugiesisch steht bei den am meisten gelernten Sprachen der Schweiz an achter Stelle; laut BFS (2024) wird Portugiesisch von ca. 1.5 % der mehr als 25-jährigen in der Schweiz gelernt. Auch an mehreren Universitäten der Schweiz kann Portugiesisch gelernt werden. Die Universität Zürich nimmt bis heute eine Sonderrolle ein; hier wurde 1946 ein vom portugiesischen Instituto de Alta Cultura finanziertes Portugiesischlektorat geschaffen, seitdem wird Portugiesisch am Romanischen Seminar und seit einigen Jahren auch am Sprachenzentrum (hier brasilianisches Portugiesisch) unterrichtet und kann im Rahmen des Romanistikstudiums als Schwerpunkt gewählt werden. An den Universitäten Zürich und Genf existieren vom Instituto Camões, dem portugiesischen internationalen Kulturinstitut, finanzierte, so genannte «Cátedras de estudos portugueses»: an den beiden Universitäten unterstützt das Institut im Rahmen der «Cátedra Carlos de Oliveira» (Zürich, seit 2013) und seit 2020 auch im Rahmen der «Cátedra Lídia Jorge» in Genf regelmässig Kolloquien und sonstige wissenschaftliche und kulturelle Veranstaltungen zum Portugiesischen. 6 Portugiesisch als Heritage language Wie bei allen Migrationssprachen in der Schweiz ist die Frage interessant, ob und wie die Sprache der ersten Generation an weitere Generationen weitergegeben wird. Die Szenarien sind hier sehr unterschiedlich und umfassen eine Bandbreite vom völligen Verlust des Portugiesischen in der zweiten Generation (v. a. bei gemischtsprachigen Eltern) bis hin zur praktisch vollständigen Transmission durch die Eltern, durch sonstige soziale Bezüge oder durch kontinuierliche Kontakte in die portugiesischsprachigen Länder. Sprachstatistischen Erhebungen zufolge reduziert sich die Zahl der regelmässig Portugiesisch Spre- Portugiesisch 365 <?page no="402"?> chenden von der ersten auf die zweite Generation um etwa die Hälfte, wobei Portugiesisch hier einen vergleichsweise hohen Weitergabewert aufweist, was Fibbi et al. (2010: 90) mit häufigen Reisen nach Portugal und der Kontaktpflege zur anderen Portugiesischstämmigen erklären. Im Falle Portugals (siehe Flores et al. 2022b) gibt es aufgrund des in Portugal verankerten Rechts auf schulische Ausbildung auch im Ausland seit Ende der 1970er Jahre vom portugiesischen Staat finanzierte und organisierte Kurse für Heritage speaker (seit 1986 nach Art. 19 des Erziehungsgrundlagengesetzes Lei de bases do sistema educativo, in welchem das verfassungsmässige Recht auf Bildung und Kultur geregelt wird). Diese Kurse wurden zunächst vom Erziehungsministerium, dann vom Aussenministerium und dann ab 2010 vom Instituto Camões organisiert und sind in der Schweiz in die kantonalen Programme für Heimatliche Sprache und Kultur (HSK) eingebunden. Seit 2013 orientiert sich auch der Portugiesischunterricht u. a. an einem Rahmenlehrplan, der vom Kanton Zürich erarbeitet und von vielen Kantonen übernommen wurde. Die Pädagogische Hochschule Zürich hat für die Umsetzung mehrsprachige Unterrichtsmaterialien geschaffen, die auch für Portugiesisch zur Verfügung stehen (https: / / myheritagelanguage.com/ ptpt/ ). Die Kurse finden in öffentlichen Schulen nach dem regulären Unterricht oder am Samstag statt und umfassen zwei bis drei Stunden Unterricht wöchentlich in altersgemischten Gruppen. Gonçalves und Vinzentini (2022, meine Übersetzung; siehe auch Zingg und Gonçalves 2022) kritisieren hierbei: Der HSK-Unterricht nimmt eine Randposition ein, die auf verschiedenen Ebenen als problematisch angesehen wird: Anerkennung und Legitimation der HSK-Lehrkräfte im Vergleich zu ihren Schweizer Kolleginnen und Kollegen; Zuteilung von Stundenplänen und Unterrichtsräumen; Knappheit der verfügbaren Ressourcen und die eigene Motivation der Schülerinnen und Schüler, im HSK-Unterricht zu lernen und Kompetenzen zu entwickeln. Die Schweiz ist - wie auch im Falle des Spanischen - das Land mit den weltweit (in absoluten Zahlen! ) meisten HSK-Kursen für Portugiesisch. Von den weltweit 78 ’ 244 Schülerinnen und Schülern mit 978 Lehrpersonen im Jahre 2018 - 19 fielen 8 ’ 000/ 72 auf die Schweiz. Dies ist angesichts der Grösse des Landes beeindruckend. Die Schweiz ist auch das Land mit den weltweit meisten Sprachzertifizierungen des Instituto Camões (Reto et al. 2018: 79). Abb. 7 zeigt die Entwicklung der Anzahl der Schülerinnen und Schüler ab 1999: 366 Johannes Kabatek <?page no="403"?> Abb. 7: Anzahl portugiesische Schülerinnen und Schüler in HSK-Kursen 1999 bis 2020, in Gonçalves und Vinzentini 2022 Gonçalves und Vinzentini (2022) erklären den Rückgang ab 2011 mit Kürzungen der Finanzierung der Bildungsprogramme aufgrund der wirtschaftlichen Krise in Portugal und mit dem Rückgang des Interesses an heimatsprachlichem Unterricht in der dritten Generation; zudem weisen sie darauf hin, dass der Saldo der portugiesischsprachigen Migration seit 2017 leicht negativ ist. Es ist erwähnenswert, dass der Unterricht, obwohl vom portugiesischen Staat organisiert, die Plurizentrik des Portugiesischen zu berücksichtigen versucht und es hierfür spezielle Unterrichtsmaterialien gibt (Duarte et al. 2023). Die ursprüngliche Intention, den in der Schweiz sozialisierten Kindern die Rückkehr in das portugiesische Schulsystem zu ermöglichen, ist im Laufe der Jahrzehnte und mit im allgemeinen längerer Verweildauer der Funktion gewichen, die Sprache des Heimatlandes der Eltern auch als Standardsprache und auch schriftlich zu vermitteln, um die Herkunftsidentität zu fördern, die wie im Falle anderer Migrationssprachen nicht als alternativ, sondern als komplementär zur lokalen Sprache und zu den unterrichteten Fremdsprachen gesehen wird. Für die brasilianischstämmige Bevölkerung gibt es keine vergleichbaren staatlichen Angebote wie im Falle Portugals, daher haben hier verschiedene Elterninitiativen lokal Angebote organisiert. Das Interesse ist vergleichsweise gering, was Gonçalves und Vinzentini (2022) auf die Tatsache zurückführen, dass der grösste Teil der brasilianischstämmigen Schülerinnen und Schüler aus gemischten Ehen hervorgeht. Sie zeigen jedoch auch, dass die seit 1996 organisierten privaten Angebote zu einem ständigen Zuwachs geführt haben (Abb. 8): Portugiesisch 367 <?page no="404"?> Abb. 8: Anzahl brasilianischstämmiger Schülerinnen und Schüler in privat organisierten Sprachkursen dreier Schulen (untere Linien, Gesamtzahl obere Linie) 2012 bis 2019, in Gonçalves und Vinzentini 2022 Die Mehrsprachigkeit der Schweiz als kontrastives Kontaktlabor nutzten Flores et al. (2022a) sowie Torregrossa et al. (2023), indem sie den Prozess der Erlernung verschiedener portugiesischer Strukturen bei 180 Heritage-Speakern im Alter zwischen 8 und 16 untersuchten. Mit Lückentests wurden 40 verschiedene Strukturen unterschiedlicher Komplexität betrachtet, von Flexionsendungen auf der einen Seite der Komplexitätsskala bis hin zu Konzessivkonstruktionen mit flektierten Infinitiven auf der anderen Seite. Alle Informanten nahmen am HSK-Unterricht teil. Die Variablen, die eine Rolle spielten, waren neben der Kontaktsprache einerseits das Alter und andererseits die Intensität der Präsenz des Portugiesischen, wobei diese durch eine sprecherbiographische Befragung erfasst wurde. Flores et al. (2022a: 103) kommen zu dem Ergebnis, dass die Familie und der dortige Kontakt mit dem Portugiesischen der Hauptfaktor für den Grad der Beherrschung des Portugiesischen ist, dass eine hohe Kompetenz in der Herkunftssprache keine negativen Auswirkungen auf die Entwicklung der Mehrheitssprache hat und dass der Portugiesischunterricht einen wichtigen Beitrag zum Ausbau sprachlicher Kompetenzen leistet, und zwar insbesondere solcher typischer «Schul»kompetenzen, die auch bei einsprachigen Personen erst in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium erworben werden. In Torregrossa et al. (2023) ist das auffälligste Hauptergebnis, dass die Verschiedenheit der Kontaktsprachen und deren Nähe oder Ferne zum Portugiesischen kaum einen Einfluss auf die Erlernung bestimmter Strukturen des Portugiesischen hat, und zwar weder der komplexeren noch der weniger komplexen; vielmehr ist es vor allem die Intensität der Präsenz des Portugiesischen im Umfeld, die für die Erklimmung verschiedene Lernstufen verantwortlich zu sein scheint ( ► Pfenninger/ Becker_Band2). In einer weiteren Studie zeigen Flores et al. (2022), dass bei der Analyse syntaktischer und morphologischer Kompetenzen im Verbalbereich (u. a. Gebrauch der Verbaltempora, Objektposition: port. O rapaz queria comprar(V) uma bola(O). vs. de. Der Junge wollte einen Ball(O) kaufen(V)) portugiesisch-deutsch sozialisierte Kinder zwischen 8 und 15 Jahren in der Deutschschweiz stabile und altersgemässe Kenntnisse in beiden Sprachen erworben haben und sich Defizite v. a. auf den Bereich der Orthographie beschränken. Mehrsprachigkeit ist also in diesem Falle kein Lernhemmnis, sondern erweist sich für bestimmte Lernprozesse sogar eher als förderlich. 368 Johannes Kabatek <?page no="405"?> Zu Portugiesisch als Heritage language allgemein siehe Reto et al. 2018: 79 und v. a. Gonçalves und Vinzentini 2022; zu den Regionen der Schweiz siehe Flores et al. 2022a; zur Erlernung komplexer Strukturen siehe Torregrossa et al. 2023. 7 Portugiesisch in der Schweiz: eine unsichtbare Sprache? Trotz der grossen Zahl Portugiesischsprachiger in der Schweiz ist das Portugiesische keine allzu sichtbare Sprache. Die Portugiesen in der Schweiz sind in etwa 250 Vereinen organisiert, diese reichen von Folklore- und Kulturvereinen über religiöse Vereine bis hin zu Fussballfanclubs. Sie pflegen ihre Netzwerke und die Kontakte untereinander, ohne damit sehr an die Öffentlichkeit zu treten. Dies ist natürlich schwer fassbar, wird aber immer wieder beobachtet, wenn über die Portugiesen in der Schweiz und die «immigration du silence» (Mendes und Ramos 2023: 24) berichtet wird. Die beiden am meisten genannten Eigenschaften der Portugiesen in der Schweiz sind die Zurückhaltung, das «Nicht-Auffallen-Wollen» und der im Durchschnitt relativ niedrige Bildungsgrad. Die umfassende Darstellung von Fibbi et al. (2010) führt dieses Bild auf die Tatsache zurück, dass insbesondere in den ersten Migrationswellen zum einen Portugal ein Land mit allgemein relativ niedrigem Bildungsstand war und dass zudem eher die weniger Gebildeten das Land verliessen. Dies hat sich sicherlich in den letzten Jahrzehnten geändert (siehe Ferro 2016), prägt aber noch den Diskurs über die Portugiesen. Das «Nicht- Auffallen-Wollen» gehört auch zum Selbstbild der Gruppe. Nach Fibbi et al. (2010) gehört das Motto «sem dar nas vistas», ‘ nicht auffallen ’ neben der Pünktlichkeit bei der Arbeit zu den wichtigen Leitprinzipien der Portugiesen in der Schweiz und trägt zur relativen «Unsichtbarkeit» auch ihrer Sprache bei. 8 Portugiesisch und die Landessprachen Die bevorzugte Niederlassung portugiesischsprachiger Migranten in der Westschweiz ist neben der grösseren geographischen Nähe zu Portugal sicherlich vor allem mit der Verwandtschaft von Portugiesisch und Französisch zu erklären, die eine leichtere Integration ermöglicht. Da im Falle Graubündens den Portugiesen das Rätoromanische sprachlich viel nähersteht als das Deutsche, ergeben sich immer wieder Situationen, in welchen die Kommunikation eher auf Romanisch oder in einer portugiesisch-romanischen Mischung als auf Deutsch stattfindet. Um die Portugiesen in die rätoromanische Sprachgemeinschaft zu integrieren, hat die Lia Romantscha ab 2010 einen speziellen Rätoromanischkurs («cuors d ’ integraziun sociolinguistica per persunas da lingua portugaisa» «Piripiri») für Portugiesen im Engadin entwickelt, doch auch ohne explizite Schulung lernen zahlreiche Portugiesen in der Surselva und im Engadin Rätoromanisch, ein Phänomen, das näher untersucht werden müsste. Oft ist die Kommunikationssprache im Arbeitsumfeld auch in der Deutschschweiz Italienisch und nicht Deutsch, da Italienisch als eine Art Koine unter den Migranten funktioniert ( ► ItalienischMigration). Dies lässt sich beispielsweise im eingangs erwähnten Täsch bei Zermatt bezüglich des Arbeitsumfeldes in Zermatt beobachten (zu Täsch siehe SRF 2015). Portugiesisch 369 <?page no="406"?> 9 Ausblick Portugiesisch ist in der Schweiz eine sehr verbreitete Sprache, vor allem durch die zahlreichen portugiesischen Migranten und ihre Nachfahren. Doch auch die 20 ’ 000 Brasilianer, die 2 ’ 000 Angolaner und die fast 1 ’ 000 Kabverdianer in der Schweiz steuern die Präsenz ihrer jeweiligen Varietäten bei. Sie bilden verschiedene, mehr oder weniger organisierte und autonome Netzwerke. Längst sind die Lusophonen in der Schweiz keine homogene Gruppe mehr; auch wenn nach wie vor viele Portugiesen in der Bauindustrie und im Dienstleistungsbereich arbeiten, umfassen sie heute ein weites Spektrum durch alle Gesellschaftsschichten und sind in der zweiten und dritten Generation längst zu völlig integrierten Schweizern geworden. Dennoch tragen sie ihre Sprache, die immerhin eine Weltsprache ist, oft in die zweite oder dritte Generation weiter und halten den Kontakt zu den Herkunftsländern und den dort lebenden Teilen der Familien. Die damit verbundenen sprachlichen und sozialen Prozesse bieten ein umfassendes Gebiet für die Forschung an, bei dem noch so manche Frage bearbeitet werden sollte. Ich danke Maria de Lurdes Gonçalves und Luís Manuel Calvo Salgado für verschiedene nützliche Informationen und Yoselin Henriques Pestana für die Erarbeitung der Karten und für zahlreiche wichtige Kommentare. Bibliographie Azevedo, Milton M. (2005). Portuguese: A Linguistic Introduction. Cambridge: CUP. Azevedo, Liliana (2020). Os “ vai-e-vens ” da emigraç-o portuguesa na Suíça: ir além dos clichés. Swissinfo. Abrufbar unter: https: / / www.swissinfo.ch/ por/ sociedade/ os-vai-e-vens-da-emigraç-oportuguesa-na-suíça-ir-além-dos-clichés/ 45828942 (Stand: 01.04.2024) BFS (2022) = Bundesamt für Statistik. Sprachenlandschaft in der Schweiz, Neuchâtel. Abrufbar unter: https: / / ub-sachdokpdf.ub.unibas.ch/ 9966312530105504/ 9966312530105504_D2040_TEST.pdf (Stand: 10.07.2024) BFS (2024) = Bundesamt für Statistik. Strukturerhebung. 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Jh. durch Migrationsbewegungen aus Ex-Jugoslawien, respektive den Nachfolgestaaten Bosnien, Kroatien, Montenegro und Serbien in die vielsprachige Schweiz gekommen ist und heute zu den hier am stärksten vertretenen Migrationssprachen zählt. In der Schweiz stellt Serbisch/ Kroatisch (so die Bezeichnung in den Sprachstatistiken; mehr dazu in Abschnitt 2) mit Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Albanisch eine der am häufigsten regelmässig verwendeten Nicht-Landessprachen dar; bei den üblicherweise zu Hause gesprochenen Sprachen rangiert es noch vor dem Tessiner/ bündner-italienischen Dialekt und dem Rätoromanischen (BFS 2024). Die vier Sprachen Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch, die sich hinter dem Kürzel BKMS verbergen, sind im Zuge des Zerfalls von Jugoslawien aus dem ehemals so genannten Serbokroatischen hervorgegangen. Sie besitzen in den nun unabhängigen Nachfolgestaaten Jugoslawiens alle den rechtlichen Status von Amtssprachen. Trotz einiger Unterschiede, die insbesondere sprachpolitisch stark betont werden, weisen sie eine grosse Übereinstimmung in Grammatik und Wortschatz auf und sind gegenseitig gut verständlich. Rein linguistisch gesehen - nicht aber politisch - ist aus diesem Grund ihr Status als eigenständige Sprachen umstritten. Diese sprachpolitische Entwicklung hat auch Auswirkungen auf die Sprecher in der Schweiz, von denen viele ihr Land als Jugoslawen und Sprecher des Serbokroatischen verlassen haben und sich nun als Sprecher einer der vier Nachfolgesprachen positionieren sollen. Auch Angebote der Sprachpraxis (sog. «HSK-Unterricht», dazu s. u., universitärer Unterricht), Informationsangebote in der Herkunftssprache sowie die Sprachstatistik stellt die Aufspaltung des ehemaligen Serbokroatischen vor Herausforderungen. Abschnitt 2 des vorliegenden Beitrags gibt einen allgemeinen Einblick in das BKMS und seine sprachlichen Charakteristika, thematisiert die (Un-)Einheitlichkeit der vier Standardsprachen, umreisst die kontroverse Debatte über die Eigenständigkeit der Sprachen, und skizziert die dialektale Gliederung. Abschnitt 3 bietet einen knappen historischen und soziokulturellen Überblick zu den Sprechern des BKMS in der Schweiz, bevor Abschnitt 4 die Ergebnisse einer aktuellen Studie zu Sprachbiographien, Spracheinstellungen und Sprachbewusstsein der Sprecher: innen in der deutschsprachigen Schweiz präsentiert. <?page no="409"?> 2 Das Bosnische, Kroatische, Montenegrinische, Serbische 2.1 Allgemeine Charakteristika Die vier Sprachen Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch, übergreifend zusammengefasst als Bosnisch-Kroatisch-Montenegrinisch-Serbisch bzw. BKMS (vgl. Abschnitt 2.2), gehören zum slavischen Zweig der indogermanischen Sprachen und darin zu den südslavischen Sprachen. Diese bilden ein Dialektkontinuum, d. h. eine Abfolge wechselseitig verständlicher Dialekte, die geographisch und linguistisch zwischen dem Slovenischen im Nordwesten und dem Makedonischen und Bulgarischen im Südosten liegen. Das BKMS verwendet zwei unterschiedliche Alphabete: im Bosnischen und Kroatischen wird nur das lateinische gebraucht, während im Montenegrinischen und Serbischen das lateinische und das kyrillische Alphabet koexistieren. Die beiden Alphabete wecken auch religiöse Assoziationen und dienen häufig als Index der kulturellen Zugehörigkeit: so wird das lateinische Alphabet mit der katholischen Kirche (der viele Kroat: innen angehören) und dem entsprechenden Kulturkreis und das kyrillische Alphabet mit der Orthodoxie (wozu viele der Montenegriner: innen und Serb: innen gehören) und deren Kulturkreis in Verbindung gebracht. Die Orthografie in beiden verwendeten Alphabeten ist im Wesentlichen phonetisch, denn die Kodifizierung erfolgte nach dem Grundsatz des Sprachreformators Vuk Karad ž i ć (1787 - 1864), demzufolge so geschrieben werden soll, wie gesprochen wird. Im lateinischen Alphabet werden Diakritika zur Verschriftung von Lauten verwendet, für die ansonsten keine Entsprechungen zur Verfügung stehen. Damit entspricht jedes Phonem einem Graphem (vgl. dagegen das Deutsche, das z. T. Graphemkombinationen verwendet, z. B. ‘ s-c-h ’ für / ʃ / ). Tabelle 1 bietet eine Übersicht über einige charakteristische Grapheme und Graphem-Laut Kombinationen. Graphem Phonetische Umschrift Aussprachehilfe Graphem Phonetische Umschrift Aussprachehilfe c / ts/ ähnlich z in dt. Zeitung lj / ʎ / palatales l ’ vgl. gl in it. figlio č / t ʃ / vgl. tsch in dt. Tschechien nj / ɲ / palatales n ’ , vgl. gn in fr. cognac ć / t ɕ / palatales tsch s / s/ s ist immer stimmlos d ž / d ʒ / stimmhafte Entsprechung zu č š / ʃ / wie sch in dt. schade đ / d ʑ / stimmhafte Entsprechung zu ć z / z/ z ist das stimmhafte Pendant zu s h / x/ ähnlich dt. ch in noch ž / ʒ / stimmhaft, wie j in fr. jour Tab. 1: Charakteristische Grapheme und Graphem-Laut Kombinationen, vgl. Rehder 1986: 47 Jedes lateinische Graphem entspricht genau einem Graphem der serbischen Kyrillica. Somit beinhaltet die serbische Kyrillica auch Grapheme für sprachspezifische Laute und ist Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) 373 <?page no="410"?> folglich nicht deckungsgleich mit den kyrillischen Alphabeten anderer slavischer Sprachen, wie z. B. des Makedonischen oder Ukrainischen. Spezifisch für das serbische kyrillische Alphabet sind die Entsprechungen < ћ > für < ć >, < џ > für <d ž >, < ђ > für < đ >, < љ > für <lj> und < њ > für <nj>. Das BKMS kennt 7 Kasus: den Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental, Lokativ und Vokativ. Der Kasus wird mit Endungen am Substantiv markiert, vgl. den Akkusativ bei knjigu (Nominativ: knjiga ‘ Buch ’ ) in (1), den Lokativ bei Beogradu (Nominativ: Beograd ‘ Belgrad ’ ) in (2) oder den Dativ sestri (Nominativ: sestra ‘ Schwester ’ ) in (3). Anders als das Deutsche verfügt das BKMS über keinen Artikel. Sämtliche Substantive sind bezüglich der Definitheit und Indefinitheit unmarkiert: die explizite Spezifikation ‘ ein Buch ’ in (1), ‘ der Schwester ’ und ‘ den Schlüssel ’ in (3) erfolgt ausschliesslich in der deutschen Übersetzung; im BKMS ist sie aus dem Kontext heraus ersichtlich. (1) Č itam zanimljivu knjigu. lesen. PRS .1 SG interessant. AKK . SG . F Buch. AKK . SG . F ‘ Ich lese ein interessantes Buch. ’ (2) Mara ž ivi u Beogradu. Mara wohnen. PRS .3 SG in Belgrad. LOK . SG . M ‘ Mara wohnt in Belgrad. ’ (3) Marko daje sestri klju č . Marko geben. PRS .3 SG Schwester. DAT . SG . F Schlüssel. AKK . SG . M ‘ Marko gibt der Schwester den Schlüssel. ’ Eine Besonderheit des BKMS ist das Vorkommen von Enklitika, d. h. einsilbigen Wörtern, die selbst keine Betonung tragen und zusammen mit einem benachbarten Wort ausgesprochen werden. Dazu gehören die Fragepartikel li, die für die Bildung einer Entscheidungsfrage verwendet wird, vgl. (4) und (6), sowie konjugierte Verbformen von biti ‘ sein ’ und htjeti ‘ wollen ’ , die zur Bildung von Perfekt, Konditional und Futur verwendet werden. Die Verwendung von biti ‘ sein ’ zur Bildung des Perfekts ist in (5) illustriert (sreli smo ‘ wir haben uns getroffen ’ ). Ausserdem gibt es Kurzformen der Pronomina im Genitiv, Dativ und Akkusativ, die ebenfalls enklitisch sind, vgl. ga ‘ er. GEN / ACC ’ in (4), sowie das Reflexivum se ‘ sich ’ in (5), das im BKMS auch für unpersönliche Konstruktionen verwendet wird, vgl. (4). Wenn mehrere (en)klitische Formen im Satz auftreten, wie in (4) mit li, ga, se, ist ihre Reihenfolge festgelegt. (4) Ti č e li ga se to? betreffen. PRS .3 SG Q 3 SG . M . GEN / ACC REFL . ACC dies. NOM . SG . N ‘ Betrifft ihn das? ’ (5) Sreli smo se u Zagrebu. treffen. PTCP . PL sein. PRS .1 PL REFL . ACC in Zagreb. LOC ‘ Wir haben uns in Zagreb getroffen. ’ (6) Mogu li ti pomo ć i? können. PRS .1 SG Q 2 SG . DAT helfen. INF ‘ Kann ich dir helfen? ’ 374 Hellìk Mayer <?page no="411"?> Wie es für die slavischen Sprachen charakteristisch ist, hat das BKMS einen Verbalaspekt, d. h., alle Verben sind entweder imperfektiv oder perfektiv. Häufig erscheinen Verben in Aspektpaaren: So entspricht das deutsche Verb kaufen dem Aspektpaar kupiti (perfektiv) vs. kupovati (imperfektiv). Das perfektive Verb kupiti bezeichnet einen einmaligen Kauf, der abgeschlossen ist oder abgeschlossen wird. Das imperfektive kupovati hingegen bezieht sich entweder auf einen Kaufvorgang, der gerade im Gang und nicht abgeschlossen ist, oder auf eine wiederholte Handlung des Kaufens. Weitere Beispiele für Aspektpaare sind pro č itati vs. č itati (durchlesen/ perfektiv vs. lesen/ imperfektiv) oder napisati vs. pisati (aufschreiben/ perfektiv vs. schreiben/ imperfektiv). 2.2 Die (Un-)Einheitlichkeit des BKMS und die (Un-)Selbständigkeit der vier Standardsprachen Die Frage der (Un-)Einheitlichkeit des BKMS wird von Sprechern und von Linguisten kontrovers diskutiert. Nachdem zur Zeit Jugoslawiens das Serbokroatische als Amtssprache in zwei Varianten - einer kroatischen und einer serbischen - offizielle Gültigkeit hatte, verschriftet in zwei Alphabeten, dem lateinischen für die kroatische und dem kyrillischen für die serbische Variante, erklärte zuerst Kroatien im Jahr 1991 das Kroatische zur Amtssprache, bevor Serbien 1992 das Serbische und Bosnien-Herzegowina 1995 die bosnische Sprache zur Amtssprache erklärte. Der Staat Bosnien-Herzegowina besteht aus zwei politischen Entitäten: der vorwiegend bosniakisch-kroatischen Föderation Bosnien und Herzegowina, sowie der mehrheitlich serbischen Republika Srpska. So ist auch die sprachliche Situation in Bosnien-Herzegowina komplex, da neben dem Bosnischen auch das Kroatische und das Serbische den Status einer Amtssprache haben. Nach der Unabhängigkeit Montenegros wurde 2007 auch das Montenegrinische zur Amtssprache erklärt, wobei in Montenegro auch das Serbische, das Bosnische, das Kroatische und zudem auch das Albanische weitere offizielle Sprachen sind. Im Zug dieser politischen Entscheidungen hat die Debatte um die Selbständigkeit und die (Un-)Einheitlichkeit dieser Idiome stark zugenommen. Die Frage nach der Autonomie der vier Nachfolgesprachen des Serbokroatischen wird auch in der (slavistischen) Linguistik kontrovers diskutiert. Eine Vielzahl an Untersuchungen beschäftigt sich mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die in allen Bereichen der Sprache zu finden sind, am augenfälligsten auf der Ebene der Orthografie, aber ebenso auch im Bereich der Phonologie und Prosodie sowie auf morphologischer und syntaktischer Ebene. Insgesamt sind die vier Sprachen problemlos gegenseitig verständlich, da sie ein nahezu identisches grammatikalisches System aufweisen, den grössten Teil des Wortschatzes miteinander teilen und auf weitgehend der gleichen dialektalen Basis beruhen (vgl. Abschnitt 2.3). Befürworter: innen einer gemeinsamen Standardsprache sehen die Ablösung des Serbokroatischen durch vier getrennte, selbständige Standardsprachen als rein politisch motiviert an. Sie kritisieren die sprachpolitischen Entscheidungen dafür, dass versucht würde, den Nationalstaat durch eine Nationalsprache zu legitimieren und argumentieren, dass Sprachen Kommunikationssysteme sind, die im Unterschied zu Staaten nicht einfach per Dekret eingeführt oder abgeschafft werden können. Anders gesagt: aus systemlinguistischer Sicht ist es möglich, von einer einzigen Sprache zu sprechen, die aber aus soziolinguistischer Perspektive und in geringfügig abweichender Form unter unterschiedlichen nationalen Bezeichnungen als unterschiedliche politische Sprachen funktioniert. Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) 375 <?page no="412"?> 2.3 Regionale sprachliche Unterschiede Innerhalb des BKMS-Sprachraums werden drei Dialekte unterschieden, die anhand ihrer Entsprechung des Fragepronomens ‘ was ’ als š to, č a oder kaj benannt und dementsprechend als š tokavisch, č akavisch und kajkavisch bezeichnet werden. Dabei nimmt der š tokavische Dialekt das grösste Territorium ein, mit einem Verbreitungsgebiet, das ganz Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina umfasst, sowie grosse Teile des östlichen und südlichen Kroatiens. Er ist die Grundlage für die heutigen Standardsprachen, auch für das Kroatische. Auf dem Gebiet Kroatiens werden allerdings neben š tokavischen auch č akavische und kajkavische Dialekte gesprochen, die aufgrund ihres grossen literarischen Erbes wichtig für das kulturelle Selbstverständnis Kroatiens sind. Die drei Dialekte š tokavisch, č akavisch und kajkavisch unterscheiden sich in Teilen stark, sodass sich ihre Sprecher: innen - wenn sie im Dialekt miteinander kommunizieren - teilweise schwer gegenseitig verstehen können (vgl. Alexander 2006: 388). Da die heutigen Standardsprachen aber alle auf dem š tokavischen Dialekt basieren, ist eine Verständigung auf standardsprachlicher Ebene problemlos möglich. Innerhalb des Š tokavischen werden zudem ekavische, ijekavische und ikavische Dialekte unterschieden. Diese Unterscheidung trägt der unterschiedlichen Entwicklung eines bestimmten urslavischen Vokals, des sogenannten Jat, Rechnung (und wird entsprechend als ‘ jat-Reflex ’ bezeichnet). Sie betrifft eine grosse Anzahl von Wörtern und ist somit für Sprecher: innen sehr gut bemerkbar. So heisst beispielsweise das Wort für ‘ Kind ’ in ekavischer Form dete, in ijekavischer dijete und in ikavischer dite. Das Ikavische kommt in einigen Dialekten auf dem Gebiet Kroatiens sowie Bosnien und Herzegowinas vor; die Standardsprachen basieren dagegen auf der ekavischen oder ijekavischen Aussprache und Schreibung. Stark vereinfachend wird oft gesagt, das Ekavisch- Š tokavische sei serbisch, während das Ijekavisch- Š tokavische bosnisch und kroatisch sei. Dies ist jedoch so nicht ganz zutreffend: Zwar kommt das Ekavische tatsächlich nur in der serbischen Standardsprache vor, es ist aber nicht die einzige zulässige Form im Serbischen. Vor allem in Montenegro und der Republika Srpska lässt das Serbische auch die ijekavische Aussprache und Schreibung zu. Die emotionale und sprachideologische Wichtigkeit der Unterscheidung des Ekavischen und Ijekavischen zeigt sich auch darin, dass in den 1990er Jahren versucht wurde, ijekavisch-sprechende Serb: innen in der Republika Srpska zum ekavischen Standard zu überführen (vgl. Alexander 2006: 391 - 394). Dieses Beispiel verdeutlicht einmal mehr, dass die Diskussion über gewisse Unterschiede auf standardsprachlicher Ebene seit den Kriegen in den 1990er Jahren sehr stark ideologisch geprägt ist. Zu den sprachlichen Merkmalen des Serbokroatischen bzw. BKMS und seiner Dialekte vgl. Rehder 1986; Alexander 2006. Zu den soziolinguistischen und sprachpolitischen Zusammenhängen und ihren historischen Hintergründen in Jugoslawien vgl. Bugarski 2000; Kordi ć 2008; Bun č i ć 2008, 2019, 2021; Alexander 2006, 2020; Kunzmann-Müller 2000; Voss 2007. Zur Frage der Mehrschriftigkeit siehe Bun č i ć et al. 2016; Schlund 2020. 376 Hellìk Mayer <?page no="413"?> 3 Die Sprecher und ihre Sprache(n) in der Schweiz 3.1 Migrationsgeschichte Aufgrund der langen Migrationsgeschichte aus dem ehemaligen Jugoslawien gibt es viele Personen, die inzwischen bereits zur zweiten oder dritten Generation zählen und BKMS als Herkunftssprache sprechen, d. h. die Sprache überwiegend oder ausschliesslich in der familiären Umgebung erworben haben und vorwiegend auch dort verwenden. Das Schweizer Bundesamt für Statistik (BFS) erhebt die «Hauptsprachen» und errechnet für das Jahr 2022 die Zahl von 187 ’ 422 Personen über 15 Jahren, die Serbisch oder Kroatisch als Hauptsprache angeben. Dies entspricht 2.2 % der in der Schweiz ansässigen Personen (vgl. BFS 2024). Die Migration aus dem ehemaligen Jugoslawien hat eine lange Geschichte, die bereits im 19. Jh. ihren Anfang nahm. Während anfangs noch die USA, Argentinien und Kanada beliebte Ziele waren, so wurden in dem Zeitraum zwischen der Wirtschaftskrise von 1929 bis zum 2. Weltkrieg v. a. auch Deutschland und Österreich zu wichtigen Zielländern der jugoslawischen Migration. In den sechziger Jahren war die Zahl der jugoslawischen Gastarbeiter: innen in der Schweiz noch gering. Mit knapp 25 ’ 000 Personen machten sie nur 2.3 % aller Ausländer: innen in der Schweiz aus, unter denen Italiener: innen und Spanier: innen die zahlenmässig grösste Gruppe darstellten. Rund die Hälfte dieser ersten Jugoslaw: innen in der Schweiz waren Akademiker: innen oder übten intellektuelle Berufe aus; viele von ihnen arbeiteten im Gesundheitswesen. Auch in den siebziger Jahren war der Zuwachs von jugoslawischen Gastarbeiter: innen in die Schweiz noch gering und ihr Ansehen in der Schweizer Gesellschaft hoch, da positiv bewertet wurde, dass diese Arbeitskräfte Geld verdienen und kaum auffallen wollten; darüber hinaus legten sie ein grosses Bildungsbewusstsein an den Tag. Erst die achtziger Jahre sorgten für einen bemerkbaren Anstieg der jugoslawischen Bevölkerung in der Schweiz. Daten zu Konfession und Minderheitensprachen zeigen, dass in dieser Zeit die Zahl der albanischen Muslim: innen zunimmt, aber auch die Zahl der Katholik: innen und orthodoxen Christ: innen, also der BKMS-sprachigen Jugoslaw: innen. Im Unterschied zu den Migrant: innen der früheren Jahre waren viele dieser neu ankommenden Migrant: innen ungelernte Arbeitskräfte. Ab 1991 sorgte der Beginn des Krieges in Jugoslawien für einen neuen Zustrom von Migrant: innen. Zu dieser Zeit hatte sich das Ansehen der Jugoslaw: innen in der Schweiz schon stark verschlechtert, sodass Schweizer: innen auch kaum zu Spenden für Kriegsopfer bereit waren und sich «Jugo» zum Schimpfwort etablierte. Die nun folgende Migrationswelle unterschied sich von den früheren zum einen dadurch, dass sie nicht aus ökonomischen Gründen erfolgte, sondern eine Fluchtbewegung war, und zum anderen auch dadurch, dass sich diese Migrant: innen angesichts des Zerfalls von Ex- Jugoslawien nicht länger als Jugoslaw: innen, sondern als Bosniak: innen, Kroat: innen und Serb: innen identifizierten. Die Frage nach der Identität stellte sich aber nicht nur den neu Zugewanderten, sondern auch bereits im Ausland lebenden Personen, die sich durch die neue Situation bedingt, nicht nur mit der Herkunfts- und Einwanderungskultur, sondern auch mit einem neuen Spektrum von Identitäten auseinandersetzen (vgl. mit Fokus auf Deutschland Schlund 2006: 82 - 83). Damit stellt sich die Frage nach dem heutigen Verhältnis der ethnischen Gruppen untereinander. Darauf wird auf Grundlage einer Daten- Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) 377 <?page no="414"?> erhebung zu Sprecher: innen in der deutschsprachigen Schweiz in Abschnitt 4 näher eingegangen. 3.2 Vom Serbokroatischen zum BKMS in der Schweiz Der politische Zerfall Jugoslawiens und die damit einhergehende sprachpolitische Trennung des Serbokroatischen in die vier Standardsprachen Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch hat auch Auswirkungen auf den schulischen und universitären Sprachunterricht sowie weitere Angebote für Sprecher: innen dieser Sprachen in der Schweiz. Dies betrifft neben den sprachlichen Varietäten auch die Wahl des Alphabets. Hier wird von offiziellen Stellen in der Regel das lateinische Alphabet gewählt; als Sprachvarietäten sind nach wie vor das Kroatische und Serbische am stärksten vertreten. Die Zeitung 20 Minuten stellt seit Februar 2022 eine App zur Verfügung, die automatische Übersetzungen von Nachrichten aus der Schweiz ins Kroatische oder Serbische erstellt. Was die Kurse für «Heimatliche Sprache und Kultur» anbelangt (HSK-Unterricht), so werden sowohl Bosnisch als auch Kroatisch und Serbisch jeweils als Einzelsprache angeboten. Der Rahmenlehrplan BKMS des Kantons Zürich berücksichtigt die soziolinguistische Situation von vier verschiedenen Standardsprachen, die doch gegenseitig weitestgehend problemlos verständlich sind, dadurch, dass er in einer «möglichst neutralen Sprache» verfasst ist, d. h. einer Sprache, die soweit als möglich sprachliche Varianten wählt, die im Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und Serbischen einheitlich sind, um so den Sprechern aller vier Varietäten zugänglich zu sein. Die HSK- Kurse, die zur Stärkung des Erwerbs der Herkunftssprache gedacht sind, werden von unterschiedlichen Vereinen und Organisationen organisiert, in der Regel getrennt nach Sprachen. Über den Zugang von Kindern und Jugendlichen mit BKMS als Herkunftssprache zu diesem Angebot, das auch kantonal unterschiedlich ist, gibt es keine genauen Daten (vgl. Giudici und Bühlmann 2014). Kurse für Bosnisch/ Kroatisch/ Montenegrinisch/ Serbisch werden auf universitärer Ebene an den Slavistikinstituten der Universitäten Zürich, Bern und Fribourg angeboten. Während des Bestehens der SFR Jugoslawien wurde dort Serbokroatisch oder Serbisch/ Kroatisch bzw. Kroatisch/ Serbisch unterrichtet, in der Regel mit dem Schwerpunkt auf einer der beiden Varietäten. Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurde diese Praxis zunächst beibehalten, die geänderte soziolinguistische Situation aber zunehmend zumindest hinsichtlich der Benennung als BKS bzw. BKMS berücksichtigt. Zunehmend wird inzwischen versucht, die vier Varietäten möglichst gleichberechtigt im Unterricht zu vermitteln. Beispielhaft ist hier das Projekt «Aus eins mach vier» der Universität Zürich, in dessen Rahmen Lehrmittel entwickelt werden, welche die Unterschiede zwischen den Varietäten als ein Kontinuum unterrichten lassen, so dass die Studierenden im sprachpraktischen Unterricht die Möglichkeit erhalten, eine Varietät zu wählen, zugleich aber auch mit den anderen Varietäten in Kontakt zu kommen. Dieses Projekt trägt auch der Tatsache Rechnung, dass Studierende mit herkunftssprachlichem Hintergrund, d. h. Studierende, die eine der Varietäten Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch oder Serbisch als Sprache ihrer Familien - sei es der Eltern oder Grosseltern - mitbringen, an slavischen Instituten eine beachtliche Gruppe darstellen. Über ihre sprachliche Praxis und ihre Spracheinstellungen erlauben Projekte wie das Map Task Corpus of Heritage BKMS (https: / / maptask.slav. uzh.ch; Lemmenmeier-Batini ć et al. 2023) Einblick; der Einfluss von BKMS auf die 378 Hellìk Mayer <?page no="415"?> Aussprache in Schweizer Varietäten - insbesondere in der Jugendsprache - wird im Zusammenhang von Multi-Ethnolekten untersucht (vgl. dazu ► Morand_Band2). Zur Migrationsgeschichte aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten vgl. Romi ć 2016; Bo š kovska 2000. Zur Migration in die Schweiz ab Ende des 19. Jh., ihrer rechtlichen und ökonomischen Einordnung sowie weiteführenden Dokumenten siehe die Zusammenstellung des Schweizerischen Bundesarchivs zum ‘ Einwandererland Schweiz ’ (BAR); Zahlen zu den Sprechern des BKMS in der Schweiz sowie der Sprachverwendung finden sich in den aktuellsten Publikationen des BFS (u. a. BFS 2022a,b, 2024), den Rahmenlehrplan BKMS stellt der Kanton Zürich als Download auf seiner Seite zu den HSK-Angeboten zur Verfügung (vgl. Rahmenlehrplan- 2024). Eine Beschreibung des Projekts der Universität Zürich «Aus eins mach vier» ist hier verfügbar: https: / / www.slav.uzh.ch/ de/ studium/ Lehrprojekte/ Aus-eins-mach-vier - Lehrmittel- BKMS-(Bosnisch-Kroatisch-Montenegrinisch-Serbisch).html (Stand: 10.06.2024). 4 Empirische Studie zu BKS-Sprecher: innen in der deutschsprachigen Schweiz Von Februar bis April 2021 wurden in einer Online-Studie Daten zu Spracheinstellungen von Sprecher: innen in den Herkunftsländern Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Serbien sowie der von dort ausgewanderten Diaspora erhoben. Montenegro (und Kosovo, in dem das Serbische ebenfalls verbreitet ist) wurden dabei nicht mitberücksichtigt, weshalb im Folgenden von BKS, d. h. Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, gesprochen wird (und nicht von BKMS). In diesem Abschnitt werden einige Ergebnisse dieser Studie für Teilnehmer: innen aus der deutschsprachigen Schweiz dargestellt. Hier haben 204 Personen mit BKS als Mutter- oder Herkunftssprache an der Umfrage teilgenommen (vgl. Lemmenmeier-Batini ć und Mayer in Vorbereitung). 4.1 Ethnische Zugehörigkeit, Herkunftsland und Religion Von den insgesamt 204 Personen, die online an der Studie teilgenommen haben, identifizieren sich 91 als Kroat: innen, von denen 46 aus Kroatien und 44 aus der Entität Bosnien und Herzegowina, sowie 1 aus der Republika Srpska stammen. 80 identifizieren sich als Serb: innen, von denen 47 aus Serbien, 18 aus der Entität Bosnien und Herzegowina, 12 aus der Republika Srpska und 3 aus Kroatien kommen. Von den 22 Befragten, die sich als Bosnier: innen oder Bosniak: innen identifizieren, sind 19 aus der Entität Bosnien und Herzegowina und 3 aus der Republika Srpska ausgewandert. Die Datenerhebung bestätigt somit die Annahme, dass sich heute ein Grossteil der Menschen als entweder kroatisch oder bosnisch oder serbisch identifizieren. Nur 11 von 204 Teilnehmer: innen identifizieren sich als Jugoslaw: innen, als «gemischt» oder machen keine Angabe diesbezüglich. Von ihnen kommen 7 aus der Entität Bosnien und Herzegowina, und jeweils 2 aus der Republika Srpska und aus Serbien. Zu der Demographie der Teilnehmer: innen lässt sich festhalten, dass ethnische Kroat: innen und Serb: innen in der Umfrage am stärksten vertreten sind, das häufigste Herkunftsland aber Bosnien und Herzegowina ist (insg. 106 Teilnehmer: innen). Die Trennung der drei ethnischen Gruppen spiegelt erwartungsgemäss ihre konfessionelle Zugehörigkeit gut wider. Im allgemeinen wird angenommen, Kroat: innen seien katholisch, Serb: innen orthodox und Bosniak: innen muslimisch. In der Umfrage wurden Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) 379 <?page no="416"?> Teilnehmer: innen gebeten, anzugeben, ob sie römisch-katholisch, orthodox, muslimisch oder atheistisch sind oder eine andere Angabe zu machen. Die Ergebnisse sind in Abbildung 1 dargestellt. Abb. 1: Konfession der unterschiedlichen ethnischen Gruppen Unter den kroatischen Teilnehmer: innen gab die Mehrheit (81) an, römisch-katholisch zu sein, 10 bezeichnen sich als Atheist: innen oder andere. Unter den Teilnehmer: innen, die sich als bosnisch oder bosniakisch identifizieren, sind 12 Muslime, 6 Atheist: innen oder andere, 3 orthodox und 1 römisch-katholisch. Unter den serbischen Teilnehmer: innen ist die grosse Mehrheit (74) orthodox, 6 sind Atheist: innen oder andere. Unter den wenigen Teilnehmer: innen, die sich nicht national identifizieren, sind mehr als die Hälfte auch konfessionslos. Diese Angaben stimmen mit der Annahme überein, dass nationale und religiöse Zugehörigkeit zusammenhängen. 4.2 Migrationsalter und Selbsteinschätzung der Sprachkenntnisse Diejenigen 86 der 204 Teilnehmer: innen, welche nach Vollendung ihres 6. Lebensjahres ausgewandert sind, werden in dieser Untersuchung als «erste Generation» bezeichnet. «Generation» wird also unabhängig vom objektiven Zeitstrahl und auf die Individuen bezogen definiert, dennoch korreliert der individuelle Status aufgrund der Gesamtgeschichte der BKMS-Migration damit, dass die meisten Personen der «ersten Generation» bereits sehr lange in der Schweiz sind. Der Median ihrer Aufenthaltsdauer beträgt 27 Jahre. Jene 116, die bereits in der Schweiz geboren sind oder bis zum Ende ihres 6. Lebensjahrs in die Schweiz gekommen sind, werden im Folgenden als «zweite Generation» bezeichnet. Im Unterschied zur ersten Generation haben sie ihre Schulzeit vollständig in der Schweiz verbracht, weshalb angenommen werden kann, dass sie sich in einigen Bereichen, wie z. B. in ihrer Selbsteinschätzung oder ihrem Sprachverhalten von Mitgliedern der ersten Generation unterscheiden. Abbildungen 2 und 3 zeigen für die beiden Generationen ihre Selbsteinschätzung der Sprachkenntnisse des BKS und des Deutschen. 380 Hellìk Mayer <?page no="417"?> Abb. 2: Selbsteinschätzung BKS Abbildung 2 zeigt die Selbsteinschätzung der Teilnehmer: innen hinsichtlich ihrer Sprachkenntnisse des BKS. Alle Teilnehmer: innen schätzen ihr BKS als zumindest ausreichend ein. Im Vergleich zur ersten Generation geben in der zweiten Generation weniger Personen an, ausgezeichnet BKS zu sprechen, nämlich nur 24 von 116. Auch in der zweiten Generation schätzen jedoch die meisten ihre Sprachkenntnisse des BKS als sehr gut (45) oder gut (43) ein. Abb. 3: Selbsteinschätzung Deutsch Die Teilnehmer: innen wurden auch nach einer Selbsteinschätzung ihrer Deutschkenntnisse gefragt. Dabei wurde in der Frage nicht spezifiziert, ob es um die Beherrschung der Standardsprache oder eines Dialekts geht. Bei dieser Einschätzung, vgl. Abbildung 3, ist nicht überraschend, dass sich Teilnehmer: innen der zweiten Generation besser einschätzen als Teilnehmer: innen der ersten Generation. In der zweiten Generation bewertet der Grossteil die eigenen Deutschkenntnisse als ausgezeichnet (87) oder sehr gut (21), 5 Teilnehmer: innen aber auch nur als ausreichend oder gut und insgesamt 3 Teilnehmer: innen als schlecht oder sehr schlecht. Auch in der ersten Generation schätzen mehr als die Hälfte der Teilnehmer: innen ihre Deutschkenntnisse als ausgezeichnet (27) oder sehr gut (23) ein, 16 bewerten sich mit gut, 11 bezeichnen ihre Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) 381 <?page no="418"?> Kenntnisse als ausreichend und nur 4, bzw. 2 finden ihr Deutsch schlecht oder sehr schlecht. 4.3 Kontakt zum Herkunftsland und seiner Sprache Weiter wurden die Teilnehmer: innen zu ihrem Kontakt zu Menschen in ihrem Herkunftsland befragt. Die Antworten zeigen, dass sowohl Personen der ersten wie auch der zweiten Generation häufig in Kontakt mit Menschen in ihrem Herkunftsland sind, vgl. Abbildung 4. Die beiden Gruppen sind sich in ihren Antworten sehr ähnlich. Ein Grossteil der Befragten (in beiden Gruppen ca. 60 %) gibt an, täglich oder fast täglich in Kontakt mit Menschen in ihrem Herkunftsland zu sein, weitere ca. 20 % haben wöchentlichen Kontakt und nur bei ca. 20 % beschränkt sich der Kontakt auf wenige Male im Monat, bzw. wenige Male im Jahr. Gar keinen Kontakt zu haben, gibt niemand der Befragten an. Abb. 4: Kontakt zu Menschen im Herkunftsland Anhand des Fragebogens wurde darüber hinaus untersucht, wieviel Kontakt die Teilnehmer: innen zu ihrem Heimatland, bzw. dem Heimatland der Eltern durch ihren Medienkonsum haben. Dafür wurden die Teilnehmer: innen gebeten, zu beurteilen, wie oft sie Medien - gemeint sind Internetseiten, Zeitungen, Bücher, Sendungen oder Filme - aus unterschiedlichen BKS-sprachigen Ländern sowie deutschsprachige Medien konsumieren. Abb. 5: Medienkonsum aus einem BKS-sprachigen Land 382 Hellìk Mayer <?page no="419"?> Abbildung 5 lässt in den Angaben zum Medienkonsum einen Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Generation erkennen. Mehr Personen der ersten Generation geben an, Medien aus einem BKS-sprachigen Land häufig zu konsumieren. 63 der 84 Befragten der ersten Generation konsumieren ihren Angaben zufolge relativ oft oder oft Medien aus ihrem Herkunftsland, 14 nur manchmal und nur 7 Personen kaum. Auch die zweite Generation konsumiert ihren eigenen Angaben zufolge mehrheitlich oft Medien aus ihrem Herkunftsland. Mehr als die Hälfte, nämlich 60 Teilnehmer: innen, geben an, relativ häufig oder häufig Medien zu konsumieren, 26 Personen, dass sie dies manchmal tun. Nur 24 von 116 Personen antworten, dass sie kaum Medien aus ihrem Herkunftsland konsumieren, 6 Personen, dass sie das nie machen. Die Antworten auf die beiden Fragen zum Kontakt zur Sprache des Herkunftslands - persönlich oder mittels Medienkonsum - zeigen, dass sowohl Personen der ersten als auch der zweiten Generation den Kontakt zu ihrem Herkunftsland pflegen und auch darüber mit der Sprache in Kontakt bleiben. Die Angaben zum Konsum von deutschsprachigen Medien ähneln sich für die beiden Generationen, vgl. Abbildung 6. Abb. 6: Konsum von deutschsprachigen Medien Zwar geben mehr Teilnehmer: innen der zweiten Generation an, oft deutschsprachige Medien zu konsumieren, jedoch geben in beiden Gruppen mehr als zwei Drittel der Befragten an, relativ oft oder oft deutsche Medien zu konsumieren, und jeweils wenige Teilnehmer: innen, dass sie das selten oder nie tun. Diese Frage zeigt, dass auch Personen aus der ersten Generation der Diaspora das mediale Geschehen in ihrem Aufenthaltsland mitverfolgen, bzw. damit in Kontakt kommen. 4.4 Sprachverhalten und Einstellung In den folgenden Fragen wurden die Teilnehmer: innen zu ihrem eigenen Sprachverhalten befragt. Unter «Sprachverhalten» fällt hier die Selbsteinschätzung, wie oft Deutsch und BKS gemischt werden, sowie Angaben dazu, mit wem BKS gesprochen wird. Die Frage nach der Einstellung bezieht sich darauf, welche Wichtigkeit diese Sprache für die Teilnehmer: innen hat. Abbildung 7 zeigt die Ergebnisse der Selbsteinschätzung, d. h. die Antworten auf die Frage danach, wie häufig die Sprecher: innen meinen, BKS und Deutsch zu mischen, also Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) 383 <?page no="420"?> innerhalb eines Gesprächs, einer Äusserung oder eines Satzes von der einen in die andere Sprache zu wechseln. Abb. 7: Zustimmung, dass Deutsch und BKS oft gemischt werden Es ist deutlich zu erkennen, dass Teilnehmer: innen der zweiten Generation der Aussage, dass sie oft Deutsch und BKS mischen, in höherem Masse zustimmen. Während in der ersten Generation nur etwas 25 % der Teilnehmer: innen eine eher starke Zustimmung ausdrücken, sind es in der zweiten Generation über 60 %. Dies kann damit zusammenhängen, dass Sprecher: innen aus der zweiten Generation in einigen Domänen der Sprache hauptsächlich mit einer Varietät des Deutschen in Kontakt kommen und deshalb öfter wechseln. Wichtig ist allerdings festzuhalten, dass diese Aussagen die Selbsteinschätzung der Sprecher: innen, nicht aber ihr tatsächliches Sprachverhalten erfassen. Beide Aspekte können divergieren; Einblick in das tatsächliche Vorkommen von Sprachwechseln können nur empirische Untersuchungen liefern, wie z. B. das bereits genannte Map-Task Corpus of Heritage BCMS (Lemmenmeier-Batini ć et al. 2023, vgl. Abschnitt 3.2). Da dieses Korpus nicht nur die Sprachproduktion der Informant: innen in der experimentellen Situation enthält, sondern zudem auch sprachbiographische Informationen, Informationen über ihre sprachlichen Netzwerke, ihre persönlichen Einstellungen zur den vier Standardvarietäten und ihren Dialekten etc., erlaubt es auch einen Abgleich von Spracheinstellungen und der Selbsteinschätzung der Sprachkompetenz mit der Sprachverwendung der Informant: innen. Abbildungen 8, 9 und 10 zeigen, mit wem die Befragten angeben nie, manchmal oder immer BKS sprechen. Die Teilnehmer: innen konnten jede Frage auch als nicht beantwortbar kennzeichnen; diese Antworten werden hier nicht mitdargestellt, deshalb werden absolute Zahlen angegeben. 384 Hellìk Mayer <?page no="421"?> Abb. 8: Sprachverhalten mit den Eltern Erwartungsgemäss sind die Eltern für die meisten Personen in der Diaspora jene Bezugspersonen, mit denen sehr häufig die eigene Mutterbzw. Herkunftssprache gesprochen wird. Auch in der zweiten Generation sprechen die meisten befragten Personen (ihren Angaben zufolge) mit ihren Eltern immer (82) oder fast immer (25) BKS, 6 sprechen manchmal BKS und nur 1 Person spricht mit den Eltern nie BKS. Abb. 9: Sprachverhalten mit den Geschwistern Im Kontakt zu den eigenen Geschwistern sieht man anhand der Ergebnisse in Abbildung 9 einen grossen Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Generation. Auch in der ersten Generation sprechen nur 58 von 80 Personen mit ihren Geschwistern ausschliesslich BKS. In der zweiten Generation geben jedoch nur 27 Teilnehmer: innen an, ausschliesslich BKS mit den Geschwistern zu verwenden. Für die meisten, nämlich 73, ist die Sprachwahl situativ. Diese kann also je nach an ansonsten anwesenden Personen oder Themen variieren. 7 Personen sprechen mit ihren Geschwistern nie BKS. Dies scheint einen leichten Trend zur Aufgabe der Familiensprache BKS anzudeuten. Ob dies tatsächlich der Fall ist, müsste jedoch genauer untersucht werden - dies auch vor dem Hintergrund der Angaben zum Sprachverhalten mit den eigenen Kindern, die in Abbildung 10 und 11 dargestellt sind. Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) 385 <?page no="422"?> Abb. 10: Sprachverhalten mit den eigenen Kindern Auf die Frage der Sprachwahl im Kontakt mit den Kindern konnten nur diejenigen 33 Personen antworten, die Kinder haben. Dennoch liegen auch für die zweite Generation 33 Antworten vor, die in Abbildung 10 dargestellt werden. Hier zeigt sich, dass sich die erste und die zweite Generation bei ihrer Sprachwahl mit ihren Kindern nur geringfügig unterscheiden. Dies kann vor dem Hintergrund, dass es beiden Generationen wichtig ist, dass ihre Herkunftssprache an die nächste Generation weitergegeben wird, gut erklärt werden. Die Antwort zur Frage nach der Wichtigkeit der Weitergabe der Sprache an die nächste Generation zeigt Abbildung 11. Abb. 11: Wichtigkeit der Weitergabe an die nächste Generation Bei der Frage, wie wichtig es ist, dass BKS an die nächste Generation weitergegeben wird, zeigt sich ebenfalls, dass sich Sprecher: innen der ersten und der zweiten Generation sehr ähnlich sind. Über 70 % in beiden Gruppen stimmen vollkommen zu, dass die Weitergabe ihrer Mutter- oder Herkunftssprache an die nächste Generation für sie sehr wichtig ist, weitere ca. 20 % stimmen ebenfalls zu, dass es für sie eine Wichtigkeit hat und nur weniger als 10 % stimmen nicht zu, dass die Weitergabe der Sprache für sie wichtig ist. Diese Einstellung in Bezug auf die Bedeutung der Sprache kann ein Grund dafür sein, dass - wie in Abbildung 10 dargestellt - auch die zweite Generation mehrheitlich mit ihren Kindern BKS spricht, bzw. angibt dies zu tun. So zeigt sich, dass die Einstellung das Sprachverhalten - bzw. die Intentionen hinsichtlich des eigenen Sprachverhaltens - beeinflussen 386 Hellìk Mayer <?page no="423"?> kann. Ob sich dies auch in der tatsächlichen Sprachverwendung zeigt, müsste in einem nächsten Schritt empirisch untersucht werden. Ein weiteres Indiz dafür, dass für die BKS-sprachige Diaspora ihre Mutter- oder Herkunftssprache einen wichtigen Stellenwert hat, zeigt sich in der Frage, wie viele Teilnehmer: innen der zweiten Generation BKS-Unterricht hatten. Von den 116 Teilnehmer: innen, die vor ihrer Schulzeit bereits in die Schweiz gekommen sind oder hier geboren wurden, beantworten diese Frage 72 mit ja, 42 mit nein; 2 Befragte geben an, nur zuhause oder nur unzureichenden Unterricht für BKS gehabt zu haben. Auch hier zeigt sich, dass ein Grossteil der Eltern ihre Kinder in deren Herkunftssprache fördern will und das bestehende Angebot von vielen genutzt wird. Sowohl die Einstellungen zum BKS als auch die Angaben zum Sprachverhalten der befragten Teilnehmer: innen lassen darauf schliessen, dass BKS in der Schweiz eine sehr vitale Sprache zu sein scheint, d. h., dass vielfach BKS gesprochen wird und dass den Sprecheraussagen zufolge die Beherrschung auch für die zweite und nächste Generation noch von Bedeutung ist. 4.5 Verhältnis zu anderen ethnischen Gruppen Nach den Jugoslawienkriegen in den 1990er Jahren wird das Verhältnis der unterschiedlichen ethnischen Gruppen häufig als problematisch angesehen. Im Fragebogen wurden daher auch drei Fragen zu den Beziehungen zwischen den Ethnien gestellt. Die Antworten sind in den Abbildungen 12 und 13 dargestellt. Abb. 12: Eigener Kontakt zu Menschen aus anderen ethnischen Gruppen Hinsichtlich der Frage zum eigenen Kontakt zu Personen aus anderen ethnischen Gruppen aus Ex-Jugoslawien geben die meisten Personen (174) an, dass sie selbst Freund: innen oder Bekanntschaften aus anderen ethnischen Gruppen haben. 23 antworten, sie kennen nur wenige, sind aber aufgeschlossen, wenn sie jemandem begegnen. Nur 4 Personen geben an, den Kontakt nicht zu suchen und nur 2 geben an, den Kontakt zu meiden. Nur 1 Person lässt die Frage unbeantwortet. Die beiden Generationen unterscheiden sich in ihren Antworten kaum und werden deshalb hier nicht getrennt dargestellt. Dieses persönliche Verhalten der Befragten zeigt, dass Menschen, die in der Bosnisch - Kroatisch - Montenegrinisch - Serbisch (BKMS) 387 <?page no="424"?> Schweiz leben, Freundschaften unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit haben oder das zumindest angeben und nur eine kleine Minderheit den Kontakt zu Personen aus anderen ethnischen Gruppen vermeiden will. Einblick in die unterschiedlichen kommunikativen Netzwerke in herkunftssprachlichen Kontexten und die jeweiligen Sprachkenntnisse anderer Migrationssprachen seitens der Personen mit Migrationshintergrund gibt eine Studie zum Kanton Zürich (Rosin et al. 2016 und ► Spanisch). Abb. 13: Einschätzung der Beziehung zwischen den ethnischen Gruppen in der Schweiz und im Herkunftsland Zusätzlich zur Frage zur eigenen Beziehung zu Personen aus Ex-Jugoslawien mit anderer ethnischer Zugehörigkeit, wurden Teilnehmer: innen zu ihrer Einschätzung über die Beziehung zwischen den ethnischen Gruppen sowohl in der Schweiz als auch in ihrem jeweiligen Herkunftsland befragt. Die Beantwortung dieser beiden Fragen in Abbildung 13 zeigt, dass generell die Einschätzung über das Verhältnis der ethnischen Gruppen untereinander in der Schweiz besser ausfällt als in den Herkunftsländern. Die meisten Teilnehmer: innen schätzen die Beziehungen der drei ethnischen Gruppen in der Schweiz für «gut» (111) oder sogar «sehr gut» (39), 36 bewerten sie mit «weder gut noch schlecht», nur 4 Personen finden sie «schlecht» und niemand «äusserst schlecht». 14 Teilnehmer: innen beantworten die Frage nicht, wählen die Antwortoption «kann oder will ich nicht beurteilen» oder schreiben einen Kommentar. In diesen wird oft betont, dass die Beziehungen besser werden und unter jungen Menschen besser sind als unter älteren oder dass es sich nicht beurteilen lässt, da es sehr personenabhängig ist. Die Einschätzung über das Verhältnis der ethnischen Gruppen untereinander in den Herkunftsländern fällt im Vergleich schlechter aus. So sind es hier nur 82 Teilnehmer: innen, die die Beziehungen gut oder sogar sehr gut einschätzen, 69 finden sie weder gut noch schlecht, 24 bewerten sie als schlecht und 7 sogar als äusserst schlecht. 22 beantworten die Frage nicht, wählen die Antwortoption «kann oder will ich nicht beurteilen» oder schreiben einen Kommentar. Dass die Beziehungen in der Diaspora generell als besser bewertet werden als in den Herkunftsländern kann darauf hindeuten, dass für Menschen in der Schweiz die gemeinsame Sprache und Herkunft, sowie ähnliche Migrationserfahrungen verbinden. Auch kann der häufige Kontakt zu Menschen aus anderen ethnischen Gruppen dazu beitragen, 388 Hellìk Mayer <?page no="425"?> dass diese persönlichen Kontakte das eigene Bild über die anderen ethnischen Gruppen positiv prägen. 5 Zusammenfassung Mit geschätzten 187 ’ 422 Sprecher: innen (Stand 2022) ist BKMS eine der in der Schweiz sehr häufig gesprochenen Migrationssprachen. Aufgrund der langen Migrationsgeschichte gibt es viele Personen, die bereits zur zweiten oder dritten Generation zählen und BKMS als Herkunftssprache sprechen. Eine aktuelle Studie zu Spracheinstellungen und Sprachverhalten von Lemmenmeier-Batini ć und Mayer (in Vorbereitung) zu BKS mit Befragten aus der deutschsprachigen Schweiz zeichnet ein Bild von einer Diaspora, die ein hohes Bewusstsein und Wertschätzung für ihre Mutter- oder Herkunftssprache hat. Dies zeigt sich sowohl durch ihre Angaben zur Verwendung in der eigenen Familie als auch durch die Aufrechterhaltung des Kontakts zum Heimatland bzw. dem Heimatland der Eltern. Auch zeichnen die Teilnehmer: innen der Studie ein sehr positives Bild über die Beziehungen zwischen den verschiedenen BKMS-sprachigen ethnischen Gruppen für die Schweiz. Sowohl der Kontakt zur Sprache und anderen Sprecher: innen, sowie Einstellungen zum BK(M)S und Angaben zum eigenen Sprachverhalten der befragten Teilnehmer: innen lassen darauf schliessen, dass das BKMS in der Schweiz eine sehr vitale Sprache ist, deren Beherrschung auch für die zweite Generation noch eine Bedeutung hat. Bibliographie Alexander, Ronelle (2006). Bosnian, Croatian, Serbian, a Grammar. With Sociolinguistic Commentary. Madison: The University of Wisconsin Press. Alexander, Ronelle (2020). Slavic languages in Yugoslavia. In: Greenberg, Marc (Hrsg.). Encyclopedia of Slavic Languages and Linguistics Online. Leiden: Brill. doi: 10.1163/ 2589-6229_ESLO_ COM_032499 BAR. Einwandererland Schweiz. Schweizerisches Bundesarchiv BAR. Abrufbar unter: https: / / www. bar.admin.ch/ bar/ de/ home/ recherche/ recherchetipps/ themen-a-z/ auf-den-spuren-von-aus--undeinwanderern/ einwandererland-schweiz.html#1438500689 (Stand: 28.10.2019) BFS (2022a) = Bundesamt für Statistik. 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Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS 2024) belief sich 2022 die Anzahl der Personen (im Alter von über 15 Jahren), die zu Hause Albanisch sprechen, auf 243 ’ 145, womit Albanisch nach Englisch und Portugiesisch die drittgrösste zu Hause gesprochene Nichtlandessprache bildet (siehe die Grafiken in ► Einleitung). Bei den BFS-Daten zu den am häufigsten genannten Hauptsprachen in der Schweiz belegt das Albanische nach (Schweizer-)Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch Platz fünf, womit es im Jahr 2022 erstmals vor dem Portugiesischen liegt. In der öffentlichen Wahrnehmung des Albanischen zeigt sich eine erstaunliche Diskrepanz: einerseits ist es über prominente und höchst erfolgreiche Vertreter der Community einer breiten Bevölkerung auch über die Schweiz hinaus sehr bekannt. Man stelle sich nur die Schweizer Fussball-Nationalmannschaften der Männer und Frauen ohne Mitspieler mit familiärem Hintergrund aus einem der albanischsprachigen Gebiete, v. a. aus Kosova, vor. Ähnliches gilt in der Politik, man denke an die Regierungsrätin des Kantons Luzern Ylfete Fanaj oder den Zürcher Nationalrat Islam Alijaj, beide mit Wurzeln in Kosova. Zugleich ist das Albanische ausserhalb seiner Sprachgemeinschaft weitgehend unbekannt und wird - anders als beispielsweise Spanisch ( ► Spanisch) - kaum als übergreifendes Kommunikationsmittel genutzt. Das mag zum einen an der Mehrsprachigkeit liegen, die Sprecher des Albanischen von Haus aus mitbringen (z. B. sprechen viele auch Makedonisch oder Serbisch), zum anderen aber auch an der Selbsteinschätzung der Albanischsprachigen in Bezug auf den öffentlichen Gebrauch ihrer Sprache. Wie aus einer Erhebung der Stadt Zürich (2012/ 2014) hervorgeht, sind Sprachkenntnisse des Albanischen bei anderen Hauptsprachen-Gruppen kaum vorhanden. Gleichzeitig weisen die Albanischsprachigen einen besonders hohen Wert bei der Verwendung von (Schweizer-)Deutsch auf (vgl. ► Spanisch, Abb 6). Amtlichen Daten aus Kosova (Hajdari und Krasniqi 2021) zufolge ist die Schweiz mit 23 % nach Deutschland (39 %) das wichtigste Emigrationsziel der kosovarischen Bevölkerung, was relativ zur Bevölkerungsgrösse eine hohe Zahl ist und die Rolle der Schweiz für die albanischsprachige Bevölkerung unterstreicht. Eine ähnliche Diskrepanz zeigt sich auch in der Forschung: Trotz der zahlenmässigen Signifikanz der albanischsprechenden Bevölkerung in der Schweiz gibt es nach wie vor wenig Untersuchungen zur albanischen Sprache und ihren Sprecher*innen im hiesigen Kontext. Was die räumliche Verortung der Sprecher*innen des Albanischen in der <?page no="428"?> Schweiz angeht, so stellt das BFS 2024 fest, dass die meisten Albanophonen im Kanton Zürich zu Hause sind (47 ’ 558), gefolgt von den Kantonen Aargau (27 ’ 917), St. Gallen (20 ’ 716), Bern (17 ’ 635), Vaud (15 ’ 732) und Luzern (13 ’ 154). Nach Städten aufgeschlüsselt, lebt die grösste Anzahl albanischsprechender Personen in der Stadt Zürich (7 ’ 051), gefolgt von Winterthur (5 ’ 381), Basel (4 ’ 204), St. Gallen (4 ’ 000), Genf (3 ’ 423), Lausanne (3 ’ 378), Luzern (2 ’ 045) und Bern (2 ’ 032). Die überwiegende Mehrheit der albanischsprachigen Bevölkerung in der Schweiz spricht eine Varietät des Gegischen (siehe Abschnitt 2.2), der nordalbanischen Dialektgruppe, welche unter anderem in Kosova, im heutigen Nordmazedonien und in den albanischsprachigen Gebieten in Südserbien vorherrscht, womit grob die Herkunftsregion der meisten albanischsprachigen Personen in der Schweiz, beziehungsweise deren Grosseltern- oder Elternteile, umrissen ist. Das Herkunftsland der mit Abstand meisten Albanischsprachigen in der Schweiz ist Kosova (knapp 75 % gemäss Schader 2011: 18), so dass das dort gesprochene Nordostgegische die dominante Varietät des Albanischen in der Schweiz darstellt. Demgegenüber sind Sprecher*innen anderer Gegischvarietäten, wie etwa solche nordmazedonischer Provenienz, die primär zentralgegische Varietäten sprechen, in der Minderheit (knapp 25 % gemäss Schader 2011: 18) und ihre Varietäten scheinen ein niedrigeres Sprachprestige zu geniessen. Dieser Handbuchbeitrag bietet neben einer Überblicksdarstellung über die albanische Sprache (Abschnitt 2) eine soziolinguistische Annäherung an deren Sprecher*innen in der (Deutsch - )Schweiz (Abschnitte 3 und 4). Abschnitt 4 rückt dabei auch kursorisch die Frage in den Blick, ob und wie Albanisch als gesellschaftliche Zugehörigkeitskategorie, die mit bestimmten Zuschreibungen und Bewertungen einhergeht, die Wertigkeit der Sprache und damit das Sprachwahlverhalten seiner Sprecher*innen mitprägt. 2 Die Albanische Sprache 2.1 Charakteristik des Albanischen Albanisch wird zu den indogermanischen Sprachen gezählt und stellt darin einen eigenen Sprachzweig dar. Es wird angenommen (Schader 2011: 19), dass von Albanisch als einer eigenständigen Sprache vom 7./ 8. Jahrhundert an gesprochen werden kann; früheste Erwähnungen stammen aus dem 13. Jahrhundert. Die sogenannte ‘ vereinheitlichte albanische Schrift- und Standardsprache ’ (gjuha letrare shqipe e njësuar), die in den Grundzügen auf der toskischen Dialektvarietät basiert, wurde erst 1972 im Rahmen des Kongresses der Rechtschreibung der albanischen Sprache in Tirana geschaffen. Ihr ging ein rund ein Jahrhundert umspannender Prozess voraus, der eng verbunden war mit den historisch-politischen Unabhängigkeitsbemühungen der Albaner*innen und der albanischen Nationalstaatsbildung. Das heute geltende, auf der lateinischen Schrift beruhende albanische Alphabet ging 1908 aus dem Kongress von Manastir (der heutigen nordmazedonischen Stadt Bitola) hervor und umfasst 36 Buchstaben: a [a], b [b], c [ ʦ ], ç [ ʧ ], d [d], dh [ð], e [ ɛ ], ë [ ə ], f [f], g [g], gj [ ɟ ], h [h], i [i], j [j], k [k], l [l], ll [ ɫ ], m [m], n [n], nj [ ɲ ], o [ ɔ ], p [p], q [c], r [ ɾ ], rr [r: ], s [s], sh [ ʃ ], t [t], th [ θ ], u [u], v [v], x [ ʣ ], xh [ ʤ ], y [y], z [z], zh [ ʒ ]. Auch im durchweg gegischsprachigen Kosova gilt heute im offiziellen Gebrauch die toskisch-basierte Standardsprache, die eine zuvor gebrauchte überregionale gegische Schriftsprache abgelöst hat. 392 Shpresa Jashari <?page no="429"?> Im Folgenden wird ein knapper Überblick über die Charakteristiken des Albanischen gegeben, der sich entlang eines Vergleiches mit dem Deutschen bewegt und dabei auf die Arbeiten von Schader stützt, auch in der Mehrzahl der Beispiele (Schader 2006a: 45 - 62; Schader 2011: 19 - 23). Das Albanische Deklinationssystem kennt gegenüber dem Deutschen neben dem Nominativ, Akkusativ und Dativ zusätzlich den Ablativ. Dieser drückt unter anderem verschiedene Beziehungen von Zugehörigkeit, Beschaffenheit und Zusammensetzung aus, vgl. z. B. një fletë pune (ein Blatt Arbeit. ABL . SG . F ) ‘ ein Arbeitsblatt ’ und folgt nach gewissen Präpositionen, wie etwa nach prej ‘ aus ’ obligatorisch, vgl. prej hekuri (aus Eisen. ABL . SG . M ) ‘ aus Eisen ’ . Aus deutschsprachiger Perspektive besonders auffällig ist auch die Stellung des bestimmten Artikels, der nicht vor dem Nomen steht, sondern suffigiert wird (feminin -[j]a, maskulin -i/ -u; z. B. punëtore ‘ [eine] Arbeiterin ’ - punëtorja ‘ die Arbeiterin ’ ; punëtor ‘ [ein] Arbeiter ’ - punëtori ‘ der Arbeiter ’ ). Von den ursprünglich ebenfalls drei Genera des Albanischen hat sich die Zahl der Neutra auf wenige Fälle reduziert. Die Adjektive teilen sich in zwei etwa gleich grosse Gruppen: a) die artikellosen (z. B. katror: ‘ viereckig ’ ), b) die Adjektive, denen ein sogenannter Gelenkartikel vorangestellt ist (hier als CON ‘ Konnektor ’ glossiert), z. B. shkrimtarja e mirë (Schriftstellerin. DEF . SG . F CON . SG . F gut) ‘ die gute Schriftstellerin ’ ; shkrimtar i mirë (Schriftsteller. SG . M CON . SG . M gut) ‘ ein guter Schriftsteller ’ ). Bei attributivem Gebrauch wird das Adjektiv (wie auch das Possessivpronomen) meist dem Nomen nachgestellt, z. B. lulja ime e bukur (Blume. NOM . SG . F meine CON schöne) ‘ meine schöne Blume ’ . Die Steigerung erfolgt wie bei den romanischen Sprachen mit einer Partikel më ‘ mehr ’ , z. B. i bukur ‘ schön ’ - më i bukur ‘ schöner ’ , wobei im Superlativ das Adjektiv den postponierten definiten Artikel trägt: më i bukuri ‘ der schönste ’ . Im Verbalbereich verfügt das Albanische über synthetische Formen des (Medio-) Passivs, z. B. lahem ‘ ich werde gewaschen; ich wasche mich ’ (zu Aktiv laj ‘ ich wasche ’ ) wie auch für die Modi Optativ (Wunschform), z. B. e gëzofsh ( ACC . SG sich.freuen.2 SG . OPT ) ‘ mögest du dich daran erfreuen! ’ und Admirativ (Form zum Ausdruck von Verwunderung, Überraschung), z. B. Qenke i zellshëm (sein. ADM .2 SG CON . SG . M fleissig) ‘ Du bist aber fleissig! ’ . Zu den im Deutschen bekannten Tempusformen kommt im Albanischen (wiederum mit synthetischen Formen) der Aorist hinzu, welcher die Abgeschlossenheit von Handlungen markiert (z. B. erdha ‘ ich bin gekommen/ bin da ’ ). Das Perfekt wird im Standardalbanischen stets mit dem Hilfsverb «haben» gebildet, z. B. kam shkuar (habe.1 SG gegangen) ‘ ich bin gegangen ’ ; dagegen markiert die Bildung mit «sein» die Passivform, z. B. është shkuar (ist.3 SG gegangen) ‘ ist ge-/ vergangen ’ . In einigen nordostgegischen Dialektvarietäten, die von vielen Personen in der Schweiz gesprochen werden, ist allerdings bei gewissen Verben (wie Bewegungsverben) die Bildung des Perfekts mit dem Hilfsverb «sein» üblich (z. B. jam shku(e) ‘ (ich) bin gegangen ’ ; hier auch mit der gegischen Form des Partizips ‘ gegangen ’ , vgl. Abschnitt 2.2). Der Satzbau ist hinsichtlich der Stellung der Satzglieder freier als im Deutschen. Eine Besonderheit des Albanischen gegenüber dem Deutschen ist die sogenannte Objektverdoppelung: Vereinfacht gesagt muss vor dem Verb, das ein Objekt regiert, ein (in Kasus und Numerus übereinstimmendes) Pronomen auf dieses Objekt verweisen, z. B. Unë e dua matematikën (ich sie liebe Mathematik. DEF . ACC . SG . F ) ‘ ich liebe die Mathematik ’ , wobei die Objekte auch satzartig sein können (Sonnenhauser und Widmer 2022). Albanisch 393 <?page no="430"?> Zur Struktur des Albanischen siehe auch die Überblicke in Domi 1966; Fiedler 2003: 749 - 797. Zum Albanischen als indogermanischer Sprache vgl. etwa die Kapitel in Klein et al. 2018: 1716 - 1815. 2.2 Albanische Sprachgebiete, Dialektvarietäten und deren räumliche Verteilung Die heutigen albanischsprachigen Gebiete umfassen eine zusammenhängende Region auf dem Balkan, die sich über Südserbien und Montenegro, den Westen Nordmazedoniens, Kosova, Albanien und Nordgriechenland erstreckt, sowie eine ältere, mehr oder weniger stark im Rückgang begriffene Diaspora in Süditalien, Griechenland, der Ukraine, Bulgarien sowie Dalmatien. Dazu kommt in der neueren Geschichte eine weitere Diaspora in Europa, insbesondere in der Schweiz und in Deutschland, aber auch, wenngleich anteils- und zahlenmässig weit weniger stark vertreten, in zahlreichen anderen europäischen Ländern, in den USA (vor allem konzentriert auf den Nordosten, insbesondere New York und Michigan, siehe Nedelkoska und Khaw 2015: 17) und auch in Kanada. Schätzungen zur Anzahl der Sprecher*innen des Albanischen weltweit variieren zwischen 7 Millionen (Schader 2011: 19; Curtis 2018: 1800) und 12 Millionen (Mustafa 2010: 282; Selimi und Cantieni 2021: 420). Die erhebliche Diskrepanz ist vermutlich nicht nur durch den Mangel an zuverlässigen aktuellen Zahlen, insbesondere zum nach wie vor hochpolitisierten Aspekt der Bevölkerungszusammensetzung in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, zu erklären (Rugova 2015: 140 - 141), sondern auch durch Karte 1: Albanische Dialekte, vgl. Elsie o. D.b 394 Shpresa Jashari <?page no="431"?> unterschiedliche Schätzungen der globalen Diaspora. Die Zentren der albanischen Sprache liegen in Albanien (3.19 Millionen Sprecher*innen), Kosova (knapp 2 Millionen), Nordmazedonien (etwa 500 ’ 000) und Südserbien (100 ’ 000) (Zahlen gemäss Rugova 2015: 140 - 141, anders Mustafa 2010: 282). Das Albanische kennt eine Vielzahl regionaler Idiome, wird jedoch gemeinhin in zwei Hauptdialektgruppen untergliedert, in das Gegische (bzw. Nordalbanische), nördlich des durch die mittelalbanische Stadt Elbasan verlaufenden Flusses Shkumbin, und in das Toskische (bzw. Südalbanische) südlich desselben. Übergangsdialekte zwischen beiden finden sich ebenfalls im Raum südlich des Shkumbin (Gjinari und Shkurtaj 2003: 156). Es wird angenommen, dass die Trennung in Gegisch und Toskisch eine der ältesten Dialekt- Aufspaltungen im Albanischen darstellt (Friedman 2005: 33). Zur generellen räumlichen Verteilung der albanischen Dialekte lässt sich grob konstatieren, dass die albanischsprachige Bevölkerung in Kosova, Serbien, Montenegro, im Grossteil Nordmazedoniens, in den meisten Gebieten Albaniens nördlich des Shkumbin sowie in und um Arbanasi (Kroatien) eine Varietät des Gegischen spricht. Toskische Varietäten werden primär auf dem Gebiet von Albanien südlich des Shkumbin bis nach Griechenland hinein gesprochen, aber auch in einigen Ortschaften im heutigen Nordmazedonien, vor allem in der Gegend des Ohridsees (beginnend bei Struga), am Prespasee wie auch vereinzelt im Landesinneren (etwa bis Bitola), sowie in den traditionellen Diasporasiedlungen in Süditalien, Griechenland, Bulgarien und der Ukraine (Beci 2002: 14 - 19). Gemeinhin werden die Unterschiede zwischen den beiden Hauptdialekten als gering qualifiziert (Shkurtaj 2012: 16). Sie lassen sich allerdings auf allen Strukturebenen, im Wortschatz und, am häufigsten, auf phonologischer Ebene verorten (Morgan 2015: 13). Einige der ältesten belegten Unterschiede zwischen den Dialekten sind das Ergebnis von drei miteinander zusammenhängenden phonologischen Veränderungen: Der toskische Rhotazismus n > r, die Entwicklung des toskischen betonten Schwa-Lautes und der toskische Verlust der Nasalvokale. Wenngleich die Umstände und genaue Chronologie der Herausbildung dieser Unterschiede nicht nachverfolgbar sind, gilt als erwiesen, dass es sich dabei um eine Neuerung im Toskischen handelt, bei der das protoalbanische n in intervokalischer Position zu r wurde und nasale Vokale, die in betonter Position vor n vorkommen, denasalisiert wurden und als solche im Toskischen verloren gingen (Çabej 2012: 44 - 46). Die Denasalisierung des nasalen â führte zur Entwicklung des betonten Schwa [ ə ] <ë>. Diese typischen Unterschiede zwischen dem heutigen Gegisch und Toskisch können am Beispiel des albanischen Worts für ‘ Stimme ’ illustriert werden - wo im Gegischen ein nasales â einem n vorangeht, geht im Toskischen ein betontes Schwa einem r voraus: (1) Gegisch Toskisch Deutsch Rhotazismus zâni [ ˈ z-ni] zëri [ ˈ z ə ri] die Stimme Auf der Ebene der Phonologie sind weiter die Diphthong-Reduktion und die Konsonantencluster-Reduktion im Gegischen, die Auslautverhärtung am Wortende im Toskischen und die höhere Häufigkeit der Reduktion unbetonter Schwa-Laute im Gegischen zu nennen (Morgan 2015: 14). Grammatikalische Unterschiede zwischen den beiden Hauptvarietäten sind unter anderem: verschiedene Gerundialpartikeln, Imperfektsuffixe, kurze Albanisch 395 <?page no="432"?> Partizipformen im Gegischen, unterschiedliche Infinitivsyntax (das Toskische kennt keinen Infinitiv) sowie unterschiedliche Futurformen (Beispiele aus Morgan 2015: 14 - 15): (2) Gegisch Toskisch Deutsch Diphthong dur duar Hände Konsonantencluster mret mbret König Auslautverhärtung zog zok Vogel Schwa urdhnoj urdhëroj ich befehle Imperfekt shkojsha shkoja ich ging Partizip ik ikur (weg)gegangen Infinitiv me ik për të ikur (weg)gehen (um zu gehen) (me + Partizip) (për të + Partizip) Gerundialpartikel tu(e) ik duke ikur am (weg)gehen Futur kam me ik do të iki ich werde (weg)gehen (kam + Infinitiv) (do të + Konjunktiv Präsens) Neben dieser grob skizzierten Unterscheidung sind insbesondere innerhalb des Gegischen, zahlreiche weitere, subdialektale Varietäten zu unterscheiden. Allerdings wird im heutigen Kosova oft ein umgangssprachliches, überregionales Gegisch gesprochen. Die Verhältnisse in der Schweiz sind diesbezüglich kaum erforscht. Forschungsliteratur zu verschiedenen Aspekten des Albanischen in der Schweiz: Avdiji 2022; Caprez-Krompák und Selimi 2006; Jashari 2013, 2018; Schader 2005, 2006a, 2006b, 2009, 2011; Selimi 2013, 2020, 2021, 2022; Selimi und Cantieni 2021, 2022; Sonnenhauser et al. 2023. Im Rahmen eines 2019 - 2022 in Zürich und München durchgeführten SNF-DFG-Projekts «Albanisch im Kontakt. Horizontaler Transfer und Identitätsstiftung in der Mehrsprachigkeitspraxis» (Projektnummer 182126) wurde ein herkunftssprachliches Korpus erstellt, siehe Ebert et al. 2022. Zur sogenannten Sprachenfrage und zur Standardisierung des Albanischen siehe Doli Kryeziu 2018 und Vezenkov 2013. Zur Verbreitung des Albanischen siehe z. B. Fiedler 2003; Curtis 2018: 1801 - 1802; vgl. auch Beci 2002: 14 - 19 sowie Elsie o. D.a, o. D.b mit weiterführenden Informationen, Texten und Hörbeispielen auf Englisch, Albanisch und Deutsch. Listen und Beschreibungen wichtiger Unterscheidungsmerkmale des Gegischen und Toskischen finden sich z. B. bei Beci 2002: 22; Gjinari und Shkurtaj 2003: 157 sowie Pani 2006. Heutiges Gegisch im Kosovo beschreibt Kuqi 2024. 3 Die Sprecher*innen des Albanischen in der Schweiz 3.1 Albanisch-Schweizerische Migrationsgeschichte Historisch erfolgte der Aufbau der albanischsprachigen Bevölkerung in der Schweiz über drei Etappen, die in der Literatur primär im Hinblick auf das Ursprungsland Kosova beschrieben worden sind, die aber mit Ausnahme der dritten auch auf die Situation der Albaner*innen aus anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens weitgehend zutreffen: Arbeitsmigration, Familiennachzug und asylrechtliche Migration. 3.1.1 Arbeitsmigration Ab den 1960er Jahren warb die Schweiz auf Grundlage des aus dem Jahr 1934 stammenden sogenannten Saisonnierstatuts Arbeitskräfte im ehemaligen Jugoslawien an. In den 70er- und 80er-Jahren, nachdem mit dem Rückgang der italienischen Migration viele Arbeitsplätze in Sektoren wie der Landwirtschaft, dem Bau und dem Gastgewerbe frei wurden, verstärkte die Schweiz, die sich in einer anhaltenden Konjunktur befand, die Anwerbung 396 Shpresa Jashari <?page no="433"?> von jungen (primär männlichen) Arbeitskräften. Die amtlichen Statistiken erfassten die Migration bis in die 90er Jahre hinein nach Staatszugehörigkeit, nicht nach Sprache/ Ethnizität (Schader 2006a: 19), weswegen die albanischsprachigen Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien quantitativ nur annäherungsweise erfasst werden können. Es kann jedoch angenommen werden, dass die ersten Saisonniers aus dem Norden des ehemaligen Jugoslawien stammten (Slowenien und Kroatien), und in den späteren Jahren zu einem grossen Anteil aus Kosova, wie auch aus Nordmazedonien und Südserbien. Aus Schweizer Sicht und für die Zwecke des Saisonnierstatuts galten diese angeworbenen «Jugoslawen», als die sie damals in der Schweiz unabhängig von ihrer sprachlichen/ ethnischen Zugehörigkeit wahrgenommen wurden, viele Jahre lang als «Muster- Gastarbeiter»: Fleissig, anständig, unauffällig (von Aarburg und Gretler 2011; Schader 2006a). Die albanischen «Saisonniers» aus dem ehemaligen Jugoslawien, grossteils aus ärmeren ländlichen Regionen aufbrechend, kamen ihrerseits mit der klaren Absicht in die Schweiz, in kurzer Zeit möglichst viel zu arbeiten und zu verdienen, um die eigene Existenz und die der (erweiterten) Familie im eigenen Land zu sichern (etwa durch einen Hausbau, den Aufbau eines Kleinbetriebes, den Kauf von Landwirschaftsmaschinen usw.). Insofern war zumindest ihr Ziel, die dauerhafte Rückkehr, kompatibel mit der Ausrichtung des Saisonnierstatuts. Das Statut regelte Kurzaufenthaltsbewilligungen und sah nicht vor, dass sich die im Ausland angeworbenen Menschen in der Schweiz einlebten. 1 Vielmehr sollte es den Arbeitgeber*innen einen möglichst kontrollierten, leicht regulierbaren Zugriff auf die wirtschaftlich benötigten Arbeitskräfte erlauben, ohne ihnen und dem Land soziale Verantwortung zu übertragen. Dies wurde durch das sogenannte Rotationsprinzip 2 und durch die Verknüpfung des Aufenthaltsrechts an ein spezifisches Arbeitsverhältnis gewährleistet, wie auch dadurch, dass Saisonarbeiter*innen kein Recht auf Familiennachzug hatten. 3.1.2 Familiennachzug Wer mehrere (mindestens fünf aufeinanderfolgende) Jahre unter dem Saisonnierstatut geleistet hatte, konnte unter bestimmten Bedingungen den Aufenthaltstitel wechseln und die Familie nachkommen lassen. Während Familiennachzug in den 70er und 80er Jahren für die allermeisten albanischen Saisonniers kein Thema war, änderte sich dies mit der zunehmenden Repression im damaligen Kosova (Schader 2006a: 20) und, zeitlich versetzt und unter anderen politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, auch im Gebiet des späteren Nordmazedonien. Angesichts der angespannten und sich zunehmend verschlechternden Sicherheitslage beantragte in jenen Jahren eine grosse Zahl von Arbeitsmigranten, darunter viele Albaner, überstürzt und entgegen ihren langjährig verfolgten Plänen den Familiennachzug. Davon zeugt die Verdreifachung der Anzahl Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz zwischen 1980 und 1990. Als weiterer Verstärker für die signifikante Zunahme des Familiennachzugs in den 90er-Jahren wird 1 Das Aufkommen des migrationspolitischen Integrationsparadigmas sowie die damit verbundene Sprachpolitik setzten erst deutlich später ein. 2 Die Aufenthaltstitel waren auf neun Monate beschränkt (eine «Saison»); nach einem neunmonatigen Arbeitsaufenthalt in der Schweiz kehrte man für drei Monate ins Herkunftsland zurück, bevor man, je nach Bedarf der Arbeitgeber*innen und nach gesundheitlichem Zustand (es fanden Gesundheitskontrollen statt bei der Einreise) eine neue Saison antreten konnte. Albanisch 397 <?page no="434"?> die migrationspolitische Kehrtwende der Schweiz im Rahmen des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der Europäischen Union im Jahre 1992 genannt, welches die Arbeitsmigration aus sogenannten Drittstaaten in die Schweiz unterbinden sollte (Maillard und Leuenberger 1999), was den Familiennachzug zur letzten Möglichkeit in die Schweiz zu gelangen machte. Der Umzug der Familien in die Schweiz ging mit erheblichen wirtschaftlichen und zum Teil sozialen Schwierigkeiten für diese einher, wie von Aarburg und Gretler (2011) in ihrer ethnographischen Studie zur kosovarisch-schweizerischen Migration beschreiben: Während der tiefe Lohn der Arbeitsmigranten für das eigene Überleben und die Familie im Herkunftsland gereicht hatte, war es schwierig bis unmöglich, damit deren Lebensunterhalt und die Wohnungsmiete in der Schweiz zu finanzieren. Dies hatte auch eine Belastung der Schweizer Institutionen, wie des Sozialaber auch des Schulwesens zur Folge. Dieser Faktor wurde weiter verstärkt durch die etwa zeitgleich mit der Verschlechterung der politischen Lage auf dem Balkan einsetzende Rezession in der Schweiz und die damit einhergehende Zunahme der Arbeitslosigkeit, wovon auch die Niedriglohnsektoren wesentlich betroffen waren, in denen die Arbeitsmigrant*innen tätig waren. Diese Faktoren fügten sich, zusammen mit der gegen Ende der 90er Jahren einsetzenden Asylmigration und der teilweise damit in Verbindung gebrachten Kriminalitätsproblematik, im öffentlichen Diskurs zu einem negativen Bild der albanischen Bevölkerung in der Schweiz zusammen. 3.1.3 Asylrechtliche Migration Gab es in den 1980er-Jahren nur wenige Asylsuchende aus Jugoslawien (rund 100 pro Jahr), nahm die Asylmigration ab 1988 und dann mit dem Beginn der Kriege in Serbien, Kroatien und Bosnien deutlich zu. Nach der Eskalation der Gewalt in Kosova 1998 und 1999 schliesslich beantragten innerhalb von zwei Jahren fast 50 ’ 000 Kosovar*innen in der Schweiz Asyl, wobei es sich zumeist um Angehörige von hier Niedergelassenen handelte. 1999 beschloss der Bundesrat die kollektive vorläufige Aufnahme von in die Schweiz geflüchteten Personen mit letztem Wohnsitz in Kosova. Bereits kurz nach Kriegsende verliessen die meisten Geflüchteten aus Kosova die Schweiz wieder. Die Feststellung von Burri Sharani et al. (2010: 32), dass der Anteil der über den Asylweg eingereisten Personen oft stark überschätzt wird, kann wohl nach wie vor noch Gültigkeit beanspruchen. In der Tat machten Asylsuchende nur in den Krisenjahren 1998/ 99 einen bedeutenden Teil der albanischsprachigen Bevölkerung in der Schweiz aus (rund ein Fünftel). Ende 2007 waren nur noch rund 4 % der Personen aus Kosova, Serbien und Montenegro Asylsuchende oder vorläufig Aufgenommene. Denn der weit überwiegende Teil der aus Kosova und Nordmazedonien zugewanderten Menschen in der Schweiz reiste im Rahmen des Familiennachzugs ein. Über diese drei Etappen/ Formen der Migration etablierten sich dichte transnationale Netzwerke zwischen der Schweiz und den genannten albanischsprachigen Gebieten (Dahinden 2005). Zur Arbeitsmigrationsgeschichte siehe von Aarburg und Gretler 2011; Burri Sharani et al. 2010; Schader 2006a. Zu Sprachpolitik und Integration im Schweizer Kontext siehe Flubacher 2014; Jashari 2021; Mateos 2009. Zum Familiennachzug und den Folgen für die Schweiz siehe Schader 2006a: 20; Burri Sharani et al. 2010: 30 - 32. 398 Shpresa Jashari <?page no="435"?> 3.2 Albanischer Sprachunterricht in der Schweiz Um den Kindern der (bis zur Jahrtausendwende in der Mehrzahl vorübergehend und später langfristig) in die Schweiz gezogenen Familien die Möglichkeit zu bieten, die albanische Sprache in einem formellen Kontext zu erlernen und zu stärken, entstand durch die Initiative von Albanisch-Lehrpersonen und Eltern ein Angebot für albanischen Ergänzungsunterricht in der Schweiz im Rahmen des so genannten HSK-Unterrichts («Heimatliche Sprache und Kultur»). Die erste albanische HSK-Klasse wurde im September 1990 von der Lehrerin Drita Krasniqi in Glarus eröffnet, gefolgt von hunderten weiteren Klassen in allen Schweizer Kantonen - ein Wachstum, das seinen Höhepunkt in den Schuljahren 1996/ 97 erreichte, um die Jahrtausendwende mit der Rückkehr der grossen Mehrheit nach Kosova (Burri-Sharani et al. 2010: 31) stark abfiel, sich aber auch darüber hinaus tendenziell als rückläufig erweisen sollte. Das HSK-Angebot besteht für verschiedene sogenannte Herkunftssprachen (im Kanton Zürich sind es gegenwärtig 30), ist freiwillig und wird kantonal unterschiedlich anerkannt und gehandhabt. Während die Schulen oft die Räumlichkeiten für den HSK-Unterricht zur Verfügung stellen - dieser findet ausserhalb der regulären Schulzeiten statt - beteiligen sie sich nicht an der Anstellung oder der Entlöhnung der Lehrpersonen. Diese ist Sache der Trägerschaften, bei vielen Sprachen sind dies die Botschaften und Konsulate der jeweiligen Herkunftsländer, bei anderen, wie dem Albanischen, ist es ein Verein (der ALEV, albanischer Lehrer- und Elternverband, auf Albanisch: Lidhja e arsimtarëve dhe prindërve shqiptarë në Zvicër, LAPSH, 1995 aus einem Zusammenschluss des albanischen Lehrervereins und des albanischen Elternvereins hervorgegangen, Schader 2006a: 101). Die Kurskosten werden in diesen Fällen zumeist nicht von den Herkunftsländern, sondern von den Eltern getragen, so auch beim Albanischen. Letzteres wird nur als ein Grund für die über die Jahre stark gesunkenen Schüler*innenzahlen und die damit verbundene ressourcenmässig notorisch schwierige Lage der Albanisch-HSK-Lehrpersonen genannt, wenn Schader für die Entwicklung der Jahre 2000 bis 2006 darauf hinweist, dass neben den effektiven Kosten auch eine Reihe weiterer, insbesondere auch mit der gesellschaftlichen Position der Familien zusammenhängende Faktoren wesentlich sind (Schader 2006a: 97 - 101). Dabei erwähnt er, als einen Aspekt unter anderen, auch das tendenziell niedrige Prestige der Migrationssprachen wie das Albanische. Ohne an dieser Stelle auf die komplexen implizierten sprachpolitischen, sprachideologischen und sprachgeschichtlichen Zusammenhänge eingehen zu können, sei doch abschliessend darauf hingewiesen, dass die Situation der heute in der Schweiz lebenden albanischsprachigen Kinder eine fundamental andere ist als die derjenigen Kinder, für die der albanische HSK-Unterricht zunächst ins Leben gerufen wurde: Ihre vermeintliche «Heimat», wie der Name HSK insinuiert, ist nicht mehr ohne Weiteres im Herkunftsland der Eltern oder Grosseltern zu verorten. Ähnliches gilt freilich auch für andere «Migrationssprachen». Hintergrundinformationen zum herkunftssprachlichen Unterricht (HSK) bietet Schader 2006a: 97 - 105. Wichtige Informationen zum albanischen HSK-Unterricht stützen sich ferner auf ein Vortragsmanuskript, das Nexhat Maloku, der Koordinator und ehemalige langjährige Präsident des albanischen HSK-Unterrichts im Kanton Zürich, der Autorin dankenswerterweise hat zukommen lassen. Zur aktuellen Situation des HSK im Kanton ZH siehe (HSK ZH) sowie den Lehrer- und Elternverband LAPSH për Kantonin e Cyrihut (LAPSH). Albanisch 399 <?page no="436"?> 4 Mehrsprachigkeitspraxis und gesellschaftliche Teilhabe in post - / migrantischen Räumen Dieser Abschnitt lässt die Sprecher*innen des Albanischen in der (Deutsch - )Schweiz etwas näher rücken, und zwar mittels einer von der Autorin durchgeführten qualitativen Studie auf Basis sprachbiographischer Tiefeninterviews mit Sprecher*innen der sogenannt ersten und zweiten Migrationsgeneration, sowie der Generation «dazwischen». Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung, die als Teilstudie des SNF-DFG-Projekts «Albanisch im Kontakt. Horizontaler Transfer und Identitätsstiftung in der Mehrsprachigkeitspraxis» hervorgegangenen ist, richtet sich auf die sprachbezogenen Erfahrungen, Relevanzsetzungen, Positionierungen und Sprachpraxis von Sprecher*innen des Albanischen und (Schweizer-)Deutschen im Kontext gesellschaftlicher Teilhabe in der Schweiz. Der Hauptdatenkorpus besteht aus 15 sprachbiographischen Tiefeninterviews, die sich über zwei (respektive drei) Sprecher*innengenerationen erstrecken (G 1, G 1 ½ und G 2) und von August bis Oktober 2020 im Kanton Zürich auf Albanisch und/ oder Deutsch durchgeführt wurden (4 G 1: m., 3 Kosova (KS), 1 Nordmazedonien (NMK); 4 G 1 ½: w., 3 KS, 1 NMK; 6 G 2: 5 w., 1 m., 1 KS, 4 NMK, 1 Serbien (SRB); 1 G 3: w., KS). Die vorliegende, zwangsläufig stark verknappende Darstellung kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität erheben, sondern lediglich ein paar Schlaglichter auf einige Aspekte von Sprachwahlverhalten und Sprachwahrnehmungen der interviewten Sprecher*innen werfen. Die Studie hat gezeigt, dass für das Verständnis der Sprachwahrnehmungen und Sprachpraxis der Sprecher*innen die sozialräumlichen Sprachverwendungskontexte mit ausschlaggebend sind. In der Studie systematisch erfasst wurden der private Raum, der öffentliche Raum, der Arbeitsort/ Bildungsinstitutionen, Behörden, der virtuelle Raum/ (Soziale) Medien, der transnationale Raum und eine Kategorie «weitere relevante Räume». Ebenso ist der Migrationszeitpunkt im sprachbiographischen Kontext prägend, also die Frage, ob eine Person aktiv migriert ist (G 1), in der Schweiz geboren oder vor dem Schuleintrittsalter zugezogen ist (G 2) oder in einem höheren Alter und nach Absolvieren einiger Schuljahre im Herkunftsland in die Schweiz gezogen ist (G 1 ½). Die im Folgenden diskutierten Aspekte beschränken sich auf den privaten Raum (wobei der Fokus auf die G 1 gelegt wurde) und den öffentlichen Raum (mit Fokus auf G 1 ½ und G 2). 4.1 Fokus G 1: Albanisch zu Hause? Die biographischen Narrationen der sogenannt ersten Generation, die in den siebziger und achtziger Jahren in die Schweiz gekommen ist (im Falle der hier Befragten fast alle unter dem Saisonnierstatut), drehen sich um die Entbehrungen der Arbeitsmigration, die soziale Isolation der ersten Jahre, um die schwere, zumeist prestigearme Arbeit, aber auch um damals erlebte positive Arbeits- und Freundschafts-Beziehungen. Es folgt die Beschreibung der politisch schwieriger werdenden Lage in den Herkunftsländern und des allmählichen Sichtbarwerdens der Albaner*innen sowie eines spürbaren negativen Imagewandels in der Schweiz der Neunzigerjahre. Damit einher geht die Ernüchterung, dass eine Rückkehr nicht wie geplant möglich sein würde. Nach Zuzug der Familie drehen sich die Erzählungen dann überwiegend um die Bemühungen, den Kindern gute (Bildungs-) Perspektiven zu ermöglichen, sie auf der «richtigen» Bahn zu halten, sowie darum, «die 400 Shpresa Jashari <?page no="437"?> eigene Identität» an diese weiterzugeben. Hierbei wird der Sprache eine zentrale Rolle beigemessen. So stellt die Regel, zu Hause Albanisch zu sprechen, die dominante familiensprachpolitische Praxis der G 1 dar: Ktu folet shqip. At minut se delsh pej qesaj dere … mos e perdor shipen, fol gjermonisht e … turqisht e fol e … anglisht e qysh dush, mu s ’ mpengon. (Daut F.* (*= anonymisiert), 64, m., G 1, KS, pensionierter Metallbauer und Galvaniseur) Hier wird Albanisch gesprochen. In der Minute, wo du durch jene Tür gehst … lass das Albanische [meinetwegen] sein, sprich Deutsch und … Türkisch und … sprich Englisch und was immer du willst, es stört mich nicht. Unter den Sprecher*innen der G 2 zeichnet sich ein Weiterbestehen dieser familiensprachpolitischen Regel ab, wenn einige der Befragten schildern, dass sie versuchen, diese in ähnlicher Weise umzusetzen mit den eigenen Kindern (der G 3) - freilich unter veränderten Voraussetzungen, etwa was das Sprachkompetenzniveau im Albanischen angeht: Ja, bi eus isch verbote gsi, dehei, Dütsch z ’ rede. [ … ] Es hät gar nüt anders geh (lacht) Und wänn öppis [uf Dütsch] gseit häsch und er [der Vater] hät ’ s ghört, dänn hätt er di agschroue oder hät gseit «ich ha ’ s ghört» (lacht). … Aber das säg ich mine Chind au (lacht) «Dorin*, fol shyp! » 3 (lacht) Das, was me ghört, gell? [ … ] Ich versueche so viel ich chan [Albanisch z ’ rede], ama ene oun nuk e di për shembull, ebe … niqind për qind. (Floriana L.*, 34, w., G 2, NMK, selbständige Friseurin) Ja, bei uns war es verboten, zu Hause Deutsch zu sprechen. Es gab gar nichts anderes (lacht) Und wenn du etwas auf Deutsch gesagt hast und der Vater hat es gehört, dann hat er dich angeschrien oder hat gesagt «ich hab ’ s gehört» (lacht) Aber das sage ich meinen Kindern auch (lacht) «Dorin*, sprich Albanisch! » (lacht) Das, was man halt so hört, nicht? Ich versuche so viel ich kann Albanisch zu sprechen, aber ich kann es zum Beispiel auch nicht, eben … zu hundert Prozent. Mit der Regel «Albanisch zu Hause» suchte die G 1 ihre Sprache unter erschwerten Bedingungen an die nächste Generation weiterzugeben, in einem Umfeld, in dem Spracherhalt und -förderung fast gänzlich auf private Bemühungen beschränkt blieb (wie das etwa auch bei den HSK-Kursen der Fall war/ ist). Auch für die G 2 (und die darauffolgenden Generationen), scheint die Pflege der albanischen Sprache nach wie vor eine «Privatsache» darzustellen, wohl auch mit dem Ziel, die Verbindung zu den vorausgehenden Generationen nicht abreissen zu lassen. Diese sich in den Daten als dominant abzeichnende familiensprachpolitische Praxis ist aber nicht die einzige. Es finden sich in allen Sprecher*innengenerationen auch ins Gegenteil weisende Aussagen, wie diejenige von Bukurije L.*, die (mittlerweile) mehrheitlich Deutsch mit ihren Kindern spricht. Hier ist es die Gegenwart der G 1, die das Albanische fördert, respektive erfordert: Also, wenn d ’ Schwiegereltere chömed. Die chönd ja nöd so perfekt Dütsch, und denn müemer ja Albanisch mit dene rede. Genau. (Bukurije L., 33, w., G 1 ½, KS, Detailhandelsfachfrau) Also, wenn die Schwiegereltern kommen. Die können ja nicht so perfekt Deutsch, und dann müssen wir ja Albanisch mit ihnen sprechen. Genau. Die Beobachtung, dass es sich bei Bukurije um eine Sprecherin der 1 ½ Generation handelt, kann zwar nicht als per se charakteristisch für diese Sprachpraxis angenommen werden (dafür ist die vorliegende Datenlage zu dünn). Sie verdeutlicht zunächst das 3 Unterstrichen sind hier die Redeteile, welche im Originalzitat Albanisch sind. Albanisch 401 <?page no="438"?> Bemühen, auch sprachlich die Verbindung zur vorherigen Generation nicht abreissen zu lassen und gibt auch darüber hinaus Anlass zu einigen Überlegungen (und weiterer Forschung). Zwar haben diese Sprecher*innen das Albanische zumindest teilweise im Herkunftsland und formell in der Schule erworben, wodurch sie objektiv günstigere Voraussetzungen hätten für das Weitergeben des Albanischen als die G 2, jedoch schlägt sich dieser späte Migrationszeitpunkt in der Regel auch stärker in ihrem Deutsch nieder, was das Thema («perfekt» oder «akzentfrei») (Schweizer - )Deutsch zu sprechen, wie auch das Thema des sprachlichen Auffallens als «anders/ albanisch/ ausländisch» deutlich ins Zentrum ihrer Sprachbiographien rückt. Durch diese stärkere sprachliche Fremd-Markiertheit der G 1 ½, scheint ein besonders hoher Assimilationsdruck auf den Sprecher*innen dieser Kategorie zu liegen, insbesondere auf Personen, die eine sozioökonomisch wenig privilegierte Position innehaben. Dies zeigt sich umso deutlicher, wenn es um die Sprachpraxis im öffentlichen Raum geht. 4.2 Fokus G 1 ½ und G 2: Deutsch im öffentlichen Raum? Eine der Hauptunterscheidungslinien zwischen den Erzählungen der Generation, die eingewandert ist, und der Generation ihrer Nachkommen liegt im für letztere zentralen Thema der Zugehörigkeit bzw. der Suche nach einem positiven Selbstbild, gesellschaftlicher Anerkennung und Teilhabe in der Schweiz. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Position und den Teilhabechancen im Land, und, je nachdem auch ein kritischer Blick auf dasselbe oder eine entsprechende Erwartungshaltung, ist etwas, das der Generation ihrer Eltern (wie tendenziell auch der G 1 ½) fern liegt. Für sie ist die Schweiz, wenn sie auch zweite Heimat sein mag, nach wie vor «Migrationsland», an das sie als «Ausländer*innen» keine Ansprüche zu stellen haben. Dies gilt insbesondere für Personen, die als Arbeiter*innen in die Schweiz gekommen sind. Dabei haben Fragen rund um gesellschaftliche Anerkennung, politische Teilhabe und auch Sprachenrechte durchaus eine prominente Rolle in den Biographien der G 1, allerdings fast ausschliesslich mit Bezug auf die Herkunftsländer. Die biographischen Narrationen der «zweiten», in der Schweiz geborenen oder im frühen Kindesalter hier angekommenen Generation drehen sich zwar auch um die Problematik eines niedrigen sozialen Status und negativen Bildes als «Migrationsandere», aber ihre Migrationsgeschichte ist nicht die einer tatsächlich erlebten Migration, sondern diejenige der zum Teil schmerzhaften Erfahrung und des Umgangs damit, dass sie, wie ihre Eltern zuvor, im Alltag und öffentlichen Diskurs in der Schweiz weitgehend als Migrant*innen kategorisiert werden und ihre Zugehörigkeit zuweilen in Frage zu stehen scheint. Während die G 2 (unabhängig vom Aufenthaltstitel) an sie herangetragene Fremdzuschreibungen, «Ausländer*innen» zu sein, zu hinterfragen beginnt, scheinen Personen der Generation 1½ diesen eher zuzustimmen, respektive ihnen wenig entgegenzusetzen zu haben. Dabei spielt die Sprache als Merkmal, an dem die gesellschaftliche Zugehörigkeit festgemacht und diskursiv ausgehandelt wird, eine zentrale Rolle. Es ist insbesondere der öffentliche Raum, der hier zum diskursiven Schau- und «Hörplatz» für die Sprecher*innen wird. Die oben zitierte Bukurije L. etwa berichtet, dass sie im Bus Anrufe nicht entgegennimmt, wenn sie sieht, dass eine Person am Hörer ist, die nur Albanisch spricht, und sie findet es störend und unhöflich «luut Albanisch rede». Auch 402 Shpresa Jashari <?page no="439"?> spricht sie mit ihren Kindern in der Öffentlichkeit generell Deutsch. Das war aber nicht immer so: B: min Sohn isch chliner gsi und ich han meh mit ihm Albanisch gredet. Und dänn han i, aso … wo bini gsi? Tram, genau … denn hani mit ihm Albanisch gredet, denn hät mich e Frau agsproche, wieso ich Albanisch redt. Genau. I: Sie hät erkennt, dass da Albanisch isch, die Sproch? B: Ja, genau. I: Aber sie isch kei Albanerin gsi? B: Nei sie isch, aso, Schwiizerin gsi. Genau. Und sie hät gseit, wieso ich Albanisch redt, ich söll Dütsch rede. Es stört ihre. (lachend: ) Genau. Und ich versuech/ I: Und denn? Was häsch du denn gseit? B: Ja … aso ich han gmerkt dass … aso es isch en ganz … unhöflichi gsi. Denn han ich gseit «ja, ich wird meh Dütsch rede» ich han denkt, es bringt eh nüt, wenn ich jetzt im Bus mit ihre striite und all lueget. B: mein Sohn war kleiner und ich redete mehr Albanisch mit ihm. Und dann habe ich, also … Wo war ich? Im Tram, genau … dann habe ich mit ihm Albanisch geredet. Dann hat mich eine Frau angesprochen: Wieso ich Albanisch rede. Genau. I: Sie hat erkannt, dass das Albanisch ist, diese Sprache? B: Ja, genau. I: Aber sie war keine Albanerin? B: Nein sie war, also, Schweizerin. Genau. Und sie hat gesagt, wieso ich Albanisch rede, ich solle Deutsch reden. Es störe sie. (lachend) Genau. Und ich versuche/ I: Und dann? Was hast du dann gesagt? B: Ja also ich habe gemerkt, dass … also es war eine ganz … unhöfliche. Dann habe ich gesagt «Ja, ich werde mehr Deutsch reden». Ich dachte, es bringt eh nichts, wenn ich jetzt im Bus mit ihr streite und alle schauen. Obwohl die Sprecher*in selbst keinen aktiven Zusammenhang zwischen ihrer Sprachwahlstrategie («Deutsch im öffentlichen Raum») und Erlebnissen wie diesem herstellt, liegt dieser im sprachbiographischen Kontext nahe, insbesondere zumal diese und ähnliche Alltagserfahrungen vom «negativ Auffallen» als Albanerin/ Kosovarin/ Ausländerin in ihrer Narration zahlreich vorkommen und darin ein zentrales Thema bilden. Basierend auf solchen Beispielen generell zu konstatieren, dass Albanisch im Schweizer Kontext ein niedriges Sprachprestige geniesst, wäre jedoch unpräzise. Denn die Interviews weisen darauf hin, dass eine solche Einschätzung nur unter bestimmten sozioökonomischen Voraussetzungen Geltung beanspruchen kann. In den Daten zeichnet sich nämlich ab, dass eine Wahrnehmung des Albanischen als (negativ bewerteter) sozialer Marker nur dann zum Tragen kommt, wenn die Sprecher*in vom Gegenüber auch als albanisch/ kosovarisch/ ausländisch kategorisiert wird. Davon zeugt das Fallbeispiel von Yllza S.* (35, Künstlerin und Mutter, G 2, NMK), die in Deutschland aufgewachsen ist und erst als Erwachsene in die Schweiz gezogen ist. Mit Selbstverständlichkeit schildert Yllza S., dass sie mit ihren Kindern generell Albanisch spricht, egal ob zu Hause, auf der Strasse oder im Tram. Danach gefragt, ob sie schon einmal auf ihre Sprache angesprochen wurde in der Öffentlichkeit, sagt sie: Mhm. Ja, vor allem mit den Kindern hatte ich das oft, weil Kinder ja manchmal auch sehr laut sind. Das hab ich oft, [ … ] dass sie fragen «was ist das für ne Sprache? ». Und was ich voll oft höre auch, ich Albanisch 403 <?page no="440"?> weiss nicht warum, aber vor allem von Nicht-Albanern, dass sie dann … dass du dann sagst «Albanisch» und dann kucken die dich an und dann sagen die «das klingt aber ganz anders, als das, was ich sonst so höre» und ich hab gar nicht das Gefühl, dass ich jetzt so viel anders Albanisch spreche, als andere Albaner hier. Yllza unternimmt mehrere Anläufe, sich diese Aussenwahrnehmung ihres Sprachgebrauchs als «anders» und die damit einhergehende positive Bewertung - als solche nämlich nimmt sie die geschilderte Reaktion (und ähnliche weitere) wahr - zu erklären, wie etwa mit ihrem spezifischen Dialekt, der zwar Gegisch sei, aber vielleicht weniger «vollmundig» als andere Varietäten. Sie konstatiert aber abschliessend: «Ich weiss nicht, wie ich das zuordnen soll [ … ] Es ist schwierig.» Die Gesamtdatenlage der Zürcher Studie legt weniger eine sprachgebrauchsimmanente Erklärung der unterschiedlichen Aussenwahrnehmungen der Sprache dieser beiden Sprecherinnen nahe, als eine Lesart, welche die Wahrnehmung der Sprache in Abhängigkeit zur Wahrnehmung der Sprecher*innen versteht. Die dahinter liegende Hypothese ist, dass Yllza S. durch ihr Erscheinungsbild sowie ihr tendenziell monolinguales Sprachverhalten in Deutsch und Albanisch anscheinend in der betreffenden Interaktion nicht der (stereo - / typischen und der Tendenz nach negativ bewerteten) Kategorie der Albanerin zugeordnet wurde. So macht die eher extravagant gekleidete Künstlerin, die an anderer Stelle von sich sagt, dass Nicht-Albaner*innen fast immer überrascht seien zu hören, dass sie Albanerin ist, in ihrem Alltag in anonymen öffentlichen Kontexten in der Schweiz sprachbiographische Erfahrungen, die mit denjenigen der Detailhandelsfachfrau Bukurije L. frappant kontrastieren. Die Biographie von Bukurije ist nicht nur von den obengenannten Herausforderungen der Sprecher*innengeration 1 ½ geprägt, sondern darüber hinaus von vielfachen, unter anderem gesundheitlichen und familiären Belastungen. Die Schilderungen der Reaktionen von «Schweizer*innen» auf ihre Erscheinung und auf die Art und Weise, wie sie ihre Sprachen verwendet, deuten darauf hin, dass ihr «Albanisch- Sein» sicht- und hörbar markiert und entsprechend problematisiert ist, im Gegensatz zu demjenigen von Yllza, das tendenziell unsicht- und unhörbar zu bleiben scheint. Die eine Sprecherin und deren Sprachgebrauch erfährt in der geschilderten Interaktion eine Markierung als Migrantin, die bei der anderen ausbleibt. Mit Yeung (2016) könnte man argumentieren, dass Yllzas Fremdsprachigkeit eher der Kategorie der Expats zugeordnet wird, und aufbauend auf Rosa und Flores (2017) liesse sich anführen, dass die ethnisierende/ kulturalisierende (auch als «racialising» interpretierbare) Kategorie «albanisch» diskursiv mit Vorstellungen von sozialer Klassenzugehörigkeit ko-konstruiert wird. Insgesamt veranschaulichen die soziolinguistischen Ausführungen in diesem Abschnitt, freilich kursorisch, dass die Generationszugehörigkeit der Sprecherinnen einerseits und deren sozioökonomische Positionierung andererseits ausschlaggebende Kategorien sind in den untersuchten (Sprach - )Biographien. Diese strukturieren, vor dem Hintergrund der jeweiligen (post - )migrantischen Sprachgebrauchsräume, die Mehrsprachigkeitspraxis und die damit verbundenen sprachideologischen und (sprach - )handlungsleitenden Vorstellungen der Sprecher*innen. 404 Shpresa Jashari <?page no="441"?> 5 Zusammenfassung Der Beitrag stellt zunächst das Albanische hinsichtlich grammatischer, variationslinguistischer und sprachgeschichtlicher Charakteristika vor. Nach der Darstellung der migrationsgeschichtlichen Hintergründe in der Schweiz werden schliesslich Ergebnisse einer sprachbiographisch orientierten empirischen Untersuchung aus dem Jahr 2020 dargestellt. Es zeigen sich hier neben einer starken Identifikationsfunktion der Sprache auch unterschiedliche Haltungen zu deren Weitergabe sowie die Wahrnehmung eines niedrigen Prestiges im Rahmen einer sozioökonomischen Kategorisierung. Es zeigt sich darüber hinaus ein differenziertes Bild der albanischen Sprechergruppe, die in sich wesentlich diverser ist, als das von aussen und im Rahmen von sprachstatistischen Erhebungen der Fall zu sein scheint. Neben diesen Schlaglichtern auf Albanisch im Schweizer Kontext zeichnen sich in den Daten zahlreiche weitere Aspekte ab, die für weiterführende Untersuchungen von Interesse sind, wie etwa die Mehrsprachigkeitspraxis der Sprecher*innen im Sinne eines Translanguaging/ Code-Mixing, wie es sowohl für Deutschland als auch für die Schweiz beschrieben worden ist, Entwicklungen des Sprachkontakts zwischen verschiedenen Varietäten des Albanischen in der Schweiz, der historische und aktuelle Umgang der G 1 mit ihrer «mitgebrachten» Mehrsprachigkeit (neben Albanisch etwa Serbisch, Mazedonisch, Türkisch) oder auch die neuen Sprachverwendungsformen und damit zusammenhängenden Potentiale von Albanisch im transnationalen und digitalen Raum. Ebenso wäre es interessant, der Herausbildung von spezifischen kommunikativen Konventionen in der jüngeren Sprechergeneration nachzugehen, wie sie die Ergebnisse von Sonnenhauser et al. (2023) für narrative Strategien nahelegen ( ► Morand_Band2). Zu Codeswitching und sprachlichen Mischphänomenen in der Schweiz im Überblick Schader 2011: 335 - 406, 2006b, 2009; Selimi 2021; in Deutschland Berisha 2020; Kelmendi 2023. Der Beitrag entstand mit Förderung des Schweizerischen Nationalfonds (Projekt-Nr. 100015L_182126/ 1). Bibliographie Aarburg, Hans-Peter von / Gretler, Sarah B. (2011). Kosova-Schweiz. Die albanische Arbeits- und Asylmigration zwischen Kosovo und der Schweiz (1964 - 2000). (Freiburger Sozialanthropologische Studien 18). 2. Aufl. Zürich, Wien und Berlin: LIT Verlag. Avdiji, Mimoza (2022). Zweitspracherwerb des Deutschen von Albaner*innen aus der Schweiz: Grammatikalische Einflüsse der Erstsprache auf die Zweitsprache. Ein Generationsvergleich anhand sprachlicher Aufnahmen. 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Bevor man sich jetzt aber sofort über die sprachfaulen Welschen aufregt, empfehle ich einen für den Kreislauf äusserst wohltuenden sportlichen Aufstieg auf den Monte Lema im Malcantone (TI), wo es für viele WanderInnen in Ordnung ist, das extraterritoriale grüezi statt das legitime buongiorno zu äussern. Die in der Schweiz sonst so hochgehaltene Territorialität bröckelt hier, gewisse SprachträgerInnen scheinen ihr Territorium mit sich herumzutragen. In einem mehrsprachigen Land braucht es geschriebene oder ungeschriebene Regeln dazu, wer wann welche Sprache benutzen darf oder muss, eben beispielsweise im Sinne des Territorialitätsprinzips. In diesem Kapitel diskutiere ich solche im weitesten Sinne sprachenpolitischen Dispositionen in den Beziehungen zwischen den Schweizer Sprachgruppen. Der Fokus liegt aus Platzgründen auf den institutionell priorisierten Landessprachen. Demografische und pädagogische Fragen im Bereich der Nicht-Landessprachen werden deshalb nur punktuell diskutiert (vgl. aber dazu die entsprechenden Kapitel in diesem Band). 1.1 Sprachmanagement Welche Sprache ist jeweils die angemessene, erwartete, respektvolle, effiziente Wahl? Wann darf oder soll man Sprachen wechseln oder mischen? Welche Sprachkompetenzen darf man vom Gegenüber erwarten? Wie schreibt und spricht die Regierung, wie das Amt? Solchen Unsicherheiten begegnen Menschen seit jeher mit informellem oder formalisiertem Sprachenmanagement. Informelles Sprachmanagement liegt vor, wenn sich Personen mit unterschiedlichen sprachlichen Repertoires in einem bestimmten Kontext ohne formelle Vorgaben nach ähnlichen Prinzipien verhalten. Ein Beispiel wäre etwa das Bieler Modell (Schneuwly 2019: 16), gemäss dem man sich in der Stadt Biel entweder des Deutschen oder des Französischen bedient, je nachdem, in welcher Sprache ein Gespräch begonnen wurde. Formelle sprachpolitische Vorgaben liegen etwa dann vor, wenn eine <?page no="446"?> oder mehrere Sprachen offiziell als Arbeitssprachen deklariert werden, wie beispielsweise in der schweizerischen Bundesverwaltung. Eine Beschreibung von Sprachbeziehungen in einem Land wie der Schweiz muss auf Versuche eingehen, das sprachliche Verhalten von Menschen in der Schweiz zu beeinflussen, das heisst tatsächliche oder vermeintliche Sprachenprobleme, die sich durch die sprachliche Heterogenität ergeben, mit sprachenpolitischen Massnahmen zu lösen. Solche Versuche stehen nicht im luftleeren Raum, sondern basieren auf normativen Ideen darüber, wie die sprachlichen Dinge sein sollten. Damit verbunden sind oft auch Vorstellungen, wie die Verhältnisse (vermeintlich oder tatsächlich) einmal waren oder wohin sie sich bewegen könnten, wenn man nichts unternimmt. Solche Ideen und oft stillschweigend getroffene Annahmen werden auch Sprachideologien genannt. Sie spielen auch in den Sprachbeziehungen der Schweiz eine wichtige Rolle: Um mit gängigen Metaphern zu sprechen, wird gerne argumentiert, dass Sprache ein notwendiges Band ist, das eine Gesellschaft, ein Land zusammenhält (und wenn es fehlt, geht es mit dem Land bergab), oder dass Sprache eine Ressource, eine Substanz ist, die möglichst rein gehalten werden soll, damit sie ihren Wert behält, oder dass sie so etwas wie die Seele eines Volkes oder einer Nation ist. Folglich verliert das Volk seine Seele, wenn ‘ fremde ’ Sprachen übernommen werden. Sprachpolitische Bestrebungen in diesem weiteren Sinn gibt es auch in nicht-staatlichen Domänen, etwa der Familie, einem Sportclub oder in religiösen Gemeinschaften. Der politischen Tendenz, den Sprachenhaushalt bestimmter Gruppen zu regulieren, steht die Tendenz vieler SprecherInnen gegenüber, sich solchen Regulierungsversuchen zu entziehen. 1.2 Sprachenregimes Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, sich über Sprachgruppen hinweg zu verständigen. Im Folgenden werden charakteristische Verhaltensmuster aufgelistet, die wir in Kontexten, in denen Menschen mit unterschiedlichen Sprachrepertoires miteinander kommunizieren, beobachten können. Die verschiedenen Möglichkeiten schliessen sich nicht gegenseitig aus, sondern können dynamisch miteinander gemischt werden. 1. Polyglotter/ polylektaler Dialog: Jeder spricht (mehr oder weniger konsequent) ‘ seine ’ (oder eine präferierte) Sprache und man versteht sich (manchmal auch modèle suisse genannt). Der polyglotte Dialog setzt rezeptive Kompetenzen in zwei/ mehreren Sprachen voraus. Der polylektale Dialog ist dasselbe Verhaltensmuster, einfach mit Dialekten, denen die SprecherInnen keinen Sprachenstatus zuschreiben. 2. Anpassung: Die GesprächspartnerInnen benutzen die erste gewählte Sprache (wie im Bieler Modell); setzt ausreichend gute rezeptive und produktive Kompetenzen in zwei/ mehreren Sprachen voraus. 3. Mischen: Die Beteiligten beider Seiten benutzen jeweils zwei/ mehrere Sprachen (Mischen, Code-Switching), eventuell werden auch noch weitere Sprachen zugezogen (Spanisch, Englisch, etc.). Setzt rezeptive und produktive Kompetenzen in zwei/ mehreren Sprachen voraus. 410 Raphael Berthele <?page no="447"?> 4. Arbeitssprachenmodelle: a) Man einigt sich auf eine im Kreise der Beteiligten gesprochenen Erst- oder Muttersprachen, die dann alle benutzen. b) Man einigt sich auf eine dritte Sprache, die alle benutzen (lingua franca, z. B. Latein, Englisch, Esperanto). Setzt ausreichende rezeptive/ produktive Kompetenzen in der Arbeitssprache voraus. 5. Mediation: Die Beteiligten sprechen jeweils ihre Sprachen, aber es gibt einen informellen oder institutionalisierten Übersetzungs- und Dolmetschdienst (menschliche Akteure oder automatische Übersetzungsprogramme). Setzt ausreichende rezeptive/ produktive Kompetenzen in der Arbeitssprache nur bei den MediatorInnen voraus bzw. technikvermittelte Mediationsfunktionen. Alle diese Modelle wurden und werden in der Schweiz praktiziert. Der polylektale Dialog ist die unmarkierte Wahl in der Kommunikation zwischen SprecherInnen unterschiedlicher alemannischer Dialekte. Im Falle der Rätoromanen kippt die Sprachenwahl in der Kommunikation in verschiedenen Idiomen seit Längerem schnell ins Deutsche. Sobald mehr als zwei Sprachen/ Sprachgruppen beteiligt sind, werden die Regimes typischerweise gemischt. So tagen nationale Gremien in der Schweiz oft mit einem Modell des polyglotten Dialogs Deutsch-Französisch, und die Italophonen und die Rätoromanen bedienen sich jeweils einer oder beider dieser Sprachen. Was für die einen polyglotter Dialog ist, ist für andere also ein Arbeitssprachenmodell, in dem ihre jeweiligen Sprachen nicht vorkommen. Genaue Informationen dazu, welche Modelle wann wo dominier(t)en, sind schwer zu erhalten. Volkszählungsdaten (in der Schweiz bis 2000 Vollerhebungen und danach Strukturerhebungen, ► Sprachenstatistik) sowie punktuell durchgeführte wissenschaftliche Untersuchungen (z. B. Elmiger und Conrad 2010) geben jedoch Aufschluss darüber, welche Sprachen wo gewählt werden. Relativ neu ist die sprachliche Mediation durch technologische Hilfsmittel, die mittlerweile nicht nur die Schriftlichkeit, sondern auch zunehmend die Mündlichkeit abdecken helfen. So gibt es mittlerweile Smartphone-Applikationen, die in ständig besser werdender Qualität eine Vielzahl von Übersetzungsrichtungen für gesprochene Sprache abdecken. 1.3 Vielsprachigkeit Wer sich für die Sprachbeziehungen in der Schweiz interessiert, weiss in der Regel schon um die föderalistische, territorial kleingliedrige Organisationsform des Landes, das dieses deutlich von zentralistischeren Modellen (prototypisch: Frankreich) unterscheidet. Die sprachenrechtlichen Dispositionen in der Schweiz (Ebene Konföderation) anerkennen vier Landessprachen und verleihen verschiedenen anderen Sprachen (von Frankoprovenzalisch bis Gebärdensprachen) bestimmte Rechte. Die Schweiz ist also nicht nur de facto, sondern auch in Bezug auf ihre formelle Sprachenpolitik ein vielsprachiges Land. Die wissenschaftliche Literatur unterscheidet in der Regel Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit. Vielsprachigkeit verweist nicht auf individuelles Meistern vieler Sprachen, sondern auf institutionelles und in der Schweiz auch territoriales Nebeneinander von verschiedenen Sprachen. Vielsprachigkeit ist kein Garant für eine allgemeine Verbreitung von Mehrsprachigkeit, welche das Benutzen und Beherrschen verschiedener Sprachen durch Individuen meint. Die Beziehung von Viel- und Mehrsprachigkeit ist paradox: Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 411 <?page no="448"?> Wenn der Staat mir sowohl in der Mehrheitswie auch in der Minderheitssprache Red und Antwort steht, so kann ich als Mitglied einer Minderheit zumindest im Austausch mit dem Staat einsprachig in meiner Minderheitensprache verweilen. Dazu passt, was Befragungen beispielsweise von SchülerInnen in der Westschweiz (Elmiger 2015: 108) zeigen, nämlich dass eine deutliche Mehrheit jenseits der Deutschlektionen nie oder nur sehr selten Kontakt hat mit dem Deutschen. Aus dem oben angesprochenen Paradox resultiert ein vielerorts beobachtbares (und oft kritisiertes) Muster: Je weniger in einer offiziell vielsprachigen Institution die legitimen Sprachen gleichberechtigt sind, desto mehr müssen gewisse Gruppen von Individuen, insbesondere Angehörige von Sprachminderheiten, mehrsprachig werden. Im Hinblick auf eine Verbesserung der (Sprach-)Beziehungen zwischen den SchweizerInnen wird vom Staat oft einerseits eine ausgereifte, minderheitenfreundliche Vielsprachigkeit verlangt, gleichzeitig wird aber auch erwartet, dass der Staat dafür sorgt, dass möglichst viele EinwohnerInnen des Landes möglichst mehrsprachig werden. 1.4 Territorialität Dem föderalistischen Organisationsprinzip des Bundesstaates entspricht die Zuschreibung von Sprachen zu bestimmten Territorien, wobei natürlich nicht das Gebiet eine Sprache ‘ hat ’ , sondern Sprechergruppen, die traditionellerweise in diesem Gebiet dominieren. Was als traditionell zu gelten hat, ist dabei eine Frage der jeweils herangezogenen historischen Bezugspunkte, da Menschen schon immer wanderten, über (heutige) Sprach-, Kantons- und Landesgrenzen hinweg, und dabei ihre Sprachen mitnahmen. Die statische Zuordnung von Sprachen zu Territorien ist deshalb anfällig für politisch-ideologische Einflüsse. Die Wanderungsbewegungen können recht dynamisch sein oder sich aber auch in Grenzen halten. So bewegt sich etwa die Sprachgrenze Deutsch-Französisch in der Schweiz seit Jahrhunderten nur wenig. Lokale Ausnahmen gibt es, beispielsweise der stetige Rückgang der deutschsprachigen Minderheit in der Stadt Freiburg oder die Einwanderung von deutschsprachigen BewohnerInnen in die frankophonen Gemeinden am Mont Vully. Andererseits kann man seit Jahrhunderten beobachten, wie sich die deutsch-rätoromanische Sprachgrenze verschiebt, sowohl demografisch wie auch administrativ: Die Stadt Chur war bis ins 16. Jahrhundert dominant romanischsprachig, und die Tendenz besteht weiterhin, dass traditionell romanischsprachige Gemeinden nahe der Sprachgrenze ins deutschsprachige Lager wechseln. Dieser Prozess wird bisweilen durch Gemeindefusionen noch beschleunigt ( ► Rätoromanisch). Gleichzeitig führt die Präsenz des Deutschen auch innerhalb des traditionell romanischen Gebiets zu immer mehr Sprachwechseln: Einerseits wechseln Personen im Verlauf ihres Lebens die Sprache hin zum Deutschen und geben das Romanische nicht mehr an die nachfolgenden Generationen weiter, andererseits wechselt man vermehrt ins Deutsche in Kontexten, wo früher Romanisch üblich gewesen war. Analoge Tendenzen schienen sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch im Tessin abzuzeichnen, da nach der Eröffnung des Gotthardtunnels 1882 sich vermehrt Deutschsprachige im Tessin niederliessen, deren deutschsprachige Schulen als Instrumente der Germanisierung der italienischen Schweiz wahrgenommen wurden - und Ende der 1920er Jahre aus sprachenpolitischen Gründen geschlossen wurden. 412 Raphael Berthele <?page no="449"?> Territoriale Regelungen sind deshalb auch in der Schweiz historisch perspektivierte Regelungen, sie bleiben gezwungenermassen unscharf und können oder sollen nicht automatisch die ganz aktuelle ‘ Realität ’ widerspiegeln. Eine sture Zuordnung eines Territoriums zu einer Sprache wird zudem der gerade in Grenzzonen gehäufter auftretenden individuellen Zwei- und Mehrsprachigkeit nicht gerecht. Trotz in politischen Reden gerne allgemein gehaltenen Appellen an die Sprachenvielfalt werden auch in den Schweizer Sprachenregimes, wie in aller Sprachenpolitik, Prioritäten gesetzt. Die Priorisierung in der Schweiz zielt auf die vier Landessprachen, wie die Bundesverfassung mit den Dispositionen zu den Landessprachen bereits deutlich macht. Mit der Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitssprachen sieht der Staat neben dem Schutz der italienischen und rätoromanischen Minderheiten auch Massnahmen vor, die etwa Walserdeutsch (in Bosco Gurin), Jenisch, Jiddisch und neu auch die Patois der Westschweiz schützen und unterstützen sollen. Dialekte werden sowohl vom Sprachbegriff der Charta des Europarats als auch in der Gesetzgebung auf Ebene des Bundes explizit ausgeschlossen. Ebenfalls ausgeschlossen sind Sprachen, die als nichteinheimisch betrachtet werden (Englisch, Albanisch etc.). 1.5 Demografie Tatsächliche oder befürchtete Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung im Bereich der jeweiligen Erstsprachen und -dialekte beeinflussen sowohl die Praktiken als auch die öffentlich geführten Debatten über Sprachbeziehungen. Die Sprachdemografie in der Schweiz wird seit Jahrzehnten dokumentiert, in erster Linie durch die regelmässig aktualisierten Datenbestände des Bundesamtes für Statistik (BFS; siehe ► Sprachenstatistik für Details). Während sich an den Grössenverhältnissen zwischen den Sprachgemeinschaften der Landessprachen nur wenig ändert, zeigen die Analysen eine Zunahme von anderen als den jeweils lokal als ‘ traditionell ’ betrachteten Sprachen in allen Sprachregionen (BFS 2022: 8 - 9). Zwischen 2010 und 2020 haben dabei viele Nichtlandessprachen ihren Marktanteil vergrössert, am dramatischsten das Englische (vgl. Abb. 1 für die Entwicklung im privaten und beruflichen Bereich, vgl. ► Englisch). Leicht abgenommen hat dagegen der Anteil von BKMS (Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Serbisch). Gemäss Strukturerhebungsdaten des Bundesamtes für Statistik beobachten wir einerseits generell eine Zunahme der Nicht-Landessprachen, während besonders das Deutsche, aber auch Französisch und Rätoromanisch leicht zurückgehen, vor allem in ihren jeweiligen Territorien. Der soziokulturelle Hintergrund der EinwohnerInnen, die andere als die Landessprachen als Hauptsprachen haben, ist variabel: Der Anteil mit höherem Bildungsabschluss entspricht dem der übrigen Bevölkerung (34 % vs. 37 %, BFS 2022: 11). Gleichzeitig sind die vergleichsweise schlecht Ausgebildeten unter ihnen stark übervertreten (42.5 % gegenüber 18.4 % in der übrigen Bevölkerung). Aussagen über Probleme, die durch migrationsbedingte Fremdsprachigkeit verursacht werden, sind immer vor dem Hintergrund der typischen Vermischung bestimmter (Haupt-)Sprachen mit einem bestimmten Bildungsniveau und sozialem Status zu sehen: Das Englische der Expats im Kanton Zug, obwohl es hin und wieder in öffentlichen Debatten aufscheinen mag, hat eine andere stereotype Konnotation als etwa das Portugiesische (vgl. hierzu ► Portugiesisch). Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 413 <?page no="450"?> § 1.1: Mehr zu den reichen Metaphorisierungen von Sprache im sprachenpolitischen Diskurs findet sich in Coray 2008, Berthele 2001 und Jansen et al. 2021. § 1.2: Die Sprachenwahl der RätoromanInnen mit der niedrigen Schwelle zum Wechsel ins Deutsche wird in Solèr 1996 beschrieben. § 1.3: Der polyglotte Dialog wurde meines Wissens von Posner 1991 zum ersten Mal so benannt. Eine Diskussion von Vor- und Nachteilen verschiedener Regimes am Beispiel der vielsprachigen Verwaltung der Europäischen Union findet sich in Grin 2004. § 1.4: Die Freiburger und Bieler Situationen werden im Buch von Schneuwly 2019 ausführlich beschrieben und verglichen. Etter 2016 beschreibt die Probleme, die sich für das Rätoromanische im Zusammenhang mit Gemeindefusionen stellen. Per Bundesratratsbeschluss (Bundesrat 2021) wurde 2021 entschieden, die Westschweizer Patois als Regionalsprachen zu schützen. Abb. 1: Anteil der zu Hause und bei der Arbeit gesprochenen Sprachen am Total der über 15jährigen Bevölkerung; Entwicklung zwischen 2010 und 2021; Datenquelle BFS (https: / / www.bfs. admin.ch/ asset/ fr/ 24425230 und https: / / www.bfs.admin.ch/ asset/ fr/ 24425231, Stand: 05.06.2024) 414 Raphael Berthele <?page no="451"?> 2 Konsequenzen von Sprachbeziehungen für die Sprachen «Ich komme in Polonisch und Spanisch» (Sekundarschüler 9H, Kanton Waadt) 1 Die meisten der oben aufgelisteten Sprachenregimes hinterlassen potenziell Spuren in den beteiligten Sprachen, insbesondere dann, wenn sie das Lernen der anderen Sprache(n) bedingen. Die Sprachbeziehungen in der Schweiz haben denn auch vielfältige kontaktsprachliche Erscheinungen hervorgebracht, zum Teil auffällige, den SprachbenutzerInnen bewusste, zum Teil aber auch verborgenere. 2.1 Sprachwechsel und Umschalten zwischen Sprachen Der radikalste Wandel in Kontaktsituationen ist das Wechseln von einer traditionell gesprochenen Sprache zu einer neuen, dominanten Sprache. Im Gebiet der heutigen Schweiz fand dies wiederholt statt, etwa der Wechsel von keltischen zu romanischen oder gemanischen Varietäten, oder in neuerer Zeit der Wechsel von frankoprovenzalischen und franc-comtois Patois zum Standardfranzösischen ( ► Frankoprovenzalisch ► SprachlicheVorgeschichte). Auch die dilalische Situation in der italienischsprachigen Schweiz ist hier zu nennen, in der die bodenständigen Dialekte graduell durch eine standardnähere Varietät des Italienischen abgelöst werden. Sprachenpolitisch besonders relevant ist der Wechsel vom Rätoromanischen zum (Schweizer-)Deutschen ( ► Rätoromanisch). Wenn SprecherInnen verschiedener Sprachen oder Varietäten in Kontakt treten, so wird oft zwischen Varietäten oder Sprachen hin- und hergewechselt (sogenanntes Code- Switching). Code-Switching ist besonders typisch für Mündlichkeit, tritt aber insbesondere in der elektronischen Kommunikation gehäuft auch schriftlich ( ► Stark/ Ueberwasser_Band2) auf. Gemeinhin wird in der Kontaktlinguistik zwischen solchen Code-Switching-Mustern und Replikationsphänomenen (z. B. Entlehnung von Wörtern) unterschieden. Im Gegensatz zum typischen Code-Switching wird beim Entlehnen das Material der Spendersprache ein Stück weit an die Empfängersprache angepasst (Aussprache, Schreibung, grammatische Markierungen). Wie vieles im sprachlichen Bereich ist die Unterscheidung zwischen den beiden Phänomenen nicht kategorisch. Sprachkontakt kann nachhaltige Spuren hinterlassen, selbst dann, wenn die minorisierten Sprachen gar nicht mehr benutzt werden. Code-Switching kann so regelmässig und gewöhnlich werden, dass kollektive mischsprachliche Gebräuche entstehen, etwa das oft zitierte, aber immer seltener gehörte Bolz in der Freiburger Unterstadt. Kontaktsprachliche Phänomene können sich auch einbürgern, ohne dass die SprachbenutzerInnen die Sprachen, denen die Phänomene entspringen, tatsächlich auch lernen, etwa wenn sich in urbanen Räumen Multiethnolekte herausbilden ( ► Morand_Band2). 2.2 Replikation, Entlehnungen Wenn SprecherInnen Strukturen und/ oder Material von Kontaktsprachen in ihre dominante Sprache integrieren, so replizieren sie Teile dieser Kontaktsprachen. Diese Repli- 1 Die Zitate am Anfang der folgenden Abschnitte stammen von frankophonen und italophonen LernerInnen des Deutschen als Fremdsprache (Schweizer Lernerkorpus SWIKO https: / / centreplurilinguisme.ch/ de/ forschung/ schweizer-lernerkorpus-swiko). Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 415 <?page no="452"?> kation kann sprachliches Material betreffen (z. B. die Entlehnung des italienischen Wortes Giro ins Deutsche und ins Französische), oder aber auch Strukturen (z. B. die Satzstellung im Rätoromanischen auf Basis des deutschen Modells; vgl. ► Rätoromanisch). Die augenscheinlichsten Spuren von Sprachbeziehungen sind entlehnte Wörter. Entlehnungen gibt es in alle Richtungen zwischen den Schweizer Landessprachen. Prototypisch sind die zahlreichen Gallizismen zu nennen, also Entlehnungen vom Französischen ins (Schweizer)Deutsche (Jupe ‘ Rock ’ , Billett ‘ Fahrkarte ’ , Piquet ‘ Bereitschaft ’ , aber auch regional beschränkter wie das Deutschfreiburger s Permi ‘ der Fahrausweis ’ , etc.). Die Entlehnungen vom (Schweizer-)Deutschen ins Französische sind etwas weniger zahlreich, und oft eher institutioneller (le stempf ‘ der Stempel ’ , von schweizerdeutsch Stempfel) und profanerer Natur (poutzer ‘ putzen ’ , le chibre ‘ der Schieber (Jass) ’ ). Deutsches wurde aber auch ins Rätoromanische (etwa die Partikel aber) und Italienische entlehnt (etwa Entlehnungen wie Clàfter von deutsch Klafter in der Leventina oder die Bedeutungserweiterung azione für eine Aktion im Supermarkt). 2.3 Konvergenzen und Sprachpurismus Die Sprachkontaktforschung geht davon aus, dass grammatische Angleichungen von Sprachen ein Zeichen von intensiverem Kontakt zwischen den involvierten Sprachgruppen sind. Es ist daher wenig überraschend, dass es besonders in den rätoromanischen Varietäten neben den zahlreichen Entlehnungen auch eine Vielzahl von grammatischstrukturellen Merkmalen gibt, die auf die Nachbarsprachen Italienisch und vor allem Deutsch zurückgeführt werden können. Die Phänomene reichen von ans Deutsche angelehnter Bildung von Partikelverben (Sursilvan star si - aufstehen) und Wendungen (Vallader co hast - wie hesches? ‘ wie hast du es, d. h. wie geht es dir? ’ ) bis hin zur lexikalischen Semantik von räumlichen Präpositionen: Sursilvan vid(a) entspricht semantisch dem deutschen an, zu dem es in den anderen romanischen Landessprachen keine direkte Entsprechung gibt. Wenn SprecherInnen über lange Zeit in gemischtsprachlichen Zonen zusammenleben, führt dies in der Regel zu zunehmender Ähnlichkeit der Sprachen (Konvergenz). Insbesondere bei den strukturellen Kontaktphänomenen ist dabei zu beachten, dass sie nicht zwingend durch Kontakt neu in die Sprachen übernommen werden, sondern eventuell schon da waren und durch die Kontaktsituation verstärkt und gestützt wurden. So ist zum Beispiel die Flexion des prädikativen Adjektivs (sie ist schön-e/ elle est belle) in vielen Mundarten entlang der romanischen Sprachgrenze zwar kongruent mit der Konstruktion in den romanischen Kontaktvarietäten, aber eben auch ein ererbtes Merkmal des Althochdeutschen. Replikationen auf Form- und Strukturebene charakterisieren alle Schweizer Varietäten. Wortentlehnungen entstehen typischerweise, wenn Objekte, Praktiken oder Institutionen importiert oder neu geschaffen werden. Welche Sprachen als besonders modellhaft gelten, hängt von den lokalen, aber auch übergeordneten (europäischen, globalen) Tendenzen ab. Nachdem Französisch in Europa lange ausserordentlich einflussreich war, ist es heute eher das Englische. Kleine, mündliche, nicht-standardisierte Varietäten reagieren in Kontaktsituationen schneller und dynamischer als standardisierte, normierte Grosssprachen, in denen oft sprachpuristisch Gegensteuer gegeben wird gegen die als exzessiv wahrgenommene Integration von fremdem Sprachgut. Während heute vor allem die Anglizismen im 416 Raphael Berthele <?page no="453"?> Fokus von sprachpuristischen Bestrebungen sind, galt das Augenmerk besonders im deutschsprachigen Raum früher lange dem Französischen (die sogenannte «Welschsucht»): Auch in der deutschsprachigen Schweiz versuchten deutschnational orientierte Kreise in der Zeit des ersten Weltkriegs, den Einfluss des Französischen zu beschränken und «das geschichtliche Recht der deutschen Sprache» (Redaktion 1951) sogar in der französischen Schweiz zu verteidigen - was soweit ging, dass deutsche Ortsnamen in der Westschweiz auch für Orte erfunden wurden, für die es traditionell keine solchen gab. Diese Bestrebungen waren mit Ausnahme etablierter Namen für wichtige Orte (Genf, Sitten) weitgehend erfolglos: Niemand spricht heute in der Deutschschweiz von Losanen. Einzig an der Sprachgrenze, etwa im Raum Freiburg, gibt es immer noch hin und wieder Diskussionen um die korrekte Bezeichnung von Ortschaften und Strassen in Medien der beiden betroffenen Sprachgemeinschaften. § 2.1: Das Konzept der Dilalie mit Berücksichtigung der italienischsprachigen Schweiz wird in Berruto und Pandolfi 2004 behandelt. Bolz (in einer literarischen Form) wird in Kern-Egger 1990 dokumentiert. § 2.2: Für eine ausführliche Diskussion von Replikation und Sprachwechsel vgl. Matras 2009: 113. Für detaillierte Analysen von romanisch-deutschen Kontaktphänomenen auf der lexikalischen, semantischen und syntaktischen Ebene vgl. Berthele 2007 und Grünert 2011: 98. § 2.3: Für eine vertiefte Diskussion der Sprachgeschichte der Flexion des prädikativen Adjektivs siehe Fleischer 2007. Eine Karte der Westschweiz mit deutschen Namen wurde 1907 von Blocher und Garraux publiziert. 3 Wessen Sprache soll geschützt werden? «Es gibt auch töte Sprachen die niemand mehr redet» (Sekundarschülerin 8H, Kanton Freiburg) Anfang 19. Jahrhundert wurde für kurze Zeit ein helvetischer Zentralstaat nach französischem Modell eingerichtet. Paradoxerweise wurde die Schweiz ausgerechnet in dieser Periode zum ersten Mal offiziell vielsprachig (Schoch 2007: 36): Durch die Zentralisierung mussten die für den ganzen Staat geltenden Beschlüsse und Gesetze in den drei grossen Sprachen verabschiedet werden. Demgegenüber war die alte Eidgenossenschaft politisch ein dezentrales, im Wesentlichen deutschsprachiges Gebilde, in dem sprachliche Mediation zur Kontrolle der italophonen oder frankophonen Untertanen lediglich ein regionales Problem war, das man unter weltläufigen Aristokraten oder mittels übersetzender Landschreiber ohne grössere Probleme lösen konnte. Ab 1798 jedoch erliess das Direktorium der zentralistischen helvetischen Republik sämtliche Gesetze in drei Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch), was zum ersten Mal in der Schweiz einen systematischen Übersetzungsbetrieb erforderte. Die helvetische Republik scheiterte, die polyglotten Aristokraten walteten bald wieder unter sich, und die amtliche Schriftlichkeit war wieder grossmehrheitlich Deutsch. 3.1 Nationalsprachen, Landessprachen Besonders an der deutsch-französischen Sprachgrenze, etwa in Biel oder Freiburg, kam es im 18. und 19. Jahrhundert immer wieder zu sprachenpolitischen Machtkämpfen. In Freiburg beispielsweise wechselte die politische Dominanz der Sprache mehrfach: Während in der alten Eidgenossenschaft das Deutsche tonangebend war (und das allzu laute Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 417 <?page no="454"?> Singen französischer Lieder verboten wurde), wurde nach dem Einmarsch der Franzosen 1798 das Französische zur einzigen offiziellen Sprache ernannt. In der für die moderne Schweiz so wichtigen Regenerationszeit nach der Juli-Revolution (1830) waren jedoch Sprachenfragen ganz offensichtlich nicht zentral: Im ersten Entwurf zur neuen Verfassung von 1847 fanden sich keinerlei sprachbezogene Dispositionen. Offenbar auf Anregung des Waadtländer Gesandten listet dann der definitive Text von 1848 drei «Hauptsprachen» als «Nationalsprachen» auf: Art. 109. Die drei Hauptsprachen der Schweiz, die deutsche, französische und italienische, sind Nationalsprachen des Bundes. (Schweizerische Eidgenossenschaft 1849: 32). Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts gab es keine grösseren sprachenpolitischen Diskussionen. Es gab durchaus politischen Druck auf Grund von Bewegungen in den Nachbarländern: Einerseits entstanden Begehrlichkeiten im Rahmen der italienischen Einigung, dem Risorgimento, hinsichtlich des Tessins. Andererseits erwachten auch in der Schweiz wie oben bereits angesprochen deutschnationale Bewegungen. Gleichzeitig gab es immer wieder Wellen der Migration über die Sprachgrenzen hinweg, etwa die durch die lokale Wirtschaftspolitik begünstigte Einwanderung Frankophoner in der Stadt Biel (Schneuwly 2019: 41). Die unveränderte Übernahme des Sprachenartikels in der revidierten Verfassung von 1874 legt aber nahe, dass es kein Bedürfnis für stärkere Regulierung gab. Die Territorialisierung der Sprachhoheit mit ihrer assimilierenden Wirkung auf Zugewanderte scheint ihren Beitrag zur Stabilität der sprachlichen Verhältnisse geleistet zu haben. Die politischen Gräben verliefen nicht entlang sprachlicher, sondern entlang religiöser und politischer Linien (Seitz 2014: 13). Nach den bewegten Jahren vor und während dem 1. Weltkrieg, in dem sich ein (aussen-) politischer Graben mit entgegengesetzten Sympathien für den jeweiligen grossen Nachbarn zwischen den deutschsprachigen und französischsprachigen Landesteilen auftat, waren die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet durch neue Formen eines schweizerisch-nationalistischen Identitätsdiskurses. Nicht immer waren die sprachenpolitischen Ideen von Erfolg gekrönt, kläglich scheiterte etwa die «Schprooch-Biwegig» (Baer und Baur 1937) mit ihrem Anliegen, eine schweizerdeutsche Standardsprache durchzusetzen ( ► Deutsch). Erfolgreicher waren die Bestrebungen ab den 1930er-Jahren, den Status des Rätoromanischen politisch zu stärken. Das Rätoromanische war auch sprachideologisch von deutscher wie auch von italienischer Seite unter Druck. Aus Sicht des italienischen Sprachnationalismus waren die rätoromanischen Varietäten nichts anderes als Dialekte des Italienischen. Und während linguistisch interessierte Deutschschweizer die Varietäten zwar durchaus als Kuriosum erforschten, machte man sich gleichzeitig herablassend über die inner-romanische Uneinigkeit bezüglich der Schreibsprache lustig und prognostizierte das Ende der Sprache angesichts des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts: Der nüchterne, von philologischen und linguistischen Interessen freie [ … ] Beobachter wird dem Ländchen Glück dazu wünschen, dass es solchergestalt seine Pforten den Segnungen des sprachlichen Weltverkehrs öffnet. (Morf 1888: 16) Als direkte Konsequenz der sprachenpolitischen Arbeit, die im Kanton Graubünden ihren Anfang genommen hatte, wurde 1938 landesweit über einen neuen Verfassungsartikel 116 418 Raphael Berthele <?page no="455"?> zu den «Nationalsprachen» abgestimmt. Mit über 90 % Ja-Anteil wurde 1938 das Rätoromanische per Volksabstimmung zur vierten Nationalsprache erhoben. Rätoromanisch bekam das Prädikat der «ältesten Landessprache» und wurde als einzige exklusiv schweizerische Sprache wahrgenommen, was der identitätspolitischen Abgrenzung von Nazi-Deutschland (im Sinne der sogenannten geistigen Landesverteidigung) diente. Während das Rätoromanische 1938 erst einmal Nationalsprache, aber nicht Amtssprache des Bundes wurde, wird es mit dem neuen Sprachenartikel im Jahr 1996 zur «Teilamtssprache» des Bundes: Neu ist «im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes» (heute Artikel 70BV). Während schon die Abstimmung 1938 eine vergleichsweise tiefe Stimmbeteiligung aufwies (54 %), war die Abstimmung über den Sprachenartikel 1996 durch ein aussergewöhnlich tiefes Wählerinteresse (31 %) gekennzeichnet. Der Abstimmung zu diesem Artikel ging eine jahrelange Debatte zwischen AnhängerInnen eines strikten Territorialitätsprinzips und denen der Sprachenfreiheit voraus, wobei sich kein Lager ganz durchsetzen konnte. So regelt die Bundesverfassung heute einerseits die Frage der Amtssprachen neu, andererseits wird hinsichtlich der Kantone relativ schwammig festgelegt, dass diese «auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete» zu achten haben (Artikel 70, Absatz 2). Gleichzeitig wird im Artikel auch der Auftrag formuliert, dass der Bund zusammen mit den Kantonen den «Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften» fördert (Absatz 3) sowie das Italienische und Rätoromanische schützt (Absatz 5). Diese Verfassungsbestimmungen werden im 2007 in Kraft gesetzten Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (SpG 2007) wieder aufgenommen und mit konkreten sprachenpolitischen Zielen und Sprachfördermassnahmen angereichert. Diese sprachenrechtlichen Regelungen sind relevant für weitere sprachenpolitische Entwicklungen der letzten Jahre. Mit der «herkömmliche[n] sprachliche[n] Zusammensetzung der Gebiete» ist das Territorialitätsprinzip gemeint (siehe Abschnitt 1.4). Als grundsätzlich einsprachiges sprachenpolitisches Prinzip weist es Gemeinden eine Sprache (in Ausnahmefällen wie Biel/ Bienne zwei Sprachen) zu. Trotz Landessprachen-Status des Französischen kann deshalb eine Waadtländerin in St. Gallen nicht verlangen, dass ihr die Steuererklärung auf Französisch zugestellt wird oder dass ihr Sohn auf Französisch eingeschult wird - dies im Gegensatz zu eher personenorientierten Dispositionen wie sie für Kanada typisch sind, die solche Rechte vorsehen können. Das Territorialitätsprinzip funktioniert in den meisten, traditionell einer Sprache zugeordneten Gegenden gut, wobei hier durch die klaren sprachdemografischen Verhältnisse ohnehin keine grösseren Probleme zu erwarten sind. In den Kontaktzonen an den Sprachgrenzen kann es nur dann zur Lösung von Sprachkonflikten beitragen, wenn es präzisiert und angepasst wird. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. 3.1.1 Rätoromanisch: Sprachengesetz Graubünden Im dreisprachigen Kanton Graubünden waren die Gemeinden traditionellerweise frei, ihre offiziellen Sprachen (und damit auch ihre Schulsprache) selbst zu bestimmen. Angesichts der anhaltenden Zuwanderung deutschsprachiger bei gleichzeitiger Abwanderung vieler rätoromanischsprachiger EinwohnerInnen beschleunigte dies die demografische Erosion des rätoromanischen Sprachgebiets: Verschiedene Gemeinden, die bis weit ins 20. Jahr- Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 419 <?page no="456"?> hundert noch zum rätoromanischen Sprachgebiet zählten, wechselten zur Schulsprache Deutsch. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, wurde in den Jahren 2006 und 2007 ein Sprachengesetz entworfen und breit diskutiert. Die Vorlage schränkte neu die Gemeindeautonomie ein und legte bestimmte Schwellen fest für den Status von einsprachigen (mindestens 40 % im weitesten Sinne Rätoromanischsprachige) und zweisprachigen (mindestens 20 %) Gemeinden. Gegen diesen Gesetzestext wurde das Referendum ergriffen, wobei die GegnerInnen sowohl Gemeindeautonomie als auch Sprachenfreiheit bedroht sahen und geltend machten, dass die volkszählungsbasierten demografischen Schwellenwerte die rätoromanische Minderheit künstlich vergrössern und bevorteilen. Das Gesetz wurde 2007 mit tiefer Stimmbeteiligung (33 %) knapp angenommen, wobei sich ein ‘ Capuns ’ - (zwischen Romanisch und Deutsch) bzw. ‘ Pizzoccheri-Graben ’ (zwischen Italienisch und Deutsch) öffnete, denn die deutschsprachigen Gemeinden stimmten dem Vorhaben viel weniger deutlich zu als die italophonen und rätoromanischsprachigen Gebiete. Inwiefern diese sprachdemografischen Schwellen seither tatsächlich sprachenpolitisch wirksam angewendet werden, ist nicht bekannt. Erschwerend kommt in neuester Zeit hinzu, dass es in der Schweiz seit 2010 keine Volkszählungen mehr gibt, sondern nur noch auf Stichproben basierende Strukturerhebungen (siehe hierzu ► Sprachenstatistik), deren Auflösungsgrad nicht ausreicht, um die im Gesetzestext vorgesehene Granularität in Sprachenfragen auf Ebene der einzelnen Gemeinden zu erreichen. Der Kanton kann zusammen mit der betroffenen Gemeinde genaue Zählungen finanzieren, was allerdings nur selten gemacht wird. Eine Ausnahme ist die Gemeinde Bergün, wo im Kontext der Fusion mit der deutschsprachigen Gemeinde Filisur 2016 eine kommunale Vollerhebung durchgeführt wurde (Coray und Duchêne 2020: 78, die Erhebung ergab einen Anteil von knapp 22 % romanischsprachiger Personen). Zu einem Aufschrei im Oberhalbstein (Surses) kam es Anfang des Jahres 2023, nachdem die Gemeinde vom Bundesamt für Statistik auf Grund der Strukturerhebungsdaten neu zur deutschsprachigen Schweiz gezählt wurde. Mit Verweis auf die im Bündner Sprachengesetz vorgesehenen Mechanismen argumentierten sowohl die Gemeinde als auch die Lia Rumantscha, dass die Gemeinde Surses weiterhin einsprachig romanisch sei (Südostschweiz, 3.1.2023). 3.1.2 Freiburg: Schulstreit, Agglo Wenn der Schutz von traditionell ansässigen sprachlichen Minderheiten ein sprachenpolitisches Ziel ist, so ist die sprachlich homogenisierende Funktion des Territorialitätsprinzips in Kontaktzonen problematisch. Wie oben schon angesprochen, ist die Stadt und Agglomeration Freiburg/ Fribourg historisch durch Französisch und Alemannisch geprägt. In den verschiedenen Gemeinden an der Sprachgrenze gab und gibt es traditionellerweise Minoritäten der jeweils anderen Sprache. Während die Sprachverwendung in Familie und Beruf nie staatlich reguliert wurde, so stellt sich besonders in diesen Grenzregionen die Frage nach den sprachlichen Rechten der Minderheiten im Bereich Kommunikation mit den öffentlichen Institutionen sowie im Bereich der Schulen. Im Raum Freiburg stellen sich diese Fragen unter spezifischen Vorzeichen: Die lokale und kantonale Mehrheit ist eine nationale Minderheit, während die lokale Minderheit national die Mehrheit stellt. Da beide Sprachgruppen ‘ irgendwie ’ eine Minderheit sind, zeigen beide in der Aushandlung der Sprachenrechte typische Minderheitenreflexe. 420 Raphael Berthele <?page no="457"?> In verschiedenen Rechtsfällen ging es um das Recht der deutschsprachigen Minderheit in den frankophonen Agglomerationsgemeinden auf deutschsprachige Beschulung der Kinder. Wenn in der jeweiligen Wohngemeinde kein deutschsprachiges Schulangebot bestand, so übernahmen einige Gemeinden traditionellerweise die Kosten, die durch die Einschulung in einer deutschsprachigen Schule in einer Nachbargemeinde (z. B. in der Stadt Freiburg) entstanden. Mit Verweis auf das Territorialitätsprinzip und den Schutz der frankophonen Minderheit vor Germanisierung wurden diese oft informellen Absprachen verschiedentlich in Frage gestellt, etwa 1989 in der Gemeinde Marly. Dieser als Affaire de Marly bekannt gewordene Fall wurde ausgelöst, als die informelle Praxis der Einschulung von Kindern aus Marly auf Deutsch im benachbarten Freiburg in einem offiziellen Schulreglement festgeschrieben werden sollte. Bisweilen versuchte man sogar dann die Einschulung auf Deutsch zu verhindern, wenn die Eltern bereit waren, die Kosten selber zu tragen. Betroffene Eltern machten verschiedentlich ihre Minderheitenrechte vor Gericht geltend, manchmal bis vor Bundesgericht, und dieses entschied in der Regel im Sinne einer gewissen Aufweichung einer allzu strikt verstandenen Territorialität an der Sprachgrenze. Auch anlässlich der Beratungen für eine neue Kantonsverfassung kurz nach der Jahrtausendwende wurde die Sprachenfrage kontrovers diskutiert. Während die offizielle Zweisprachigkeit des Kantons unbestritten war, gab es heftige Debatten in der verfassungsgebenden Versammlung um den Stellenwert des Territorialitätsprinzips und um die damit verbundene sprachliche Identität der Kantonshauptstadt: Sollte sie einsprachig bleiben oder doch offiziell zweisprachig werden mit Namen Fribourg/ Freiburg, oder sollte gar ein neuer Name «Fryburg» gewählt werden? Die verabschiedete und vom Volk 2004 angenommene neue Kantonsverfassung benennt im Gegensatz zur Bundesverfassung das Territorialitätsprinzip explizit, dies besonders auf Druck der frankophonen Lobbyorganisation Communauté Romande du Pays de Fribourg, die erfolgreich die Germanisierungsängste schürte und im territorialen Festschreiben der Sprachverhältnisse eine Möglichkeit sah, die Interessen der frankophonen Bevölkerung zu schützen. Die Argumentation, dass es doch durchaus auch im Interesse der Frankophonen wäre, wenn der Kontakt mit der deutschsprachigen Minderheit und ihrer Sprache harmonischer und toleranter gestaltet würde, verfing nicht. Die Hauptstadt Freiburg blieb offiziell einsprachig, wobei die deutschsprachige Minderheit durchaus gewisse Privilegien geniesst (deutschsprachige öffentliche Schulen, aber auch gewisse kommunale Dienstleistungen auf Deutsch). Nach ungefähr fünfzig Jahren Lobbyarbeit der deutschsprachigen Minderheit wurde der Bahnhof 2012 offiziell zweisprachig beschildert, was als ein gewisses Zeichen der Entspannung gewertet werden kann (die dazu nötigen 80 ’ 000 Franken wurden von Stadt und Kanton zu gleichen Teilen übernommen). Ähnliche Diskussionen rund um eine mehr oder weniger strikt aufzufassende Territorialität wurden sodann ab ungefähr 2019 wieder geführt, als das Projekt einer Gemeindefusion in der Agglomeration Freiburg vorangetrieben wurde. Eine Arbeitsgruppe hatte mit neuem bilingual-progressivem Elan vorgeschlagen, dem Deutschen den Status einer offiziellen Sprache der neuen Gemeinde zu verleihen - nota bene einer neuen Gemeinde, in der der Anteil Deutschsprachiger noch kleiner gewesen wäre als die rund 18 % der Gemeinde Freiburg. Die Reaktionen fielen heftig aus, der Vorschlag wurde Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 421 <?page no="458"?> zurückgezogen zugunsten eines pragmatischen (d. h. nicht durchwegs eingehaltenen, sondern im Rahmen des personell und finanziell Möglichen gestalteten), offiziösen Bilingualismus. Das Fusionsprojekt scheiterte 2021 in einer Konsultativabstimmung. In welchem Ausmass die durch die Sprachdebatten neu aufgeflammten Germanisierungsängste dem politischen Gesamtprojekt schadeten, ist schwer zu sagen, geholfen hat die Kontroverse dem Projekt aber sicher nicht. Dass Sprachgrenzen nicht zwingend zu solchen Streitereien führen müssen, zeigt der sowohl historisch wie demografisch anders gelagerte Fall der Stadt Biel/ Bienne. Es gibt zwar auch hier vereinzelt Diskussionen um die Sprache von Autobahnschildern, um Werbung im öffentlichen Raum, oder um Schulsprachen in der Agglomeration. Insgesamt jedoch scheint das Zusammenleben der beiden Sprachgemeinschaften auch durch eine bewusst gestaltete Zweisprachigkeitspolitik der Stadtbehörden, etwa was die konsequente Kommunikation der Ämter mit den EinwohnerInnen in beiden Sprachen angeht, ausgeglichener zu sein als in Freiburg (Schneuwly 2019: 29). 3.2 Sprachenpolitische Institutionen und Sprachbeziehungen Die offiziell viersprachige und durch stetige Immigration von Menschen mit anderen Erstsprachen de facto vielsprachige moderne Schweiz hat traditionellerweise die Lösung der Sprachenprobleme föderalistisch nach unten delegiert. Das Territorialitätsprinzip funktioniert dort gut, wo es eigentlich kein Prinzip braucht, da die sprachdemografischen Verhältnisse ohnehin klar sind. Dort, wo die Verhältnisse weniger klar und kompliziert sind, muss die Zuordnung von legitimen Sprachen zu Territorien präzisiert, ausdifferenziert und ein Stück weit relativiert werden. Im Falle einer in andere Sprachregionen der Schweiz auswandernden Sprachgemeinschaft wie derjenigen der RätoromanInnen stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die Sprache wirklich nur in ihrem herkömmlichen Territorium geschützt werden soll oder ob extraterritoriale Massnahmen für die rätoromanische Diaspora ergriffen werden müssen. Am Beispiel der RätoromanInnen zeigt sich das paradoxe Verhältnis von institutioneller Vielsprachigkeit und individueller Mehrsprachigkeit deutlich: Weil das Rätoromanische trotz Status als Landessprache de facto wenig gebräuchlich ist in vielen institutionellen und sozialen Kontexten, sind die RätoromanInnen gezwungen, polyglott zu sein. Würden sie alle unter sich leben und hätten sie den vollen Service des Staates in ihrer Sprache zur Verfügung, könnten sie einsprachiger bleiben. Die Daten des BFS zeigen denn auch systematisch einen inversen Zusammenhang zwischen der Grösse der Sprachgemeinschaft und individueller Mehrsprachigkeit: Mitglieder der kleineren italophonen und vor allem romanischsprachigen Sprachgemeinschaften sind im Durchschnitt polyglotter als die deutsch- und französischsprachigen SchweizerInnen. Der institutionelle Schutz von Sprachen in der Schweiz betrifft nicht nur die vier Landessprachen, sondern auch gewisse andere Sprachen. Im Rahmen der europäischen Charta der Minderheitensprachen (in der Schweiz seit 1998 in Kraft) werden auch Sprachen wie das Jenische oder seit 2018 (Bundesratsbeschluss) das Frankoprovenzalische und das Franc-Comtois geschützt. Das Frankoprovenzalische wird sogar inzwischen in gewissen Regionen in den Schulen unterrichtet oder zumindest thematisiert, nachdem es über lange Zeit ganz bewusst und gezielt ausgerottet worden war (vgl. ► Frankoprovenzalisch, ► Französisch). Mit diesen Sprachen bzw. Varietäten wird bereits deutlich, dass die 422 Raphael Berthele <?page no="459"?> Sprachbeziehungen in der Schweiz (wie auch anderswo) nicht nur Standardsprachen, sondern auch Varietäten, Dialekte betreffen. Die (in neuerer Zeit) eingewanderten Sprachen werden durch die in der Verfassung garantierte Sprachenfreiheit geschützt. Deshalb hat 2023 die Regierung des Kantons Aargau auch darauf verzichtet, dem Antrag der politischen Rechten stattzugeben und im Schulkontext die Verwendung anderer Sprachen als Deutsch zu verbieten. Gemäss Sprachenkonzept der Erziehungsdirektorenkonferenz von 2004 (EDK 2004: 2) wird optionaler Unterricht in den Sprachen der Migration von den Schulen empfohlen und als «Möglichkeit» (S. 2) aufgelistet, aber die Finanzierung, Organisation und damit auch die Qualitätskontrolle obliegt den jeweiligen Sprachgemeinschaften und nicht dem Schweizer Schulsystem. § 3.1: Die sprachenrechtliche Spannung zwischen Personalitäts- und Territorialitätsprinzipien wird in Späti 2017 vertieft. § 3.1.2: Zu den sprachenpolitischen Diskussionen in Freiburg siehe Brohy 2006, Büchi 2015 und Schneuwly 2019. 4 Wer soll wessen Sprache lernen? «Fur mich, Deutsch ist sehr komplitziert und schlecht» (Sekundarschülerin 9H, Kanton Freiburg) Zu den Topoi in den öffentlichen Debatten über die Sprachkenntnisse der Bevölkerung gehört die Idee des kontinuierlichen Zerfalls sowohl der sogenannten muttersprachlichen Kompetenzen als auch, besonders in der Schweiz, der Kompetenzen in relevanten anderen Sprachen. So wird beispielsweise in einem sprachenpolitisch einflussreichen Bericht von 1989 ohne Angabe von Quellen über «[d]ie bei den Sprachträgern allgemein zurückgehende Kenntnis anderer Landessprachen» (Eidgenössisches Departement des Innern 1989: 123) gesprochen. In den letzten Jahrzehnten wurde dieser Topos der zurückgehenden Kenntnisse in den Landessprachen insbesondere im Zusammenhang mit dem stetig steigenden Stellenwert des Englischen aktiviert. Für viele sprachenpolitisch Engagierte ist diese Tendenz eine Bedrohung für den nationalen Zusammenhalt. 4.1 Gemeinsame Sprachen als Voraussetzung nationaler Kohäsion? Während das Gewicht des Englischen in Alltag, Bildung und Beruf tatsächlich statistisch bestens belegt ist (vgl. ► Englisch), ist unklar, wann denn genau der andere, von vielen als besser betrachtete Zustand herrschte, in dem (viele? gar alle? ) EidgenossInnen eine oder gar mehrere andere Landessprachen beherrschten. Dass die AristokratInnen des Ancien Régime gewisse Französischkenntnisse hatten, scheint unbestritten, gingen sie doch beispielsweise im 18. Jahrhundert gerne ins kulturell progressive Waadtland ins Theater. Ob sie allerdings tatsächlich auf Niveau C1 des europäischen Referenzrahmens über politische Geschäfte diskutieren konnten, ist nicht bekannt. Deutsch in der Westschweiz, zumindest im Kanton Genf, wurde etwa seit 1870 unterrichtet, und zwar explizit mit dem Argument, dass die jungen GenferInnen befähigt werden sollten, die Interessen des peripheren Kantons in der Schweiz vertreten zu können. Untersuchungen zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in der deutschsprachigen Schweiz zeigen, dass Französisch nicht flächendeckend, sondern nur punktuell unterrichtet wurde. So wurde beispielsweise etwa in Basel ab 1817 (Knaben) und 1842 Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 423 <?page no="460"?> (Mädchen) Französisch unterrichtet, und zwar nicht aus nationalen Gründen der Kohäsion, sondern um die Schulen auf wirtschaftliche Interessen auszurichten (Giudici 2019: 94). Das Fach wurde allerdings dann 1929 wieder freiwillig erklärt. Zumindest gewisse Personengruppen lernten die Landessprachen im Kontext von spezifischen gesellschaftlichen Institutionen: Junge Deutschschweizer Frauen lernten Französisch im Welschlandjahr, junge Männer lernten die jeweils anderen Sprachen während der Dienstzeit in der Armee, besonders in Offizierskarrieren, und der Umstand, dass es in der italienischen Schweiz lange keine Hochschulen gab, führte dazu, dass junge ItalienischbündnerInnen und TessinerInnen in anderen Landesteilen und -sprachen studierten. Eine Gute Alte Zeit, in der alle EidgenossInnen polyglott waren, ist jedoch nirgends dokumentiert. 4.2 Schule als Varietätenkiller Die staatliche, obligatorische Schule hatte traditionellerweise eine wichtige sprachsozialisierende Rolle: In der Westschweiz war es bis ins 20. Jahrhundert eine wichtige und explizit formulierte Aufgabe der Schule, den SchülerInnen das Standardfranzösische beizubringen und die Patois auszumerzen. In der italienisch- und in der deutschsprachigen Schweiz hatte die Schule zwar ebenfalls die Aufgabe, standardsprachliche Kompetenzen zu vermitteln, daneben wurden jedoch auch die lokalen Dialekte gepflegt (oder zumindest nicht gezielt ausgemerzt, da sie als Teil der lokalen Identität wahrgenommen wurden; siehe Bianconi 1980: 253; Ruoss und Schröter 2020: 75). Das Rätoromanische ist in diesem Zusammenhang ein besonders interessanter Fall ( ► Rätoromanisch): Die romanische Schule stützte traditionellerweise die lokalen romanischen Schriftsprachen (Idiome). Als dann 2004 im Rahmen eines Sparbeschlusses nur noch Schulmaterial in der Einheitssprache Rumantsch Grischun produziert werden sollte, kam es in den Gebieten mit hoher Vitalität der Idiome zu einem eigentlichen Aufstand, der letztlich dazu führte, dass der Beschluss rückgängig gemacht wurde. Die AutorInnen, die die Lehrmittel in Rumantsch Grischun produziert hatten, bekamen nun auch den Auftrag, die neuen Lehrmittel in den Idiomen zu erstellen. 4.3 Dialekte als Schul(fremd)sprachen In der deutschsprachigen Schweiz war es, trotz aller pädagogischen Zielkonflikte, die sich schon im 19. Jahrhundert zeigten (Ruoss und Schröter 2020: 76), über lange Zeit erklärtes Ziel der Schule, sowohl Dialekt als auch die Standardsprache («Schriftdeutsch») zu pflegen, jeweils im Hinblick auf die mediale und kontextspezifische Arbeitsteilung der beiden Sprachen ( ► Deutsch). Erst ab den späten 1980er-Jahren wurde gefordert, dass die Schule in der Deutschschweiz nicht nur hochsprachliche Literalität, sondern auch den informellen, «natürlichen» Umgang mit der Hochsprache pflegen soll. Diese Empfehlung wurde noch befeuert durch soziolinguische Studienresultate, die zeigten, dass die negativen Einstellungen gegenüber der Standardsprache im Verlauf der Schulzeit entstanden (Burger und Häcki Buhofer 1994). Ein für zweisprachige Kontexte charakteristisches Phänomen wurde dafür verantwortlich gemacht: Mundart und Standardsprache wurden (und werden) nicht für dieselben kommunikativen Zwecke und nicht in denselben Kontexten und Kanälen verwendet. Wie in jeder zweisprachigen Situation ergeben sich dadurch unterschiedliche Wertigkeiten und Einstellungen gegenüber den beiden Spra- 424 Raphael Berthele <?page no="461"?> chen/ Varietäten. Wenn beide funktional und aus Sicht der Wahrnehmungen vollkommen gleich wären, so bräuchte es letztlich nur eine der beiden Sprachen. In der Schule wurde beispielsweise Mundart im Unterricht der weniger selektiven sogenannten Herz- und Handfächer (etwa Sport, Kunst, oder Musik) verwendet, während in den sogenannt «harten» Fächern die Standardsprache gewählt wurde. Die neue Deutschpädagogik wollte nun aber die Standardsprache auch zur Herz- und Handsprache machen, und dagegen ankämpfen, dass die Deutschschweizer Kinder die Standardsprache als Fremdsprache wahrnehmen. Dabei ging man offensichtlich davon aus, dass die Kategorie Fremdsprache mit negativen Haltungen verbunden ist, und negative Einstellungen gegenüber der Standardsprache sollten unbedingt vermieden werden. Ab dem Jahr 2000 wurde dann auch mit den mediokren (aber immer mit Deutschland vergleichbaren) PISA-Leseverstehen-Resultaten argumentiert. Ausserdem wurde betont, dass die nicht-deutschsprachigen MiteidgenossInnen, ob immigriert oder in anderen Sprachterritorien sozialisiert, mühselig die Standardsprache lernen müssten, und es folglich wichtig sei, dass auch die DeutschschweizerInnen diese Sprache in der Mündlichkeit benutzen, insbesondere mit Nicht-Deutschsprachigen. Ein Genfer Nationalrat, Antonio Hodgers, der nach seiner Wahl nach Bern gezogen war und mit Schrecken feststellte, dass sein Schulhochdeutsch ihm unter den Berner Lauben nur begrenzt nützlich war, wollte in einer parlamentarischen Initiative 2010 zwar einerseits die alemannischen Mundarten unter den Schutz der europäischen Charta für Regional- und Minderheitensprachen stellen, andererseits aber auch ihren Gebrauch im pädagogischen Bereich sowie im Mediensektor einschränken. Während diese Initiative erfolglos blieb, hat das eidgenössische Parlament doch in anderen Zusammenhängen den Dialektgebrauch limitierende Bestimmungen verabschiedet. So wird etwa im Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (SpG) von 2007 explizit ein Akzent auf Unterricht in der Standardsprache gelegt (Artikel 15, Absatz 1). Die durch solch unterschiedliche Argumentationslinien gestützte Hochdeutschinitiative zwischen 1980 und 2010 erreichte ihr Sprachmanagement-Ziel und führte zu einem weitgehenden Umschalten zuerst auf Primar- und dann zum Teil auch auf Kindergartenstufe. Doch regte sich sodann in vielen Kantonen Widerstand, und es kam verschiedentlich zu Volksabstimmungen über die Verwendung der Mundart im Kindergarten und in den ersten Primarschuljahren. Es wurde mit Identitäts-, aber durchaus auch mit Integrationsperspektiven argumentiert. In der Regel fielen diese Abstimmungen zugunsten des Dialektes als (teilweise) zu verwendender Sprache aus. Dialekt als Lernziel in anderssprachigen Gebieten ist ein Thema, das in regelmässigen Abständen immer wieder in der sprachenpolitischen Debatte aufkommt. Während im Kanton Genf seit einigen Jahren eine Sensibilisierung für das Schweizerdeutsche zum Lehrplan auf Sekundarstufe I gehört, wird ansonsten in der italienischen und französischen Schweiz die Standardsprache als Fremdsprache unterrichtet. Dies wurde im Kanton Waadt im Jahr 2023 in Frage gestellt. In einer vom Grossen Rat im November 2023 angenommenen Motion wurde beantragt, auch Schweizerdeutsch zu unterrichten, denn schliesslich sei dies die Sprache, derer sich die Mehrheit im Land im Alltag tatsächlich bediene. Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 425 <?page no="462"?> Séance du Grand Conseil du mardi 7 mars 2023, point 9 de l ’ ordre du jour Texte déposé «Dr Goethe zitiere isch wichtig, aber s ’ isch genau so wichtig mit öisne Nochbere uf dr andere Siite vom Röschtigrabe rede zchönne» [ … ] Dans l ’ ensemble, il est impératif aujourd ’ hui qu ’ une réelle stratégie liée à l ’ apprentissage du suisse allemand soit adoptée. Une stratégie qui devrait examiner la meilleure façon et le meilleur moment de proposer des cours de suisse allemand à l ’ école, obligatoires ou facultatifs. Afin, au final, que les étudiant-e-s vaudois-e-s puissent disposer des notions requises pour maîtriser non seulement la langue de Goethe, mais aussi et surtout celle de Dürrenmatt. A la lumière de ce qui précède, les signataires demandent au Conseil d ’ Etat d ’ élaborer une stratégie liée à l ’ apprentissage du suisse allemand dans les écoles et centres de formation vaudois. Solche Initiativen sorgen in der Regel für kurze mediale Heiterkeit und/ oder Aufregung, bislang war aber keiner ein langfristiger Erfolg beschert (vgl. ► Deutsch). Insgesamt kann man feststellen, dass nach Jahren der lautstarken Kritik am Deutschschweizer Dialektgebrauch heute die Situation etwas entspannter scheint. Immer wieder wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass das bisweilen ambivalente Verhältnis der nationalen Sprachmehrheit zu ihrer Hochsprache ja durchaus auch etwas potenziell Verbindendes mit den anderssprachigen Landesteilen sein könnte: Die oft kritisierte langsame und bisweilen holprige Art der AlemannInnen, die Standardsprache zu sprechen, ist oft für die nichtdeutschsprachigen GesprächspartnerInnen leichter zu verstehen als das, was die geschliffen formulierenden SchnellsprecherInnen aus dem Norden produzieren (Brunschwig-Graf 2005: 46). Dass es kommunikativ problematisch und oft auch unanständig ist, in der mündlichen Kommunikation mit unbekannten Nicht-AlemannInnen auf dem Schweizerdeutschen zu beharren, scheint sich inzwischen auch herumgesprochen zu haben, zumindest zeigen die wenigen empirischen Studien zum Thema, dass in der Deutschschweiz bereitwillig auf Hochdeutsch umgeschaltet wird (Christen et al. 2010). 4.4 Frühe Fremdsprachen: Wir lernen eure Sprache, dann lernt ihr gefälligst auch unsere! Ausser für die RätoromanInnen, die seit Längerem keine Wahl hatten und deren Schule schon früh und notgedrungen mindestens zweisprachig war, waren schulisch vermittelte Kenntnisse der nicht-lokalen Landessprachen eine Angelegenheit der Sekundarstufe, und hier vor allem des prägymnasialen Zuges. Dies änderte sich Ende des 20. Jahrhunderts mit der von europäischen Institutionen (vor allem dem Europarat, aber auch von der Europäischen Union) propagierten Idee, sogenannte frühe Fremdsprachen für alle Kinder der öffentlichen Primarschulen einzuführen. Die Ambition war und ist es (etwa im Aktionsplan des Treffens des europäischen Rats in Barcelona 2002), dass alle jungen EuropäerInnen in der Schule neben der lokalen Sprache zwei Fremdsprachen lernen sollen. In den meisten europäischen Ländern ist der Begriff Fremdsprache primär synonym mit Englisch, und diese Sprache ist denn auch mittlerweile praktisch überall obligatorische erste Fremdsprache. Wenn aber in einem viersprachigen Land wie der Schweiz Fremdsprachen obligatorisch werden sollen, so stellt sich sofort die Frage, welchen Sprachen man den Vorzug geben soll. Als im August 1998 426 Raphael Berthele <?page no="463"?> der Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor ein Schulprojekt startete, in dem gleich von der ersten Primarklasse an Englisch als Fremdsprache unterrichtet werden sollte, gingen die Wogen sofort hoch (vgl. ► Englisch). Insbesondere VertreterInnen der frankophonen Minderheit sahen die nationale Kohäsion gefährdet. Englisch gehört nicht zur schweizerischen Identität. [ … ] Würden wir noch wissen, warum wir überhaupt zusammenleben, wenn wir miteinander englisch reden? Wo bleibt da der Respekt vor den sprachlichen Minderheiten und der kulturellen Eigenart? Die Sprache ist die Seele eines Volkes. (Ribeaud 1998: 56) Ähnliche Diskussionen wurden in den folgenden Jahren geführt, als es darum ging, im Rahmen der Harmonisierung des schweizerischen Bildungssystems (via das sogenannte HarmoS-Konkordat) auch das Sprachencurriculum ein Stück weit zu vereinheitlichen. In der von der Eidgenössischen Konferenz der kantonalen ErziehungsdirektorInnen (EDK) 2004 verabschiedeten Sprachenstrategie wird festgehalten, dass in der Primarschule zwei Fremdsprachen unterrichtet werden sollen, wovon eine Englisch und die andere eine Landessprache ist. Während die französischsprachige Schweiz homogen mit Deutsch als erster (ab der 5H Klasse, also im Alter von ungefähr 8 Jahren) und Englisch als zweiter (ab 7H) Fremdsprache funktioniert, ist die Deutschschweiz zweigeteilt, mit einer Zone im Westen mit Französisch ab 5H und Englisch ab 7H und dem Rest der am Konkordat teilnehmenden Deutschschweizer Kantone mit der umgekehrten Sprachenfolge. Dieser Kompromiss musste hart erkämpft werden, denn es galt, die kantonalen Sonderzüge ein Stück weit aufzugeben. Die unterschiedlichen Curricula in der kleinräumigen Schweiz waren immer schon ein Problem gewesen, etwa wenn Familien mit schulpflichtigen Kindern den Kanton wechselten. Dass im Nachgang zur Annahme der Neuordnung der Verfassungsbestimmungen zur Bildung (Stimmbeteiligung knapp 28 %) 2 nicht nur die Übergänge zwischen Primar- und Sekundarstufe harmonisiert wurden, sondern auch noch die zu unterrichtenden Sprachfächer, war ein Bruch mit der bildungsföderalistischen Tradition. Im die Reform begleitenden sprachenpolitischen Diskurs wurde die Priorisierung der Sprachen gleichgesetzt mit dem Grad freundeidgenössischer Solidarität: Wer dem Englischen den Vorzug gibt, respektiert die nationalen Minoritäten nicht. Die Reform löste intensive Debatten aus, in denen zugleich kontroverse Ideen zur Rolle von Sprache für die nationale Kohäsion, zur grundsätzlichen Funktion und Rolle der Schule, zum Zusammenhang von Sprache und Denken sowie zur Sprachenpädagogik diskutiert wurden. Bezüglich der Kohäsion wurde wie bereits angesprochen argumentiert, dass das Land nur funktionieren kann, wenn alle minimale Sprachkenntnisse in anderen Landessprachen erwerben (siehe auch Zitat von Ribeaud oben). Diese Forderung und das Territorialitätsprinzip widersprechen sich potenziell: Wenn der schweizerische Bundesstaat konsequent als ein Gebilde aus lokal einsprachigen Gebieten aufgefasst werden soll, so könnte man argumentieren, dass es im Prinzip reicht, wenn die BürgerInnen in ihren jeweiligen Territorialsprachen mit dem Staat interagieren. Sie könnten somit in einem territorial determinierten einsprachigen Zustand verharren, während nur gewisse eingeschränkte Kreise polyglott sein müssten und die sprachlichen Mediationsfunktionen übernehmen. Dass dies politisch nicht gewollt ist, wird in regelmässigen Abständen 2 Siehe https: / / www.bk.admin.ch/ ch/ d/ pore/ va/ 20060521/ index.html (Stand: 05.06.2024) für Details. Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 427 <?page no="464"?> immer wieder deutlich, wie die oben angesprochene parlamentarische Initiative des Genfer Politikers Antonio Hodgers illustriert: Pour Antonio Hodgers, qui s ’ est inquiété que le suisse allemand soit devenu une langue de pouvoir dans l ’ économie, la politique, les sciences et les médias, il en va de la cohésion nationale et la compréhension mutuelle. (Tribune de Genève, 28.02.2012) Die Betonung des Stellenwerts von allgemein verbreiteten Sprachkenntnissen in mehreren Landessprachen ist nicht einfach nur bei PolitikerInnen verbreitet. Die Erhebung zu Sprache, Religion und Kultur des BFS 2019 zeigt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Aussage zustimmt, dass «Kenntnisse mehrerer Landessprachen [ … ] wichtig für den Zusammenhalt in der Schweiz» sind (BFS 2021: 31, G22), und ebenfalls eine Mehrheit ist einverstanden, dass die erste Fremdsprache eine Landessprache sein sollte. Die Zustimmung zu diesen beiden Fragen ist umso grösser, je kleiner das jeweilige Sprachgebiet ist (Italienisch > Französisch > Deutsch). Es ist möglich, dass diese Haltung sich insbesondere in der jüngeren Bevölkerung ändert, zumindest deuten dies kleinere Untersuchungen in der Westschweiz an. So zeigt beispielsweise eine Befragung von GymnasiastInnen im Kanton Waadt, dass die Hälfte der Befragten dem Englischen die Priorität geben möchte, gegenüber lediglich einem knappen Drittel, die weiterhin das Deutsche priorisieren würden (Houmard 2023: 37). Es gibt keine klare Evidenz für die Annahme, dass nationale Kohäsion zwingend allgemein verbreitete gute Sprachkenntnisse der jeweils anderen Sprachen voraussetzt. Die überwältigende Zustimmung zur Idee des Rätoromanischen als Landessprache hat nicht zu massivem Lernen der Sprache geführt, entscheidend für die imaginierte Gemeinschaft war die sprachenpolitische Geste. Abb. 2: Anteile der Einwanderung (am Total der Eingewanderten) aus dem Ausland und aus frankophonen oder deutschsprachigen Kantonen in die rein deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Kantone im Jahr 2021; Daten des Bundesamts für Statistik zur Immigration und zur Binnenmigration (http: / / www.pxweb.bfs.admin.ch/ api/ v1/ fr/ px-x-0103010200_121/ px-x-0103010200 _121.px und https: / / dam-api.bfs.admin.ch/ hub/ api/ dam/ assets/ 26645146/ master, Stand: 05.06.2024) 428 Raphael Berthele <?page no="465"?> Die Migration über Binnensprachgrenzen hinweg ist in der Schweiz ohnehin recht bescheiden, so wanderten zum Beispiel im Jahr 2021 34 ’ 122 Personen aus dem Ausland in den Kanton Zürich ein, aber nur 1540 aus rein frankophonen Kantonen, 2100 aus den rein frankophonen und mehrheitlich frankophonen Kantonen (siehe Abb. 2) und 753 aus dem Tessin. Der höchste Anteil von Einwandernden aus rein frankophonen Kantonen in einen deutschsprachigen Kanton im Jahr 2021 liegt bei gut 3 % gemessen an der Gesamtzahl der Einwandernden im gleichen Jahr (Kanton Zug). Demgegenüber kamen knapp 12 % aller in den Kanton Jura einwandernden Personen aus einem rein deutschsprachigen Kanton. Den generell grössten Anteil von Einwandernden aus einem anderen nationalen Sprachgebiet verzeichnet der Kanton Tessin mit knapp 20 % aus dem deutschsprachigen Gebiet. Es ist aus rein kommunikativer Sicht auch kein Problem, wenn der Austausch über die Sprachgrenzen hinweg in einer Nicht-Landessprache stattfindet. Das am meisten gehörte Argument gegen eine solche Lösung mit einer nicht-bodenständigen lingua franca (de facto Englisch) ist die Idee, dass Sprache das Denken formt und somit schweizerische Kommunikation in Schweizer Sprachen stattzufinden hat, da sie sonst zu unschweizerischem Denken führt, wie das im Zitat von Ribeaud oben durchscheint. Solche Verweise operieren mit Ideen über den mehr oder weniger deterministischen Einfluss von Sprache (und ihrer Kultur) auf das Denken. Die interessante Frage von allfälligen Effekten sprachlicher Unterschiede auf Kognition kann hier nicht im Detail diskutiert werden. Aus psycholinguistischer Sicht ist es eher unwahrscheinlich, dass die bildungspolitisch am Ende der obligatorischen Schulzeit angezielten Niveaus rund um A2 in zwei Fremdsprachen zu einer fundamentalen Restrukturierung des Denkens führen. 4.5 Schule und Haltungen Neben dem Vermitteln von Sprachkompetenzen in Landessprachen und anderen Sprachen wird von der Schule auch erwartet, dass sie auf Haltungen und Einstellungen gegenüber anderen (nationalen) Sprachen und Kulturen einwirkt. Mit der oben angesprochenen Reform des Curriculums, die stark von Ideen des Europarats zur mehrsprachigen Bildung und Erziehung geprägt war, wollte man auch interkulturelle Ziele erreichen. So wurde beispielsweise argumentiert, dass der früher einsetzende, pädagogisch besser gestaltete Unterricht in Landessprachen (als Fremdsprachen) spielerischer vor sich gehe und dadurch auch zu einer positiveren Haltung gegenüber den anderssprachigen Schweizer- Innen führen würde. In der Vergangenheit, so die gängige Meinung, wurde durch zu stark norm- und grammatikorientierten Unterricht die Lust an der Auseinandersetzung mit den anderen Sprachgemeinschaften nicht optimal gefördert. Inwiefern dieses Ziel mit den aktuell implementierten Lehrplänen erreicht werden kann, ist Gegenstand von diversen Evaluationsstudien. In einer Untersuchung im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg und im Kanton Zürich (Berthele und Udry 2021) wurden unter anderem die Einstellungen zu den beiden Schulfremdsprachen Englisch und Französisch erforscht. Die Stichprobe war zusammengesetzt aus 6H und 7H Kindern (8 - 9 Jahre alt) der öffentlichen Schulen. Es wäre naheliegend, zu erwarten, dass die Nähe zur Sprachgrenze die Motivation, Französisch zu lernen, sowie die Ängstlichkeit, die Sprache zu sprechen, positiv beeinflussen würde. Die Daten zeigen jedoch, dass die Motivation für die Fremdsprache Englisch durchgehend höher war (siehe Abb. 3), und Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 429 <?page no="466"?> zwar mit nur minimalen Unterschieden zwischen den beiden Kantonen (mit unterschiedlicher Fremdsprachenreihenfolge). Abb. 3: Motivationsdimensionen (Mittelwerte und Standardfehler) für Französisch und Englisch als Fremdsprachen in zwei Stichproben aus den Kantonen Freiburg (deutschsprachiger Teil) und Zürich. Intrinsische Motivation: Freude, die Sprache in der Schule zu lernen/ verwenden; ideales Selbst: Gefühl, in Zukunft idealerweise die Sprache zu können; Freizeit: Intention, die Sprache in Freizeitaktivitäten zu verwenden; Lingua Franca: Wichtigkeit der Sprache als (inter-)nationales Kommunikationsmittel; Schule: Motivation, die Sprache für die Schule gut zu lernen, siehe Steiner 2021 Aus kleineren Studien aus den anderen Landesteilen kann geschlossen werden, dass es dort ganz analog eine Präferenz für das Englische gibt unter der jüngeren Bevölkerung. Vor dem Hintergrund der begrenzten Möglichkeiten des aktuellen Fremdsprachencurriculums investiert die Eidgenossenschaft seit Jahren viel Geld und Ressourcen in Austauschaktivitäten. Die nationale Austauschagentur «Movetia» muss umsetzen, was in der schweizerischen Strategie für Austausch und Mobilität von 2017 als langfristiges Ziel formuliert ist: Alle SchülerInnen in der Schweiz sollen mindestens ein Mal in ihrer Schulkarriere an einer längeren Sprachaustauschaktivität (in der Regel innerhalb der Schweiz) teilnehmen. Die höchste Zahl, die vor der Corona-Pandemie erreicht worden war, lag bei insgesamt 26 ’ 921 SchülerInnen, was ungefähr 3 % der Gesamtpopulation entspricht. Das Ziel dieser Austauschaktivitäten ist nicht ausschliesslich oder nicht vordringlich die Verbesserung von Sprachkompetenzen, sondern vielmehr ein erster, hoffentlich türöffnender Kontakt mit der jeweils anderen nationalen Sprachkultur. Die Effekte auf Sprachkompetenzen und auf Haltungen sind im Moment Gegenstand verschiedener Untersuchungen. Angesichts der methodischen Probleme (v. a. der Selektion 430 Raphael Berthele <?page no="467"?> derer, die tatsächlich am Austausch teilnehmen) ist es jedoch noch zu früh, um verallgemeinerbare Aussagen zu Effekten oder Nebenwirkungen dieser Austauschaktivitäten zu machen. § 4.2: Kristol 2023, ab Kap. 6 bereitet vielfältige sprachgeschichtliche Hintergrundinformationen für die verschiedenen Westschweizer Kantone auf. § 4.3: Zur Wende hin zum Standarddeutschen als dominante Sprache in der Schule siehe beispielsweise Sieber und Sitta 1986. § 4.4: Eine ausführliche Arbeit zur zweisprachigen rätoromanischen Schule ist Cathomas 2005. Informationen zum HarmoS-Konkordat und den kantonalen Besonderheiten siehe https: / / www.edk.ch/ de/ themen/ harmos (Stand: 05.06.2024). Die Mehrsprachigkeitskonzeption des Europarates wird in Beacco und Byram 2007 ausführlich dargelegt und diskutiert. Erkenntnisse aus Evaluationen der Kompetenzen in den Schulfremdsprachen in unterschiedlichen Regionen der Deutschschweiz finden sich in Konsortium, ÜGK 2019 und in Wiedenkeller und Lenz 2019. § 4.5: Die Überprüfung des Erreichens der schulischen Bildungsziele findet seit Kurzem koordiniert und in regelmässigen Abständen statt, Informationen hierzu finden sich auf den Webseiten der Erziehungsdirektorenkonferenz EDK (https: / / www.edk.ch/ de/ themen/ harmos/ nationale-bildungsziele, Stand: 05.06.2024). Houmard 2023 zeigt die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber dem Deutschen und dem Englischen als Fremdsprachen für eine Stichprobe von Westschweizer SchülerInnen auf. Zum Englischen siehe auch ► Englisch. Die Effekte von Austauschaktivitäten sind Gegenstand der Studie von Heinzmann et al. 2014. 5 Sprachbeziehungen und nationale, überregionale Institutionen «Wenn wir nie Sprench zum Beisipel Deutsch hätte, könnte wir nicht ein gut progression in Land» (Sekundarschülerin 9H, Kanton Freiburg) Die Schule wird als wichtige Institution wahrgenommen, um die Beziehungen über Sprachgrenzen hinweg via mehrsprachige Pädagogik zu erleichtern. Sie ist aber nicht alleine. In einem viersprachigen Staat gibt es diverse weitere, staatliche und private, Organisationen, in denen die Mitglieder der verschiedenen Sprachgemeinschaften in Kontakt treten und gemeinsame Ziele verfolgen. Im Gegensatz zur obligatorischen Schule betreffen diese anderen institutionellen Kontexte das Kommunizieren (und Lernen) über die gesamte Lebensspanne hinweg. Ausgehend von den Tendenzen in der Berufswelt in Abb. 1 könnte man sicherlich den enormen Erfolg des Englischen in vielen Wirtschaftssektoren, aber auch im Wissenschaftsbetrieb ansprechen. Bildungssoziologisch ist dabei wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Englische vor allem für Personen mit Tertiärabschluss wichtig ist (über 60 % verwenden regelmässig Englisch, gegenüber knapp 32 % bei Personen mit Abschluss der obligatorischen Stufe, BFS 2021: 22, G15). Ganz generell gilt, dass das Sprachenlernen im Erwachsenenalter vor allem ein Merkmal der besser Gebildeten ist (BFS 2021: 27, G18). Zwei Beispiele für transversale Institutionen und ihre Rolle für die Sprachbeziehungen sollen hier abschliessend noch etwas ausführlicher diskutiert werden. 5.1 Bundesverwaltung In den letzten Jahren wurden vermehrt Forderungen laut, dass die Bundesverwaltung der Schweiz die sprachliche Vielfalt (im Bereich der Landessprachen) repräsentieren sollte. Verschiedene Beobachtungen und Untersuchungen hatten ergeben, dass insbesondere auf Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 431 <?page no="468"?> den höheren Kaderstufen die sprachlichen Minderheiten untervertreten sind. Als Massnahme hat der Bundesrat (Exekutive) Sollwerte im Sinne einer repräsentativen Verwaltung definiert für die Vertretung der Landessprachen in der Bundesverwaltung. In der neuesten Version von 2014 (in der Sprachenverordnung SpV festgehalten) sind dies die folgenden Zielbänder: Deutsch: 68.5 - 70.5 %, Französisch: 21.5 - 23.5 %, Italienisch: 6.5 - 8.5 %, Rätoromanisch: 0.5 - 1.0 %. Ausserdem hält die SpV auch fest, welche Sprachkompetenzen in Landessprachen auf welchen Niveaus für welche hierarchische Stufe in der Verwaltung Voraussetzung sind. Für die Topkader in den höchsten Lohnklassen (Zwicky und Kübler 2018: 10) zeigt sich, dass die Frankophonen und auch die Rätoromanischsprachigen im Bereich des relevanten Zielbandes vertreten sind, die deutschsprachigen Kader jedoch über- und die italienischsprachigen Kader untervertreten sind. Selbst wenn die Dienststellen sprachlich gemischt sind, so ist die dominante Sprache in Mündlichkeit und vor allem Schriftlichkeit sehr oft das Deutsche. Ab ungefähr dem Jahr 2000 hat das Französische als Originalsprache der Gesetzeserlasse wieder an Boden gewonnen, seither werden ungefähr ein Fünftel der Erlasse auf Französisch erarbeitet. Italienisch als Originalsprache ist äusserst selten. Seit dem Jahr 2010 existiert eine Stelle in der Bundesverwaltung, die die verwaltungsinterne Mehrsprachigkeit fördern soll. Die Delegierte für Mehrsprachigkeit verfasst regelmässige Berichte zur sprachlichen Zusammensetzung auf allen Stufen der Verwaltung, dokumentiert die Sprachkompetenzen der MitarbeiterInnen und damit die Einhaltung der Vorgaben der SpV, und setzt sich für die Verbesserung der Sprachkompetenzen des Personals in den Landessprachen ein. Im Bericht von 2019 (Delegierte für Mehrsprachigkeit 2019: 24) wird gezeigt, dass die gesetzlich geforderten Kompetenzen zwar von vielen Angestellten erreicht werden, dass aber insbesondere viele Angestellte im mittleren Kader die Kompetenzen in den Landessprachen nicht erreichen. Die Bundesverwaltung stellt pädagogische Angebote bereit, damit sich das Personal sprachlich weiterbilden kann. 5.2 Armee Die Schweizer Armee ist eine der Institutionen, in denen seit jeher Landessprachen gelernt wurden. Obwohl natürlich auch die Armee ein Stück weit territorial einsprachig organisiert war, so wurden doch im Verlauf der militärischen Ausbildung Kontaktgelegenheiten geschaffen, schon nur durch die typische «Verlegung» in der Rekrutenschule, die oft in einen anderen Landesteil führte. Wer eine Offizierskarriere in Angriff nahm, kam unweigerlich in Kontakt mit Kadern in anderen Landesteilen sowie mit dem mit Offizieren aus allen Landesteilen bestückten Stab der Heeresführung. Ab dem Jahr 1990 wurde die Armee grundsätzlich neu aufgestellt. Der Personalbestand sank von 800 ’ 000 Personen in 1990 auf gut 120 ’ 000 im Jahr 2017 (die Zahl nimmt seither wieder kontinuierlich zu und ist heute bei ungefähr 150 ’ 000; siehe Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport 2023). Gleichzeitig schritt die technische Spezialisierung fort und die Einheiten wurden territorial mobiler. Da durch die Verkleinerung der Bestände sowie die grössere Mobilität unweigerlich mehr gemischte Gruppen entstehen, stellt sich die Frage, unter welchen Sprachenregimes nicht nur die Ausbildung, sondern ganz allgemein der Armeealltag stattfindet. Trotz der genannten 432 Raphael Berthele <?page no="469"?> fundamentalen Veränderungen änderte sich an den reglementarischen Grundlagen zur Sprachenfrage grundsätzlich nichts, die Angehörigen der Armee haben gemäss Dienstreglement, Artikel 57, Anspruch auf Ausbildung in ihrer Muttersprache, «wenn immer möglich»: 57 Sprache Die Vorgesetzten bedienen sich wenn immer möglich der Muttersprache der Unterstellten. Bei gemischtsprachigen Verbänden brauchen sie die Schriftbeziehungsweise Hochsprache. Anekdotisch wurde seit Längerem berichtet, dass Artikel 57 insbesondere für die beiden nationalen Minderheiten Italienisch und Französisch ein Lippenbekenntnis bleibt: Es werde, so war in der Presse zu lesen, «ausschliesslich» auf Deutsch oder gar Schweizerdeutsch instruiert. In einer Umfrage im Jahr 2011 (Berthele und Wittlin 2013) wurden Rekruten und Unteroffiziere dieser beiden nationalen Minderheiten in verschiedenen Kasernen befragt, die alle in gemischtsprachlichen Gruppen dienten. Die Resultate zeigten in der Tat, dass insbesondere das Italienische marginal war in der militärischen Ausbildung. Das Französische wurde häufiger, aber insgesamt seltener als das Deutsche verwendet. Besonders interessante Divergenzen gab es bezüglich der Einschätzung des Dialektgebrauchs im Deutschen: Während die Unteroffiziere angaben, wenig bis nie in Dialekt zu instruieren, gaben die Rekruten einen hohen Dialektanteil an der deutschsprachigen Instruktion an. Diese Divergenz kann auf unterschiedliche Weise erklärt werden: Es ist beispielsweise möglich, dass die Rekruten die intendierte Standardsprache der Instruktoren als Dialekt kategorisieren. Andererseits könnten die Instruktoren ihren eigenen Dialektgebrauch auch unterschätzen. Des Weiteren zeigte die Befragung, dass das ‘ Modèle Suisse ’ (siehe Abschnitt 1.2), der polyglotte Dialog, in dem verschiedene MuttersprachlerInnen jeweils ihre Sprache sprechen, die anderen zumindest verstehen, tatsächlich zur Anwendung kommt. Je mehr die Armeeangehörigen mit diesem Modell vertraut waren, desto positiver schätzten sie dieses ein. Ausserdem zeigten die Daten, dass auch das Englische als lingua franca zur Klärung der vermittelten Inhalte benutzt wird. Es liegen keine neueren Zahlen vor, aber es gilt zu vermuten, dass die Rolle des Englischen heute noch wichtiger geworden ist. Im Jahr 2021 forderte der jurassische Ständerat Charles Juillard, dass die Armee Sprachkurse und -zertifikate in den Landessprachen anbieten sollte, im Sinne einer Stärkung der nationalen Kohäsion über Sprachgrenzen hinweg. Sein Vorschlag wurde vom Rat abgelehnt. 6 Schlussüberlegungen Die Beziehungen zwischen den traditionell ansässigen Sprachgemeinschaften in der Schweiz werden von geschichtlichen, demografischen und wirtschaftlichen Faktoren geprägt. Die Einschätzung, wie es um diese Beziehungen steht, hängt davon ab, welchen Zustand man als ideal oder normal betrachtet und wen man fragt. Vorurteile (positive und negative) gegenüber Dialekten/ Sprachen und ihren SprecherInnen gibt es in allen heterogenen Kontexten, Reflexe davon werden im medialen Diskurs sowie in Befragungen sichtbar. So wurden etwa die Welschen als «Griechen der Schweiz» (Weltwoche vom 1. März 2012) bezeichnet, wobei mit dem Verweis auf die «Griechen» offensichtlich das Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz 433 <?page no="470"?> Stereotyp einer wirtschaftlich ineffizienten, aber subventionsabhängigen Gruppe aktualisiert werden sollte. Gleichzeitig war es in den frankophonen Medien erstaunlich lange möglich, den dialektsprechenden DeutschschweizerInnen ihre Muttersprache und damit auch ihren Patriotismus abzuerkennen - beispielsweise, indem man den DialektsprecherInnen abspricht, dass sie überhaupt eine Landessprache sprechen, wie etwa José Ribeaud, RSR 1e, 17.10.2010: Il y a pas très longtemps une dizaine d ’ années il y avait un conseiller fédéral alémanique soleurois pour préciser, vous devinerez qui, qui ne parlait aucune langue nationale il savait même pas le Hochdeutsch chaque fois qu ’ il le parlait il faisait tout plein de fautes. Politisch kann man nicht feststellen, dass Sprachgrenzen in systematischer Weise mit Wahl- oder Abstimmungsresultaten zusammenfallen: Zwischen 1848 und 2021 wurde die Romandie in gerade einmal 4 % der insgesamt 663 Abstimmungen vom dominant germanophonen Rest des Landes überstimmt (Müller und Heidelberger 2022: 154). Während die offizielle Viersprachigkeit der Schweiz politisch zelebriert wird, zeigt die in allen sprachrelevanten Volksabstimmungen durchgehend schwache Stimmbeteiligung, dass die StimmbürgerInnen sich insgesamt wenig für solche Sprachenfragen interessieren. Dies sieht an Sprachgrenzen, in Kontexten der Minorisierung, ganz anders aus, dort können die Spannungen zwischen den Gemeinschaften durchaus politisch manifest werden. Sprachen sind nicht statische, sondern dynamische, sich ständig den Kommunikationsbedürfnissen anpassende Phänomene. Der Schutz von Sprachen und Dialekten durch Institutionen ist deshalb ein ausserordentlich schwieriges Unterfangen, denn letztlich geht es darum, die sprachökologische Nische zu schützen, in der eine Sprache entstanden ist bzw. sich weiterentwickelt. Der Umstand, dass die wirtschaftlichen und sozialen Räume geografisch grösser werden, bleibt nicht ohne Einfluss auf die traditionell kleinräumige Dialekt- und Sprachgliederung in der Schweiz. Gewisse Sprachminderheiten, deren territoriale Verwurzelung wie etwa im Fall der RätoromanInnen zunehmend geschwächt wird, sind damit vulnerabel, und für sie ist individuelle Mehrsprachigkeit unabdingbar. Noch schwieriger ist es, Sprachen wie das Jenische zu schützen, die letztlich als eine Art Geheim- oder Abgrenzungssprache gegenüber der sesshaften Bevölkerung funktionier(t)en. Die typischen von der Politik angeregten sprachkonservierenden Massnahmen wie das Verfassen von Wörterbüchern, Grammatiken und Lernmaterialien sowie das Anbieten von Sprachunterricht haben keinen Sinn, wenn die Gemeinschaft gar nicht möchte, dass Fremde ihre Sprache können. Begrüssenswert ist es sicherlich, dass im Gegensatz zu vergangenen Zeiten Sprachen und Dialekte nicht verboten und aktiv ausgemerzt werden. Wenn aber Sprachgemeinschaften ihre Sprachen nicht mehr verwenden wollen, so gehört das eben auch zum sozialen Wandel in einer freiheitlichen Gesellschaft. Während die Territorialisierung der Sprachenhoheit als potenziell assimilierendes und einsprachiges Prinzip von MehrsprachigkeitsenthusiastInnen problematisiert wird, hat sie doch den Vorteil, dass Minderheiten zumindest in ihren konsolidierten Gebieten geschützt sind. Die Sprachregionen unterscheiden sich bezüglich der jeweils vorherrschenden Sprachideologien zum Teil beträchtlich: Während in der deutschsprachigen und z. T. auch in der rätoromanischen und italienischsprachigen Schweiz die Loyalität zum lokalen Dialekt als Zeichen der Identität betont wird, wird in der französischsprachigen Schweiz der Fokus auf die Standardsprache gelegt (vgl. ► Französisch). Diese Unterschiede bergen 434 Raphael Berthele <?page no="471"?> durchaus sprachenpolitische Sprengkraft, da damit einerseits unterschiedliche Funktionen von und Ideen über Sprache priorisiert werden, während andererseits die Vitalität der Dialekte für diejenigen, die nicht mit diesen aufwachsen, mehr Lernaufwand bedeuten. Was in der Kommunikation zwischen den Mitgliedern verschiedener Sprachgruppen legitim und angebracht ist, muss ständig neu verhandelt werden. Dies ist ein zu erwartender, normaler Aspekt eines mehr oder weniger harmonischen Zusammenlebens in einem vielsprachigen Land. Die beiden grössten Landessprachen als Schulfremdsprachen sind im jeweils anderen Landesteil unbeliebt, im Gegensatz zum Englischen. Es ist zu erwarten, dass die Sprachwahlpräferenzen sich in Zukunft weiter zugunsten des Englischen verschieben werden. Wer also in Zukunft den steilen Weg zur Kaiseregg hochkraxelt, wird eventuell das Problem der Sprachenwahl beim Grüssen nicht mehr lösen müssen und einfach «hi» oder «hello» sagen. Das mag zwar TraditionalistInnen verschrecken, es ist aber immer noch besser, als sich gar nicht zu grüssen. Bibliographie Baer, Emil / Baur, Arthur (1937). Š ribed wien er reded! Ifüerig id š wizer folchs š rift. Zürich: Rigi. Beacco, Jean-Claude / Byram, Michael (2007). Guide pour l ’ élaboration des politiques linguistiques éducatives en Europe : de la diversité linguistique à l ’ éducation plurilingue. Strasbourg: Conseil de l ’ Europe. Berruto, Gaetano / Pandolfi, Elena Maria (2004). Prima lezione di sociolinguistica. (Universale Laterza 848). Roma: Laterza. Berthele, Raphael (2001). A Tool, a Bond, or a Territory: Language Ideologies in the US and in Switzerland. 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Sprachenstatistiken beeinflussen auch unsere Vorstellung von der Verteilung der Sprachen und Sprechenden über das gesamte Territorium und lassen Grenzlinien zwischen den Sprachräumen aufscheinen, die in Sprachkontaktgebieten nicht immer klar gezogen werden können. Die Infografik in Abb. 1, die von einer Bundesstelle produziert worden ist, die das Image der Schweiz im Ausland pflegt, verdeutlicht, dass die Sprachenvielfalt nicht als zu kaschierendes Hindernis, sondern als positive Eigenheit der Schweiz präsentiert wird. Die heutige Sprachenvielfalt ist freilich so komplex, dass sie den gesamten Prozess der Quantifizierung und der grafischen Darstellung auf den Prüfstand stellt Selbstredend ist die Schweiz nicht das einzige Land, das die Sprachenvielfalt quantifiziert. Zahlreiche andere Länder stellen statistische Informationen zu Sprachen zur Verfügung. In einigen Teilen der Welt, z. B. in Kanada (Prévost 2011) oder im Baskenland (Urla und Burdick 2018), sind diese Veröffentlichungen von zentraler Bedeutung, um die Vitalität von Minderheitensprachen zu analysieren und die von den Mehrheitssprachen geprägten Dominanzbeziehungen auszuleuchten. In anderen Ländern hingegen, etwa in Frankreich oder der Türkei, wurde die Sprache nie bei der gesamten Bevölkerung erhoben, da man befürchtete, dass regionale Sprachminderheiten eine für den Staat problematische Sichtbarkeit erhalten könnten (Arel 2002). In Belgien führten die Ergebnisse sogar zu derartigen Spannungen, dass die Regierung 1960 entschied, Fragen zu den Sprachen in statistischen Erhebungen ein für alle Mal abzuschaffen (Lévy 1964). Seither sind die offiziell anerkannten Grenzen zwischen französisch-, niederländisch- und deutschsprachigen Regionen unveränderlich, da sie auf der Grundlage der bis dahin gültigen offiziellen Statistiken gezogen wurden. Die Schweiz gehört zu jenen Staaten, für die die Quantifizierung der auf ihrem Territorium vorhandenen Sprachen ein wichtiges politisches Instrument darstellt: nicht <?page no="476"?> nur für die Sprachenpolitik und die Regierung, sondern auch für die Konstruktion einer imaginären vierund/ oder mehrsprachigen Nation. Der vorliegende Beitrag bietet einen Überblick über die historische Entwicklung der Quantifizierung der Sprachen und Sprechenden in der Schweiz: Warum und wie quantifiziert der Staat die Sprachen? Was wird mit diesen statistischen Informationen gemacht? Wie kommt der Dialog zwischen Wissenschaft und Politik bei diesem statistischen Vorhaben zum Ausdruck? Mit welchen Folgen für unsere Wahrnehmung von Sprache, Sprechenden und Sprachräumen? Wir beantworten diese Fragen anhand der Resultate einer soziolinguistischen ethnografischen Forschung, die zwischen 2014 und 2018 am Wissenschaftlichen Kompetenzzentrum für Mehrsprachigkeit der Universität und Pädagogischen Hochschule Freiburg (Schweiz) durchgeführt wurde. 1 Das Projekt bestand aus zwei Teilen: einer Ethnografie der aktuellen Quantifizierungspraktiken des Bundesamtes für Statistik (BFS) und einer Geschichte der Praktiken und Diskussionen zu den Quantifizierungstechniken Abb. 1: «We speak Swiss». Infografik zu den Sprachen in der Schweiz von House of Switzerland, Quelle: EDA 2023: 46, © Presence Switzerland 2022 1 Forschungsprojekt Hinter den Kulissen der Quantifizierung von Sprachen, https: / / centre-plurilinguisme.ch/ de/ forschung/ hinter-den-kulissen-der-quantifizierung-von-sprachen (Stand: 24.05.2023). 440 Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray <?page no="477"?> seit Beginn der Spracherhebungen in der Schweiz. Der vorliegende Artikel präsentiert Ergebnisse aus diesem Projekt, basierend auf Archivdokumenten sowie wissenschaftlicher Fachliteratur und amtlichen Dokumenten aus den Jahren 1850 bis 2020. Die Analyse dieser Dokumente erlaubt uns herauszuarbeiten, welche Argumente - wann und von wem - vorgebracht werden, um die Art und Weise der Produktion der Sprachenstatistik zu steuern und damit auch unsere Wahrnehmung sprachlicher Vielfalt in der Schweiz zu prägen. Dieser historische Überblick zeigt auf, wie sich der Quantifizierungsprozess im Laufe von mehr als hundert Jahren eidgenössische Volkszählung an verschiedene Sprachideologien anpasst: Einerseits müssen nämlich Sprachenstatistiken dazu dienen, «Einsprachige», «Sprachgebiete» und «Sprachgemeinschaften» zu identifizieren. Andererseits sollen sie auch erlauben, «Zweisprachige» bzw. die «Mehrsprachigen» auszumachen und zu zählen, um die Verständigungsbemühungen zwischen diesen «Gemeinschaften» zu erfassen, aber auch um das Potenzial solch sprachlicher Vielfalt für den Arbeitsmarkt aufzuzeigen. Die Produktion von Statistiken, die sich parallel zu technischen Entwicklungen verändert, erfordert nicht nur die Beherrschung von Zahlen und Erhebungsmethoden, sondern auch die Gewichtung von mitunter widersprüchlichen wissenschaftlichen und politischen Interessen. Die neuen Sprachenfragen und daraus resultierenden Daten der eidgenössischen Volkszählung sind denn auch das Resultat des Zusammenspiels zwischen Politik und Wissenschaft. Die teilweise divergierenden Ansprüche von Behörden, von Sprachorganisationen sowie von statistischen und linguistischen Fachleuten hat das Bundesamt für Statistik jeweils so gut wie möglich zu berücksichtigen versucht. Wir werden im Folgenden die Geschichte der Sprachenstatistik in drei Teilen skizzieren, um drei grundlegende, in politische Debatten eingebettete methodologische Veränderungen hervorzuheben: a) Quantifizierung der Einsprachigkeit im Dienste der territorialen Sprachpolitik (1860 - 1980); b) Ausweitung auf eine Quantifizierung von Bilingualismus und Diglossie als Reaktion auf politische Spannungen (1990 - 2000); c) Anstoss zu einer Quantifizierung von Mehrsprachigkeit, die unsere tradierten Vorstellungen von Sprachräumen und Sprachgemeinschaften in Frage stellt (ab 2010). Zur Geschichte der statistischen und grafischen Darstellungen der Sprachen in der Schweiz, siehe Humbert 2018. Eine ausführliche allgemeine Literaturübersicht über Geschichte, Methoden und Politik der Volkszählung bzw. der dort generierten Sprachenstatistiken bieten Humbert et al. 2018. Für weiterführende Informationen zu Methodologie und Daten des Freiburger Projekts siehe Humbert 2022: Kapitel 2 oder Duchêne et al. 2019. Kapitel 3 in Humbert 2022 bietet einen ausführlichen historischen Abriss der Entwicklung politischer und wissenschaftlicher Diskussionen darüber, wie die Schweizer Sprachenstatistik erstellt werden soll. 2 Die Muttersprache im Dienst der Verortung von Sprecherinnen und Sprechern (1860 - 1980) Der Begriff «Muttersprache» tauchte 1880 in den Formularen der Schweizer Volkszählung auf. In den beiden vorhergehenden Erhebungen (1860 - 1870) wurden dazu keine systematischen Fragen gestellt, aber ausgehend von anderen Informationen Zahlen zu Spra- Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz 441 <?page no="478"?> chen produziert: Die Mitarbeiter der Volkszählung sollten die in der Familie oder im Haushalt gesprochene Sprache nur dann notieren, wenn sie den Eindruck hatten, dass sie sich von der Sprache der Gemeinde unterschied. Dabei stiessen sie auf Schwierigkeiten, die bis hinauf ins Bundesparlament Debatten auslösten. Die Volkszähler haben nämlich realisiert, dass es Haushaltungen gab, in welchen andere Sprachen bzw. «fremde Sprachen» dominierten, die in der Zählung nicht vorgesehen waren. Auch war unklar, in welcher Sprache das Material für die Volkszählung in bestimmten Regionen, insbesondere in Graubünden, verbreitet werden sollte (Coray 2017a: 241 - 242). Als Folge solcher Beobachtungen wird später explizit nach der Muttersprache gefragt. Der Begriff «Muttersprache» wird zwar nicht definiert, ermöglicht es aber, zu jeder in einem Haushalt lebenden Person sprachliche Informationen zu erhalten und so die Sprachen aller zu ermitteln, die bisher in Haushalten aggregiert wurden, so zum Beispiel von italienisch- oder rätoromanischsprachigen Studierenden oder Arbeitnehmenden, die in mehrheitlich deutschsprachigen Haushalten untergebracht waren. Es handelt sich um die Anfänge einer Verortung von Sprechenden: Die Statistik erlaubt es, nicht nur die Umrisse von Sprachgebieten aufgrund von Mehrheiten zu zeichnen, sondern auch festzustellen, wo bzw. in welchen Gemeinden sich Sprechende anderer Sprachen innerhalb dieser Sprachräume befinden. Im Jahr 1900 unterscheidet sich die Formulierung in der französischen Version der Volkszählungsformulare stark von den anderen Sprachversionen. Dort wird nach «la langue habituellement parlée» (üblicherweise gesprochene Sprache) gefragt, während in den anderen Sprachversionen weiterhin der Begriff «Muttersprache» verwendet wird. Dieser redaktionelle Unterschied wirkt sich spürbar in den deutsch-französischen Sprachkontaktgebieten aus, wo das Französische in einigen Gemeinden dank dieser besonderen Formulierung stark an Boden gewinnt. Diese durch die Methode erzeugte Diskrepanz wurde von einigen Deutschsprachigen dahingehend interpretiert, dass die französische Sprache stärker erscheinen und Deutschsprachige in Sprachgrenzgemeinden minorisiert und mit der Zeit französisiert werden sollten. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs schürte diese Episode zudem die Spannungen zwischen Deutsch- und Westschweizern, die ungeachtet des helvetischen Neutralitätsprinzips nicht die gleiche Affinität zu ihren französischen, deutschen und österreichischen Nachbarn hegten (vgl. Müller 1977). Erst 1910 wird folgende Definition von «Muttersprache» in den «Weisungen über das Ausfüllen der Zählkarten für die Volkszähler und Haushaltungsvorstände» verwendet: Als Muttersprache ist diejenige Sprache zu betrachten, in welcher man denkt und deren man sich in seiner Familie und im häuslichen Verkehre am liebsten bedient, weil sie einem am geläufigsten ist. (Statistisches Bureau 1915: 15) Diesmal ist sie in allen Sprachversionen ähnlich. Nach verschiedenen kleineren Änderungen in den darauffolgenden Volkszählungen stabilisierte sich die Definition von «Muttersprache» ab 1950 als «die Sprache, in der man denkt und die man am besten beherrscht», und es wird (nicht immer direkt auf dem Formular) präzisiert: «Für Kinder, die noch nicht sprechen können: Sprache der Mutter» (Humbert 2022: 90 - 91). Diese Definition ist insofern einzigartig als unseres Wissens nur die Schweiz und Preussen (und heute Luxemburg) die Muttersprache mit einer Denksprache gleichgesetzt haben. Es sei zudem erwähnt, dass auch in anderen Ländern die Definition von Muttersprache nicht nur 442 Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray <?page no="479"?> im Laufe der Zeit variiert, sondern sich entweder auf die erste Sprache bezieht, die in der Kindheit gelernt wird (wie in Kanada), oder auf die Sprache, die von der Mutter weitergegeben wird (in Indien). Ab den 1950er Jahren werden die Ziele dieser Frage zunehmend klarer. Das BFS möchte die Entwicklung der Machtverhältnisse zwischen sprachlichen Minderheiten und Mehrheiten untersuchen, und zwar nicht nur auf territorialer Ebene, sondern auch auf Ebene der Individuen und der Generationen. Wie der damalige BFS-Direktor Anton Meli (1957 - 1968) erläutert, will die Schweizer Statistik das Phänomen der «sprachlichen Assimilation» (Meli 1962: 250 - 7) verstehen: Ein Deutschschweizer kann sich im Alltag durchaus auf Französisch ausdrücken, wenn er in der Westschweiz lebt und arbeitet; aber sobald man ihn nach seiner Muttersprache fragt und gleichzeitig kognitive (die Sprache des Denkens, die man am besten beherrscht), emotionale und vererbte (die direkte Beziehung zur Mutter) Merkmale betont, wird das dazu führen, dass er die Sprache angibt, die sein Gefühl von sprachlicher Zugehörigkeit am besten widerspiegelt. Sollte derselbe Deutschschweizer jedoch Französisch als Muttersprache nennen, dann wäre dies ein Beweis für «sprachliche Assimilation»: Er hätte sich so gut in das Sprachgebiet integriert, dass die lokale Sprache nun sein Denken und Fühlen dominiert. Diese Argumentation wird auch auf Kinder von sprachlich gemischten Paaren angewendet. Die Statistik möchte überprüfen, ob sie die lokale Sprache annehmen oder sich eher mit einer der Sprachen der Eltern identifizieren. Wenn Personen mehr als eine Muttersprache angeben oder die Statistikfachleute an den eingetragenen Antworten zweifeln, holt das BFS im Übrigen bis 1990 weitere Informationen über die Person ein, um eine einzige Sprache auszuwählen: Der Wohnort, der Name des/ der Befragten oder die Schule, die er/ sie besucht hat, sind Hinweise, die zur Entscheidung herangezogen werden. Folglich zwingt die Schweizer Statistik die Bevölkerung in dieser Zeit zur Einsprachigkeit: Die Sprechenden sollen gemäss Volkszählungsformular nur eine Muttersprache angeben, da die Frage im Singular gestellt wird. Wenn sie trotzdem mehr als eine Sprache angeben, kategorisiert das BFS die Befragten anhand von Indizien, die sie mit ihrer Herkunft in Verbindung bringen. Dabei geht es nicht nur um Sprache, sondern auch um Ethnizität, denn die Statistik ordnet sie im Zweifelsfall gemäss nicht ausschliesslich sprachlichen Kriterien Sprachgemeinschaften zu (allerdings stellt das Erwähnen von «Ethnizität» in der Schweiz ein Tabu dar, vgl. Späti 2012). Einerseits ist das Konzept der Muttersprache also dazu gedacht, ein klareres und homogeneres Bild der Sprachgebiete zu liefern, sozusagen Ordnung in die Durchmischung zu bringen. Das BFS betont noch heute, dass es sich bei den geografischen Einheiten der Sprachgebiete um «die älteste nicht-institutionelle Gliederung in der Schweizer Statistik» handle (BFS 2022: 2). Andererseits wird das Konzept nach und nach eingesetzt, um Sprechende über die Sprachräume hinweg zu lokalisieren, ihre Bewegungen zwischen den Sprachräumen zu verfolgen und die intergenerationelle sprachliche Assimilation im Laufe der Zeit zu ermitteln. In mehrfacher Hinsicht sind Formulierung und Methode jedoch problematisch, insbesondere für zweisprachige Personen, die bei der Beantwortung der Frage eine eher politische als sprachliche Entscheidung treffen müssen. Wie wir sehen werden, ist die Überwindung dieses Dilemmas auch Teil erheblicher politischer Spannungen, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts auszumachen sind. Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz 443 <?page no="480"?> Zu Haushalten und Gebieten mit mehreren Sprachen vgl. Humbert 2022: 89 - 91, 97. Zur Denksprache Humbert et al. 2018; zur Muttersprachendefinition in anderen Ländern Duchêne und Humbert 2018. 3 Hinwendung zur statistischen Untersuchung der Zwei- und Mehrsprachigkeit und Diglossie (1990 - 2000) Während die Muttersprache als Quantifizierungskriterium ein Jahrhundert lang in der Volkszählung dominierte, erfolgt im Formular von 1990 zum ersten Mal eine grössere Änderung in der Formulierung der Sprachenfrage: Neu finden wir zwei Fragen, die unter dem Titel «Sprache» stehen (Abb. 2). Die erste Frage orientiert sich an der früheren Definition von «Muttersprache», und das Formular schreibt weiterhin vor, nur eine Sprache anzugeben. Die vier Landessprachen stehen bei den anzukreuzenden Auswahlmöglichkeiten immer noch an erster Stelle, gefolgt von einem Feld, in das eine ‘ andere Sprache ’ eingetragen werden kann. Die zweite Frage ist in zwei Spalten unterteilt und markiert eine erstmalige Öffnung hin zur Erfassung nicht nur der Zwei- und Mehrsprachigkeit, sondern auch der Diglossie ( ► Deutsch). Die Frage bezieht sich auf einen produktiven und häufigen Gebrauch («sprechen» und «regelmässig»), und es können mehrere Sprachen angegeben werden. Die Verwendungskontexte umfassen auf der einen Seite Familie und nahestehende Personen, auf der anderen Seite Schule und Erwerbsleben. Darüber hinaus figuriert ‘ schweizerdeutsch ’ ganz oben auf der Liste, und es wurden sogar Felder für «patois romand» und «tessiner- oder bündner-italienisch Dialekt» [sic] vorgesehen. Dies verleiht Sprachvarietäten, die in einer Volkszählung normalerweise in allgemeinere und standardisierte Kategorien eingeordnet würden, ungewohnte Sichtbarkeit. Es werden freilich in allererster Linie die traditionellen Schweizer Sprachvarie- Abb. 2: Die Fragen zu Sprache in der Volkszählung von 1990 444 Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray <?page no="481"?> täten hervorgehoben, was die nationale und territoriale Verankerung des Themas unterstreicht. Die explizite Nennung auch von Englisch ist Ausdruck des Wunsches, die Rolle dieser internationalen Sprache in der Schweizer Gesellschaft, insbesondere im Erwerbsleben, besser zu erfassen. Diese Veränderungen zeugen von einem Kompromiss zwischen der Aufrechterhaltung einer einsprachigen Sichtweise und dem Willen, die Zwei- und Mehrsprachigkeit sowie die Diglossie der Bevölkerung zu erfassen. Sie sind aber auch Spiegel und Ergebnis von zwei regelmässig geführten politischen Debatten in der Schweiz: der Debatten rund um die Befürchtungen, dass die Deutschschweizer die lateinischen Minderheiten sowohl auf territorialer Ebene als auch in der Landesregierung verdrängen könnten, sowie der Debatten zu den Herausforderungen bezüglich sprachlicher Integration von Personen mit Migrationshintergrund. In der Tat werden dazu viele kommunale und kantonale Anliegen auf Bundesebene geltend gemacht. In den 1980er Jahren, kurz nach der Unabhängigkeit des Kantons Jura, forderten mehrere Parlamentarier mehr sprachpolitische Rechte und Schutzmassnahmen auf lokaler und nationaler Ebene. Ihre Befürchtungen betrafen hauptsächlich die Verwendung von schweizerdeutschen Dialekten anstelle der Standardsprache, das allmähliche Verschwinden des Rätoromanischen, was mit der zunehmenden Germanisierung des Kantons Graubünden in Zusammenhang gebracht wird, sowie die geringe Vertretung von Französisch-, Italienisch- und Rätoromanischsprachigen in hochrangigen Positionen auf Bundesebene (Widmer et al. 2005; Coray et al. 2015). Diese Anliegen führten zu parlamentarischen Vorstössen (insbesondere zur Motion Bundi von 1985, die eine Revision des Sprachenartikels in der Bundesverfassung forderte, vgl. dazu auch ► Rätoromanisch), die auch die Rahmenbedingungen für vertiefte Forschungen zum Umgang mit der sprachlichen Vielfalt schufen. Diese konkretisierten sich im Nationalen Forschungsprogramm Kulturelle Vielfalt und nationale Identität (NFP 21). Eine Arbeitsgruppe - bestehend aus drei Sprach- und Literaturwissenschaftlern, zwei Historikern, zwei Juristen und zwei Sprachlehrerinnen, d. h. neun Persönlichkeiten, die auch die vier Sprachregionen repräsentierten (Widmer et al. 2005: 295) - veröffentlichte einen Bericht mit dem Titel Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz (EDI 1989). Und während sich das BFS anschickte, die Fragen zu den Sprachen in der Volkszählung von 1990 zu vereinfachen und zu reduzieren, zeigten sich mehrere Vertreter von Verbänden, Gemeinden und Kantonen unzufrieden und forderten das Gegenteil: Man müsse diese Fragen sogar vertiefen, um die Kenntnisse der Landessprachen besser zu erfassen, insbesondere von Personen mit Migrationshintergrund. Auch die Schlussfolgerungen der obgenannten Arbeitsgruppe gehen in diese Richtung. Sie verweist auf einen Mangel an statistischen Informationen über die Sprachen und begrüsst die vom Bund beabsichtigten Änderungen im Fragebogen der Volkszählung von 1990 (EDI 1989: 96, 415). In dieser Zeit durchläuft das BFS in einem angespannten politischen Umfeld einen bedeutenden Wandel. Nach dem Fall der Berliner Mauer stellen die meisten westlichen Statistikämter ihre Arbeit unter die Vorzeichen von Transparenz und Demokratie. Viele sozialistische Staaten in Osteuropa müssen die Funktionsweise ihrer Institutionen revidieren, oft mit dem Ziel, die Annäherung an westliche, kapitalistische Regierungen zu erleichtern. Die Direktion des BFS folgt dieser Tendenz zu mehr Transparenz, nicht zuletzt auch wegen dem kurz zuvor aufgedeckten Fichenskandal: Man spricht nicht mehr von Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz 445 <?page no="482"?> «amtlicher Statistik», sondern von «öffentlicher Statistik» (Jost 2016: 104) und präsentiert sich als eine Dienstleistung, die nicht nur dem Staat vorbehalten ist, sondern auch öffentlichen und privaten Institutionen aus dem wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich dient. Darüber hinaus öffnet sich das BFS zunehmend dem Dialog mit Forschenden aus den Hochschulen, insbesondere mit Schweizer Linguisten, die mehrere Publikationen verfassen, die in Zusammenarbeit mit dem BFS entstanden und in seiner Schriftenreihe publiziert worden sind (siehe u. a. Furer 1996; Lüdi und Werlen 1997; 2005). Das BFS führt Innovationen ein und entwickelt technisch zunehmend anspruchsvollere statistische Ansätze (Jost 2016: 111 - 116), deren Komplexität in den 2000er Jahren weiter zunimmt. In diesem Klima, das politische Forderungen und den Wunsch, die Statistik für öffentliche Anliegen zu öffnen, miteinander verband, kam es ab den 1980er Jahren zu mehreren Treffen zwischen Linguisten und Statistikern, an denen mitunter auch Experten teilnahmen, deren Forderungen eher politischer als wissenschaftlicher Natur waren. Es waren vor allem Angehörige sprachlicher Minderheiten, insbesondere aus den Kantonen Graubünden und Tessin, die sich Änderungen in den Grundlagen der statistischen Erhebung wünschten In den 1970er Jahren hatten Tessiner Linguisten bereits mit dem kantonalen Statistikamt zusammengearbeitet, um den Gebrauch des Italienischen und seiner regionalen dialetti zu untersuchen. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und Kontakte setzten sie sich auch für Änderungen in den Volkszählungsformularen ein (Bianconi und Gianocca 1994: 7 - 10). Anlässlich der Treffen zwischen Sprach- und Statistikfachleuten aus den vier Sprachregionen wurde die Frage nach der ‘ Muttersprache ’ aus mehreren Gründen kritisiert: Sie zwinge die Zweisprachigen, eine mehr politische als sprachliche Wahl zu treffen, um in die einsprachige Schablone zu passen; ihre Definition sei mehrdeutig und unterstelle, die Beherrschung der Sprache gehe mit einer vererbbaren Weitergabe durch die Mutter einher, wobei der Einfluss des sozialen Kontexts beim Lernen mit Personen ausserhalb der Familie ausgeblendet werde. Für Angehörige der Sprachminderheiten, ganz besonders für Italienisch- und Rätoromanischsprachige, ist die Frage umso problematischer, als sie zwischen der Mehrheits- und der Minderheitensprache wählen müssen, was das Risiko erhöht, dass der deutschsprachige Anteil in den Zahlen und auf den Sprachenkarten zunimmt, da viele Angehörige dieser Sprachminderheiten aufgrund ihres Wohnortes in der Diaspora und/ oder ihrer Ausbildungs- und Berufsbiografie Deutsch angeben. Doch Statistiker haben generell noch andere Sorgen: Sie müssen die Längsschnittkohärenz mit den in der Vergangenheit erhobenen Daten aufrechterhalten, eine Überfrachtung der Volkszählungsformulare vermeiden und eine gewisse Verständlichkeit bei der Darstellung der Sprachgebiete wahren. Zahlen, Karten und Diagramme sollen in erster Linie dazu beitragen, Mehrheitsresp. Minderheitseffekte zwischen den Sprachen aufzuzeigen, die Berücksichtigung von Zwei- oder Mehrsprachigen würde hierbei für Verwirrung sorgen. Hinzu kommt, dass die Entwicklung der imaginären Einsprachigen im Zeitverlauf verglichen werden muss, um zu beobachten, ob die Zahlen tatsächlich auf eine deutschsprachige Hegemonie hindeuten oder nicht. Das Ergebnis dieser divergierenden Interessen führte zu einem Kompromiss: Der Begriff «Mutter» wurde gestrichen, der Singular jedoch beibehalten (vgl. Abb. 2, Titel und erste Sprachenfrage), um die Einsprachigkeit zu forcieren und eine homogenere Sicht auf die Sprachgemeinschaften im geopolitischen Raum der Schweiz zu bewahren. 446 Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray <?page no="483"?> Die Einführung der zweiten Frage (Abb. 2), mit der erstmals Zahlen zur Zwei-/ Mehrsprachigkeit und Diglossie vorgelegt werden können, ist von den statistischen Erfahrungen anderer Länder, insbesondere Kanadas, inspiriert. Sie stellt die Linguisten zwar nicht vollständig zufrieden, da die erfassten Verwendungsbereiche beschränkt seien, doch sie zeugt vom Willen, die tatsächlichen Sprachpraktiken aus statistischer Sicht besser darzustellen. Die Formulierung dieser zweiten Frage wird dann in der Volkszählung von 2000 auf der Grundlage der Erfahrungen von 1990 verfeinert. Lüdi und Werlen (2005: 70 - 71) weisen darauf hin, dass die Frage nach den in der Schule gesprochenen Sprachen wahrscheinlich falsch interpretiert wurde, da sich viele Schüler und Studierende auf den Unterricht in einer Fremdsprache bezogen hätten, weshalb an diese Gruppen gerichtete Präzisierungen hinzugefügt worden sind. Solche Formulierungsanpassungen bzw. inhaltliche Präzisierungen werden fortgesetzt und finden sich auch heute noch in den Formularen der Strukturerhebung (siehe nächster Abschnitt und Abb. 3). Nicht nur Linguisten interessieren sich für die funktionale Dimension von Sprachen und Dialekten. Auch Fachleute aus Statistik, Soziologie und Demografie beginnen ihr Interesse zu bekunden und versuchen, statistische Analysen über die Integration der allofonen Bevölkerung ausländischer Herkunft zu verfeinern. Sie wollen insbesondere wissen, ob Menschen mit Migrationshintergrund trotz der Angabe von nur einer Sprache in der ersten Frage der Volkszählung dennoch eine Landessprache verwenden. Diese methodischen Änderungen stellen jedoch einige Rätoromanischsprachige nicht zufrieden. Hierzu ist zu erwähnen, dass die Statistik für diese schon immer von grundlegender Bedeutung war, da sie ihnen im öffentlichen Raum Sichtbarkeit verschafft und erlaubt, ihre politischen Forderungen als vom Verschwinden bedrohte Sprachminderheit zu untermauern (Coray 2017b). Im Zuge der Veröffentlichung der Ergebnisse der 1990er und 2000er Jahre beschuldigten engagierte Wortführer - allen voran die Lia Rumantscha - das BFS, ein verzerrtes Bild ihrer Sprache zu verbreiten. Während ihr Anteil 1980 mit der Frage nach der «Muttersprache» noch 0.8 % betrug, sank er mit dem Verzicht auf den Begriff ‘ Mutter ’ im Jahr 1990 auf 0.6 % und 2000 auf 0.5 %. Dieselben Kreise freuen sich jedoch über einen weitaus grösseren Anteil an Rätoromanischsprachigen bei Berücksichtigung auch derjenigen mit «Umgangssprache» Rätoromanisch (d. h. derjenigen, die diese Sprache bei der zweiten Frage angekreuzt haben): 0.9 % im Jahr 1990 und 0.8 % im Jahr 2000. Die Situation veranlasst sie, ihren politischen Diskurs mit der Erhebung alternativer Zahlen zu unterfüttern, wie etwa der Anzahl von Nutzern rätoromanischsprachiger Medien. Gleichzeitig fordern sie vom BFS Zahlen, die ihre Realität als sprachliche Minderheit besser repräsentierten (Coray und Duchêne 2020). In den anderen Regionen der Schweiz sind die Zahlen vor allem in den Sprachkontaktgebieten Gegenstand von Debatten. Die erfolgten methodischen Neuerungen lösen jedoch weniger Diskussionen aus als in der Rumantschia (vgl. z. B. Antonini 1995 für das Italienische). Die zweite Frage der Volkszählung zu den gesprochenen Sprachen erfährt nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die erste zur (einzigen) «Sprache» der Befragten. Sprachfachleute analysieren diese neuen Statistiken über Sprachen und Dialekte in der Schweiz zwar ausführlich (z. B. Bianconi 1995; Lüdi und Werlen 1997; 2005), doch von den Medien und Statistikfachleuten werden diese neuartigen Informationen eher wenig aufgegriffen. Auch in den verschiedenen Sprachregionen werden die Ergebnisse sehr unterschiedlich aufgenommen, wobei das Interesse in den traditionellen Sprachkontaktgebieten jeweils Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz 447 <?page no="484"?> grösser ist als in den eher monolingualen Gebieten. Zudem neigen Linguisten dazu, sich v. a. mit ihrem soziolinguistischen Spezialgebiet und der «eigenen» Sprachregion zu beschäftigen: Die einen konzentrieren sich eher auf (Schweizer-) Deutsch und Dialektologie, die anderen eher auf Französisch und wieder andere eher auf Italienisch oder Rätoromanisch. Zu den Schweizer Debatten rund um die statistische Erhebung der Mehrsprachigkeit zwischen 1990 und 2000 vgl. Humbert 2022: 100 - 108. Das 1991 gegründete und vom Bund mitfinanzierte Tessiner Osservatorio linguistico della Svizzera italiana (OLSI) veröffentlicht auch heute noch zahlreiche Studien auf der Grundlage der verschiedenen sprachstatistischen Daten des BFS (z. B. Pandolfi et al. 2016; Janner et al. 2019). 4 Das Verschwimmen der Sprachgrenzen und die Sichtbarkeit mehrsprachiger und komplexer soziolinguistischer Profile (seit 2010) 4.1 Vom Gebiet zum Individuum Die 2000er Jahre markieren für das BFS im Allgemeinen und für die Sprachenstatistik im Besonderen einen weiteren Wendepunkt. Die Erhebungen werden in einem rascheren Rhythmus und anhand einer Vielfalt an Quellen und Methoden durchgeführt. Einerseits werden nun auch die Gemeinderegister für statistische Zwecke herangezogen, andererseits erfolgen mehr Stichprobenerhebungen und Umfragen, um bestimmte Themen zu vertiefen. Diese methodischen Neuerungen haben den Vorteil, dass mehr Informationen schneller bereitgestellt und gleichzeitig Kosten eingespart werden können. Überdies stimmen die Praktiken des BFS dadurch besser mit internationalen statistischen Empfehlungen und Good Practices überein. Eine mögliche negative Konsequenz dieser Neuausrichtung besteht u. a. in dem Risiko, in vielen Fällen weniger robuste und aussagekräftige - oder gar lückenhafte - Informationen zu erhalten, so auch etwa bei den Sprachen (Jost 2016: 125 - 137). Das BFS erfasst die Sprachen nach der letzten Vollerhebung von 2000 nicht mehr alle zehn Jahre bei der gesamten Bevölkerung, sondern verschickt seit 2010 jedes Jahr das Formular für die so genannte «Strukturerhebung» an eine Stichprobe von mindestens 200'000 Personen ab 15 Jahren (bei einer Gesamtbevölkerung von rund 8.7 Millionen). Weitere, detailliertere soziolinguistische Informationen werden alle fünf Jahre über die «Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur» (ESRK) bei einer Stichprobe von rund 10 ’ 000 Personen (plus allfällige kantonale Aufstockungen) erhoben. Dieser methodologische Umbruch hat erhebliche Auswirkungen auf die traditionelle Sprachenstatistik: Die Kumulation der Daten der Strukturerhebung über fünf Jahre hinweg liefert nur für Regionen oder Gemeinden von mindestens 3'000 Personen aussagekräftige Informationen. Ländlichere Regionen und gewisse soziodemografische und sprachliche Profile entziehen sich somit dem Quantifizierungsprozess (Humbert 2022: 83 - 85). Mit Blick auf die Sprachenstatistik ist dies besonders für das Rätoromanische problematisch, für das es nicht mehr möglich ist, aussagekräftige Zahlen für alle Gemeinden zu produzieren. Das Sprachengesetz des Kantons Graubünden von 2006 rechnete noch mit Zahlen der eidgenössischen Volkszählung bei der Ausscheidung von ein- und mehrsprachigen Gemeinden. Die begrenzte geografische Tiefenschärfe der Strukturerhebung hat zur Folge, dass feinmaschigere Sprachenstatistiken bei Bedarf (insbesondere bei Fusionen von 448 Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray <?page no="485"?> Gemeinden mit unterschiedlichen Sprachregimes) vom Kanton selbst erhoben werden müssen (Coray 2017a). Diese Probleme verdeutlichen, dass jede territoriale Darstellung von Sprachen immer nur eine Annäherung bleibt, was auch der radikale Bruch mit früheren Statistiken nicht zu ändern vermochte. In den Formularen der Strukturerhebung sind weitere Änderungen bei der Sprachenfrage zu verzeichnen (siehe Abb. 3). Die Frage ist nun in drei Teilfragen gegliedert. Statt dem bisherigen Begriff «Sprache» wird in der ersten Frage «Hauptsprache» verwendet. Während der Wortlaut der Frage selbst weitgehend gleich bleibt, folgt ihr ein zusätzlicher Hinweis, der es den Befragten erlaubt, mehr als eine Sprache einzutragen, sofern sie in diesen Sprachen denken und sie gleichermassen beherrschen. Eine weitere auffällige Änderung ist, dass die Schweizer Dialekte und Mundarten auf dem Formular an Sichtbarkeit gewinnen. Neu werden sie bei der ersten Frage explizit, in Klammern hinter ihrem Standard erwähnt. Bei den Fragen 2 und 3 ist es (wie schon in den Volkszählungen von 1990 und 2000) weiterhin möglich, den Dialekt getrennt vom Standard, z. B. Schweizerund/ oder Hochdeutsch, anzugeben. Ausgenommen ist jedoch das «Patois romand», das neu mit dem Französischen zusammengefasst wird. Die in der ersten Frage explizite Subsumierung der Dialekte und Patois unter die jeweilige Standardsprache soll verhindern, dass diese als Amtssprachen missverstanden werden. Darüber hinaus wird eine gewisse Kontinuität mit der territorialen Statistik der Vergangenheit aufrechterhalten, auch wenn die Grenzen der Sprachgebiete aufgrund der neuen Stichprobenmodalitäten verschwimmen und nicht mehr überall eindeutig zu definieren sind. Einige andere Sprachen, d. h. die verbreitetsten Migrationssprachen, werden neuerdings ebenfalls namentlich aufgelistet. Diese Änderungen am Formular sind das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit mit Schweizer Linguisten, spiegeln aber auch politische Prioritäten wider (Humbert 2022: 108 - 115). Abb. 3: Die Fragen zu Sprachen im Formular der schweizerischen Strukturerhebung 2015 Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz 449 <?page no="486"?> Die Fragen wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts getestet, das in den 2000er Jahren von Sprachfachleuten in Zusammenarbeit mit dem BFS durchgeführt wurde. Bereits der Wortlaut der ersten Frage stellte für die Testpersonen ein Problem dar: Da ausführlichere Erläuterungen des Begriffs «Hauptsprache» fehlen, verstanden die Testpersonen nicht wirklich, was gemeint war. Hinzu kommt, dass die Verwendung des Superlativs («am besten beherrschen») im Gegensatz zur Möglichkeit steht, die Frage im Plural zu beantworten. Denn der Superlativ fordert logischerweise dazu auf, eine einzige Antwort zu geben, die von einer Hierarchisierung der Sprachen (von der am besten bis zur am wenigsten beherrschten) ausgeht. Es wurde nämlich befürchtet, dass die Verwendung des Plurals ohne Superlativ zu einer übertriebenen Aufzählung von Hauptsprachen führen würde, ohne bestimmte Sprachen zu priorisieren. Die Frage ist noch komplexer für eine Zielgruppe, die sowohl für die Statistik als auch für die Politik immer interessanter wird: Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund. Für mehrsprachige Jugendliche, die in der Schweiz als Kinder von Eltern mit Migrationshintergrund geboren wurden, ist die Frage nämlich nicht eindeutig und kann auch als Frage nach ihrer Herkunft verstanden werden. Wenn die Hauptsprache einzig im Singular erfragt würde, würden sie wohl dazu neigen, nur ihre Herkunftssprache anzugeben. Zahlen zu produzieren, die suggerieren, dass junge Schweizerinnen und Schweizer (oder in der Schweiz geborene Ausländerinnen und Ausländer) keine Landessprache als Hauptsprache haben, wäre auch aus wissenschaftlicher Sicht wenig repräsentativ für die heutige soziolinguistische Realität. Aus politischer Sicht könnte ein solches Ergebnis als Scheitern von Integration und sozialem Zusammenhalt interpretiert werden. Die Abwägung dieser praktischen und ideologischen Herausforderungen veranlasste das BFS ab der ersten Strukturerhebung im Jahr 2010, die Frage zweizuteilen: Die Frage selbst steht im Singular und fordert eindeutig zur Einsprachigkeit auf. Ihr folgt eine - wenn auch restriktive - Erläuterung im Plural, die erlaubt, mehr als eine Sprache einzutragen. Die beiden anderen Fragen und die Überarbeitung der Nomenklatur gaben ebenfalls Anlass zu zahlreichen Debatten. Sprach- und Statistikfachleute haben daher die Fragen auf der Grundlage der Erfahrungen von 1990 und 2000 verfeinert. Ihre Diskussionen zeugen von einer erhöhten Sensibilität für soziolinguistische Finessen, aber auch von einem gewissen Realismus in Bezug auf die technischen und logistischen Beschränkungen der Durchführung. Die zusätzlichen Anweisungen zu Frage 3 (siehe Abb. 3) sind emblematisch für das Bestreben, die Befragten so gut wie möglich anzuleiten und ihre Sprachpraktiken so präzise wie möglich zu erfassen. So ist es seit 2010 möglich, mithilfe der Sprachenstatistik der Strukturerhebung verschiedene Grade von individueller Mehrsprachigkeit zu unterscheiden: eine idealisierte «perfekte» Mehrsprachigkeit (bei Angabe von mehr als einer Hauptsprache) vs. eine funktionale und kontextabhängige produktive Mehrsprachigkeit (bei Angabe von mehr als einer gesprochenen Sprache) (vgl. ► Sprachbeziehungen). All diese Veränderungen führen bei einigen Personen und in bestimmten Kreisen erneut zu Unzufriedenheit, ohne jedoch eine landesweite Polemik auszulösen. Einerseits beklagen Fürsprecher des Rätoromanischen, wie bereits oben erwähnt, den Mangel an ausreichend robusten statistischen Daten. Selbst kumuliert sind nämlich die Daten der Strukturerhebung nicht immer aussagekräftig genug, um die territoriale Sprachpolitik 450 Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray <?page no="487"?> umzusetzen, die bestimmt, ob eine Gemeinde offiziell als ein- oder mehrsprachig zu gelten hat (mit den Kantonssprachen Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch). In akademischen Kreisen, die mitunter der Politik nahestehen, bedauern mehrere Linguisten den Verlust einer detaillierten territorialen Übersicht der Sprachen. Andere, wie etwa François Grosjean, der sich ab 2012 wiederholt in den Medien zu diesem Thema geäussert hat, sind der Ansicht, dass das BFS ein verzerrtes und überholtes Bild von Mehrsprachigkeit reproduziere, indem es diese entweder auf das Stereotyp der perfekten ‘ Zweisprachigkeit ’ oder auf den ausschliesslich produktiven Gebrauch mehrerer Sprachen reduziert (die Fragen 2 und 3 beziehen sich beispielsweise auf den mündlichen Gebrauch und nicht auf Hören oder Lesen). Insgesamt wird kritisiert, dass die Lesbarkeit der Sprachräume unscharf und auf lokaler Ebene weniger präzise ist. Aufgrund der neuen Erhebungsmethoden erscheinen die Sprachgemeinschaften zudem als weniger homogen, und ihre soziolinguistischen Verhaltensmuster sowie demografischen Profile werden immer komplexer und hybrider. Zu den wissenschaftlichen Diskussionen und öffentlichen Debatten über die Konstruktion der Sprachfragen in der Strukturerhebung, siehe Humbert 2022: 108 - 118. 4.2 Die individuelle Mehrsprachigkeit im Dienste des sozialen Zusammenhalts? Auch wenn es nicht möglich ist, ein detailliertes territoriales Bild der Sprachenvielfalt zu liefern, so kann doch die individuelle Mehrsprachigkeit mit der ESRK - der 2014 neu eingeführten Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur - umfassender erfasst werden. Die ESRK stellt im Maximum (je nach sprachlichem und demografischem Profil der Befragten) rund 30 Fragen zu Sprachen und Dialekten an mindestens 10'000 Personen. Sie fragt nach verschiedenen Kontexten, Modalitäten (schreiben, lesen, mündlich benutzen, usw.) und Häufigkeiten des Sprachgebrauchs, wodurch komplexere soziolinguistische Porträts gezeichnet und zu demografischen Profilen in Beziehung gesetzt werden können (junge Menschen mit Migrationshintergrund der ersten oder zweiten Generation, ältere Menschen, die auf dem Land leben usw.). Die ESRK liefert Ergebnisse zu «regelmässig verwendeten Sprachen» mittels einer Reihe von Fragen zu den täglich oder wöchentlich in einer Vielzahl von Kontexten, mündlich und schriftlich, produktiv und rezeptiv gebrauchten Sprachen. Mit dieser Art der Datenerhebung konzentriert sich das BFS auf die Untersuchung soziolinguistischer Profile und sprachlicher Praktiken, territoriale Aspekte rücken in den Hintergrund. Die Sprachgebiete werden gewissermassen als gegeben vorausgesetzt, da die Statistik im Laufe der Zeit tendenziell nur sehr geringe territoriale Veränderungen beobachtet (ausser im rätoromanischen Gebiet Graubündens). Ab 2010 erscheinen die Sprachen in den meisten Publikationen des BFS nicht mehr nur als homogene Blöcke auf Karten, mit klaren Grenzen, sondern vermehrt auch als Entitäten und Praktiken, die anhand abstrakter Tabellen, Diagramme und Grafiken dargestellt werden (siehe Abb. 4). Die Zahlen, die mittels dieser neuen Fragen gewonnen werden, tragen dazu bei, das Konzept (homogener) Sprachgemeinschaften zugunsten eines Konzepts von (heterogenen) Sprechergemeinschaften in den Hintergrund zu rücken, da die Statistik den Schwerpunkt auf individuelle soziolinguistische und demografische Merkmale legt, die über den territorialen Rahmen hinausgehen. Mit der ESRK werden beispielsweise die Rätoroma- Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz 451 <?page no="488"?> Abb. 4: Infografik zu den Sprachen der Schweiz, erstellt auf Grundlage der Ergebnisse der Strukturerhebung 2022 und der ESRK 2019, Quelle: BFS 2024 452 Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray <?page no="489"?> nischsprachigen nicht so sehr als eine vom Aussterben bedrohte sprachliche Minderheit dargestellt, sondern als hochgradig mehrsprachige Sprecherinnen und Sprecher. Auch diejenigen, die Tessiner oder bündner-italienischen Dialekt sprechen und im Allgemeinen älteren Jahrgangs sind, erweisen sich als überdurchschnittlich mehrsprachig. Und die Mehrsprachigkeit von Migrantinnen und Migranten (vor allem der jungen Menschen) schliesslich wird nicht als Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt interpretiert, da sie in der Regel nicht nur den regelmässigen Gebrauch einer Migrationssprache, sondern auch einer Landessprache einschliesst (Humbert 2022: Kap. 6). All diese Veränderungen gründen in einem zeitgenössischen Verständnis dessen, wie die Gesellschaft und die Menschen in Statistiken abgebildet werden sollen (Rey 2016): Zahlen dienen nicht nur dazu, Karten und Tabellen zu erstellen, sondern ihre Produktion wird als ein Instrument verstanden, mit dem sich individuelle soziolinguistische Verhaltensweisen gezielt analysieren lassen. Der vollständige Fragebogen der ESRK 2019 kann auf der Website des BFS konsultiert werden, siehe BFS 2020. Erste Ergebnisse dazu (inkl. Definition von «regelmässig verwendete Sprachen») finden sich unter: https: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ de/ home/ statistiken/ bevoelkerung/ erhebungen/ esrk.assetdetail.15324909.html (Stand: 06.02.2024). 5 Fazit Wie bei jeder Statistik mussten auch bei der Sprachenstatistik im Laufe von mehr als einem Jahrhundert die Erhebungen an wichtige demografische, technische, politische und ideologische Veränderungen angepasst werden. Während Mehrsprachigkeit in der Statistik einst ausgeblendet wurde, wird sie heute aus fast allen Blickwinkeln erfasst und analysiert. Das wachsende Interesse an der Quantifizierung von Zwei-/ Mehrsprachigkeit und Diglossie hängt mit einer Konvergenz von wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Interessen zusammen, was günstige Bedingungen für Veränderungen der Sprachenstatistik schafft. Mit der Erstellung von Sprachenstatistiken wird versucht zu verstehen und zu zeigen, inwiefern sprachliche Vielfalt eine Bedrohung oder einen Gewinn für den sozialen Zusammenhalt und die Wirtschaft in der Schweiz darstellen könnte. Solche Überlegungen sind nur selten in den statistischen Ergebnissen selbst wahrnehmbar, sondern kommen in den verschiedenen Lektüren und Interpretationen der Ergebnisse zum Ausdruck. Diese erlauben uns, unterschiedliche Blicke auf die Zahlen zu werfen, die unsere Vorstellungen von «Sprachgemeinschaften» oder «Sprachräumen» beeinflussen. Diese «Sprachgemeinschaften» sind heute nicht mehr auf die vier Landessprachen beschränkt, wie man am zunehmenden Interesse an statistischen Analysen der Sprachkenntnisse und -praktiken bestimmter Migrantengruppen erkennen kann (auch auf kantonaler und städtischer Ebene - so z. B. in Zürich, vgl. Rosin et al. 2016), die nicht mehr unbedingt als Bedrohung dargestellt werden, sondern im Gegenteil als Mehrsprachige, die den sozialen Zusammenhalt sogar erleichtern können. Statistische Informationen haben nicht einfach einen enzyklopädischen Zweck, sondern werden mit dem Ziel produziert, die sprachliche Vielfalt zu verwalten, Machtverhältnisse zu regulieren und zu versuchen, Spannungen zwischen Mehrheit und Minderheiten zu mildern. Herzlichen Dank an Susanne Obermayer für die Übersetzung des französischen Originals ins Deutsche und an die Herausgeberinnen und -geber für ihre wertvollen Hinweise. Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz 453 <?page no="490"?> Bibliographie Antonini, Francesca (1995). Das Italienische als extraterritoriale Sprache. Forum Statisticum 34, 72 - 80. Bern: Bundesamt für Statistik. Arel, Dominique (2002). Language categories in censuses: backwardor forward-looking? In: Kertzer, David I. / Arel, Dominique (Hrsg.). Census and identity: the politics of race, ethnicity, and language in national census. Cambridge, UK ; New York: Cambridge University Press, 92 - 120. Bianconi, Sandro (Hrsg.) (1995). L ’ italiano in Svizzera: secondo i risultati del censimento federale della popolazione 1990. Locarno: A. Dadò. Osservatorio linguistico della Svizzera italiana. Bianconi, Sandro / Gianocca, Cristina (1994). Plurilinguismo nella Svizzera italiana. Le lingue nella Svizzera italiana secondo il censimento federale della popolazione del 1990. Bellinzona: Osservatorio linguistico della Svizzera italiana. Ufficio di statistica. 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Zuletzt sind die Abkürzungen der Schweizer Kantone genannt. Termini der traditionellen Grammatik zur Bezeichnung der Wortarten und Kategorien der Verben und Substantive sowie grundlegende phonetische Termini (wie Vokal oder Konsonant) sind hier nicht aufgenommen. Wir verweisen ausserdem auf linguistische Wörterbücher und einschlägige Internetquellen sowie auf die Tabelle des Internationalen Phonetischen Alphabets, s. https: / / commons.wikimedia. org/ w/ index.php? curid=92652779 Affrikate (Affrikata, affiziert, frz. affriqué ): Konsonant, der aus Verschlusslaut und an gleicher Artikulationsstelle gebildetem Frikativ besteht, z. B. [ ʧ ], wie in it. cento ‘ hundert ’ . affriqué: frz. für affriziert, s. Affrikate Akzent s. Wortakzent Allophon: Nicht bedeutungsunterscheidende, z. B. durch die Umgebung bestimmte Varianten eines Phonems, wie im Deutschen palatales / ç/ in ich (nach einem [i]) und velares [x] in ach (nach einem [a]). Alveolar: Mit der Zungenspitze am Zahndamm (Alveolen) oder dahinter (postalveolar) gebildeter Konsonant. Anlaut: Position eines Lauts am Anfang eines Wortes. antériorisation: frz. für Anteriorisierung, s. vordere/ hintere Vokale apikal: Mit der Zungenspitze (lat. apex linguae) gebildeter Konsonant. Approximant: dynamischer Reibelaut, bei dem es fast, aber nicht ganz zu einem Verschluss kommt, z. B. spanisch [ð] in [ ˈ deðo] ‘ Finger ’ . Arbitrarität: In der Linguistik wird von der Arbitrarität sprachlicher Zeichen (Wörter, Morpheme) ausgegangen, womit gemeint ist, dass man von der Form eines Ausdrucks nicht auf das Gemeinte schliessen kann und dieser Zusammenhang rein durch Konvention festgelegt ist. Insofern hat auch jede Sprache ihre eigenen Zeichen, z. B. dt. Tisch, frz. table. Unter den diskutierten Ausnahmen sind lautmalerische Elemente, bei denen die Lautung einen Bezug zu der gemeinten Sache aufweist. Ikonizität kann als Gegenbegriff zu Arbitrarität gebraucht werden. Hiermit ist gemeint, dass die Form eines sprachlichen <?page no="493"?> Ausdrucks auf das Gemeinte schliessen lässt, was in Gebärdensprachen häufiger der Fall ist ► Gebärdensprachen. Aspiration: Behauchung eines Konsonanten, wie beim standarddeutschen [p h ], z. B. im Wort Post. Asterisk: Nicht schriftlich belegte und nur erschlossene, d. h. rekonstruierte, Formen werden in der Sprachwissenschaft häufig mit einem sogenannten Asterisk * gekennzeichnet, der vor dieser Form, z. B. einem Wort oder Morphem (s. Morphem) steht, wie bei dem rekonstruierten indogermanischen Morphem *lei ̯ k ᵘ ̯ ‘ verlassen ’ . Auslaut: Position eines Lauts am Ende eines Wortes. Bolz: Gemischte Sprachform, die in der Stadtfreiburger Unterstadt entstanden ist und in einer französischbasierten und einer deutschbasierten Variante existiert. Das schweizerdeutsche Bolz zeichnet sich durch zahlreiche Entlehnungen aus dem Französischen und häufiges Code-Switching aus. Dental: Konsonant mit Verschluss-/ Engebildung im Bereich der Zähne, etwa [t] oder [s]. Diakritika: Zusatzzeichen, wie Striche, Häkchen oder Pünktchen, die zu einfachen Buchstaben hinzugesetzt werden, um zusätzliche Lautwerte, z. B. Vokallänge, zu bezeichnen oder Wörter zu unterscheiden, wie it. e ‘ und ’ , aber è ‘ ist ’ . Dieth-Schrift: Von dem Phonetiker Eugen Dieth 1938 (Schwyzertütschi Dialäktschrift) entwickeltes phonetisch orientiertes Schreibsystem zur Verschriftung schweizerdeutscher Dialekte unter Berücksichtigung der lokalen Charakteristika, aber ohne Sonderzeichen und in Anlehnung an die standardsprachliche Orthographie. Langvokale werden aber mit Doppelvokal verschriftet, z. B. huus [hu: s] ‘ Haus ’ . Das Schreibsystem sollte auch für Laien verständlich und verwendbar sein. Es wird bis heute, in einer überarbeiteten Form, die 1986 erschienen ist, in vielen Mundartpublikationen verwendet, auch für nahverwandte Dialekte wie das Liechtensteinische, ► Deutsch. Diglossie: Als Diglossie wird in der Linguistik eine Situation bezeichnet, bei der eine Sprachgemeinschaft über zwei Sprachvarietäten verfügt, die für relativ klar definierte, verschiedene Funktionen gebraucht werden. Als klassisches Beispiel wird hier die Deutschschweiz angeführt, in der mündlich der jeweilige Dialekt gebraucht wird, schriftlich dagegen Hochdeutsch. Ein weiteres Beispiel bilden die arabischsprachigen Länder, in denen das Hocharabische für die Schriftlichkeit reserviert ist. Diglossie wird von Situationen unterschieden, bei denen zwischen Dialekt und Standardsprache ein fliessender Übergang, ein Kontinuum, besteht. Diphthong: Vokal, der durch eine artikulatorische Bewegung während der Aussprache gekennzeichnet ist, z. B. vom tiefen a zum hohen i in [ai] wie im Wort heiss. Als steigend werden Diphthonge bezeichnet, bei denen die Bewegung von einem tieferen zu einem Glossar 457 <?page no="494"?> höheren Vokal geht, wie z. B. in [ei], als fallend diejenigen mit der umgekehrten Bewegung, wie z. B. [uo]. Von Diphthongierung (frz. diphthongaison) wird gesprochen, wenn sich aus einem Einzelvokal (Monophthong) ein Diphthong entwickelt, z. B. (vulgär) lat. ɔ in bonu > span. bueno. diphthongaison frz. für Diphthongierung, s. Diphthong enklitisch: s. Klitika Fortis: Konsonant, der mit starkem Luftdruck gebildet wird, im Gegensatz zu einem Leniskonsonanten, der mit schwachem Druck gesprochen wird. Zwischen Fortis und Lenis wird vor allem bei den Verschlusslauten unterschieden, zwischen starken stimmlosen p, t, k und ebenso stimmlosen schwachen b, d, g. Die oberdeutschen Dialekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei den Verschlusslauten zwischen Fortis und Lenis, und nicht zwischen stimmhaft und stimmlos, unterscheiden. Frikativ (Reibelaut): Konsonant, bei dessen Bildung die Atemluft durch eine Engebildung behindert wird, z. B. [f], [s]. Geistige Landesverteidigung: Bezeichnung für die in den 1930er Jahren erstarkte politisch-kulturelle Bewegung in der Schweiz, die von Behörden, Institutionen, Parteien und Kulturschaffenden bis in die 1960er Jahre hinein getragen wurde und mittels einer Stärkung als schweizerisch wahrgenommener Werte und Bräuche zur Abwehr v. a. des Nationalsozialismus und Faschismus sowie des Kommunismus beitragen wollte. Graphem: Terminus zur Bezeichnung einer minimalen Einheit des Schreibsystems, das normalerweise zur Unterscheidung von Lauten/ Phonemen (s. Phonem) dient. Grapheme werden zur Unterscheidung von Lauten manchmal in spitze Klammern gesetzt, z. B. <ä>. Ikonizität: s. Arbitrarität inchoativ: Eigenschaft eines Verbs, das, teilweise mithilfe eines Ableitungsmorphems, (ursprünglich) den Beginn eines Vorgangs oder Zustands zum Ausdruck bringt. Instrumental: Bezeichnung für eine Kasusform, die - teilweise gemeinsam mit einer Präposition - als Kernfunktion die Bedeutung ‘ mithilfe ’ oder ‘ zusammen mit ’ zum Ausdruck bringt. Der Instrumental ist Bestandteil des indogermanischen Formeninventars. intervokalisch: zwischen zwei Vokalen stehend, wie z. B. [s] in span. casa [ ˈ kasa] ‘ Haus ’ . Klitika: (kurze) Morpheme (s. Morphem), die sich ohne eigene Betonung enklitisch an ein vorhergehendes (enklitisch) oder an ein folgendes Wort (proklitisch) anhängen, z. B. die zürichdeutschen enklitischen Pronomina im Satz Säg-em-s! (Sag ihm es! ) 458 Glossar <?page no="495"?> Koiné: Aus der Bezeichnung für die allgemeine Verkehrssprache in altgriechischer Zeit übernommener Ausdruck für eine über den Basisdialekten stehende allgemeine Ausgleichssprache, die lokale Besonderheiten vermeidet. Konföderation: Die Bezeichnung Konföderation für die Schweiz, ursprünglich im Sinne eines Bundes freier Staaten, ist über die Gründung des Bundesstaates 1848 hinaus in Gebrauch geblieben (lat. Confoederatio Helvetica, vgl. auch das Landeskennzeichen CH, frz. Confédération suisse, it. Confederazione Svizzera, rom. Confederaziun svizra), um sich auf die Eidgenossenschaft als Gesamtheit zu beziehen. Kyrillisch: Das Kyrillische ist eine Alphabetschrift, deren Einzelbuchstaben grösstenteils dem byzantinisch-griechischen Alphabet nachgebildet sind. Es wird zur Verschriftung v. a. verschiedener süd- und ostslavischer Sprachen sowie weiterer Sprachen im Bereich der ehemaligen Sowjetunion (wie Kasachisch, Tadschikisch), mit jeweils eigenen Konventionen sowie besonderen Zeichen, verwendet. Die Bezeichnung ist vom Namen des so genannten Slavenmissionars Kyrill (9. Jh.) abgeleitet; die Schrift wurde aber nicht von ihm, sondern wahrscheinlich von einem seiner Schüler geschaffen. Labial: Konsonant mit Verschluss/ Engebildung im Bereich der Lippen. Labiovelar: Konsonant, bei dem ein Verschluss am harten Gaumen mit einer labialen Artikulation (im Bereich der Lippen) verbunden ist. Lenis s. Fortis Lia Rumantscha: 1919 als Dachgesellschaft aller romanischen Sprachvereine zur Interessensvertretung der Rätoromanischsprachigen in der Schweiz gegründet, s. https: / / www.liarumantscha.ch/ ► Rätoromanisch. Monophthongierung: Entwicklung eines Diphthongs (s. Diphthong) zu einem Monophthong, d. h. einem Konsonanten ohne artikulatorische Bewegung während der Lautbildung, z. B. mittelhochdeutsch [uo]/ [u ǝ ] in kuo ‘ Kuh ’ zu neuhochdeutsch langem [u: ] in [ku: ]. Morphem: Morpheme sind als kleinste bedeutungstragende Elemente einer Sprache definiert. Sie können in vielen Sprachen zu Wörtern verbunden werden und lexikalische oder grammatische Information tragen, z. B. dt. Lieder besteht aus den Morphemen Lied (lexikalisch) + er (grammatisch). Obstruent; Konsonant, der durch Enge- oder Verschlussbildung gekennzeichnet ist, Plosiv (s. Plosiv), Frikativ (s. Frikativ) oder Affrikate (s. Affrikate). offene / geschlossene Silbe: Eine Silbe nennt man offen, wenn sie beim Sprechen auf einen Vokal endet, und geschlossen, wenn sie auf Konsonant endet. Glossar 459 <?page no="496"?> offener / geschlossener Vokal: Mit grösserem oder kleinerem Kieferwinkel gebildeter Vokal, vgl. offenes / ɛ / und geschlossenes / e/ . okklusiv: s. plosiv Orthographie, flache: Orthographie meint die (institutionell) geregelte Schreibung der Wörter im Unterschied zu älteren Schreibsprachen, in denen die Schreibung variativ war und es keine verbindlichen Normen gab. Orthographien (Schriftsysteme) können nach der Art ihres Bezugs zum Gesprochenen als flach oder tief klassifiziert werden. Flache Orthographien zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Elemente (Grapheme) relativ direkt mit Phonemen korrespondieren, so etwa im Spanischen oder Bosnisch/ Kroatisch/ Serbischen. oxyton: Auf der letzten Silbe betont. palatal s. Palatalisierung Palatalisierung: Wird die Aussprache eines Lautes durch die Bewegung der Zunge nach vorne zum vorderen Gaumen (Palatum) hin verschoben, so spricht man von Palatalisierung. Eine solche Verschiebung der Artikulation, z. B. von [k] zum Palatalkonsonanten [ ʧ ] kann sowohl durch benachbarte Laute, z. B. vordere (palatale) Vokale (s. vordere / hintere Vokale), verursacht sein als auch spontan erfolgen. Die Palatalisierung hinterer (velarer) Konsonanten, wie [k] und [g], insbesondere vor vorderen Vokalen, ist für verschiedene romanische Sprachen typisch. Teilweise wird auch die Entwicklung von hinter den Zähnen artikuliertem [s] zu in Richtung auf den Gaumen verschobenem [ ʃ ] <sch>, wie sie das Alemannische kennzeichnet (geschter ‘ gestern ’ ), als Palatalisierung bezeichnet. Unter die palatalen Konsonanten wird auch [j] eingereiht. paroxyton: Auf der vorletzten Silbe betont. Periphrase: Wenn eine grammatische Funktion statt mit einer Flexionsendung mithilfe eines zusätzlichen Hilfsverbs ausgedrückt wird, wie z. B. das Perfekt mit haben (sie hat gelesen vs. sie las) spricht man von einer Periphrase oder periphrastischen Konstruktion. periphrastisch s. Periphrase Phonem: die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer Sprache (Laute). Sie werden zur Kennzeichnung zwischen Schrägstriche gesetzt, z. B. dt. / p/ gegenüber / b/ in / pain/ <Pein> gegenüber / bain/ <Bein>. Laute, bei denen nichts explizit über den Phonemstatus gesagt wird, werden dagegen in eckige Klammern gestellt, z. B. [b]. phonotaktisch: Die Abfolge oder Kombinatorik von Lauten betreffend. Plosiv (Okklusiv, Verschlusslaut): Konsonant, bei dessen Bildung ein kurzzeitiger Verschluss den Austritt der Atemluft verhindert, z. B. [b], [p]. 460 Glossar <?page no="497"?> postalveolar s. Alveolar Reibelaut s. Frikativ Rumantschia: Auch im Deutschschweizer Sprachgebrauch übliche romanische Bezeichnung für die Gemeinschaft der rätoromanischsprachigen Bevölkerung in der Schweiz. Schwa: Bezeichnung für einen zentralen Vokal, der in der phonetischen Umschrift mit [ ə ] wiedergegeben wird. Im Deutschen erscheint der Vokal an unbetonter Position, wie am Ende des Wortes Sprache [ ˈʃ pra: x ə ]. Sibilant (Zischlaut): Untergruppe der Frikative, zu der das am harten Gaumen gebildete [s] gehört. Standarddeutsch: Als Standardsprache versteht man in der Linguistik eine allgemein verbindliche Sprachform. Standarddeutsch ist die geschriebene Form des Deutschen, die anders als in Deutschland in der Schweiz nur in wenigen Situationen auch gesprochen wird. In der Schweiz wird auch der Terminus Schriftdeutsch, neben Hochdeutsch, verwendet. steigende und fallende Diphthonge: s. Diphthong stimmhaft: Bezeichnung der Art eines mit schwingenden Stimmlippen gebildeten Konsonanten, z. B. [z], wie in standarddeutsch [ ˈ z ɔ n ə ] ‘ Sonne ’ . stimmlos: Bezeichnung der Art eines ohne Beteiligung der Stimmlippen (ohne Vibration) gebildeten Konsonanten, z. B. [x] wie in Sprache [ ˈʃ pra: x ə ]. Substrat: Bei einem Sprachwechsel, z. B. vom Frankoprovenzalischen zum Französischen oder vom Rätoromanischen zum Deutschen, wird die untergegangene Sprache als Substratsprache bezeichnet. Oft bleiben in der neu erlernten Sprache noch gewisse Eigenschaften aus der Substratsprache erhalten. Suffix: Suffixe sind bedeutungstragende Elemente (s. Morphem), die in flektierenden Sprachen, wie den indogermanischen, hinter einen Wortstamm angefügt werden, z. B. das Diminutivsuffix -li im Schweizerdeutschen. syllabe libre / fermée frz. für offene / geschlossene Silbe Synkope, synkopiert s. Vokalsynkope Synograph: Analog zu “ Synonym ” wertgleiche Grapheme wie span. <b> und <v>, deren lautlicher Wert identisch ist. Glossar 461 <?page no="498"?> Velar: Konsonant mit Verschluss/ Engebildung am weichen Gaumen (Velum). Hintere Vokale, wie [o] und [u], werden auch velare Vokale genannt, die Verschiebung des Artikulationsraums nach hinten Velarisierung. vélarisation: frz. “ Velarisierung ” , s. Velar. Vokalsynkope: Reduktion von Vokalen, etwa in gesprochenem Deutsch: Interesse > Intresse. vordere / hintere Vokale: Die Qualität von Vokalen wird nach der Zungenposition bestimmt. Bei Vorderzungenlauten, wie [i] und [e], ist die Zunge im vorderen Mundraum angehoben, bei Hinterzungenlauten, wie [u] und [o] im hinteren Mundraum. Anteriorisation (frz. antériorisation) meint Verschiebung der Artikulation nach vorne, z. B. von [a] nach [ ɛ ], Velarisierung (frz. vélarisation) Verschiebung nach hinten, z. B. von [a] nach [ ɔ ]. Walser: Bezeichnung der im Hochmittelalter aus dem Oberwallis nach Süden (jenseits des Monte Rosa) und Osten (bis nach Tirol) ausgewanderten alemannischen Siedler, die sich in der Regel in Hochtälern isoliert von der meist romanischen Umgebung der Milch- und Viehwirtschaft widmeten. Die mitgebrachten Walserdialekte haben sich mehr oder weniger gut bis heute mit entsprechenden sprachlichen Merkmalen erhalten. In der Schweiz finden sich Walsersiedlungen v. a. in Graubünden sowie Bosco Gurin im Tessin. Die Südwalser Siedlungen Italiens liegen in den Regionen Piemont und Aostatal. Wortakzent: Hervorhebung einer Silbe in einem mehrsilbigen Wort mit verschiedenen phonetischen Mitteln. Kürzel der Schweizer Kantone (und Halbkantone) AG Aargau AI Appenzell Innerrhoden AR Appenzell Ausserrhoden BE Bern / Berne BL Basel-Landschaft BS Basel-Stadt FR Freiburg / Fribourg GE Genève / Genf GL Glarus GR Graubünden / Grischun / Grigioni JU Jura LU Luzern NE Neuchâtel / Neuenburg NW Nidwalden OW Obwalden SG St. Gallen SH Schaffhausen SO Solothurn SZ Schwyz TG Thurgau TI Ticino / Tessin UR Uri VD Vaud / Waadt VS Valais / Wallis ZG Zug ZH Zürich 462 Glossar <?page no="499"?> ISBN 978-3-381-10401-7 Das vorliegende Handbuch bietet eine umfassende Darstellung der Vielfalt der in der Schweiz bis in jüngste Zeit mündlich und schriftlich verwendeten Sprachen und Dialekte und der räumlichen und sozialen Bedingtheit ihres Auftretens. Es bezieht sich nicht ausschliesslich auf die Schweiz als viersprachiges Land, sondern geht neue Wege, indem es darüber hinaus das Englische sowie Sprachen berücksichtigt, deren heutige Präsenz in der Schweiz auf Migration beruht. Auch historische Sprachen und Dialekte, die in der Schweiz und im liechtensteinischen Sprachraum gesprochen werden, sowie die drei Schweizer Gebärdensprachen werden behandelt. Mit Ausblicken über die Schweiz hinaus bietet das Handbuch eine erweiterte Perspektive auf die Räume, die die Sprachen der Schweiz einnehmen. So wird das traditionelle Verständnis von Vielsprachigkeit um neue Aspekte und aktuelle Entwicklungen ergänzt.
