Flucht vor dem Krieg
Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg
1127
2023
978-3-3811-0512-0
978-3-3811-0511-3
UVK Verlag
Peter Pirker
Ingrid Böhler
10.24053/9783381105120
Vorarlberg war im Zweiten Weltkrieg ein Hotspot der Desertion von Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS aus dem gesamten Deutschen Reich. Die vermeintlich leicht zu überwindende Grenze zur Schweiz lockte Hunderte kriegsmüde Soldaten in das Montafon, an den oberen Rhein und den Bodensee. Das Buch dokumentiert neben gelungenen Fluchten die Verfolgung durch die zivile Sonderjustiz und die Militärjustiz, Solidarität und Denunziation von Seiten der Bevölkerung sowie den Nachkriegsumgang mit den ungehorsamen Soldaten und ihren Helfer:innen durch die österreichischen Sozial- und Justizbehörden. Neben einer Gesamtdarstellung zu Wegen und Bedingungen der Flucht, zur Identität der Deserteure und zur Aufnahme in der Schweiz analysieren Fallstudien tiefergehend die Entscheidungen von Deserteuren und ihren Helfer:innen, von Richtern und Polizisten und beleuchten besondere Schauplätze des Phänomens. Abgerundet wird der Band mit zahlreichen historischen und aktuellen Fotos.
<?page no="0"?> Peter Pirker / Ingrid Böhler (Hrsg.) Flucht vor dem Krieg Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg <?page no="1"?> Flucht vor dem Krieg <?page no="2"?> Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs Herausgegeben vom Vorarlberger Landesarchiv Band 15 (N.F.) <?page no="3"?> Peter Pirker / Ingrid Böhler (Hrsg.) Flucht vor dem Krieg Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783381105120 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0949-4103 ISBN 978-3-381-10511-3 (Print) ISBN 978-3-381-10512-0 (ePDF) ISBN 978-3-381-10513-7 (ePub) Titelbild: Das Bruggerloch bei Höchst; © Miro Kuzmanovic Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gefördert durch das Land Vorarlberg www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 19 175 237 275 303 331 347 359 361 373 Inhalt Peter Pirker / Ingrid Böhler Zur Erforschung des (transnationalen) Desertionsgeschehens in einer Grenzregion. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Pirker Flucht vor dem Krieg. Deserteure der Wehrmacht in der Grenzregion Vorarlberg . . . . Anhang - 55 Todesfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Pirker / Aaron Salzmann Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch. Beschuldigte, Gerichtspersonal, Spruchpraxis, Handlungsspielräume und ein knapper transregionaler Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Isabella Greber / Peter Pirker Krumbach. Varianten der Wehrdienstentziehung und Handlungsspielräume in einem Dorf im Bregenzerwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nikolaus Hagen „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“. Der Fall der Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lydia Maria Arantes / Erika Moser Geschichte(n) mit sich tragen und überwinden. Ein intergenerationaler Dialog über den Umgang mit Kriegsleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Publikationsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> An der Grenze südlich der Rheinbrücke zwischen Lustenau und Höchst (Brugger Horn), Blick auf die Eisenbahnbrücke zwischen Lustenau und St. Margarethen. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="7"?> Streuzettel der transnationalen Widerstandsorganisation Patria. Quelle: Bundesarchiv Bern. <?page no="8"?> Zollamt Schmitter-Brücke, Lustenau. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="9"?> Freischwimmbad Rheinauen, Hohenems. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="10"?> Auf dem Röhrenkanal, Lustenau. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="11"?> 1 URL: http: / / www.widerstandsmahnmal-bregenz.at/ . Zur Erforschung des (transnationalen) Desertionsgeschehens in einer Grenzregion Eine Einleitung Peter Pirker / Ingrid Böhler Seit 2015 erinnert am Sparkassenplatz in Bregenz ein Mahnmal an Vorarlbergerinnen und Vorarlberger, die gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime Widerstand geleistet haben. 1 Wir wissen, dass diese Menschen aus unterschiedlichen Motiven, auf unterschied‐ liche Weise und mit unterschiedlichen Konsequenzen für sich oder ihre Angehörigen handelten. Ihnen allen ist aber gemeinsam, dass sie während der NS-Herrschaft an einen Punkt gelangten, an dem sie Gehorsam und Gefolgschaft aktiv verweigerten und dafür ein großes Risiko in Kauf nahmen. In einer Endlosschleife präsentiert das Mahnmal abwechselnd die Namen von hundert exemplarisch ausgewählten Personen. Unter ihnen finden sich auch Wehrdienstverweigerer und Deserteure. Das vorliegende Buch rückt diese Gruppe in den Mittelpunkt. Es widmet sich Männern (und ihren Helfer*innen), deren persönliche Entscheidung, ihre Pflicht als Soldat nicht (mehr) erfüllen zu wollen, zugleich eine politische war: Sie wiesen mit diesem Schritt nicht nur die Autorität eines totalitären Regimes zurück, sondern lösten sich aus einem Angriffs- und Eroberungskrieg, den Hitler-Deutschland vor allem im Osten und am Balkan als Vernichtungskrieg führte. Die österreichische Nachkriegsgesellschaft - eine Gesellschaft der Veteranen der Wehrmacht, in der Deserteure, deren Angehörige und Helfer*innen eine kleine Minderheit bildeten - sah dies nicht so. Am deutlichsten trat die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Desertion im Bereich der Opferfürsorge zutage. Meistens lehnten die Behörden Anträge auf staatliche Entschädigung für Haftzeiten oder etwa die Unterstützung von Hinterbliebenen mit der Begründung ab, dass lediglich private, keine politischen Gründe nachweisbar seien. Erst 2009, und damit sieben Jahre nach der Bundesrepublik Deutschland, beschloss das Parlament der Republik Österreich ein Gesetz zur generellen Rehabilitierung und Anerkennung von Wehrmachtsdeserteuren und anderen von der NS-Militärjustiz verfolgten Personen als Opfer von NS-Unrecht. Nach jahrzehntelanger negativer Bewertung würdigte es insbesondere damalige Entziehungs- <?page no="12"?> 2 Hannes Metzler, Nicht länger ehrlos. Die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in Österreich, in: Peter Pirker/ Florian Wenninger (Hg.), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2011, 255-274; Peter Pirker/ Johannes Kramer, From Traitors to Role Models? Rehabilitation and Memorialization of Wehrmacht Deserters in Austria, in: Eleonora Narvselius/ Gelinada Grinchenko (Hg.), Traitors, Collaborators and Deserters in Contemporary European Politics of Memory. Formulas of Betrayal, Basingstoke 2018, 59-85. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Rehabilitierungsgesetz, der mit einer Entschließung des Nationalrats auf Initiative der Grünen 1999 eingeleitet worden war, bildete 2005 die gesetzliche Einbeziehung von Verfolgten der Wehrmachtsjustiz in die Opferfürsorge, die allerdings für die meisten potenziell Anspruchsberechtigten zu spät kam. 3 Vgl. etwa Manfred Messerschmidt/ Fritz Wüllner, Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalso‐ zialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987; Norbert Haase/ Gerhard Paul (Hg.), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt/ Main 1995; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933-1945, Pader‐ born 2005. 4 Vgl. Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädi‐ gungspolitik in Österreich, Wien 2003; Maria Fritsche, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien/ Köln/ Weimar 2004. 5 Vgl. die Beiträge in Thomas Geldmacher et al. (Hg.), „Da machen wir nicht mehr mit …“. Österrei‐ chische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010. 6 Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945, Bregenz 1985. 7 Hanno Platzgummer et al. (Hg.), „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist…“. Vorarlberger vor den Gerichten der Wehrmacht, Dornbirn 2011. 8 Unser Vorarlberg - chancenreich & nachhaltig, Arbeitsprogramm 2019-2024, 76. und Verratsdelikte als positiven Beitrag zur Niederlage der Wehrmacht und damit zur Befreiung vom Nationalsozialismus. 2 Das letztlich erfolgreiche Einfordern dieser geschichtspolitischen und juristischen Kor‐ rekturen verdankte sich neben anderen Faktoren auch einem Ende der 1980er-Jahre einsetzenden Interesse der militärgeschichtlichen Weltkriegsforschung für abweichendes, ungehorsames bis widerständiges Handeln von Soldaten und die Verfolgungspraxis von Kriegsgerichten und ziviler Sonderjustiz. 3 Im Jahr 2003 erschien im Auftrag des Nationalrats die erste Studie auf einer breiteren empirischen Grundlage zu Österreich. 4 Die bundespo‐ litische Debatte regte auch auf regionaler Ebene eine neue Beschäftigung mit Desertion, Kriegsdienstverweigerung und Wehrkraftzersetzung an, 5 die in Vorarlberg auf frühere regionalhistorische Arbeiten und Initiativen insbesondere der Johann-August-Malin-Ge‐ sellschaft aufbauen konnte. 6 Das Stadtmuseum Dornbirn zeigte 2011 in Kooperation mit der Johann-August-Malin-Gesellschaft, dem Katholischen Bildungswerk und erinnern.at die Wanderausstellung „‚Was damals Recht war…‘ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“, zu der auch ein Begleitband erschien. 7 Im Jahr 2015 wurde mit Mitteln des Landes Vorarlberg, des Vorarlberger Gemeindeverbandes und der Landeshauptstadt Bregenz das eingangs erwähnte Mahnmal für Widerstandskämpfer*innen und Deserteure enthüllt. Die Koalition aus ÖVP und Grünen vereinbarte in ihrem Regierungsprogramm für die Legislaturperiode 2019-2024, den Weg der Auseinandersetzung mit der NS-Ge‐ schichte fortzusetzen. In diesem Kontext kam auch das Forschungsprojekt „Deserteure der Wehrmacht. Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“ zustande, dessen Ergebnisse in diesem Band präsentiert werden. 8 Es bedurfte aber noch weiterer günstiger Umstände, die dazu führten, dass der Versuch unternommen werden konnte, das Desertionsgeschehen in Vorarlberg nicht nur erstmals 12 Peter Pirker / Ingrid Böhler <?page no="13"?> 9 Projektdurchführung: Johannes Kramer. 10 Benedikt Erhard/ Dirk Rupnow/ Ingo Schneider, Förderschwerpunkt Erinnerungskultur: Genese - Ziele -Ausblick, in: Beirat des Förderschwerpunkts Erinnerungskultur (Hg.), Vom Wert des Erinnerns. Wissenschaftliche Projekte der Förderperiode 2014 bis 2018 (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 22), Innsbruck 2020, 9-20. 11 An dieser Stelle sei den Direktoren der Landesarchive Christoph Haidacher (Tirol) und Ulrich Nachbaur (Vorarlberg) sowie Direktorin Christine Roilo (Südtirol) für die gute Zusammenarbeit herzlich gedankt. systematisch zu untersuchen, sondern auch eingebettet in einen interregionalen Vergleich im Überblick darzustellen. Im Herbst 2019 war am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck ein gleichlautendes Projekt zu Tirol, finanziert durch das Land Tirol und die Stadt Innsbruck, in Angriff genommen worden. Ein weiteres zu Südtirol, finanziert durch die Autonome Provinz Bozen - Südtirol, hatte gleichzeitig am Südtiroler Landesarchiv begonnen. 9 Die Anbahnung und Bewilligung beider Projekte war über den Beirat des Förderschwerpunkts Erinnerungskultur erfolgt, den die Tiroler Landesregierung 2013 als Impuls für eine Auseinandersetzung mit bislang vernachlässigten Kapiteln der Geschichte Tirols im 20. Jahrhundert mit einem Fokus auf den Nationalsozialismus eingerichtet hatte. 10 In enger Abstimmung mit dem Vorarlberger Landesarchiv bewilligte Anfang 2020 nun auch das Land Vorarlberg Mittel und beauftragte das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, das bereits laufende Projekt zu Nordtirol auf Vorarlberg zu erweitern. 11 Der historische Untersuchungsraum der drei Teilprojekte umfasste somit den Reichsgau Tirol und Vorarlberg, das 1938 an den Reichsgau Kärnten angeschlossene Osttirol und die italienische Provinz Bolzano/ Bozen im größeren Kontext des Wehrkreises XVIII und der hier aufgestellten Truppenverbände. In inhaltlicher Hinsicht wurde der Anspruch formuliert, dass sich das Augenmerk, anders als bei den meisten früheren Arbeiten, nicht mehr nur auf das Opferwerden von Soldaten durch die Militärjustiz richten solle. Die Forschungsagenda gliederte sich daher in vier Bereiche: Erstens das Handeln von Wehrpflichtigen, die sich der Einberufung entzogen, bzw. von Wehrmachtssoldaten, die sich unerlaubt von ihren Truppen entfernten (Entziehungsformen), zweitens die Gegen‐ maßnahmen militärischer und ziviler staatlicher Institutionen (Verfolgung), drittens die Ermöglichung von Fluchten von Wehrpflichtigen und Soldaten (Solidarität) und viertens der Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit diesem Personenkreis und den Zivilist*innen, die ihnen geholfen hatten. In den vergangenen vier Jahren wurden für den Projektverbund - unter nicht ganz einfachen Bedingungen aufgrund der Corona-Pandemie - Archivrecherchen durchgeführt und große Quellenbestände zum Teil erstmals systematisch gesichtet, in Vorarlberg etwa die Strafakten des Sondergerichts Feldkirch und die Akten der Opferfürsorge. Rückgrat der Forschungsprojekte war der Aufbau einer gemeinsamen Datenbank mit strukturierten Informationen, welche den erschlossenen Quellen entstammen, um quantitative Auswer‐ tungen zu ermöglichen, aber auch um Daten für qualitative Analysen aufzubereiten und effizient zu verknüpfen. Parallel dazu erfolgten weiter ins Detail gehende Erhebungen bei besonders aussagekräftigen Fallbeispielen. Und nicht zuletzt ergänzten zusätzlich gewonnene Informationen, die sich dem Kontakt zu Angehörigen von Deserteuren und Zur Erforschung des (transnationalen) Desertionsgeschehens in einer Grenzregion 13 <?page no="14"?> Helfer*innen von Deserteuren verdanken, die sich infolge von Medienberichten über das Projekt meldeten, den Quellenfundus. Die vorliegende Publikation verbindet nun alle auf Vorarlberg bezogenen Ergebnisse und Erkenntnisse zu einer Synthese. Ziel war es von Anfang an, das Thema sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht auszuleuchten und neben der Darstellung und Analyse der für das Gesamtbild relevanten Merkmale auch vertiefende Einblicke zu gewähren. Als Desertionsgeschehen verstehen wir nicht bloß das Agieren entflohener Soldaten, sondern erfassen damit ebenso das Handeln der Verfolgungsbehörden und ihrer Informant*innen sowie vor allem jenes von Helfer*innen der Deserteure in ihrem sozialen Kontext. Im Buch werden dementsprechend unterschiedliche Perspektiven involvierter Akteur*innen vorgestellt und analysiert. Der umfangreiche Eröffnungsbeitrag von Peter Pirker arbeitet auf Basis von rund 650 gefundenen Fällen von Desertion und Verweigerung, begangen von Soldaten aus bzw. in Vorarlberg, zunächst den Kontext und die Eckpunkte des Phänomens heraus. Dabei wird dessen Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit ebenso deutlich, wie einige aussagekräftige Muster zutage treten. Sie betreffen unter anderem das Sozialprofil von Deserteuren, ihre Herkunft, den Zeitpunkt der Flucht, die Fluchtrichtungen, die Kriegserfahrungen und schließlich politische und soziale Bedingungen, die in einigen Gemeinden Vorarlbergs Fluchten aus der Wehrmacht und die Bildung von Widerstandsgruppen begünstigten. Der Fund bislang verschollen geglaubter Gerichtsakte ermöglichte in diesem Kontext erstmals eine genauere quellenbasierte Darstellung der dramatischen Geschichte der De‐ serteursgruppe in Sonntag im Großen Walsertal und ihrer Verfolgung durch Gendarmerie, Gestapo, das Reichskriegsgericht in Torgau und das Sondergericht Feldkirch. Kurz vor Drucklegung dieses Buches wurde auch der verlegte Akt des Reichskriegsgerichts im Voralberger Landesarchiv entdeckt. Er bietet weitere Einblicke, an den Grundaussagen ändert sich aber nichts. Wie der interregionale Vergleich offenbart, war für das Geschehen in Vorarlberg außerdem die Grenze zur neutralen, Sicherheit verheißenden Schweiz von enormer Bedeutung - hier kommt auch der Aspekt der häufig von Frauen geleisteten Fluchthilfe ins Spiel. Abschließend zeigt der Beitrag auf Basis von Interviews mit Angehö‐ rigen das positive Vermächtnis, das Deserteure in manchen Familien hinterlassen haben. Zentrale und betroffen machende Ergebnisse des Forschungsprojekts enthält der Anhang: Eine Zusammenstellung von 55 Kurzbiografien erinnert an diejenigen Männer, für die der Versuch, sich dem Dienst in der Wehrmacht zu entziehen, tödlich endete und die entweder aus Vorarlberg kamen oder deren Fahnenflucht hier endete. Zu den Umständen, die das behördliche Agieren bestimmten, zählten die Kontinuitäten, die - trotz des offiziell vollzogenen Bruchs - aus der NS-Zeit in das demokratische Österreich hinüberreichten. Die Zweite Republik übernahm in den Bereichen von Justiz, Polizei und Militär einen nicht geringen Teil des Personals aus dem Beamtenapparat des Dritten Reichs. Dadurch stieß die Ansicht, dass die polizeiliche und juristische Verfolgung von Fahnenflüchtigen grundsätzlich legitim gewesen war, kaum auf Widerspruch. Nicht weiter verwunderlich, wenn auch noch im Nachhinein verstörend, sind daher die Beispiele für nach 1945 nahezu nahtlos fortgesetzte Juristenkarrieren, die sich im zweiten, von Peter Pirker und Aaron Salzmann gemeinsam verfassten Beitrag finden. Dessen eigentliches Thema bilden jedoch Wehrdienstentziehungen im Spiegel der Akten des Sondergerichts 14 Peter Pirker / Ingrid Böhler <?page no="15"?> Feldkirch. Für das Nachzeichnen der regionalen Geschehnisse besitzt dieser Bestand be‐ sondere Relevanz, denn neben den Militärgerichten, die Delikte von bereits zur Wehrmacht Eingezogenen ahndeten, fielen in die Zuständigkeit der zivilen Sondergerichte Männer, die vor oder nach der Musterung zu flüchten versuchten, und Personen, darunter viele Frauen, denen vorgeworfen wurde, in irgendeiner Form Deserteuren geholfen zu haben. Häufig entschlossen sich Wehrmachtsangehörige nach einem Heimaturlaub, nicht mehr zu ihrer Einheit zurückzukehren und fast immer benötigten sie, um den Entschluss in die Tat umsetzen zu können, Unterstützung. Dies wussten auch die ermittelnden Behörden. Häufiger als mit Hilfsdelikten beschäftigte sich das Sondergericht Feldkirch jedoch mit Stellungspflichtigen, worin es sich markant vom Sondergericht Innsbruck unterschied. Signifikant ist darüber hinaus, dass in dieser Gruppe Einheimische eine Minderheit bildeten. Der Großteil war auf der Flucht vor der Uniform nach Vorarlberg gereist und beim Versuch, die Staatsgrenze in die Schweiz zu überwinden, festgenommen worden. Isabella Greber und Peter Pirker nehmen im dritten Beitrag ein Dorf in den Blick. Die katholisch-bäuerlich geprägte Gemeinde Krumbach verzeichnete eine bemerkenswert hohe Zahl von Wehrdienstverweigerungen und anderen Versuchen, sich dem Kriegsdienst zu entziehen; darüber hinaus organisierten untergetauchte Soldaten Anfang Mai 1945 auch Widerstandsaktionen gegen die SS. Die Mikrostudie zeigt, dass das nonkonforme Handeln der Wehrpflichtigen einerseits von der Solidarität ihres sozialen Umfelds abhängig war, andererseits aber auch vom ambivalenten Verhalten einzelner Funktionsträger des NS- Staates auf regionaler und lokaler Ebene begünstigt wurde. Der „Fall“ Krumbach ist auch deshalb interessant, weil die Deserteure aus angesehenen Familien stammten. Der Erklärungsansatz, wonach Randständigkeit als Sozialisationserfahrung normabwei‐ chendes Verhalten wahrscheinlicher mache, greift dagegen im vorletzten, von Nikolaus Hagen verfassten Beitrag. Im Mittelpunkt steht die Flucht dreier Brüder, die ebenfalls im Bregenzerwald in Vorarlberg aufgewachsen waren, über die Berge in die neutrale Schweiz. Hagen räumt der Besitz- und Wurzellosigkeit der jungen Männer für ihren Entschluss zur Desertion ein entscheidendes Gewicht ein, führt aber genauso situative Dynamiken, inner‐ familiären Zusammenhalt und nicht zuletzt einschlägige lebensgefährliche Erfahrungen an der Ostfront ins Treffen. Um Familie, aber dieses Mal aus der subjektiven Perspektive, geht es auch im letzten Beitrag des Buchs. Delphina Burtscher aus Sonntag im Großen Walsertal verlor den Vater ihres ersten Kindes und ihren Bruder, die beide als Deserteure hingerichtet wurden; sie selber erhielt, weil sie deren Fahnenflucht unterstützt hatte, eine Zuchthausstrafe. Auch andere Mitglieder der Familie waren schweren Repressalien ausgesetzt. Lydia Arantes und Erika Moser, Enkeltocher und Tochter von Delphina, reflektieren deren erstaunliche Gabe, trotz des im Krieg zugemuteten Leids voller Zuversicht weiterzuleben. Abschließend bleibt noch zu danken: Zuallererst Ulrich Nachbaur und seinem Team im Vorarlberger Landesarchiv für das dem Projekt entgegengebrachte Wohlwollen und Interesse sowie die fachkundige Unterstützung, die bestimmt nicht wenig Zeit in An‐ spruch genommen hat. Hinweise und Material stellten dankenswerterweise lokale Museen und Archive zur Verfügung, namentlich die Montafon Museen, das Jüdische Museum Hohenems, die Stadtarchive von Bregenz, Dornbirn, Feldkirch und Bludenz, das Bregen‐ zerwald Archiv, die Gemeindearchive von Lustenau und Nüziders. Allen kontaktierten Zur Erforschung des (transnationalen) Desertionsgeschehens in einer Grenzregion 15 <?page no="16"?> 12 Die Ergebnisse der Konferenz wurden unlängst publiziert: Kerstin von Lingen/ Peter Pirker (Hg.), Deserteure der Wehrmacht und der Waffen-SS. Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung, Pader‐ born 2023. Archivar*innen gebührt Anerkennung für ihre verdienstvolle Arbeit. Ganz besonders zu danken haben wir Nachkommen von Betroffenen für das uns entgegengebrachte Vertrauen. Mitarbeiter*innen der Meldeämter von Vorarlberger Gemeinden haben mit Auskünften rasch und unkompliziert geholfen. Im Tiroler Landesarchiv waren Martin Ager und Christoph Penz kompetente Ansprechpartner, im Österreichischen Staatsarchiv gebührt Roman Eccher Dank, ebenso dessen Generaldirektor Helmut Wohnout, der für eine Forscherkabine gesorgt und damit das Weiterarbeiten am Projekt trotz Corona- Containment entscheidend erleichtert hat. Ohne die fleißige und gewissenhafte Mitarbeit von Aaron Salzmann und Simon Urban an der Datenerhebung in verschiedenen Archiven wäre es nicht möglich gewesen, tausende Akte durchzusehen und auszuwerten. Aaron Salzmann war außerdem an der Organisation der internationalen Konferenz „Deserteure der Wehrmacht. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und (digitaler) Gedächtnisbildung“ und der Vermittlung von Forschungsergebnissen beteiligt. 12 Bei Isabella Greber und Nikolaus Hagen, die im Rahmen des Projekts Fallstudien zu Vorarlberg übernommen haben, möchten wir uns für die ausgezeichnete kollegiale Zusam‐ menarbeit herzlich bedanken, ebenso bei Brigitte Haidler und Sylvia Eller im Sekretariat des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Für wertvolle Unterstützung und Hinweise danken wir außerdem Markus Barnay, Hannes Metzler, Werner Bundschuh und Meinrad Pichler. Last but not least sei den Mitgliedern des Beirats des Förderschwerpunkts Erinnerungskultur des Landes Tirol für die produktiven Diskussionen und Rückmeldungen gedankt. Im Buch sind Fotografien von Flucht- und Zufluchtsorten von Deserteuren zu finden, die der Fotograf Miro Kuzmanovic im Jahr 2022/ 23 aufgenommen hat. Sie zeigen Schauplätze historischen Geschehens im Hier und Jetzt - sie sind neben der Dokumentation von Landschaften der Flucht und des Widerstands Erinnerungen daran, dass die Geschichte der Emanzipation aus repressiven und lebensfeindlichen Systemen weitergeht. Die Bilder sind im Rahmen des Projekts „Flucht- und Zufluchtsorte von Wehrmachtsdeserteuren“ entstanden. Das Projekt wurde vom Zukunftsfonds und vom Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus gefördert. Dafür bedanken wir uns herzlich. Die Fotografien sind mit Texten versehen auch im gleichnamigen Fotoblog online abrufbar (https: / / www.uibk.ac.at/ zeitgeschichte/ flucht-und-zufluchtsorte-von-wehrmach tsdeserteuren/ ). 16 Peter Pirker / Ingrid Böhler <?page no="17"?> Maisäß Tanafreida, St. Gallenkirch, Montafon. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="18"?> Gargellen Tschagguns Schruns Silbertal Bartholomäberg St. Anton i. M. Lorüns Stallehr Brand Bürs Bludenz Nüziders Thüringen Thüringerberg St. Gerold Sonntag Lech Nenzing Schnifis Satteins Frastanz Feldkirch Laterns Rankweil Röthis Fraxern Koblach Götzis Mäder Hohenems Bezau Andelsbuch Schwarzenberg Egg Sibratsgfäll Hittisau Lingenau Alberschwende Dornbirn Lustenau Gaißau Höchst Fußach Hard Lauterach Schwarzach Wolfurt Kennelbach Bregenz Langenegg Krumbach Doren Langen Riefensberg Hörbranz Hohenweiler St. Gallenkirch Langen 20 und mehr 10 bis 19 5 bis 9 2 bis 4 1 Anzahl der Deserteure und Wehrdienstentzieher Herkunft von Deserteuren aus Vorarlberg. Grafik: Mathias Breit. <?page no="19"?> Flucht vor dem Krieg Deserteure der Wehrmacht in der Grenzregion Vorarlberg Peter Pirker I. Einleitung 21 - II. Rahmenbedingungen 24 - 2.1 Vorarlberg als Teil des Wehrkreises XVIII 24 2.2 Erfassung, Musterung, Stellung 26 2.3 Entziehungshandlungen im Militärstrafrecht 27 2.4 Das Soldatenbild der Wehrmacht und seine Traditionsbezüge 31 2.5 Die Behandlung von Militärflüchtlingen durch die Schweiz und Schweden 34 2.6 Quellen 37 - III. Wehrdienstentziehungen und Desertionen mit Bezug zu Vorarlberg 40 - 3.1 Wer ist ein Deserteur? 40 3.2 Entziehungsformen und Herkunft 43 3.2.1 Vorarlberger Akteure 45 3.2.2 Ortsfremde Akteure 49 - IV. Deserteure und Wehrdienstentzieher aus Vorarlberg 53 - 4.1 Sozialprofil 53 4.2 „Genug vom Krieg“ - Kriegsablehnung, Kriegserfahrung, Kriegsflucht 55 -- V. Fluchtbewegungen 64 - 5.1 Nach Schweden und in die Schweiz 64 <?page no="20"?> 5.2 Nicht-heimische Soldaten in der Fluchttransitzone Vorarlberg 73 5.3 Andere Wege: Tirol, Partisanen, besetzte Gebiete 77 5.4 Deserteursgemeinden: Sozioökonomische und politische Erfahrungsräume 80 5.4.1 Sozioökonomische Bedingungen 80 5.4.2 Avantgardisten der Illegalität 82 5.4.3 Politische Erfahrungen im Dorf und in der Familie 85 5.4.4 Erfahrung mit lokalem Verfolgungsdruck 89 5.4.5 Von widerständigem Entziehen zu aktivem Widerstand 92 5.5 „Kehrt um die Flinten, der Feind steht hinten“ - Im transnationalen Wider‐ stand 101 -- VI. Polizeiliche, außergerichtliche und juristische Verfolgung 106 - 6.1 „Er soll nicht mehr in den Krieg gehen“ - Gestapo-Einvernahmen 106 6.2 Außerjuristische Verfolgung: Züge von Sippenhaft, rassistische Sonderbe‐ strafung 114 6.3 Deserteure vor Gericht 117 6.3.1 Vor dem Reichskriegsgericht - Die Dämonisierung des Deserteurs Wilhelm Burtscher 117 6.3.2 Deserteure und Wehrdienstverweigerer vor Standort- und Divisionsge‐ richten 121 -- VII. Deserteure und Wehrdienstverweigerer im Nachkrieg 130 - 7.1 Nachkriegsjustiz 131 7.1.1 Die Aufhebung von Urteilen gegen Deserteure und Helfer*innen 131 7.1.2 Mordermittlungen gegen Deserteure 135 7.2 Deserteure und Helfer*innen in Opferfürsorgeverfahren 137 7.3 Mein Vater war Deserteur - Positive Tradierung innerhalb von Familien 155 -- VIII. Resümee 167 - Anhang 55 Todesfälle 175 20 Peter Pirker <?page no="21"?> I. Einleitung „[…] ich bin Deserteur. Vom Kriege habe ich über und über genug“, erklärte der Obergefreite Hermann Hannemann aus Berlin, nachdem ihn Polizisten der Schweizer Grenzwache am 26. Mai 1942 um ein Uhr früh in der Nähe des Alten Rhein in St. Margarethen aufgefunden hatten. Hannemann war völlig durchnässt und erschöpft. Er blickte auf eine illegale Reise von mehr als 800 Kilometern zurück. Seinen Fluchtgenossen Werner Busse hatte er beim Durchschwimmen des Rheins verloren. Ihm selber war der letzte Schritt auf der Flucht aus der Wehrmacht, der Grenzübertritt in die Schweiz, geglückt. Es war nicht die erste Grenze, die Hannemann auf verbotene Weise gekreuzt hatte und es sollte nicht die letzte bleiben. Österreichische und deutsche Soldaten, die der Kriegsführung der deutschen Streitkräfte entkommen wollten, um ihr Leben abseits der anbefohlenen Bahnen von Töten und Sterben neu auszurichten, mussten viele Arten von Grenzen überwinden, durchbrechen, durchlöchern oder umgehen. Sie gaben die Sicherheit eines militärischen Systems auf, das ihnen Versorgung und Sinn versprach, mussten sich Brot und Orientierung selbst verschaffen, sie verließen den Männerbund des Militärs und gingen verbotene Beziehungen - vielfach zu Frauen - ein, sie wechselten in fremde Umgebungen, deren Sprache und Gepflogenheiten ihnen fremd waren, sie verletzten und brachen militärische Gesetze, die von der Drohung mit der Todesstrafe gestützt waren, sie verließen die „deutsche Volksgemeinschaft“ und begaben sich ins Reich der Schande, der Ächtung und des Verrats, sie nahmen den Verlust der Bürger- und Ehrenrechte in Kauf und sie riskierten die Verfolgung von Verwandten und Helfer*innen. Was nach den Grenzüberschreitungen kam, war meist ungewiss. Wie die Nachkriegsgesellschaften ihre Handlungen bewerten würden ebenso. All das machte Desertieren zu einem hochriskanten Unterfangen mit offenem Ausgang. Dass die Fahnenflucht das Programm nur einer kleinen Minderheit war, kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern. Die Forschung zur Praxis des Desertierens aus den deutschen Streitkräften im Zweiten Weltkrieg ist relativ jung. Die erste Phase in den 1990er- und 2000er-Jahren stand weit‐ gehend im Zeichen einer geschichtspolitischen Auseinandersetzung zwischen altherge‐ brachten Anschauungen, die Desertieren als illegitimen Regelbruch und die Verfolgung von Deserteuren als legitime Sanktion jeder Militärjustiz betrachteten, und - wenn überhaupt - nur bei Nachweis ganz bestimmter Motive als nicht zu verdammendes Handeln durchgehen ließen. Bei Deserteuren wurden moralische Messlatten angelegt, die bei der Beurteilung von bis zuletzt gehorsam gebliebenen Soldaten wieder in der Schublade verschwanden. Umgekehrt blieb bei Vorwürfen gegen die „Pflichterfüller“ bisweilen unbeachtet, dass der Handlungsspielraum von (Front-)Soldaten stark limitiert war, vor allem jener der unteren Ränge. Gegen die Ablehnung der Deserteure wandten sich seit den 1990er-Jahren Positionen, die Desertieren als Beitrag zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Wehrmachtsjustiz als eines der Instrumente eines verbrecherischen Unrechtsstaats sahen. Die Forschung konzentrierte sich angesichts der jahrzehntelangen Weißwaschung der Wehrmacht und ihrer Justiz durch Militärs, Politiker und Veteranenverbände weitgehend auf die Beschreibung und Analyse der radikalen Verfolgung von nonkonformistischen Flucht vor dem Krieg 21 <?page no="22"?> 1 Der Autor dankt Ingrid Böhler herzlich für die sorgfältige Durchsicht des Textes, für viele Korrek‐ turen, Verbesserungen und inhaltliche Hinweise sowie Ulrich Nachbaur für die rasche, kompetente Beantwortung vieler Fragen und unkomplizierte Übermittlung von Archivalien. Grundlegend für Österreich: Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003. 2 Für einen Überblick mit ausführlichen Angaben zur Forschungsliteratur siehe Peter Pirker/ Kerstin von Lingen, Einleitung - Deserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfol‐ gung und Gedächtnisbildung, in: Kerstin von Lingen/ Peter Pirker (Hg.), Deserteure der Wehrmacht und der Waffen-SS. Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung, Paderborn 2023, XI-XXXIV; zu Österreich: Peter Pirker/ Johannes Kramer, From Traitors to Role Models? Rehabilitation and Memo‐ rialization of Wehrmacht Deserters in Austria, in: Eleonora Narvselius/ Gelinada Grinchenko (Hg.), Traitors, Collaborators and Deserters in Contemporary European Politics of Memory. Formulas of Betrayal, Basingstoke 2018, 59-85. Zuletzt noch im Forschungsrahmen der Auseinandersetzung um Rehabilitierung: Stefan Kurt Treiber, Helden oder Feiglinge? Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt/ Main 2021. 3 Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München 2014, 26. 4 Jörg Döring/ Felix Römer/ Rolf Seubert, Alfred Andersch desertiert. Fahnenflucht und Literatur, Berlin 2015. Soldaten durch eine terroristische Militärjustiz. 1 Mit der Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht durch den österreichischen Nationalrat im Jahr 2009 setzte sich die neue Sichtweise zumindest auf politisch-symbolischer Ebene mehrheitlich durch und es gelang, Zeichen der Erinnerung für jene, die sich der deutschen Kriegsführung früher oder später entzogen, und Menschen, die ihnen dabei geholfen hatten, im öffentlichen Raum in Wien, Bregenz und anderen Orten zu schaffen. 2 Selten blieb jedoch Zeit und Raum dafür, die Praxis des Desertierens und ihre Rahmen‐ bedingungen - abgesehen von der Repression durch die NS-Militärjustiz - genauer und systematisch auszuleuchten, also den Fragen nachzugehen, wem und wie die Flucht aus dem Krieg möglich war, welche Wege dabei beschritten wurden und wer auf welche Weise aus der zivilen Gesellschaft heraus Deserteuren „hilfreiche Hand“ bieten konnte, um eine damals negativ besetzte Formel der Militärjustiz neu zu verwenden - unter dem Strich: die Verengung auf das Opferwerden auszuweiten, um das antisystemische, widersetzliche und widerständige Handeln in den Blick zu nehmen. Einen fruchtbaren Ansatzpunkt für eine sozialhistorische Beschäftigung mit dem Phä‐ nomen des Desertierens bot der Historiker Felix Römer, der in seiner wegweisenden Studie „Kameraden“ über die Soldaten der Wehrmacht zwar auf den hohen Grad des Kon‐ formismus und den starken Truppenzusammenhalt hinwies, zugleich aber auch betonte, dass der Konformismus der Soldaten vielgestaltig war. Handlungsoptionen vor allem der unteren Ränge waren zwar sehr limitiert, konnten aber unter bestimmten Umständen so genutzt werden, dass es für die einzelnen einen Unterschied machte: „Wie sie ausgenutzt wurden, war oft zufällig und spontan, aber selten einheitlich, sondern viel häufiger individuell.“ 3 Fast alle Wehrmachtssoldaten teilten einen gewissen militärischen Konsens, davon abgesehen fand Römer jedoch merkliche Unterschiede im Verhalten, die er auf deren Geschichte, also ihre Erfahrungen vor dem Krieg und als Soldaten, zurückführte. Dies legt die Vermutung nahe, dass Deserteure, bevor sie abweichend handelten, im Krieg nicht unbedingt und durchwegs ganz „anders“ als bis zuletzt gehorsame Soldaten waren, etwa was Einsatzbereitschaft, Pflichterfüllung und Auszeichnungen betraf. 4 22 Peter Pirker <?page no="23"?> 5 Maria Fritsche, Die Analyse der Beweggründe. Zur Problematik der Motivforschung bei Verfolgten der NS-Militärgerichtsbarkeit, in: Walter Manoschek, Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003, 104-113. 6 Vgl. Maria Fritsche, Ambivalente Machtverhältnisse. Der Umgang der Wehrmachtjustiz mit Deser‐ teuren und ihren Helfer*innen im besetzten Norwegen, 1940-45, in: Kerstin von Lingen/ Peter Pirker, Deserteure der Wehrmacht und der Waffen-SS. Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung, Paderborn 2023, 241-258. 7 Siehe zum historischen Kontext des Begriffs das Kapitel „Fugitiver Widerstand“ bei Iris Därmann, Widerstände. Gewaltenteilung in statu nascendi, Berlin 2021, 29-50. Spezifische Erfahrungen, so kann man im Anschluss an Römer weiter postulieren, beeinflussten auch, ob und wie Soldaten Chancen erkannten, um sie für Fluchtbewegungen nutzen zu können. Handlungsspielräume existieren nicht per se. Sie entstehen erst im Erkennen von Situationen. Dieser Gedanke führte dazu, Römers Plädoyer, die Soldaten als denkende und handelnde Subjekte ernst zu nehmen, für die Forschung über Deserteure zu adaptieren - sie in ihren biographischen Prägungen, persönlichen Erfahrungen, sozialen und militärischen Situationen und auch in ihren Kenntnissen von Raum und Landschaft, gerade in einer alpinen Grenzregion, zu erfassen und zu verstehen. Ob es patriotische, ideologische oder persönlich-individuelle Impulse waren, welche die Deserteure und ihre Helfer*innen motivierten, tritt dabei in den Hintergrund des Forschungsinteresses. Die alte Frage nach den Motiven 5 transportiert eine Hierarchie männlich geprägter moralischpolitischer Bewertungen, die der staatlichen Perspektive von Justiz und Sozialbehörden eigen war, für eine sozialhistorische Betrachtung aber unbrauchbar ist. Desgleichen blieb in der Forschung zu den Deserteuren der Wehrmacht die Rolle von Frauen oft unterbelichtet. Dabei ermöglichten in vielen Fällen gerade sie es, dass desertions‐ bereite Männer die maskuline Kriegskameradschaft hinter sich lassen und stattdessen auf Solidarität bauen konnten. Aus geschlechtshistorischer Sicht folgt aus der Überlegung, dass Desertieren in vielerlei Hinsicht bedeutete, Grenzen zu überschreiten, die Notwendigkeit, den Übergang von maskuliner Kameradschaft zu Hilfsangeboten und der Solidarität von Frauen zu rekonstruieren und deren aktive Rolle in diesem widerständigen Prozess zu beleuchten. 6 Welche Umstände und Faktoren begünstigten die Wahrnehmung und das Erkennen von abweichenden Handlungsmöglichkeiten? Welche Erfahrungen befähigten unzufriedene, widerwillige oder kriegsmüde Soldaten dazu, das Wagnis der Desertion einzugehen? Im vorliegenden Beitrag wird im vierten und fünften Kapitel der Versuch unternommen, diese Fragen vorwiegend am Beispiel von Soldaten aus Vorarlberg und streckenweise auch von ortsfremden Soldaten in Vorarlberg zu beantworten. Dabei werden vor allem gelungene Desertionen entlang verschiedener Fluchtwege analysiert. In manchen Fällen entstanden aus Fluchtwiderstand offensive Widerstandsleistungen gegen das Regime. Diesen Übergang zeichne ich genauer und vergleichend an vier Gemeinden nach, die relativ viele Deserteure hervorgebracht haben. Es können Erfahrungsräume beschrieben werden, die Desertionen begünstigten, und es können Unterschiede herausgearbeitet werden, die glückliche Verläufe auszeichneten und traumatische kennzeichneten. So alt wie die Frage nach den Motiven, ist die Frage, ob Deserteure als Widerstandskämpfer gelten können oder nicht. Sie soll hier nicht mehr weiter diskutiert werden. Die Flucht aus der Wehrmacht wird als eine Form widerständigen Handelns betrachtet - als fugitiver Widerstand 7 bzw. Flucht vor dem Krieg 23 <?page no="24"?> 8 Elsa Dorlin, Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt, Berlin 2020. 9 Wolfgang Rebitsch, Tirol. Land in Waffen. Soldaten und bewaffnete Verbände 1918 bis 1938, Innsbruck 2009, 177. Fluchtwiderstand im Sinne einer individuellen bis kleinkollektiven Selbstbehauptung in einem System, das mit einem kriegerisch-aggressiven völkischen Gemeinschaftskonzept die totale Verfügung über das Leben der darin eingeschlossenen Menschen beanspruchte. Man kann Desertieren mit diesem Verständnis auch in eine Tradition der persönlichen Selbstverteidigung gegen ungehörige politische Zurichtungen durch Staat und Regierung stellen. 8 Die Rettung des persönlichen Lebens und Emotionen wie Liebe zu und Sorge um Flüchtende werden hier nicht - wie es der staatlichen Perspektive sowohl des NS-Staates als auch der postnationalsozialistischen Demokratie auf je eigene Weise entsprach - als mindere Beweggründe betrachtet. Vor diesen beiden zentralen Kapiteln werden im zweiten die Rahmenbedingungen und Quellen skizziert und im dritten ein quantitativer Überblick zum Phänomen der Wehrdienstentziehung in der Grenzregion Vorarlberg geboten, wobei die Verlaufsformen und die Herkunft der Akteure im Vordergrund stehen. Das sechste Kapitel widmet sich dem tristen Thema der polizeilichen, außerjuristischen und juristischen Verfolgung, letzteres mit einem Schwerpunkt auf den Kriegsgerichten. Hier werden im Überblick und dann genauer am Beispiel der Deserteursgruppe von Sonntag das verschränkte Vorgehen von Gendarmerie, Gestapo und Militärjustiz ausgeleuchtet und resistentem Verhalten der Verfolgten nachgespürt. Das letzte Kapitel ist dem Umgang der Nachkriegsgesellschaft in Vorarlberg mit den einheimischen Deserteuren und Wehrdienstentziehern sowie ihren Helfer*innen gewidmet. Vier Dimensionen wurden für die Darstellung ausgewählt: Die juristische Rehabilitierung von Verurteilten, Mordermittlungen von Polizei und Justiz nach 1945 gegen Deserteure, die Behandlung von Anträgen auf Opferfürsorge und schließlich die positive Tradierung von geglückten Fluchten in Familien. II. Rahmenbedingungen - 2.1 Vorarlberg als Teil des Wehrkreises XVIII Zum Verständnis der Thematik ist es hilfreich, sich zumindest einige für Vorarlberg und seine Bevölkerung relevante Grundstrukturen der militärischen Organisation zwischen 1938 und 1945 vor Augen zu führen. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Habs‐ burgermonarchie untersagten die alliierten Mächte im Vertrag von Saint-Germain (1919) der neu gegründeten Republik Österreich den Aufbau einer „Volkswehr“ mit allgemeiner Wehrpflicht. Zugelassen wurde ein Bundesheer mit einer maximalen Truppenstärke von 30.000 Berufssoldaten. Erst das austrofaschistische Regime unter Kanzler Kurt Schuschnigg führte im Rahmen einer Remilitarisierung 1936 mit dem „Bundespflichtgesetz“ durch die Hintertür faktisch die allgemeine Wehrpflicht für 18bis 42-jährige Männer ein. 9 Den westlichen Bundesländern Salzburg, Tirol (ohne Osttirol) und Vorarlberg wurde der Bereich der 6. Division mit dem Divisionskommando in Innsbruck zugeteilt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich und der Eingliederung des Landes in das Deutsche Reich im März 1938 erlangte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für 24 Peter Pirker <?page no="25"?> 10 Zit. n. Walter Manoschek/ Hans Safrian, Österreicher in der Wehrmacht, in: Emmerich Tálos et al. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 123-158, 130. 11 Ein vollständiges Verzeichnis der Dienststellen und Standorte des Wehrkreiskommandos XVIII mit Stand 1.12.1938 findet sich in Tiroler Landesarchiv (TLA), RSth, Ia, Ia4, 1938-1943. Männer im Ausmaß von zwei Jahren ab dem vollendeten 18. Lebensjahr Gültigkeit und die Truppen des österreichischen Bundesheeres wurden in die deutsche Wehrmacht integriert. Mit ganz wenigen Ausnahmen schworen die Offiziere und Mannschaften des Bundesheeres dem „Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht unbedingten Gehorsam“ und jederzeit bereit zu sein, „für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“ 10 Mitte Juli 1938 begann die Neuorganisation der bestehenden Truppen und die Erfassung der Wehrpflichtigen. Das bisherige österreichische Bundesgebiet wurde in die Wehrkreise XVII und XVIII unterteilt. Letzterer entstand aus den Bereichen der 6., 5. (Steiermark) und 7. Division (Kärnten, Osttirol). Das Generalkommando XVIII erhielt in Salzburg seinen Sitz. 11 Im Wehrkreis XVIII wurde aus den Formationen der bisherigen 6. und aus Teilen der 7. Division des Bundesheeres die 2. Gebirgsdivision gebildet. Sie setzte sich aus dem in Innsbruck und Landeck beheimateten Gebirgsjägerregiment 136, dem Gebirgsjägerregiment 137 (Lienz, Spittal/ Drau, Salzburg, Saalfelden), dem Gebirgs- Artillerie-Regiment 111 (Hall), dem Gebirgs-Pionier-Bataillon 82 (Schwaz) und einigen kleineren Abteilungen an weiteren Tiroler Standorten zusammen. Das Kommando über die 2. Gebirgsdivision erhielt der ehemalige Generalmajor des Bundesheeres, der Vorarl‐ berger Valentin Feuerstein. Hinsichtlich weiterer Großverbände mit vielen Vorarlberger und Tiroler Soldaten ist neben der 3. und 6. Gebirgsdivision, die in Graz bzw. am Trup‐ penübungsplatz Heuberg (Baden-Württemberg) aufgestellt wurden, die Division 188 zu nennen, die 1939 zunächst in Salzburg beheimatet war. Ihr unterstanden unter anderem die Gebirgsjäger-Ersatz-Regimenter (GJER) 136 (Innsbruck), 137 (Salzburg), 138 (Graz), 139 (Klagenfurt), die Kraftfahr-Ersatz-Abteilung 18 (Bregenz) und einige kleinere, breit über den Wehrkreis verteilte Einheiten mit dynamischen Unterstellungsverhältnissen und Einsatzorten, etwa das Infanterie-Ersatz-Bataillon 499 in Bludenz und die ab 1942 ebenfalls dort stationierte Gebirgs-Nachrichten-Ausbildungs-Abteilung 18. Im April 1943 wurde der Divisionsstandort nach Innsbruck verlegt, die 188. in eine Reserve-Gebirgs-Division umgebildet und anschließend in Norditalien zur Partisanenbekämpfung stationiert. Die Führung der Ersatztruppen der 188. Division übernahm ab November 1943 die von Klagenfurt nach Salzburg verlegte Division 418 - auch die Bregenzer Kraftfahr- Ersatz-Abteilung 18 wurde ihr unterstellt. Keineswegs alle, aber doch ein erheblicher Teil der Wehrpflichtigen im neu geschaffenen Reichsgau Tirol und Vorarlberg erhielten Einberufungsbefehle zu diesen Einheiten oder waren ihnen bei Beurlaubungen und Laza‐ rettaufenthalten im Heimatgebiet zugeordnet. In Vorarlberg bestanden während des Zweiten Weltkriegs für die Versorgung und Genesung verwundeter und kranker Soldaten mehrere Reservelazarette. In Bregenz und Umgebung gab es Standorte in den Klöstern Riedenburg und Marienberg und im Sanato‐ rium Mehrerau, ebenfalls im Schloss Hofen in Lochau. Das Reservelazarett Feldkirch war im Antoniushaus, das bei einem Luftangriff im Oktober 1943 vollständig zerstört wurde, und im Jesuitenkolleg Stella Matutina untergebracht. Auch in Bludenz und in Rankweil (Heil- und Pflegeanstalt Valduna) befanden sich Lazarette. Wie sich zeigen wird, verschaffte Flucht vor dem Krieg 25 <?page no="26"?> 12 Vgl. Johannes Kramer/ Peter Pirker, Die „Alpensöhne“ im Zweiten Weltkrieg. Schlaglichter auf die Wehrmacht im Reichsgau Tirol und Vorarlberg und die Tiroler in der Wehrmacht, in: Matthias Egger (Hg.), „…aber mir steckt der Schreck noch in allen Knochen“. Innsbruck zwischen Diktatur, Krieg und Befreiung 1933-1950, Innsbruck 2020, 139-172. 13 Siehe z. B. Der Landeshauptmann von Tirol, RV-Referent an den Reichsstatthalter in Österreich, 25.11.1938, Stand der RV-Arbeiten. TLA, RSth, Ia, Ia4, 1938-1943, 1; BH Bregenz an die Bürgermeister des Bezirks, o. D., Wehrüberwachung. Vorarlberger Landesarchiv (VLA), LR Bregenz, PV 043/ 5. 14 Korrespondenzen in VLA, LR Bregenz, PV 043/ 5. 15 Wehrbezirkskommando Bregenz, Wehrüberwachung und Vorbereitung zur Musterung, 21.9.1939. VLA, LR Bregenz, PV 043/ 5. ein Aufenthalt in Lazaretten mit anschließendem Genesungsurlaub Vorarlberger Soldaten nach Verwundungen und Erkrankungen Zeit, sich mit Fluchtgedanken zu beschäftigen. - 2.2 Erfassung, Musterung, Stellung Werfen wir noch einen Blick auf das System der Erfassung, Musterung, Überwachung und Einziehung der wehrpflichtigen Männer. 12 Im Wehrkreiskommando XVIII war für die Reichsgaue Tirol und Vorarlberg bzw. Salzburg die Wehrersatzinspektion Innsbruck zuständig. Ihr waren die Wehrbezirkskommandos Salzburg, Innsbruck und Bregenz unter‐ stellt. Die zentrale Aufgabe eines Wehrbezirkskommados bestand in der Überwachung wehrpflichtiger Männer, sodass diese der Wehrmacht für den Dienst mit der Waffe zur Verfügung gestellt werden konnten. Seine wichtigsten Organe hierfür waren die Wehrmeldeämter, in Vorarlberg bestanden solche in Bregenz und in Bludenz. Sie legten Karteien und Verzeichnisse über die wehrpflichtige Bevölkerung an, die laufend aktualisiert wurden. Wehrpflichtige zwischen dem vollendeten 19. und 45. Lebensjahr sowie Freiwillige wurden hier registriert und gemustert, bevor sie von der Wehrersatzinspektion Einberu‐ fungsbefehle zu bestimmten Einheiten im Wehrkreis XVIII oder anderswo erhielten. Diese Aufgabe der Bereitstellung des „Menschenmaterials“ für den Krieg konnte jedoch nur in enger Zusammenarbeit mit zivilen Organen der Gauverwaltung erreicht werden, dem für die „Reichsverteidigung“ zuständigen Dezernat Ia4 des Reichsstatthalters Tirol und Vorarlberg Franz Hofer, den nachgeordneten Landräten der Kreise Bregenz, Feldkirch und Bludenz und den Bürgermeistern, die als polizeiliche Meldebehörde die Aufgabe hatten, die Daten der relevanten Wohnbevölkerung ihrer Gemeinde zu sammeln und an die Wehrmeldeämter weiterzugeben. 13 Bürgermeister nutzten diese Position durchaus unterschiedlich - manche zeigten weniger Enthusiasmus, die strengen Vorgaben des Wehrbezirkskommandos umzusetzen und wurden gemaßregelt, die Wehrfreudigkeit in ihrer Gemeinde gefälligst zu heben, andere zeigten sich übereifrig, etwa um missliebige - meist sozial randständige - Mitglieder ihrer Gemeinde ehebaldigst loszuwerden. Generell verlief der Aufbau dieses wehradministrativen Systems 1938 zur vollen Zufriedenheit des Dezernats für Reichsverteidigung in Innsbruck. 14 Bei Problemen mit Musterungs- oder Stellungspflichtigen schritt die lokale Gendarmerie ein, die vom Wehrbezirkskommando Bregenz um volle Unterstützung ersucht wurde, damit „besonders jeder Versuch zu Drückebergerei unterbunden wird“. 15 Die enge Verzahnung von militärischen, polizeilichen und zivilen Institutionen auf unterschiedlichen staatlichen 26 Peter Pirker <?page no="27"?> 16 Landräte und Bürgermeister waren darüber hinaus wichtige Fühler der zivilen und militärischen Herrschaftsapparate in die Gesellschaft hinein, um Stimmungslagen zu erkennen. Vgl. Kramer/ Pirker, Alpensöhne, 140-144. 17 Thomas Walter, „Schnelle Justiz - gute Justiz“? Die NS-Militärjustiz als Instrument des Terrors, in: Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis - Strafvollzug - Entschädigungs‐ politik in Österreich, Wien 2003, 27-52, 28. Die folgenden Ausführungen zum Militärstrafrecht stützen sich auf diesen Aufsatz. Siehe dazu auch Maria Fritsche, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien 2004, 92-95. 18 Militärstrafgesetzbuch vom 20. Juni 1872. Neu bekanntgegeben am 16. Juni 1926, in: Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1928, 428-462, 439-472. Ebenen wurde ebenso bei der Verfolgung von Wehrpflichtigen und Soldaten wirksam, wenn sie sich der Musterung, der Stellung oder dem Wehrdienst entzogen. 16 Eine statistische Aufstellung mit Daten der Wehrmeldeämter Bregenz und Bludenz zum Stichtag 1. März 1945 zeigt uns die quantitative Dimension des Dienstes von Vorarlberger Männern in der Wehrmacht. Demnach wurden insgesamt 24.817 Männer einberufen und im Verlauf des Krieges zwischen 1. September 1939 und 8. Mai 1945 an den meisten Kriegsschauplätzen in Europa und Afrika eingesetzt. Dienststelle In Wehrüberwachung Einberufene Uk-Gestellte WMA Bregenz 33.672 19.667 12.633 WMA Bludenz 9.233 5.150 3.792 Summe 42.905 24.817 16.425 Tab. 1: Erstellt anhand einer Übersicht des Wehrbezirkskommandos Innsbruck, 1. März 1945. Bun‐ desarchiv Militärarchiv, RH 15/ 429. WMA=Wehrmeldeamt. Die Gemeinde Mittelberg (Kleinwalsertal) wurde 1938 dem Land Bayern zugeschlagen und gehörte zum Wehrbezirk Kempten, ist hier also nicht enthalten. - 2.3 Entziehungshandlungen im Militärstrafrecht Ein wesentliches Instrument der Disziplinierung der Soldaten bildete die Militärjustiz, die vom NS-Regime nach der Machtübernahme im Jahr 1933 wieder eingeführt und schritt‐ weise verschärft worden war. Im Juni 1935 wurde das Militärstrafgesetzbuch (MStGB) so geändert, dass die Militärrichter erheblich mehr Möglichkeit bekamen, „außerhalb der starren Grenzen des niedergeschriebenen Strafrechts“ Taten zu verurteilen, die zwar nicht explizit unter Strafe standen, deren Bestrafung den Nationalsozialisten jedoch im Sinne eines „gesunden Volksempfindens“ geboten schien. 17 Die für unser Projekt besonders relevanten Delikte „Unerlaubte Entfernung“ und „Fahnenflucht“ waren im MStGB in den §§ 64 bis 80 geregelt. 18 Der Tatbestand der unerlaubten Entfernung war demnach erfüllt, wenn ein Soldat seine Einheit vorsätzlich oder fahrlässig länger als sieben oder im Einsatz länger als drei Tage unbefugt verließ. Der Strafrahmen belief sich auf Gefängnis oder Festungshaft von bis zu zwei Jahren, in minderschweren Fällen konnte die Strafe bis auf 14 Tage „geschärften Arrest“ reduziert werden. Flucht vor dem Krieg 27 <?page no="28"?> 19 Ebd., 440. 20 Ebd., 441. 21 Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegssonderstraf‐ rechtsverordnung) vom 17. August 1938, Reichsgesetzblatt Teil I, 1939, Nr. 147, ausgegeben zu Berlin, den 26. August 1939, 1455-1457, im Folgenden als KSSVO zitiert. 22 Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegsstraf‐ verfahrensordnung - KStVO) vom 17. August 1938, Reichsgesetzblatt Teil I, 1939, Nr. 147, ausgegeben zu Berlin, den 26. August 1939. 23 KSSVO, 1456. 24 Ausführlich zum § 5 der KSSVO: Albrecht Kirschner, Wehrkraftzersetzung, in: Wolfgang Form et al. (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938-1945, München 2006, 405-750, 409. Das wesentliche Kriterium, das die unerlaubte Entfernung von der Fahnenflucht bzw. Desertion unterschied, bildete die Absicht der Handlung, nämlich dauerhaft der Wehrmacht entfliehen zu wollen. Nach § 69 beging Fahnenflucht, „wer in der Absicht, sich der Verpflichtung zum Dienste in der Wehrmacht dauernd zu entziehen oder die Auflösung des Dienstverhältnisses zu erreichen, seine Truppe oder Dienststelle verläßt oder ihnen fernbleibt […].“ 19 In Friedenszeiten war Desertion mit Freiheitsentzug bis zu zwei Jahren, im Rückfall bis zu fünf und bei wiederholtem Begehen bis zu zehn Jahren bedroht, im Feldeinsatz mit fünf bis zehn Jahren, wobei in minderschweren Fällen die Strafe auf ein Jahr Gefängnis reduziert werden konnte. Die Todesstrafe oder eine Zuchthausstrafe von min‐ destens zehn Jahren bis lebenslänglich drohte bei Rückfall, wenn dieser neuerlich im Feld begangen wurde, ebenso stand die Todesstrafe im Fall einer gemeinsamen Fahnenflucht gegen den „Rädelsführer und gegen den Anstifter“ im Raum. 20 Wenn ein Soldat von einem Posten vor dem Feind oder aus einer besetzten Festung desertierte oder zum Feind überlief, war er grundsätzlich mit dem Tod zu bestrafen. Mit der Einführung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) 21 und der Kriegs‐ strafverfahrensordnung (KStVO) 22 am Tag der Mobilisierung für den Angriff auf Polen (26. August 1939) wurden die Strafdrohungen gegen beide Delikte drastisch verschärft. Unerlaubte Entfernung begann nun laut § 6 KSSVO schon nach einem Tag, dauerte sie länger als drei Tage, lautete die Mindeststrafe ein Jahr Freiheitsentzug, der Strafrahmen belief sich auf bis zu zehn Jahre. Die häufig vorkommende unerlaubte Entfernung wurde so von einem Vergehen in ein Verbrechen verwandelt. Fahnenflucht erhielt im §-6 KSSVO ebenfalls eine neue Fassung, indem die bisherigen Spezifizierungen gestrichen wurden. Ein Militärrichter konnte nun undifferenziert „auf Todesstrafe oder auf lebenslängliches oder zeitiges Zuchthaus“ erkennen. 23 Diese Regelungen fanden Eingang in die Neufassung des MStGB. Nur wenn sich ein Fahnenflüchtiger im Feld binnen einer Woche zurückmeldete, konnte der Richter auch eine Gefängnisstrafe aussprechen. Mit der Todesstrafe wurde auch die Verleitung zur Fahnenflucht belegt. Weitere Verschärfungen hinsichtlich der An‐ wendbarkeit der Todesstrafe folgten im Kriegsverlauf im Rahmen von sechs ergänzenden Verordnungen 24 und einer Reihe von Durchführungsrichtlinien, wie etwa jener des Führers und obersten Befehlshabers der Wehrmacht vom 14. April 1940: „Die Todesstrafe ist geboten, wenn der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr gehandelt hat oder wenn sie nach der besonderen Lage des Einzelfalles unerläßlich ist, um die Manneszucht aufrechtzuerhalten. Die Todesstrafe ist im allgemeinen angebracht bei wiederholter oder gemein‐ 28 Peter Pirker <?page no="29"?> 25 Zit. n. Walter, „Schnelle Justiz - gute Justiz“? , 32. 26 Ebd. 27 Gesetzesdienst für Wehrmachtgerichte. Sonderheft Rechtsgrundsätze des Reichskriegsgerichts zu § 5 KSSVO, Berlin 1941, 1, zit. n. Kirschner, Wehrkraftzersetzung, 412. 28 KSSVO, 1456. schaftlicher Fahnenflucht und bei Flucht oder versuchter Flucht ins Ausland. Das gleiche gilt, wenn der Täter erheblich vorbestraft ist oder sich während der Fahnenflucht verbrecherisch betätigt hat.“ 25 Ein gewisser Handlungsspielraum erwuchs den Militärrichtern nicht nur im Ermessen der Absicht eines abtrünnigen Soldaten, also, ob unerlaubte Entfernung oder Fahnenflucht vorlag. Sie konnten im Fall von Fahnenflucht abseits der Todesstrafe auch auf Zuchthaus‐ strafen entscheiden, wenn „jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe“ als ausschlaggebend für eine Desertion erkannt wurden. 26 In der späten Phase des Krieges, als die Alliierten den deutschen Streitkräften an allen Fronten längst schwere Niederlagen beigebracht hatten und ihre Luftwaffe deutsche Städte und die Nachschubinfrastruktur schwer beschädigt hatte, war für viele Soldaten, auch wenn sie bislang ihre Wehrpflicht untadelig erfüllt hatten, längst sichtbar, dass der Krieg verloren ging. Nun wurde für bestimmte Situationen die Rechtsform einer Gerichtsverhandlung weiter reduziert oder gänzlich über Bord geworfen. Ein Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht forderte beispielsweise dazu auf, jedes Überlaufen von Soldaten zum Kriegsgegner mit Feuer auf die Flüchtenden zu unterbinden oder ad hoc Standgerichte gegen Fahnenflüchtige abzuhalten, die bei Schulderkenntnis sofort die Todesstrafe zu vollziehen hatten. Führerbefehlen im Frühjahr 1945 fehlte jeglicher Bezug zur Realität des Kriegsalltags, etwa wenn Soldaten mit dem Erschießen bedroht wurden, sollten sie unverwundet in Kriegsgefangenschaft geraten. Auch die Einführung der Haftung von Angehörigen („Sippenhaft“) für das Handeln von desertierten oder nicht mehr kampfbereiten Soldaten hatte jede Spur von Rechtsstaatlichkeit verloren und war nur mehr Terror und Rache. Als weitere, für unsere Studie relevante Formen der Entziehung vom Wehrdienst definierte das MStGB im § 81 die absichtliche Selbstbeschädigung („Selbstverstümmelung“), im § 82 das Untauglichmachen eines anderen Soldaten auf dessen Verlangen hin und im § 83 die „Dienstentziehung durch Täuschung“. Bis zur Einführung der KSSVO standen darauf bis zu sechs Jahre Gefängnis. Auch für derartige Delikte der eigenen Wehrdienstentziehung oder jener eines anderen Wehrpflichtigen brachte die KSSVO massive Verschärfungen. Sie führte das neue Delikt der „Zersetzung der Wehrkraft“ (§ 5) ein. Gemeint war damit „[…] die Störung oder Beeinträchtigung der totalen völkischen Einsatzbereitschaft zur Erringung des Endsieges in diesem Krieg.“ 27 Nach § 5 Abs. 1 war jede Form der Wehrdienstentziehung eines anderen (Nr. 2) und jede Form einer eigenen Wehrdienstentziehung (Nr. 3) durch „Selbstverstümmelung, ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf andere Weise“ mit der Todesstrafe als Regelstrafe zu ahnden. 28 Als extremste Form der Wehrdienstentziehung Flucht vor dem Krieg 29 <?page no="30"?> 29 Fritsche, Entziehungen, 67. 30 Militärstrafgesetzbuch, 443. 31 Wolfgang Form, Wehrkraftzersetzung: Die Verfolgung des „Inneren Feindes“. Die Wandlung eines rein militärischen Straftatbestandes zu einer der schärfsten Waffen der politischen Justiz, in: Pirker/ Wenninger, Wehrmachtsjustiz, 62-78, 65-70. 32 Kirschner, Wehrkraftzersetzung, 406-407; Ilse Reiter-Zatloukal, Militärgerichtsbarkeit und Staats‐ ordnung. Zur Geschichte einer Sondergerichtsbarkeit in Österreich und Deutschland, in: Pirker/ Wenninger (Hg.), Wehrmachtsjustiz, 3-28, 22; Karin Bruckmüller, Legistische und judizielle Aufar‐ beitung des Juliputsches, in: Ilse Reiter-Zatloukal/ Christiane Rothländer/ Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933-1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/ Schuschnigg-Regime, Wien 2012, 111-128, 141. 33 Oswald Überegger, Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002, 421. kann der Selbstmord eines Soldaten gelten - folglich wurde auch dieser im Falle des Scheiterns nach dem § 5 der KSSVO geahndet. 29 Einen eigenen Straftatbestand formuliert das MStGB für unerlaubte Entfernungen während militärischer Kämpfe, etwa das Aufgeben von Stellungen oder Flucht entgegen Befehlen. Dies wurde in den §§ 84-88 als „Dienstpflichtverletzung aus Furcht“ und als „Feigheit“ definiert: „Wer während des Gefechts aus Feigheit die Flucht ergreift und die Kameraden durch Worte oder Zeichen zur Flucht verleitet, wird mit dem Tode bestraft“. 30 Auch hier kam es 1940 zu einer breiteren Auslegung, etwa indem der Zeitrahmen auf eine zu erwartende Kampfhandlung ausgedehnt wurde. Die KSSVO blieb in der Anwendung nicht auf Militärgerichte und Soldaten beschränkt. Der § 5 Wehrkraftzersetzung definierte in den einzelnen Bestimmungen auch Tatbestände, die Zivilist*innen begehen konnten, etwa vor der Einberufung sich der Wehrpflicht durch Flucht ins Ausland oder durch Nichtbefolgung der Aufforderung zur Musterung etc. zu entziehen, jemanden dies zu empfehlen, dabei zu helfen oder öffentlich dazu aufzufordern. Das Ziel war es, jede Form der verbalen oder praktischen Abwendung von der Kriegspolitik und -führung des NS-Staates hart zu sanktionieren und damit Abschreckung zu erwirken. Ab Mai 1940 konnte die KSSVO auch von der allgemeinen Justiz in Rahmen von Sondergerichten und vom Volksgerichtshof angewandt werden. 31 Rechtsgeschichtlich gesehen lässt sich die Brutalisierung des deutschen Militärstraf‐ rechts nicht mit Entwicklungen in Österreich während der 1920er- und 1930er-Jahre in Verbindung bringen. Wie in Deutschland war die Militärgerichtsbarkeit mit der Verfassung von 1920 für Friedenszeiten aufgehoben worden und dabei blieb es - mit Ausnahme der Einführung eines Militärgerichtshofs zur Aburteilung von putschenden Nationalsozialisten im Juli 1934 - bis zur Eingliederung in das Deutsche Reich im Jahr 1938. 32 Freilich hatten sich schon Militärs der k. u. k.-Armee im Ersten Weltkrieg von radikalen Strafandrohungen und einer in ihren Kompetenzen weit ausgreifenden Militärjustiz eine stark präventiv-disziplinierende Wirkung auf die Soldaten erwartet. Oswald Überegger zeigte anhand der Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, dass diese „radikal‐ militärische Erwartungshaltung“ von den Anforderungen der praktischen Kriegsführung unterspült wurde, indem harte Urteile insbesondere dann nicht exekutiert wurden, wenn es im Sinne der Truppen opportun war, kampffähige Soldaten in der Armee zu belassen, statt sie hinzurichten oder in den Strafvollzug zu schicken. 33 Letztlich hebelte die Praxis die 30 Peter Pirker <?page no="31"?> 34 Dazu etwa ebd. 35 Kirschner, Wehrkraftzersetzung, 405-406. 36 Vgl. Maria Fritsche, Proving One’s Manliness: Masculine Self-perceptions of Austrian Deserters in the Second World War, in: Gender & History 24 (2012) 1, 35-55, 37. harten Abschreckungs- und Disziplinierungsfantasien militärischer Eliten aus: Die konse‐ quente Anwendung radikalisierter Strafnormen hätte zu massenhaften Hinrichtungen und Gefängnisstrafen geführt, was der Armee Personal und Legitimität entzogen hätte. Die pragmatische Praxis der Amnestie löste die Abschreckung auf. Die Militärjustiz erwies sich als untaugliches Instrument, den Zerfall der k. u. k.-Armee und die Kriegsniederlage aufzuhalten; die Verantwortung dafür lag weder bei ungehorsamen Soldaten noch bei milden Richtern. Sie lag bei den politischen und militärischen Eliten und deren verfehlter Kriegspolitik. - 2.4 Das Soldatenbild der Wehrmacht und seine Traditionsbezüge Warum das NS-Regime das Militärstrafrecht derart radikal verschärfte und den Tatbestand der „Wehrkraftzersetzung“ einführte, hatte seine Ursache in der Überzeugung vieler anti‐ demokratisch eingestellter Kräfte in der Weimarer Republik, dass der Zerfall des Deutschen Reichs am Ende des Ersten Weltkrieg nicht durch eine militärische Niederlage, sondern wesentlich durch „innere Zersetzung“ verursacht worden sei, wofür die Nationalsozialisten gleichzeitig den „jüdischen Marxismus“ und „den jüdischen Schleichhändler und Kriegs‐ gewinnler“ verantwortlich machten. Die Militärjustiz der kaiserlichen Armee habe diesen Zerfallserscheinungen durch Milde gegenüber ungehorsamen Soldaten und Zivilisten noch Vorschub geleistet. Dass die vergleichsweise tatsächlich härtere Militärjustiz der österreichischen Armee die Kriegsniederlage nicht hatte verhindern können, 34 trübte diese Überzeugung nicht. Albrecht Kirschner fasste zusammen: „Hitler und weite Kreise des deutschen Militärs wollten die Niederlage des Ersten Weltkriegs militärisch revidieren und zumindest die alte Machtstellung Deutschlands in der Welt wiederher‐ stellen. Dafür musste aber aus Sicht dieser Revisionisten verhindert werden, dass die Wehrkraft des deutschen Volkes von innen zersetzt werden konnte. Diese Position wurde nicht nur von Hitler und der militärischen Führung geteilt, sondern war auch in der deutschen Justiz, insbesondere der Militärjustiz, verbreitet.“ 35 Die Dolchstoßlegende und die mit ihr verbundene Ideologie der absoluten Notwendigkeit, jede „Wehrkraftzersetzung“ gnadenlos zu unterbinden, brachte ein spezifisches Soldaten‐ bild hervor, das wohl an ältere Traditionen anknüpfte, aber während der Remilitarisierung der deutschen Gesellschaft in den 1920ern und dann mit Beginn der NS-Herrschaft 1933 massive Verhärtungen erfuhr. Unnachgiebiger Kampf, bedingungsloser Einsatzwille, unbedingte Pflichterfüllung, absolute Selbstaufopferung, Todesverachtung und eiserne Kameradschaft in der Treue zum Führer, wie es in der Eidesformel auch zum Ausdruck kam, wurden zu Leitwerten der deutschen Streitkräfte erhoben. Die entsprechende „Man‐ neszucht“ der Soldaten sollten in der zivilen Gesellschaft gebührend anerkannt und gestützt werden. 36 Jede Abweichung davon galt als Schwäche, Feigheit, Minderwertigkeit und Asozialität und sollte mit drakonischen Strafen sowie sozialer Ächtung bedroht sein. Über Flucht vor dem Krieg 31 <?page no="32"?> 37 Vgl. dazu Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München 2012, 115-118. 38 Oswald Überegger, Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918-1920, Paderborn 2019, 199; Klaus Eisterer, „Der Heldentod muß würdig geschildert werden“. Der Umgang mit der Vergangenheit am Beispiel Kaiserjäger und Kaiserjägertradition, in: Klaus Eisterer/ Rolf Steininger (Hg.), Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck 1995, 105-138. 39 Siehe dazu Peter Pirker, Söhne und Rebellen der Alpen. Geschichtsbilder und Ergebnisse empirischer Forschungen zum Desertionsgeschehen in Tirol und Vorarlberg, in: Kerstin von Lingen/ Peter Pirker (Hg.), Deserteure der Wehrmacht und der Waffen-SS. Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung, Paderborn 2023, 3-32; Überegger, Im Schatten des Krieges, 199; Oswald Überegger, Der Krieg der Worte, in: Josef Feichtinger, Kämpfen für das Heiligste. Tiroler Stimmen zum Ersten Weltkrieg, Bozen 2013, 9-12. die rigide kriegsgerichtliche und soziale Ahndung von Fahnenflucht wurden die Soldaten in den Einheiten eingehend belehrt. Es wäre falsch, die Militärjustiz als einziges Instrument der Durchsetzung dieses von harter, starker Männlichkeit durchdrungenen Soldatenleitbilds zu betrachten. Soldaten bekamen die Leitwerte der Wehrmacht in der Ausbildung und in Schulungen vermittelt. Wer ihnen entsprach, erhielt in bislang ungekanntem Ausmaß Auszeichnungen und wurde mit klassenüberschreitenden Karrierewegen und mit dem Gefühl des Stolzes, ein starkes Mitglied einer schlagkräftigen Armee zu sein, belohnt. 37 Dennoch ist festzuhalten, dass die Dolchstoßlegende gerade in Tirol (und so ist an‐ zunehmen auch in Vorarlberg) sehr populär war. Ehemalige Offiziere der Kaiserjäger- und Kaiserschützenregimenter verbreiteten sie ausgiebig in ihren auch politisch geför‐ derten Erinnerungsschriften in den 1930er-Jahren. Diese Darstellungen waren, wie Os‐ wald Überegger betont, von der „Überzeugung der Militärs, der Zusammenbruch sei primär von Sozialdemokraten, Juden, den nicht-deutschen Nationalitäten und anderen vermeintlich staatsfeindlichen Kräften im Hinterland verursacht worden“, durchzogen. Als weiteres Element der soldatischen Erinnerungskultur zum Ersten Weltkrieg erkennt er eine „allgegenwärtige Hervorkehrung von ‚Opferbereitschaft‘ und ‚Heldentum‘, aus der sich nicht zuletzt auch der entsprechende Mythos des heroischen Gebirgskriegers speiste, dessen militärische Leistung wie selbstverständlich mit jener der Tiroler von ‚anno neun‘ verlinkt wurde.“ 38 Das Kommando der im Wehrkreis XVIII aufgestellten Truppen der Gebirgsjäger knüpfte bald an diese Traditionsbildung an, die eine Kontinuität militärischer Ausnahmeleistungen bis zurück zum Aufstand gegen die Franzosen unter Andreas Hofer im Jahr 1809 konstruierte. Tiroler und Vorarlberger Soldaten wurden ganz bewusst als Elitesoldaten („Söhne der Alpen“) angesprochen, indem ihre (erwartete) Kriegs‐ leistung in die Tradition der Kaiserjäger- und Kaiserschützenregimenter gestellt und deren höchster Aufopferungswille weiter mystifiziert wurde. Auch auf diese Weise sollte der Konformismus innerhalb der Truppe gewährleistet werden. 39 Linientreue und selbsttätiges Erfüllen des Soldatenbildes wurden als Ausdruck höchster Kameradschaft verbrämt, jede Dissidenz war als Im-Stich-Lassen von Kameraden, als unkameradschaftliches Verhalten sozial stigmatisiert. Neu erfinden musste die Wehrmacht in dieser Hinsicht im Westen Österreichs wenig. Sie rief die alpenländischen Soldaten vielmehr auf, dem tradierten und weiter zugespitzten Soldatenbild nicht nur ideell und symbolisch (wie im österreichischen Bundesheer), sondern in der deutschen Wehrmacht jetzt auch praktisch zu entsprechen. Die starke Truppenkohäsion in den Gebirgsdivisionen bis Kriegsende und die folgende 32 Peter Pirker <?page no="33"?> 40 Vgl. Pirker, Söhne und Rebellen, 3-33, 14-15; Siegfried Mattl/ Noora Sotaniemi, „Kameradschaft“. Funktion und Entwicklung eines Dispositivs im Nachkriegsösterreich, in: L’Homme 12 (2001) 1, 34- 50. Zu Südtirol: Johannes Kramer, Südtiroler in der Wehrmacht und Fahnenflucht. Eine Einordnung mit Fokus auf die Konzepte „Gehorsam“ und „Ungehorsam“ in der Südtiroler Veteranengesellschaft, in: von Lingen/ Pirker, 291-308, 299. Als Anschauungsmaterial für die entsprechende politisch massiv geförderte „Traditionspflege“ in der Mitte der Gesellschaft in Vorarlberg siehe vor allem: Verein Vorarlberger Gebirgstruppengedenkstätte (Hg.), Festschrift des Vereines Gebirgstruppen- Gedenkstätte Vorarlberg anläßlich der Weihe des Ehrenmales bei der Schattenburg in Feldkirch vom 21. bis 23. Mai 1971, Feldkirch 1971. 41 Gerard Oram, Armee, Staat, Bürger und Wehrpflicht. Die britische Militärjustiz bis nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Pirker/ Wenninger (Hg.), Wehrmachtsjustiz, 186-203; Treiber, Helden oder Feiglinge? , 83. 42 Alternative Service: Conscentious Objectors and Civilian Public Service in World War II, National World War II Museum, New Orleans, URL: https: / / www.nationalww2museum.org/ war/ articles/ co nscientious-objectors-civilian-public-service (abgerufen 4.7.2023); Conscentious Objectors in their own words, Imperial War Museum, URL: https: / / www.iwm.org.uk/ history/ conscientious-objectors -in-their-own-words (abgerufen 4.7.2023). 43 Treiber, Helden oder Feiglinge? , 137. 44 Ebd., 84. Erinnerungskultur ihrer Kameradschaftsverbände mit bruchlosen historischen Bezügen auf angeblich „ewige“ soldatische Werte, mit dem Lob vermeintlich herausragender mili‐ tärischer Leistungen, hoher Kampfmoral und eines bis zuletzt gehaltenen Treueethos, die Rede von „Opfergang“ und „Pflichterfüllung“ zeigen, dass das Wehrkreiskommando XVIII damit einigen und nachhaltigen Erfolg hatte. 40 Aus diesem eisernen Korsett von radikaler militärischer Disziplinierung und verhärtetem Soldaten(selbst)bild mussten sich fluchtwillige Soldaten erst befreien und lösen. Die westlichen Alliierten zogen aus der Brutalität ihrer eigenen Militärjustiz und disziplinären Schwierigkeiten im Ersten Weltkrieg andere Konsequenzen als die deutsche militärische und politische Führung. Nach 300 Todesurteilen gegen Deserteure in der briti‐ schen Armee (im Vergleich zu 48 in der deutschen Armee) entstand in Großbritannien nach 1918 eine politische Kampagne zur generellen Abschaffung der militärischen Todesstrafe, was 1930 auch gelang. Während des Zweiten Weltkriegs - selbst als in einer schwierigen Phase im Jahr 1941 manche hochrangigen Militärs nach der Todesstrafe riefen - wurde diese wegweisende Entscheidung nicht revidiert. 41 Zudem gab es die - wenn auch eingeschränkte - Möglichkeit, statt des Kriegsdienstes nicht-militärischen Ersatzdienst zu leisten. 42 In den USA wurde die Militärjustiz zwar erst nach dem Zweiten Weltkrieg dem Standard der zivilen Rechtsstaatlichkeit angepasst, aber selbst im Falle von langjährigen Haftstrafen für Desertionen dauerte die faktische Verbüßung meist nur sechs Monate; Bewährungs- und Strafeinheiten wie in der Wehrmacht kannte die amerikanische Armee nicht. 43 Sie führte außerdem die Psychologie als Methode der Identifizierung von unterschiedlichen Eignungen von Menschen für die Kriegsleistung und der Auswirkungen des Kriegsgrauens auf die Psyche der Soldaten ein, ähnlich wie die britische Armee. In der Wehrmacht hingegen war jede Kriegsdienstverweigerung mit der Todesstrafe bedroht; sie „blieb in der militärpschychiatrischen Betrachtungsweise von Deserteuren und Kriegstraumatisierten im 19. Jahrhundert stecken. Die einzigen ‚Therapien‘ waren und blieben von Empathielo‐ sigkeit und purer Gewalt geprägt.“ 44 Flucht vor dem Krieg 33 <?page no="34"?> 45 Unterstrichene Namen verweisen auf ausführliche Darstellungen zu den Genannten im biografi‐ schen Anhang. 46 Stellungnahme zum Urteil, 3.6.1943. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), AdR, DWM, GerA 334/ 13. 47 Ebd. 48 Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933-1945, Paderborn 2005, 170; Fritsche, Entzie‐ hungen, 24. Auch wenn die Zahlen, wie nach anderen Berechnungen von Stefan Treiber, etwas geringer sind, ändert dies kaum etwas an den dramatischen Unterschieden. Treiber, Helden oder Verräter? , 314. Davon zeugen mehrere Geschichten von Deserteuren und Frontverweigerern in diesem Buch (siehe Christian Engstler und Josef Lins 45 ), ein anderes Beispiel sei kurz angeführt: Der unbescholtene Weber und Musiker Erwin Frick aus Lustenau war Tragtierführer in einer Einheit der 3. Gebirgsdivision an der Ostfront. Bei der Suche nach seinem entlaufenen Esel verirrte er sich. Am nächsten Tag nahm ihn ein Unteroffizier wegen Verdachts auf Fahnenflucht fest. Der Vorwurf konnte nicht belegt werden und wurde fallengelassen. Stattdessen lautete die Anklage auf Wehrkraftzersetzung, nun, weil er einen Ohnmachtsanfall vorgetäuscht und falsche Gründe für einen Heimaturlaub angegeben habe. Auch in dieser Hinsicht musste er mangels Nachweises freigesprochen werden. Das Gericht verurteilte ihn schließlich wegen Ungehorsam zu drei Monaten Gefängnis, weil er seine „eiserne Portion“ unerlaubt verzehrt hatte. Im Verfahren wurde deutlich, dass Erwin Frick für den Dienst an der Front völlig ungeeignet war. Er selbst ersuchte darum, die Strafe von drei Monaten Gefängnis absitzen zu dürfen. Die Möglichkeit einer Frontbewährung, die viele Soldaten in solchen Fällen nutzten, lehnte er ab, „weil er gesundheitlich nicht für das Feld geeignet sei und kein Blut sehen könne“. 46 Für das Gericht zählte jedoch nur ein Kriterium, nämlich, dass er als kriegsverwendungsfähig gemustert worden war. Der zuständige Untersuchungsführer hielt fest: „Seine […] Äußerung ist eben typisch für einen Drückeberger, wenn nicht für einen Bibelforscher. […] Aus der negativen Einstellung des Beschuldigten zum Soldatentum, insbesondere seiner Pflicht auch an der kämpfenden Front seinen Mann zu stellen, halte ich den Freispruch […] für verfehlt.“ 47 Gerade weil er nichts so sehr fürchtete wie einen Fronteinsatz, setzte das Gericht in der Folge die Strafe aus und schickte ihn direkt zur kämpfenden Truppe. Die in der Debatte um die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure häufig geäu‐ ßerte Meinung, Deserteure seien in allen Armeen im Zweiten Weltkrieg gleich oder ähnlich behandelt worden, entbehrt vor diesem Hintergrund jeder empirischen Grundlage. Entsprechend drastisch sind die Unterschiede bei den Zahlen der militärrechtlich zum Tode verurteilten und hingerichteten Soldaten. Die amerikanische Armee exekutierte im Zweiten Weltkrieg in dreieinhalb Jahren 146 Soldaten, davon einen wegen Fahnenflucht, die britische Armee vierzig (keinen wegen Fahnenflucht). Die Wehrmacht richtete nach Berechnungen von Manfred Messerschmidt zwischen 18.000 und 20.000 Soldaten hin, etwa 15.000 davon nach Fahnenflucht-Urteilen von Militärgerichten. 48 - 2.5 Die Behandlung von Militärflüchtlingen durch die Schweiz und Schweden Die neutralen Länder Schweiz und Schweden galten als potentielle Zufluchtsländer für Wehrdienstentzieher und Flüchtlinge. Das Interesse der Schweizer Behörden lag generell darin, die illegale Fluchtmigration aus dem Deutschen Reich gering zu halten. Abgesehen 34 Peter Pirker <?page no="35"?> 49 Magnus Koch, „Land des Lichts“? Die neutrale Schweiz als Fluchtziel für Deserteure der Wehrmacht, in: Thomas Geldmacher et al. (Hg.), „Da machen wir nicht mehr mit“. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010, 138-145; Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg - Lebenswege und Entscheidung, Paderborn 2008, 44-53. 50 Siehe dazu den Beitrag von Nikolaus Hagen in diesem Buch und die dort zitierte Literatur. 51 Koch, Land des Lichts, 139. 52 Ebd. davon existierten Spezialinteressen des militärischen Nachrichtendienstes, die Ankom‐ menden als Quellen für Informationen über die deutschen Streitkräfte und den Kriegsver‐ lauf zu nutzen. 49 Grundlegendes zur Schweizer Aufnahmepolitik gegenüber Deserteuren muss hier nicht nachgezeichnet werden, 50 es soll nur generell festgehalten werden, dass sie im Verhältnis zur gesamten Fluchtbewegung in die Schweiz und selbst innerhalb der etwa 100.000 Militärflüchtlinge aus der Wehrmacht einen verschwindend geringen Anteil einnahmen: „Bis zum Herbst 1944 zählten die Schweizer Behörden lediglich 535 fahnen‐ flüchtige Soldaten aus dem deutschen Machtbereich,“ fasst der Historiker Magnus Koch den Kenntnisstand zusammen. 51 Bei unseren Archivrecherchen in der Schweiz erhoben wir Daten zu 137 Deserteuren, die zweifelsfrei aus dem ehemaligen Österreich in den Grenzen vom Februar 1938 stammten, 111 von ihnen fanden bis Ende 1944 Aufnahme. Wenn wir diese Zahl als Grundlage nehmen, machte der Anteil der Österreicher etwa zwanzig Prozent aus. Die niedrigen absoluten Zahlen können zunächst als Indiz dafür gewertet werden - und die Ergebnisse dieser Studie zu den Vorarlberger Soldaten bestätigen diese These -, dass „die grundsätzliche Übereinstimmung vieler deutscher (und österreichischer) Soldaten mit den Kriegszielen des NS-Regimes hoch war.“ 52 Gemessen am Bevölkerungsanteil der Alpen- und Donaugaue des Deutschen Reichs an der Gesamtbevölkerung, der im Jahr 1939 zwischen acht und neun Prozent lag, war der Anteil österreichischer Deserteure in der Schweiz aber doch deutlich höher. Wir versuchten außerdem all jene deutschen Soldaten zu registrieren, deren Fluchtweg über Vorarlberg in die Schweiz führte. Die eruierte Zahl für den genannten Zeitraum bis Ende 1944 beträgt 100 (mit 1945: 148), was im Verhältnis zu allen 535 Deserteuren fast zwanzig Prozent ausmacht - angesichts der verhältnismäßig kurzen Grenze Vorarlbergs zu Liechtenstein und der Schweiz bestätigt dies die These, dass das Ländle fluchtwillige Soldaten aus dem gesamten Deutschen Reich anzog (und hier sind nur die erfolgreichen Verläufe berücksichtigt). Unter Soldaten war bekannt, dass die Schweiz Deserteuren faktisch Asyl gewährte, auch wenn die Polizeibehörden in Einzelfällen Rückschiebungen durchführten und die illegalen soldatischen Grenzgänger unmittelbar nach ihrem Aufgreifen mehr oder weniger intensiv dazu drängten, freiwillig ins Deutsche Reich zurückzukehren, was diese fast durch‐ wegs ablehnten. Angesichts der bekannten Todesdrohung nahmen sie die bevorstehende haftähnliche Internierung und Arbeitspflicht in - meist Gefängnissen angeschlossenen - Lagern in Kauf. Dennoch kam es vereinzelt auch zu Ausschaffungen von Deserteuren mit - wie an einigen Vorarlberger Beispielen gezeigt werden kann - fatalen Folgen für die Betroffenen. Überraschend mag aus heutiger Sicht sein, dass einzelne Deserteure aus Schweizer Internierungslagern flohen und illegal in das Deutsche Reich zurückkehrten, um Flucht vor dem Krieg 35 <?page no="36"?> 53 Lars Hansson, Wehrmachtsdeserteure und ihre Fluchten nach Schweden. Promemoria des gleichna‐ migen Vortrags bei der internationalen Tagung „Wehrmachtsdeserteure. Neue Forschungen zu Ent‐ ziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und (digitaler) Gedächtnisbildung, Universität Innsbruck, 16.9.-18.9.2021. 54 Klas Åmark, Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och Förintelsen, Stockholm 2011. Für den Hinweis und die Überlassung deutschsprachiger Exzerpte danke ich Irene Nawrocka. 55 Thomas R. Grischany, Der Ostmark treuer Alpensöhne. Die Integration der Österreicher in die großdeutsche Wehrmacht, 1938-1945, Göttingen 2015, 61-67. Zur Zusammensetzung „ostmärki‐ scher“ Einheiten: Richard Germann, Neue Wege in der Militärgeschichte, in: Heinrich Berger et al. (Hg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien 2011, 175-191. sich hier weiterhin zu verbergen oder um im Kernland der deutschen Herrschaft in Europa inneren Widerstand zu organisieren. Beide Phänomene werden in diesem Artikel und im Buch an individuellen Beispielen beleuchtet. Schlechter ist nach wie vor der Wissensstand zur Aufnahme von Deserteuren durch Schweden. Das Vorhaben, auch in schwedischen Archiven intensiv zu forschen, konnte durch die Beschränkungen der Corona-Pandemie nicht realisiert werden. Wir behalfen uns durch Kooperationen, auf die später noch hingewiesen wird. Schweden schottete sich in der ersten Kriegsphase gegenüber Kriegsflüchtlingen aus den in Norwegen, Finnland und Dänemark stationierten Truppenteilen der deutschen Streitkräfte ab und ließ sie an der Grenze nicht passieren bzw. inhaftierte im Inland aufgegriffene Deserteure und schob sie zunächst „schwarz“ zurück, das heißt, ohne die deutschen Behörden darüber zu informieren. Die Regierung befürchtete 1940 im Falle einer liberalen Aufnahmepolitik einen stärkeren Zustrom und damit verbunden diplomatische Konflikte mit dem Deutschen Reich. Dem schwedischen Historiker Lars Hansson zufolge bestand dann zwischen dem 1. November 1940 und dem 5. April 1943 eine geheime Verordnung, nach der alle Deserteure zurückzuweisen waren. „Schweden entsprach damit einer Forderung der deutschen Militär‐ führung in Norwegen, die durch die deutsche Botschaft in Stockholm bei der schwedischen Regierung durchgesetzt wurde“, so Hansson. 53 Erst mit der Kriegswende begann die schwedische Regierung im April 1943 ihre Politik zu ändern und Wehrmachtsflüchtlingen Aufnahme in Internierungslagern zu gewähren. 54 Hansson eruierte, dass zwischen 1940 und 1945 mindestens 930 Wehrmachtssoldaten von Norwegen, Finnland und Dänemark illegal nach Schweden kamen. Der Löwenanteil entfiel auf die Jahre 1944 und 1945, nachdem Finn‐ land das Kriegsbündnis mit Deutschland aufgekündigt hatte und die deutschen Truppen das Land mit vielen Verheerungen räumten. Bei etwa 200 Deserteuren stellte Hansson eine Herkunft aus Österreich fest, was wiederum eine Quote von rund zwanzig Prozent bedeutet und auch die Annahme einer Überrepräsentation der Österreicher gemessen am Anteil der Reichsbevölkerung bestätigt. Relativiert werden muss hier freilich, dass es sich zumindest bei einem Teil der deutschen Truppen in Finnland und Norwegen um „ostmärkische“ Divisionen mit überdurchschnittlich vielen Soldaten aus den Alpengauen handelte. 55 Die Erwartungen, unter den Deserteuren in Schweden viele Tiroler und Vorarlberger zu finden, erfüllten sich nicht. 36 Peter Pirker <?page no="37"?> 56 Siehe dazu den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Band. 57 Der Historiker Lars Skowronski (Gedenkstätte Roter Ochse Halle) kam bei der Untersuchung von Anklagen wegen Fahnenflucht vor dem Reichskriegsgericht zu dem Ergebnis, dass 63 Prozent mit der Todesstrafe endeten. URL: https: / / www.youtube.com/ watch? v=T8vRldANWzM (abgerufen 31.7.2023). Von den etwa 230 bekannten Verfahren gegen Österreicher*innen endete die Hälfte mit der Todesstrafe. Insgesamt betrug die Zahl der Todesurteile nach Norbert Haase 1.189. David Forster, Österreicherinnen und Österreicher vor dem Reichskriegsgericht, in: Manoschek (Hg.), Opfer der NS- Militärjustiz, 390-398, 393; Norbert Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts. Neue Dokumente zur Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 39 (1991) 3, 379-411, 390. 58 Hannes Metzler, „Soldaten, die einfach nicht im Gleichschritt marschiert sind…“ Zeitzeugenin‐ terviews mit Überlebenden der NS-Militärgerichtsbarkeit, in: Manoschek (Hg.), Opfer der NS- Militärjustiz, 494-602, insb. 596-598 und 567-570; Hanno Platzgummer, Emil Bonetti (1922-2007). „Fahnenflucht im Felde“, in: Hanno Platzgummer et al. (Hg.), „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist…“, Vorarlberger vor Gerichten der Wehrmacht, Dornbirn 2011, 11-16; Werner Bundschuh, August Weiß (1921-2008). Moorsoldat Nr. 503/ 41: „Es soll keiner mehr das erleben, was ich erlebt habe“, in: ebd., 37-50. 59 Markus Barnay/ Thomas Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, Meine Lebensgeschichte, Nenzing 2015. 2.6 Quellen Mit Beginn des Tages der Einberufung zur Wehrmacht setzte die Zuständigkeit der Militär‐ justiz ein. Sie war nicht nach dem Herkunfts- oder Territorialprinzip organisiert, sondern im Wesentlichen nach der Truppenzugehörigkeit des Soldaten: Jede Division verfügte über ein eigenes Divisionsgericht, das grundsätzlich für die Truppenkörper der Division zuständig, aber übergeordneten Gerichten mit dem Reichskriegsgericht in Berlin bzw. Torgau an der Spitze unterstellt war. Das Reichskriegsgericht übernahm Fälle von Wehrdienstentziehung und Fahnenflucht, wenn die Gestapo damit verbundene, direkt gegen das NS-Regime gerichtete Handlungen erkannte, etwa offene und wiederholte Kriegsdienstverweigerung, die Bildung einer bewaffneten Widerstandsgruppe oder die Absicht, die alliierten Armeen oder Partisanen zu unterstützen oder ihnen beizutreten. Gegen Wehrpflichtige und Soldaten aus Vorarlberg kam es nur in ganz wenigen Fällen zu Verfahren bzw. Anklagen vor dem Reichskriegsgericht in Zusammenhang mit Wehrdienstentziehungen. Das Verfahren gegen die beiden Bregenzer Jugendlichen Josef und Karl Schertler musste mangels Substanz der Vorwürfe eingestellt werden. 56 Wer vor dem Reichskriegsgericht aber angeklagt wurde, hatte geringe Chancen zu überleben. 57 Alle vier aus Vorarlberg stammenden Angeklagten - die Kriegsdienstverweigerer Ernst Volkmann und Franz Reinisch sowie die beiden Deserteure Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, die 1944 in Sonntag im Großen Walsertal begonnen hatten, eine Österreich-patrio‐ tische bewaffnete Gruppe zu bilden - verurteilte das Reichskriegsgericht zum Tod. Ihre widerständigen Geschichten und die einiger anderer Vorarlberger Deserteure, die ihre Verfolgung überlebten - etwa von August Weiss und Emil Bonetti 58 -, sind mittlerweile einigermaßen bekannt und mussten in den Grundzügen nicht neu erforscht werden. Im Fall der Deserteure von Sonntag und ihren Helfer*innen bot ein Aktenfund jedoch die Möglichkeit, neue Einblicke in die an sich gut bekannte Geschichte zu gewinnen und das widerständige Handeln der Beteiligten sowie deren teils erniedrigende Behandlung durch die Nachkriegsbehörden erstmal eingehend auf Aktenbasis darzustellen. 59 Flucht vor dem Krieg 37 <?page no="38"?> 60 Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, 134, 141. 61 Zur Organisation der Gestapo im Reichsgau Tirol und Vorarlberg: Wilfried Beimrohr, „Gegnerbe‐ kämpfung“ - Die Staatspolizeistelle Innsbruck der Gestapo, in: Steininger/ Pitscheider (Hg.), Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit, 11-150. 62 VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1. Ein wichtiger Fundus für die Erforschung von Desertionen von weniger oder kaum bekannten Vorarlberger Soldaten sind die überlieferten Akten der Gerichte der 2., 3., 6. Gebirgsdivision und der Ersatztruppen im Wehrkreis XVIII (Divisionen 188 und 418). Mehr als 5.000 Verfahrensakten dieser und anderer Militärgerichte, die nach der Befreiung in Salzburg aufgefunden wurden, sind im Österreichischen Staatsarchiv in Wien zugänglich. Waren Soldaten länger als drei Monate abgängig, gaben die Divisionsgerichte die Akten an höhere Instanzen weiter, die für die zentrale Fahndung zuständig waren, dem Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin bzw. dem Zentralgericht des Heeres. 60 Akten dieser Gerichte sind in Splittern erhalten geblieben und wurden im Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv in Freiburg im Breisgau, beforscht. Dort sind außerdem Karteien zu Todes‐ urteilen verwahrt und es besteht die Möglichkeit - wenn die Namen von Deserteuren aus anderen Quellen bekannt sind - gezielt mit Hilfe einer Datenbank in Beständen weiterer Wehrmachtsgerichte zu suchen. Wie erwähnt, ahndete neben den Militärgerichten auch die Sonderjustiz Delikte der Wehrkraftzersetzung, etwa die Entziehung von der Wehrpflicht durch Flucht ins Ausland oder die Beihilfe zur Fahnenflucht durch Zivilist*innen. Für den Schauplatz Vorarlberg analysierten wir daher die relevanten Verfahrensakten des Sondergerichts Feldkirch, die im Vorarlberger Landesarchiv (VLA) zu einem großen Teil erhalten und zugänglich sind. Die besondere Lage Vorarlbergs an der Grenze zur Schweiz, die fluchtwillige Soldaten aus dem gesamten Reich anzog, erforderte zudem eine Durchsicht von ebenfalls im VLA in den Beständen der Landratsämter (Bezirkshauptmannschaften) überlieferten Poli‐ zeiakten, der Häftlingsprotokolle der Gefängnisse von Bregenz, Feldkirch und Bludenz sowie der Chroniken der Gendarmerieposten in Vorarlberg. In diesen Beständen sind vor allem gescheiterte Entziehungen aus der Wehrmacht, der Waffen-SS und dem Reichsar‐ beitsdienst, gelegentlich auch Fahndungsmeldungen auffindbar. Eine Besonderheit sind Aufzeichnungen und Dokumentensammlungen zu Deserteuren im Bestand des Landrats‐ amtes des Kreises Bregenz. Der Landrat des Kreises Bregenz, der deutsche Jurist Walter Didlaukies, ließ seine Beamten ein „Verzeichnis über Fahnenflüchtige, die im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben“ und ein „Verzeichnis über Fahnenflüchtige, die nicht im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben“ führen und eingegangene Meldungen und Anfragen von Wehrmachtsdienststellen, des Grenzpolizeikommissariats (Greko) Bregenz, einer Außenstelle der Gestapostelle Innsbruck 61 , der Schutzpolizei und der Gendarmerie nach Ordnungszahlen ablegen. Auf der ersten Liste finden sich 64 Namen, auf der zweiten genau hundert. 62 Nicht alle Verzeichneten erwiesen sich bei genauerer Überprüfung als Deserteure im Sinne der Wehrmachtsjustiz, umgekehrt ergaben Recherchen an anderen Stellen, dass Didauklies’ Registrierungseifer doch etliche Deserteure entgangen waren. Fast fünfzig Fälle von Wehrdienstentziehungen wurden nach 1945 von der Vorarlberger Landesregierung im Rahmen von Opferfürsorgeverfahren untersucht und bewertet - auch diese Akten bieten häufig Einblick in Geschichten, die uns bei einer Eingrenzung auf Mi‐ 38 Peter Pirker <?page no="39"?> 63 Ausführlich zu den herangezogenen Quellen: Peter Pirker, Deserteure in den Alpen. Vermessungen von Fluchten aus der Wehrmacht, in: zeitgeschichte 49 (2022) 4, 459-490. 64 Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz. 65 Christopher Theel, „Meine Ehre heißt Treue? “ Die Behandlung von Fahnenfluchtfällen in der SS- und Polizeigerichtsbarkeit, in: von Lingen/ Pirker, Deserteure der Wehrmacht, 167-192. litär- und Polizeiakten unbekannt geblieben wären. Diese Dokumente vermitteln außerdem einen Eindruck vom behördlichen Umgang mit Deserteuren in der Zweiten Republik. Fast ausschließlich erfolgreiche Fluchten sind hingegen in den Akten der Schweizer Polizei- und Armeebehörden sowie der Bundesanwaltschaft dokumentiert, die das Bundesarchiv Bern bzw. Staatsarchiv St. Gallen aufbewahren. Spezialarchive wie das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), lokale Archive und Museen wie das Bregenzer‐ wald Archiv, das Montafon Archiv oder das Stadtmuseum Dornbirn, um nur drei zu nennen, sammeln und verwahren Quellen, oftmals Ego-Dokumente, die sich für Tiefenbohrungen und Fallstudien als äußerst wertvoll erwiesen. Zur Rekonstruktion von Biografien und Kriegserfahrungen waren die im Tiroler Landesarchiv zugänglichen Wehrstammbücher und Suchkarten der Wehrersatzinspektion Innsbruck dienlich und viele Gemeindearchive und Pfarrämter gaben auf Anfrage zu einzelnen Personen äußerst verlässlich und rasch Auskunft, sofern es datenschutzrechtlich möglich war. Schließlich haben wir uns bemüht, privat verwahrte Quellen zu erschließen und mit Angehörigen und Nachkommen von Deserteuren und Wehrdienstentziehern sowie Unter‐ stützer*innen Interviews und mit vielen weiteren bei Recherchen vor Ort Gespräche zu führen. Mittlerweile nicht mehr aus komplexen Forschungsprozessen wegzudenken sind digital zugängliche Quellen, etwa die riesige Sammlung der Arolson Archives zu Opfern des Nationalsozialismus und zu Displaced Persons, deren Namensdatenbank es ermöglicht, vom Schreibtisch aus auch die Spuren von Opfern der Sonder- und Militärjustiz in den Ver‐ zeichnissen vieler Konzentrations- und Straflager sowie von Gefängnissen im Deutschen Reich zu verfolgen und ihr Schicksal ansatzweise zu klären. Nicht zuletzt konnten unsere Forschungen auf die Resultate der Arbeit von Historiker*innen in Vorarlberg aufbauen, insbesondere der Johann-August-Malin-Gesellschaft und ihrem Lexikon „Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945“. 63 Außerdem profitierten wir vom ersten großen Forschungsprojekt in Österreich zu Opfern der NS-Militärjustiz, das damals junge Wis‐ senschaftler*innen - unter ihnen einige aus Vorarlberg - unter der Leitung von Walter Manoschek zwischen 2001 und 2003 durchführten. 64 Hilfreiche Hinweise auf Deserteure aus Vorarlberg gaben außerdem Lars Hansson (Schweden), Martinus Hauglid (Norwegen) und Jörg Krummenacher (Schweiz). Einen Sonderfall der Beforschung stellen Wehrpflichtige dar, die zu Einheiten der Waffen-SS eingezogen worden waren und sich unerlaubt von der Truppe entfernten. Die Waffen-SS, obwohl im Krieg der Wehrmacht unterstellt, verfügte in Form von Polizei- und SS-Gerichten über eine eigene Form der Militärjustiz, die bis zur Eingliederung von „fremdvölkischen“ und „volksdeutschen“ Freiwilligen aber kaum mit Fällen unerlaubter Entfernung und Fahnenflucht befasst war. 65 Akten der SS- und Polizei-Gerichte sind schlecht überliefert, dennoch ließen sich einige Fälle von desertierten Angehörigen der Waffen-SS und von Polizeitruppen eruieren. Ähnlich unsystematisch erfolgte die Dokumentation von Fällen der Fahnenflucht aus dem Reichsarbeitsdienst, nach Flucht vor dem Krieg 39 <?page no="40"?> 66 Vgl. Thomas Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen! “ Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und das Problem, die Tatbestände auseinander zu halten, in: Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz, 133-194, 137-139. Ausführlicher dazu im Kontext des Projekts: Pirker, Deserteure in den Alpen, 466-469. 67 Vgl. Claudia Bade, Todesurteile gegen Deserteure. Urteilspraxis und Selbstbilder der Wehrmacht‐ richter, in: von Lingen/ Pirker (Hg.), Deserteure der Wehrmacht, 149-166, 150. denen wir nicht gezielt suchten, die wir aber aufnahmen, wenn wir bei der Durchsicht von Polizei- und Gerichtsakten auf sie stießen. III. Wehrdienstentziehungen und Desertionen mit Bezug zu Vorarlberg - 3.1 Wer ist ein Deserteur? Unser Forschungsansatz sah vor, nicht nur Wehrdienstentziehungen von Wehrpflichtigen und Soldaten aus Vorarlberg in unserer Sammlung und Datenbank zu erfassen, sondern auch von solchen, die aus anderen Ländern des Deutschen Reiches und der angeschlossenen oder eingegliederten Gebiete stammten, falls Vorarlberg ein Schauplatz der Entziehungs‐ handlung gewesen war. Bei der Kategorisierung der Entziehungspraxis hielten wir uns nicht ausschließlich an die Bewertungen der Polizei- und Militärbehörden des NS-Staates. Wie bereits dargelegt, bestand ein wesentlicher Ermessensspielraum von Kriegsgerichten der Wehrmacht darin, eine unerlaubte Entfernung von der Truppe entweder als „Unerlaubte Entfernung“ oder als „Fahnenflucht“ zu bewerten. 66 Verschwand ein Soldat unerlaubt aus der Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf, dem Reservelazarett Feldkirch oder einem Gebirgsjäger-Ersatz-Regiment in Tirol, verfasste der Truppenkommandant zunächst einen Tatbericht, der noch nicht festlegte, um welche Kategorie der Entfernung es sich handelte. Welches Delikt vor dem Divisionsgericht angeklagt wurde, hing vom Verlauf der Entfernung, dem Ergebnis der Ermittlungen samt der Rechtfertigung des Angeklagten und der Abwägung des Gerichts ab. Kehrte der Soldat aus eigenen Stücken binnen drei Tagen zurück, wurde entweder eine Arreststrafe verhängt oder die Anklage wegen unerlaubter Entfernung erhoben; wurde er festgenommen, war seine ursprüngliche Absicht zu klären. Selbstverständlich waren die meisten Festgenommenen bestrebt, den Vorsatz einer dauer‐ haften Entfernung zu entkräften. Es wäre jedoch eine grobe Verkürzung, würde man davon ausgehen, dass jeder Militärrichter bestrebt war, angeklagte Soldaten der Fahnenflucht zu überführen, um nach Möglichkeit die Todesstrafe zu verhängen. Das Beispiel von zwei Prozessen des Divisionsgerichts 188 im Jahr 1940 in Vorarlberg gegen die aus dem Wehrmachtsgefängnis Silvrettadorf entwichenen Häftlinge Philipp Gress und Herbert Kessner zeigt die unterschiedliche Spruchpraxis von Richtern deutlich: Im ersten Prozess wurden sie bloß wegen unerlaubter Entfernung zu Zuchthaus, im zweiten Prozess für dieselben Handlungen wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Im Unterschied zum ersten Richter, der die angebliche Absicht der beiden, sich bei einer Frontsammelstelle melden zu wollen, für nicht widerlegbar befand, hielt sie der zweite Richter für nicht glaubhaft. Erst durch seine Verfahrensführung machte er aus Gress und Kessner Deserteure. 67 Das Aktenstudium offenbart aber auch gegenteilige Fälle, bei denen Richter der Darstel‐ lung der Angeklagten folgten und der Eindruck entsteht, dass sie danach trachteten, eine Verurteilung wegen Fahnenflucht zu vermeiden. Vor allem auf der Ebene der Gerichte 40 Peter Pirker <?page no="41"?> 68 Dazu Kerstin Theis, Wehrmachtjustiz an der „Heimatfront“: Die Militärgerichte des Ersatzheeres im Zweiten Weltkrieg, Berlin 2016, 404-405. 69 Im Bestand des Gerichts der Division 418 finden sich mehr als dreißig Fallakten dazu. 70 Fast systematisch geschah dies in Südtirol. Johannes Kramer, Sonderfall Südtirol. Die erfolgreiche und gescheiterte Aktivierung des „volksdeutschen Wehrwillens“, in: zeitgeschichte 49 (2023) 4, 491-512. Zum Rot-Weiß-Rot-Buch siehe Beispiele bei Ulrich Nachbaur, Österreich als Opfer Hit‐ lerdeutschlands. Das Rot-Weiß-Rot-Buch 1946 und die unveröffentlichten Vorarlberger Beiträge, Regensburg 2009. der Divisionen hatten die dort tätigen Richter neben den ideologisch hoch aufgeladenen Bestimmungen auch das Interesse der Truppen im Blick, verurteilte Soldaten nach Verbü‐ ßung von (Teil-)Strafen wieder zur Verfügung zu bekommen. Bei der Bestrafung nach dem Delikt der unerlaubten Entfernung war dies weit einfacher als bei einer Verurteilung nach dem Delikt Fahnenflucht, die mit dem Verlust der Wehrwürdigkeit einherging. Angesichts der horrenden Verluste an allen Kriegsfronten hebelte der Bedarf an Ersatz für gefallene Frontsoldaten im Jahr 1944 die drakonischen Bestimmungen des Militärstrafrechts und der Führererlässe bis zu einem gewissen Grad aus. Heinrich Himmler, der im August 1944 Befehlshaber des Ersatzheeres wurde, ordnete im September 1944 an, den Strafvollzug unbedingt in den Dienst der Kriegsführung zu stellen, 68 was in der Praxis auch bedeutete, dass Richter der Division 418 im Frühjahr 1945 Verfahren gegen abtrünnige, aber wieder festgenommene Soldaten zur sofortigen „Frontbewährung“ aussetzten. 69 Anhand von Akten der Polizei und Militärjustiz lässt sich also nicht immer eindeutig festlegen, ob ein Soldat, der wegen unerlaubter Entfernung oder Fahnenflucht gesucht, angeklagt oder verurteilt wurde, als Deserteur zu bezeichnen ist. Weit klarer ist die Sachlage bei Soldaten, die nie gefasst wurden, auch wenn viele in den Strafsachenlisten nur mit dem Delikt der „Unerlaubten Entfernung“ verzeichnet sind. Hier kann der manchmal hinzugefügte Vermerk „flüchtig“ als Indiz dafür gelten, dass den Betreffenden die Desertion gelungen war. In manchen Fällen finden sich im Bundesarchiv Bern korrespondierende Flüchtlingsakten, die jeden Zweifel beseitigen. Umgekehrt fehlen für viele Soldaten, die in der Schweiz als Deserteure registriert wurden, Fahndungsdokumente der deutschen Polizei oder der Wehrmacht. Bei vielen Wehrpflichtigen oder Soldaten, die sich irgendwann im letzten Kriegsjahr, insbesondere im Frühjahr 1945, von ihren Einheiten absetzten, mangelt es in erhalten gebliebenen Wehrstammbüchern oder anderen Aufzeichnungen der Wehrmacht an kon‐ kreten Hinweisen auf ihre letzte Verwendung oder ihren Verbleib. Deren Desertion lässt sich oft nur anhand von Nachkriegszeugnissen belegen und beschreiben, selten - wie im Fall von Krumbach oder St. Gallenkirch - durch Verzeichnisse oder ausführliche Berichte von Deserteuren, die von der neuen Gemeindeverwaltung oder einer Widerstandsgruppe angelegt wurden, um das Ausscheren von Österreichern aus der deutschen Kriegsführung etwa für die Besatzungstruppen und Politiker der alliierten Mächte zu dokumentieren. 70 Häufiger sind in der Literatur und in Opferfürsorgeakten verstreut zu findende Belege, die allerdings oft auf mündlichen Überlieferungen beruhen, die in manchen Fällen leicht, in anderen schwer, in manchen gar nicht überprüfbar waren. Bei Dokumenten Schweizer Provenienz wiederum reichen neben dem Namen wenige Vermerke, etwa die Bezeichnung „Deserteur“ und das Datum der illegalen Einreise auf einer Karteikarte der Politischen Po‐ Flucht vor dem Krieg 41 <?page no="42"?> 71 Für achtzig Prozent der in Schweizer Akten eruierten Deserteure liegen jedoch ausführliche Unterlagen vor (Protokolle von Einvernahmen durch die Schweizer Polizei- und Militärbehörden). 72 Leonhard Burtscher an das Franz. Kontrolldetachment zu Hd. Herrn Lt. Blondell, 28.11.1947. VLA, AVLReg IVa-168/ 418. Nicht in das Sample aufgenommen wurden außerdem Fälle, bei denen das Militärgericht das Verfahren einstellte, weil sich der Anfangsverdacht als unbegründet herausstellte oder ein Freispruch erfolgte. 73 Insofern folgen wir der Behauptung von Stefan Treiber nicht, dass „Fahnenflucht auf Grund der Aktenlage und der Umstände nur bis Ende 1944 wissenschaftlich untersucht werden“ könne. Treiber, Helden oder Feiglinge? , 312. 74 Neben dem Autor waren an der Archivarbeit im Österreichischen Staatsarchiv, in den Tiroler und Vorarlberger Landesarchiven Simon Urban und Aaron Salzmann sowie im Bundesarchiv Bern und im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau Johannes Kramer beteiligt. lizei des Kantons St. Gallen, um mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen zu können, dass es sich um einen Deserteur handelte, der von Vorarlberg bzw. über Liechtenstein die Schweizer Grenze überschritten hatte. 71 Bis zu einem gewissen Grad ist für unseren Forschungsprozess kennzeichnend, dass wir auf der Ebene der quantitativen Analyse nicht umhinkamen, in der Zeit ihres Ge‐ schehens vielleicht ambivalente oder in ihrer Absicht offen gebliebene Handlungen zu „vereindeutigen“. Unser methodischer Umgang mit diesem Problem bestand schließlich darin, die Kategorisierungen von Justiz und Polizei nicht eins zu eins zu übernehmen, und Fälle, bei denen wir lediglich eine unspezifische behördliche Meldung über eine „unerlaubte Entfernung“ in den letzten Kriegswochen oder pauschale Angaben über die Existenz von Deserteursgruppen an manchen Orten fanden, diese nicht in die statistische Auszählung einzubeziehen. So dokumentieren wir zwar den Hinweis des Deserteurs Leonhard Burtscher, dass sich zu Kriegsende im Großen Walsertal 27 Deserteure befanden, oder Berichte über die kollektive Auflösung von Standschützeneinheiten in der letzten Kriegswoche, nahmen sie in die Zählung aber nicht auf. In Tabelle 7 zur Herkunft von Deserteuren und Wehrdienstentziehern (S. 48) sind für Sonntag, dem Heimatort von Leonhard Burtscher, nur jene drei Fahnenflüchtigen dargestellt, deren Namen wir kennen. 72 Einerseits beabsichtigten wir damit, Zuordnungen auf Basis von Spekulationen zu vermeiden, andererseits auch nicht leichtfertig über namentlich nicht nachweisbare Desertionen, die ja bis in die letzten Kriegstage hochriskant blieben, hinwegzusehen, etwa über die Fahnenflucht des Langenegger Soldaten Alois Schwarz Anfang April 1945 von der Westfront nach Hause, um dort gemeinsam mit anderen Deserteuren und Regimegegnern Zerstörungen durch SS- und Wehrmachtstruppen zu verhindern. 73 Hätten wir uns mit Fällen wie seinem nicht beschäftigt, wäre uns eine ganz spezifische Form desertierenden Verhaltens von Wehrmachtssoldaten entgangen. Im Forschungsprozess verfassten die Projektmitarbeiter 74 bei der Durchsicht der Quellen neben der Aufnahme objektiver Daten wie Personalien kurze Darstellungen des Gesche‐ hens. Diese lieferten unter Berücksichtigung des Verlaufs - etwa der Dauer einer un‐ erlaubten Entfernung, der Festnahme oder freiwilligen Stellung - und des Urteils die Grundlage für die Codierung der Fälle durch den Autor. Diese geschah induktiv in drei Schritten. Nach einer ersten offenen Verschlagwortung erfolgten zu einem späteren Zeit‐ punkt Präzisierungen im Rahmen von Nachrecherchen und schließlich eine Klassifikation, 42 Peter Pirker <?page no="43"?> 75 Die Abweichung gegenüber der Zahl 620 bei Pirker (Deserteure in den Alpen, 480) ergab sich durch weitere Nachrecherchen und vor allem durch die Einarbeitung einer bislang nicht berück‐ sichtigten Kartei der Politischen Polizei des Kantons St. Gallen mit Aufzeichnungen zu illegalen Grenzübertritten in den Kanton St. Gallen. Für diesen Hinweis danke ich Hanno Loewy und Jörg Krummenacher. Siehe Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2005. bei der aus der Grundgesamtheit der zu Vorarlberg erhobenen Fälle mehr als 139 unklare oder unzutreffende ausgeschieden wurden. Um Uneindeutigkeiten des Verlaufs und das Scheitern von Entziehungen nicht zu verwischen, wurde beispielsweise die Entziehungspraxis des weiter unten noch erwähnten Josef Pankraz Fink aus Krumbach als „Desertion/ Entfernung verurteilt“ codiert. Konnte der Verlauf nach einer Festnahme nicht eruiert werden, bekam der Fall die Zuschreibung „Desertion/ Entfernung festgenommen“ und „Unbekannt“, wenn der Verlauf völlig im Dunklen blieb. Die Einführung der Kategorie „Desertion/ Entfernung“ sollte eine einfache Übernahme der Bewertungen abweichenden Handelns sowohl durch die Justiz- und Polizeibehörden des NS-Staates als auch durch die Behörden der Zweiten Republik - die gerade im Militärischen häufig die Einschätzung ersterer übernahmen - vermieden werden. Insgesamt wurden vier Formen der Entziehung (mit acht Verläufen) gebildet: Neben „De‐ sertion/ Entfernung“ waren dies die Kategorie „Desertion“ für eindeutige Fahnenfluchten, „Verweigerung/ ‚Verrat‘“ für Entziehungen im Kriegsgeschehen (z. B. als „Feigheit“ verfolgte Fluchten von der Front, als „Kriegsverrat“ und „Landesverrat“ verfolgte Kooperationen mit dem Kriegsgegner), „Flucht/ Verweigerung Einberufung“ für Wehrdienstentziehungen vor der Einberufung und Selbstbeschädigungen („Selbstverstümmelung“). Wehrkraftzer‐ setzende Äußerungen ohne Fluchthandlungen und deren Verfolgung blieben in dieser Studie unberücksichtigt. - 3.2 Entziehungsformen und Herkunft Insgesamt wurden 653 Entziehungshandlungen mit Bezug zu Vorarlberg identifiziert. 75 Helfer*innen sind hier nicht inkludiert. Die mit Abstand größte Gruppe bilden die 507 Deserteure gegenüber 124 Personen, die vor einer Einberufung oder bei der Einberufung die Flucht ergriffen bzw. sich selbst später Verletzungen zufügten, um einem Frontein‐ satz zu entkommen. Ein markantes Ergebnis ist, dass im Vorarlberger Gesamtsample gescheiterte Entziehungen (331) häufiger aufscheinen als gelungene (254 bzw. 43 Pro‐ zent). Betrachtet man jedoch die verschiedenen Formen, überwiegen bei Desertionen die erfolgreichen Fluchten (54 Prozent). Bei der zweiten Form der Entziehungen (Stellungs‐ verweigerungen/ Selbstbeschädigung) war hingegen ein negativer Ausgang (88 Prozent) sehr wahrscheinlich, wobei hier einschränkend betont werden muss, dass gelungene „Selbstverstümmelungen“ kaum aktenkundig wurden und es hier vermutlich eine größere Dunkelziffer gibt. Insgesamt ließen sich 55 Todesfälle im Zusammenhang mit Fluchten aus der Wehrpflicht eruieren, die im Einzelnen im Anhang dargestellt werden. Flucht vor dem Krieg 43 <?page no="44"?> 76 Vgl. Pirker, Deserteure in den Alpen, 480-482. Verlauf/ Form Deser‐ tion Desertion/ Entfernung Flucht/ Verweigerung Einberufung Verwei‐ gerung/ „Verrat“ Ge‐ samt Tod Neutrales Ausland 147 - 12 - 159 1 Kriegsgegner 8 - - - 8 1 Untersuchungsge‐ biet 77 - 3 - 81 4 Andere Gebiete 6 - -1 - 7 - Zwischensumme ge‐ lungene Fluchten 238 - 16 - 254 - Festgenommen 159 1 48 2 210 13 Verurteilt 39 16 55 3 113 29 Selbstmord/ Versuch 7 - 1 - 8 7 Zwischensumme ge‐ scheiterte Fluchten 205 17 104 5 331 - Summe bekannte Verläufe 443 17 120 5 584 55 Unbekannt 64 - 4 - 68 - Gesamt 507 17 124 5 653 55 Tab. 2: Formen und Verläufe der Entziehung aus der Wehrpflicht mit Bezug zu Vorarlberg. Das Desertions- und Entziehungsgeschehen in Vorarlberg war durch die topografische Lage im Südwesten des Deutschen Reichs und die Grenzlage zu Liechtenstein und der Schweiz im Vergleich zu Tirol und Südtirol stärker von transregionalen und transnationalen Praktiken geprägt. 76 Die Analyse der Daten nach dem regionalen Herkunfts- und Hand‐ lungskriterium (Tab. 3) offenbart zwei signifikante Kennzeichen: Erstens handelten fast zwei Drittel (63 Prozent) der aus Vorarlberg stammenden Wehrmachtsflüchtlinge in ihrer Herkunftsregion. Entweder nützten sie die Gelegenheit, dass sie sich gerade in Kasernen, Lazaretten oder auf Urlaub im Reichsgau Tirol und Vorarlberg aufhielten, oder sie schlugen sich von ihren Einsätzen in Front- und Besatzungsgebieten in ihre Heimat durch und versteckten sich hier bzw. überschritten im Zuge der Absetzbewegung von Vorarlberg aus die Grenze zu Liechtenstein oder zur Schweiz. Zweitens war der Anteil auswärtiger Deserteure am Fluchtgeschehen mit mehr als siebzig Prozent deutlich höher als in Tirol und Südtirol - ihr Ziel war mit wenigen Ausnahmen ebenfalls die Schweiz. 44 Peter Pirker <?page no="45"?> 77 Allerdings ist von einer gewissen Verzerrung auszugehen, weil die Fälle mit unbekanntem Verlauf häufiger ortsfremde Akteure aufweisen. Der Gesamtbefund ändert sich dadurch aber nicht. 78 Wird die Todesrate bei den Verurteilten als Maßstab herangezogen, könnte sich die Zahl der Todesopfer in der Theorie noch um bis zu zehn erhöhen. Tirol-Vorarlberg (V) Zahl Übereinstim‐ mung Gelungene Fluchten Herkunft ja 256 - 143 (61-%) Herkunft ja/ Handlung ja 161 63 % 103 (67-%) Handlung ja 560 - 214 (42-%) Handlung ja/ Herkunft nein 398 71 % 111 (32-%) Deserteure/ Entzieher aus und in Vorarl‐ berg 654 - 251 (43-%) Tab. 3: Das Desertions- und Entziehungsgeschehen in Vorarlberg nach Herkunft. 100 Prozent ist jeweils der Wert bei „Herkunft ja“ und „Handlung ja“. In der Spalte „Gelungene Fluchten“ bezieht sich der Prozentsatz auf die Zahl der bekannten Verläufe (Herkunft ja: 235; Herkunft ja/ Handlung ja: 153; Handlung ja: 504; Handlung ja/ Herkunft nein: 350; Deserteure/ Entzieher aus und in Vorarlberg: 586). Wie Tabelle 3 ebenfalls zeigt, hatten Vorarlberger Soldaten einen „Heimvorteil“. Mehr als zwei Drittel (67 Prozent) entkamen ihren Verfolgern. Bei den ortsfremden Flüchtlingen traf dies dagegen nur auf ein Drittel zu; ihre Chancen waren also dramatisch schlechter. 77 3.2.1 Vorarlberger Akteure Konzentrieren wir uns zunächst auf die 256 einheimischen Deserteure und Verweigerer. Trotz ihrer, wie gezeigt wurde, recht guten Aussichten weist Tabelle 4 auch sechs Todesfälle auf. Diese standen jedoch nicht im Zusammenhang mit der Fluchtbewegung selbst. Diese Männer starben entweder nach erfolgreicher Desertion bei einem Arbeitsunfall (Schweiz) und nach dem Übergang in den offensiven Widerstand (Slowenien, Krumbach, Langenegg). Bei den gescheiterten Fluchtversuchen ließ sich bei der Hälfte aller Festnahmen auch eine Verurteilung eruieren. Nach Gerichtsurteilen ereigneten sich wenig überraschend die meisten Todesfälle (15), elf durch Hinrichtungen, vier während des Strafvollzugs. Vier Festgenommene kamen bereits vor einem Gerichtsverfahren bei einem Ausbruchsversuch aus der Haft ums Leben. Bei der anderen Hälfte der Festnahmen konnte der Verlauf mangels Gerichtsakten nicht aufgeklärt werden. Die Zahl der Todesopfer unter einheimischen Deserteuren und Verweigerern (bislang 27) könnte daher noch etwas höher liegen. 78 Flucht vor dem Krieg 45 <?page no="46"?> 79 Die Herkunft wurde nach Wohnorten festgelegt, in jenen Fällen, wo der letzte Wohnort unklar war, wurde der Geburtsort herangezogen. Verlauf/ Form De‐ ser‐ tion Deser‐ tion/ Entfer‐ nung Flucht/ Verweigerung Einberufung Verwei‐ gerung/ „Verrat“ Ge‐ samt Tod Neutrales Ausland 66 - 3 - 69 1 Kriegsgegner 8 - - - 8 1 Untersuchungsgebiet 57 - 3 - 60 4 Andere Gebiete 5 - 1 - 6 - Zwischensumme gelungene Fluchten 136 - 7 - 143 - Festgenommen 33 1 9 2 45 4 Verurteilt 19 13 9 3 44 15 Selbstmord/ Versuch 2 - 1 - 3 2 Zwischensumme geschei‐ terte Fluchten 54 - 19 5 92 - Summe bekannte Ver‐ läufe 190 14 26 5 235 - Unbekannt 18 - 3 - 21 - Gesamt 208 14 29 5 256 27 Tab. 4: Verläufe von Entziehungen bei Vorarlberger Soldaten. Bei den gelungenen Desertionen (136) beläuft sich der Anteil der Binnenfluchten in Vorarlberg gegenüber Fluchten ins neutrale Ausland, zum Kriegsgegner oder in andere Gebiete auf 41 Prozent. Die Analyse der sozialräumlichen Verteilung macht deutlich, dass Entscheidungen, welche die Fluchtrichtung betrafen, auch stark von der Herkunft innerhalb Vorarlbergs abhingen. Die Verteilung der Herkunftsorte 79 (Tab. 5) belegt zunächst, dass es in fast sechzig Prozent der Vorarlberger Gemeinden zumindest eine Entziehungshandlung gab (wobei das Phänomen in den Landkreisen Bregenz und Bludenz stärker verbreitet war als im Landkreis Feldkirch). Ob diese dort oder an der Ostfront stattgefunden hatte, war für ihre Wahrnehmung sekundär, da unabhängig vom Fluchtort und der Fluchtrichtung die Fahndung jedenfalls auf die Herkunftsgemeinde und die Herkunftsfamilie zurückwirkte. Man kann daher als ein weiteres Ergebnis festhalten, dass Einheimische in weiten Teilen des Landes vor der Wehrpflicht flüchteten und dies weithin bekannt war. Die geringe Dichte bestätigt zugleich die Annahme, dass Desertieren in den meisten Fällen (fast siebzig Prozent) ein individuelles Unternehmen blieb und es nur zu wenigen Gruppenbildungen kam, sei es bei der Flucht ins sichere Ausland, sei es im Kriegsgebiet, sei es in der Heimatgegend. 46 Peter Pirker <?page no="47"?> Landkreise Zahl der Ge‐ meinden Gemeinden mit De‐ serteuren Anteil % Landkreis Bludenz 28 17 60,71 Landkreis Bregenz 33 21 63,64 Landkreis Feldkirch 27 14 51,85 Gesamt 88 53 59,09 Tab. 5: Vorkommen von Desertion/ Entziehung in Gemeinden der drei Vorarlberger Landkreise des Reichsgaus Tirol und Vorarlberg. Quelle der Zahl der Gemeinden: Reichsgau Tirol-Vorarlberg, Gemeindeverzeichnis für den Reichsgau Tirol-Vorarlberg, 1939. In absoluten Zahlen (Tab. 6) stammten die meisten Fluchtwilligen aus den großen (Stadt-)Gemeinden Bregenz (37), Lustenau (22), Dornbirn (16) und Feldkirch (15) sowie aus der 1938 aus Gaißau, Fußach und Höchst gebildeten Gemeinde Rheinau im Rheindelta (17). Gemeinde Zahl Bregenz (inkl. Kennelbach) 37 Lustenau 22 Rheinau (Fußach, Gaißau, Höchst) 16 Dornbirn 16 Feldkirch 15 Krumbach 14 St. Gallenkirch 9 Hard 8 Bludenz (inkl. Stallehr) 7 Lingenau 6 Egg 5 Hohenems 5 Langenegg 5 Tab. 6: Häufigkeit von Entziehungshandlungen in ausgewählten Gemeinden (mit fünf und mehr Fällen). Umgelegt auf die Einwohnerzahlen von 1939 stechen allerdings kleine ländliche, abseits der Ballungszentren gelegene Gemeinden hervor. Einsam an der Spitze liegt Krumbach im Vorderen Bregenzerwald (Kreis Bregenz), gefolgt von drei Gebirgsdörfern im Großen Walsertal und im Montafon sowie zwei weiteren Kleingemeinden im Vorderen Bregenzer‐ wald. Flucht vor dem Krieg 47 <?page no="48"?> 80 Polizeikommando (PK) St. Gallen, Protokoll, 3.9.1942. Schweizerisches Bundesarchiv (BAR), E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrakteure 1942. Gemeinde Zahl Einwohner‐ zahl Anteil % Region Krumbach 14 651 2,15 Vorderer Bregenzerwald (Bregenz) Sonntag 3 256 1,17 Großes Walsertal (Bludenz) Lorüns 2 177 1,13 Montafon (Bludenz) St. Anton im Montafon 2 195 1,03 Montafon (Bludenz) Sibratsgfäll 2 256 0,78 Vorderer Bregenzerwald (Bregenz) Langenegg 5 712 0,7 Vorderer Bregenzerwald (Bregenz) Hohenweiler 4 585 0,68 Leiblachtal (Bregenz) Lingenau 6 912 0,66 Vorderer Bregenzerwald (Bregenz) Langen 4 643 0,62 Bregenz und Umgebung (Bre‐ genz) Thüringerberg 2 379 0,53 Großes Walsertal (Bludenz) St. Gallenkirch 9 1710 0,53 Montafon (Bludenz) Rheinau (Fußach, Gaißau, Höchst) 16 3611 0,44 Rheindelta (Bregenz) Tab. 7: Anteil von Deserteuren und Entziehern an der Gesamtbevölkerung von Gemeinden (1938- 1945), geografische Regionen mit Kreiszugehörigkeit in Klammern. Angeführt sind die zwölf stärksten Gemeinden. Quelle der Einwohnerzahl: Reichsgau Tirol-Vorarlberg, Gemeindeverzeichnis für den Reichsgau Tirol-Vorarlberg, 1939. Von den Ballungsgebieten befindet sich nur Rheinau unter den zwölf stärksten Gemeinden - hier lässt sich die Häufigkeit leicht durch die Lage direkt am Alten Rhein, der Grenze zur Schweiz, erklären, der für Ortskundige relativ einfach zu überwinden war - zwölf Deserteure aus Rheinau durchquerten erfolgreich dieses schmale Grenzgewässer. Auch Fahnenflüchtige aus den umliegenden Gemeinden kamen hierher: Der Eisenbahner Josef Grabher, Gefreiter des Gebirgsjägerregiments 136 auf Heimaturlaub, beschritt den Weg durch das seichte Wasser im August 1942 um zwei Uhr früh einige hundert Meter unterhalb der Brücke beim Zollamt Höchst: „Ich hatte die Hose ausgezogen und durchwatete den Alten Rhein, der an jener Stelle kaum einen Meter Tiefe aufweist.“ 80 Grabher hatte zuvor in Erfahrung gebracht, dass zwei Lustenauer Soldaten bereits auf diese Weise in die Schweiz gelangt waren. Auch bei Deserteuren aus anderen Gemeinden in der Umgebung von Bregenz ist die „Fluchtstrategie“ Schweiz dominant. So marschierten die drei Brüder 48 Peter Pirker <?page no="49"?> 81 Siehe dazu den Beitrag von Nikolaus Hagen in diesem Band. 82 Siehe dazu den Beitrag von Greber/ Pirker in diesem Band. Erwin, Kurt und Fritz Müller aus Hohenweiler nach zufällig gemeinsam verbrachten Heimaturlauben über das Schweizertor nach Graubünden. 81 Doch mehr als siebzig Prozent der in der Tabelle 7 erfassten Akteure aus Kleingemeinden im Vorderen Bregenzerwald, dem Großen Walsertal und dem Montafon gingen meist in ihrer waldreichen und gebirgigen Herkunftsgegend in den Untergrund. Wie unter einem Brennglas betrachtet, bietet Krumbach Beispiele zu fast allen Verlaufsformen von Entziehungen Einheimischer: das Erlangen systemkonformer Befreiung von der Wehr‐ pflicht durch Anträge auf Unabkömmlichkeitsstellung mit vorgetäuschten Begründungen, körperliche Selbstbeschädigung vor der Einziehung, Fluchten aus der Kaserne vor der Abstellung an die Front und Fluchten vom Kriegseinsatz im Feld nach Hause. Nur einer wählte den Weg von der Kampflinie ins neutrale Ausland (Schweden). 82 3.2.2 Ortsfremde Akteure Die Situation ortsfremder Deserteure gestaltete sich grundlegend anders als jene der einheimischen. In unserer Datenbank scheinen fast 400 Deserteure aus anderen Gebieten auf, die größtenteils nach Vorarlberg kamen, um in die Schweiz zu gelangen. Für die meisten war Vorarlberg die letzte Transitzone auf einer langen Fluchtroute. Fast dreißig Prozent waren in den Alpen- und Donaugauen beheimatet, die deutliche Mehrheit mit 46 Prozent stammte jedoch aus Ländern des „Altreichs“. Unter den ehemaligen Österreichern war die Zahl der Wiener am höchsten, gefolgt von Tirolern. Unter den Reichsdeutschen waren Soldaten aus Preußen deutlich stärker vertreten als aus dem benachbarten Bayern. Regionale Herkunft zum Fluchtzeitpunkt Zahl % Tirol und Vorarlberg (Tirol) 24 - Kärnten (inkl. Osttirol) 9 - Steiermark 15 - Salzburg 9 - Wien 34 - Niederdonau 13 - Oberdonau 5 - Alpen- und Donaugaue Unklar 5 - Alpen- und Donaugaue 114 29 Preußen 100 - Bayern 30 - Andere/ Unklar 53 - DR Länder 183 46 Flucht vor dem Krieg 49 <?page no="50"?> 83 VLA, Chronik des Gendarmeriepostens (GP) Lustenau. 84 Krummenacher, Flüchtiges Glück, 338. Reichsgau Sudetenland 10 - Protektorat Böhmen und Mähren 9 - Andere - - Eingegliederte Gebiete 19 5 CdZ Kärnten und Krain/ Untersteiermark 6 - CdZ Luxemburg/ Elsaß 7 - Angegliederte Gebiete 13 3 Besetzte Gebiete (Sowjetunion, Frankreich, Italien ab 1943 etc.) 10 2 Andere Staaten (Spanien, Schweiz, Italien bis 1943 etc.) 22 5 Unklar 36 9 Gesamt 397 100 Tab. 8: Herkunft der Deserteure und Verweigerer von außerhalb Vorarlbergs. Freilich stellt sich mit Blick auf die Auflösungserscheinungen der Wehrmacht im April/ Mai 1945 mehr noch als bei den einheimischen Deserteuren die Frage nach den Bedingungen für die Aufnahme in unsere Untersuchung. Am 20. April 1945 hielt der Kommandant des Gendarmeriepostens Lustenau in seiner Chronik fest: „Der Zustrom verschiedener Nationalitäten in Lustenau nimmt immer mehr zu. Gruppen von 15-20 Personen fliehen in der Nacht bewaffnet in die Schweiz. Der Grenzschutz ist völlig machtlos. Der Zusammenbruch des Krieges steht offenbar unmittelbar bevor.“ 83 In den Aufzeichnungen der St. Gallener Polizei finden sich jedoch keine größeren Gruppen von Deserteuren in diesem Zeitraum. Die Gründe dafür lagen einerseits darin, dass die Fluchtbewegung in der Endphase des Krieges sich größtenteils aus Zwangsarbeiter*innen aus der Ukraine, Polen, Russland und Frankreich sowie ab Anfang Mai auch aus Vorarl‐ berger Zivilist*innen zusammensetzte. Andererseits erfasste die Schweizer Polizei von den in den letzten beiden Kriegswochen bei St. Margarethen und Buchs in die Schweiz gelangten mehr als 30.000 Menschen nur etwas mehr als 2.400 namentlich. Manche Truppenteile der Wehrmacht, die über die Grenze drängten, wurden ohne Registrierung umgehend zurückgeleitet, ebenso einzelne Soldaten, die sich vor der französischen Armee oder den erwarteten Kämpfen abgesetzt hatten. 84 Diese kollektiven Fluchterscheinungen der sprichwörtlich letzten Minute von größeren Gruppen von Wehrmachtssoldaten, die von den Alliierten aus Baden und Bayern nach Süden zurückgedrängt wurden, sind in unserer Erhebung daher mit Ausnahme einzelner von der St. Gallener Polizei dezidiert als Deserteure registrierter Männer nicht enthalten. 50 Peter Pirker <?page no="51"?> 85 Siehe den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Band. Von den fast 400 aufgenommenen Fällen ortsfremder Deserteure und Entzieher (Tab. 9) wissen wir nur bei 111 (28 Prozent) gesichert, dass ihnen die Entziehung von der Wehrpflicht gelang, hauptsächlich durch Übertritte in die Schweiz oder Liechtenstein, der Anteil steigt etwas, wenn wir nur die bekannten Ausgänge heranziehen (32 Prozent). Betrachtet man die einzelnen Kategorien, liegt der Anteil erfolgreicher Fluchten von Sol‐ daten (Deserteure) bei immerhin vierzig Prozent. In der Kategorie „Flucht/ Verweigerung“ fällt die Bilanz noch schlechter aus. Besonders deutlich treten uns Einzelschicksale junger Wehrdienstentzieher aus dem gesamten Deutschen Reich in den Akten des Sondergerichts Feldkirch entgegen. 85 Die Polizei- und Grenzwachorgane in Vorarlberg vereitelten mindestens 239 Entzie‐ hungshandlungen ortsfremder Personen. Für 28 endete die Flucht über Vorarlberg mit dem Tod (siehe die Biografien im Anhang). Neun von ihnen wurden während der Flucht getötet, fünf verübten Selbstmord, sechs starben nach einer Verurteilung während des Strafvollzugs und acht wurden hingerichtet. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass noch mehr Deserteure und Verweigerer von Vorarlberg aus in den Tod geschickt wurden, denn bei 167 festgenommenen Soldaten bzw. Zivilisten blieb der weitere Verlauf nach ihrer Festnahme ungeklärt. Bei der Zahl der Toten handelt es sich daher um eine Mindest-, keineswegs um eine Gesamtzahl. Der in der Tabelle 9 abgebildete niedrigere Anteil von tödlichen Verläufen nach Verurteilungen gegenüber der Tabelle 4 (Vorarlberger) lässt keine Aussage über die Urteilspraxis zu; er bildet bloß die großen Schwierigkeiten ab, die weitere Behandlung einzelner Festgenommener durch die Militär- und Sonderjustiz außerhalb des Wehrkreises XVIII zu eruieren. Verlauf/ Form Desertion Flucht/ Verwei‐ gerung Einbe‐ rufung Desertion/ Entfernung Gesamt Tod Neutrales Ausland 81 9 - 90 - Kriegsgegner - - - - - Untersuchungsgebiet 20 - - 20 - Andere Gebiete 1 - - 1 - Zwischensumme gelun‐ gene Fluchten 102 9 - 111 - Festgenommen 126 39 - 165 9 Verurteilt 20 46 3 69 14 Selbstmord 5 - - 5 5 Zwischensumme geschei‐ terte Fluchten 151 85 3 239 - Summe bekannte Ver‐ läufe 253 94 3 350 - Flucht vor dem Krieg 51 <?page no="52"?> Unbekannt 46 1 47 Gesamt 299 95 3 397 28 Tab. 9: Formen und Verläufe von Entziehungen ortsfremder Wehrpflichtiger in Vorarlberg. Im Jahresvergleich prägten nicht-heimische Akteure das Fluchtgeschehen in Vorarlberg durchwegs stärker als heimische. Besonders deutlich ist der Unterschied bis zum Jahr 1944, als erstmals annähernd gleich viel Entziehungsfälle auf nennenswertem Niveau in beiden Gruppen auftraten. Das Jahr 1943, nach den schweren Niederlagen der Wehrmacht an der Ostfront und der Landung der Alliierten in Sizilien, brachte insgesamt einen merklichen Anstieg. Im Jahr 1944, als die westlichen Alliierten in der Normandie landeten und an der nördlichen Ostfront Finnland sich gegen den bisherigen Verbündeten Deutschland wandte, verdoppelten sich gegenüber 1943 die Desertionen unter den Vorarlberger Soldaten. 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 Heimische Ortsfrem d e Gesamt Diagramm 1: Entziehungen heimischer und ortsfremder Akteure im Zeitverlauf. 52 Peter Pirker <?page no="53"?> 86 Amt der Vorarlberger Landesregierung, Strukturdaten Vorarlberg, Bregenz 1996, 50. 87 Vgl. die Ergebnisse bei Geldmacher, Auf Nimmerwiedersehen, 155. IV. Deserteure und Wehrdienstentzieher aus Vorarlberg - 4.1 Sozialprofil Die am stärksten vertretene Berufsgruppe unter den Vorarlberger Deserteuren bilden die Arbeiter und Handwerker. Werden sie mit den Land- (unter ihnen befinden sich auch vermögenslose Bauernsöhne) und Hilfsarbeitern zu einer Gruppe zusammengefasst, macht diese fast 45 Prozent aller Fälle aus. Zählt man hingegen die Bauern und Landarbeiter zusammen, deckt der landwirtschaftliche Sektor fast ein Drittel der Fälle ab, was in etwa mit dem Anteil der Berufstätigen in der Land- und Forstwirtschaft im Jahr 1934 korrespondiert. 86 Auch der Anteil der Arbeiter/ Handwerker samt Hilfsarbeiter im Bereich von Industrie und Gewerbe entspricht in etwa ihrem Gewicht in der Gesamtgesellschaft. Bei den Angestellten (Dienstleistungen) gibt es ebenfalls keine große Abweichung. Daraus lässt sich schließen, dass das sozioökonomische Profil der Deserteure und Verweigerer unauffällig war - ganz im Unterschied zu den auch in der Nachkriegszeit weitertradierten Vorurteilen der NS-Juristen. 87 Berufe Häufig‐ keit Prozent Arbeiter/ Handwerker 61 30,65 Landarbeiter 34 17,08 Bauer 32 16,08 Angestellter 31 15,58 Hilfsarbeiter 16 8,04 Schüler/ Student 9 4,52 Selbstständiger 7 3,52 Soldat/ Polizist/ Zollbeamter 4 2,01 Theologe/ Priester 2 1,01 Künstler 2 1,01 Lehrer 1 0,5 Gesamt 199 100 Tab. 10: Zivilberufe von Vorarlberger Deserteuren und Entziehern. Bei 57 Personen konnten die Berufe nicht festgestellt werden. Bei den Ergebnissen zum Alter der Vorarlberger Akteure sind deutliche Abweichungen gegenüber bisherigen Untersuchungen zu Deserteuren der Wehrmacht festzustellen. Flucht vor dem Krieg 53 <?page no="54"?> 88 Koch, Fahnenfluchten, 57, 397. Diagramm 2: Verteilung des Alters zum Zeitpunkt der Entziehungshandlung. Während in den bisherigen Studien die Altersgruppe der 18bis 21-Jährigen (Geldmacher) bzw. der 22bis 25-Jährigen (Treiber) den stärksten Anteil ausmachten, nimmt in unserer Erhebung die Gruppe der 31bis 40-Jährigen diesen Platz ein, auch wenn die Wehrdienst‐ entzieher herausgenommen und ausschließlich Fahnenflüchtige gezählt werden, um den Vergleich wirklich belastbar zu machen (Tab. 11). Die Ursache für diese markante Abwei‐ chung dürfte darin liegen, dass unsere Daten aufgrund der breiten Quellenbasis mehr erfolgreiche Desertionen enthalten als die Vergleichsstudien, die sich stark auf Akten der Militärjustiz stützen. Dieser Erklärungsansatz legt wiederum die These nahe, dass älteren Deserteuren die Flucht häufiger gelang als jüngeren. Sie wird durch eine Auswertung der Altersstruktur der gelungenen Desertionen bestätigt (Tab. 11, letzte Spalte): Bei den erfolgreichen Deserteuren sind die Altersgruppen bis 25 schwächer vertreten als im Gesamtgeschehen und die Altersgruppen von 26 bis 40 erkennbar stärker. Erst bei der Gruppe ab 40 Jahren liegt der Anteil wieder unter jenem bei der Gesamtgruppe der Deserteure. Dieses Ergebnis könnte einerseits bedeuten, dass bisherige Studien aufgrund der verwendeten Quellen hinsichtlich der Altersstruktur ein verzerrtes Bild zeichneten, andererseits lässt es den Rückschluss zumindest für Vorarlberger Deserteure zu, dass die Soldaten im Alter von 26 bis 40 Jahren - wohl aufgrund ihrer Lebens- und militärischen Erfahrung - deutlich bessere Chancen auf eine geglückte Flucht hatten als jüngere. Bestätigt wird dieses Ergebnis auch durch eine Auswertung über gelungene Fluchten in die Schweiz. 88 54 Peter Pirker <?page no="55"?> 89 Geldmacher, Auf Nimmerwiedersehen, 748 (Tab. 15). 90 Treiber, Helden oder Feiglinge? , 164 (Tab. 3.2). 91 PK St. Gallen, 20.3.1945. BAR E4320B#1991/ 243/ 20_Deserteure Refrakteure 1945. Häufig‐ keit Alle Ent‐ zieher (%) Nur De‐ serteure (%) Studie Geld‐ macher 89 (%) Studie Treiber 90 (%) Nur er‐ folg‐ reiche Deser‐ teure (%) Jünger als 18 3 1,97 1,97 1,4 0 1,61 18 bis 21 45 19,15 19,70 25,9 26,83 17,74 22 bis 25 43 18,30 19,70 19,4 27,83 18,55 26 bis 30 50 21,28 21,18 17,0 19,02 24,19 31 bis 40 72 30,64 29,56 21,3 24,72 33,06 Älter als 40 22 9,36 8,37 4,9 1,6 4,84 - 235 100 100 100 100 100 Tab. 11: Altersgruppen im Vergleich mit Ergebnissen anderer Studien. Was den Familienstand betrifft, den wir von 172 Männern kennen, waren 38 Prozent verheiratet. In der stärksten Gruppe der älteren Männer zwischen 26 und 40 Jahren waren etwas mehr als die Hälfte verheiratet und nicht wenige hatten bereits Kinder. Schwächere soziale Bindungen als ein signifikantes Merkmal von Deserteuren ist somit zumindest für diese Altersgruppe auszuschließen. Der relativ hohe Anteil von verheirateten Männern lässt vielmehr schlussfolgern, dass sie gerade wegen ihrer familiären Bindung, Erfahrung und Verpflichtung versuchten, sich dem ab 1944 immer wahrscheinlicher werdenden Soldatentod durch Flucht zu entziehen. - 4.2 „Genug vom Krieg“ - Kriegsablehnung, Kriegserfahrung, Kriegsflucht Die unmittelbare Kriegserfahrung war zweifellos ein zentraler Faktor der Fluchtentschei‐ dung. Von den Akteuren in unserer Datenbank verweigerte nur eine Minderheit (39) bereits davor offen die Wehrpflicht oder zog aus der Einberufung die Konsequenz der Flucht. Als Vertreter einer prinzipiellen Verweigerung, für das NS-Regime zu kämpfen, können Kriegsgegner mit politischer, religiöser oder humanistischer Überzeugung oder mit aus der Erfahrung nationaler Entrechtung und Entwurzelung gewachsenen Positionen gelten. Bekannte Beispiele sind der Priester Franz Reinisch und der Gitarrenbauer Ernst Volkmann, gänzlich unbekannt geblieben ist hingegen beispielsweise der aus Polen stammende und in Gaißau lebende Brunnenmacher Ferdinand Greibisch, der sein „Leben nicht für das Hitler-Regime“ geben wollte und in die Schweiz flüchtete, als er vom Zollgrenzschutz an die Front abberufen wurde. 91 Bei einem anderen Teil dieser Gruppe war die Wehrdienstentziehung Begleiterscheinung des Willens, sich der rigiden Sozialordnung des NS-Staates zu entziehen. Zu nennen sind hier Jugendliche wie Karl Schertler, die anderen Zukunftsvisionen nachhingen, als sich dem Flucht vor dem Krieg 55 <?page no="56"?> 92 Zu Karl Schertler siehe den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Band. 93 GP Hittisau, Vorfallensbericht Wehrdienstentziehungen, 20.12.1943. VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 2. 94 Anklage gegen Johann Lorenz Rützler, 13.5.1943. VLA, LGF KLs 16/ 43. Das Urteil lautete auf zwei Jahre Zuchthaus. 95 PK St. Gallen, 13.3.1944. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20_Deserteure Refrakteure 1944; VLA, LGF Js 147/ 44. Arbeits- und Militärregime des NS-Staates zu fügen, 92 zudem Menschen, die in ihren konträr zum Ordnungsentwurf des NS-Staates stehenden Lebensstilen stark verwurzelt waren. Der Knecht Martin Thaler etwa wollte sich „nicht für kriegerische Handlungen preisgeben“. Die Brüder Bartle und Anton Kolb aus Sibratsgfäll - beide Bauern - fügten sich offenbar Verletzungen zu, um die Stellungspflicht zu vermeiden oder hinauszuzögern. 93 Die ohne festen Wohnsitz lebenden Tagelöhner und Landarbeiter Josef Winter und Johann Rützler gerieten mehrfach ins Visier des NS-Staates. Sie wechselten häufig ihren Aufenthaltsort, verzichteten auf den Erhalt von Lebensmittelkarten und umgingen Meldevorschriften, um den Behörden möglichst wenig Anhaltspunkte über ihren Aufenthalt zu geben. Über Johann Rützler befand der Oberstaatsanwalt des Sondergerichts Feldkirch Herbert Möller: „[Er] verkörpert den biologischen Typ des Landstreichers, der der ausgesprochene Feind des längeren Bleibens an einem Orte und an einer Arbeitsstelle ist. […] Es versteht sich, dass er begreiflicherweise auch ein Feind jeglicher militärischer Disziplin ist.“ 94 Eine weitere Untergruppe stellten ältere Männer dar, die bereits aus dem Kriegsdienst entlassen worden waren oder als Zivilisten in den besetzten Gebieten Arbeitsdienst versehen hatten, 1944/ 45 jedoch Einberufungsbefehle erhielten. Ihnen war es gelungen, den direkten Kriegsdienst lange auf systemkonforme Weise zu vermeiden. Als diese Strategie nicht mehr griff, leisteten sie den Stellungsbefehlen keine Folge, weil sie die Fortsetzung des Krieges allgemein für sinnlos, individuell für lebensbedrohlich hielten. Beispiele dafür sind die Sozialdemokraten Martin Moll 95 aus Lauterach, Robert Köb aus Wolfurt und Johann Nagel aus Höchst. Bei der weit überwiegenden Mehrheit der von uns erhobenen Fälle handelte es sich jedoch um Soldaten, die nach kürzerem oder längerem Kriegseinsatz desertierten. Für 134 ist sowohl das Datum des Diensteintritts als auch das Datum der Flucht bekannt. Dauer von Einrückung bis Flucht Häufigkeit Prozent Innerhalb der ersten Woche 1 0,75 Innerhalb der zweiten Woche 3 2,24 Erster bis dritter Monat 4 2,99 Vierter bis sechster Monat 7 5,22 Siebenter bis zwölfter Monat 11 8,21 Erstes bis zweites Jahr 27 20,15 Zweites bis drittes Jahr 26 19,40 Drittes bis viertes Jahr 15 11,19 56 Peter Pirker <?page no="57"?> 96 Treiber, Helden oder Feiglinge? , 170. 97 Bericht 232, 18.9.1943. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd 5. 98 Bericht L 119, 13.10.1943. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd 5; PK St. Gallen, 21.9.1943. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrakteure 1943. Viertes bis fünftes Jahr 26 19,40 Mehr als fünf Jahre 14 10,45 Gesamt 134 100,00 Tab. 12: Dauer von Einrückung bis zur Desertion/ Entziehung. Drei gleich große Gruppen stechen hervor: jene, die im zweiten bzw. im dritten Jahr flohen, und eine Gruppe, die nach vier Jahren der Wehrmacht den Rücken kehrte. Hinsichtlich der Mitglieder der ersten Gruppe lässt sich mit Treiber pauschal argumentieren, dass sie in den ersten Monaten noch nicht direkt in das Kriegsgeschehen involviert waren und sich nach einiger Zeit des Erlebens der Schrecken des Fronteinsatzes abwandten. 96 Das trifft auf den Großteil dieser Soldaten tatsächlich zu. Sie desertierten nach grauenvollen Erfahrungen an der Eismeerfront, bei anderen schweren, verlustreichen Gefechten an der Ostfront oder bei der Landung der Alliierten auf Sizilien, zum Teil auch aus dem Partisanenkrieg in Jugoslawien, Griechenland und der Sowjetunion. Die Mehrheit verabschiedete sich nach einem Heimat- oder einem Genesungsurlaub, ein Drittel hatte bereits schwere Verwundungen erlitten. Ein Südtiroler Soldat, der nach der Option für Deutschland in Frastanz ansässig war, wurde trotz unverheilter Wunde im Reserve-Lazarett Feldkirch frontverwendungsfähig geschrieben. Dieser rücksichtslose Umgang mit Verwundeten im Heimatgebiet, den er vom Feldeinsatz in Weißrussland schon kannte, sowie die Aussicht, sich bald wieder an der Front bzw. im Partisanenkampf zu befinden, bewog ihn 1943 dazu, von der Zollbrücke bei Schmitter zu springen und sich in die Schweiz zu retten. Während der Einvernahme durch die Schweizer Polizei bezeichnete er es als „sinnlos für eine aussichtslose Sache weiterhin das Leben zu riskieren“. 97 Ähnliches berichtete Karl Angele aus Lustenau, zuletzt Gruppenführer in einer Luft‐ waffen-Division vor Leningrad: Bei ihm lösten der Heimaturlaub, die Begegnung mit seinen Eltern und die bevorstehende Rückkehr auf das Schlachtfeld starkes Heimweh aus. Von der vielgerühmten maskulinen Kameradschaft war demgegenüber in seiner Einheit nicht mehr viel übrig, denn die starken Verluste bei den Kesselschlachten und den deutschen Aus‐ bruchsversuchen konnten durch personellen Nachschub nicht mehr wettgemacht werden. Viele Einheiten wurden fast gänzlich ausgelöscht, bekannte Gesichter verschwanden, russische Freiwillige liefen massenhaft zur Roten Armee über. 98 Der Gefreite Gottfried Hofer aus Lustenau schilderte wie manch andere das Scheitern von Entsatzungsangriffen und die massive materielle Überlegenheit der Roten Armee. Als Verbindungsmann zwischen Regiment und Division hatte er einen relativ guten Überblick über das Frontgeschehen. Er erwartete im Herbst 1943 den baldigen Zusam‐ menbruch der deutschen Frontlinien und wollte unbedingt vermeiden, in sowjetische Flucht vor dem Krieg 57 <?page no="58"?> 99 Bericht 250, 11.10.1943. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd 5; PK St. Gallen, 25.9.1943. BAR E4320B#1991/ 243/ 20_Deserteure Refrakteure 1943. 100 Bereits Koch stellte diese „grundsätzlich achtungsvollen Aussagen über den Kriegsgegner“ fest. Koch, Fahnenfluchten, 369. 101 Bericht 255, 12.10.1943. BAR E27#1000/ 721#9928* Bd 5; PK St. Gallen, 25.9.1943. BAR E4320B#1991/ 243/ 20_Deserteure Refrakteure 1943. 102 Rudolf Bilgeri, Bei den Partisanen in Athen. Tagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht, hg. von Peter Pirker/ Ingrid Böhler, Innsbruck 2023, 60. 103 Bericht 279 (L122), 8.11.1943. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd 6. Kriegsgefangenschaft zu geraten. 99 Die Furcht vor der Kriegsgefangenschaft erwähnten eine Reihe von Deserteuren. Es wurden auch missbilligende Äußerungen über die schlechte Behandlung von gefangenen Rotarmisten häufig zu Protokoll gegeben. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Deserteure überhaupt nicht negativ über gegnerische Soldaten äußerten, was angesichts der von antisemitischen und rassistischen Abwertungen durchzogenen Truppenpropaganda der Wehrmacht über die Rotarmisten bemerkenswert ist. 100 Ein anderer Lustenauer Soldat verwies ebenfalls 1943 auf die furchtbaren Verluste und die Aussichtslosigkeit des Stellungskampfes an der Eismeerfront und berichtete von Massenerschießungen vermeintlicher oder tatsächlicher Widerstandskämpfer in den Niederlanden. Er war des Soldatendienstes müde. Während landwirtschaftlicher Arbeiten zuhause hatte er Zeit nachzudenken: „Vielleicht komme ich um meinen Kopf und dieser Gedanke brachte mich auf den Entschluss zu desertieren. Da ich die Grenzverhältnisse gründlich kannte, war es für mich ein Leichtes durchzukommen.“ 101 Für Rudolf Bilgeri aus Hohenems, stationiert im Sommer 1944 in Athen, hatte oberste Priorität angesichts des weitgehenden Kontrollverlusts der Wehrmacht in Südosteuropa, heil zu seiner Ehefrau und seinen kleinen Kindern zurückzukommen - er baute auf die vertrauensvolle Beziehung zu einem griechischen Buchhändler, der ihm das Überlaufen zu den Stadtpartisanen vermittelte. 102 Bei der zweiten größeren Gruppe, die im dritten Kriegsjahr stand, nutzten ebenfalls fast die Hälfte einen Heimat- oder Genesungsurlaub für die Flucht. Ihre Erfahrungen un‐ terschieden sich nicht grundsätzlich: Horrende Verluste, eigene Verwundungen, schlechte Versorgung und Behandlung durch Vorgesetzte, Furcht vor einer Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion, Verbrechen an Zivilist*innen durch Wehrmacht und SS. Letzteres bezeugte der Pionier Johann Hagen aus Hard nach gelungener Flucht in die Schweiz. Seine Pioniereinheit musste bei Saporischschja in der Südukraine in größter Eile neue Stellungen an der Hauptkampflinie bauen. Die Zivilbevölkerung wurde in einem Gebiet von dreißig Kilometer Tiefe evakuiert. „Zurückgebliebene, ob Frauen oder Kinder, wurden bei Entdeckung erschossen.“ Auch er hielt, wie viele andere Deserteure, die Rote Armee für weit überlegen, sie sei effizient im Nachschub und beim Stellungsbau, ihre Ressourcen seien „unerschöpflich“. Wer verwundet in Kriegsgefangenschaft gerate, habe keine Über‐ lebenschancen, beide Seiten würden verwundete Kriegsgefangene auf der Stelle erschießen. Trotz fataler Lage und schlechter Moral herrsche in den deutschen Einheiten jedoch immer noch Kadavergehorsam: „Der deutsche Soldat gehorcht bis in den Tod, den Verstand lässt er zu Hause.“ 103 Hagen nahm sich von dieser Beobachtung „zugeklappten“ Denkens unter 58 Peter Pirker <?page no="59"?> 104 Bericht 121, 2.2.1943. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd 4. 105 Verehrter Herr Hauptmann, 22.8.1943. Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg (BArch-MA), PERS 15/ 145401 (Fahndungsakt); PA N 12560 tl, 7.10.1943. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrak‐ teure 1943. dem täglichen Druck der Frontlage und eines permanenten, kurzfristigen Kampfes ums Überleben überhaupt nicht aus: „An der Front war mir nie ein Fluchtgedanke gekommen, als ich aber in meinem Heimatort wieder normal denken konnte, habe ich mir tatsächlich überlegt, ob ich mein Leben für die deutschen Belange opfern oder als Krüppel künftighin mein Leben verbringen wolle. Ich wählte den dritten Weg, der da ist Leben für meine Heimat, das alte Österreich, und daher entschloss ich mich zur Desertion.“ Das von Hagen zuletzt genannte - im engeren Sinne politische - Motiv taucht erstmals in dieser Gruppe auf. Die absehbare Niederlage scheint bei länger dienenden Soldaten eine Wiederentdeckung Österreich-patriotischer Empfindung ausgelöst zu haben. Ebenso sollte der angedeutete Patriotismus gegenüber den Schweizer Behörden die Flucht politisch legitimieren. Berichte über schlechte Behandlung von Österreichern durch Vorgesetzte aus dem „Altreich“ bildeten in diesem Zusammenhang eine weitere nationale Distanzierungs‐ strategie. Albert Hämmerle aus Lustenau führte an, „wohl für Österreich […] aber nicht für Grossdeutschland“ kämpfen zu wollen. 104 Der Zahntechniker und Oberpionier Walter Ganner aus Schwarzach hatte seine Flucht in die Schweiz im Sommer 1943 sogar in einem Brief an seinen Hauptmann gerechtfertigt: Als österreichischer Patriot könne er „nicht mehr für eine Sache stehen, die nicht Sache seiner Heimat“ sei. Er bemühte sich, Feigheit als Movens seiner Flucht in Abrede zu stellen: „Denken Sie bitte nicht, daß ich dies aus Feigheit tu. Ich werde zur gegebenen Zeit vielleicht noch beweisen können, dass ich für mein [Hervorhebung i.-O.] Vaterland zu sterben weiß.“ 105 Andere aus dieser Gruppe mit mehr als zwei Jahren Dienstzeit hatten es bislang - womöglich aufgrund ihres Alters oder eingeschränkter Tauglichkeit - geschafft, nur im Heimatgebiet eingesetzt zu werden, zum Teil unterbrochen durch Beurlaubungen. Sie flüchteten ohne direkte Kriegserfahrung, die sie begreiflicherweise weiterhin vermeiden wollten. In der Gruppe jener Soldaten, die nach vier Dienstjahren desertierten, treten ganz beson‐ dere, einschneidende Erlebnisse zu den bisher genannten Auslösern hinzu. Die Nachricht, dass einer oder weitere Brüder gefallen waren, bewirkte bei mehreren Deserteuren ein Sich-Lösen von der Treuepflicht. Josef Hagen fasste zusammen mit seiner Mutter während eines Heimaturlaubs den Entschluss zu desertieren, als die Vermisstenmeldung des zweiten Bruders eintraf. Anton König aus Lustenau wiederum beschrieb der Schweizer Polizei seine seelische Zerrüttung durch den Verlust der Brüder: „Die Nachricht vom Tode meines Bruders, der sich an der russischen Front befand, hatte mich tief erschüttert. Ich war damals noch in Litauen. Als aber die Nachricht an die russische Front kam, über das Ableben meines zweiten Bruders in Italien, war ich ganz konsterniert. Ich beschäftigte Flucht vor dem Krieg 59 <?page no="60"?> 106 PK St. Gallen, 17.2.1944. BAR E4320B#1991/ 243/ 20_Deserteure Refrakteure 1944. 107 Bericht 356, 12.8.1944. BAR E27#1000/ 721#9928* Bd 6. 108 Interview mit Karl Polanc, geführt von Peter Pirker, 11.8.2020. 109 Gotthard Anker an Maria Hartmann, 20.3.1946. VLA, AVLReg IVa 168/ 34. 110 Bericht 373, 18.9.1944. BAR E27#1000/ 721#9928* Bd 6. 111 Fragebogen Alois Schwarz, 19.6.1938, Wehrstammbuch. TLA. mich von der Stunde an mit dem Gedanken Urlaub einzugeben, nach Hause zu fahren und dann anschließend nach der Schweiz zu desertieren.“ 106 Der Tischlermeister und Obergefreite Eduard Unsinn aus Lustenau sympathisierte 1938 mit dem „Anschluss“ und trat der NSDAP bei. Als 1941 sein einziger Bruder an der Eismeerfront fiel, änderte sich seine Einstellung. Von nun an trug er sich mit dem Gedanken an Desertion. Ein erster Versuch, bei einem Heimaturlaub in die Schweiz zu gelangen, schlug fehl, beim nächsten Urlaub im Juli 1944 klappte es mit Hilfe seines Bekannten Kurt Ridisser. 107 Ganz ähnlich verhielt es sich bei Albert Polanc aus Feldkirch. 108 Doch während Albert Polanc aus einer weltanschaulich „schwarzen“ Familie kam, die dem Nationalsozialismus abgeneigt war, gaben einschneidende Erlebnisse im Krieg bei einigen Soldaten in dieser Gruppe den Ausschlag, zum NS-Regime auf Distanz zu gehen. Der 44-jährige Zimmermann Adolf Hartmann aus Nenzing, Anwärter auf NSDAP-Mitgliedschaft, und sein Tiroler Freund Gotthard Anker waren im Herbst 1944 mit ihrer Truppe in den Krieg gegen die Partisanen in Slowenien involviert. Nach Zeugnis von Anker war „letzter Anlaß“ ihres Überlaufens zu den Partisanen „das unmenschliche Verhalten unseres Feldwebels. Dieser hat nämlich eine Frau erschossen und wollte auch noch ihre Kinder erschießen, was nur mit Mühe verhindert werden konnte. Daraufhin sind unser vier von unserer Kompanie geflüchtet.“ 109 Angst vor Repressalien gegen Angehörige nannten Deserteure als Grund für das lange Dabeibleiben trotz bereits länger gehegter Fluchtwünsche. Sie entschieden sich spontan in einer günstigen Situation, wie ein Lustenauer Soldat, dessen Einheit in Südfrankreich auf‐ gerieben wurde. Dieses Ereignis bot ihm als einem der wenigen Überlebenden die Chance einer unentdeckten und gefahrlosen Flucht in die Schweiz mit Hilfe von Angehörigen der Resistance. 110 Solche Situationen kaltschnäuzig zu erkennen und wahrzunehmen, fiel erfahrenen Soldaten leichter als jungen. Zu ihnen gehörte gewiss der am längsten gediente Vorarl‐ berger Deserteur in unserer Sammlung, der Unteroffizier des Gebirgsjägerregiments 136 in der 2. Gebirgsdivision, Alois Schwarz aus Langenegg ( Jahrgang 1919). Der Sohn des Dorfbäckers und Kaufmanns Wilhelm Schwarz, des Oberhaupts einer christlichsozialen und gegen die NSDAP eingestellten Familie, hatte sich im Juni 1938 kurz vor Abschluss der Handelsschule freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und rückte sechs Monate später zum genannten Regiment in Innsbruck ein. 111 In diesem halben Jahr hatte er nicht mehr zu Hause gearbeitet, wie zuvor zwei Jahre lang nach der Volksschule, sondern sich eine Stelle als Handelsangestellter in Bregenz gesucht. Über den Grund der freiwilligen Meldung zum Antritt der zweijährigen Wehrpflicht lässt sich nur mutmaßen. Möglicherweise wollte er sie schnell hinter sich bringen. Hin‐ weise auf die Absicht einer Offizierslaufbahn, um einer Einberufung zu sechs Monaten hochideologisiertem Reichsarbeitsdienst zuvorzukommen, gibt es nicht. Zudem gab Alois 60 Peter Pirker <?page no="61"?> 112 Eine Überprüfung der SA-Mitgliedschaft in den - unvollständig angelegten und erhalten gebliebenen - Mitgliederverzeichnissen der NSDAP und ihrer Teilorganisationen im Bundesarchiv ergab ein negatives Resultat. Die Frage, ob Alois Schwarz tatsächlich Mitglied der SA war, kann nicht eindeutig beantwortet werden. 113 Wehrstammbuch Alois Schwarz. TLA. 114 Den Boykott überlieferte die Schwester von Alois Schwarz, Paula Weiss. Hans Weiss, Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg, profil, 20.5.1985, 54-58, 54. Alois Schwarz hatte zum Zeitpunkt der „Kreuzsteckung“, die erst am 22. August 1944 stattfand, seinen Urlaub bereits beendet. 115 Marschbefehl, hs, 1.4.1945. Nachlass Alois Schwarz. Ich bedanke mich bei Gerhard Schwarz für die Überlassung von Kopien nachgelassener Dokumente. 116 Günter Cordes, Die militärische Besetzung von Baden-Würtemberg 1945. Beiwort zur Karte 7,10, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg, Stuttgart 1980, 1-27, 6; Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/ 45, München 2011, 416. Schwarz im Fragebogen für die freiwillige Meldung zur Wehrmacht an, dass er seit 15. März 1938 der SA in Bregenz angehöre, was wiederum darauf hindeuten könnte, dass sich der 18-Jährige vom strengen, tief katholischen Elternhaus zu lösen versuchte. 112 Die militärische Ausbildung und jene zum Schreiber absolvierte er mit sehr guten Bewertungen hinsichtlich seiner geistigen und körperlichen Veranlagung und seiner Führung. Seine Vorgesetzten beschrieben ihn als ruhigen und aufrichtigen, fleißigen Kameraden mit guten militärischen Kenntnissen und Leistungen. 113 Gemäß seinem Wunsch bei der freiwilligen Meldung diente er in der Folge im Stab und im Nachrichtenzug des Regiments bis Anfang April 1945. Er hatte mit der 2. Gebirgsdivision Kriegseinsätze gegen Polen, gegen Norwegen und an der Murmansk-Front bei Kirkenes gegen die Sowjetunion sowie den Rückzug nach Norwegen hinter sich, als die 2. Gebirgsdivision im Februar 1945 für Abwehrkämpfe gegen die westlichen Armeen in den Südwesten des Deutschen Reichs an den Rhein verlegt wurde. Sein letzter Sonderurlaub in Langenegg datierte vom Juli 1944, anlässlich der Nachricht seiner Eltern über den zweiten an der Ostfront gefallenen Bruder, zwei andere waren in Italien und Frankreich im Feldeinsatz. An der offiziellen „Heldenehrung“ in Langenegg soll niemand von der Familie teilgenommen haben. 114 Der Verlust des zweiten Bruders dürfte Alois Schwarz sehr getroffen haben (er bewahrte das Telegramm seiner Eltern an die Deutsche Heeresfunkstelle Petsamo nahe seiner Dienststelle in Kirkenes und andere Schriftstücke dazu auf), aber anders als für die oben geschilderten Soldaten wurde er nicht zu einem Anlass, die Flucht zu ergreifen. Die Situation änderte sich für Schwarz erst nach der Verlegung seiner Division in relative Heimatnähe. In seinem Nachlass befindet sich ein Marschbefehl seines Stabes, ausgestellt am 1. April 1945, der ihm auftrug, sich von Wiesental (nördlich von Karlsruhe am rechten Rheinufer) 160 Kilometer Richtung Süden, nach Neuershausen bei Freiburg im Breisgau, zu begeben, um einen Lkw abzuholen und damit zurückzukehren. 115 Betrachtet man das Kriegsgeschehen in diesen Tagen in Baden-Württemberg, wird deutlich, dass Alois Schwarz mit diesem Befehl den geplanten Kämpfen der 2. Gebirgsdivision, inklusive seines Regiments, gegen die anrückenden US-Truppen um Heilbronn, das etwas östlich von Wiesental liegt, entkam. Der Kampf um die bereits weitgehend zerbombte Stadt dauerte vom 4. bis zum 12. April, kostete fast 300 amerikanischen und deutschen Soldaten das Leben, Hunderte wurden verwundet und fast 2.000 deutsche Soldaten gerieten in Gefangenschaft. 116 Alois Schwarz meldete sich zwar beim motorisierten Abstelltross der 2. Flucht vor dem Krieg 61 <?page no="62"?> 117 Holzinger wurde 1955 in das österreichische Bundesheer aufgenommen und Militärkommandant von Kärnten, siehe dazu Peter Pirker, Alte Traditionspflege oder neue Erinnerungskultur? Waffen- SS, Wehrmacht und das Bundesheer in Kärnten, in: Nadja Danglmaier et al. (Hg.), Koroška/ Kärnten. Wege zu einer befreienden Erinnerungskultur, Klagenfurt/ Celovec 2022, 65-89, 76-77. Zu seiner Kriegsbiografie mit kaum verhüllter Apologie der Kriegsführung des NS-Staates: Roland Kaltenegger, Oberstleutnant Anton Holzinger. Vom Ritterkreuzträger des Norwegenfeldzuges zum Militärkom‐ mandanten von Kärnten, Würzburg 2017. 118 Kershaw, Das Ende, 416. 119 Siehe dazu den Beitrag von Greber/ Pirker in diesem Band; Georg Schelling, Festung Vorarlberg, Bregenz 1987; Artur Schwarz, Heimatbuch Langenegg, Bregenz 1981. Gebirgsdivision in Neuershausen, kehrte zu seinem Regiment, das vom Österreicher Anton Holzinger mit verbissenem Durchhaltewillen und Treue zu Hitler über dessen Selbstmord hinaus geführt wurde, 117 aber nicht mehr zurück. Er wandte sich seinem nur mehr 200 Kilometer östlich liegenden Heimatort zu. Es ist gut möglich, dass sich Alois Schwarz diese Fahrt aus der Kampfzone seiner Division selbst organisiert hat. Fluchtwillige Stabssoldaten, die Zugriff auf Befehlsformulare, Urlaubs- und Fahrscheine sowie Stempel hatten, wandten diese Technik des Desertierens häufig an, nämlich sich Marschbefehle und Scheine selbst auszustellen bzw. zu fälschen. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass sich unter den wenigen Dokumenten, die Alois Schwarz aus der Kriegszeit aufbewahrte, neben dem Soldbuch und einigen Seiten Korrespondenz zum Sonderurlaub anlässlich des Todes seines zweiten Bruders dieser an sich unbedeutende, auf ein Blatt Papier geschriebene Befehl zum Abholen eines Lkws befindet. Was unterschied den Unteroffizier Alois Schwarz in diesen Tagen des „Endkampfs“ in Deutschland von seinem Kommandanten Anton Holzinger? Anders als dieser glaubte er wohl nicht an Hitlers Beschwörungen, dass neue Wunderwaffen - Düsenjäger und Raketen - das Ruder in letzter Minute herumreißen würden. Und er erkannte vermutlich, dass in diesen Wochen nur eines über die Rettung von Städten und Dörfern vor vollständiger Zerstörung entschied: Wenn es Zivilist*innen und Soldaten gelang, vor Ort die Fanatiker des Endkampfs auszuschalten und eine kampflose Übergabe an die alliierten Armeen zu bewirken, bevor sie „im sinnlosen Versuch, die Stellung zu halten, in Schutt und Asche gelegt“ wurden. 118 Seine folgenden Handlungen zeigen, dass sich Alois Schwarz im Zwiespalt zwischen Treue zum Kommandanten seines Regiments und Sorge um das Wohl seines Dorfes und seiner Familie, zwischen unverbrüchlicher „Kameradschaft“ und sozialer Loyalität, für letzteres entschied. In Langenegg angekommen, stieß er auf einheimische Deserteure und Regimegegner, deren primäres Ziel es bereits war, den Aufbau der im Vorderen Bregenzerwald geplanten Abwehrstellungen der Wehrmacht gegen die Alliierten und die dadurch zu erwartenden Kämpfe und Zerstörungen zu verhindern. 119 Als ranghöchster, am längsten gedienter Soldat unter den Langenegger Deserteuren übernahm er die militärische Führung der Gruppe, wohl auch unter dem Eindruck der massiven Zerstörungen, die er in Südwestdeutschland erlebt und gesehen hatte, und der Erkenntnis, dass in Langenegg ebenso fanatische Nationalsozialisten das Sagen hatten wie in der 2. Gebirgsdivision, aus der er geflohen war. Seltener findet sich in unserer Sammlung von Fällen mit Vorarlberger Akteuren die Vermeidung eines Strafverfahrens bzw. die Furcht vor Bestrafung als unmittelbarer Beweg‐ 62 Peter Pirker <?page no="63"?> 120 In der Studie von Magnus Koch scheint „Furcht vor Bestrafung“ - jedoch ohne weitere Differenzie‐ rung - als häufigstes Fluchtmotiv deutscher Soldaten in der Schweiz auf. Koch, Fahnenfluchten, 60. 121 PK St. Gallen, 13.1.1944. BAR, E4264#1985/ 196#31237*. 122 Bericht 162, 19.6.1943. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd 5. grund für die Flucht in die Schweiz. 120 Ausschließlich kriminelle Delikte im engeren Sinne (wie etwa Diebstahl) befinden sich nicht darunter - die Angabe eines solchen bei der Schweizer Polizei wäre selbstverständlich kontraproduktiv gewesen. Fast alle erwähnten Strafdrohungen betrafen politische Gegnerschaft und Verstöße gegen die militärische Disziplin, deren Ahndung den Deserteuren als ungerecht oder krass unverhältnismäßig erschienen war. Der 30-jährige Fischer Johann Boschele aus Hard, mehr als fünf Jahre als Sanitäter meist im Fronteinsatz, war von einem Heimaturlaub zwei Tage zu spät zur Truppe in Saalfelden eingerückt, weil er seine kranke Schwester gepflegt hatte. Sein Hauptmann drohte ihm mit dem Kriegsgericht. Die Erfahrung der Diskrepanz zwischen seiner jahrelangen Pflichterfüllung und einer zu erwartenden scharfen Strafe für eine Verspätung von zwei Tagen provozierte bei Boschele das finale Aufbegehren: „Weil ich ein Gegner des Nationalsozialismus bin, habe ich auch kein Interesse, für denselben zu kämpfen oder gar mein Leben dafür zu lassen. Ich habe wohl bis anhin meine Pflicht getan, mich aber wegen einer Kleinigkeit einsperren zu lassen, konnte ich mich nicht entschliessen.“ 121 Freilich relativieren sich in manchen Fällen die Angaben eines politischen Fluchtmotivs gegenüber den Schweizer Behörden durch Hinweise in deutschen Militärjustizakten auf ein laufendes Strafverfahren oder eine bevorstehende Strafe. So wusste der bereits zitierte Soldat Walter Ganner, dass ihm nach der Rückkehr aus dem Urlaub eine dreiwöchige Arreststrafe wegen Beleidigung eines Offiziers bevorstand. Die von ihm als ungerecht empfundene Strafe scheint andere negative Erfahrungen nur bestätigt und den letzten Ausschlag für die Flucht gegeben zu haben. Nicht nur dieser Fall macht deutlich, dass „objektive“ Klärungen von Fluchtmotiven kaum möglich sind, aussagekräftig für das Ver‐ ständnis von Fluchtprozessen sind hingegen die subjektiven Erfahrungen, die Deserteure in den Verhören schilderten. Bei einigen Deserteuren scheinen erlebte Kriegs- und Menschheitsverbrechen durch die deutschen Streitkräfte eng mit der Fluchtentscheidung verbunden gewesen zu sein. Besonders evident wird dieser Zusammenhang bei dem 30-jährigen Engelbert Bösch, Metalldreher und Textilarbeiter aus Lustenau. Ihn erschütterte die Kriegsführung der Wehr‐ macht, die seiner Ansicht nach „jeder Rotkreuzkonvention spottet“. 122 Während seines mehr als drei Jahre währenden Dienstes als Kraftfahrer in einer Nachschubeinheit wurde er in Polen und der Sowjetunion im Hinterland der Front Zeuge von schweren Gewaltverbrechen gegen Zivilist*innen und der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Seine vorgesetzten Offiziere und Unteroffiziere hätten sich nicht gescheut, ihr „relatives Wohlleben“ mit „Raub und Vergewaltigung“ zu erreichen. Der Schweizer Vernehmungsoffizier fasste seine Schilderung der Ermordung der Juden der Stadt Sluzk südlich von Minsk in Weißrussland im Februar 1943, die kurz vor seiner Desertion geschah, folgendermaßen zusammen: „Im März sah E. [Engelbert Bösch] das dortige Judenghetto […] brennen. Die dortigen Juden 3500 an der Zahl hatten mit Partisanen gearbeitet. Unter dem Vorwand einer Entlausung liessen Flucht vor dem Krieg 63 <?page no="64"?> 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Treiber, Helden oder Verräter, 169-170; Geldmacher, Auf Nimmerwiedersehen, 750. sich 500 aus dem Ghetto herauslocken und wurden vor dem eigenen Massengrab erschossen. Die übrigen ca. 3000 empfingen die sie heraustreibenden Feldgendarmen mit Pistolenschüssen und Messerstichen und waren nicht dazu zu bewegen das Ghetto zu verlassen. Der Minsker Ortskommandant ein Oberst X wurde benachrichtigt, erschien mit seinem Fieselerstorch und gab den Befehl das Lager, das mit Ukrainern umstellt wurde, anzuzünden. Was [nicht] auf der Flucht erschossen wurde, verbrannte. Ukrainer scheinen sich bei solchen Aktionen zu bewähren.“ 123 Wie derartige Vernichtungsaktionen gerechtfertigt wurden, gab Engelbert Bösch ebenfalls wieder: „Der Judenhass soll nicht ganz unmotiviert sein. Diese [die Ukrainer] behaupten, der Jude hätte vor dem Feldzug in allen Aemtern gesessen und mit brutalen Schikanen sein Unwesen getrieben.“ Kurz nach diesen grauenhaften Erlebnissen erhielt Bösch Heimatur‐ laub nach Lustenau und floh in die Schweiz. Er wolle nicht mehr kämpfen, erklärte er seinen illegalen Grenzübertritt gegenüber der St. Gallener Polizei. Seine Bestürzung über den Massenmord hielt der Vernehmungsoffizier des militärischen Nachrichtendienstes für authentisch. Die Motive seiner Flucht seien eher auf ethischem Gebiet zu suchen und wohl kaum „Feigheit“ geschuldet, hielt er in einem Kommentar zur Einvernahme fest. 124 Vergleichen wir abschließend die Länge der Dienstzeit der Vorarlberger mit den Ergeb‐ nissen von Studien über deutsche und österreichische Deserteure: Es zeigt sich, dass die Vorarlberger Soldaten etwas zögerlicher waren und mehr Zeit benötigten, um sich von der Pflichterfüllung zu lösen und das Risiko der Flucht einzugehen. Bei knapp mehr als sechzig Prozent dauerte es länger als zwei Jahre, bis die Entscheidung gereift war oder sie eine günstige Situation für die Flucht ausnutzten. Die Vergleichswerte der Studien von Stefan Treiber und Thomas Geldmacher betrugen 44 Prozent bzw. fünfzig Prozent. 125 Durchschnittlich brachen Vorarlberger Deserteure nach 988 Tagen oder 2,7 Jahren mit der Wehrmacht, österreichweit liegt dieser Wert bei 912 Tagen oder 2,5 Jahren. Unabhängig von diesen Differenzen ist indessen klar, dass die Kriegserfahrung das Handeln bedingte, dass Deserteure in ihrer großen Mehrheit weder von vornherein und prinzipiell Kriegsgegner waren, noch unüberlegt oder rücksichtslos handelten. V. Fluchtbewegungen - 5.1 Nach Schweden und in die Schweiz Die Flucht nach Schweden gelang dem Gefreiten und Sanitäter Johann Hörburger aus Krumbach nach fast fünf Jahren Fronteinsatz. Während der Räumung Finnlands über‐ schritt er am 25. Oktober 1944 mit sieben weiteren österreichischen Kameraden aus dem Gebirgsjägerregiment 139 bei Karesuando die Grenze zu Schweden und wurde als Wehr‐ machtsflüchtling aufgenommen. Unter den von uns ermittelten Fällen scheinen nur noch acht weitere Soldaten auf, die sich aus den Gebirgsdivisionen in Finnland und Norwegen lösten und in Schweden Zuflucht fanden. Einer von ihnen war Albrecht Steurer aus Schwarzenberg. Ihm glückte nach einem längeren Prozess der Abwendung, bei dem unter anderem die schlechte Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener eine Rolle spielte, bereits 64 Peter Pirker <?page no="65"?> 126 Ausführlich nachzulesen in: Albrecht Steurer, Biografie, Rankweil 1993. Ein Exemplar liegt in der Vorarlberger Landesbibliothek. Herzlichen Dank an Hans Kohler für den Hinweis und die Überlassung einer Kopie. 127 Gericht der 6. Geb.Div., Feldurteil, 9.5.1945. Riksarkivet og Statsarkivet (RA), RA/ RAFA-2197, Deut‐ scher Oberbefehlshaber Norwegen (DOBN)/ D/ Do/ L0235. Grimburg wurde noch am 18.5.1945 vom selben Gericht der bereits in britischer Kriegsgefangenschaft stehenden Division in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Zur Biografie Grimburgs: Winfrid R. Garscha, Wilhelm Grimburg (1923-2017), URL: https: / / www.doew.at/ neues/ wilhelm-grimburg-1923-2017 (abgerufen 14.7.2023). 128 VLA, AVLReg IVa-168/ 136. 129 PK St. Gallen, 22.10.1943. BAR E4320B#1991/ 243/ 20_Deserteure Refrakteure 1943. 130 Siehe die Verzeichnisse der Angehörigen des Verstärkten Grenzaufsichtsdienstes (VGAD) in VLA, LR Bregenz, 043/ 65. im Winter 1943/ 44 ungehindert der Grenzübertritt gemeinsam mit einem Kameraden, der die Initiative ergriffen hatte. 126 Am letzten Kriegstag, dem 8. Mai 1945, befand sich Albert Malin aus Satteins unter jenen 52 Soldaten des Gebirgs-Artillerie-Regiments 118, denen von Nordnorwegen aus und geführt vom Obergefreiten Wilhelm Grimburg im letzten Moment der Grenzübertritt gelang - zuvor hatte Grimburg zwei Offiziere erschossen, die die Flucht gewaltsam verhindern wollten. Vier der geflohenen Soldaten wurden von anderen Soldaten der Einheit noch vor der Grenze festgenommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet. 127 Dem Elektromonteur Otto Dürnberger aus Feldkirch, der mit der KPÖ sympathisierte, misslang es hingegen im Mai 1940, Schweden zu erreichen. Er wurde bereits bei Flensburg an der dänischen Grenze festgenommen und vom Sondergericht Kiel wegen Wehrdienstentziehung zum Tode verurteilt, zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt, kam ins KZ Neuengamme und erlebte die Befreiung im Zuchthaus Bremen. 128 Wenig verwunderlich und wie bereits weiter oben angeführt, suchten Vorarlberger Soldaten viel häufiger Aufnahme in der Schweiz. Von den eruierten 77 Soldaten überquerten 64 (82 Prozent) erfolgreich die Grenze. Gut geeignet dafür schienen die ruhigen und relativ seichten Gewässer des Alten Rheins bzw. die schmale Landgrenze beim Bruggerhorn: Die meisten (18) durchschwammen oder durchwateten diese Stellen des Altarms im Rheindelta zwischen Höchst, Lustenau und Gaißau bzw. entwischten über eine Landbrücke südlich der Brugger Rheinbrücke, zehn taten dasselbe am Rheinbogen bei Hohenems. 13 hingegen meisterten die schwimmtechnisch schwierigere Passage durch den in voller Breite fließenden Rhein bei Lustenau. Johann Hagen aus Lustenau wählte am 20. Oktober 1943 am späten Abend bewusst die schwierigste Stelle zwischen Lustenau und Au: „Ich war […] bei einer Pionierabteilung im Dienst gestanden und habe mir die dort erworbenen Kenntnisse zu Nutzen gemacht. […] Eine Schweizerfamilie in Au-Oberfahr die ich ohne näher zu kennen aufsuchte, nahm mich auf und verpflegte mich und gab mir auch trockene Kleider.“ 129 Einheimische wussten zudem über die Kontrollposten und Patrouillen der Beamten des Zollgrenzschutzes und der durchwegs einheimischen Hilfsgrenzangestellten 130 Bescheid bzw. konnten sie leicht durch Beobachtung und Gespräche in Erfahrung bringen. So glänzte der 18-jährige Schüler Heinrich Helbok aus Höchst bei seiner Einvernahme durch den Schweizer militärischen Nachrichtendienst im Juli 1944 mit genauen Kenntnissen zur Aufstellung des Grenzschutzes an den Posten Höchst, Gaißau und auf der Strecke zwischen Brugg und der Rheinmündung. Demnach befanden sich in Höchst ca. vierzig, in Gaißau Flucht vor dem Krieg 65 <?page no="66"?> 131 Deserteur-Kurzbericht, Nr. 348, 5.7.1944. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd 7. Genaueres zum Grenz‐ schutz: Gerhard Wanner, Flüchtlinge und Grenzverhältnisse in Vorarlberg 1938-1944. Einreise- und Transitland Schweiz, in: Rheticus. Vierteljahrszeitschrift der Rheticus-Gesellschaft 3/ 4 (1998), 227-271. 132 Anklageschrift gegen Ernst Emhofer, 9.1.1945. VLA, LGF, KLs 1/ 45. 133 Gestapo Innsbruck, Vernehmung Ernst Emhofer, 15.11.1944. VLA, LGF KLs 1/ 45. 134 Schilderungen finden sich in TLA, LGI, 10 Vr 2515/ 47; TLA, LGI, 10 Vr 3739/ 47, sowie in Johann- August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarl‐ berg 1933-1945, Bregenz 1985, 192-193. Zum Fluchtmotiv Scheffknechts, den Ermittlungen und den ca. dreißig Mann und entlang des Alten Rheins standen alle 250 Meter Einzelposten, die ununterbrochen acht Stunden Dienst versahen. Ein Kontrolleur schritt mit einem Hundeführer die Strecke zwischen den Posten ab. Zu meiden waren Brücken, wo sich Doppelposten befanden und deren Umgebung durch 1,3 Meter hohe Stacheldrahtzäune abgeschirmt war, sowie Bahn und Straßen im Grenzgebiet, wo Beamte des Grenzkommis‐ sariats Bregenz (einer Außenstelle der Gestapostelle Innsbruck) häufig Passkontrollen durchführten. Jugendlichen, die wie Helbok angesichts einer Einberufung „ihr Leben nicht für das Dritte Reich riskieren wollten“, fiel es anscheinend leicht, durch die Postenkette entlang des Alten Rheins zu schlüpfen. 131 Zu diesem Zeitpunkt litt der Grenzschutz bereits - wie alle polizeilichen und militärischen Institutionen des Deutschen Reichs - am „kriegsbedingten Personalmangel“, der dazu führte, dass „die Grenze doch nicht so überwacht werden kann, wie es wünschenswert erscheint“. 132 Diesen Personalmangel nutzte auf der Brugger Rheinbrücke der im Zivilberuf als Buchvertreter tätige und 1939 zum Grenzschutz eingezogene 40-jährige Hilfszollassistent Ernst Emhofer am 18. Februar 1944 für einen Akt der Fluchthilfe. Am Abend dieses Tages schickte er als diensthabender Posten auf der Brücke seinen Amtskollegen mit dem Auftrag weg, in der Dienststelle nachzufragen, wann die Ablöse ihren Dienst antreten werde. Als der dritte Posten sich in das Postenhäuschen verzog, hatte er freie Hand, einen vorher mit seinem Bekannten Gebhard Bösch aus Lustenau vereinbarten Fluchtplan für eine Gruppe von sechs Personen umzusetzen, bestehend aus dem bekannten Lustenauer Stickereifabrikanten Hermann Scheffknecht, dessen Ehefrau Maria, den beiden Töchtern Margritt und Brunhilde, dem Sohn Rudolf, der sich auf Heimaturlaub von seiner Einheit an der Ostfront befand, und einem weiteren Deserteur, nämlich Josef Reichart aus Bregenz. Bösch, der als ehemaliger Kaufmann wiederum gut mit der Familie Scheffknecht bekannt war, war auf Ersuchen von Maria Scheffknecht an Emhofer - es wurde ihm auch eine Belohnung in Aussicht gestellt - herangetreten. Zum vereinbarten Zeitpunkt um 20 Uhr traf die Gruppe an der Brücke ein. Emhofer gab ihnen mit einer Taschenlampe Lichtzeichen, auf die Brücke zu kommen, ließ sie passieren und zeigte ihnen den Weg unter der Brücke durch entlang der Uferböschung Richtung Schweizer Grenze. Auf der anderen Seite des Rheins legten sie die schneebedeckte Strecke entlang des Flusses und über die Uferböschung bis zur Grenze in weiße Leintücher gehüllt zurück. Binnen weniger Minuten war die Flucht geglückt und die Gruppe erreichte heil die Schweiz. 133 Was sich hier leicht liest, ist der Inhalt eines Geständnisses Emhofers, das ihm der Kriminalassistent Adolf Bähr, Beamter der Gestapostelle Innsbruck in der Herrengasse, nach monatelangem standhaftem Leugnen durch Prügel und Hängefolter abgepresst hatte. 134 66 Peter Pirker <?page no="67"?> letztlich nicht mehr durchgeführten Prozessen gegen Emhofer und Bösch siehe den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Band. 135 GP Lustenau an das Wehrbezirkskommando Bregenz, 22.2.1944. VLA, LGF, 5E Vr 347/ 44. 136 PK St. Gallen, Protokoll Anton König, 17.2.1944. BAR, E4320B#1991/ 243#199* Nazi Flüchtlinge - Deserteure Refrakteure, 1944. 137 PK St. Gallen, Einvernahme Franz Vogel, 1.2.1945. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrakteure 1945. Einige weitere Helfer*innen verdienen Erwähnung im Zusammenhang mit einer Häu‐ fung von Fluchten Lustenauer Soldaten im ersten Halbjahr 1944: Im Lustenauer Arbeiter‐ milieu betätigten sich vor 1938 manche als Schmuggler, um ihr karges Einkommen in den Stickereien aufzubessern, so auch Johann König. Ein Weg der Schmuggler in die Schweiz und retour führte durch einen Röhrenkanal unter dem Rheindamm und Alten Rhein. Diese Passage durch den Kanal oder auf dem Kanal nutzten mehrere Deserteure. Den Weg zeigte Johann König im Mai 1944 dem fluchtwilligen 25-jährigen Soldaten Josef Hagen aus Lustenau, im Zivilberuf ebenfalls Textilarbeiter. Doch als Hagen in das Rohr stieg, entdeckte ihn ein Grenzwächter, der dem im Rohr davon Watenden mehrfach hinterher schoss. Josef Hagen erlag in der Schweiz angekommen den Schussverletzungen. Johann König, dem die Gendarmerie ein Vorleben als kommunistischer Agitator in den frühen 1930er-Jahren nachsagte, dürfte bereits einige Monate zuvor seinem Sohn Anton, ebenfalls Textilarbeiter und dann Obergefreiter einer Infanterieeinheit an der Ostfront, zum Grenzübertritt verholfen haben - Gerüchte darüber waren jedenfalls der Anlass, dass die Mutter Josef Hagens sich an ihn um Hilfe wandte. Auch das Motiv der beiden Elternteile war ähnlich: Beide hatten bereits zwei Söhne durch den Krieg verloren und der letzte sollte jedenfalls überleben. Nachweisen konnten ihm Gendarmerie und Gestapo die Fluchthilfe für den Sohn nicht - er hatte dessen Verschwinden selbst angezeigt. 135 Auch Anton König erwähnte den Vater bei der Schilderung der Flucht am Polizeikommando St. Gallen nicht; er pochte darauf, seine Eltern nicht eingeweiht zu haben. Für die Überquerung der Brugger Rheinbrücke am Abend des 15. Februar 1944 in Uniform habe er sich eine Sonderbewilligung zum Besuch von Verwandten beschafft. Glaubwürdig führte er seine ausgezeichnete Kenntnis des Grenzgebiets beim Bruggerhorn seit seiner Kindheit ins Treffen. Auf Nachfrage gab er zu Protokoll: „Dass ich unbeanstandet durchkam habe ich einerseits dem Witterungseinfluss und andererseits der Dunkelheit und in dritter Linie einem gütigen Geschick zu verdanken.“ 136 Der Lustenauer Buchhalter und Fußballer beim FC Lustenau, Franz Vogel, betonte dezidiert, dass ihm „kein Mensch bei der Flucht behilflich gewesen“ sei. 137 Er durchschwamm am 30. Jänner 1945 abends etwa 200 Meter unterhalb der Zollbrücke Höchst bei klirrender Kälte in Zivilkleidern den Alten Rhein. Ebenfalls im Winter - in der Nacht vom 11. auf den 12. Januar 1943 - gelang Johann Boschele die illegale Passage bei Hohenems. Seine Schilderung wurde ungewöhnlich blumig protokolliert: „Ich dieser Nacht […] schlich ich mich von Hohenems aus an den Alten-Rheinfluss. In der Nähe der sogenannten Hohenemser-Armenhausscheune beobachtete ich den Wachdienst der deutschen Grenzwache. Zentimeter für Zentimeter schlich ich mich zwischen zwei Grenzsoldaten-Posten durch und gelangte auf diese Weise auf die sogenannte Wuhr. Plötzlich kam ein Hund in meine Nähe und fing mich an zu verbellen. Ich warf ihm den mitgeführten Rucksack hin, in dem sich meine Zivilkleider befanden. Ich sprang in der Dunkelheit in den Drahtverhau, konnte mich aber Flucht vor dem Krieg 67 <?page no="68"?> 138 PK St. Gallen, 13.1.1944. BAR, E4264#1985/ 196#31237*. 139 PK St. Gallen, Einvernahme Hermann Hauser, 9.3.1944. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrakteure 1944; Bericht 311, 20.3.1944. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd.-6. 140 Aktennotiz, 28.10.1944. BAR, E4320B#1993/ 214#3139. In manchen Dokumenten ist der Name Batruels mit „Partuell“ angegeben. Ein knapper Verweis auf Batruel findet sich bereits in Johann-August- Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen, 251. 141 Aktennotiz, 19.10.1943. BAR, E4320B#1993/ 214#3139. wieder lösen, den Drahtverhau konnte ich nicht übersteigen, daher kroch ich unten durch. Ich zerriss mir wohl dabei meine Uniform, aber es gelang mir dennoch, in’s Wasser zu springen und auf Schweizergebiet zu entkommen. Die mir nachgesandten Schüsse verfehlten ihr Ziel. Als die ersten Anwohner von Diepoldsau an die Arbeit gingen, traf ich beim ersten Bauernhaus ein. Hier wurde ich mit heissem Kaffee bewirtet […].“ 138 Dass Flüchtlinge ihre Helfer auch den Schweizer Behörden verheimlichten, ist nachvoll‐ ziehbar. Auch Hermann Hauser aus Lustenau, im Zivilberuf kaufmännischer Angestellter, erläuterte der St. Gallener Polizei, wie er am 9. März 1944 alleine und im Schutz der Dun‐ kelheit der frühen Morgenstunden in Hohenems auf der Höhe des Strandbads Diepoldsau sich seiner Uniform entledigt, Zivilkleider angezogen und ungehindert - offenbar über eine der verlandeten Stellen - die Grenze überquert hatte. 139 Erst bei einer späteren Vernehmung des im Oktober 1944 in die Schweiz desertierten Hilfszollassistenten Peter Batruel aus Hohenems, im Zivilberuf Maurer, stellte sich für die Polizei heraus, dass Batruel Hauser noch weitere Flüchtlinge während seines Dienstes als Grenzwache unbehelligt in die Schweiz hatte passieren lassen - und dies offenbar über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr hinweg. 140 Wann Batruel eingeteilt war, wusste in Hohenems wiederum der Eisenbahner Albert Amann. Der politische Flüchtling Wilhelm Richter aus Magdeburg schilderte das Vorgehen im Oktober 1943 so: Er sei von der Flucht aus Deutschland erschöpft in einer Gastwirtschaft in Hohenems von Amann angesprochen worden. Amann habe ihn eingeladen, mit nach Hause genommen und mehrere Tage beherbergt. Währenddessen kundschaftete Amann aus, „wo, wie und wann es am geeigneten sei über die Grenze zu kommen. Er brachte heraus, dass Batruel […] Dienst hatte am 14. Oktober über die Mittagszeit. Amann ging mit Richter, den er in eine Überhose steckte und ihm einen alten Kittel gab, sowie auf die Achsel eine Schaufel und Hacke, aufs Feld an den Rhein. Dort mähte Amann die Kartoffelstauden und Richter musste sich wieder umziehen […]. Auf ein Zeichen verschwand er unterhalb der Badeanstalt (Strandbad Diepoldsau) Richtung Schweiz. Offenbar machte Amann (allerdings zu spät) dem diensttuenden Batruel auf einen (fliehenden) Menschen aufmerksam. Richter selber hörte mehrmals ‚Halt‘ rufen, er war aber bereits auf Schweizergebiet und rannte in das Gehölz weiter.“ 141 Der gebürtige Schweizer Theodor Graf, Soldat in einer Einheit der Waffen-SS, verbrachte Mitte März 1944 nach einem Lazarettaufenthalt einen Genesungsurlaub in Lustenau und lernte die 17-jährige Hilfsarbeiterin Margaretha Trattner kennen. Er lebte einige Tage bei ihr, bis er sich entschloss, in die Schweiz zurückzukehren und seiner Freundin anbot, sie mitzunehmen. Ein weiterer einheimischer Jugendlicher, der 19-jährige aus der Wehrmacht aus gesundheitlichen Gründen entlassene Handelsschüler Johann Stuchly, erklärte ihnen 68 Peter Pirker <?page no="69"?> 142 Personalbogen Josef Ferdinand Neher, 28.11.1938. VLA, AVLReg IVa-168/ 164. Dank gebührt Karl- Heinz Koch für zusätzliche Informationen über das Ehepaar Neher. 143 Generalstaatsanwalt, Anklage gegen Ferdinand und Philomena Neher, OJs 560/ 44, 8.11.1944. VLA, AVLReg IVa-168/ 164. 144 Die Strafsache wurde an den Volksgerichtshof in Berlin abgegeben, zu einer Verhandlung kam es offenbar nicht mehr. Das Ehepaar Neher wurde am 1. Mai 1945 aus der Haftanstalt Feldkirch entlassen. 145 LG Feldkirch, Urteil, 26.5.1944. VLA, AVLReg IVa-168/ 167. 146 Jörg Krummenacher zufolge geschah dies im Rahmen der Fluchthilfe des Schweizer Ehepaars Alfons und Susan Eigenmann. Alfons Eigenmann war Grenzwächter und kannte Neher von Berufs wegen. Demnach war Neher in diesem Zusammenhang auch in die Sammlung von militärischen Informationen für den Schweizer Nachrichtendienst involviert gewesen. Krummenacher, Flüchtiges Glück, 135-137. Dass Neher, wie Krummenacher berichtet wurde, nach seiner Verhaftung erschlagen worden sei, trifft nicht zu. eine günstige Route. Sie sollte in der Nähe des Zollhauses Schmitter (Lustenau) über den Alten Rhein führen und nachts beschritten werden. Nachdem Stuchly sie in der Nähe des Ausgangspunkts verließ, verloren Graf und Trattner die Orientierung und übernachteten in einem Schuppen, wo sie am nächsten Morgen von der Eigentümerin Philomena Neher (geb. 1889 in St. Anton im Montafon) entdeckt wurden. Neher erfuhr vom Fluchtvorhaben, zeigte sie aber nicht an, gab ihnen vielmehr zu essen und erlaubte ihnen zu bleiben. Nehers Ehemann Ferdinand, gelernter Gipser, war seit 1919 Zollbeamter in Vorarlberg, seit 1935 im Zollamt Schmitter. Er gehörte bis 1934 der Sozialdemokratischen Partei an, nach deren Verbot musste er als Beamter der Vaterländischen Front beitreten, 1938 wurde er Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. 142 Er suchte die Fluchtwilligen auf, nahm Trattner mit in die Wohnung und zeigte ihr von dort mit Hilfe eines Feldstechers, wie sie am besten in die Schweiz gelangten und an welchen Stellen sie sich vor Zollbeamten in Acht nehmen mussten. Am Abend des 31. März 1944 überschritt das Paar erfolgreich die Grenze. 143 Auf der Schweizer Seite in Diepoldsau folgte die übliche Einvernahme durch die Kantonspolizei St. Gallen. Während Ferdinand Graf bleiben konnte, wurde Margaretha Trattner - wie andere Begleiterinnen von Deserteuren (siehe Jakob Maier) - umgehend zurückgeschoben, das heißt der Grenzpolizeistelle Lustenau (Gestapo) ausgeliefert. Am 3. April 1944 überstellte man sie in das Polizeigefängnis Bregenz, am 21. April 1944 in die Haftanstalt Feldkirch. Ihre Einvernahme durch die Gestapo führte sehr wahrscheinlich zur Festnahme von Ferdinand und Filomena Neher, gegen die wegen Feindbegünstigung und Begünstigung zur Fahnenflucht Anklage vor dem Oberlandesgericht Wien erhoben wurde. 144 Auch der dritte ursprünglich Fluchtwillige (oder Helfer) Johann Stuchly fiel bereits am 1. April in die Hände der Gestapo. Ihn verurteilte das Landgericht Feldkirch wegen Beihilfe zur Fahnenflucht, wobei das Oberlandesgericht Innsbruck die Strafe von zwei auf vier Monate Gefängnis erhöhte. 145 Das Hilfsmotiv des Ehepaars Neher dürfte ähnlich wie im Fall König und wohl auch bei anderen im Mitgefühl und Verständnis für die Suche nach einem Weg aus dem Kriegsdienst begründet gewesen sein. Sie hofften wohl zugleich, dass ihr in Jugoslawien vermisster 22-jähriger Sohn Wilhelm ebenfalls auf hilfsbereite Menschen zählen konnte. Doch das Ehepaar Neher zeigte nicht bloß in einem Einzelfall Mitgefühl. Von Ferdindand Neher ist bekannt, dass er seinen Dienst im Zollamt Schmitter häufiger so ausübte, dass jüdische und politische Flüchtlinge in die Schweiz passieren konnten. 146 Flucht vor dem Krieg 69 <?page no="70"?> 147 Meinrad Pichler, Das Land Vorarlberg 1861 bis 2015, Innsbruck 2015, 98; Johann-August-Malin- Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen, 43. Siehe auch die Dokumentation der Haftzeiten in VLA, AVLReg IVa-168/ 354. 148 Ebd. 149 BAR, E4264#1985/ 196#1422; GP Rheinau an Gestapo/ Greko Bregenz, 12.2.1945. VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1. 150 VLA, BG Bregenz, Gefangenenbuch 26.12.1944-1945, 204-208; Gendarmeriepostenkommando Höchst an die BH Bregenz, 16.12.1953. VLA, AVLReg IVa-168/ 388. 151 Siehe Michael Kasper, „Durchgang ist hier strengstens verboten“. Die Grenze zwischen Montafon und Prättigau in der NS-Zeit 1939-1945, in: Edith Hessenberger (Hg.), Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Aspekte einer Grenze am Beispiel Montafon-Prättigau, Schruns 2008, 79-108; Michael Kasper, Flucht über die Berge. Desertion und Fluchthilfe an der Gebirgsgrenze zwischen Tirol-Vorarlberg und Graubünden, in: von Lingen/ Pirker (Hg.), Deserteure, 33-50. Eine offenbar längere Tradition der Fluchthilfe und des Grenzschmuggels im politischen Kontext der illegalisierten Arbeiterbewegung ist für die Familie des Sozialdemokraten, Schreiners und Leichenbestatters Adelreich Nagel aus Höchst, der auch über verwandt‐ schaftliche Beziehungen in die Schweiz verfügte, belegt. 147 Nagel hatte nach der Nieder‐ schlagung des Februaraufstands 1934 bereits österreichischen Sozialisten zur Flucht in die Schweiz verholfen und war mehrfach aus politischen Gründen in Haft genommen worden. Im Juli 1938 hatte ihn die Gestapo wegen Menschenschmuggels (Beihilfe zur Übertretung der Passvorschriften) und kommunistischer Betätigung inhaftiert. 148 Im Februar 1945 holte ihn das Greko Bregenz neuerlich, dieses Mal wegen der Desertion seines Sohnes Johann Nagel und dessen Freundes Robert Köb. Beide waren Hilfszollbetriebsassistenten beim Zollgrenzschutz Höchst und begaben sich in die Schweiz, als sie eine Einberufung zur Wehrmacht erhielten. Die beiden hätten sich am Bahnhof Lustenau früh morgens zum Abtransport einfinden sollen, durchquerten stattdessen aber den Alten Rhein westlich der Brücke zwischen Höchst und St. Margarethen. 149 Das Greko Bregenz veranlasste in der Folge wegen des dringenden Verdachts der Mitwisserschaft die Festnahme nicht nur von Adelreich Nagel, sondern auch seiner Tochter Silvia, seiner Schwiegertochter Maria und deren Eltern Josef und Maria Kirschner. Während letztere nach vier Tagen aus dem brechend vollen Polizeigefängnis Bregenz wieder entlassen wurden, behielt das Greko Bregenz Adelreich und Silvia Nagel bis 23. April 1945 in Haft. Indizien für eine Mitwisserschaft oder Beihilfe lagen offenbar nicht vor; die Gestapo erstattete keine Anzeige. Daher wertete die Gendarmerie Höchst nach der Befreiung die Festnahme als Sippenhaftung. 150 Einheimische Deserteure wichen der gut bewachten und durch eine 14 Kilometer lange Stacheldrahtsperre gesicherten Grenze zwischen Tisis und dem Rhein aus. Hier sind den Schweizer Akten - soweit die Fluchtrouten ersichtlich sind - kaum Fälle geglückten Grenzübertritts zu entnehmen. Vergleichsweise wenige wählten auch den Weg über die grüne, jedoch ebenfalls gut bewachte Hochgebirgsgrenze im Montafon, wo seit 1940 eine Sperrzone das Betreten des Grenzbereichs untersagte. 151 Jakob Maier, einem Korbflechter aus Bludenz, Pionier beim Gebirgspionier-Ersatzbataillon 82 in Salzburg, bereitete es mit seiner Begleiterin, der Fabrikarbeiterin Hildegard Daniel, im August 1941 offenbar wenig Schwierigkeiten, unbemerkt in Zivilkleidern von Salzburg in seine Heimatgegend zu wandern, von dort über das Saminatal aufzusteigen und vermutlich über die Sarojahöhe 70 Peter Pirker <?page no="71"?> 152 Polizei St. Gallen, Einvernahme 13.4.1942. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20_Deserteure Refrakteure 1942, N 3155 Fi.; BAR, E27#1000: 721#9928* Bd 3 8600; BArch-MA, PERS 15/ 148610. 153 Interview mit Karoline Bertle und Peter Walch, geführt von Peter Pirker, Schruns, 22.8.2020. bei den Drei Schwestern die Liechtensteiner Gemeinde Schaan zu erreichen, um dann bei Buchs den Rhein zu überqueren. Dennoch ging die Flucht für das Paar nicht gut aus: Hildegard Daniel wurde von der Polizei St. Gallen gleich abgeschoben. Ihr Hinweis, dass dies für sie - eine Romni oder Sinta - die Einweisung in ein Zwangsarbeitslager für immer bedeute, beeindruckte die Schweizer Polizei nicht. Jakob Maier wurde hingegen als Deserteur aufgenommen. Als es im Internierungslager Witzwil zu einem Konflikt mit der Direktion kam, übte sie jedoch massiven Druck auf ihn aus, „freiwillig“ in das Deutsche Reich zurückzukehren. Nach erfolgter Übergabe verurteilte ihn das Gericht der Division 188 zum Tode und ließ ihn am Schießplatz in Glanegg hinrichten. Der 33-jährige Knecht Martin Thaler, beschäftigt in St. Anton im Montafon beim Land‐ wirt und Aufsichtsjäger Anton Battlogg, entschied sich erst zum Grenzübertritt, als ihm nach einem Monat in seinem Versteck, der Hütte Battloggs auf der Alpe Voleu im Montafon, im Februar 1942 die Lebensmittel ausgingen. Im Jänner hatte er den Einberufungsbefehl erhalten: „Ich konnte mich […] einfach nicht entschliessen, diesem Befehl Folge zu leisten, denn ich war einfach nicht gewillt, mich für kriegerische Handlungen Preis zu geben, ich halte dies für ein Abscheu und deshalb flüchtete ich vorerst auf die Alp Voleu im Montafon. Mein Meister Battlogg besitzt dort eine Hütte und in diesem Unterkunftsraum habe ich mir schon vorher ein Vorratslager Nahrungsmittel angelegt. Ich habe schon früher den Entschluss gefasst, mich vorerst auf dieser Alp zu sichern und die Flucht zu ergreifen. Als die Nahrungsmittel ausgingen, plante ich über die Schweizergrenze zu gelangen. Ich ging auf Umwegen nach Bludenz und von dort nach Frastanz, wo ich über Ammerlügen nach Liechtenstein und nach Haag kam.“ 152 Ebenso bergerfahren wie Martin Thaler, aber ein ganz anderer Typ war der 24-jährige Bauer und Skilehrer Eugen Cia aus Lech. Er hatte im Jänner 1944 hinter sich, was Thaler von Beginn an vermeiden wollte: drei Jahre Fronteinsatz mit horrenden Verlusten seines Jägerregiments 206 (7. Gebirgsdivision) bei der Kesselschlacht am Ilmensee bei Leningrad - von seiner Kompanie waren binnen dreier Tage nur mehr sieben Soldaten übriggeblieben. Danach an der Eismeerfront in Finnland gehörte Cia Spähtruppen an, mit großem Risiko in sowjetische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Keine Freude bedeute es ihm, dass er als ausgezeichneter Schifahrer im Februar 1944 an den Ski-Meisterschaften der Wehrmacht in Rovaniemi teilnehmen sollte. Zunächst gewährte ihm Elisabeth Walch, eine nahe Bekannte seiner Zieheltern, deren Mann als Wehrmachtssoldat in Jugoslawien im Kriegseinsatz stand, in ihrem Haus in Zug bei Lech Unterschlupf. Er hielt sich die meiste Zeit im Dachboden versteckt. 153 Als sie von ihrer Schwägerin gewarnt wurde, dass die illegale Beherbergung der Gestapo bekannt geworden sei, setzte Cia, seine schitechnischen Fähigkeiten anders ein als zur Ehre der Wehrmacht. Er verließ das Haus nachts im Schneefall und überschritt von Tschagguns aus in der Morgendämmerung des 25. Februar 1944 am Plaseggenpass die Schweizer Grenze. Unterdessen war Elisabeth Walch von Gestapobeamten aufgesucht und zur Befragung nach Bludenz gebracht worden. Einige Flucht vor dem Krieg 71 <?page no="72"?> 154 PK St. Gallen, Einvernahme 6.3.1944. BAR, E4320B#1990_133#1058. 155 Bericht 317, 4.4.1944. BAR, E27#1000/ 721#9928* Bd 6. 156 Wolfgang Müller-Sehn an die Schweizer Bundesregierung zu Handen von Bundespräsident Dr. Kobelt, 30.12.1949. BAR, E4264#1985/ 196#32705. Zeit später erhielt sie eine leere Postkarte aus der Schweiz, das vereinbarte Zeichen dafür, dass Cia die Route über das Gebirge geschafft hatte. 154 Der Schweizer Nachrichtendienst resümierte seine Einstellung nach eingehender Befragung: „Als Österreicher hatte der E.[invernommene] für den Nationalsozialismus von jeher nichts übrig und war deshalb auch nicht willens ‚für diesen aussichtslosen Krieg sein Leben zu opfern‘.“ 155 Eugen Cia war riskantes Handeln nicht fremd. Ein halbes Jahr nach seiner Flucht sollte er sich in der Schweiz der geheimen österreichischen Widerstandsorganisation Patria anschließen und in ihrem Auftrag zweimal nach Südtirol und Vorarlberg eindringen. Andere Gebirgsrouten, die von Ansässigen genutzt wurden, führten im Rätikon über das Rellstal und das Schweizertor oder über den Sarottlapass. Die letzte Route wählte der Filmemacher Wolfgang Müller-Sehn aus Konstanz, der mit seiner Frau Herta seit 1942 in Schruns lebte. Sein Fall stellt sich widersprüchlich dar. Bei den Einvernahmen beim Grenzwachkommando St. Antönien und durch die Kantonspolizei St. Gallen Anfang April 1945 gab er als Fluchtgrund an, dass er sich geweigert habe, politische Filme zu drehen und daher seine Verhaftung fürchte. Mit dem Ehepaar war auch der Kameramann Konstantin Irmen geflohen. Der Schweizer Polizei erschienen die Angaben wenig glaubhaft, sodass alle drei per Zug zurückgeschoben und dann in Feldkirch von der Gestapo in Haft genommen wurden. Ab 1946, Müller-Sehn betrieb nun in Schruns eine Filmproduktion, verlangte er von den Schweizer Behörden in mehreren ausführlichen Schreiben Wiedergutmachung für die Gestapo-Haft und ihre Folgen. Er schilderte darin die Flucht anders. Als Fluchtgrund gab er an, sich dem Wehrdienst entzogen, mehrfach Stellungsbefehle ignoriert und deshalb seine Verhaftung befürchtet zu haben. Auch die Fluchtgruppe schilderte er größer, als in den Schweizer Polizeiakten verzeichnet. Nun umfasste sie auch zwei entflohene holländische Kriegsgefangene, die er im Sommer 1944 von Wien nach Schruns dirigiert und dort über Monate versteckt haben wollte, und zwei weitere holländische Zivilisten, denen er allen das Schifahren beigebracht habe. Dieser Darstellung zufolge kundschaftete er bei Schitouren über Monate hinweg aus, dass der fast 2.400 Meter hoch gelegene Sarottlapass an lawinengefährlichen Tagen und Nächten unbesetzt blieb und der Übergang zwar gefährlich, aber von der Bewachung her sicher war. In der Nacht auf den 1. April 1945 habe er die sechsköpfige Gruppe unter immensen Anstrengungen von Gargellen nach St. Antönien geführt. In diesem Schreiben wies er auch darauf hin, dass einheimische Schleuser die Führung von Kriegsgefangenen in die Schweiz ablehnten bzw. „nur Leute über die Grenze brachten, die ihnen genügend dafür bezahlten.“ 156 Als sich Müller-Sehn auch an Medien wandte, wies das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartment darauf hin, dass er erst 1946 begonnen habe, die Fluchtgeschichte so darzustellen, insbesondere die Hilfe für die alliierten Kriegsgefangenen. Die Grenzpolizei hatte Müller-Sehn im April 1945 eher den „vermutlichen Nationalsozialisten“ zugeordnet, die sich dem Zugriff der herannahenden alliierten Truppen zu entziehen versuchten. „Dazu kam, dass in jenen Tagen die innere Ordnung in den noch nicht besetzten deutschen Gebieten bereits so weit nachgelassen 72 Peter Pirker <?page no="73"?> 157 Magistratisches Bezirksamt für den 13. Bezirk, Bescheid, 14.1.1948. BG Montafon, Z 16/ 48. Der Autor dankt Michael Kasper (Montafon Museen) für Überlassung einer Kopie des Akts. 158 BG Montafon, Z 16/ 48. 159 Badische Zeitung, 10.2.1945, 4. 160 Vorarlberger Volksblatt, 17.2.1947, 2. 161 Beispielsweise im Fall von Hilarius Huber, bei dem sich im Strafakt des Gerichts der Division 188 zahlreiche Schweizer Untersuchungsakten zu Fahrrad- und Lebensmitteldiebstählen finden, die ihm zur Durchführung von Fluchten dienten. ÖStA, AdR, DWM, GerA 340/ 5. 162 Josef Anton Düngler, Kurzer Lebenslauf, Tätigkeitsbericht, 18.3.1945. Salzburger Landesarchiv (SLA), Opferfürsorgeakt Düngler Anton. hatte, dass angenommen werden durfte, es müsste einem Deutschen verhältnismäßig leicht sein, sich für die kurze Zeitspanne bis zum Anmarsch der alliierten Truppen noch zu verstecken.“ Im Zuge der Registrierungspflicht für ehemalige Nationalsozialisten stellte sich heraus, dass Müller-Sehn seit 1937 Mitglied der NSDAP gewesen war. 157 Um sein Bestreben, aus der Liste der Nationalsozialisten gestrichen zu werden, zu unterstützen, bestätigten der Bürgermeister von Schruns und der Militär-Attaché der niederländischen Gesandtschaft in Bern Müller-Sehns Fluchthilfe für alliierte kriegsgefangene Offiziere. 158 Dezidiert politische Filme scheinen in seiner Werkliste nicht auf; nicht weit davon entfernt frönte er „im Stile schöner deutscher Naturromantik“, wie die Badische Zeitung im Februar 1945 festhielt, der cineastischen Verherrlichung von Landschaften, die dem Deutschen Reich eingegliedert worden waren. 159 Nach 1945 drehte er nach diesem Muster den dokumentarischen Spielfilm „Vorarlberg - Das Tor Österreichs“, ein Film, der offenbar nie gezeigt wurde. 160 - 5.2 Nicht-heimische Soldaten in der Fluchttransitzone Vorarlberg Etwa hundert nicht aus Vorarlberg stammende Soldaten ließen auf ihrer Flucht vor dem Kriegseinsatz erfolgreich den Transitraum des Landes am Rhein hinter sich. Ihre Fluchtspuren in Vorarlberg sind hauptsächlich mit Hilfe von Aufzeichnungen der Schweizer Polizei- und Militärbehörden belegbar. Wie bereits angedeutet, geben die Akten nur wenig Aufschluss darüber, ob den Kriegsflüchtlingen bei der Überwindung der Grenzsicherung auf deutscher Seite entlang des Flusses oder der Landgrenze bei Feldkirch und im Montafon Hilfe zuteil wurde. Die Einvernahmeprotokolle der Polizei St. Gallen vermitteln jedenfalls den Eindruck, dass die Deserteure auf der Schweizer Seite nur selten Details der Organisa‐ tion und Durchführung ihrer Flucht offenbarten - was angesichts der ungewissen Lage nicht verwunderlich ist. Zudem mussten Deserteure davon ausgehen, dass die Schweizer Polizeibehörden mit jenen des Deutschen Reichs kommunizierten und kooperierten, wie es Korrespondenzen in den Akten auch belegen, insbesondere dann, wenn Deserteure in der Schweiz straffällig wurden, bei der Flucht leichte oder schwere Gesetzesbrüche begangen hatten oder die deutschen Behörden Auslieferungsbegehren vorbrachten. 161 Fluchthilfe für eine kleine Zahl von Deserteuren aus Kasernen in Vorarlberg, Nord- und Osttirol betrieben im Jahr 1943 die beiden Vorarlberger Soldaten Josef Kirschner aus Bregenz und Anton Düngler aus St. Gallenkirch. 162 Düngler, damals 23 Jahre alt und im Zivilberuf Büroangestellter, versah nach Kriegseinsätzen in Jugoslawien und mit dem Gebirgs-Artillerie-Regiment 112 in der Sowjetunion offenbar Stabsdienste in den Stammkompanien der Kraftfahr-Ersatz-Abteilung 18 in Bregenz und des Landesschützen- Ersatz- und Ausbildungsbataillons 18 in Lienz. Kirschner war ebenfalls 23 Jahre alt, von Flucht vor dem Krieg 73 <?page no="74"?> 163 Ebd. 164 Sepp Kirschner, Arbeitsbericht, 16.7.1945. VLA, AVLReg IVa-168/ 125; ähnlich: Zeugenvernehmung Josef Kirschner in der Strafsache gegen Karl Niederwanger, 4.6.1948. TLA, LGI, 10 Vr 1732/ 47. 165 Peter Pirker, Codename Brooklyn. Jüdische Agenten im Feindesland. Die Operation Greenup, Innsbruck 2019, 81. 166 Abschriften der Urteile liegen in den zitierten Opferfürsorgeakten ein. 167 PK St. Gallen, Arthur Feist, 5.3.1945. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrakteure 1945; PK St. Gallen, 2.3.1945. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrakteure 1945; PK St. Gallen, 5.3.1945, Josef Geiger. BAR, E4320B#1991/ 243/ 20_Deserteure Refrakteure 1945. Beruf Handelsvertreter und im Stabsdienst von Ersatztruppen tätig. Nach eigenen Angaben waren die beiden in Innsbruck 1942/ 43 Karl Niederwanger begegnet, der sich einerseits als Aktivist einer „Tiroler Freiheitsbewegung“ gerierte, andererseits in seiner Funktion als Kontrollorgan und Dolmetscher in Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlagern in Tirol als Konfident des Nachrichtendienstes der Wehrmacht (Abwehr) tätig war. Düngler und Kirschner hatten Niederwanger in der ersten Rolle kennengelernt. Düngler schilderte seine Fluchthilfe im Rahmen eines Antrags auf Opferfürsorge 1947: „In Lienz gelang es uns für mehrere Kameraden falsche Papiere und Marschbefehle auszustellen, die auch alle ausnahmslos Erfolg hatten. […] Versetzt nach Bregenz ging der Kampf weiter durch das Durchschleusen von mehreren Tiroler Wehrmachtsdesertierten durch das enge Gestaponetz in die Schweiz.“ 163 Kirschner skizzierte die verdeckte Zusammenarbeit mit Karl Niederwanger im selben Kontext: „Es galt nun die Verbindung mit dem Ausland herzustellen und somit mussten wir schauen, dass es uns durch die benachbarte Schweiz möglich ist. Es war gerade ein alter Schulkamerad Erich Feuerstein im Urlaub und dieser ist ein guter Österreicher. Als ich mit ihm sprach, war er mit Feuer und Flamme dabei und somit wurde er mit den Aufgaben betraut und zog am 29.12.1943 […] los in die Schweiz“. 164 Die Anlaufadressen in der Schweiz hatte Karl Niederwanger zur Verfügung gestellt, dem als ehemaligen Aktivisten einer monarchistisch orientierten Jugendgruppe 1938 vorüber‐ gehend die Flucht in die Schweiz und nach Frankreich gelungen war, wo er sich bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo bei monarchistischen Exilgruppen um Otto Habsburg engagiert hatte. 165 Feuersteins Grenzübertritt schlug fehl, auf seine Verhaftung folgten die Festnahmen von Düngler und Kirschner, die beide vom Gericht der Division 418 wegen Beihilfe zur Fahnenflucht zu zehn Monaten Haft verurteilt wurden. 166 Düngler desertierte später von der Frontbewährung und gehörte zu den Deserteuren der Widerstandsgruppe in St. Gallenkirch. Eine Quelle über Fluchtwege in die Schweiz für nicht ortskundige Deserteure bildeten Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter der Industriebetriebe im Rheintal. Die aus dem Elsass stammenden zwangsrekrutierten Soldaten Alfred Jeunet und Arthur Feist kamen Ende Februar 1945 mit Fluchtabsicht nach Dornbirn. Hierher gelotst hatte sie der elsässische Zivilarbeiter Josef Geiger, der in der Stadt beschäftigt war. Jeunet und Feist besprachen ihren Plan nach Verwundungen an der Ostfront während eines Lazarettaufenthalts in Schwerin. Den Genesungsurlaub ließen sie sich nach Dornbirn ausstellen. In Dornbirn vermittelte offenbar Josef Geiger den Kontakt zu einem französischen Zwangsarbeiter, der dem Trio bei Lustenau eine günstige Route über den Rhein zeigte. 167 74 Peter Pirker <?page no="75"?> 168 Auf Vorarlberger Seite gingen Polizei und Justiz davon aus, dass Drost und Maier die Flucht gelungen war. In Schweizer Archiven konnten zu ihnen jedoch keine Akten gefunden werden. VLA, LGF Js 203/ 44. 169 GP Au an das Gericht der 2. Gebirgsdivision, Gestapo/ Greko Bregenz, Wehrmachtstandortältesten Bregenz, Landrat des Kreises Bregenz, 4.1.1945. VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1. Kein Glück hatte der Medizinstudent Nikolaus Staudt aus Düsseldorf, als er sich vor einer Frontabstellung im September 1944 in Gargellen im Montafon einem Bergführer anvertraute, der ihn gegen Bezahlung über das Gebirge in die Schweiz leiten sollte. Er wurde getäuscht, hinterrücks an Grenzbeamte verraten und im hochalpinen Gelände erschossen. Förderlich für eine gelingende Flucht war freilich auch das Unterlassen von Anzeigen fluchtverdächtiger fremder Personen durch Einheimische. Es ist auf Basis von Polizei‐ akten schwer festzustellen, ob dies intentional geschah oder das Resultat geschickter Verschleierung und Tarnung einer Flucht bildete. Der deutsche Schauspieler Siegfried Drost und seine Braut Elisabeth Maier kamen mit ihren Müttern im Juni 1944 nach Höchst und quartierten sich regelkonform als Urlauber in einer Pension ein. Am 30. Juni 1944 verschwanden Drost und Maier ohne Abmeldung aus der Unterkunft. Die Mütter gaben sich der Quartiergeberin gegenüber besorgt bzw. entsetzt über die Vorstellung einer Flucht der beiden in die Schweiz, die diese bereits vermutet hatte. Drost war zwar nur als arbeitsverwendungsfähig (av) gemustert, jedoch von der Wehrmacht zu einer Truppentournee verpflichtet worden. Die Quartiergeberin wartete auf Ersuchen der Mütter 24 Stunden mit der Anzeige ihres Verdachts, um ihre Gäste im Falle einer Rückkehr nicht zu kompromittieren. Das Grenzkommissariat Bregenz nahm die Mütter wegen Verdachts auf Hilfe zur Wehrdienstentziehung dann zwar fest, konnte ihnen aber letztlich nichts nachweisen, da ihre Geschichte über einen gemeinsamen Erholungsurlaub zwischen Bodensee und Alpen wasserdicht war. Sie wurden aus der Haft entlassen und das Sondergericht Feldkirch stellte das Ermittlungsverfahren ein. 168 Als Urlauber tarnten sich auch die deutschen Unteroffiziere Heinz Diesing und Alfred Clemens, als sie sich im Winter 1944/ 45 ins Kleine Walsertal zurückzogen, anstatt nach einem Panzerabwehrkampfkurs wieder zu ihren Einheiten einzurücken. Die günstige Gelegenheit für das Abtauchen bot ihnen ein Luftangriff in Stadtkyll im Eifelgebiet. Clemens kannte das Kleine Walsertal von einem früheren Lazarettaufenthalt in Mittelberg her. Dort angelangt, begaben sie sich mit Ski auf die Schwarzwasserhütte und von dort weiter nach Schoppernau in den Hinteren Bregenzerwald, wo sie sich im Hotel Krone einquartierten und angaben, sich in einem Schneesturm verirrt und unter eine Lawine geraten zu sein. Es dauerte nicht lange und sie wurden von der Gendarmerie kontrolliert. Ihre Angabe, an einem Skikurs auf der Schwarzwasserhütte teilgenommen und sich verirrt zu haben, stellte sich durch Nachfragen bei Wehrmachtsstellen rasch als falsch heraus. Unterdessen ergriffen die beiden die Flucht nach vorne und stellten sich der Gendarmerie, um zu beteuern, dass sie nicht fahnenflüchtig werden wollten. Diesing erklärte sich gegenüber dem Postenkommandanten: „[…] wir wollten nach unseren grossen bisher mitgemachten Frontstrapazen endlich ein paar Tage Ruhe haben.“ 169 Gleichlautend verantwortete sich Clemens. Sie zielten damit darauf ab, dass ihre Absetzbewegung als „unerlaubte Entfernung“ eingeschätzt wurde. Die Gendarmerie Schoppenau übergab die beiden einer Wehrmachtsstreife. Flucht vor dem Krieg 75 <?page no="76"?> 170 BAR, E4264#1985/ 196#3163* Hannemann Hermann. 171 BAR, E4320B#1993/ 214_5_C.29/ A116/ 42.578. Etliche der ortsfremden Deserteure waren als Duo unterwegs. Tragisch endete die Flucht von Hermann Hannemann und Werner Busse. Während es ersterem gelang, durch den Rhein zu schwimmen, verlor Busse den Kampf gegen die Naturgewalten und ertrank. In der Schweiz legte Hannemann den Behörden seine Motive dar: „Es sind nicht politische Gründe, die mich zur Flucht bewogen haben, sondern ich bin Deserteur. Vom Kriege habe ich über und über genug und ich glaube nicht an die ‚gute Sache‘ oder die ‚Mission‘, die wir Deutschen zu erfüllen hätten und bin nicht gewillt, dafür mein Leben zu lassen.“ 170 Auch ihn versuchte die Politische Abteilung der Schweizer Polizei dazu zu bewegen, in das Deutsche Reich zurückzukehren. Das Angebot beinhaltete das Versprechen, die deutschen Behörden nicht über die Flucht zu informieren. Davon wollte Heinemann aber nichts wissen, „denn wenn ich erwischt werde, erschiessen sie mich.“ Vor diese Alternative gestellt, stimmte er der Internierung in einem Lager zu. Am 14. Juli 1942 wurde er der Strafanstalt „Lindenhof “ in Witzwil übergeben, der ein Internierungslager für deutsche Deserteure angeschlossen war. Die Internierten wurden von Soldaten bewacht und unterlagen einer Arbeitspflicht bei geringer Entlohnung. 171 Im März 1945 hatte Hannemann von den strikten Bedingungen der Internierung, dem Arbeitszwang, dem schlechten Lohn und einer Wochenarbeitszeit von fünfzig Stunden offenbar genug und trat die Flucht nach Frankreich an. Nach seiner Festnahme verbüßte er in Luzern eine Haftstrafe wegen Nichtbefolgung von Dienstvorschriften, wiederholten Anstalten zu illegalem Grenzübertritt und Veruntreuung. Im Unterschied zum Ärger, den er den Polizeibehörden bereitete, zeigte sich der militärische Nachrichtendienst N.S.1/ Ter.Kdo. 8 von Hannemann sehr angetan, denn er hatte sein militärisches Wissen über die deutschen Streitkräfte bereitwillig geteilt: „Hannemann ist ein intelligenter Bursche. Er scheint auch charakterlich einwandfrei zu sein. Obwohl er an sich eine sportliche Freude am Militärdienst hatte, wollte er nicht mehr gegen seine Überzeugung und gegen Unschuldige kämpfen. H. hat uns durch seine klaren und technisch dif‐ ferenzieren Angaben ausserordentlich gute Dienste geleistet. Sein Auftreten war stets bescheiden und korrekt.“ In Einzelfällen wandten Deserteure Gewalt an, um sich der Verhaftung zu entziehen oder an der Grenze durchzukommen. So protokollierte der Postenführer von Lustenau am 15. April 1945 die Erschießung eines Grenzschutzmannes durch einen Deserteur. Polizeiberichte und Akten des Sondergerichts Feldkirch dokumentieren eine Reihe von Schusswechseln zwischen Deserteuren und Polizeibzw. Zollgrenzschutzbeamten, bei denen es auf beiden Seiten Tote und Schwerverletzte gab. Der Verlauf lässt sich anhand der Akten hinsichtlich der Frage, wer zuerst schoss, kaum eindeutig klären. Hier gingen die Darstellungen von Deserteuren gegenüber der Schweizer Polizei und der deutschen Polizei gegenüber den Schweizer Behörden meist auseinander. Am 27. September 1943 kam es nach Einbruch der Dunkelheit beim Zollamt Schmitter zu einem Schusswechsel zwischen dem zuvor in Grenznähe festgenommenen Deserteur Adolf Zapel aus Rostock und zwei Zollbeamten. Zapel war während eines Fliegerangriffs aus 76 Peter Pirker <?page no="77"?> 172 Polizeikommando Kanton St. Gallen, Einvernahme Adolf Zapel, 4.10.1943. BAR, E4320B#1991/ 243#1626*; VLA, LGF Js 126/ 43. 173 GP Bregenz, Gestapo Schusswaffengebrauch, 6.4.1944. VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 2. 174 GP Bezau an Genesungs-Komp. 335 in Konstanz, 21.9.1942. VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 2 (Vorfal‐ lensberichte Selbstmorde). 175 Zeugenvernehmung Rosa Ruef, 9.6.1948. TLA, LGI, 10 Vr 1732/ 47. Vgl. Horst Schreiber, Endzeit. Krieg und Alltag in Tirol 1945, Innsbruck 2020, bes. 339-342; Pirker, Codename Brooklyn, 219-221. der Haft in Hamburg geflohen. Er war nach seiner fünften Verwundung an der Ostfront of‐ fenbar wegen Befehlsverweigerung verurteilt worden und ihm stand ein weiteres Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung bevor, da er in Briefen an Frontsoldaten die Kriegsführung kritisiert hatte. Im Zollhaus Schmitter zog er nach Darstellungen der deutschen Polizei während eines Fluchtversuchs eine Pistole, schoss auf die Beamten und sprintete Richtung Grenze, die er auch erreichte. Das Sondergericht Feldkirch führte ein Ermittlungsverfahren wegen Mords und Wehrdienstentziehung durch und kontaktierte deshalb die Schweizer Behörden. Zapel, der erst auf Schüsse der Grenzbeamten reagiert haben wollte und dem gewiss die Todesstrafe im Deutschen Reich gedroht hätte, wurde letztlich nicht ausgeliefert und erst 1946 ausgeschafft. 172 In einer Pension in Bregenz kontrollierten drei Beamten des Grenzkommissariats Bre‐ genz nach einer Anzeige zwei verdächtige Soldaten. Heinz und Helmut Massheimer hatten sich unter anderen Namen als Wehrmachtsoffiziere ein Zimmer genommen. Einem Bericht der Gestapo zufolge eröffneten die beiden während der Durchsuchung des Hotelzimmers das Feuer auf zwei der Beamten und verletzten sie schwer, wurden aber ihrerseits vom dritten Gestapobeamten tödlich getroffen. 173 Andere Fahnenflüchtige verübten nach der Festnahme vor der Grenze (Kurt Jakobitz, Eduard Roth, Bernhard Busch) oder wegen Aussichtslosigkeit Selbstmord (Johann Schuh). Nicht tödlich verlief der Suizidversuch des wegen Fahnenflucht von der Gendarmerie festgenommenen Stuttgarters Erich Witte am 21. September 1942 im Amtsgericht Bezau, nachdem er sich mit einem Abzeichen die Pulsadern aufgeschnitten hatte. 174 - 5.3 Andere Wege: Tirol, Partisanen, besetzte Gebiete Von 35 Vorarlberger Deserteuren kennen wir andere Zufluchtsorte als ihre Heimatgegend oder neutrale Länder. Sechs konnten im letzten Kriegsjahr in Tirol bei Frauen in Innsbruck und Umgebung und bei Verwandten im Pitztal über Monate hinweg auf Solidarität und Schutz bauen. Rosa Ruef, Hausfrau in Völs, nahm Anfang März 1945 drei Vorarlberger Deserteure, darunter Manfred Ölz aus Lauterach, bei sich auf. Sie gehörte zu einem fragilen Netzwerk von Regimegegner*innen, die sich auf eine Machtübernahme in Innsbruck beim Eintreffen der alliierten Armeen vorbereiteten. Deserteure aus dem Gebirgsjäger-Ersatz- Bataillon 136 in Innsbruck wie Ölz, Soldaten in den Innsbrucker Kasernen und Bedienstete in Wehrmachtsämtern bildeten das militärische Personal für diese Pläne. 175 Franz Jussel aus Thüringen und andere wurden von Marianne Stocker einquartiert, der Mutter des Widerstandsaktivisten Karl Niederwanger, der zugleich als Konfident für die Abwehr und im Frühjahr 1945 unter Druck auch für die Gestapo tätig wurde. Bei einer von ihm Flucht vor dem Krieg 77 <?page no="78"?> 176 Erklärung von Franz Jussel, 25.6.1946. TLA, ATLR, Vf+Va 1053; Pirker, Codename Brooklyn, 220-222. 177 Schriftlicher Bericht von Leo Walser an Peter Pirker, 3.2.2023, Interview mit Paula Walser, geführt von Peter Pirker, 8.3.2023. 178 Schreiben Befehlshaber Sipo und SD Italien, 11.4.45. TLA, Wehrstammbuch Gerhard Hämmerle. 179 42. Jäger-Division, 454/ 44, 883, FF 2571. Sammlung Hannes Metzler. 180 Michael Kasper, Montafon unterm Hakenkreuz, Innsbruck 2023, 381; StA Bludenz, 7/ 454. Ich danke Michael Kasper für die Überlassung einer Kopie. ausgelösten, weitläufigen Razzia in Innsbruck und im Umland griff die Gestapo auch auf die Wohnung seiner Mutter zu und verhaftete die dort befindlichen Deserteure. 176 In einem vergleichsweise stabilen Umfeld kam der 37-jährige Senn und Forstarbeiter Anton Walser aus Lorüns unter, als er am Ende eines Heimaturlaubs im Winter 1944/ 45 genug vom Krieg hatte. Statt sich in der Kaserne in Landeck zu melden, suchte er sein nicht weit entferntes Elternhaus in Piösmes im Pitztal auf und fand bei seiner Mutter und den Geschwistern selbstverständliche Aufnahme. Er verbarg sich bis Kriegsende zum Teil im Gehöft, zum Teil mit anderen Deserteuren auf der hoch gelegenen Tiefentalalm. Anton Walsers Bruder Alfons war Jäger und Förster, daher viel und unverdächtig im alpinen Gelände unterwegs. Er konnte so seinen legalen Beruf mit illegalen Versorgungsgängen für die Deserteure verbinden. 177 Von neun Vorarlberger Deserteuren wissen wir, dass sie sich in ihren Einsatzgebieten in die Obhut von Partisanen begaben. In Italien taten dies Max Bonat aus Bregenz, Gebhard Hämmerle aus Lustenau und Wilhelm Lienherr aus Ludesch. Den Hilfszollassistenten Hämmerle schleuste eine Partisanengruppe in die Schweiz. Er verweigerte im Februar 1945 seine Rückführung ins Deutsche Reich, was vom Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Italien als Fahnenflucht gewertet wurde. 178 Lienherr floh im September 1944 an der ligurischen Küste zu den Aufständischen. Die Fahndung nach ihm blieb bis Ende des Jahres erfolglos und wurde eingestellt. 179 Zu einer politischen Wandlung führte das Kriegserlebnis bei Adolf Hartmann aus Nenzing und Otto Martin aus Stallehr, die beide bereits Mitte vierzig waren. Sie waren 1938 der NSDAP beigetreten, doch im Herbst 1944 wechselten sie angesichts der Brutalität der Aufstandsbekämpfung ihrer Einheiten in Slowenien die Seiten und traten den Österreichischen Freiheitsbataillonen in der jugoslawischen Partisanenarmee bei. Bei Otto Martin, bis 1941/ 42 sogar Blockleiter, war die Regimetreue schon viel länger verflogen: Er hatte sich in seiner Heimatgemeinde in die polnische Zwangsarbeiterin Eugenie Mucha verliebt und mit ihr ein Kind gezeugt, war im Herbst 1943 wegen „Rassenschande“ verhaftet, von der NSDAP ausgeschlossen und in das Arbeitserziehungslager Reichenau eingewiesen worden. 180 Nach zwei Monaten Haft wurde er von dort zur Wehrmacht eingezogen. Ein Zusammenleben mit seiner Geliebten und der gemeinsamen Tochter war nur möglich, wenn das rassistische Regime fiel. Otto Martin trug durch die Desertion und den bewaffneten Kampf auf Seiten der Alliierten seinen Teil dazu bei. Ebenfalls an der Seite der Partisanen aktiv wurde schon im März 1943 der 22-jährige Funker Otto Nöckl, Landarbeiter und Sohn des NSDAP-Bürgermeisters von Doren, nach einem halben Jahr Einsatz an der Ostfront. Er lief mit seinem Kameraden Friedrich Pietzka von der Gebirgs-Nachrichten-Abteilung 68 (3. Gebirgsdivision) zur sowjetischen Partisanenbrigade 208 in Weißrussland über und kämpfte auch hinter den deutschen Linien. 78 Peter Pirker <?page no="79"?> 181 Die Aktivitäten Otto Nöckls, der nach seiner Heimkehr leitender Funktionär der KPÖ in Vorarlberg wurde, sind umfangreich dokumentiert, eine genauere Darstellung kann hier nicht erfolgen. BArch- MA, PERS 15/ 124996 (Fahndungsakt der Wehrmacht der 3. Gebirgsdivision); Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW), Akt 5521. Vgl. Kurt Bereuter, Ein Deserteur auf Abwegen, in: Thema Vorarlberg 64 (2020), 33; Charlotte Rombach, Im Kampf gegen Nazi-Deutschland. Öster‐ reicherinnen und Österreicher in der Roten Armee, Wien 2016, 84. Zu beachten bei der Beurteilung der Aktivitäten Nöckls ist, dass die Wehrmacht für ihren Angriff auf die Sowjetunion die für die Kriegsführung geltenden völkerrechtlichen Regelungen von vornherein über Bord geworfen hatte. 182 Der Landrat des Kreises Bregenz an den Herrn Kommandierenden General im Auffrischungsbereich Mitte, 19.4.1943. BArch-MA, PERS 15/ 124996. 183 Bilgeri, Bei den Partisanen. Nach diesen Einsätzen, bei denen er schwer verwundet wurde, beteiligte er sich an der Antifa-Schule 27 in Krasnogorsk und hielt bei der Gründung des Antifaschistischen Büros Österreichischer Kriegsgefangener eine Rede. An seinen Vater hatte er zwei Tage vor der Desertion einen zweideutigen Abschiedsbrief geschrieben, dessen Formulierungen einerseits auf seine Fluchtabsicht hindeuteten, andererseits seinen Vater von jeder Mitwis‐ serschaft entlasteten. 181 Er schrieb: „Ich habe stets meine Pflicht als Soldat und wenn dies möglich war, auch als Mensch erfüllt. Ich habe nicht geschlafen und habe die Zeit genützt und mit offenen Augen bin ich durchs Leben gegangen. In meinem Denken und Handeln bin ich immer ehrlich und offen gewesen. Ich weiss, dass ich dies alles nur durch Euch geworden bin. Und ich danke Euch daher aus tiefstem Herzen für Eure Erziehung. Erst, wenn man in der Stunde der Bewährung gestanden, weiss man erst, einen strengen Papa, eine liebe und gute Mama, so gute Schwesterle und ein pfunds Brüderle richtig einzuschätzen. Ich kann Euch nur danken, wenn ich Euch sage, dass ich auch weiter meine Pflicht tue, so wie es recht ist und wie ich es auch vor der Vorsehung verantworten kann […] und ich hoffe, dass mich das Glück auch weiterhin so wie bisher begleiten möge, damit wir dann einmal ein Wiedersehn in Frieden feiern können.“ 182 Der konservative NS-Gegner und Lehrer Rudolf Bilgeri aus Hohenems übergab den Partisanen in Athen bei seiner Desertion im September 1944 zwar einige Waffen und Munition, direkt ins Kampfgeschehen gegen die deutschen Truppen und ihre griechischen Verbündeten griff er jedoch nicht ein. Er teilte über fast zwei Monate das prekäre Leben der Widerstandskämpfer*innen der Befreiungsbewegung ELAS bzw. ihrer Unterstützer*innen und verfasste über den Wechsel vom gut situierten Besatzungssoldaten zum gehetzten Partisanen ein beeindruckendes Tagebuch. 183 Soldaten, die sich von ihren Feld- oder Besatzungseinheiten ohne weiteren Plan oder Beziehungen zu Partisanen unerlaubt entfernten, hatten kaum Chancen, längerfristig zu entkommen. Der 31-jährige Hilfsarbeiter Anton Dona verließ 1941 seine Truppe in Sarajevo nach einer Arreststrafe, um sich zu betrinken, kehrte dann aber nicht in die Unterkunft zurück. „Ich irrte drei Tage im Wald herum, ohne etwas zu essen. Bei Bauern anzufragen getraute ich mich nicht, da ich früher öfter gehört habe, dass Soldaten verschwunden sind. Zurück nach Sarajevo fand ich nicht. Endlich durch Hunger und Heimweh fasste ich den Entschluss nach Hause, nach Vorarlberg zu gehen, da ich die in Sarajevo wartende Strafe fürchtete. Die Absicht mich dauernd Flucht vor dem Krieg 79 <?page no="80"?> 184 Feldurteil, 9.8.1941. ÖStA, AdR, DWM, GerA 307/ 22. 185 Es blieb nicht seine einzige Fluchtbewegung in den folgenden Jahren, siehe Meinrad Pichler, Hilar Huber (1920-2001). Der Grenzgänger und seine Fluchten, in: Platzgummer et al. (Hg.), „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist…“, 17-24. 186 Reichsgau Tirol-Vorarlberg, Gemeindeverzeichnis für den Reichsgau Tirol-Vorarlberg, 1939. TLA, BH Landeck, A, XII, XIII, 1939, Fasz. 603. dem Wehrdienst zu entziehen hatte ich nie. Daheim hätte ich mich nach ein paar Tagen Aufenthalt bei der Gendarmerie gemeldet.“ 184 Nach vier Wochen des Bettelns und orientierungslosen Wanderns war Dona am Ende und stellte sich der kroatischen Polizei. Das Divisionsgericht verurteilte ihn wegen un‐ erlaubter Entfernung zu einem Jahr Gefängnis; die Strafe wurde zur Frontbewährung ausgesetzt. In einer Bewährungstruppe fiel Christian Engstler aus Lorüns, nachdem ihn das Gericht der 2. Gebirgsdivision 1943 in Finnland wegen Fahnenflucht zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Er litt an Schwerhörigkeit und Schwermut, der Frontdienst in der arktischen Tundra war ihm nach dreieinhalb Jahren verleidet, sodass er von einem Kinobesuch nicht mehr einrückte und Richtung Süden trampte. Er wurde 600 Kilometer entfernt in einem Soldatenheim in Rovaniemi aufgegriffen. Vergeblich versuchten sein Vater und der Bürgermeister von Lorüns, den im Zivilleben Unbescholtenen aus dem Strafgefangenenlager III Aschendorfermoor, wo er schwere Zwangsarbeit leisten musste, herauszuholen. Eine zielstrebige Flucht gelang Hilarius Huber über 2.000 km von seiner Einheit in Atalanti, Griechenland, nach Hohenems. 185 - 5.4 Deserteursgemeinden: Sozioökonomische und politische Erfahrungsräume 5.4.1 Sozioökonomische Bedingungen Neben der bereits kurz beschriebenen dezentralen, peripheren Lage zeichnet ein ökono‐ misches Merkmal die „Deserteursgemeinden“ im Vorderen Bregenzerwald, im Großen Walsertal und im Montafon (Tab. 7) aus. Mit Ausnahme von Lorüns und St. Anton waren sie durch einen vergleichsweise hohen bis sehr hohen Anteil an bäuerlicher Bevölkerung ge‐ prägt 186 und fast alle Abtrünnigen waren Bauern oder Bauernsöhne. Für ihre Entscheidung zur Flucht war die Erfahrung in der Landwirtschaft und die traditionelle Einbindung in eine Struktur der Selbstversorgung von erheblicher Bedeutung. Neben der eigenständigen Versorgung boten die häufig verstreut liegenden Bauernhöfe mit ihren Nebengebäuden oder an das Wohnhaus angebauten Ställen und Scheunen allerhand Möglichkeiten, um in Holzwände und -böden Verstecke einzubauen. Provisorisch errichtete Hütten in steilen Lagen, auch Höhlen konnten im bekannten Gelände, nahe genug an den Höfen und doch gut verborgen, genutzt werden. Im hügeligen Vorderen Bregenzerwald eigneten sich die Furchen von Bächen und die Tobel tief eingeschnittener Flussläufe dafür, dort eine Zeitlang unterzutauchen. In Zwischenlagen befindliche Maisäße und im Gebirge bewirtschaftete Alpen bildeten Außenstehenden schwer zugängliche Ausweichquartiere; im Winter waren sie nicht bewirtschaftet - verlassene Rückzugsorte, die Deserteure auf Skiern erreichen und auch als Speicher nutzen konnten. Vertikale Weitläufigkeit und kurze horizontale Wege zeichneten die Topografie der noch stark an Subsistenz orientierten Berglandwirtschaft mit Exposituren in verschiedenen 80 Peter Pirker <?page no="81"?> 187 Michael Kasper, Kriegsende in St. Gallenkirch: Bericht eines Deserteurs und Widerstandskämpfers, in: Montafoner Museen, Jahresbericht 2007, Schruns 2007, 84-88, 80. 188 Vgl. Thomas Gamon, Ignaz Burtscher: Mit 14 im Gefängnis, in: Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 67-72, 67-68. Höhenlagen aus - entsprechend sah das Bewegungsprofil der Flüchtlinge aus. Die kurzen, aber steilen Wege im Wald waren auch für Helfer*innen alltäglich gut zu bewältigen. Der Deserteur Jakob Netzer aus St. Gallenkirch berichtete dem Historiker Michael Kasper, dass ihn seine überraschte Mutter freudig empfing, als er im Winter 1944/ 45 den Rückweg vom Lazarett Feldkirch zu seiner Einheit abgebrochen hatte und wieder daheim auftauchte. Er versteckte sich nach einer kräftigen Stärkung im eigenen Stall. Später zog er mit anderen Flüchtlingen auf die Maisäß Tanafreida. Dort wurden sie von Netzers Mutter und anderen Frauen versorgt. Mit der Schneeschmelze zogen sie in eine Heubarge bei den Bergmähdern im Alpgebiet von Zamang um. 187 Solche Optionen standen fluchtwilligen Soldaten in den Ballungsräumen kaum offen - es sei denn, sie verfügten über tragfähige soziale Beziehungen zu Bauernfamilien (meist Verwandtschaft), die sie andernorts aufnahmen, versorgten und schützten. Zugleich muss man sich vor Augen halten, dass auch diese für Deserteure günstige Sozialstruktur, die außerdem von Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Höfen geprägt war, die als weitere Stützpunkte dienlich sein konnten, unter der Bedingung einer stark reglementierten Kriegswirtschaft mit strengen Abgabepflichten in ihrer Aufnahmefähig‐ keit Grenzen kannte. Gemildert wurde die staatliche Kontrolle der Lebensmittelproduktion durch extreme Lagen von Bergbauernhöfen. Meist trug die familiäre Überschussproduktion aber nur einen oder zwei geheime Esser, sodass von mehreren eingerückten Söhnen über längere Zeit nur einer versorgt werden konnte. Neben der ökonomischen existierte auch eine soziale Grenze durch ein traditionelles strenges Arbeitsethos, welches vorsah, dass jeder Esser seine Arbeitskraft zur Lebensmittelproduktion einzusetzen hatte. Doch die Illegalität machte es desertierten Bauernsöhnen schwer, diese soziale Norm zu erfüllen. Dauerten Desertionen über längere Zeit, etwa seit Sommer 1943, und kam es zu einer Gruppenbildung, die den Haushalt stark belastete, waren Konflikte, die im Auseinander‐ fallen von Erwartungshaltungen an Esser und männlichem Selbstwertgefühl entstanden, meist unausweichlich. Ihre Bewältigung führte zur Inkaufnahme des Risikos des Sichtbar‐ werdens, um am Arbeitsprozess im Freien in irgendeiner Form teilzunehmen oder von woanders her Lebensmittel zu beschaffen. Diese konfliktgeladene Dynamik entfaltete sich beispielsweise nach der bereits Monate dauernden Versorgung der drei Deserteure am Burtscher-Hof in Sonntag im Großen Wal‐ sertal nach dem Herbst und Winter 1943/ 44, als die intensive Frühjahrs- und Sommerarbeit auf den Feldern begann. Während sie im Herbst und Winter zu dritt Holzarbeiten im Bergwald hatten übernehmen können, war die Beteiligung an Feldarbeiten im Frühjahr in der Umgebung des Hofes mit hohen Risiken behaftet, denn diese waren sowohl von einem Nachbarhof als auch von den Talseiten her gut beobachtbar. Wer sich gerade (legal) auf den Höfen befand, war in den Dörfern bekannt; es war Teil der Alltagskommunikation. Gerüchte und Gerede regten Ordnungshüter zu Nachforschungen an. 188 Es gab aber eine „Technik“, das Risiko abzuschwächen. Sie bestand darin, dass Deserteure bei Arbeiten im Freien Frauenkleider trugen, die sie zumindest aus der Ferne als Magd oder Haus‐ Flucht vor dem Krieg 81 <?page no="82"?> 189 Interview mit Hansjörg Klotz, geführt von Peter Pirker, 8.3.2023; siehe auch Messner, Die unge‐ horsamen Badiotten, 92; Steurer/ Verdorfer/ Pichler, Verfolgt, verfemt, vergessen, 105; Brunhilde Hochschwarzer/ Markus Wilhelm, Deserteure Gemeinde Sölden, o. D. (Liste im Besitz des Autors). 190 Unter den bäuerlichen Deserteuren im Alpenraum befanden sich viele Jäger. Ihre Bekanntschaft mit Aufsichtsjägern und Förstern führte an manchen Orten dazu, dass sie die Deserteure schützten, etwa im Tiroler Vomperloch oder im Osttiroler Schlaiten. An anderen Orten waren die Berufsjäger und Forstbeamten Teil der Überwachung und durch ihre häufigen Waldgänge eine Gefahr für Deserteure. Letzteres scheint im Walsertal der Fall gewesen zu sein, dazu später. 191 Gestapo/ Greko Bregenz, Einvernahme Hermine Gassner, 11.7.1944. VLA, LGF KLs 53/ 44. tochter erscheinen ließen. 189 Solche Tarnungen funktionierten nicht, wenn Angehörige oder Fremde kamen, um zu helfen. Sobald sich Illegale im Haus befanden oder von hier aus versorgt werden mussten, war es überhaupt schwierig, auf diese unter normalen Umständen allgemein üblichen und auch notwendigen Formen der temporären Zuarbeit zurückzugreifen. Spannungen zwischen Deserteuren und ihren Helfer*innen, die daraus entstanden, hatten wenig mit Politik oder der Haltung zum Krieg zu tun, sondern vor allem mit den sozialen und ökonomischen Regeln der Berglandwirtschaft, und sie ergaben sich unweigerlich bei längerer Verweildauer. Gesellten sich zu einem Deserteur weitere hinzu, wurde in manchen Fällen der Speise‐ zettel durch Wildern ergänzt. Während bei Wilddiebstahl in einem gewissen Rahmen bisweilen - abhängig von der sozialen Position der mutmaßlichen Wilddiebe und vom Eigentümer der Jagd - mit einer gewissen Akzeptanz oder Duldung gerechnet werden konnte, 190 waren Vieh- oder Lebensmitteldiebstähle in der bäuerlichen Welt verpönt. So sahen sich die Deserteure von Sonntag in Gesprächen mit Helfer*innen bemüßigt zu beteuern, das Eigentum anderer zu respektieren und auch keine Lebensmittel zu stehlen. Sie grenzten sich selbst damit von anderen „Banden“ ab, womit entlaufene Zwangsar‐ beiter*innen aus Osteuropa gemeint waren, die sich angeblich im Gebirge aufhielten und sich durch Einbrüche in Alphütten und Wirtschaftsgebäude versorgten. 191 Ungeachtet all dieser Relativierungen und Schwierigkeiten galt indessen, dass für Bauernwirtschaften das Überleben von Söhnen für den Fortbestand der Betriebe nach dem Krieg maßgeblich war. Gerade wenn bereits Söhne gefallen oder kriegsversehrt heimgekehrt waren, beinhaltete die Desertion eines Sohnes auch diese für die Familie existenzielle Bedeutung. 5.4.2 Avantgardisten der Illegalität An allen näher betrachteten Orten stand zu Beginn des Desertionsgeschehens das avant‐ gardistische Handeln einzelner. In Krumbach desertierte der Bauernsohn Johann Steurer - sein Onkel Franz Josef Steurer war bis 1938 christlichsozialer Bürgermeister gewesen - bereits im Jänner 1942 aus einer Kaserne in Innsbruck, unmittelbar bevor seine Einheit an die Front geschickt wurde. Seine Familie verbarg ihn mehr als drei Jahre erfolgreich im Dorf. In St. Gallenkirch versteckte sich seit Herbst 1942 der Schmuggler und Schleuser Meinrad Juen nach einer Flucht aus dem Gewahrsam der Gestapo, die ihn wegen Fluchthilfe für Juden über die Schweizer Grenze verhaftet hatte. Seinem Beispiel des Überlebens im Verborgenen über längere Zeit folgten 1944 die Deserteure Rudolf und Robert Zint sowie Anton Düngler. Im Frühjahr 1945 kamen vier weitere Soldaten - Erwin Stocker, Wilhelm 82 Peter Pirker <?page no="83"?> 192 Kasper, Montafon unterm Hakenkreuz, 378. Namentlich bekannt sind sieben. 193 Julius Schwärzler an die BH Bregenz, 26.2.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 161. 194 An das Franz. Kontrolldetachment zu Hd. Herrn Lt. Blondell, 28.11.1947. VLA, AVLReg IVa-168/ 418. Butzerin, Hermann Sterner, Jakob Netzer - hinzu. Zuletzt sollen sich in der näheren Umgebung von St. Gallenkirch etwa 13 Deserteure aufgehalten haben. 192 In Langenegg kam dem ledigen Bauern Julius Schwärzler die Rolle des Vorreiters zu. 193 Er entwich nach einer Verurteilung wegen Wehrkraftzersetzung 1943 aus der Haft in Lands‐ berg am Lech und tauchte bei ihm bekannten Bauern im Allgäu und in der Umgebung seines Elternhauses in Langenegg unter. Ihm folgte unter anderem sein Bruder, der Fuhrmann Adolf Schwärzler, als er 1944 nach einer längeren Uk-Stellung den Einberufungsbefehl erhielt und von seinem Wohnort Bregenz in sein Heimatdorf Langenegg flüchtete. In Sonntag im hinteren Großen Walsertal rückte als erster Wilhelm Burtscher nach einem Sonderurlaub wegen des Todes seiner Mutter im Juli 1943 nicht mehr ein. Bislang als Besatzungssoldat in den Niederlanden nicht direkt in das Kriegsgeschehen involviert, war er kürzlich als kriegsverwendungsfähig gemustert worden und musste mit der baldigen Abstellung an die Ostfront rechnen. Zu ihm gesellte sich sein Bruder Leonhard, ebenfalls nach einem Heimaturlaub im August 1943; er hatte bereits mehr als drei Jahre in den Gebirgsjägerregimentern 136 und 143 an verschiedenen Kriegsfronten in Frankreich, Griechenland und Nordfinnland verbracht, zuletzt als Obergefreiter im Zermürbungskrieg am Eismeer gegen die Rote Armee. Leicht fiel ihm die Lösung von der Soldatenpflicht nicht. Er war ein verdienter Soldat und wollte eigentlich zur Truppe zurück. Ein Lazarett‐ aufenthalt nach einem Verkehrsunfall gab ihm die Zeit, über die Erfahrungen während des Heimaturlaubs nachzudenken und die Desertionsentscheidung des Bruders gegen seinen Entschluss zur gehorsamen Rückkehr aufs Schlachtfeld abzuwägen. Im Jahr 1947 schilderte er einem französischen Offizier sein Umdenken: „Da meine Begeisterung als Soldat wesentlich nachgelassen hatte und ich auf Grund gemachter Erfahrungen, sowie der Eindrücke in der Familie bereits Liebe und Lust zu diesem Beruf verloren hatte, zog ich es vor in mein elterliches Heim zurückzukehren und dort der Dinge zu harren, die nun kommen mochten. Mein Bruder Wilhelm und ich zogen in die nahe gelegenen Berge und wollten so das Kriegsende abwarten.“ 194 Leonhard Burtscher verwies auf Kriegserlebnisse und Eindrücke in der Familie während des Heimaturlaubs als die letztlich entscheidenden Beweggründe für sein Handeln. Er löste sich aus der Bindung zur Wehrmacht (genauer: zu seiner Kompanie) und vertraute auf die Loyalität seiner Familie. Er sattelte von soldatischer Kameradschaft auf familialen Zusammenhalt um. Die Entscheidung resultierte aus den offenen Gesprächen mit dem bereits desertierten Bruder über die Kriegslage und die Sinnlosigkeit, sich an der Ostfront aufzuopfern, außerdem auf der Wiedererfahrung eines zur soldatischen Kameradschaft alternativen Zusammenhalts, dem in seiner engeren Familie - nach dem Tod der Mutter - Flucht vor dem Krieg 83 <?page no="84"?> 195 Nachvollziehbarerweise betonte Franz Xaver Burtscher in den Einvernahmen nach seiner Festnahme und vor dem Sondergericht die Ablehnung der Desertion seiner Söhne. Gestapo/ Greko Bregenz, Einvernahme Franz Xaver Burtscher, 11.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44; Niederschrift der Sonderge‐ richtsverhandlung gegen Hermine Gassner u. a. v. 8. Nov.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Delphina Burtscher beschrieb die Haltung ihres Vaters als duldend. Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 31. 196 Andere Beispiele finden sich etwa im Tiroler Ötztal. Beeindruckend berichtet etwa Elisabeth Sam (geb. Mair) über ihre tragende Rolle bei der Versorgung der Deserteursgruppe von Tumpen: ORF TVTHEK, Kriegsdienstverweigerer: „Dann wäre 43 die Front leer gewesen“, 17.12.1983, URL: https: / / tvthek.orf.at/ history/ Nationalsozialismus-2-Weltkrieg/ 13425184/ Kriegsverweigerer-Dann-waer-43 -die-Front-leer-gewesen/ 13251167 (abgerufen 2.8.2023). 197 Zu den Exposituren des Betriebs siehe die Angaben bei Wilhelm Burtscher im Anhang dieses Beitrags. 198 Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmung mit Martin Lorenz, 11.7.1944. VLA, LGF 52/ 44; Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmung mit Delphina Burtscher, 12.7.1944. VLA, LGF 52/ 44; vlg. auch Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 31. 199 Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmung mit Martin Lorenz, 11.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 200 Gamon, Ignaz Burtscher, 68. 201 Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmung Hermine Gassner, 12.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. vor allem mit den Geschwistern. Gegen Bedenken des Vaters setzten sich die Söhne durch; er konnte gegen ihre Entscheidung „nichts ausrichten“. 195 Zog eine Desertion weitere nach sich, wird die tragende Rolle, die Frauen (Mütter, Ehefrauen, Freundinnen, Schwestern und Cousinen) sowie uk-gestellte Männer als Ge‐ heimnisträger*innen nach außen, Kommunikator*innen nach innen und Versorger*innen spielten, besonders augenfällig. Oft waren es Mütter, die im Zentrum der Versorgung und Beherbergung von Deserteuren standen. Die Geschichte der Familie Burtscher zeigt, dass ledige Schwestern ungefragt in diese Situation kamen, wenn die Mutter bereits verstorben war. 196 Die 16-jährige Delphina übernahm den Haushalt und ihr wurde somit auch die Versorgung der Deserteure zugewiesen, eine schwierige und belastende Aufgabe, die sie - freilich mit weit weniger Autorität ausgestattet als ihre Mutter - fast ein Jahr und bei strikter Geheimhaltung nach außen erfüllte. Überlagert war diese Aufgabe von einem Liebesverhältnis, das sie bald nach dem Tod der Mutter mit dem 25-jährigen Heimaturlauber Martin Lorenz einging, als dieser auf einem Zweithof der Familie in Schnifis bei Heuarbeiten aushalf. Als sie ihn zu sich auf den zwanzig Kilometer entfernten Hof in Sonntag-Küngs‐ wald 197 einlud, lernte er die bereits desertierten Brüder Delphinas kennen. 198 Sie forderten ihn auf, bei ihnen zu bleiben. Seine Bedenken zerstreuten sie mit dem Verweis auf das nahe Kriegsende, die Sicherheit, den der kommende Winter und die Abgeschiedenheit des Hofes gewährleisten würden, sowie die Grundversorgung durch die Familie. 199 Zudem wollte er Delphina nicht verlassen. Er brachte eine sichere Außenbeziehung nach Schnifis (wo Mutter und Schwester lebten) ein, von wo er auch regelmäßig zusätzliche Nahrungsmittel erhielt. 200 Der älteste der Deserteure, Leonhard Burtscher, pflegte während der Desertion ebenfalls eine Liebesbeziehung. Seine Jugendfreundin Hermine Gassner half gelegentlich am Hof mit und bot ihm bei sich ein zusätzliches Versteck. 201 Von den anderen Deserteursgruppen sind Liebesbeziehungen nicht bekannt - dies könnte allerdings auch damit zu tun haben, dass sie - anders als in Sonntag - nicht durch polizeiliche Ermittlungen aufgedeckt wurden. Die anderen, uns bekannten Fälle, in denen Liebesbeziehungen für Fluchten aus der Wehrmacht eine wesentliche Rolle spielten, unterschieden sich dadurch von der Deserteursgruppe in 84 Peter Pirker <?page no="85"?> 202 Mehrere Fälle wurden bereits geschildert: Johann Stuchly und Margarethe Trattner, Jakob Maier und Hildegard Daniel, Heinrich Heinen und Edith Meyer, Eduard Roth und Elisabeth Sloves, Karl Hannig und Holdine Koch (siehe dazu auch den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Buch). 203 Ähnliche Bedingungen wurden bereits für das Tiroler Dorf Oberperfuss beschrieben: Pirker, Code‐ name Brooklyn, 93-110, 235-242. 204 Siehe dazu den Beitrag von Pirker/ Greber in diesem Band. 205 Kasper, Montafon, 79. 206 Widerstandsbewegung Österreich St. Gallenkirch, Bericht über den Freiheitskampf in St. Gallen‐ kirch, 15.5.1945. SLA, Opferfürsorgeakt Anton Düngler; siehe Kasper, Montafon unterm Hakenkreuz, 90. Sonntag, dass es bei ihnen um die gemeinsame Flucht in die Schweiz ging - eine Option, die insbesondere wohl für Delphina Burtscher durch ihre Verankerung im Familiensystem nicht in Frage kam und wohl auch aussichtslos geblieben wäre, da Begleiterinnen von Deserteuren nicht mit einer Aufenthaltserlaubnis rechnen konnten. 202 5.4.3 Politische Erfahrungen im Dorf und in der Familie Die Erfahrung langer relativer Sicherheit einzelner Deserteure und Flüchtlinge durch duldendes bis solidarisches Verhalten der lokalen Bevölkerung ist ein zentrales Kennzei‐ chen der Gruppenbildungen in Krumbach, St. Gallenkirch, Langenegg und im Großen Walsertal. 203 Das Selbstvertrauen, überleben zu können, bildete sich bei Deserteuren dort, wo sie sich in einem Milieu mit Resilienz gegenüber dem Druck des Nationalsozialismus aufgehoben wussten. Ein solches Umfeld lässt sich besonders für die Deserteure in Krumbach, Langenegg und St. Gallenkirch, mit Abstrichen auch in Sonntag nachweisen. Wie die Fallstudie zu Krumbach in diesem Buch zeigt, konnten sich dort mehrere Deserteure mit Hilfe von christlichsozial orientierten Familien, beispielsweise der Familie des 1938 ab- und 1945 wieder eingesetzten Bürgermeisters Franz Josef Steurer, halten. Ebenso bot Pfarrer Oskar Gafanesche einem Deserteur Zuflucht im Kirchturm. Zunächst kann festgehalten werden, dass die NSDAP in den 1930er-Jahren in Krumbach, in den Dörfern im Großen Walsertal und in St. Gallenkirch über eine kleine Anhängerschaft verfügte. In Krumbach lag der Anteil der illegalen NSDAP-Mitglieder deutlich unter jenem in anderen Gemeinden der Umgebung. 204 Auch in St. Gallenkirch schlossen sich, relativ zur Bevölkerungszahl gemessen, weit weniger Einwohner der NSDAP an, als in anderen Gemeinden des Montafon. Auch im landesweiten Vergleich war der Anteil unter‐ durchschnittlich. 205 Konservative Regimegegner um den späteren Bürgermeister Martin Salzgeber und den Schuster Stefan Spannring trafen sich seit 1942 zum Abhören alliierter Radiosender. Salzgeber öffnete sein an einem Waldrand gelegenes Haus den „Waldhockern“, wie die flüchtigen Soldaten im Montafon genannt wurden, und bot ihnen einen sicheren Verköstigungs- und Rastplatz. 206 Dabei spielte es offenbar keine Rolle, dass einige der Deserteure ursprünglich Mitglieder der NSDAP gewesen waren; sie hatten sich im Laufe ihrer Kriegserfahrung verändert, was durch die Desertion auch glaubwürdig wurde. Freilich wäre es verfehlt, sich diese Milieus als durchgehend existierende, beständige und widerspruchsfreie Beziehungsräume für Deserteure vorzustellen. Am Beispiel von Sonntag und Langenegg können einige Bruchlinien nuanciert werden. In Sonntag existierte noch im April 1939 keine Ortsgruppe der NSDAP, untern den dreißig im Jahr 1947 registrierten Mitgliedern oder Parteianwärter*innen befand sich nur einer, der bereits 1933 beigetreten Flucht vor dem Krieg 85 <?page no="86"?> 207 Registrierungsliste Sonntag, Band I/ 1947. VLA, BH Bludenz. 208 NSDAP Gau Tirol-Vorarlberg, Gauorganisationsamt, Gebietliche Gliederung der NSDAP. Gau Tirol- Vorarlberg. TLA, BH Landeck, A, XII, XIII, 1939, Fasz. 602. Zu den Aufbaugemeinden: Gerhard Siegl, Bergbauern im Nationalsozialismus. Die Berglandwirtschaft zwischen Agrarideologie und Kriegswirtschaft, Innsbruck/ Wien/ Bozen 2013. 209 Franz Josef Burtscher (geb. 14.2.1884) war laut Registrierungsliste von Juni 1940 bis Juni 1941 Anwärter und von Juni 1941 bis Mai 1945 Mitglied der NSDAP. In welchem Zeitraum er die Funktion des Ortsgruppenleiters ausübte, geht aus der Registrierung nicht hervor, er war aber der einzige, der mit dieser Funktion registriert wurde. Daher ist davon auszugehen, dass er bis 1945 blieb. 210 Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer, Täter, Gegner, Innsbruck 2012, 108-109. 211 GP Blons an Gestapo/ Greko Bregenz, 5.5.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 212 Ernst Langthaler, Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrarge‐ sellschaft 1938-1945, Wien 2016, 555. Siehe auch Siegl, Bergbauern im Nationalsozialismus. 213 Gestapo/ Greko Bregenz, Einvernahme Franz Josef Burtscher, 12.7.1944. VLA, SGF, KLs 52/ 44. war. 207 Erst durch die Entschuldungs- und Aufbauprogramme für die bäuerlichen Betriebe konnte die Partei im Dorf Fuß fassen. 208 Der Bürgermeister und Landwirt Franz Josef Burtscher avancierte in diesem Zuge zum Ortsgruppenleiter. 209 Die katholisch-konservative Resilienz gegenüber dem Eindringen des Nationalsozialismus begann in diesem Kontext zu bröckeln - zumindest an der Oberfläche. Gegen Ende der 1930er-Jahre befand sich die Berglandwirtschaft des Vaters der späteren Deserteure, Franz Xaver Burtscher, wie viele andere auch, in einer finanziell schwierigen Situation. Schulden lasteten auf dem Betrieb, der Viehstand war gering. Burtscher nahm das Entschuldungs- und Aufbauprogramm in Anspruch, die Schuldenlast wurde reduziert, er erhielt acht zusätzliche Kühe. Der NS- Staat legte zudem die Pachtpreise amtlich fest, wodurch das Pachten von Futterwiesen erleichtert wurde. Auch davon profitierte der Betrieb. 210 Diese Sanierung erforderte in der Aufschwungphase des Nationalsozialismus zumindest taktische Anpassungen, wenngleich staatliche Eingriffe, insbesondere Bürokratie und Abgabepflichten, bald Unmut nach sich zogen. So dürfte es auch bei Franz Xaver Burtscher gewesen sein. Der Kommandant des Gendarmeriepostens Blons, Josef Burtscher, fasste die Ergebnisse seiner Nachforschungen in Sonntag über dessen politische Haltung im Mai 1944 zusammen: „Bis nach der Entschuldung soll er eine politisch gute Einstellung zum Nationalsozialismus gezeigt haben, die sich aber im weiteren Verlaufe nur als Mittel zum Zweck erwiesen hätte. Seit dem Jahre 1942 soll sich seine Einstellung aber stark geändert haben und wäre bekannt geworden, daß er heute gerne schimpft und Kritik übt […].“ 211 Derartige Prozesse des Stimmungs- und Meinungswandels, die durch eine „wachsende Kluft zwischen bergbäuerlichen Erwartungen und Erfahrungen seit dem ‚Anschluss‘“ 212 erklärbar sind, waren nicht ungewöhnlich. Einen Teil der (weichenden) erwachsenen Söhne scheinen die neuen ökonomischen Perspektiven, die der NS-Staat versprach, stärker an das Regime gebunden zu haben, indem sie Funktionen übernahmen oder zugewiesen bekamen. So wurde dem ältesten Sohn von Franz Xaver Burtscher, Franz Josef, nach seiner Uk-Stellung, die ohne die Befürwortung des (gleichnamigen) Bürgermeisters und des Ortsbauernobmanns kaum zu erreichen war, die Funktion eines Zellenleiters der NSDAP in einer Parzelle der Ortschaft zuteil, freilich ohne dass er der Partei beitrat. 213 Ein weiterer Sohn, Karl, sympathisierte mit dem Nationalsozialismus; der Ehemann einer in 86 Peter Pirker <?page no="87"?> 214 Gestapo/ Greko Bregenz, Einvernahme Paula Rützler, 12.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 215 Franz Xaver Burtscher wurde von zwei ehemaligen Bürgermeistern von Sonntag (Franz Josef Burtscher und Josef Schwarzmann) im Jahr 1960 als jemand beschrieben, der „sich um die Politik ebensowenig gekümmert [hat] wie die übrigen Bergbauern. Er sah den Ereignissen 1938 völlig unbeteiligt zu und erhoffte sich nur die gewohnte Ruhe.“ Bestätigung, 31.1.1960. VLA, AVLReg IV-168/ 418. 216 Dies geht aus den Einvernahmeprotokollen der Gestapo hervor. VLA, LGF KLs 52/ 44. 217 Niederschrift der Sondergerichtsverhandlung gegen Hermine Gassner u. a. v. 8. Nov. 1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 218 GP Schlins an BH Feldkirch, 28.6.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 121. 219 Gamon, Ignaz Burtscher, 70. Vgl. Johann Türtscher, Aus meinem Leben 1917-2000, Sonntag 2000, 51. Auch er berichtet über Hilfe für Deserteure im Walsertal. das Geschehen involvierten Tochter war Mitglied der NSDAP. 214 Auch die an sich politik- und staatsferne katholisch-patriarchale Familie 215 war dadurch mit neuen Loyalitätsanfor‐ derungen konfrontiert. Spannungen zwischen dem Familienoberhaupt und erwachsenen Kindern an der Schwelle des Generationenwechsels wurden davon überlagert. Hinzu traten bei den Männern unterschiedliche Kriegserfahrungen und deren Bewertung, die selbstverständlich auch vom Grad der Anpassung an das NS-Regime abhingen. Wenn einzelne Söhne den Bruch mit dem NS-Staat durch Desertionen vollzogen und sich zu Hause oder im Umfeld verbargen, wurde das Familiensystem einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt, insbesondere dann, wenn lokale staatliche Instanzen wie der Bürgermeister und die Führer des Gendarmeriepostens konsequent an deren Verfolgung interessiert waren und durch ihre Nachforschungen innerfamiliäre Spannungen verschärften. Doch auch für die erste Deserteursgruppe in Sonntag, die von August 1943 bis Juli 1944 bestand, ist festzuhalten, dass es bis auf eine Ausnahme - die weniger auf politische Differenzen als auf Nachbarschaftskonflikte zurückging - keine Denunziationen aus der Bevölkerung gab und alle Familienmitglieder, die Bescheid wussten, bei Nachfragen des Bürgermeisters oder Einvernahmen durch die Gendarmerie vor den Festnahmen jegliches Wissen über sie in Abrede stellten. 216 Franz Xaver Burtscher rechtfertigte die Nichtanzeige seiner Söhne vor Gericht auch damit, dass er in diesem Fall „meine Familie u. das ganze Dorf gegen mich gehabt“ hätte. 217 Nach der Befreiung wurde die Familie Burtscher etwa von der Gendarmerie Schlins als bekannt „nazifeindlich“ charakterisiert. Allein die Tatsache, dass keines der erwachsenen Familienmitglieder der NSDAP beigetreten sei, „war damals schon ein politisches Ereignis.“ 218 Wie in Krumbach war auch in der Pfarre Sonntag- Buchboden ein couragierter Geistlicher im Amt. Pfarrer Martin Summer soll den an einer Lungenentzündung erkrankten Deserteur Leonhard Burtscher nach den Verhaftungen im Pfarrhaus aufgenommen haben. 219 Über ihn schrieb der damalige Pfarrer von St. Gerold im Walsertal: „Pfarrer Summer war eine kämpferische Natur. Er kannte keine Furcht und Unsicherheit. Er setzte sich bedenkenlos Gefahren aus, wo er es seiner Aufgabe für schuldig erachtete. So las er die berühmte Galen-Predigten, auf deren bloßen Besitz und Verbreitung die damaligen Machthaber Konzentrationslager und sogar die Todesstrafe ausgesetzt hatten, seelenruhig in Flucht vor dem Krieg 87 <?page no="88"?> 220 Hubert Schattinger, Persönliche Erinnerungen an P. Amadeus Summer, in: Mehrerauer Grüße. Neue Folge 24 (1966), 24-26, 25. Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, protestierte 1941 in Predigten gegen die Ermordung von Behinderten und Kranken durch das NS-Regime. In Sonntag gab es keine Opfer der NS-„Euthanasie“. Für die Auskunft danke ich Gernot Kiermayr. 221 Wolfgang Weber, Die letzten Tage. Langenegg Kriegsende 1945, Vortrag am 5.5.2006 in Langenegg. 222 Gemeindeamt Langenegg an BH Bregenz, 20.11.1945, abgedruckt in: Wolfgang Weber, NS-Herrschaft am Land. Die Jahre 1938 bis 1945 in den Selbstdarstellungen der Vorarlberger Gemeinden des Bezirks Bregenz, Regensburg 1999,111-115, 114. 223 Schelling, Festung Vorarlberg, 221. 224 Interview mit Robert Bazaille, geführt von Sylvia Peter, 3.3.1985. Für eine Kopie der Übersetzung des Transkripts danke ich Hans Weiss. Für weitere Auskünfte bedanke ich mich bei Rudolf Schwarz und Gerhard Schwarz. Siehe auch Weiss, Verfolgung und Widerstand. seinem öffentlichen Gottesdienst vor. […] Er kannte seine Gemeinde, sie hielt zu ihm durch dick und dünn.“ 220 In Langenegg war die NSDAP vergleichsweise am stärksten in der lokalen Bevölkerung verankert. Bereits 1933 traten ihre Anhänger zum Teil mit radikalen Aktivitäten in Erscheinung. So brannten sie die Holzbrücke zum Nachbarort Alberschwende nieder, um christlichsozial Gesinnte am Besuch einer Veranstaltung mit dem damaligen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zu hindern. Im April 1938 verfügten 17 Prozent der erwachsenen Bevölkerung über eine NSDAP-Mitgliedschaft, was über dem österreichweit ohnehin hohen Durchschnitt im Gau Tirol-Vorarlberg (15 Prozent) lag. 221 Der politische Druck der offenbar recht radikal agierenden Ortsgruppe stieß dort auf Widerstand, wo sie Neuordnungen von kirchlichen Veranstaltungen wie Prozessionen durchsetzen wollte, obwohl es ihr gelungen war, den bisherigen konservativen Pfarrer zu vertreiben. 222 Berichte von Zeitzeugen deuten darauf hin, dass sich einheimische Regimegegner untereinander trafen, sonst wäre wohl kaum jenes notwendige Vertrauensverhältnis entstanden, um im Frühjahr 1945 mit der Organisation von lokalen Widerstandsgruppen beginnen zu können. Die geheimen Besprechungen dafür fanden im Haus des späteren Bürgermeisters Josef Anton Bechter (ÖVP) statt. 223 Im Haus des Bäckers Wilhelm Schwarz, des Vaters des späteren Deserteurs Alois Schwarz, durfte der bei der Familie arbeitende französische Zwangsarbeiter Robert Bazaille seit dem Sommer 1943 täglich abends im Wohnzimmer die Radiosendungen der BBC hören. Die Regimegegner in Langenegg waren über den Kriegsverlauf oder Ereignisse wie das Attentat auf Hitler im Juli 1944 somit wohl weit besser informiert als jene in Sonntag-Küngswald. Bazaille wurde im Hause Schwarz wie ein Familienmitglied behandelt. Er beteiligte sich ebenfalls an den Widerstandsaktionen Ende April/ Anfang Mai 1945 und fungierte dann als Verbindungsmann zur französischen Militärverwaltung. 224 Gerade die Erfahrung mit dem prononcierten Aktivismus einer relativ kleinen Gruppe lokaler NS-Funktionäre dürfte unter der christlichsozial orientierten Bevölkerung im Frühjahr 1945 dazu geführt haben, sich zu organisieren, um Zerstörungen vor dem Einmarsch der französischen Truppen zu verhindern. Neben der Resilienz gegenüber der NSDAP und ihrer Ideologie lässt sich in manchen Fällen ein gewisses Maß an archaischer, traditioneller Staatsskepsis oder Staatsferne der handelnden Personen aus dem bäuerlichen Milieu erkennen, die sich in einer klaren Prio‐ risierung des eigenen Lebensentwurfs und der Loyalität zu Familienangehörigen gegenüber 88 Peter Pirker <?page no="89"?> 225 GP Hohenems, Niederschrift aufgenommen mit Franz Josef Burtscher, 11.6.1959. VLA, AVLReg IVa-168/ 426. Diese Aussage führte dazu, dass die Vorarlberger Landesregierung Franz Josef Burtscher erklärte, sein damaliges Handeln genüge den Voraussetzungen des Opferfürsorgegesetzes nicht. Siehe dazu die Ausführungen weiter unten. 226 Gespräch mit Bernadette Forte (geb. Domig), geführt von Peter Pirker, 21.4.2023. Einvernahmepro‐ tokolle der Gestapo mit Familienmitgliedern u. a. sind in einem Untersuchungsakt des Sondergerichts Feldkirch enthalten. VLA, LGF Js 53/ 45. Die Gestapo konnte keine Hilfeleistungen durch die Familie eruieren. Ansprüchen des Staates zeigte. Julius Schwärzler aus Langenegg wird von Zeitgenossen als anarchischer, widerborstiger Solitär beschrieben, der sich von staatlichen - auch kirchlichen - Autoritäten wenig vorschreiben ließ. Franz Josef Burtscher, der ältere Bruder von Wilhelm und Leonhard, begründete 1959 deren Nichtanzeige und Unterstützung zwar auch mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber der NSDAP (wenngleich er als Zellenleiter fungierte), vor allem habe er aber deshalb Abstand davon genommen, „weil es sich um meine leiblichen Brüder handelte“. 225 Wenn Familienautoritäten in ähnlichen Situationen jedoch staatliche Funktionen inne‐ hatten, gestaltete sich der Verlauf von Desertionen im skizzierten Umfeld anders. Als der 18-jährige Jakob Domig, Sohn des Landwirts und Volksschullehrers von Sonntag, Alois Domig, im September 1944, nach einer schweren Verwundung von seinem Genesungsur‐ laub zu Hause nicht mehr zum Ersatztruppenteil in Leoben einrückte, tat er es gegen den dezidierten Willen seines Vaters. Fünf ältere Brüder dienten in der Wehrmacht, einer war gefallen. Die Desertion des jüngsten wehrpflichtigen Sohnes verdammte der Vater, als er in der Familie damit konfrontiert wurde. Die korrekte, pflichtgemäße Haltung seiner Kinder gegenüber dem Staat, zu dessen Vertretern er sich als Lehrer zählte, war ihm wichtiger als die fürchterlichen Erfahrungen seines Sohnes im Krieg, von denen Jakob Domig zu Hause berichtete, und dessen Suche nach einem Ausweg. Jakob Domig fand gemeinsam mit einem weiteren Walsertaler Deserteur, Tobias Studer, schließlich Aufnahme im Versteck von Leonhard Burtscher. Innerhalb seines Familienverbands konnte er nur auf die fallweise Hilfe weiblicher Mitglieder zählen. 226 5.4.4 Erfahrung mit lokalem Verfolgungsdruck Deserteure erfuhren sehr bald, dass ihre Sicherheit neben der Solidarität im familiären und sozialen Umfeld auch stark vom Grad des Verfolgungseifers lokaler NS-Funktionäre und vor allem der Gendarmerie abhing. Für Krumbach zeigt die Fallstudie in diesem Buch ein‐ drücklich, wie der Kommandant des lokalen Gendarmeriepostens, Karl Girardi, geschickt Erwartungshaltungen übergeordneter Instanzen der Verfolgung aufnahm, vor Ort aber abschwächte und durch die Art seiner Berichtlegung schwere Verfolgung abwandte; bei unvermeidlichen Suchaktionen sah er in entscheidenden Momenten weg, im April 1945 duldete er die Bildung einer Widerstandsgruppe unter der Führung des Deserteurs Max Ibele und machte schließlich sogar selber mit. Im Nachbardorf Langenegg gab es gar keine Gendarmerie. Bis Gendarmen des zustän‐ digen Postens in Lingenau die Häuser der Deserteure erreichten, passierten sie etliche Höfe des zerstreut besiedelten Dorfs, sodass ihr Anmarsch den Gesuchten rechtzeitig gemeldet werden konnte, nicht selten durch Kinder, die als Unverdächtige losgeschickt Flucht vor dem Krieg 89 <?page no="90"?> 227 Gespräch, geführt von Peter Pirker, mit einem der „Melder“, N.-N., Langenegg, 21.4.2023. 228 Interview mit Anton Bechter, geführt von Hans Weiss, 1985. Ich bedanke mich bei Hans Weiss für die Einsicht in die Mitschrift. Anton Bechter desertierte im März 1945 an der Westfront in Frankreich und schlug sich nach Langenegg durch, wo er sich der Widerstandsgruppe anschloss. Der Bürgermeister Joseph Anton Bechter bestätigte 1947 seine Desertion aus der „Nazistischen Wehrmacht“. Gemeinde Langenegg, Bestätigung, 22.2.1947. VLA, AVLReg IVa-168/ 30. 229 Weiss, Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg, 54. 230 Ebd., 55. 231 Gespräch mit N.-N., geführt von Peter Pirker, Langenegg, 21.4.2023. 232 Schwarz, Heimatbuch Langenegg, 62; Schelling, Festung Vorarlberg, 222. 233 Chronik des GP St. Gallenkirch, 24.4.1945, Geschehnisse um das Kriegsende. VLA; GP St. Gallenkirch, Vorgänge in den Umsturztagen 1945, 22.6.1945. VLA, Landrat Bludenz, I-1-40-1945, I-9, abgedruckt wurden. 227 Anton Bechter, einer der Deserteure von Langenegg, berichtete später, dass der Postenkommandant von Lingenau Betroffene zuerst warnte, bevor er ihre Häuser durchsuchen ließ. 228 Ebenso sollen bei ihm Anzeigen wegen alltäglicher regime- oder kriegskritischer Äußerungen in den Papierkorb gewandert sein. 229 Wurden Deserteure bei einer Suche einmal angetroffen, wie es im Falle der Brüder Schwärzler überliefert ist, sahen ihnen einheimische Landwachtmänner, darunter vor allem Jugendliche und ältere, uk-gestellte Männer, bei der Flucht zu und die Gendarmen weg. Frau Schwarz instruierte ihren 16-jährigen Sohn Rudolf, der für den Kriegsdienst aus gesundheitlichen Gründen untauglich, aber zur Landwacht eingeteilt worden war, vor einer Suchaktion nach Julius Schwärzler mit den Worten: „Wenn ihr ihn seht, dann seht ihr ihn nicht.“ 230 Unter den eingesetzten Gendarmen und Landwachtmännern gab es offenbar generell wenig Interesse an einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit den einheimischen Deserteuren, auch nicht an einer Verfolgung bei Flucht oder an intensiver Überwachung der Umgebung der Höfe. Denunziationen gegen Deserteure aus der Bevölkerung sind weder für Krumbach noch für Langenegg aktenkundig oder überliefert. Es sei in Langenegg weithin bekannt gewesen, dass sich Julius Schwärzler illegal im Dorf aufhielt, den Leuten sei es egal gewesen, jedenfalls habe ihn niemand angezeigt, berichtet etwa ein damals Jugendlicher, dessen Mutter für Julius Schwärzler Einkäufe erledigte. 231 Unter diesen Umständen hatten die Funktionäre der NSDAP wenig Handhabe gegen den Zulauf von Deserteuren und die Bildung einer Widerstandsgruppe. Sie trat Ende April unter der Leitung des militärisch gut ausgebildeten und erfahrenen Alois Schwarz offen auf, um die von der Wehrmacht zur Sprengung vorgesehenen Brücken an den Dorfzugängen zu entladen, die Telefonleitungen zu sabotieren, das Postamt zu besetzen, rot-weiß-rote Fahnen zu hissen und die NS- Funktionäre festzunehmen. Bis zum Eintreffen eines Trupps Soldaten der Waffen-SS stellte sich niemand dagegen. 232 Einige Indizien für eher passives Verhalten der Gendarmerie gibt es auch für St. Gallenkirch. Die Chronik des Gendarmeriepostens enthält keinerlei Eintragungen zu Deserteuren oder Suchaktionen bis April 1945. In der letzten Aprilwoche kamen die Deserteure - in der Chronik nun als „Partisanen“ oder „Flüchtlinge“ bezeichnet - von ihren Verstecken in den Höhenlagen ins Dorf, entwaffneten kleine lokale Wehrmachtposten sowie Flakeinheiten und übernahmen vor dem Eintreffen der französischen Truppen die Kontrolle in der Gemeinde. 233 Dabei setzten sie auch den am 3. Mai 1945 nach St. 90 Peter Pirker <?page no="91"?> in: Wolfgang Weber, Nationalsozialismus und Kriegsende 1945 in den Vorarlberger Gemeinden des Bezirks Bludenz. Ein Quellenband, Regensburg 2001, 126-129. Hier werden die Deserteure als „Wehrmachtsflüchtlinge“ bezeichnet. Siehe dazu Kasper, Montafon unterm Hakenkreuz, 381-383. Der Handschrift zufolge blieb der Kommandant des Postens St. Gallenkirch über das Kriegsende hinaus im Amt und verfasste auch die zitierten Berichte, in denen Deserteure als „Partisanen“, „Flüchtlinge“ und „Wehrmachtsflüchtlinge“ bezeichnet wurden. In Berichten von Angehörigen der Widerstandsgruppe in St. Gallenkirch gibt es keine negativen Einschätzungen des Verhaltens der lokalen Gendarmerie ihnen gegenüber. Widerstandsbewegung Österreich St. Gallenkirch, 15.5.1945, Bericht über den Freiheitskampf in St. Gallenkirch, Bericht Nr. 1. SLA, Opferfürsorgeakt Anton Düngler. 234 GP Blons an das Bezirksgendarmeriekommando, 25.6.1945, abgedruckt in: Weber, Nationalsozia‐ lismus, 88-91, 89-90. 235 Kolumban Spahr, Hofrat Dr. phil. et Dr. iur h. c. Bruno Griesser Gymnasialdirektor i. R. zum Gedenken, in: Mehrerauer Grüße. Neue Folge 24 (1966), 1-15, 7. 236 Gamon, Ignaz Burtscher, 68. 237 GP Blons an Gestapo/ Greko Bregenz, 5.5.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 238 Siegl, Bergbauern, 227. Gallenkirch abkommandierten Meister der Gendarmerie Josef Burtscher ab. Burtscher, der als überzeugter Nationalsozialist bekannt war und bis dahin den Posten Blons im Großen Walsertal geführt hatte, war dort von Selbstabrüstern der Standschützen (Volkssturm) entwaffnet und aus dem Tal geworfen worden. 234 Welch dramatischen Unterschied das Verhalten eines Postenkommandanten für die Sicherheit von Deserteuren ausmachte, lässt sich an der Praxis von Josef Burtscher im Großen Walsertal veranschaulichen, der neben seiner leitenden polizeilichen Funktion zudem - ein für NS-Gegner „sehr unangenehmer“ 235 - NSDAP-Ortsgruppenleiter von Blons war. In seine Zuständigkeit fiel die Nachbargemeinde Sonntag, wo sich die Walsertaler Deserteure 1943/ 44 meist aufhielten. Auch dort fehlte ein eigener Gendarmerieposten. Kontrollfunktionen übernahmen in Sonntag daher Funktionäre der NSDAP, vor allem Bürgermeister Franz Josef Burtscher, der Familienmitglieder immer wieder auf den Verbleib der vermissten Soldaten ansprach. Josef Burtscher führte mehrfach und lange erfolglos, in Kooperation mit der Gestapo Bregenz, kleinere und größere Erkundungen im Umfeld der Deserteursfamilie Burtscher durch, der das Anrücken fremder Personen mitunter von Eingeweihten durch das Telefon einer Materialseilbahn gemeldet wurde. 236 Im Mai 1944, mehr als ein halbes Jahr nach den Vermisstenmeldungen, wusste er immer noch nicht, ob die Gerüchte über die Anwesenheit der Deserteure einen wahren Kern hatten oder eine Erscheinung von gewöhnlichem, vielleicht auch missfälligem Gerede eines Nachbarn waren. 237 Als das Divisionsgericht in Innsbruck und der Kommandeur der Gendarmerie im Kreis Bludenz, Franz Walch, auf eine Klärung drängten, wandte Burtscher schließlich - in Abstimmung mit der Gestapo Bregenz - andere, offensive Methoden der Polizeiarbeit an. Er setzte auf Spitzel und Lockvögel, um den Deserteuren „Fallen“ zu stellen. Die Deserteure wähnten sich durch ihre ausgezeichneten Ortskenntnisse, ihre gut eingeübte Beweglichkeit im Gebirgsterrain und die lange währende Geheimhaltung durch ihre soziale Umgebung in Sicherheit. Die Festnahmen kamen für sie und ihre Familie überraschend. Ein bisher vernachlässigter Kontext für die Intensivierung der Verfolgung im Frühjahr 1944 dürfte auch darin bestanden haben, dass Sonntag ab Juni 1944 in den „Gemeinschaftsaufbau“ der Berglandwirtschaft miteinbezogen werden sollte. 238 Eine Voraussetzung für die Aufnahme Flucht vor dem Krieg 91 <?page no="92"?> 239 Ebd., 224. 240 In Langenegg und Krumbach fielen Deserteure erst bei Kämpfen mit Soldaten der Waffen-SS. Siehe dazu Max Ibele, Innozenz Bader, Robert Bader, Adolf Schwärzler. 241 Eine unvollständige Kopie wurde 2010 von Maria Fritsche im Militärarchiv in Prag gefunden. Feldurteil gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 13.10.1944. Militärhistorisches Archiv Prag, RKG (II) 10, Reichskriegsgericht, StPL 4. Sen. 89/ 44, RKA. II 341/ 44. 242 Markus Barnay, Ein Urteil mit vielen Fragezeichen, in: Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 76-78. einer Gemeinde in dieses Programm war, dass sie „den rassischen und ideologischen Gesichtspunkten“ des Nationalsozialismus entsprach und als „Beispielgemeinde in der Öffentlichkeit und gegenüber den Geldgebern inszeniert“ werden konnte. 239 Die Existenz einer Deserteursgruppe widersprach diesem Vorhaben von Gauleitung und lokalen NS- Funktionären wohl fundamental. Das Ergebnis der Anwendung geheimpolizeilicher Methoden durch die Gendarmerie waren zahlreiche Festnahmen, die in zwei Todesstrafen mit Exekutionen (Wilhelm Burt‐ scher, Martin Lorenz), die Erschießung eines Deserteurs wahrscheinlich durch Josef Burt‐ scher ( Jakob Domig), Untersuchungshaft, Gefängnis- und Zuchthausstrafen für zahlreiche Angehörige sowie in die Beschlagnahmung des Burtscher-Hofes mündeten. Walch und Burtscher, beide überzeugte Nationalsozialisten und langgediente Gendarmen, wollten mit der Aufdeckung und Zerschlagung der Deserteursgruppe(n) im Großen Walsertal gegenüber höheren Instanzen und der Gestapo glänzen, wenngleich ihnen der volle „Erfolg“ durch den fortgesetzten Fluchtwiderstand von Leonhard Burtscher und Tobias Studer versagt blieb. Im Unterschied zu Sonntag überlebten in St. Gallenkirch, Krumbach und Langenegg alle Deserteure bis zum 1. Mai 1945. 240 5.4.5 Von widerständigem Entziehen zu aktivem Widerstand Die skizzierten Erfahrungen führten schließlich in den genannten vier Gemeinden zu einer Transformation fugitiven widerständigen Handelns hin zu offenem bewaffnetem Auftreten als österreichische Widerstandskämpfer. Die Zeitpunkte - und damit auch der Verlauf und die Erfolge - waren jedoch unterschiedlich. Am frühesten - im Juni 1944 - gingen die jungen Deserteure im Großen Walsertal, die schon fast ein Jahr im Untergrund hinter sich hatten, ans Werk. Ihre sozialen Beziehungen hoben sich in einem wesentlichen Punkt von jenen der Deserteure in den anderen Gemeinden ab. Sie waren durch die Abgeschiedenheit isolierter, vor allem dürfte ihnen der Austausch mit älteren, besonnenen Menschen gefehlt haben, die ein gewisses Maß an politischer Erfahrung hatten und so korrigierend Einfluss nehmen konnten. Die bislang einzige vorliegende zeitgenössische schriftliche Quelle zu ihrem Vorhaben, beim Zusammenbruch des NS-Regimes infolge der Kriegsniederlage als österreichische Freiheitskämpfer aufzutreten, war das unvollständig überlieferte Urteil des Reichskriegsgerichts gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz wegen Fahnenflucht und Kriegsverrat. 241 Zu Recht sind die Inhalte dieses Urteil kritisch gelesen und hinterfragt worden, vor allem hinsichtlich der Konstruktion des Tatvorwurfs „Kriegsverrat“. 242 Waren die Deserteure von Sonntag tatsächlich daran gegangen, eine Widerstandsgruppe zu bilden, zumal die damals 17-jährige Delphina Burtscher in ihren zuletzt 2015 wieder herausgegebenen Erinnerungen nichts darüber berichtete? Durch den 92 Peter Pirker <?page no="93"?> 243 Isabel Richter, Entwürfe des Widerstehens. Männer und Frauen aus dem linken Widerstand in Verhören der Gestapo (1934-1939), in: WerkstattGeschichte 26 (2000), 47-70, 50. 244 Niederschrift, 10.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Das Abhören des Gesprächs durch einen im Neben‐ zimmer befindlichen Beamten der Gestapo überlieferte Leonhard Burtscher. Leonhard Burtscher an Franz. Kontrolldetachment zu Hd. Herrn Lt. Blondell, 28.11.1947. VLA, LGF KLs 168/ 418. Fund des jahrelang verschwunden geglaubten Aktes des Sondergerichts Feldkirch zum Verfahren wegen Begünstigung zur Fahnenflucht und anderer Vorwürfe gegen Angehörige der Familie Burtscher liegen nun auch die vollständigen Anklage- und Urteilsschriften des Reichskriegsgerichts vor. Hier sollen zunächst Erkenntnisse aus der Analyse der Ermittlungsdokumente für die Rekonstruktion des Handelns von Martin Lorenz, Leonhard sowie Wilhelm Burtscher vorgestellt werden. Vorauszuschicken ist ein Wort zum Quellenwert von internen Ermittlungsberichten der Gendarmerie und Polizei sowie von Verhörprotokollen der Gestapo. Auf Basis bisheriger Forschungsergebnisse ist von einem hohen Aussagegehalt auszugehen, der sich aus dem Bestreben der Gestapo ergab, „detailliert zu ermitteln, in welcher Weise die Verdächtigen an welchen Aktionen beteiligt waren und zu wem sie Verbindung hatten.“ Gendarmerie und Gestapo ging es nicht darum, Verdächtigen Taten unterzuschieben, die sie nicht begangen hatten, oder Tatvorwürfe zu konstruieren, sondern darum, „tatsächliche Hintergründe und Tathergänge zu rekonstruieren“. 243 Das bedeutet auf unseren Kontext umgelegt, dass weder die Beamten der Gendarmerie in Blons oder Bludenz noch jene des Grenzkommissariats Bregenz (also der Gestapo) Tatvorwürfe aus der Luft griffen, um missliebigen Personen Delikte anzuhängen, sie aus dem Verkehr zu ziehen oder unter das Fallbeil zu bringen. Vor allem die Gestapo hatte genuines Interesse, den Ursprung, den Hergang und die Beteiligten an illegalen Handlungen aufzudecken, umso mehr, wenn diese auf ein politisches Delikt hinwiesen. Das heißt jedoch nicht, dass die Texte von Verhörprotokollen unmittelbar „Wahrheit“ zum Tathergang, zur Verantwortung, zu den Beteiligten, Mitwissenden etc. ab‐ bilden, sondern ausschließlich, dass die verhandelten Themen keine Fiktionen darstellten, sondern eine reale Grundlage hatten. Wie Gerichte dann mit den Ermittlungsergebnissen umgingen, ist davon getrennt zu betrachten. Die ersten Hinweise auf eine staatspolitische Dimension des Handelns der Deserteure erhielten Gendarmerie und Gestapo durch das Mithören eines Gesprächs zwischen Wilhelm Burtscher und einem Nachbarn Anfang Juli 1944. 244 Wilhelm Burtscher besuchte den Nachbarn in seiner Wehrmachtsuniform, hatte sie aber deutlich verändert: Er trug am linken Ärmel eine rot-weiß-rote Armbinde, der Kragenspiegel war mit roten Distinktionen (Rangabzeichen) und die Uniform mit eigenen Abzeichen versehen. Das Gespräch, bei dem der Nachbar Wilhelm Burtscher reichlich Most aufwartete, drehte sich um die Bildung einer bewaffneten Gruppe in Sonntag, die für ein selbstständiges Österreich eintrat. Wilhelm Burtscher behauptete, bereits in Verbindung zu österreichischen Freiheitskämpfern in Tirol und zu einem Hauptmann Jungblut in Bludenz zu stehen. Diese Angaben fanden bei den Festnahmen am Burtscher-Hof kurz darauf, am 9. Juli 1944, insofern Bestätigung, als bei der Hausdurchsuchung die veränderten Uniformen, die Armbänder, Abzeichen und mehrere Waffen gefunden wurden. Die Funde und die Aussage des Informanten bildeten dann die Grundlage für die Einvernahmen durch die Beamten des Grenzkommissariats Flucht vor dem Krieg 93 <?page no="94"?> 245 Vinzenz Winkler ( Jahrgang 1908) stammte aus Bludenz. 246 Emmerich Dünser ( Jahrgang 1903) stammte aus Götzis und war dem Grenzpolizeiposten Feldkirch zugeordnet. 247 Protokolle der Einvernahmen. VLA, LGF KLs 52/ 44. 248 Auch hierbei ist zu bedenken, dass der genaue Wortlaut sehr wahrscheinlich vom vernehmenden Beamten formuliert wurde, am Substrat hingegen bestehen keine Zweifel; es wurde im Wesentlichen von anderen Beschuldigten bestätigt. Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmungsniederschrift Wilhelm Burtscher, 12.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Bregenz, Wilhelm Winkler 245 und Emmerich Dünser 246 , im Gefängnis Bludenz von 10. bis 12. Juli 1944. 247 Winkler vernahm die Deserteure und Benjamin Bischof, einen 35-jährigen, verwandten Landwirt, der am selben Tag ebenfalls auf Grundlage der Angaben des Infor‐ manten verhaftet worden war. Dünser befragte die anderen Festgenommenen. Die Aussage von Wilhelm Burtscher zur beabsichtigten Bildung einer kleinen militärischen Gruppe ließ Winkler in Anführungszeichen protokollieren und wies sie damit als wortgetreue Darstellung aus: „Vom Vater, der Schwester Delfine u. Hermine Gaßner wurde unser erzählt es werde davon gesprochen, daß es in der Südsteiermark und Kärnten bereits österr. Freiheitskämpfer gebe. Längere Zeit hernach sprach ich mit Leonhard über die Angelegenheit, wobei diesem plötzlich der Gedanke kam selbst eine kleine milit. Gruppe aufzustellen. Diese sollte aber nur eine Art Selbstwehr sein, die sich nicht gegen die Deutsche Wehrmacht oder die staatliche Gewalt im Inneren wenden sollte, sondern nur die Aufgabe hätte bei dem uns sicher scheinenden deutschen Zusammenbruch im Ort Sonntag rechtzeitig die Macht zu ergreifen und Ordnung zu schaffen. Wir stellten uns vor, daß beim Zusammenbruch ein Chaos entstehen und gewisse Elemente, wir dachten hauptsächlich an die ausländ. Arbeiter, den Bauern das Vieh wegnehmen und sonstige Gewalttätigkeiten begehen könnten. Für diesen Fall wollten wir eine kleine Truppe bereithalten, die im Stande wäre in Sonntag die Ordnung aufrecht zu erhalten. Diese kleine Truppe sollte einen österr. Charakter haben, weil wir von Großdeutschland nichts wissen wollen und das Selbstständigwerden Österreichs wünschen.“ 248 Dem Vernehmungsprotokoll zufolge hatten Wilhelm und Leonhard Burtscher in ihr Vorhaben bislang Martin Lorenz nur rudimentär, ihren Vater Franz Xaver Burtscher sowie ihre Schwestern Paula und Julia gar nicht eingeweiht. Die jüngsten Geschwister Ignaz und Delphina hätten ihnen zwar geholfen, die Uniform abzuändern, wussten demnach aber nicht, warum dies geschah. Als Bezugsperson der Deserteure außerhalb der Familie gab Wilhelm Burtscher nur Benjamin Bischof an, dem sie ihren Plan bei einem Besuch erklärt hatten, der sich als Familienvater an diesem Unternehmen aber nicht beteiligen wollte. Dass diese Verbindung der Gestapo bereits bekannt war, wusste Wilhelm Burtscher. Über das Gespräch mit dem Informanten der Gendarmerie schwieg er hingegen und er wurde von Winkler auch nicht danach gefragt - zumindest wurde es nicht protokolliert. Wilhelm Burtscher erklärte vielmehr, in dieser Sache nur mit Bischof Kontakt gehabt zu haben. Ihm musste es freilich darum gehen, die nicht mehr bestreitbaren Aktivitäten kleinzureden. Die Gestapo wiederum wollte die Rolle ihres Informanten nicht aufdecken, worum dieser explizit ersucht hatte. 94 Peter Pirker <?page no="95"?> 249 Gestapo/ Greko Bregenz, Ermittlungsbericht, 26.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 250 Gendarmeriekreis Bludenz an Gestapo/ Greko Bregenz, Betrifft: Burtscher Wilhelm u. a., 9.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Winkler fasste den Wissensstand am 26. Juli 1944 in einem Ermittlungsbericht für die Justizbehörden zusammen: „Die 3 Deserteure hatten bereits vor Wochen ihren Uniformen dadurch ein österr. Aussehen gegeben, indem sie rote Spiegel und Sterne am Kragen aufnähten, am linken Oberarm eine rot‐ weißrote Binde befestigten, sowie Plaketten (Edelweiß mit der Schrift ‚Mein Leben für Österreich‘ und Kreuz mit Doppeladler selbst herstellten und trugen. Der Deserteur Wilhelm Burtscher gibt zu, daß er mit seinem Bruder Leonhard und Martin Lorenz eine kleine bewaffnete Truppe schaffen wollte mit dem angebl. Ziel, beim nach ihrer Ansicht bald zu gewärtigenden Zusammenbruch Deutschlands in Sonntag die Macht zu ergreifen und dort in ihrem Sinne Ordnung zu machen. Ich verweise auf den beiliegenden Brief an die ‚Österreichische Staadtsführung [sic] in Wien‘, in dem für mißliebige Personen in Sonntag Todes- und Freiheitsstrafen beantragt werden. Verbindung zu einer Widerstandsbewegung oder irgendwelchen Auftraggebern streiten die 3 Deserteure ab. Es steht fest, daß Leonhard und Wilhelm Burtscher bereits an den Bauern Benjamin Bischof zwecks Werbung weiterer Mitglieder für diese geheime Truppe herangetreten sind. Von dem Vorhaben der Fahnenflüchtigen in Sonntag eine Art Widerstandsbewegung aufzuziehen, hatten anscheinend nur Benjamin Bischof, dessen Ehefrau Ilga, Hermine Gassner und die im Hause des Xaver Burtscher lebenden Geschwister Delfine und Ignaz einwandfrei Kenntnis.“ 249 Nach der Lektüre aller überlieferten Vernehmungsprotokolle fällt auf, dass Winkler im Ermittlungsbericht erstmals einen Brief der Deserteure an die „Österreichische Staatsfüh‐ rung“ erwähnt, der weder im Bericht der Gendarmerie über die Festnahmen und die Ergebnisse der Hausdurchsuchung am Burtscher-Hof noch bei einer der Einvernahmen vorkam. 250 Burtscher selbst sprach zwar ebenso von einer Machtübernahme in Sonntag, betonte im Grunde aber eine Sicherungsfunktion („Selbstwehr“) zum Schutz des Eigentums und Viehs der Bauern, also der Lebensgrundlagen der einheimischen Bevölkerung. Winkler betonte unter Verweis auf den Brief die Absicht der Deserteure, als bewaffnete Gruppe gegnerische Einheimische zu verfolgen. Übereinstimmung herrschte hingegen bei der Darstellung der erst kürzlich begonnenen Aktivitäten als eng begrenzt und bei den Angaben zum politischen Ziel, nämlich der Wiedererrichtung eines unabhängigen österreichischen Staates. Nicht zuletzt deutete Winkler die kämpferisch-patriotischen Insignien an den Uniformen („Mein Leben für Österreich“) als Hinweis auf die Absicht, „eine Art Wider‐ standsbewegung aufzuziehen“. Winkler legte seiner Darstellung neben den Berichten der Gendarmerie und den Verhör‐ protokollen eine Abschrift des genannten „Briefes“ bei - ein handschriftliches Original ist im Akt jedoch nicht enthalten. Betitelt war das Schriftstück mit „Bittschreiben! “, gerichtet war es an die „Österreichische Behörde in Bludenz Staadt’s Führung (in Wien)“. Als Autor ist Wilhelm Burtscher genannt. Die Transkription offenbart entweder dessen schlechte Schreibkenntnisse oder eine schwer entzifferbare Schrift, so ist etwa der Begriff „Deserteur“ als „Deseuter“ transkribiert. Jedenfalls kann gesagt werden, dass es sich um keinen ausformulierten „Brief “ handelt, sondern höchstens um einen unvollständigen Entwurf Flucht vor dem Krieg 95 <?page no="96"?> 251 Niederschrift, 10.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 252 Schelling, Festung Vorarlberg, 212. 253 Niederschrift der Sondergerichtsverhandlung gegen Hermine Gassner u. a. v. 8. Nov. 1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Siehe zum Prozess den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Buch. oder um Notizen. Nach einer kurzen Vorstellung der drei Deserteure und ihrer Flucht aus der „Deutschen Wehrmacht“ wird bekundet, dass sie „im Jahre 1944 eine Selbstwehr für das freie Österreich“ aufgestellt hätten. Danach wird der Zweck des Schreibens angeführt: „Da wir heute in einer kritischen Situation stehen, und keiner von uns weiß ob wir das Kriegsende erleben möchte ich an die spätere Österr. Staadtsführung eine Bitte richten. Ich bitte die Führung, daß Sie die vorgemerkten Namen mit meiner vorgeschlagenen Strafe. Oder mindestens genau nach gebrüft werden was für grauenhafte Schandtaten sie in den letzten Jahren vollübt haben und dem entsprechend bestraft werden. Die Todesstrafe hätte verdient [es folgen drei Namen]“ Neun Namen scheinen unter „Mit längeren Zuchthausstrafen wäre zu bestrafen“ auf, vier weitere verdienten „Geldstrafen u. dergleichen“. Schließlich folgt die eher rätselhafte Formulierung: „Unter Druck des freien Österreich sind zu nehmen.“ An diese Überschrift schließt eine Liste mit neun bereits in den ersten drei Kategorien genannten Personen an. Sollten sie zunächst in Haft genommen werden? Insgesamt sind sechzehn verschiedene Personen angeführt, 13 Männer und drei Frauen. Bei sechs Männern ist der Buchstabe „N“ hinzugefügt, was wohl für „Nationalsozialist“ steht. Weitere Angaben zur Identität oder Tatvorwürfe enthält das Schriftstück nicht. Auch dem Ermittlungsbericht der Gestapo sind keine weiteren Erkenntnisse zum Entstehungszusammenhang und seinem Auffinden zu entnehmen. Die Echtheit des Dokuments kann daher äußerlich nicht überprüft werden, allein eine innere Quellenkritik hinsichtlich der Plausibilität der Angaben ist möglich. Die Gestapo scheint auch die Angaben Wilhelm Burtschers, keine Verbindungen zu Regimegegnern in Vorarlberg oder Tirol gehabt zu haben, für glaubwürdig gehalten zu haben - anders als seine diesbezüglichen Bemerkungen gegenüber Benjamin Bischof und dem Informanten der Gendarmerie es suggerierten. Überprüfen lässt sich nur ein in diesem Zusammenhang erwähnter Name, nämlich „Hauptmann Jungblut in Bludenz“. 251 Dieser hatte eine leitende Funktion im Wehrmeldeamt Bludenz inne und kooperierte Anfang Mai 1945 tatsächlich mit Widerstandsaktivisten im Montafon. 252 Der Gestapo war Jungblut als Offizier der Wehrmacht sicher bekannt - Nachforschungen zu ihm sind jedoch nicht aktenkundig. Das lässt darauf schließen, dass die Gestapo nicht an externe Beziehungen der Deserteure glaubte oder sich der Verdacht nicht erhärtete. Überhaupt hielt der ermittelnde Beamte Emmerich Dünser in seiner Zeugenaussage vor dem Sondergericht Feldkirch beim Prozess gegen Angehörige der Familie Burtscher sowie Benjamin Bischof im Dezember 1944 „die Freiheitsbewegung der Deserteure für einen Unfug“. 253 Angesichts dieser Quellenlage lässt sich im Hinblick auf den Charakter der von den Deserteuren zweifellos in Angriff genommenen Bildung einer bewaffneten Gruppe fol‐ gendes Substrat herausfiltern: In der Einvernahme betonte Wilhelm Burtscher die Funktion der Sicherung des bäuerlichen Eigentums bei der Auflösung des NS-Regimes. Er sprach von einer „Selbstwehr“, davon, in Sonntag die Macht im Sinne der Wiedererrichtung eines unabhängigen österreichischen Staates zu übernehmen. Nicht zuletzt angesichts der langen Untätigkeit, gefühlten Nutzlosigkeit und damit einhergehenden Selbstzweifeln - 96 Peter Pirker <?page no="97"?> 254 Registrierungsliste Sonntag, Band I/ 1947. VLA, BH Bludenz. 255 Reichskriegsgericht, Feldurteil gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 13.10.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Gefühlslagen, die in den Einvernahmeprotokollen erkennbar sind - dürften die Brüder Burtscher in dieser Aufgabe eine sinnvolle Perspektive gesehen haben. Die beschlagnahmte, selbst angefertigte Plakette „Mein Leben für Österreich“ und die Bewaffnung weisen auf die realistische Einschätzung der Deserteure hin, dass die Verwirklichung dieser Absicht den Einsatz von Waffengewalt erfordern konnte, sie dazu bereit waren und ihnen bewusst war, dass sie selbst dabei ihr Leben riskierten. Unter Annahme der Echtheit findet diese Darstellung im Entwurf für das Bittschreiben an die österreichische Staatsführung Bestä‐ tigung. Das Schriftstück kann als Hinterlegung eines Zeugnisses der Absichten der Gruppe für den Fall des Todes ihrer Mitglieder gewertet werden. Es enthält zudem gestaffelte Strafvorschläge für Personen, die als lokale Träger des NS-Staates ausgewiesen wurden, und andere, denen sie nicht näher erläuterte „grauenhafte Schandtaten“ vorwarfen. Es bricht an dieser Stelle ab, ersucht aber um zumindest genaue Überprüfung der Handlungen dieser Personen. Das Schreiben belegt daher, dass sich die Deserteure der erhofften neuen österreichischen Staatsmacht verpflichtet sahen und sie die genannten Personen deren Justiz überantworten wollten. Überprüft man die Identität der aufgelisteten Personen, zeigt sich, dass mindestens acht von sechzehn tatsächlich Mitglieder oder Anwärter der NSDAP gewesen waren, bei zwei weiteren dürften die Vornamen verwechselt worden sein, sodass sich die Zahl unter dieser Annahme auf zehn erhöht. 254 An die Spitze der zu bestrafenden Personen setzte Wilhelm Burtscher den Bürgermeister und Ortsgruppenleiter Franz Josef Burtscher. Ihm folgt ein weiterer Nationalsozialist, der von Beruf Aufsichtsjäger war. Auch beim dritten handelte es sich um einen Aufsichtsjäger, der wahrscheinlich ebenfalls Parteigänger war. Man kann davon ausgehen, dass diese drei Personen wesentlich für den Verfolgungsdruck auf die Familie Burtscher verantwortlich waren. Vergleicht man die annäherungsweise rekonstruierten Vorstellungen der Burtscher- Brüder etwa mit dem Vorgehen der Widerstandsgruppe von Langenegg im April/ Mai 1945, lassen sich kaum Unterschiede feststellen. Auch andere Gründen sprechen dafür, dass die Deserteursgruppe Sonntag tatsächlich begonnen hatte, sich auf ein Auftreten als „Selbst‐ wehr für ein freies Österreich“ vorzubereiten. Die Aufnahme der Aktivitäten fällt in den Zeitraum nach der Invasion der westlichen Alliierten in der Normandie Anfang Juni 1944. Britische und amerikanische Truppen eröffneten trotz aller Gegenwehr der Wehrmacht erfolgreich eine dritte Front in Europa, zugleich hatten sie im Süden mit Rom die erste Hauptstadt in Europa befreit. Die Nachrichten über diese bahnbrechenden Etappensiege der Alliierten und Niederlagen der Wehrmacht in West- und Südeuropa machten wohl selbst vor dem hintersten Walsertal nicht halt, wenngleich es im Burtscher-Haushalt kein Radio gab, mit dem alliierte Sender abgehört hätten werden können. Wie schlecht es um die Wehrmacht schon Mitte 1943 an der Ostfront gestanden war, wussten Leonhard Burtscher und Martin Lorenz aus eigener Erfahrung. Die Nachrichten von Anfang Juni 1944 bildeten mit einiger Sicherheit den Hintergrund für die Erwartungen des Trios, dass „der Umsturz“ in zwei bis drei Monaten bevorstehe. 255 Ihr Vorhaben entsprach - möglicherweise ohne es zu wissen - zudem der Moskauer Erklärung der alliierten Mächte vom 1. November Flucht vor dem Krieg 97 <?page no="98"?> 256 Die Moskauer Erklärung verbreiteten die Alliierten über alle ihnen zur Verfügung stehenden Kanäle, ebenso Berichte über Widerstand in Österreich. Peter Pirker, Subversion deutscher Herrschaft. Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und Österreich, Göttingen 2012, 285; Wolfgang Muchitsch, Mit Spaten, Waffen und Worten. Die Einbindung österreichischer Flüchtlinge in die britischen Kriegsanstrengungen 1939-1945, Wien 1992, 146-150. 257 Chronik des GP Egg, 2.2.1942. Zum hohen Anteil gefallener Tiroler Polizisten: Jože Dežman, Deutsche und Partisanen, in: Jože Dežman (Hg.), Deutsche und Partisanen. Deutsche Verluste in Gorenjska (Oberkrain) zwischen Mythos und Wahrheit, Krajn 2017, 9-20. 258 Auch den Divisionsgerichten stand die Todesstrafe als Regelstrafe bei Fahnenflucht zur Verfügung und sie wurde von ihnen auch angewandt. Dies bestätigt der ähnliche, aber individuelle Fall des Bergbauernsohnes Josef Neuner aus Hatting, den das Gericht der Division 188 für eine nur drei Monate währende Fahnenflucht im Oktober 1943 zum Tod verurteilte. ÖStA, AdR, DWM, GerA 349/ 8. 1943 zur Wiedererrichtung Österreichs, in der sie einen eigenen Beitrag der Österreicher zur eigenen Befreiung vom Nationalsozialismus verlangten. Das Wissen um die Existenz von „österreichischen Freiheitskämpfern“ in der Südsteiermark und Kärnten war bei Wilhelm Burtscher vorhanden, dies belegen Aussagen im Rahmen seiner Einvernahme. 256 Durch die starke Beteiligung von Soldaten und Polizisten aus dem Reichsgau Tirol und Vorarlberg an der Bekämpfung der Partisan*innen in der Untersteiermark und in Oberkrain bildete die Existenz von größeren Gruppen bewaffneter Freiheitskämpfer innerhalb der De-facto-Grenzen des Deutschen Reichs längst kein Geheimnis mehr. Dafür waren bereits zu viele Vorarlberger und Tiroler im Kampf gegen die „Banditen“ oder „jugoslawischen Freiheitskämpfer“, wie es in der Gendarmeriechronik von Egg heißt, gefallen. 257 Die geschilderten Änderungen der Uniformen statteten diese mit neuen politisch-militä‐ rischen Bedeutungen aus. Dabei handelt es sich um eine Aneignung deutscher militärischer Ausrüstung im Übergang zu militantem Widerstand, wie es fast überall in Europa im jeweiligen nationalen Kontext von Partisan*innen praktiziert wurde. Langgediente Wehr‐ machtssoldaten wie Leonhard Burtscher und Martin Lorenz kannten dieses Phänomen aus Schulungen und eigener Erfahrung. Wilhelm Burtscher hatte als Besatzungssoldat in den Niederlanden wohl ebenfalls die Aktivitäten von Widerstandskämpfer*innen registriert. Die Anklageerhebung gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz vor dem höheren Reichskriegsgericht, nicht vor den eigentlich für sie zuständigen Divisionsgerichten, belegt zudem, dass die nachweisbaren Vorwürfe über Fahnenflucht hinausgingen. Allein um die Todesstrafe zu erreichen, wäre eine Abtretung des Falls an das Reichskriegsgericht nicht notwendig gewesen. 258 Die Abgeschiedenheit des Walsertals, das bescheidene Bildungsniveau und das isolierte Handeln veranlasste das Reichskriegsgericht, das überall in Europa seit Jahren in großer Zahl gut organisierte Widerstandskämpfer*innen zum Tode verurteilte und hinrichtete, das Agieren der Walsertaler Bauernsöhne als unreif und lächerlich zu bezeichnen - und dennoch Todesstrafen auszusprechen. Man sollte sich jedoch davor hüten, diesen Blick zu übernehmen. Aus heutiger Sicht und im Vergleich zu anderen, bisweilen überhöht dargestellten Widerstandskämpfer*innen mag das geschilderte Agieren, soweit es aus den Quellen erahnbar ist, zwar ebenfalls zunächst ein wenig absurd und skurril erscheinen. Bei Berücksichtigung des zeitlichen Kontexts, der beschränkten Informationslage sowie den ge‐ ringen Austauschmöglichkeiten, der bereits langen Dauer der Desertion, des Bedürfnisses, 98 Peter Pirker <?page no="99"?> 259 Maria Fritsche, Die wagemutige Flucht des Tobias Studer. Deserteure im Vorarlberger Großwalsertal, in: Thomas Geldmacher et al. (Hg.), „Da machen wir nicht. mehr mit…“. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010, 146-154, 150. 260 Ebd..; Gespräch mit Bernadette Forte (geb. Domig), geführt von Peter Pirker, 21.4.2023. 261 Leonhard Burtscher verbarg sich im Sommer in einer Höhle bei einem Stallgut unterhalb des Berges Blasenka, fand Zuflucht auf einem Maisäß einer verwandten Familie in der Ortschaft Stein, im Haus der Familie seiner späteren Ehefrau Hermine Gassner und beim Pfarrer von Sonntag-Buchboden, Martin Summer. Gamon, Ignaz Burtscher, 69-70. Tobias Studer wurde von einem Knecht in einem Schafstall beherbergt und von einer verwandten Familie auf deren Maisäß. Fritsche, Die wagemutige Flucht, 152; Türtscher, Aus meinem Leben, 51. 262 Leonhard Burtscher an das Franz. Kontrolldetachment zu Hd. Herrn Lt. Blondell, 28.11.1947. VLA, AVLReg IVa-168/ 418. 263 GP Blons an das Bezirksgendarmeriekommando, 25.6.1945, abgedruckt in: Weber, Nationalsozia‐ lismus, 88-91, 89. Sinnvolles zu tun, ist das Vorgehen der Burtscher-Brüder und von Martin Lorenz jedoch als Übergang von Fluchtwiderstand zu aktivem Widerstand zu bewerten und anzuerkennen. Die radikale Intervention des Polizei- und Justizapparats im Juli 1944 führte zwar nicht zum gänzlichen Erliegen des Fluchtwiderstands im Walsertal. Dies zeigen die im September 1944 folgenden Desertionen von Jakob Domig und Tobias Studer, die sich Leonhard Burtscher anschlossen. Sie beendete aber das weitere Wachstum der nun wieder aus drei jungen Männern bestehenden „zweiten Generation“ der Deserteursgruppe zu einem Zeitpunkt, als an anderen Orten Gruppenbildungen begannen. Wie Tobias Studer in einem Interview mit Maria Fritsche im Jahr 2002 berichtete, scheiterten „ihre Bemühungen, andere Wehrmachtsurlauber zum Dableiben zu ermutigen und eine Widerstandsgruppe zu bilden“. 259 Tobias Studer und Jakob Domig waren Solitäre, von ihrer Persönlichkeit her ausgesprochen antiautoritäre Typen, die sich von Kindheit an gegen Fremdbestimmung auflehnten, Studer als Sohn einer sozial randständigen Familie, Domig als Unangepasster in seiner stark patriarchalen Großfamilie. 260 Unter dem Druck der großen Gefahr entdeckt bzw. verraten zu werden, löste sich das Trio nach einigen Monaten auf. Weiterhin bezeichneten sich Jakob Domig und Tobias Studer, die über weite Strecken bis Ende März 1945 zusammenblieben, als „Banditen“ - beide kannten Partisanen aus eigener soldatischer Erfahrung, Studer aus Weißrussland, Domig aus der Ukraine. Am 27. März 1945 stellte der Gendarm Josef Burtscher ihnen eine ähnliche Falle wie im Juli 1944 Wilhelm und Leonhard Burtscher. Jakob Domig wurde dabei erschossen. Die Gendarmerie Blons nahm acht Verhaftungen unter Verwandten und Mitwisser*innen vor. Leonhard Burtscher und Tobias Studer zogen sich nach den Razzien getrennt in höhere Lagen und zu engsten Helfer*innen zurück. 261 An offenes Auftreten war nicht mehr zu denken, so Leonhard Burtscher: „Ich […] wurde als vogelfrei erklärt, sodass jeder Staatsbürger das Recht hatte mich bei jeder Gelegenheit abzuknallen.“ Dennoch, so hielt er 1947 fest: „In der Folgezeit wurden wir immer mehr, sodass [sich] beim Zusammenbruch des Dritten Reiches bereits 27 [Deserteure] im Walsertal aufhielten.“ 262 Diese Angabe findet in einem Bericht des Gendarmeriepostenkommandos Blons zu den letzten Kriegswochen Bestätigung: „Einberufungen zur Wehrmacht wurden von den Betroffenen nicht mehr befolgt und auch Urlauber rückten nach Beendigung ihres Urlaubes nicht mehr ein.“ 263 Als langgediente Soldaten, die beide in der Partisanenbekämpfung tätig gewesen waren, profitierten Studer und Burtscher im Überlebenskampf von militärischer Ausbildung und Flucht vor dem Krieg 99 <?page no="100"?> 264 Siehe die Fallstudie zu Krumbach in diesem Buch; Schelling, Festung Vorarlberg; Schwarz, Heimat‐ buch Langenegg; Kasper, Montafon unter dem Hakenkreuz. 265 Schelling, Festung Vorarlberg, 214 (hier fälschlich als „Generaloberst Merkl“ bezeichnet); Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, Wien 2015, 493; Nachbaur, Österreich als Opfer, 295-296. Merker tauchte dann mit seinem Gefolge auch in anderen Gemeinden des Bregenzerwaldes auf, bis er am 6. Mai in Hopfreben von französischem Militär festgenommen wurde. In der Literatur variiert die Stärke der im Vorderen Bregenzerwald befindlichen SS-Truppe zwischen 100 und 175 Mann. Siehe den Beitrag von Greber/ Pirker in diesem Buch. 266 Valentin Feuerstein, Irrwege der Pflicht 1938-1945, München 1963, 308-310. 267 Schelling, Festung Vorarlberg, 223. Derartige Ankündigungen gab es in etlichen Dörfern, beispiels‐ weise in Nauders in Tirol, wo Deserteure zwei der drohenden Nationalsozialisten erschossen. Chronik GP Nauders, 3.5.1945, TLA; Wiener Zeitung, 19.10.1949, 2. Erfahrung. Die Aufständischen in St. Gallenkirch, Krumbach und Langenegg wurden ebenso von Deserteuren geführt, die über langjährige Kampferfahrung verfügten und sich nicht scheuten, Ende April/ Anfang Mai 1945 in das absurde Endkampfszenario von Wehrmacht und SS („Festung Vorarlberg“) einzugreifen und es vom Inneren her zu sabotieren. 264 Freilich erhielt die periphere Lage der Gemeinden nun eine jeweils spezifische Bedeutung, einerseits als Orte des Stellungsbaus gegen die aus dem Allgäu in den Bregenzerwald vorrückenden Truppen der französischen Armee, andererseits als Fluchtrouten zurückweichender Wehrmachts- und SS-Soldaten. In Krumbach und Langenegg wurden auf Befehl des für die Verteidigung von Vorarlberg und Tirol zuständigen Generals Valentin Feuerstein die umliegenden Brücken - für die lokale Bevölkerung essentielle ökonomische und soziale Lebensadern - zur Sprengung vorbereitet. Als Kampftruppen waren neben Abteilungen ganz junger, eben eingezogener Gebirgsjäger aus Landeck, der Hitlerjugend und aus Bayern zurückgedrängter Soldaten, etwa hundert Männer der Waffen-SS in Schwarzenberg versammelt, wo sich der Kom‐ mandant für die Verteidigung des Bregenzerwalds, Generaloberst Ludwig Merker, mit seinem Sohn, einem SS-Hauptsturmführer, einquartiert hatte. 265 Merker war letzter Stadt‐ kommandant von Wien gewesen und offenbar jemand, der ohne Befehl von oben nicht daran dachte, die Waffen niederzulegen. Doch am 29. April wurde Feuerstein, der sich in Innsbruck zuletzt gegen die Verteidigung der Städte Bregenz und Feldkirch ausgesprochen hatte, abgesetzt. 266 Die SS-Männer handelten aber ohnehin aus purem Eigeninteresse - ihnen ging es darum, das Vorrücken der französischen Truppen um jeden Preis zu verzögern, um sich einer Gefangennahme zu entziehen. In Kombination mit lokalen, hochideologisierten Nationalsozialisten, die angesichts ihrer bevorstehenden Entmachtung nach einem archaischen Muster mit dem Anzünden von Häusern drohten, entstanden Situationen finaler Gewalteskalation. 267 St. Gallenkirch befand sich nicht in einer derart gefährlichen Lage, denn die SS- und Wehrmachtstruppen ließen auf ihrem Rückzug nach Tirol über das Klostertal das Montafon größtenteils links liegen. Dennoch fanden sich auch hier 75 SS-Männer ein, die von den Deserteuren und anderen Aktivisten der Widerstandsgruppe mit Hilfe eines Unteroffiziers der Wehrmacht aus Bludenz, der die nötigen Waffen mitbrachte, entwaffnet und in Schach gehalten werden konnten. Entwaffnet wurden von der Widerstandsgruppe außerdem einige lokal stationierte Soldaten der Luftwaffe; sie übernahm das Kommando des Volks‐ 100 Peter Pirker <?page no="101"?> 268 Widerstandsbewegung Österreich St. Gallenkirch, Bericht über den Freiheitskampf in St. Gallen‐ kirch, 15.5.1945. SLA, Opferfürsorgeakt Anton Düngler; Schelling, Festung Vorarlberg, 212-213; Kasper, Montafon unterm Hakenkreuz, 381-382. 269 Interview mit Robert Bazaille, geführt von Sylvia Peter, 3.3.1985. Für eine Kopie der Übersetzung des Transkripts danke ich Hans Weiss. Für weitere Auskünfte bedanke ich mich bei Rudolf Schwarz und Gerhard Schwarz. Die Ereignisse in Langenegg werden im Film von Tone Bechter „Die letzten Tage“ geschildert. 270 Siehe Pirker, Gegen das Dritte Reich, 85-111; Pirker, Subversion deutscher Herrschaft, 151-167, 244-249, 404-409, 432-434. sturms, enthob die NS-Funktionäre ihrer Ämter, neutralisierte den Gendarmerieposten und schützte die lokale Infrastruktur - all das gelang ihnen ohne Waffengewalt. 268 Unter der Führung der Deserteure Max Ibele und Alois Schwarz hatten die Widerstands‐ gruppen in Krumbach und Langenegg bis zum 30. April zunächst Ähnliches geschafft. Das aggressive Auftreten der SS-Truppe unter dem Kommando Merkers führte dann jedoch zu einer Eskalation: Die bereits gesicherten Brücken wurden neuerlich geladen, gesprengt oder abgebrannt. In Krumbach griff der ehemalige SS-Mann Max Ibele zur Gegenwehr; er wurde im Gefecht mit der SS erschossen, auf Seiten der SS fielen fünf Soldaten. In Langenegg spitzte sich die Lage ebenfalls zu, als die SS von den Aktivitäten der Widerstandsgruppe erfuhr und anrückte, um die von Alois Schwarz und anderen Aktivisten festgenommenen Funktionäre der NSDAP und der SA aus dem Keller der Dorfsennerei zu befreien. Dabei erschossen sie fünf Wachleute der Widerstandsgruppe, darunter die Deserteure Innozenz Bader, Robert Bader, Adolf Schwärzler und drei weitere Zivilisten. Das mit rot-weiß-roter Fahne beflaggte Haus der Familie Schwarz, vor dem Mitglieder der Widerstandsgruppe versucht hatten, einen einzelnen SS-Mann festzunehmen, wurde durch Beschuss mit Panzerfäusten in Brand gesetzt; auch hier erlitten zwei Deserteure (darunter Anton Bechter) Verwundungen. Alois Schwarz und anderen Aktivisten bzw. Unterstützer*innen blieb nur die neuerliche Flucht in Verstecke, wo sie bis zum Eintreffen der französischen Truppen wenige Tage später ausharrten. 269 - 5.5 „Kehrt um die Flinten, der Feind steht hinten“ - Im transnationalen Widerstand Die unmittelbare Nachbarschaft machte die neutrale Schweiz während des Zweiten Weltkrieges zum „Aussichtspunkt“ der westlichen Demokratien und des deutschen und österreichischen antinazistischen Exils in das Deutsche Reich und das faschistische Italien. Bei der Beobachtung und Auswertung von Informationen blieb es nicht. Von der Schweiz aus versuchten mehr oder weniger militante Exilgruppen aller Couleur Kontakte zu Regimegegner*innen im Deutschen Reich zu knüpfen, Sabotage zu organisieren und Widerstandsgruppen zu unterstützen. 270 Dies geschah vielfach in Kooperation mit west‐ lichen Geheimdiensten, zu allererst der britischen Special Operations Executive (SOE), dann dem amerikanischen Office of Strategic Services (OSS) und der französischen Direc‐ tion générale des études et recherches (DGER), schließlich auch unter Einbindung des Schweizer militärischen Nachrichtendienstes, im Kanton St. Gallen konkret mit dem Chef des regionalen Zweigs der Nachrichtenstelle I, Hauptmann Konrad Lienert, der auch Kommandant der politischen Polizei des Kantons St. Gallen war. Lienert interessierten vor allem Informationen über die Situation in der von der NS-Führung Ende 1944 ausgerufenen Flucht vor dem Krieg 101 <?page no="102"?> 271 Gerald Steinacher, „…der einzige Österreicher in der Schweiz, der den Nazis effektiv Widerstand leistete“. Wilhelm Bruckner und der „österreichische Wehrverband Patria“ 1943-1946, in: DÖW (Hg.), Jahrbuch 2001, Wien 2001, 147-183; Gerald Steinacher, Südtirol und die Geheimdienste, Innsbruck 2000; Pirker, Subversion, 404-409; zuletzt: Carlo Romeo/ Leopold Steurer (Hg.), Giambattista Lazagna, Der Fall des Partisanen Pircher, Bozen 2022. 272 Peter Rohrbacher, Pater Willhelm Schmidt im Schweizer Exil. Ausgewählte Interaktionen mit Wehrmachtsdeserteuren und Nachrichtendiensten, 1943-1945, in: Paideuma 62 (2016), 203-221. „Alpenfestung“. Das Territorium der Eidgenossenschaft bildete so einen Knotenpunkt des transnationalen Widerstands gegen Nationalsozialismus und Faschismus. Langjährige Antifaschist*innen im Exil, wie der deutsche Journalisten Karl Gerold und die Berliner Journalistin Hilde Meisel, waren hier engagiert; Exilaktivist*innen und Nachrichtendienste banden in ihre subversiven Unternehmungen jedoch spätestens ab Herbst 1944 auch Deserteure der Wehrmacht ein, die über Konfidenten in den Internierungslagern rekrutiert wurden. Mit Blickrichtung Österreich und Südtirol profilierten sich dabei vor allem der aus Italien in die Schweiz desertierte konservativ-liberale, junge Wiener Fritz Molden, der später zu einem bekannten und schillernden Journalisten, Publizisten und Verleger wurde, und schon früher der etwas ältere, monarchistisch-katholisch orientierte Medizinstudent Wilhelm Bruckner, der bereits 1938 in die Schweiz geflohen war und nach 1945 in Vergessenheit geraten sollte. Während Molden seine Aktivitäten früh zu verwerten wusste, wurde der von Bruckner im Oktober 1944 gegründete „Wehrverband Patria“ erst spät von der Zeitgeschichtsforschung „entdeckt“. Seine Aktivitäten nach Österreich und - am erfolgreichsten - nach Südtirol, wo es zu einer intensiven Kooperation mit dem Andreas- Hofer-Bund kam, sind mittlerweile umfassend beschrieben, sodass hier nicht mehr näher darauf eingegangen werden muss. 271 Bruckner war in der Schweiz eng mit dem bereits betagten, konservativ-katholischen, ebenso monarchistisch gesinnten Anthropologen und Geistlichen, Wilhelm Schmidt aus Wien, verbunden, der zudem über exzellente Kanäle in den Vatikan verfügte. Schmidt beteiligte sich direkt an der Rekrutierung und geistlichen Betreuung der Deserteurs- Aktivisten der Patria, zum Teil finanzierte er sie nach der Entlassung aus der Internierung mit Geldern aus dem Vatikan. 272 Zu den grenzüberschreitend agierenden Aktivisten des Wehrverbands Patria, den Bruckner von Genf aus betrieb, gehörten - wie eingangs angemerkt - Wehrmachtsdes‐ erteure. Der britische Militärgeheimdienst SOE stellte Bruckner Geld und militärische Ausrüstung zur Verfügung, um sie auf Erkundungsmissionen und für Kontaktaufnahmen mit Regimegegnern nach Österreich und Südtirol zu schicken. Lienert sorgte dafür, dass Bruckner Zugang zu den Lagern erhielt und für den Einsatz geeignete Internierte entlassen wurden. Über Lienert liefen alle Regelungen der Identität und die lokalen Arrangements mit der Grenzpolizei, um die „schwarze“ Ausreise und Rückkehr der Aktivisten zumindest auf Schweizer Seite zu gewährleisten. Die Wehrmachtsflüchtlinge der Patria kamen aus Wien, der Steiermark, Tirol und Südtirol sowie mindestens vier aus Vorarlberg: Eugen Cia aus Lech, Eduard Unsinn und Eduard Riedmann aus Lustenau, Karl Bitschnau stammte wahrscheinlich aus Feldkirch. Die Umstände ihrer Desertionen und ihrer Wege aus den Truppen der Wehrmacht in die 102 Peter Pirker <?page no="103"?> 273 Niederschrift Eduard Riedmann, 1.12.1949. VLA, LGF Vr 944/ 49; BAR, E4264#1969/ 148#535* Ried‐ mann Eduard. 274 Ebd. 275 Vernehmung Eduard Riedmann, 3.12.1949. VLA, LGF Vr 944/ 49. Schweiz unterschieden sich kaum von den meisten anderen Vorarlberger Deserteuren. Sie waren zwischen 24 und 35 Jahre alt und verfügten über langjährige Fronterfahrung. Die Fluchten von Cia und Unsinn wurden bereits kurz beleuchtet. Riedmann war Sticker, und wie andere aus dem skizzierten Lustenauer Arbeitermilieu soll er sich vor dem Krieg als Schmuggler ein Zubrot verdient haben. Von daher kannte er illegale Wege über die Grenze. Zwei seiner Brüder waren bereits gefallen, das Kriegsende schien in Sicht. Mit einem Lustenauer Freund, Hermann Riedesser, der sich zufällig ebenfalls auf Erholungsurlaub von der Truppe zu Hause befand, passierte er am 8. Jänner 1945 die Schweizer Grenze unbehelligt zwischen dem Rohr am Alten Rhein und der Brücke nach Widnau. 273 Nachdem er sich selbstbestimmt vom Eid der Wehrmacht gelöst hatte, dauerte es bei ihm nur wenige Wochen, bis er im Internierungslager Rohr bei Aarau, wo er Eduard Unsinn kennengelernt hatte, eine neue Verpflichtung einging, dieses Mal gegenüber der Patria: „Glaublich im März 1945 trat dann Unsinn an mich heran mit dem Ansinnen, ob ich nicht der in der Schweiz bekannten Widerstandsbewegung Patria gemeinsam mit ihm beitreten wolle. Da ich während des Krieges bereits zwei Brüder verloren hatte und Unsinn mir sagte, dass dies nur zum Wohle des österreichischen Volkes sei, habe ich eingewilligt und bin dieser Widerstandsbewegung beigetreten.“ 274 Die beiden Deserteure, im Begriff zu Widerstandskämpfern zu werden, erhielten Fahr‐ karten nach Genf, wo sie bei Bruckner in einem Hotel unterkamen, von Wilhelm Schmidt vereidigt und mit Hilfe der britischen, französischen und Schweizer Geheimdienste auf einen Einsatz in Vorarlberg vorbereitet wurden. Sie erhielten gefälschte Identitäten und Ausweise, übten die Bedienung von Funkgeräten, den Empfang von Radiocodes via BBC und Ähnliches mehr. Bewaffnet wurden sie mit deutschen Pistolen und mit einer Sten Gun, einer einfachen und leichten Maschinenpistole, mit der die Briten Partisan*innen in ganz Europa ausrüsteten. In die lokale Organisation in St. Gallen waren neben Lienert ein Pfarrer in Heerbrugg und vor allem Polizisten an der Grenze eingebunden. Eduard Unsinn schilderte den Inhalt seiner Aufträge in einer späteren Vernehmung durch das Landesgericht Feldkirch: „Ich sollte mit mehreren mir unbekannten Kameraden im Abschnitt Vorarlberg eingesetzt werden. Mir wurden auch Vorarlberger Adressen genannt, die als Anlaufpunkte für mich Bedeutung gehabt haben, darunter der Zahnarzt Schwendinger in Dornbirn und der Friseur Öhry in Rankweil. […] Ich habe den Spionageauftrag erhalten, […] im Abschnitt Vorarlberg den Widerstand zu organisieren, vertrauenswürdige Leute festzustellen und mit diesen die Verbindung aufzunehmen und über die Patria Verbindung mit den Alliierten herzustellen. Auch wurde mir aufgetragen […] im Abschnitt Vorarlberg Erkundungen einzuziehen über die erstellten Festungsbauten […]. Ferner hatte ich die Aufgabe zersetzend und destruktiv im Volkssturm zu wirken. Ich bekam zu diesem Zweck auch Propagandamittel wie die Streuzettel ‚Kehrt um die Flinten, der Feind steht hintern, es lebe Österreich‘.“ 275 Flucht vor dem Krieg 103 <?page no="104"?> 276 Eidesstattliche Erklärung Eugen Cia, Lech, 21.5.1951. BAR, E4320B#1991/ 243#1125* (W. Bruckner). Bereits früher übernahm Eugen Cia gemeinsam mit Albert Matt, einem Deserteur aus Tirol, ähnliche Aufträge in Vorarlberg und in Südtirol. Trotz verdeckter Hilfe durch Schweizer Grenzbeamte, die den Zeitablauf der deutschen Grenzpatrouillen kannten, handelte es sich um äußerst riskante Unternehmen. In einer eidesstattlichen Erklärung beschrieb Cia im Jahr 1951, als in der Schweiz Bruckners Zusammenarbeit mit Geheimdiensten untersucht wurde, wie er mit der Patria im Internierungslager Rohr in Kontakt kam und schließlich den Auftrag übernahm, in subversiver Mission über St. Antönien nach Vorarlberg vorzudringen, den Rucksack voll mit britischen Radioapparaten: „In Österreich wurden wir in unmittelbarer Nähe der Grenze angeschossen und wir mussten, da ich am Oberarm verwundet wurde, auf schweizerisches Gebiet zurückkehren. Wir wurden später in Südtirol eingesetzt, wohin wir über das Münstertal gelangten. […] Am gleichen Weg gelangten zwei französische Offiziere, die mit einem Funkgerät versehen waren, nach Südtirol, von wo aus sie Funkverbindung zwischen der Widerstandsbewegung und dem alliierten Hauptquartier herstellten.“ 276 Schusswechsel an der Grenze waren der Schweizer Polizei mehr als unangenehm. Sie führten, wenn es Tote und Verletzte auf deutscher Seite gab, zu drängenden Nachfragen und Auslieferungsforderungen des Grenzkommissariats Bregenz bzw. der Gestapo und drohten das Image der neutralen Schweiz zu beschädigen. Im Rahmen derselben Schweizer Untersuchung nahm Lienert zu dem Schusswechsel an der Grenze Stellung. Er beschrieb ihn etwas genauer als Cia: „Die beiden hatten dann kurz nach dem Grenzübertritt Anstände. Anscheinend liefen sie einer deutschen Patrouille in die Hände. Soviel mir erinnerlich, erklärte mir Cia nach seiner Rückkehr, er sei aufgefordert worden, seinen Rucksackinhalt zu zeigen. In diesem Moment versetzte ihn Cia einen Hieb und der zweite Mann schoss dann. Von den Leuten der Patrouille wurde einer getötet und einer schwer verletzt. Cia erhielt einen Schuss in den Oberarm. Die Gestapo meldete mir dann, dass bei ihnen Grenzwächter erschossen worden seien, wobei sie vermuteten, dass es sich um Flüchtlinge handelte, die in die Schweiz kommen wollten. Wir wurden angefragt, ob wir zu dieser Zeit Flüchtlingsübertritte in die Schweiz hatten. Wir beantworteten dies ausweichend. […]. Die Gestapo erzählte mir damals, der eine habe 21 Schüsse gehabt, müsse also mit einer Maschinenpistole erschossen worden sein.“ Die beiden Lustenauer Unsinn und Riedmann dirigierte Bruckner Mitte April zum Grenz‐ übergang Schmitter in Diepoldsau, wo sie sich am 14. April 1945 abends um acht Uhr beim Polizeiposten meldeten. Die folgenden Ereignisse gab Riedmann bei einer Einvernahme durch Beamte des Vorarlberger Landesgendarmeriekommandos im Jahr 1949 zu Protokoll: „[…] glaublich gegen 22.30 Uhr haben wir uns in Begleitung eines Schweizer Polizisten […] auf den Weg nach der Grenze begeben. Dieser begleitete uns bis zur schweizer Militärwache, die von unserem Vorhaben ebenfalls Kenntnis hatte. Von hier weg haben wir den Weg alleine fortgesetzt. Bei diesem Gange war ich mit einer Maschinenpistole und Unsinn mit einer Pistole ausgerüstet. […] Wir haben dann den neuen Rhein auf der Brücke von Widnau nach Diepoldsau überschritten […]. 104 Peter Pirker <?page no="105"?> 277 Erhebungsgruppe des Landesgendarmeriekommandos für Vorarlberg, Niederschrift, 1.12.1949. VLA, LGF Vr 944/ 49. 278 Chronik GP Lustenau, 15.4.1945. VLA. 279 Eidesstattliche Erklärung Eduard Unsinn, Lustenau, 22.5.1950. BAR, E4320B#1991/ 243#1125* (W. Bruckner). 280 Ebd. Von hier gingen wir den neuen Rhein entlang auf dem Rheinvorland in Richtung Lustenau. Wir kamen dann zur unteren Widnauerbrücke und hatten die schweizerisch-österreichische Grenze etwa 70 bis 80 Meter überschritten, als wir von einem Posten mit den Worten ‚Halt, wer da, Parole‘ und glaublich auch ‚Hände hoch‘ angehalten wurden. Dies hat der Posten einigemale gerufen. Ich bin am Boden gelegen und habe mich bei diesem Aufrufe erhoben und gesehen, dass der Posten mit angeschlagenem Gewehre etwa 10 Meter vor mir gestanden ist. Es gab nun nichts mehr anderes als die Parole ‚Du oder ich‘. Ich habe daher sofort meine Maschinenpistole in Anschlag gebracht und geschossen.“ 277 Bei dem Feuergefecht zwischen Riedmann und Unsinn auf der einen Seite und den deutschen Grenzwachebeamten auf der anderen Seite verlor der Hilfszollassistent des Zollamts Lustenau, Johann Holzer, sein Leben, Unsinn erlitt eine leichte Verletzung an der Hand. Die beiden Deserteure brachen ihre Mission ab und zogen sich auf die Schweizer Seite der Grenze zurück, um den Vorfall der Polizei zu melden. Auf der deutschen Seite ging die Gendarmerie Lustenau davon aus, dass die Erschießung Holzers das Werk eines in die Schweiz geflüchteten Deserteurs war. 278 Zwei Wochen später, als die französischen Truppen das Rheintal erreichten, begaben sich Riedmann und Unsinn neuerlich illegal über die Grenze, dieses Mal ohne Einschreiten oder Abwehr der Dienst tuenden deutschen Grenzbeamten, die sich von den beiden umstandslos entwaffnen ließen: „Wir rüsteten deutsche Grenzer bei helllichtem Tage ab und brachten Waffen und Ausrüstungs‐ gegenstände auf schweizerisches Gebiet. Riedmann löste von der Rheinbrücke die Minen, während ich mit der MP Wache hielt. Nach dieser Aktion kam […] Pol. Hauptmann Lienert von St. Gallen nach Diepoldsau, wo ich Rapport erstatten mußte.“ 279 Am Ende seiner eidesstattlichen Erklärung für die Bundesanwaltschaft in Bern erklärte Unsinn die Art seiner Beziehung zum Schweizer Nachrichtendienst: „Zusammenfassend gebe ich der Überzeugung Ausdruck, daß das Polizeikommando St. Gallen und der schweizerische Nachrichtendienst über unsere Tätigkeit für die österr. Widerstandsbewegung im Rahmen der ‚Patria‘ genau orientiert war und daß diese Tätigkeit von den genannten Stellen gefördert und gestützt wurde. Ich selbst hatte keinerlei Interessen, für den schweizer Nachrichtendienst zu arbeiten, sah es aber gerne, daß wir für unsere Tätigkeit für unsere Heimat durch diese Stellen nicht nur nicht gehindert, sondern gefördert wurden.“ 280 Flucht vor dem Krieg 105 <?page no="106"?> 281 Reichsstatthalter Tirol und Vorarlberg an die Landräte des Kreises Bregenz, 2.3.1944. VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1. 282 Siehe den Verlauf beispielsweise im Fall Johann Steurer aus Krumbach. BArch-MA, PERS 15/ 145287. Die Untersuchungsakten der Divisionsgerichte zu den Deserteuren von Sonntag blieben nicht erhalten. Sie wurden vermutlich in den Akt des Reichskriegsgericht integriert. Die Untersuchungs‐ akten des Reichskriegsgerichts wurden entweder vor Kriegsende in Torgau verbrannt oder infolge eines Luftangriffes auf das Heeresarchiv Potsdam zerstört. Erhalten geblieben sind eine Urteilssamm‐ lung und Strafprozesssowie Vollstreckungslisten. Die Verfolgung in Sonntag lässt sich auf Basis des Akts des Sondergerichts Feldkirch KLs 52/ 44 rekonstruieren. VI. Polizeiliche, außergerichtliche und juristische Verfolgung - 6.1 „Er soll nicht mehr in den Krieg gehen“ - Gestapo-Einvernahmen Die Aufdeckung der Deserteursgruppe von Sonntag zeigt sehr anschaulich, wie militäri‐ sche, polizeiliche, zivile und zuletzt juristische Instanzen des NS-Staates bei der Verfolgung von Deserteuren und ihren Helfer*innen ineinandergriffen. Diese Prozesse sollen im Folgenden nachgezeichnet werden, um die Handlungsspielräume und Interessenslagen der beteiligten Institutionen und der Verfolgten auszuloten. Dieser Fall ermöglicht zudem, die Radikalisierung der Verfolgung im Übergang von polizeilicher Ermittlung zu juristischer Ahndung herauszuarbeiten. Am Beginn jeder Suche nach vermissten Soldaten stand die Meldung des Kompaniechefs über eine Fahnenflucht bzw. unerlaubte Entfernung an die Wehrmachtsgerichte. Sie enthielt die Anhaltspunkte zum Verschwinden des Soldaten, dessen militärische Daten (Einheit, Rang, Funktion), eine Personenbeschreibung, außerdem die bekannte Urlaubsan‐ schrift, die Angaben zum letzten Wohnort vor dem Einrücken und die Adresse der nächsten Angehörigen. Verteilt wurde diese Meldung an den Standortältesten des Truppenteils, an die Ortspolizei des Standorts der Einheit und des letzten Wohnorts, an die zuständige Ab‐ wehrstelle, an das Reichskriminalpolizeiamt in Berlin zur Aufnahme in die Fahndungskartei der Kriminalpolizei sowie an das zuständige Divisionsgericht. Der Kompaniechef lieferte meist eine Bewertung des Soldaten über dessen Leistungen, Charaktereigenschaften und disziplinäre Führung mit, um eine erste Einschätzung, ob Fahnenflucht wahrscheinlich war, zu ermöglichen. Kenntnis von der Suche erhielt außerdem die zuständige Gestapostelle, in Vorarlberg das Grenzkommissariat Bregenz, obwohl die Gestapo formal nicht für Fahnen‐ flüchtige zuständig war. 281 Die Gestapo griff in die Ermittlungen ein, wenn andere Delikte, etwa ein verbotener Grenzübertritt, politische und nachrichtendienstliche Aspekte oder Unterstützung für Deserteure aus der Zivilbevölkerung vermutet wurden. Das Divisionsge‐ richt erteilte dem lokalen Gendarmerieposten (in Städten der Schutzbzw. Kriminalpolizei) als erstes den Auftrag, bei den Angehörigen den letzten bekannten Aufenthalt des Soldaten herauszufinden, in der sozialen Umgebung nachzufragen und ihn im „Betretungsfalle“ in Haft zu nehmen. Erhärtete sich nach einigen Wochen der Verdacht auf Fahnenflucht, erließ das Gericht einen Haftbefehl, meist mit der Begründung „Verbrechen der Fahnenflucht nach § 69 Militärstrafgesetzbuch und weil es die Aufrechterhaltung der Manneszucht erfordert“. 282 Das Divisionsgericht wiederholte nach einiger Zeit die Aufforderung an die lokale Gendarmerie, Ermittlungen vorzunehmen und die eingegangene Feldpost zu beschlagnahmen. Etwa nach sechs Monaten erfolgloser Suche gab das Divisionsgericht den Ermittlungsakt an das Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin ab. 106 Peter Pirker <?page no="107"?> 283 GP Blons an die Gestapo/ Greko Bregenz, 5.5.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44; Gendarmeriekreis Bludenz an Gestapo/ Greko Bregenz, 9.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 284 Niederschrift, 10.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 285 Gendarmeriekreis Bludenz an Gestapo/ Greko Bregenz, 9.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 286 Zahlenangaben von Leonhard bzw. Delphina Burtscher. Leonhard Burtscher an das Franz. Kontroll‐ detachment zu Hd. Herrn Lt. Blondell, 28.11.1947. VLA, AVLReg IVa-168/ 418; Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 33. Dies geschah im Falle der Deserteursgruppe Sonntag im Jänner 1944. Der Zeitpunkt lässt sich an einer ergebnislos verlaufenden Hausdurchsuchung in Küngswald durch die Gendarmerie im selben Monat festmachen. Die Angehörigen gaben sich neuerlich ahnungslos. 283 Von Seiten des Berliner Gerichts erfolgten weitere Fahndungsaufträge; sie involvierten höhere Stellen, die Kriminalpolizeistelle und die Geheime Staatspolizeistelle in Innsbruck sowie die Abwehrstelle des Wehrkreises XVIII. Im Frühjahr 1944 stellte die Gestapo Bregenz einen Beamten ab, um die Erhebungen der Gendarmerie in Sonntag zu unterstützen. Die lokale Ursache dafür, dass der Fahndungsdruck konstant blieb und nicht wie in anderen Fällen, etwa in Krumbach und Langenegg, abflaute, waren neben der Auswahl der Gemeinde Sonntag für das Aufbauprogramm der Berglandwirtschaft wohl die wiederholten Behauptungen eines Nachbarn der Familie Burtscher, wonach sich die Söhne auf dem Hof aufhalten würden. Konkrete Anhaltspunkte dafür konnte er jedoch nicht liefern. Das bedeutete, dass die Deserteure sich diesem Informanten, mit dem die Familie seit einer länger zurückliegenden (unpolitischen) Auseinandersetzung keinen direkten Kontakt pflog, bislang nicht gezeigt hatten. Das änderte sich Anfang Juni 1944, als Wilhelm Burtscher mit ihm Verbindung aufnahm, um den Streit, der die Sicherheit der Deserteure bedrohte, beizulegen und ihn ins Vertrauen zu ziehen. 284 Aus Sicht Burtschers ging es wohl auch darum, den auf der Familie stark lastenden Druck zu verringern. Der Informant meldete die Kontaktaufnahme jedoch umgehend bei der Gendarmerie. Diese „neuerliche vertrauliche Mitteilung“ bot der Gendarmerie nun die Gelegenheit, gezielt vorzugehen. Der Gendarmerieführer des Kreises Bludenz, Franz Walch, beauftragte den Gendarmerieposten Blons mit einer „unauffälligen Überwachung“ des Burtscher-Hofes über mehrere Tage hinweg. Alles deutet darauf hin, dass diese Observierung vom Hof des Nachbarn aus erfolgte. Zugleich hielt der Informant den Kontakt zu Wilhelm Burtscher und lud ihn zu einem Gespräch ein, das von einem Beamten, wohl von Josef Burtscher selbst, mitgehört wurde. Dadurch wurde - wie im vorigen Kapitel bereits ausgeführt - erstmals bekannt, dass die drei Deserteure im Begriffe waren, als österreichische „Freiheitskämpfer“ aufzutreten. Wilhelm Burtschers Festnahme unterblieb vorerst. Der Plan sah vor, eine größere Gruppe von Gendarmen aus Bludenz und Feldkirch zusammenzustellen und alle drei Deserteure, die bewaffnet waren, gemeinsam zu fassen. 285 In der Nacht auf Sonntag, den 9. Juli, stieg der Trupp - zwischen 14 und 21 Mann stark 286 - unter Walchs und Burtschers Führung nach Küngswald auf und drang um fünf Uhr früh in das Haus ein. Die Gendarmen überwältigten die schlafenden Deserteure Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz sowie den Vater Franz Xaver Burtscher. Der dritte und älteste Deserteur, Leonhard Burtscher, befand sich nicht im Haus. Noch vor Ort wurden Wilhelm und Franz Flucht vor dem Krieg 107 <?page no="108"?> 287 Ebd. 288 Gendarmeriekreis Bludenz an Gestapo/ Greko Bregenz, 9.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 289 Ebd. Xaver Burtscher, bereits in Fesseln, von Gendarmen misshandelt. 287 Mit den Deserteuren abgeführt wurde wegen Flucht- und Verabredungsgefahr neben Franz Xaver Burtscher dessen jüngster Sohn, der 14-jährige Ignaz. Zum Schein holten Gendarmen an diesem oder dem folgenden Tag auch den Informanten vom Nachbarhof ab. Eine weitere Festnahme betraf Benjamin Bischof auf dessen Hof in Sonntag 14, den der Informant als Mitwisser und Helfer denunziert hatte. Alle Verdächtigen wurden im Gefängnis Bludenz in Einzelzellen zur Verfügung der Gestapo inhaftiert. Walch verfasste am selben Tag eine Anzeige bei der Gestapo Bregenz, in der er Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz neben Fahnenflucht auch dringend verdächtige, „der illegalen österr. Legion anzugehören u. als Angehörige derselben für ein selbstständiges, freies Österreich zu kämpfen bezw. zu arbeiten.“ 288 Franz Xaver, Ignaz und Delphina Burtscher (die wohl wegen ihrer Schwangerschaft zunächst nicht festgenommen worden war) sowie Benjamin Bischof legte er Beherbergung und Verpflegung der Deserteure zur Last. Bei der Hausdurchsuchung hatten die Gendarmen in der Kammer von Wilhelm Burtscher zwei Armeegewehre, eine Browning-Pistole, einen Trommelrevolver und 17 Gewehrpatronen sichergestellt. Wie Walch festhielt, wurden „sonstige Gegenstände u. Schriften, die auf eine illegale Betätigung usw. hinweisen“, nicht entdeckt. Über die Kleidung, in der die Deserteure offenbar auch abgeführt worden waren, schrieb er: „Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz trugen tagsüber und wenn sie in der Nacht das Haus des Franz Xaver Burtscher verliessen, ihre seinerzeit gefasste Uniform mit selbst aufgenähten Distinktionen der Freischärler, bezw. eines Legionärs (rote Spiegel mit 2 bezw. 3 aufgenähten Sternen, rot-weiss-rote Armbinden u. an der linken Brusttasche 2 aus Metall selbstangefertigte Abzeichen mit der Aufschrift ‚Mein Leben für Österreich‘ mit Edelweiss, bezw. das eine trägt den österr. Doppeladler). Wilhelm Burtscher trug ausserdem ein Abzeichen aus Metall, das mit Eichenkranz, österr. Doppeladler u. der Inschrift ‚Dir diente ich treu 1 Jahr‘ versehen ist. Diese Abzeichen wollen sie selbst angefertigt haben.“ 289 Er zitierte außerdem Ausrufe von Wilhelm Burtscher bei der Festnahme: „Wir kämpfen für ein freies Österreich, ich sterbe für Österreich.“ Walch nahm daher an, dass die Deserteure „mit irgendeiner illegalen Organisation in Verbindung stehen oder zumindest vom Vorhandensein einer solchen Kenntnis haben“. Die Befragung darüber hatte er jedoch der Gestapo zu überlassen. Franz Xaver, Delphina und Ignaz Burtscher hingegen hatte Walch bereits verhört. Sie hatten den Aufenthalt der drei Deserteure am Hof zugegeben, von einer politischen „illegalen Betätigung“ wollten sie jedoch nichts bemerkt haben - die Gefährlichkeit dieser Anschuldigung war ihnen bewusst. Sie begründeten die Nichtanzeige der Deserteure einerseits mit deren Drohungen und andererseits damit, dass es sich um engste Angehörige bzw. den Liebhaber gehandelt habe. Franz Xaver Burtscher betonte außerdem, seine Söhne mehrfach, aber erfolglos zum Wiedereinrücken gedrängt zu haben. Benjamin Bischof be‐ stritt bei seiner Festnahme jede Beteiligung und Mitwisserschaft. Walch lieferte der Gestapo 108 Peter Pirker <?page no="109"?> 290 Auf diese Drohungen wies Delphina Burtscher hin. Gamon/ Barnay (Hg.), Delphina Burtscher, 33. 291 Der Gesamtprozess, etwa die Reihenfolge der Einvernahmen, wurde ebenso wenig beschrieben. Er lässt sich nicht völlig gesichert feststellen - als Orientierung für die Rekonstruktion dienen äußere Merkmale wie das Datum der Festnahmen und der Protokolle, die Reihenfolge der Ablage im Akt, die Befragung zu Aussagen anderer Verdächtiger etc. Insgesamt möchte ich daran erinnern, dass bereits die Protokolle Verdichtungen von Aussagen durch die Vernehmenden waren, hier werden diese noch einmal selektiv wiedergegeben, wenn auch bewusst quellennah. 292 Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmungsniederschrift Benjamin Bischof, 10.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 293 Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmung Heinrich Ignaz Burtscher, 10.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. außerdem das Protokoll einer ausführlichen Aussage des Informanten vom 10. Juli 1944. Damit lag den Gestapobeamten Wilhelm Winkler und Emmerich Dünser erdrückendes Beweismaterial für die Einvernahmen vor. Deren Ziel war es, die Beschuldigten zu Geständnissen zu bewegen. Welche Mittel Winkler und Dünser dabei einsetzten, ist den von ihnen diktierten Protokollen nicht zu entnehmen. Spätere Darstellungen der überlebenden Befragten enthalten keine Hinweise auf die Anwendung direkter physischer Gewalt. Freilich war der gesamte Prozess von schweren Gewaltandrohungen gekennzeichnet. 290 Die Mitbeschuldigten belastete neben der kaum zu bestreitenden Unterstützung der Deserteure vor allem die im engeren Sinne politische Dimension der Vorwürfe. Diese abzuschwächen, lag im Interesse aller Befragten. Die Protokolle enthalten ausschließlich Wiedergaben des von den Verhörten Gesagten, die Fragen der Vernehmenden wurden nicht protokolliert. Der Verlauf eines Verhörs lässt sich daher nur immanent erkennen, an Brüchen in den Aussagen und an Themensetzungen. 291 Ein unmittelbares Interesse der Gestapo betraf den möglichen Aufenthaltsort des flüchtigen Leonhard Burtscher. Winkler nahm sich als ersten Benjamin Bischof vor, um seine Position der Leugnung jeder Mitwisserschaft zu brechen. Er war, auch darauf wurde weiter oben bereits hingewiesen, entfernt mit der Familie Burtscher verwandt, verheiratet und hatte vier Kinder im Alter von einem bis neun Jahren. Angesichts der Aussagen des Informanten gab er notgedrungen zu, dass er seit September 1943 von der Fahnenflucht der Burtscher-Brüder wusste, weil sie ihn auf seiner Alphütte aufgesucht hatten. Laut Protokoll hatten sie ihm bei einem zweiten, späteren Besuch von ihrer Absicht berichtet, eine Truppe zu bilden. Ihre Bitte um Unterstützung habe er abgelehnt. Zum Verbleib von Leonhard Burtscher schwieg er. 292 Als zweiten holte Dünser den 14-jährigen Ignaz zum Verhör. Dem umfänglichen Proto‐ koll zufolge beschrieb der Bub die Aufenthalte und die gelegentliche Mitarbeit der Brüder am Hof, manche Konflikte innerhalb der Familie und den strengen Auftrag der Brüder, über ihre Anwesenheit strikt zu schweigen. Er berichtete, dass er seine Brüder zu Hause und in den Wäldern in den veränderten Uniformen gesehen habe. Weitere Familienmitglieder belastete er nicht, nannte auch keine Verstecke oder weitere Involvierte. In der ersten Phase der Vernehmung verneinte er jedes Wissen über den Aufenthalt von Leonhard. Erst unter Druck gab er schließlich preis, dass seine in Sonntag verheiratete Schwester Paula Rützler darüber Bescheid wissen könnte oder Leonhards Geliebte Hermine Gassner, bei der er sich immer wieder aufgehalten habe. 293 Auf Basis der ersten Vernehmungen ordneten die Gestapobeamten die Festnahme der anderen in Sonntag lebenden Geschwister, Franz Josef, Delphina und Paula, sowie von Flucht vor dem Krieg 109 <?page no="110"?> 294 Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmung Paula Rützler, geb. Burtscher, 11.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 295 Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmungsniederschrift Martin Lorenz, 11.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Hermine Gassner an. Als erste von ihnen vernahm Winkler Paula Rützler, deren Mann in der Wehrmacht diente und Mitglied der NSDAP war. Sie hatte für zwei Kinder im Alter von vier und sechs Jahren zu sorgen und stand schon allein deswegen enorm unter Druck. Sie wollte erst im Winter 1943/ 44 durch Gerüchte von den Vorgängen erfahren haben. Der Vater habe, genauso wie Delphina, ihr gegenüber lange geschwiegen. Ignaz habe aber schließlich geredet und dann auch der Vater unter Tränen. Erst zu Ostern seien die Brüder bei ihr aufgetaucht. Sie habe ihnen Vorwürfe gemacht und Wilhelm hätte seine Entscheidung da schon bereut: „Er meinte, dass sie ein trauriges Dasein hätten und er wäre lieber an der Front.“ Er habe beteuert, nie etwas gestohlen oder gewildert zu haben. In der Folge seien sie noch einige Mal zu Besuch gekommen. Lebensmittel habe sie ihnen aber nie mitgegeben. Ihre Geheimhaltung begründete sie damit, dass sie sich mit den Brüdern immer gut verstanden habe: „Ich […] konnte eine Erstattung der Anzeige schon aus diesem Grunde nicht übers Herz bringen, weil ich ja wusste, dass es ihnen um den Kopf ginge.“ 294 Unterdessen hatte Winkler auch die in Schruns verheiratete Schwester Juliana Stemmer festnehmen lassen und verhörte sie im lokalen Amtsgerichtsgefängnis. Zuhause warteten sechs Kinder im Alter zwischen 13 Monaten und 13 Jahren auf sie, ihr Mann war in Stalingrad vermisst. Sie war Mitglied der NS-Frauenschaft und von der Fürsorge des Systems vollständig abhängig. Laut Protokoll hatte sie im Juni 1944 mit ihren kleinsten Kindern einige Wochen im Elternhaus in Küngswald verbracht, wo ihr Delphina auf Nachfrage anvertraute, dass die vermissten Brüder oft auf den Hof kamen und sie ein Liebesverhältnis mit Martin Lorenz pflege. In der Folge begegnete Juliana ihren Brüdern im Haus. Auf die Frage nach der Bedeutung der roten Kragenspiegel an ihren Uniformen habe sie die Antwort erhalten, dass sie einer geheimen militärischen Organisation angehörten. Juliana Stemmer geriet demnach mit den Brüdern in Streit und kehrte nach Schruns zurück. Als Grund gab sie an: „Da ich und der Bruder Karl im Reservelazarett Feldkirch als einzige Familienmitglieder nat.soz. Gesinnung sind, hatte ich mit Leonhard und Wilhelm während meiner Anwesenheit in Küngswald polit. Auseinandersetzungen. In diesem Zusammenhang sagte mein Bruder Leonhard, daß ‚braun‘ schlecht sei und daß es den so Gesinnten nach dem Krieg nicht gut gehen werde.“ Mit diesen Aussagen wurde wenige Stunden später Martin Lorenz konfrontiert. Er gestand die Beziehung zu Delphina und beschrieb die Aufforderung zum Desertieren durch die Brüder. Er habe ihrem Drängen nur nachgegeben, um Delphina nicht alleine zu lassen, belastete sie aber nicht, ihn überredet zu haben. Als ihre angeblichen Worte beim (nicht vollzogenen) Abschied gab er wieder: „Ich will Dir weder das eine noch das andere anraten.“ Über die Diskussionen mit den Brüdern Burtscher zur Kriegslage überlieferte er deren Aussage: „Wer jetzt noch an einen deutschen Sieg glaubt, der ist hirnverbrannt.“ Die Neujustierung der Uniformen bestätigte er, schloss aber Verbindungen zu anderen illegalen Organisationen aus und bezeichnete die Sache als „Spielerei“. 295 Relativ knapp fiel das Protokoll der Einvernahme des Vaters der Deserteure, Franz Xaver Burtscher, aus. Er belastete keine weiteren Personen und beteuerte nur, dass ihn 110 Peter Pirker <?page no="111"?> 296 Gestapo/ Greko Bregenz, Vernehmung Franz Xaver Burtscher, 11.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 297 Gestapo/ Greko Bregenz, Einvernahme Hermina Gassner, 11.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. an der Fahnenflucht der Söhne keine Schuld treffe, da er sie stets gedrängt habe, wieder einzurücken, von ihnen aber bedroht worden sei, sollte er Anzeige erstatten. Zugleich verwies er auf seine väterliche Bindung an die Söhne. 296 Zu den Personen, welche die Gestapo am 11. Juli vernahm, zählte auch Hermine Gassner, von der man annahm, dass sie Leonhards Versteck kannte. Die noch bei ihren Pflegeeltern in Sonntag lebende 23-jährige Hausgehilfin schilderte, dass sie mit den Burtscher-Kinder seit Jugendtagen befreundet war. Als sie im Herbst 1943 aushilfsweise am Burtscher- Hof arbeitete, habe sie eines Nachts die Brüder und Martin Lorenz angetroffen. Wilhelm Burtscher habe ihr untersagt, Fragen zu stellen, da sie ja keinem Menschen etwas zu leide tun würden. „Unser Prinzip ist nur, dass wir die Heimat schützen“, überlieferte sie Wilhelms Erklärung. Erst auf Vorhalt gab sie zu, dass Wilhelm und Leonhard sie manchmal in ihrem Elternhaus besucht hatten. Eine Liebschaft mit einem der Brüder bestritt sie vehement - ihre Schwangerschaft rühre von einer Zufallsbekanntschaft mit einem deutschen Soldaten namens Franz Meier her, den sie in Bludenz im Kino kennengelernt habe. Auch sie belastete keine weiteren Personen. Hermine Gassner begründete die Nichtanzeige der Deserteure mit einem Gelöbnis, das sie ihren Jugendfreunden gegenüber abgelegt habe. 297 Zur Überprüfung ihrer Angaben holte Winkler am nächsten Tag zuerst Wilhelm Burtscher aus der Zelle, danach vernahm er noch einmal Hermine Gassner, dann befragte Dünser den Bruder Franz Josef Burtscher und wohl als letzte Delphina. In welchem Gemütszustand sich Wilhelm Burtscher, der Initiator des Geschehens, drei Tage nach der Festnahme befand, kann nur vermutet werden. Er entlastete gleich zu Beginn seinen Vater. Er sei gegen dessen Willen geblieben. Dann engte er den Unterstützerkreis ein. Gelebt hätten sie ausschließlich von den Lebensmittelvorräten des Vaters, versorgt worden seien sie stets von Delphina und Ignaz. Wilhelm Burtscher belastete ausschließlich die minderjährigen Mitglieder der Familie, von denen er hoffen konnte, dass sie nicht wie Erwachsene bestraft werden würden. In der Folge wurde er mit den bisher gesammelten Aussagen konfrontiert. Als erstes zu Hermine Gassner befragt, datierte er ihren Aufenthalt am Burtscher-Hof auf Anfang des Jahres 1944. Zu dieser Zeit habe Leonhard mit ihr ein Liebesverhältnis begonnen. Danach entlastete er seine Schwestern Paula, die sie nie mit Lebensmittel versorgt habe, und Juliana, von der sie ebenfalls keinerlei Unterstützung bekommen hätten. Über seinen Bruder Franz Josef gab er zu Protokoll, dass dieser sie gar nie gesehen und daher nichts über ihren Verbleib gewusst habe, überhaupt könne man sich gegenseitig nicht gut leiden. Auch der vierte Bruder, Karl, der sich im Lazarett in Feldkirch befand, wusste laut Wilhelm nichts von ihrem Aufenthalt: „Uns lag daran, daß gerade er nichts von unserer Anwesenheit erfuhr, da er nat.soz. gesinnt ist und uns bestimmt angezeigt hätte.“ Die Besuche bei Benjamin Bischof stellte er weitgehend übereinstimmend mit dessen Angaben dar. Die dabei getroffenen Behauptungen, Verbindungen zu einer Widerstandsorganisation zu haben, sollten Bischof beeindrucken. Dann wurde Wilhelm Burtscher zur „österr. Freiheitsarmee“ befragt. Er bestritt, die Kontaktaufnahme zu anderen Widerstandsgruppen geplant zu haben, sagte aber auch: „Einen Scherz hatten wir mit der Flucht vor dem Krieg 111 <?page no="112"?> 298 Gestapo/ Greko, Vernehmungsniederschrift Wilhelm Burtscher, 12.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 299 Gestapo/ Greko, Vernehmungsniederschrift Hermine Gassner, 12.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 300 Gestapo/ Greko, Vernehmungsniederschrift Franz Josef Burtscher, 12.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Sache nicht beabsichtigt.“ 298 Über den möglichen Aufenthaltsort von Leonhard behauptete er, nichts zu wissen. Erst mit den Aussagen von Wilhelm Burtscher konfrontiert, gab Hermine Gassner die Beziehung mit Leonhard zu und dass sie ihr Kind von ihm erwarte. Während ihres Aufenthalts am Burtscher-Hof Anfang 1945 habe sie die Deserteure fast täglich gesehen und der Kommandant der Gendarmerie Blons, Josef Burtscher, habe damals versucht, sie für Spitzeldienste zu gewinnen. Sie gab auch zu, dass sie Leonhard am Tag nach den Verhaftungen noch einmal getroffen und ihn über die Vorgänge informiert hatte. 299 Franz Josef Burtscher, der als nächster einvernommen wurde, erklärte zu Beginn, dass er Zellenleiter der NSDAP in der Parzelle Seeberg in Sonntag, aber nicht Mitglied der NSDAP war. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Er versuchte sich möglichst fern vom Geschehen zu positionieren, indem er ein immer schon gespanntes Verhältnis zu seinem Vater und seinen desertierten Brüdern in den Vordergrund rückte, was die Aussagen Wilhelms bestätigte. Neben persönlichen führte er auch politische Differenzen an: „Ich bin nämlich ganz anderer Gesinnung wie mein Vater. […] Mein Vater war früher auch immer nationalsozialistisch eingestellt, hat sich dann aber ziemlich rasch mit seiner Gesinnung geändert.“ 300 Er blieb auch nach Vorhalt der Lüge dabei, seine Brüder nie gesehen oder unterstützt zu haben. Die hochschwangere Delphina Burtscher unterschied sich in ihrer Darstellung von Martin Lorenz, der die (männliche) Letztentscheidung beansprucht hatte. Sie betonte ihren Einfluss auf ihn und versuchte ihn - stark dem fürsorglichen Muster ihrer gesamten Aussage folgend - zu entlasten: „Ich redete […] auf Lorenz ein, er solle bei uns bleiben und solle auf keinen Fall mehr einrücken. Lorenz zeigte aber keine Lust hier zu bleiben und äusserte immer wieder, dass es ihm zu gefährlich sei und es könne doch aufkommen und ausserdem würden dann wir alle schwer hineinfliegen. Ich redete dann aber immer wieder auf Lorenz ein, er solle doch hier bleiben und nicht mehr in den Krieg gehen.“ Delphina beschrieb ihre Rolle auf dem Hof als eine Art Ersatz für die verstorbene Mutter. Da sie den Haushalt führte, verköstigte sie über den Winter 1943/ 44 auch täglich die drei Deserteure. Begaben sich die drei auf das Maisäß, packte sie ihnen Käse, Butter und Brot ein, „sodass sie wieder auf einige Tage zu leben hatten.“ In politischer Hinsicht entsprach sie - ob vorgetäuscht oder nicht - dem Klischee einer naiven, unwissenden und nichts wissen wollenden jungen Frau. Sie schilderte ihre Mithilfe bei der Anfertigung der Kragenspiegel - worum es sich dabei gehandelt habe, sei ihr nicht bewusst gewesen. Bemerkenswert ist der letzte Abschnitt des Protokolls. Delphina bezichtigte sich neuerlich als hauptverantwortlich für die Desertion von Martin Lorenz. Sie habe bereits im August 1943 geglaubt, schwanger zu sein: „Abschließend möchte ich noch angeben, dass ich sicher viel Schuld daran habe, dass Lorenz fahnenflüchtig geworden ist, da ich zu sehr auf ihn einredete, er solle nicht mehr einrücken 112 Peter Pirker <?page no="113"?> 301 Gestapo/ Greko Bregenz, Einvernahme Delphina Burtscher, 12.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 302 GP Blons, Niederschrift, 20.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. und sich bei mir aufhalten. […] Ich war dann der Meinung, dass ich mich als Mutter fühle. Schon aus diesem Grunde trat ich an Lorenz heran, und überredete ihn, er solle nicht mehr zu seinem Truppenteil zurückkehren. Schließlich brachte ich es doch fertig, und Lorenz wurde fahnenflüchtig. Es stellte sich dann später aber doch heraus, dass ich nicht schwanger war, doch war an eine Rückkehr des Lorenz zur Truppe nicht mehr zu denken, da er sich ja schon in der Strafe befand.“ 301 Einvernommen wurde in diesen Tagen in Schnifis noch die Mutter von Martin Lorenz, Maria Lorenz. Sie blieb auf freiem Fuß. Ihr konnte zwar nachgewiesen werden, dass sie von der Fahnenflucht des Sohnes gewusst hatte, weitere Hilfe jedoch nicht. Damit waren die Einvernahmen der Festgenommenen vorläufig abgeschlossen. In den folgenden Tagen wertete Winkler die Ermittlungsergebnisse aus. Die Gendar‐ merie Blons wurde ergänzend beauftragt, die Ehefrau von Benjamin Bischof und die Zieheltern von Hermine Gassner zu befragen. Die Einvernahmen ergaben keine weiteren Erkenntnisse. Bände sprach das Protokoll der Einvernahme von Ilga Bischof, der ebenfalls hochschwangeren Ehefrau von Benjamin Bischof, über Burtschers Dienstausübung. Er protokollierte ihre diesbezüglich erhellende Aussage: „Wenn diese meine Aussagen nicht genügen sollten, und ich eventuell mit oder ohne Vorladung nochmals einvernommen werden sollte, so gebe ich dann alles zu was man mich fragt bezw. von mir verlangt, ob die Angaben dann wahr oder unwahr sind ist mir gleichgültig.“ 302 Zusammenfassend zeigen die Einvernahmen die äußerst schwierige, mehr als prekäre Existenz einer kleinen Gruppe von Wehrmachtsdeserteuren selbst in einem an sich güns‐ tigen Umfeld eines abgeschiedenen Zufluchtsorts mit selbstständiger Grundversorgung. Nach monatelangem Leben im Verborgenen, angesichts innerfamiliärer Spannungen, der Schneeschmelze und wohl auch der Tatsache der beiden Schwangerschaften, führte letztlich der Drang, diese beklemmende Situation zu überwinden, zu ihrer Festnahme. In den Ein‐ vernahmen versuchten die Hauptbeschuldigten zwar die Konsequenzen der Aufdeckung für ihre Helfer*innen abzumildern, durch die Vielzahl der Verhöre und die Widersprüche, die sich dabei auftaten, fiel es den Gestapobeamten jedoch leicht, umfassende Geständ‐ nisse zu erhalten. Wilhelm Burtscher und auch andere versuchten, das nachweisbare Vorhaben, eine bewaffnete Gruppe zu bilden, auf ein bloßes „Sicherheitsprojekt“ für sich und ihre Umgebung einzuschränken. Während Lorenz und die meisten Mitwisser*innen dem Unterfangen die Ernsthaftigkeit absprechen wollten, beharrte Wilhelm Burtscher aber darauf, dass es sich nicht um „Spaß“ oder Zeitvertreib gehandelt hatte. Die Ablehnung des Nationalsozialismus, des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich und der weiteren Kriegsführung treten als Positionen der Deserteure, jedenfalls der Burtscher- Brüder, deutlich hervor. Momente resistenten Verhaltens sind selbst unter dem Druck der Gestapo bei fast allen Einvernommenen zu erkennen, insbesondere bei Wilhelm Burtscher, der zu seinem Entwurf der Selbstermächtigung und Selbstverteidigung stand; bei Hermine Gassner, der Freundin seines Bruders Leonhard, die diesem nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft weiterhin Zuflucht bot; bei Ignaz Burtscher, der im ersten Flucht vor dem Krieg 113 <?page no="114"?> 303 Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 36. 304 Gestapo/ Greko Bregenz an Generalstaatsanwalt Innsbruck, 26.7.1943. VLA, LGF KLs 52/ 44. 305 Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 36. 306 Bestätigung, 31.1.1960. VLA, AVLReg IVa-168/ 418. Durchgang wenig preis gab und seinen flüchtigen Bruder schützte; bei Delphina Burtscher, die unmittelbar nach ihrer Entlassung aus der U-Haft Leonhard wieder verköstigte. 303 Die Einvernommenen erkannten richtig, dass Wilhelm Burtscher nicht mehr zu retten war, entsprechend wurde er am stärksten belastet. Das Interesse der Gestapo Bregenz am Fall scheint überschaubar gewesen zu sein - nach dem Abschluss der Einvernahmen folgten keine weiteren Ermittlungen. In Schutzhaft genommen wurde einzig die ukrainische Zwangsarbeiterin Natalje Sadonwikowa, die bis Oktober 1943 am Burtscher-Hof im Einsatz gewesen war. Die Gestapobeamten gelangten zur Einschätzung, dass die Deserteure von Sonntag isoliert gehandelt hatten und von ihnen keine Gefahr für den NS-Staat ausging. Sie trauten ihnen - wohl auch basierend auf Vorurteilen - keine organisatorische Tätigkeit zu. - 6.2 Außerjuristische Verfolgung: Züge von Sippenhaft, rassistische Sonderbestrafung Gefährlich war in den Augen der Gestapo, der Reichsstatthalterei in Innsbruck sowie des Wehrkreiskommandos XVIII in Salzburg, dass lange gelingende Fahnenfluchten aufgrund von familiärer Solidarität unter den bergbäuerlichen Soldaten im Reichsgau Tirol und Vorarlberg Beispielwirkung entfalten konnten. Hier lag im Sommer 1944 die mit Gegen‐ maßnahmen zu bekämpfende, regionale politische Sprengkraft der Deserteursgruppe Sonntag und ähnlich gelagerter Fälle. Mit dieser Einschätzung korrespondiert die außergerichtliche Kollektivbestrafung der Familie Burtscher, die der Bericht des Grenzpolizeikommissariats Bregenz an den General‐ staatsanwalt dokumentiert. Die Staatspolizeistelle Innsbruck ordnete unmittelbar nach den Verhaftungen in Rücksprache mit Gauleiter Franz Hofer die vorläufige Beschlagnahmung des Hofs bis zur Durchführung eines möglichen Enteignungsverfahrens an. Mit der Abwicklung wurde die Kreisleitung der NSDAP in Bludenz beauftragt. 304 Allerdings kam es zu keiner regulierten Besitzübertragung, sondern vielmehr zu einer Plünderung des Hofes. Als Delphina Burtscher nach der Entlassung aus der U-Haft am 25. August 1944 nach Hause zurückkehrte, musste sie das behördlich gesperrte Anwesen auf Anweisung des Bürgermeisters binnen Tagen wieder verlassen. 305 Die Kreisleitung der NSDAP in Bludenz dürfte der Ortsgruppe in Sonntag, deren Leiter der Bürgermeister war, dann freie Hand bei der Verteilung des Viehs, der Möbel und sonstigen Fahrnis gegeben haben. Sechzehn Jahre später - nun unter gänzlich anderen Bedingungen - sollte der ehemalige Bürgermeister erklären, dass „Haus und Stall“ von einzelnen Bauern „ausgeräumt“ worden waren. 306 Unseren Recherchen zufolge, handelte es sich um den ersten - und einzigen - Vorarl‐ berger Fall einer extralegalen Kollektivbestrafung einer Familie von Deserteuren, deren Mitglieder zugleich individuell juristisch verfolgt wurden. Sie hat zweifelsfrei als „Sippen‐ haft“ zu gelten, da die Maßnahme bereits vor den Gerichtsurteilen verhängt wurde und trotz 114 Peter Pirker <?page no="115"?> 307 Das Ermittlungsverfahren gegen Franz Josef und Ignaz Burtscher wurde Ende Oktober aus verschie‐ denen Gründen eingestellt. Siehe dazu den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Band. 308 Pirker/ Kramer, Alpensöhne, 158. 309 Gesetz für die Landbeschaffung für die Zwecke der Wehrmacht vom 29.3.1935, RGBl. I, 467; TLA, Rückstellungskommission LG Innsbruck, RK 232/ 48. 310 Ebd. 311 Ebd. 312 Erinnerungen von Heinrich Mandlez nach seinem eigenen Diktat aus der Zeit 1938-1945 [unda‐ tiert]. TLA, HS 7063. Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Christian Mathis. Vgl. zu Mandlez: Christian Mathis/ Hilde Strobl, Vom Gauhaus zum Landhaus. Ein Tiroler NS-Bau und seine Geschichte, Innsbruck 2021. der Einstellung juristischer Verfahren gegen zwei Familienmitglieder bestehen blieb. 307 Wie kam es dazu? Festzuhalten ist zunächst, dass aus dem selben Zeitraum ( Juli 1943) zwei ähnliche Fälle in der Tiroler Gemeinde Pfunds aktenkundig sind. Dort waren Deserteure aus zwei Bauernfa‐ milien in die Schweiz geflüchtet. 308 Für diese beiden Höfe ist nach der Beschlagnahmung ein auf damalige Gesetze gestütztes Enteignungsverfahren nachweisbar. 309 Die Höfe wurden auf Antrag der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft als Ersatzanwesen für Umsiedlerfami‐ lien aus Südtirol enteignet. Im Antrag hieß es, dass die Familien der Deserteure „sich mit der großen Schicksalsgemeinschaft auch in dieser schweren Zeit der Entscheidung nicht verbunden“ fühlten. 310 Etwa ein Jahr später erließ der Reichsstatthalter für Tirol und Vorarlberg, Franz Hofer, das Enteignungserkenntnis. In der Begründung verwies Hofer darauf, „daß sich der Hofeigentümer durch seine aus Anlaß der Fahnenflucht seines Sohnes an den Tag gelegte Haltung von der großen Schicksalsgemeinschaft des Deutschen Volkes ausgeschlossen habe und daher nicht würdig sei, Grenzbauer im Grenzbezirk Landeck zu sein.“ 311 Die Enteignungsmaßnahmen hingen mit dem merkbaren Anstieg von Desertionsfällen einheimischer Bauernsöhne im Frühsommer 1943 nach den verheerenden Niederlagen der Wehrmacht an der Ostfront und der Landung der Alliierten auf Sizilien zusammen, der oben auch für Vorarlberg bereits nachgewiesen wurde. Diese für das Wehrkreiskommando XVIII, den Reichsstatthalter und die Gestapostelle Innsbruck äußerst unangenehme Entwicklung zeitigte verschiedene Reaktionen. Hier sollen kurz die Überlegungen zu Gegenmaßnahmen außerhalb der Wehrmachtsjustiz geschildert werden. Einen Einblick gewähren die schrift‐ lichen Erinnerungen von Heinrich Mandlez, eines engen Vertrauten Hofers und Leiters der Geschäftsstelle des Amts für Agrarpolitik im Gauamt Tirol-Vorarlberg. 312 Diesen zufolge kam es wegen der hohen Zahl von Deserteuren in Tirol und Vorarlberg zu einer Besprechung mit dem stellvertretenden Gauleiter Herbert Parson und Offizieren des Generalkommandos des Wehrkreises XVIII in Salzburg, zu der auch er hinzugezogen wurde. Die Offiziere legten Listen von Deserteuren vor, überwiegend Bauern und Bau‐ ernsöhne aus dem oberen Inntal, dem Zillertal und den Vorarlberger Landgemeinden. Um das Desertionsgeschehen zu bekämpfen, erwog das Werkreiskommando XVIII nach Mandlez’ Darstellung eine Urlaubssperre für Soldaten aus dem gesamten Wehrkreis. Er habe dagegen vorgeschlagen, den Besitz der fahnenflüchtigen Bauern zu enteignen und Südtiroler Umsiedler*innen zu übergeben. Hofer sei als Reichsverteidigungskommissar damit einverstanden gewesen. Nur wenige Tage später habe ein Rundschreiben alle Flucht vor dem Krieg 115 <?page no="116"?> 313 Erinnerungen von Heinrich Mandlez nach seinem eigenen Diktat aus der Zeit 1938-1945 [undatiert]. TLA, HS 7063. 314 Die Zeitangabe stimmt exakt mit den Verhaftungen am Burtscher-Hof überein. Für Bartholomäberg waren keine Verhaftungen feststellbar. 315 Diese Ortsangabe war nicht verifizierbar. In Bartholomäberg existiert sie nicht. 316 Dies traf zu, aber auch Sonntag wurde im Juni 1944 in das Aufbauprogramm miteinbezogen. Siehe Kasper, Montafon; Siegl, Bergbauern, 227. Der Brand eines Hofs im Sommer 1943 mit anschließendem Wiederaufbau konnte für Bartholomäberg nicht nachgewiesen werden. 317 Trotz intensiver Recherchen konnte für Bartholomäberg kein ähnlicher Desertionsfall nachgewiesen werden. Dank an die Gemeinde Bartholomäberg und Michael Kasper. involvierten Dienststellen der Gauverwaltung und des Wehrkreises XVIII, Kreisleiter, Landräte und Kreisbauernführer informiert, dass er mit der Einleitung der nötigen Schritte beauftragt worden sei. Mandlez schrieb über die Durchführung: „In der Folge wurden dann einige Enteignungen eingeleitet. Effektiv durchgeführt wurden aber nur 2 Fälle im oberen Inntal. Aber die pressemäßige Auswertung dieser Fälle war groß genug und hat nach meiner Meinung die Wirkung nicht verfehlt.“ 313 Mandlez Ausführungen bestätigen die Ergebnisse unserer Recherchen. Im Fall des Burt‐ scher-Hofs erklären sie auch, warum die Vollziehung der Enteignung und Übertragung letztlich unterblieb. Zustand und Lage des Hofs dürften für die Ansiedlung von Südti‐ roler*innen zu wenig attraktiv gewesen sein. Zu beachten ist beim folgenden Zitat, dass Mandlez hier ziemlich sicher Gedächtnisfehler unterlaufen sind oder er mehrere Fälle miteinander vermischte - der Burtscher-Hof ist darin aber trotzdem eindeutig zu erkennen: „Nun kam aber ein sehr kritischer Fall an mich heran. An einem Sonntag Vormittag rief mich Kreisleiter Richter aus Bludenz an und teilte mir fernmündlich mit, daß man heute früh die drei Deserteure am Bartholomäberg ausgehoben habe. 314 Es hielten sich zwei Söhne des Hauses und der Schwiegersohn am Hof verborgen, man fand offenbar noch Waffen bei ihnen. […] Richter meinte, hier würde nun wieder ein Hof frei für Südtiroler Umsiedler. Allerdings fügte er hinzu, es handle sich um einen Hof, der in einem äußerst schlechten Zustand sei, und außerdem sei es der höchstgelegene Hof am Söllerberg 315 . Man könne es einer Südtiroler Familie nicht zumuten, in dieses verfallene Haus einzuziehen. Ich gab Richter zur Antwort: ‚Ja meinetwegen zündet den Hof an. Bartholomäberg ist ohnehin Aufbaugemeinde. 316 Wir bauen dann einen neuen Hof und setzen eine Südtiroler Familie ein.‘ Wie ich erst nachträglich erfahren habe, hat man an jenem Sonntag Abend den Hof angezündet und eine Art Freudenfeuer errichtet. Trotzdem ich über dieses Ferngespräch zum Unterschied von Richter keine Zeile geschrieben habe, hat offenbar der Kreisleiter einen Aktenvermerk über dieses Gespräch gemacht […].“ 317 Der Kreisleiter von Bludenz, Wernfried Richter, fertigte also über das Gespräch eine schriftliche Notiz an. Daher ist es denkbar, dass er den Inhalt sinngemäß an Bürgermeister betroffener Gemeinden weitergab und diese das Drohszenario noch ausschmückten. Delphina Burtscher schrieb nämlich in ihren Erinnerungen: „Dann kam vom Gauleiter Hofer aus Innsbruck und vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler der Befehl, dass Häuser von Deserteuren angezündet werden müssen und alle Leute, die heraus kämen, 116 Peter Pirker <?page no="117"?> 318 Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 33. 319 Gestapo/ Greko Bregenz, 26.6.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 320 Hs 11 Gefangenenbuch 1941-1944, 3172. VLA, BG Bregenz; TLA, Bundespolizeidirektion Innsbruck, Haftkartei, Karton 20. Herzlichen Dank an Sabine Pitscheider für diese Information. 321 Barnay, Ein Urteil, 76-78. solle man erschießen. Der Bürgermeister, der darüber informiert war, erklärte sich nicht damit einverstanden und sagte, das könne man nicht machen, da noch zwei Brüder im Krieg seien.“ 318 Das Beispiel führt drastisch vor Augen, mit welch beängstigenden, ja lebensgefährlichen Bedrohungen sich Angehörige von Deserteuren konfrontiert sahen. Umso mehr ist bei Del‐ phina und Ignaz Burtscher sowie Hermine Gassner widerständiges Handeln zu erkennen, wenn sie nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft ihrem Bruder bzw. Geliebten Leonhard weiterhin gelegentlich Hilfe angedeihen ließen. Die Verfolgung der Deserteure in Sonntag offenbart zudem einen zweiten - von Ras‐ sismus geprägten - Aspekt extralegaler Bestrafung von Involvierten. Im selben Schreiben an die Gendarmerie Blons, in dem die Gestapo Bregenz die Einvernahme von Ilga Bischof anordnete, verfügte sie auch die Festnahme der ukrainischen Zwangsarbeiterin Natalje Sadonwikowa. Sie war von Mai bis Oktober 1943 dem Burtscher-Hof zugeteilt gewesen und nun bei einem anderen Landwirt eingesetzt. Der Informant hatte sie schon früher erwähnt, in den Einvernahmen war sie mehrfach vorgekommen und es stand der Verdacht eines (verbotenen) Verhältnisses mit Wilhelm Burtscher im Raum. Winkler hatte Burtscher selbst dazu nicht befragt oder er hatte es bestritten und es wurde nicht ins Protokoll aufgenommen. Unabhängig davon stand für die Gestapo fest, dass Natalje Sadonwikowa in die Vorgänge am Burtscher-Hof eingeweiht gewesen sein musste. Einem älteren Bericht des Gendarmeriepostens Blons ließ sich aber entnehmen, dass Sadonwikowa im Oktober 1943 gegenüber Postenführer Josef Burtscher zweimal die Anwesenheit der Deserteure geleugnet hatte - obwohl sie nicht mehr am Hof lebte, weil ihr Arbeitgeber Franz Xaver Burtscher ihr angeblich nachgestellt hatte. Natalje Sadonwikowa wurde festgenommen und am 21. Juli 1944 in das Polizeigefängnis Bregenz eingeliefert. Sie war 19 Jahre alt und stammte aus Simferopol. Als Zwangsarbeiterin war sie rechtlos; sie wurde daher „staatspolizeilich behandelt“. 319 Am 11. August überstellte sie das Greko Bregenz an die Gestapo Innsbruck, von der sie aus dem Polizeigefängnis Innsbruck am 26. August 1944 wiederum nach Jenbach überstellt wurde, vermutlich in das Frauen-Arbeitserziehungslager der Gestapo bei den Heinkelwerken. 320 Sie ist die einzige der Festgenommenen, von der wir nicht wissen, was mit ihr weiter geschah. - 6.3 Deserteure vor Gericht 6.3.1 Vor dem Reichskriegsgericht - Die Dämonisierung des Deserteurs Wilhelm Burtscher Die neu aufgefundenen Anklage- und Urteilsschriften gegen Wilhelm Burtscher und Martin Leonhard erlauben es, offen gebliebene Fragen zu ihrer Verurteilung durch das Reichskriegsgericht einschließlich der Konsequenzen zu beantworten. 321 Es handelte sich um den einzigen Prozess des Reichskriegsgerichts gegen Vorarlberger Deserteure. Es zog das Verfahren gegen die Genannten, die deswegen von der Haftanstalt Feldkirch in Flucht vor dem Krieg 117 <?page no="118"?> 322 Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, 112. 323 Gestapo/ Greko Bregenz, Ermittlungsbericht, 26.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 324 Martin Rittau (* 14.7.1887) war ein prominenter Militärjurist. Selbst zwar nicht Mitglied der NSDAP, sah er es als Pflicht jedes Richters an, „auch die alten Vorschriften im Geist der nationalsozialisti‐ schen Rechtserneuerung auszulegen und fortzubilden“. Von ihm stammte ein weithin genutzter Kommentar zum Militärstrafgesetzbuch. Obwohl für viele Todesurteile mitverantwortlich, machte er in der Bundesrepublik Deutschland neuerlich Karriere. Als Referent im Innenministerium war er in der Abteilung „Wiedergutmachung“ für Entschädigungen von Beamten zuständig, die während der NS-Herrschaft entlassen worden waren. Lars Büchel, Ein ehemaliger Oberkriegsgerichtsrat in der Abteilung „Wiedergutmachung“, URL: https: / / ausstellung.geschichte-innenministerien.de/ biogr afien/ martin-rittau/ (abgerufen 28.7.2023). 325 Die Niederschriften existieren nicht mehr. Der Oberreichskriegsanwalt, Anklageschrift gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 12.8.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 326 Büchel, Ein ehemaliger Richter. die Wehrmachthaftanstalt Linz überstellt wurden, bereits am 21. Juli 1944, nach Erhalt des Berichts des Gendarmerieführers des Kreises Bludenz, Franz Walch, an sich. 322 Aus dem Ermittlungsbericht Winklers vom 26. Juli 1944 wiederum erfuhr der Oberreichskriegs‐ anwalt von dem unvollständigen und bruchstückhaften „Brief “ an die „Österreichische Staadtsführung [sic]“, dessen Verfasser angeblich Wilhelm Burtscher war. 323 Obwohl dieses im vorigen Kapitel bereits ausführlich diskutierte Schriftstück weder im Bericht von Walch über die Festnahmen und die Hausdurchsuchung noch in den Einvernah‐ meprotokollen der Gestapo aufschien, erkor es der Staatsanwalt des Reichskriegsgerichts in Torgau, Oberkriegsgerichtsrat Martin Rittau, zum zentralen Dokument für die Anklageer‐ hebung. 324 In der kurzen Zeit bis zur Vorlage der Anklageschrift am 12. August 1944 fanden keine weiteren Ermittlungen mehr statt. Es blieb bei den gerichtlichen Vernehmungen der beiden Angeklagten. Beide Beschuldigten zeigten sich „im wesentlichen geständig“. 325 Abgesehen von der instrumentalisierenden Aufwertung des Briefs wich die Anklageschrift inhaltlich nur noch in einem Detail von den Ermittlungsergebnissen, wie sie die Polizei festgehalten hatte, ab: Martin Lorenz bestritt bei der gerichtlichen Vernehmung, „von einer ‚Österreichischen Freiheitsbewegung‘ Kenntnis erhalten zu haben“. Er behauptete nun, die Abzeichen erst bei der Festnahme an seiner Uniform bemerkt zu haben, was der Ankläger als unglaubwürdig beiseiteschob. Es wäre überraschend, wenn ausgerechnet der Ankläger Martin Rittau eine nuancierte Interpretation des „Bittschreibens“ an die österreichische Staatsregierung vorgenommen hätte. Das Gegenteil war der Fall: Rittau interpretierte es ganz im Sinne einer von ihm selbst geforderten Auslegung im „Geist der nationalsozialistischen Rechtserneuerung“. 326 Er benutzte es zur Dämonisierung von Wilhelm Burtscher. Ob absichtlich oder nicht, Rittau konstruierte auf Basis des Faktums, dass sich der Name „Franz Josef Burtscher“ auf der im Bittschreiben enthaltenen Liste der später zu Bestrafenden fand sowie der ihm vorliegenden Niederschrift der Einvernahme des Bruders Franz Josef Burtscher eine - nicht existierende - Identität: „An der Spitze derjenigen, die Wilhelm Burtscher der Todesstrafe für würdig hielt, steht sein Bruder Franz Josef Burtscher, der bis zum 8.7.1942 der Wehrmacht, zuletzt als Obergefreiter, angehört hat, seitdem u.k.-gestellt ist und in Seeberg, Gemeinde Sonntag, wohnt. Hier ist er Zellenleiter der NSDAP und wegen seiner nationalsozialistischen Gesinnung sowohl seinem Vater auch seinen Brüdern Wilhelm und Leonhard seit langem verhaßt.“ 118 Peter Pirker <?page no="119"?> 327 Auch darin hatte das RKG viel Übung. Vgl. zur systematischen sozialen Abwertung und Einstufung der Angeklagten als „Kommunisten“ beim größten Prozess des RKG in Österreich bis 1941: Peter Pirker, Gegen das „Dritte Reich“. Sabotage und transnationaler Widerstand in Österreich und Slowenien 1938-1940, Klagenfurt 2010, 222-223; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, 126. 328 RKG, 4. Sen. 89/ 44, Feldurteil gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 13.10.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 329 RKG, II 342/ 44, Anklageverfügung gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 12.8.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 330 Bei der Hauptverhandlung unter dem Vorsitz des Generalrichters des RKG, Erich Lattmann, sagten neben Dünser die Zeugen Franz Walch, Florian Dobler, Benjamin Bischof, Ignaz Burtscher, Juliane Stemmer und Franz Xaver Burtscher aus. RKG, 4. Sen. 89/ 44, Feldurteil gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 13.10.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Delphina Burtscher wurde bei der Verhandlung in Salzburg zwar aufgerufen, ihr wurde aber nur die Niederschrift der eigenen Vernehmung vorgelesen. Sie machte offenbar keine davon abweichende andere Aussage. Auch Franz Josef Burtscher wurde in der Urteilsschrift nicht als Zeuge genannt, obwohl er zum Prozess gebracht worden war. Allem Anschein nach war Wilhelm Burtscher bei der gerichtlichen Vernehmung nicht nach der Identität der im Brief angeführten Personen befragt worden. Wie bereits dargelegt, ist evident, dass es sich beim angeführten Franz Josef Burtscher nicht um den Bruder, sondern um den gleichnamigen Ortsgruppenleiter und Bürgermeister von Sonntag handelte. Im Urteil spitzte der Richter den Tatvorwurf gegen Wilhelm Burtscher bei der abschlie‐ ßenden Bewertung rhetorisch noch einmal zu. Er griff dazu wieder auf das Bittschreiben zurück, um daraus eine besonders rabiate, für den NS-Staat gefährliche Gesinnung abzu‐ leiten: 327 „Welche Gedanken sie dabei beseelten, zeigt das Bittschreiben an die ‚Österreichische Staatsfüh‐ rung‘ in Wien vom 6. oder 7. Juli, in dem Wilhelm Burtscher nicht einmal davor zurückschreckt, den eigenen Bruder Franz Josef Burtscher zur Todesstrafe vorzuschlagen, weil er nationalsozialistisch gesinnt und Amtswalter der NSDAP ist.“ 328 Für das bereits vor dem Prozess feststehende Schicksal von Wilhelm Burtscher machte es keinen Unterschied, ob er den Ortsgruppenleiter oder seinen Bruder einer Strafe zugeführt wissen wollte. Für das weitere Schicksal des Bruders war die Beschuldigung jedoch von erheblicher Bedeutung - sie führte zu dessen Entlastung. Neben der Dämonisierung Wilhelm Burtschers fällt bei der Analyse der Urteilsschrift noch etwas auf: Im Unterschied zum Ankläger, der den Beschuldigten neben der Fahnen‐ flucht das Delikt Vorbereitung zum Hochverrat vorgeworfen hatte, sprach der Richter sie wegen Kriegsverrat schuldig. Warum? Der Ankläger erblickte in ihrem Handeln mit Verweis auf die Ausstattung ihrer Uniformen mit österreichischen Insignien und auf die zi‐ tierten Ausrufe von Wilhelm Burtscher bei der Festnahme den Versuch, „auf die Losreißung der Alpen- und Donaugaue vom Reich […] hinzuarbeiten.“ 329 Diesen Vorwurf, der sonst vor allem Kommunist*innen vor den politischen Gerichten der NS-Justiz gemacht wurde, hielt die Gestapo mangels nachweisbarer politischer Verbindungen zu anderen ähnlich gesinnten Gruppen für unzutreffend. Das sagte wohl der als Zeuge geladene, ermittelnde Beamte der Gestapo Feldkirch, Emmerich Dünser, aus; seine Einschätzung ist durch eine entsprechende Aussage zwei Monate später beim Prozess vor dem Sondergericht Feldkirch gegen die Helfer*innen bekannt. 330 So musste der Richter des Reichskriegsgerichts mangels Flucht vor dem Krieg 119 <?page no="120"?> Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 37. Sie schilderte eine von Gebrüll und Aggression zur Einschüchterung der Angeklagten und Zeug*innen geprägte Stimmung im Gerichtssaal. 331 RKG, 4. Sen. 89/ 44, Feldurteil gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 13.10.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 332 Barnay/ Gamon (Hg.), Delphina Burtscher, 37. 333 Siehe dazu den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Buch. 334 Gemeint war damit Frontbewährung. 335 Protokoll der öffentlichen Sitzung des Sondergerichts Feldkirch, 20.12.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. Martin Lorenz teilte seiner Mutter Maria offenbar knapp vor der Hinrichtung mit, dass er begnadigt worden sei und sich im Fronteinsatz bewähren könne. Brief an das Standesamt in Graz, 13.11.1947. VLA, LGF KLs 168/ 121. Endgültige Klärung über den Tod ihres Sohnes erhielt Maria Lorenz erst im Juni 1948. Ebd. politischer Substanz für den Hochverrats-Vorwurf den Tatvorwurf auf „Kriegsverrat“ ändern. Er tat es ohne nähere Begründung: „Im Hinblick darauf, dass der Wille und die Betätigung der drei Fahnenflüchtigen sich nicht so sehr gegen die Verfassung des Reichs selbst richtete, sieht der Senat ihr Verhalten als Feindbegünstigung, und da sie beide Soldaten sind, als Kriegsverrat an. […] Auf Kriegsverrat steht allein die Todesstrafe, auf die der Senat erkannt hat.“ 331 Delphina Burtscher, begleitet von ihrer älteren Schwester Mathilde, begegnete Martin Lorenz und ihrem Bruder Wilhelm nach dem Prozess noch zweimal, zunächst im Gerichtsgebäude: „Weinend kamen sie die Stiege herunter, konnten kaum noch laufen und waren völlig fertig. Martin ging noch einen Schritt zur Seite, umarmte mich schnell und gab mir den letzten Kuss. Da kamen sie schon mit den Gummiknüppeln. Wir blieben noch eine Nacht in Salzburg und besuchten die Todeskandidaten. Wir konnten nicht viel sprechen, Martin - er war erst sechsundzwanzig - sah sein Kind durch das Gitter zum ersten Mal. Willi, zweiundzwanzig, brachte kein Wort heraus, er weinte nur bitterlich.“ 332 Beide zum Tode verurteilten Deserteure stellten Gnadengesuche, ebenso appellierten Maria Lorenz für ihren Sohn und Mathilde Matt sowie Delphina Burtscher für ihren Bruder an das Gericht, die Todesstrafe nicht zu vollstrecken. Die Gesuche gaben Anlass zur Hoffnung. Bei der ersten Verhandlung des Sondergerichts Feldkirch am 8. November 1944 gegen die Helfer*innen und Mitwisser*innen war darüber noch nicht entschieden worden, auch lag dem Sondergericht das Urteil des Reichskriegsgerichts noch nicht vor. 333 Deshalb wurde die Verhandlung vertagt. Als sie am 20. Dezember fortgesetzt wurde, legte der Verteidiger dem Gericht Briefe vor, „aus denen sich ergibt, dass Wilhelm B.[urtscher] und Martin Lorenz begnadigt und dem Einsatz 334 zugeführt wurden.“ 335 Offenbar wussten die Angehörigen und auch die Juristen des Landgerichts Feldkirch zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die Gnadengesuche abgelehnt und die beiden Deserteure bereits am 8. Dezember 1944 im Landgericht Graz hingerichtet worden waren. Der Bruder von Wilhelm, Franz Josef, stand in Feldkirch nicht vor Gericht. Er war nach der Verhandlung in Salzburg zurück in das Gerichtsgefängnis Bludenz transportiert worden. Sechs Tage später stellte der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Feldkirch das Verfahren gegen ihn ein und er kam frei. In der Begründung nahm er direkt auf die Interpretation des angeblichen Bittschreibens von Wilhelm Burtscher an die österreichische Staatsführung durch das Reichskriegsgericht Bezug: 120 Peter Pirker <?page no="121"?> 336 Verfügung, 19.10.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 337 Die restlichen neun bekannten Urteile wurden vom Reichskriegsgericht oder SS- und Polizeige‐ richten gefällt. „Nach dem Schreiben des Wilhelm Burtscher […] wäre eher anzunehmen, dass beide Brüder derart miteinander verfeindet sind, dass Wilhelm Burtscher den Franz Burtscher bei einem Umsturz zum Tode verurteilen liesse. Dass unter diesen Umständen Franz Josef Burtscher seinen Brüdern und deren Freund Lorenz irgendwie begünstigt hätte, ist daher nicht anzunehmen.“ 336 Da das Sondergericht dem Verfahren die Tatfeststellungen des Reichskriegsgerichts zugrunde legen wollte, wäre eine Anklage von Franz Josef im Widerspruch dazu gestanden. Somit hatte die Dämonisierung seines Bruders durch das Reichskriegsgericht wenigstens für ihn die Freilassung zur Folge, obwohl aus den Vernehmungen bekannt war, dass er die Deserteure mehrfach getroffen und ihnen wahrscheinlich auch Lebensmittel zur Verfügung gestellt hatte. 6.3.2 Deserteure und Wehrdienstverweigerer vor Standort- und Divisionsgerichten Von 44 Vorarlberger Soldaten liegen uns Informationen zu Verurteilungen wegen Delikten der Wehrdienstentziehung vor. In diesem Unterkapitel werfen wir einen Blick auf 35 Soldaten, deren Fluchtversuche zu Prozessen vor gewöhnlichen Militärgerichten führten. 337 Tabelle 13 zeigt die verurteilten Delikte und die ausgesprochenen Strafen. Delikte laut Urteil Anzahl Urteilsspruch Todesstrafe Zuchthaus Gefängnis Unbekannt Fahnenflucht u. Hilfe Fahnenflucht 18 6 (4) 8 2 (Hilfe) 2 Unerlaubte Entfer‐ nung 14 - 2 12 - Wehrkraftzerset‐ zung 2 1 (1) - 1 - Feigheit vor dem Feind 1 - (1) 1 - Gesamt 35 7 (5) 10 16 2 Tab. 13: Bekannte Verurteilungen von Vorarlberger Soldaten wegen Entziehungsdelikten durch Militärgerichte (ohne Reichskriegsgericht und SS-Gerichte). Selbstverständlich war die Zahl der Verurteilungen wegen unerlaubter Entfernung weit höher. Hier sind nur jene Urteile angeführt, die wir in unsere Sammlung aufgenommen haben (siehe dazu Kap. 3.1). Die Verurteilung wegen Feigheit vor dem Feind lässt sich aufgrund des unvollständigen Aktes nicht genau rekonstruieren. Die ursprüngliche Verurteilung von B. (siehe unten) wegen Feigheit wurde offenbar durch eine neue Verhandlung korrigiert, bei der die Delikte Wachverfehlung und Gehorsamsverweigerung mit einer Gefängnisstrafe geahndet wurden. In der Spalte Todesstrafe ist in Klammer die Zahl der Hinrichtungen angeführt. Flucht vor dem Krieg 121 <?page no="122"?> 338 Geldmacher, Auf Nimmerwiedersehen, 161. 339 Zit. n. Geldmacher, Auf Nimmerwiedersehen, 138. 340 Oberleutnant [Karl] Ruef an Lisa Bodemann, 4.7.1942. VLA, AVLReg IVa-168/ 8. Neben den vier exekutierten Todesurteilen des Reichskriegsgerichts (Wilhelm Burtscher, Martin Lorenz, Ernst Volkmann, Franz Reinisch) waren sechs durch Divisions- oder Standortgerichte dokumentierbar, von denen fünf ebenfalls vollzogen wurden (Max Bonat, Rudolf Bodemann, Josef Lins, Ludwig Meusburger, Heinrich Pfister jun., Jakob Maier). Die Urteilssprüche verdeutlichen, wie maßgeblich die Abgrenzung von Fahnenflucht für das weitere Schicksal eines Soldaten war, der seine Einheit unerlaubt verlassen hatte. Wenn die Ermittlungen eines Divisionsgerichts in eine Anklage wegen unerlaubter Entfer‐ nung mündeten, folgten in fast allen Fällen Gefängnisstrafen. Konnte der Soldat in den Einvernahmen hingegen den Verdacht der Fahnenflucht nicht zerstreuen oder bekannte er sich zur Absicht einer dauerhaften Entziehung vom Wehrdienst, sprachen Richter in 38 Prozent der Fälle die Todesstrafe aus. Dieser Anteil liegt etwas unter den Ergebnissen der Untersuchung von Thomas Geldmacher zu 178 Strafverfahren gegen österreichische Deserteure. Er dokumentierte einen Todesstrafen-Anteil von 48-Prozent. 338 Besonders schlecht waren die Aussichten für jene Soldaten, denen im Zusammenhang mit der Fahnenflucht weitere Straftaten nachgewiesen werden konnten, etwa die Anwen‐ dung von Gewalt oder eine Kooperation mit dem Kriegsgegner, wie es bei Ludwig Meus‐ burger und Max Bonat der Fall war. Richter konnten von der Todesstrafe absehen, wenn die Umstände des Todesstrafgebots aus den Richtlinien Hitlers vom Jahr 1940 (Furcht vor persönlicher Gefahr, wiederholte und gemeinschaftliche Fahnenflucht, Flucht ins Ausland, Aufrechterhaltung der Manneszucht) nicht erfüllt waren. Desgleichen konnten sie bei Vorliegen gewisser persönlicher Umstände des Angeklagten auf die Todesstrafe verzichten. Dazu gehörten „jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe“. 339 Letzteres erkannte Kriegsgerichtsrat Müller bei Christian Engstler, dem er außerdem seine Unbescholtenheit zugutehielt. Die Gerichte setzten die Strafdrohung einer Hinrichtung - die im Bewusstsein der Soldaten durch Belehrungen in der Truppe fest verankert war - also bei Weitem nicht immer in die Tat um. Da Soldaten aber mit der Todesstrafe rechneten, sobald sie sich mehrere Tage entfernt hatten, trug die radikale Strafdrohung dazu bei, dass unerlaubte Entfernungen sich zu Desertionen entwickelten. Fast identisch mit der Geldmacher-Studie sind die Ergebnisse bei der Vollstreckungs‐ quote: Etwa 66 Prozent der ausgesprochenen Todesstrafen ließen die Gerichte auch vollziehen. Die Angehörigen wurden vom Chef der Kompanie über die Exekution knapp informiert. Oberleutnant Karl Ruef, Kommandant der 13. Kompanie im Gebirgsjägerregi‐ ment 143, schrieb der Ehefrau von Rudolf Bodemann, die nun alleine mit vier Kindern dastand: „Ich […] bitte Sie, denken Sie an die Kinder, für die Sie sorgen und die Sie im Sinne des neuen grossen Deutschland erziehen müssen, für das wir Soldaten kämpfen und gegebenenfalls auch sterben müssen. Es gibt kein Zurück, es gibt nur eisernes Aushalten. Jeder Versuch einer inneren Zermürbung muss radikal unterbunden werden.“ 340 122 Peter Pirker <?page no="123"?> 341 Pichler, Hilar Huber. 342 4. (M.G.) Kompanie, Inf. Btl. 561 z.b.V., Gnadenantrag auf Umwandlung und Teilerlass für den Schtz. August Weiss, geb. am 26.9.1921. ÖStA, AdR, DWM, GerA 362/ 5. 343 Weiss überlebte das Kriegsende nach mehreren Verwundungen und Lazarettaufenthalten in sowje‐ tischer Kriegsgefangenschaft. Er trat während der Debatte um die Rehabilitierung der Wehrmachts‐ deserteure in den 2000er-Jahren immer wieder als Zeitzeuge auf. Bundschuh, August Weiß; Metzler, Soldaten, 596-598. Die Todesurteile gegen Hilarius Huber und Georg Reichart, die mit Flucht in die Schweiz begründet worden waren, wandelte der Gerichtsherr in eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren um. 341 Die eruierten Zuchthausstrafen für Fahnenflucht (61 Prozent) lagen im Ausmaß zwischen zwei und 15 Jahren. Sie führten in den meisten Fällen zu Einweisungen in Wehrmachtsgefängnisse (vor allem Torgau, Bruchsal, Freiburg im Breisgau) und in Straf‐ gefangenenlager im Emsland in Norddeutschland, wo die Wehrmachtshäftlinge unter Kon‐ zentrationslagern ähnlichen Bedingungen schwere Zwangsarbeit bei der Entwässerung der Moorlandschaft verrichten mussten. Angesichts der extrem steigenden Zahl an gefallenen Soldaten im Jahr 1944 griffen Militärgerichte immer häufiger zur Aussetzung des Strafvoll‐ zugs (der von den Verurteilten auch selbst beantragt werden konnte), um sie an der Front in Bewährungseinheiten einzusetzen. Das Verhalten der Verurteilten im Kriegseinsatz wurde von den Kompaniechefs beobachtet. Positive Bewertungen konnten zu Strafnachlässen führen. So reduzierte das Gericht der 28. Jägerdivision die Zuchthausstrafe von sechs Jahren gegen den Dornbirner Deserteur August Weiss auf eine einjährige Gefängnisstrafe, nachdem der Kompaniechef ihm beschieden hatte, dass er sich als MG-Schütze im Jahr 1943 „durch einsatzfreudige Pflichterfüllung“ bei Kämpfen an der Ostfront hervorragend bewährt habe, sodass ihm „für sein rücksichtsloses persönliches Draufgängertum“ das Infanterie-Sturmabzeichen verliehen worden sei. „Durch seine Führung und seine Taten hat sich der Schtz. Weiss würdig gezeigt die Uniform des deutschen Soldaten wieder in Ehren zu tragen. […] Weiss wird sich auch in Zukunft bewähren“. 342 Liest man die Beschreibungen des Kampfgeschehens genauer, wird klar, dass Weiss, eingesetzt an den exponiertesten Positionen der Bewährungseinheit, nun an der Front um sein Leben kämpfte, nachdem er zuvor mehr als ein Jahr lang die Gewalt der Aufseher, Hunger und Zwangsarbeit im Strafgefangenenlager Aschendorfermoor überstanden hatte. 343 Bei den wegen unerlaubter Entfernung verurteilten Soldaten lautete in vier Fällen die Anklage zunächst auf die mit der Todesstrafe bedrohten Delikte Fahnenflucht und Feigheit. Was bewog die Richter, das Delikt im Urteil abzuändern? Ferdinand Mathis aus Hohenems, 23 Jahre alt, war mit dem Gebirgsjägerregiment 140 im Rahmen der 2. Gebirgsdivision Anfang September 1939 am Überfall auf Polen beteiligt. Sein Gruppenführer Karl Ruef erteilte ihm und seinem Salzburger Kameraden Rupert Hollaus nach einem Gefecht bei Jaslo in den Vorkarpaten den Auftrag, Häuser nach „Freischärlern“ zu durchsuchen. Ruef bestritt in einer Zeugenaussage diese Auftragsvergabe, vielmehr hätten sich die beiden eigenmächtig entfernt. Jedenfalls blieben die beiden Soldaten von der Truppe zurück. Polnische Bauern gewährten ihnen eine Woche lang Unterkunft und Verpflegung. Über das weitere Vorgehen waren die beiden uneins, Mathis plädierte für den Rückweg nach Österreich, Hollaus für die Überquerung der russischen Demarkationslinie. Flucht vor dem Krieg 123 <?page no="124"?> 344 Gebirgsjägerregiment 140 an Gebirgsjäger-Ersatz-Regiment 2, 29.10.1939. ÖStA, AdR, DWM, GerA 242/ 17. 345 Gericht der 2. Gebirgsdivision, Urteil gegen Rupert Hollaus, 26.1.1940. ÖStA, AdR, DWM, GerA 242/ 17. Schließlich schlugen sie den Weg Richtung Slowakei ein und wichen unterwegs deutschen Truppen aus. Knapp vor der slowakischen Grenze verschwand Hollaus. Unschlüssig über sein weiteres Handeln, meldete sich Mathis bei der slowakischen Grenzpolizei und wurde von dieser an die Feldkommandantur 625 in Krosno übergeben, die ihn umgehend wegen Fahnenflucht vor das Feldgericht stellte. Mathis erklärte in der Einvernahme, sein Kamerad sei der Urheber des Plans gewesen. Hollaus habe die Rückkehr zur Truppe abgelehnt, da sie als Fahnenflüchtige erschossen würden. Der Richter glaubte Mathis und erkannte ihn, auch weil er sich selbst gestellt hatte, bloß der unerlaubten Entfernung für schuldig. Das Urteil lautete auf zwei Jahre und drei Monate Gefängnis. 344 Im Unterschied dazu erkannte das Gericht der 2. Gebirgsdivision im Jänner 1940 Rupert Hollaus wegen Fahnenflucht für schuldig. Von Beginn an war das Verfahren von der schlechten Beurteilung der Persönlichkeit des Beschuldigten durch seinen Kompaniechef beeinflusst. Er hatte den vormaligen Knecht als uninteressiert am Dienst, als lasch und nachlässig, als „unfertigen Charakter, der zu Hinterhältigkeit“ neige, beschrieben. Der Ankläger forderte in der Hauptverhandlung die in der KSSVO vorgesehene Todesstrafe, der Richter entschied jedoch auf zwölf Jahre Zuchthaus. Er begründete das Strafmaß gerade damit, dass die Angabe des Angeklagten, aus Furcht vor der Todesstrafe der Truppe fern geblieben zu sein, glaubhaft sei. Außerdem verwies er auf die schwere Kindheit ohne Erziehung. Der Oberbefehlshaber der 12. Armee hob das Strafausmaß auf; auch er verlangte die Todesstrafe. Bei der Neuauflage des Verfahrens reduzierte das Gericht die Strafe weiter auf acht Jahre Zuchthaus, vor allem weil mittlerweile ein psychiatrisches Gutachten eine Geistesschwäche des Angeklagten festgestellt hatte, woraus das Gericht eine verminderte Zurechnungsfähigkeit ableitete. Auch Hollaus wurde 1943 aus dem Zuchthaus Siegburg in eine Bewährungstruppe überstellt. Der Fall führt exemplarisch vor Augen, dass Soldaten bei Vorliegen von ganz ähnlichen Handlungen sehr unterschiedlich bewertet und verurteilt wurden. Während Mathis un‐ mittelbar nach seiner Festnahme und während anhaltender Kämpfe vom Gericht einer Feldkommandantur - allem Anschein nach nur aufgrund seiner eigenen Verantwortung und ohne Einholung von Beurteilungen - mit „unerlaubter Entfernung“ davonkam, ermit‐ telte das Gericht der 2. Gebirgsdivision gegen Hollaus nach Beendigung der Kämpfe in Polen umfangreich und stellte etwa durch die Aussage des Gruppenkommandanten Ruef und letztlich durch ein Geständnis von Hollaus fest, dass beide die Absicht gehabt hatten, sich in Österreich für die Dauer des Kriegs zu verstecken. 345 Bei Josef Pankraz Fink aus Krumbach wog der Richter ebenfalls ab, ob er auf Fahnen‐ flucht oder unerlaubte Entfernung zu entscheiden habe. Fink war gemeinsam mit seinem Dorfbekannten Johann Steurer im Jänner 1942 aus einer Innsbrucker Kaserne geflohen, um dem bevorstehenden Transport an die Front zu entgehen. Beide verbargen sich in ihrem Heimatort. Während Steurer das Untertauchen bis Kriegsende und damit die Desertion gelang, wurde Fink nach einigen Wochen festgenommen, jedoch „nur“ wegen unerlaubter Entfernung angeklagt und zu 18 Monaten Gefängnis mit Frontbewährung 124 Peter Pirker <?page no="125"?> 346 Siehe dazu die ausführliche Schilderung im Beitrag von Greber/ Pirker in diesem Band, S. 288-291. 347 Gericht der Division Nr. 188, Feldurteil gegen Josef Fink, 2.4.1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 334/ 3. 348 Siehe dazu den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Band. 349 Vernehmung, 3.12.1943. ÖStA, AdR, DWM, GerA 225/ 4. 350 Gerichtliche Vernehmung, 29.12.1943. ÖStA, AdR, DWM, GerA 225/ 4. 351 Gerichtliche Vernehmung, 29.11.1943. ÖStA, AdR, DWM, GerA 225/ 4. verurteilt. 346 Ausschlaggebend war der Eindruck eines „bescheidenen, schwächlichen Mannes, dem jede soldatische Haltung fehlt und jedes Verständnis dafür zu fehlen scheint“, den Fink beim Richter hinterließ. 347 Das Gericht schloss daraus, dass Fink nicht aus Feigheit oder Furcht vor dem Feind, sondern aus Sehnsucht nach seiner Familie die Flucht ergriffen hatte. Die Priorisierung der Sehnsucht nach geliebten Menschen gegenüber der Soldatenpflicht wurde in anderen Fällen, wie etwa bei der Fluchthilfe leistenden Delphina Burtscher 348 , ganz im Gegenteil als Ausdruck gemeinschaftsschädi‐ genden Egoismus gebrandmarkt und zur Begründung eines harten Urteils herangezogen. Auch die Strafe Finks wurde nach sechs Wochen geschärften Arrests zur Frontbewährung ausgesetzt. Anfang März 1944 geriet Fink in Italien in Kriegsgefangenschaft, ob absicht‐ lich oder nicht, bleibt dahingestellt. Einen tiefen Einblick in die durch die Art der Kriegsführung gänzlich brutalisierte Situation von Frontsoldaten bietet der Gerichtsakt über den Bregenzer Sanitäter Her‐ mann Deschler. Der Tapezierer war wegen Schwerhörigkeit nur bedingt tauglich und wurde deshalb als Sanitäter ausgebildet und mit dem Gebirgsjägerregiment 138 zunächst nach Norwegen, dann an die Ostfront geschickt, wo er bis Sommer 1943 ständig an vorderster Linie im Einsatz war. Sein Kompaniechef beschrieb ihn als geistig rege, körperlich kräftig, offenen und kameradschaftlichen Charakter mit einwandfreier Haltung gegenüber Vorgesetzten. Auch bei schwersten Einsätzen habe er nie „seine ruhige Besonnenheit verloren und sei immer ein guter und einsatzfreudiger Sanitäter“ gewesen. Für tapferes Verhalten hatte er das Eiserne Kreuz II. Klasse und das Infanterie- Sturmabzeichen erhalten. Nach einem Heimaturlaub bei seiner Verlobten registrierte sein Vorgesetzter einen gewissen Stimmungswandel. So habe er „nach Soldatenart über den Krieg“ geschimpft und betont, „wie schön es die Schweizer hätten, weil es dort keinen Krieg gab“. Einem Bunkerkameraden gegenüber meinte er, dass der Krieg über kurz oder lang verloren sei und er vom nächsten Urlaub nicht mehr zur Truppe einrücken, sondern in die Schweiz gehen wolle. 349 Deschler fand sich im Oktober 1943 bei Saporischschja (Ukraine) im Grauen der nervenzerreibenden Rückzugsgefechte und langen Nachtmärsche mit vollem Gepäck wieder, bei denen „zahlreiche alte Kameraden“ fielen, es nichts zu essen und kaum Schlaf gab. „Da ich als Sanitäter oft die besten Leute schwer verwundet sah, war ich irgendwie beeindruckt und geistig und seelisch vollkommen fertig,“ beschrieb Deschler einige Wochen später seinen Zustand. 350 Die Situation vor seiner Flucht schilderte er als unaufhörliches Trommelfeuer: „Mein Schüt‐ zenloch bezog ich gegen Abend. Es dauerte nicht lange, dann begannen wieder die Angriffe der Russen. Ununterbrochen wurden wir von den Schlachtfliegern angegriffen, die Granatwerfergeschosse abwarfen und uns mit Bordwaffen beschossen.“ 351 Als er den Beschuss nicht mehr aushielt, verließ er, einem spontanen Impuls folgend, das Schützenloch und lief bis in den Nachmittag des folgenden Tages aus dem Gefecht davon. Flucht vor dem Krieg 125 <?page no="126"?> 352 Gericht der Division 418, Feldurteil gegen Hermann Deschner, 5.12.1918. ÖStA, AdR, DWM, GerA 225/ 4. 353 Bestätigung des Urteils, 12.2.1944. ÖStA, AdR, DWM, GerA 225/ 4. An einem Bahnhof stieg er in einen Urlauberzug, fuhr bis Mykolajiw, wechselte in einen Lazarett-, später in einen Güterzug und erreichte Gliwice in Polen. Dort erkundigte er sich nach einem Zug Richtung München, machte sich dadurch verdächtig und wurde von der Feldgendarmerie festgenommen. Bei verdienten Soldaten wie ihm brachte der Richter des Divisionsgerichts 418, Julius Poth, der ansonsten auch Todesurteile fällte, jedoch so viel Empathie auf, um die vom Ankläger beantragte Bestrafung der Delikte Fahnenflucht und Feigheit - was nach der KSSVO kaum anders als mit der Todesstrafe zu belegen war - abzuwenden: „Deschler war zu dieser Zeit körperlich und geistig derart erschöpft, dass er nicht mehr Herr seiner Entschlüsse war […].“ 352 Die Zerrüttung erklärte Poth mit Hilfe eines psychiatrischen Gutachtens, das er in Auftrag gegeben hatte. Er befand, dass sich Deschler in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit abgesetzt hatte. Begreiflicherweise bestritt auch Deschler jede Absicht einer dauerhaften Flucht, legte zugleich aber über die unerlaubte Entfernung und den Plan, nach Bregenz zu fahren, ein volles Geständnis ab. Er erklärte sein Vorgehen mit dem Bedürfnis „sich daheim einmal gründlich zu erholen“. Poth erkannte auf unerlaubte Entfernung und sprach Deschler vom Vorwurf der Feigheit frei. Er bemaß die Strafe mit zehn Monaten Gefängnis vergleichsweise milde. Typisch fiel aber wieder die Vollstreckungsanordnung des Gerichtsherrn aus: Nach drei Monaten U-Haft wurde der Haftantritt ausgesetzt und bestimmt: „Der Verurteilte ist ohne Gewährung eines Einsatzurlaubes mit dem nächsten Transport zu einem seinem Tauglichkeitsgrade entsprechenden Fronteinsatz abzustellen.“ 353 Seine wohl auf ein Kriegstrauma zurückzuführende mentale Krise spielte bei dieser Entscheidung wiederum keine Rolle. Ein fragmentarisch erhalten gebliebener Strafakt des Gerichts der 2. Gebirgsdivision zum Delikt Feigheit im Felde erhellt, was mit ganz jungen Soldaten geschah, die von ihrer Persönlichkeit her wohl gänzlich ungeeignet für den Kriegsdienst an der Front waren. Auch hier zeigen sich deutlich voneinander abweichende Zugänge von Richtern, die letztlich aber zur selben Konsequenz führten, nämlich zu Kriminalisierung und systemischer Gewalt. Ein 18-jähriger Soldat, im Zivilleben Filmvorführer und unbescholten, kam nach zehn Wochen Grundausbildung in einer Vorarlberger Kaserne Anfang September 1942 zu einer Kompanie des Gebirgsjägerregiments 137 an einem vordersten Stützpunkt an der arktischen Murmanskfront. Bald nach der Ankunft teilte ihn sein Gruppenführer für eine Nacht als Einzelhorchposten an einer exponierten Position des Stützpunktes ein, der Ende August durch einen Überraschungsangriff der Roten Armee schwer getroffen worden war. Zehn Minuten nach der Einweisung kehrte B. weinend in den Stützpunkt zurück und erklärte, eine derartige Angst zu haben, dass er es im Horchposten alleine nicht aushalte. Nach neuerlichem Befehl wiederholte sich der Vorfall. B. wurde dann zwar im Stützpunkt mit einer anderen Aufgabe befasst, zugleich lieferte der Gruppenführer einen Tatbericht wegen Feigheit ab. Am Tag vor der Hauptverhandlung eine Woche später weigerte sich B. neuerlich, nachts alleine den Horchposten zu beziehen. Das Gericht verurteilte ihn wegen Feigheit im Felde zu fünf Jahren Zuchthaus und zum Verlust der 126 Peter Pirker <?page no="127"?> 354 Gericht der 2. Gebirgsdivision, Feldurteil, 17.9.1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 238/ 6. 355 Gericht der 2. Gebirgsdivision, Feldurteil, 28.10.1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 238/ 6. 356 Gericht der 2. Gebirgsdivision, Strafverfügung, 6.2.1943. ÖStA, AdR, DWM, GerA 238/ 6. Wehrwürdigkeit. In der Begründung besprach der Richter zwar B.s vaterlose Kindheit, die er als Ursache für eine falsche Erziehung ausmachte: „Die männliche Hand hat bei seinem ganzen Entwicklungsgang anscheinend völlig gefehlt. Sein ganzer Charakter hat etwas unmännliches und weiches, sodass es ihm besonders schwer fallen musste, seine Angst zu überwinden.“ Der Richter sah auch die Möglichkeit einer pathologischen Ursache der Angst, verwarf aber beide Erklärungsansätze als nicht entscheidend für die Beurteilung der Taten: „Die Aufrechterhaltung der Manneszucht und Disziplin verlangt, dass bei der Frage, ob ein besonders schwerer Fall vorliegt, derartige persönliche Umstände weitgehend ausgeschalten werden. Darin liegt zweifellos eine gewisse Härte gegenüber dem einzelnen. Aber diese Härte ist nach der Überzeugung des Gerichts unbedingt geboten, wenn eine energische und gute Strafrechtspflege gerade in diesem Falle gewährleistet sein soll.“ 354 Das Gericht stufte das Verweigerungshandeln als einen besonders schweren Fall ein, sah aber von der Todesstrafe ab, weil B. „die Manneszucht noch nicht so schwer erschüttert und sich selbst noch nicht als so ehrlos gezeigt“ habe. Das Urteil fand beim Gerichtsherrn offenbar keine Bestätigung und die Sache wurde neu verhandelt. Das neu zusammengesetzte Gericht befand B. nicht der Feigheit, aber der Wachverfehlung und der Gehorsamsverweigerung für schuldig und legte die Strafe mit zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis fest. Freilich verlangte dieses Gericht von B., „den inneren Schweinehund“ zu überwinden. Aber es wurde entlastend festgehalten, dass B. keinen Nachteil verursacht habe. Auch in dieser Urteilsschrift wurde B. als „Muttersöhnchen“, als weich und unsportlich dargestellt. Im Unterschied zum ersten Richter sah der zweite dies jedoch als Milderungsgrund an, denn er glaubte, dass der „Mangel an Erziehung“ durch langsames Gewöhnen an schwere Aufgaben hätte ausgeglichen werden müssen, was eine vorsichtige Kritik am Umgang mit jungen, kriegsunerfahrenen Soldaten bein‐ haltete. 355 Noch vor Beginn des Strafvollzugs verweigerte B. aus Angst weitere Male die Ausführung von Befehlen in der Dunkelheit. Dies führte zu neuen Strafen wegen Gehorsamsverweigerung aus Furcht. Sie fielen zwar relativ milde aus, nun wurde B. aber in den Strafvollzug geschickt. Der Divisionskommandant Georg Ritter von Hengl beschrieb die Optionen, die die Wehrmacht für B. bereithielt: „Beim nunmehr einsetzenden Strafvollzug kann B. in einer Feldstrafgefangenenabteilung nur die Wahl haben, entweder befehlsgemäss unter schwerster Feindeinwirkung Arbeitsdienst zu leisten oder von der Wachmannschaft erschossen zu werden.“ 356 Die folgende Tabelle zeigt Vorarlberger Soldaten, die nach den Delikten Fahnenflucht (bzw. Beihilfe), Wehrkraftzersetzung oder Feigheit von Divisions- und Standortgerichten oder dem Reichskriegsgericht verurteilt wurden. Ausschließlich mündlich überlieferte Urteile Flucht vor dem Krieg 127 <?page no="128"?> 357 Nicht enthalten ist außerdem Fritz Birker aus Bludenz, der in der Literatur bislang als wegen Fahnenflucht Verurteilter aufscheint. Nachrecherchen ergaben, dass es sich richtig um den Tischler Fritz Pirker aus Bludenz handelt, der nach einer eigenen Darstellung wegen unerlaubter Entfernung von vier Wochen 1943 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war. Die ursprüngliche Angabe beruhte auf einer Namensliste politisch Verfolgter (StA 7/ 391 Widerstandsbewegung Verzeichnis), auf der sich die Angabe „Birker Fritz. Verhaftung: Zirka 2 Jahre wegen Fahnenflucht“ findet. Der Akt StA 7/ 381 Birker Fritz/ Pirker Fritz enthält ein Schreiben von Fritz Pirker, in dem er seine Verurteilung wegen unerlaubter Entfernung schildert. Ich danke Stefan Stachniß (Stadtarchiv Bludenz) für die Nachschau und den Fund. In Wehrmachtsschriftgut konnten seine Angaben bis Projektabschluss nicht überprüft werden, sie wurden dennoch in die Auswertung in der Kategorie (Desertion/ Entfernung) aufgenommen. von Standgerichten der Wehrmacht und der SS aus der letzten Kriegsphase (Helmut Falch, Anton Renz) sind nicht enthalten. 357 Name Geb.jahr Gericht Delikt Urteil Straf‐ vollzug Verlauf Huber Hila‐ rius 1921 188. Div. Fahnen‐ flucht Todes‐ strafe / Zucht‐ haus (15) StL Lingen Flucht (Schweiz) Weiss August 1920 188. Div. Fahnen‐ flucht Zuchthaus (6) - StL Aschen‐ dorfer‐ moor FB Bonetti Emil 1922 418. Div Fahnen‐ flucht Zuchthaus (5) WG Frei‐ burg, WG Torgau, FStGA 4 FB Engstler Christian 1916 2. GD Fahnen‐ flucht Zuchthaus (5) WG Park‐ kina, Vil‐ nius, ZH Warten‐ burg Tod Bonat Max (2) 1912 Unklar/ Verona Fahnen‐ flucht/ Fahnen‐ flucht, Kriegsverrat Zuchthaus (? )/ Todesstrafe WG Bruchsal FB/ Tod Feuerstein Erich 1920 Luftgau VII Fahnen‐ flucht Zuchthaus (4) WG Bruchsal, WG Torgau FB Franken‐ hauser An‐ dreas 1916 33. ID Fahnen‐ flucht Zuchthaus (2) ZH Diez, KZ Flos‐ senbürg Tod Meusburger Ludwig 1921 Luftgau III Fahnen‐ flucht Todesstrafe/ Zuchthaus (15) ZH Bran‐ denburg- Görden Tod 128 Peter Pirker <?page no="129"?> Name Geb.jahr Gericht Delikt Urteil Straf‐ vollzug Verlauf Pfister Hein‐ rich jun. 1924 Hafen‐ komman‐ dantur Le Havre Fahnen‐ flucht Todesstrafe Ge‐ fängnis Rouen Tod Reichart Georg 1914 407. Div. Fahnen‐ flucht Todesstrafe/ Zuchthaus (15 ubk. FB Taufer Peter 1902 438. Div. z.b.V. Fahnen‐ flucht Zuchthaus (15) ubk. ubk. Amann Alois 1896 4. JD Fahnen‐ flucht ubk. WGTorgau Tod Fischer Hein‐ rich 1914 438. Div. z.b.V. Fahnen‐ flucht Zuchthaus (8) ubk. ubk. Pfister Hein‐ rich sen. 1900 ubk. Fahnen‐ flucht ubk. HA Linz Flucht Burtscher Wilhelm 1922 RKG Fahnen‐ flucht, Kriegsverrat Todesstrafe WG Linz Tod Lorenz Martin 1918 RKG Fahnen‐ flucht, Kriegsverrat Todesstrafe WG Linz Tod Kirschner Josef 1920 418. Div. Beihilfe zur Fahnen‐ flucht Gefängnis PG Bre‐ genz, PG Inns‐ bruck, Kaserne Lienz Bewährung bei Truppe Düngler Anton 1920 418. Div. Beihilfe zur Fahnen‐ flucht Gefängnis PG Bre‐ genz FB, Flucht B. W. 1923 2. GD Feigheit/ Wachver‐ fehlung, Ge‐ horsamsver‐ weigerung Zuchthaus (5)/ Gefängnis (2,5) FStGA ubk. Bodemann Rudolf 1912 6. GD Wehrkraft‐ zersetzung Todesstrafe WG Park‐ kina Tod Lins Josef 1921 3. GD Wehrkraft‐ zersetzung Todesstrafe ubk. (Kir‐ kenes) Tod Oberwinkler Franz 1920 Luft‐ kreis‐ kom‐ mando VII Wehrkraft‐ zersetzung/ Fahnen‐ flucht Gefängnis oder Zucht‐ haus WG Torgau ubk. Flucht vor dem Krieg 129 <?page no="130"?> 358 3. Regierungserklärung, 27.4.1945, Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, 1. Stück, 1.5.1945, 4. Name Geb.jahr Gericht Delikt Urteil Straf‐ vollzug Verlauf Volkmann Ernst 1902 RKG Wehrkraft‐ zersetzung (Kriegs‐ dienstver‐ weigerung) Todesstrafe HA Salz‐ burg, Graz, HA Berlin- Branden‐ burg Tod Reinisch Franz 1903 RKG Wehrkraft‐ zersetzung (Kriegs‐ dienstver‐ weigerung) Todesstrafe HA Berlin- Branden‐ burg Tod Tab. 14: 24 Vorarlberger, die von Kriegsgerichten wegen Fahnenflucht, Feigheit und Wehrkraft‐ zersetzung verurteilt wurden. Bonat wurde zweimal verurteilt. In der Spalte Urteil ist in der Klammer das Strafausmaß angeführt (2=2 Jahre). Abkürzungen: Div.=Division, ID=Infanteriedivision, GD=Gebirgsdivision, JD=Jagddivision, StL=Straflager, ZH=Zuchhaus, WG=Wehrmachtsgefängnis, HA=Haftanstalt, PG=Polizeigefängnis, FStGA=Feldstrafgefangenen-Abteilung, RKG=Reichskriegs‐ gericht, FB=Frontbewährung. VII. Deserteure und ihre Helfer*innen im Nachkrieg Am 27. April 1945 entband die provisorische Staatsregierung in Wien die österreichischen Soldaten in den deutschen Streitkräften von ihrem Eid auf Adolf Hitler und formulierte es als „unser aller Pflicht, mitzuhelfen, daß mit diesem Kriege Schluss gemacht werde.“ 358 Damit trat erstmal jene „österreichische Staatsführung“ auf den Plan, die Wilhelm Burt‐ scher in seinem Brief Anfang Juni 1944 als Deserteur der deutschen Wehrmacht adressiert und wofür ihn das Reichskriegsgericht auf das Schafott gebracht hatte. Wo immer sie stünden und wenn irgend möglich, rief die Regierung die österreichischen Soldaten auf, sollten sie die Waffen niederlegen. Die Gründerväter der Zweiten Republik hatten mit Bezug auf die am 1. November 1943 in Moskau veröffentlichte „Declaration on Austria“ die Desertion aus der Wehrmacht und die Unterstützung der Roten Armee im Artikel II der 3. Regierungserklärung somit als „Pflichterfüllung“ gegenüber der eben ausgerufenen Republik definiert. Wie zuvor die „Moskauer Deklaration“, die von den Österreicher*innen - inklusive der Wehrmachtssoldaten - einen Beitrag zu ihrer Befreiung gefordert hatte, verhallte der Aufruf der Staatsregierung weitgehend ungehört und er sickerte auch nicht in das öffentliche Bewusstsein der Nachkriegsgesellschaft ein, die über Jahrzehnte hinweg von pflichtbewussten Veteranen der Wehrmacht geprägt werden sollte. Bis Mitte der 2000er- Jahre waren Namen und Biografien von abtrünnigen Soldaten in der österreichischen Öffentlichkeit kaum bekannt. Die Befreiung von der NS-Herrschaft durch die französische Armee und die Errichtung einer demokratischen Republik Österreich brachte den Deserteuren und ihren Angehörigen in Vorarlberg zunächst die Freiheit von Verfolgung, bald aber auch bittere Enttäuschungen, 130 Peter Pirker <?page no="131"?> 359 StGBl. Nr.-48/ 1945. 360 StGBl. Nr.-79/ 1946. 361 Thomas Walter, Die juristische Rehabilitierung von österreichischen Opfern der NS-Militärjustiz, in: Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz, 604-616. 362 Reinhard Moos, Das Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz 2009, in: Journal für Rechtspolitik 18 (2010), 146-158, 146. vor allem was die Bewertung der Desertion aus der Wehrmacht im Rahmen der Opferfür‐ sorge betraf. Dieses Kapitel beleuchtet die Nachkriegserfahrung in dreierlei Hinsicht. Im Bereich der Nachkriegsjustiz werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die juristische Rehabilitierung, das heißt den Umgang der Justiz der demokratischen Republik mit den Urteilen der Sonder- und Militärjustiz des NS-Staates. Außerdem werden Ermittlungen der Nachkriegsjustiz gegen Deserteure im Zusammenhang mit der Anwendung von Gewalt gegen Amtsträger des NS-Staates dargestellt. Im Sozialbereich wird die Behandlung von Anträgen auf Opferfürsorge untersucht, und schließlich wird - wiederum anhand von Fallbeispielen - im Bereich der Erinnerungskultur die Weitergabe der Kriegs- und Desertionserfahrung in Familien analysiert. - 7.1. Nachkriegsjustiz 7.1.1 Die Aufhebung von Urteilen gegen Deserteure und Helfer*innen Die provisorische Bundesregierung beschloss 1945 unmittelbar nach Kriegsende das Auf‐ hebungs- und Einstellungsgesetz (AufhG 1945) 359 und im März 1946 verabschiedete der Nationalrat die Befreiungsamnestie (BefrAm) 360 . Diese beiden Gesetze wurden Anfang der 2000er-Jahre während der Debatte um die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz ge‐ wissermaßen „wiederentdeckt“ und hinsichtlich ihrer Eignung, den Rehabilitierungszweck zu erfüllen, diskutiert. Thomas Walter bezeichnete beide Gesetze als dafür untauglich. 361 Die erste Problematik bestand darin, dass das AufhG 1945 nur Urteile erfasste, die nach der KSSVO ergangen waren; viele Deserteure waren aber nach den Bestimmungen des MStG verurteilt und bloß für das Strafausmaß die KSSVO bzw. die Richtlinien des Führers herangezogen worden. Der zweiten problematischen Einschränkung zufolge musste für eine Aufhebung des Urteils nachweisbar sein, dass der Desertion das Motiv zugrunde lag, gegen die NS-Herrschaft oder auf die Wiederherstellung eines unabhängigen Staates Österreich gerichtet gewesen zu sein. Nachträglich sollten also genau jene Motive nach‐ gewiesen werden, die von Militärgerichten zusätzlich als Hochverrat oder Kriegsverrat beurteilt und mit der Todesstrafe geahndet worden wären. Auch der Strafrechtsexperte Reinhard Moos betonte, dass die beiden Gesetze jedenfalls „unvollständig und mangelhaft“ waren. 362 Insbesondere Betroffene und das „Personenkomitee Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“ kritisierten außerdem, dass Urteilsaufhebungen, wenn sie denn gelungen waren, keine Öffentlichkeitswirkung entfaltet hatten. Vielmehr setzte im Zuge der gesellschaftlichen Reintegration der Wehrmachtssoldaten und im Kontext des Kalten Krieges bereits wenige Jahre nach 1945 eine „Weißwaschung“ der Wehrmacht ein: Es entwickelte sich eine von den Regierungen der Republik und der Bundesländer massiv geförderte Erinnerungskultur von Kameradschafts- und Veteranenverbänden, die den Dienst in der Wehrmacht als vorbildliche Pflichterfüllung lobte und eine Heroisierung Flucht vor dem Krieg 131 <?page no="132"?> 363 Vgl. dazu ausführlich Peter Pirker, Erbrachte Opfer. Das Heldendenkmal als Symbol der postnati‐ onalsozialistischen Demokratie in Österreich, in: Heidemarie Uhl/ Richard Hufschmied/ Dieter A. Binder (Hg.), Gedächtnisort der Republik. Das Österreichische Heldendenkmal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg. Geschichte - Kontroversen - Perspektiven, Wien 2021, 309-360. 364 Am 16.9.1945 hob das LG Innsbruck beispielsweise die Verurteilung des Innsbruckers Karl Hitsch wegen unerlaubter Entfernung (20 Monate Gefängnis) auf. TLA, Wehrstammbuch Karl Hitsch. Für eine Kopie des Beschlusses danke ich Ulrich Nachbaur. 365 Moos, Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz. Zum Entstehen des Gesetzes: Hannes Metzler, Nicht länger ehrlos. Die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in Österreich, in: Pirker/ Wenninger (Hg.), Wehrmachtsjustiz, 255-274. „erbrachter Opfer“ im Krieg insbesondere gegen die Sowjetunion betrieb. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer erhielten in diesem Vergangenheitskonstrukt wiederum negative Images, die sich kaum von jenen während der NS-Zeit unterschieden. 363 Die BefrAm hatte nach Moos zwar alle durch deutsche Militär- und SS-Gerichte ergangenen Urteile - auch jene gegen Deserteure - aufgehoben, aber nur „stillschweigend“ und implizit. Tatsächlich sind zu verurteilten Soldaten nur wenige gerichtliche Beschlüsse aus den Nachkriegsjahren bekannt, die Urteile von Militärgerichten im Einzelfall als „nicht erfolgt“ erklärten. 364 Aus Sicht Betroffener waren die Einstellung von Militärgerichtsver‐ fahren und die Tilgung der Urteile nach der BefrAm mit dem Terminus „Amnestie“ belastet, der den Unrechtscharakter der Verurteilungen verschleierte und das Bild einer gnadenweisen Nachsicht vermittelte. Erst 1997 rehabilitierte ein Berliner Gericht öffentlichkeitswirksam den Kriegsdienstver‐ weigerer Franz Jägerstätter, im selben Jahr hob das Wiener Landesgericht auf Grundlage des AufhG 1945 einige Urteile gegen Zeugen Jehovas wegen Kriegsdienstverweigerung auf, auch diese nun Rehabilitierten waren hingerichtet worden. Aber hatten demnach nur sie richtig gehandelt? Was war mit jenen, die vor Militärgerichten alles darangesetzt hatten, der Todesstrafe zu entgehen und zu diesem Zweck ihre wahren Motive gegenüber den Gerichten verborgen hatten? Erst das 2009 vom Parlament beschlossene Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz brachte hier Klarheit: „Der Nationalrat hat in einer klaren politischmoralischen Deklaration […] alle Deserteure aus der Hitlerarmee den Kriegsdienstverwei‐ gerern und Widerstandskämpfern gleichgesetzt und ihnen ihre Ehre zurückgegeben“, resümierte Moos. 365 Seither können somit auch die in diesem Beitrag beschriebenen, von der Militärjustiz verurteilten Vorarlberger Deserteure und Kriegsdienstverweigerer als zweifelsfrei rehabilitiert gelten. Ein Manko der Rehabilitierungsdebatte bestand darin, dass sie sich auf die von den Militärgerichten Verfolgten konzentrierte und die von Sondergerichten verurteilten Zi‐ vilist*innen - die Mehrheit waren Frauen- weitgehend außer Acht ließ. Empirische Forschungen lagen zu den Verurteilungen der Sondergerichte nicht vor. Schon allein wegen des noch immer lückenhaften Forschungsstands lohnt es sich, den justiziellen Umgang mit Zivilist*innen, die wegen Wehrdienstentziehung und Hilfe für Deserteure vor dem Sondergericht Feldkirch standen, zu analysieren. Nicht weniger wichtig ist jedoch, dass auf dieser Grundlage beurteilt werden kann, welchen praktischen Wert die Aufhebung, Einstellung und Tilgung von Verfahren für die Betroffenen überhaupt hatte, etwa im Rahmen von Opferfürsorgeverfahren. 132 Peter Pirker <?page no="133"?> 366 Zum Verfahren siehe den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Band. 367 In einem Bericht zusammengefasst: Staatsanwaltschaft Innsbruck an Oberstaatsanwaltschaft Inns‐ bruck, 14.4.1947. VLA, LGF KLs 52/ 44. 368 Ebd. 369 StGBl. 14/ 1946. 370 Ebd. Betrachten wir exemplarisch den prominentesten Fall in Vorarlberg, das Sondergerichts‐ verfahren gegen Franz Xaver und Delphina Burtscher, Juliane Stemmer, Paula Rützler, Hermine Gassner sowie Benjamin Burtscher, die wegen Begünstigung von Deserteuren, Wehrkraftzersetzung und Nichtanzeige von Kriegsverrat verurteilt worden waren. 366 Die entsprechenden, auf dem Amtsweg erfolgten Beschlüsse des Landesgerichts Feldkirch gehen aus dem wiedergefundenen Akt des Verfahrens hervor. 367 Deutlich wird, dass das Landesgericht Feldkirch 1946 je nach verurteilten Delikten differenziert vorging, aber zu einer einhelligen abschließenden Bewertung kam: Alle im engeren Sinne „politischen“ Verurteilungen nach dem Delikt Nichtanzeige von Kriegsverrat sowie nach dem § 5 KSSVO (Wehrdienstentziehung) wurden gemäß AufhG 1945 „als nicht erfolgt“ erklärt, also aufgehoben. Alle Verurteilungen wegen Beihilfe bzw. Begünstigung von Deserteuren, die auf Basis der §§ 220, 222 ÖStG ergangen waren, wurden hingegen nicht nach dem AufhG 1945 eingestellt, sondern nach einem in der bisherigen Forschung noch nicht genannten Gesetz; diese Urteile galten nun als „getilgt“ und noch offene Strafen als „nachgesehen“. 368 Bei der herangezogenen Rechtsnorm handelte sich um das „Bundesgesetz vom 21. Dezember 1945 betreffend die Einstellung von Strafverfahren und die Nachsicht von Strafen für Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus“. 369 Dieses Gesetz sollte die damals schon zutage tretenden Mängel des AufhG zumindest teilweise beheben. Definitionsgemäß war es nur auf Personen anzuwenden, die „a) im Kampfe gegen den Nationalsozialismus oder Faschismus, b) oder zur Unterstützung des Österreichischen Frei‐ heitskampfes oder in der Absicht, ein selbstständiges, unabhängiges und demokratisches Österreich wiederherzurstellen, strafbare Handlungen begangen haben […].“ 370 Die Aufhebungsbeschlüsse des Landesgerichts Feldkirch bedeuten daher, dass dieses die Taten der Verurteilten als Handlungen „zur Unterstützung des Österreichischen Frei‐ heitskampfes“ bewertete. Mit anderen Worten: Aus der Sicht des Landesgerichts Feldkirch kam den Deserteuren Martin Lorenz, Wilhelm und Leonhard Burtscher der Status von Freiheitskämpfern zu und ihre Helfer*innen wurden als Unterstützer*innen des Freiheits‐ kampfes betrachtet. Die Aufhebung der Urteile des Sondergerichtsverfahrens gegen die Helfer*innen der drei Deserteure auf dem Burtscher-Hof erfolgte im Rahmen der justizinternen Aufarbeitung der Sondergerichtsbarkeit mit dem Zweck zu entscheiden, ob noch anhängige Strafverfahren weiterzuführen waren und vom Sondergericht verhängte Strafen noch verbüßt oder neu bemessen werden mussten - eine öffentliche Rehabilitierung war damit jedoch nicht verbunden. Die unspektakuläre Einstellung von Strafverfahren wegen Hilfeleistungen für Deser‐ teure lässt sich auch am Fall der Helfer*innen des Deserteurs Konrad Nenning aus Lingenau belegen. Seine Mutter Katharina, seine Schwestern Emma und Anna, sein Bruder Jakob und der Viehhändler Richard Fuchs, alle aus Lingenau, wurden am 11. November 1944 in einem Flucht vor dem Krieg 133 <?page no="134"?> 371 LG Feldkirch, Beschluss, o. D. [Februar 1946]. VLA, LGF 5 E Vr 379/ 44. 372 Siehe den Fall von Emma Gstattner und die Aufhebung des Urteils des LG Innsbruck durch das Höchstgericht. Im Namen der Republik! , 20.3.1950. TLA, LGI, 9 Vr 2948/ 47. 373 Siehe dazu den Beitrag von Greber/ Pirker in diesem Band. 374 LG Feldkirch, Beschluss, 25.3.1946. VLA, LGF KLs 27/ 44. Die Einstellung des Verfahrens gegen Rosa Fink kam durch einen Beschluss basierend auf der Befreiungsamnestie zustande. LG Feldkirch, Beschluss, 29.10.1946. Ebd. 375 LG Feldkirch, Beschluss, 17.6.1947. VLA, LGF Vr 174/ 1946. 376 Siehe dazu den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Band. vereinfachten Verfahren vor dem Landgericht Feldkirch nach §§-220, 221 ÖStG angeklagt. Die Hauptverhandlung musste auf unbestimmte Zeit vertagt werden, da das Urteil gegen Konrad Nenning durch das zuständige Divisionsgericht in Klagenfurt noch nicht gefällt war. Wahrscheinlich wurde sein Strafverfahren zur Frontbewährung ausgesetzt, damit fehlte dem Landgericht Feldkirch aber die Entscheidungsgrundlage. Das unabgeschlossene Verfahren - die Angeklagten waren noch während des Krieges aus der U-Haft entlassen worden - wurde 1946 stillschweigend eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Feldkirch wandte auch hier das „Gesetz über die Einstellung von Strafverfahren und die Nachsicht von Strafen für Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus“ an. 371 Bemerkenswert ist, dass das Landesgericht Feldkirch anders vorging als das Landesgericht Innsbruck. Letzteres führte Verfahren des Sondergerichts Innsbruck gegen Angehörige und Helferinnen hingerichteter Deserteure nach 1945 sogar weiter und setzte neue Strafen fest. 372 Bei Verfahren mit mehreren Delikten stellte das Landesgericht Feldkirch Verfahren der Sonderjustiz nicht in vollem Ausmaß ein. Im Fall der wegen Wehrdienstentziehung verurteilten Josef Mennel und Rosa Fink 373 wurde zwar die Verurteilung Mennels nach § 5 KSSVO gemäß AufhG aufgehoben, jene wegen eines Vergehens gegen die Kriegswirt‐ schaftsverordnung blieb hingegen aufrecht. Die Hauptverhandlung vor einem Schwurge‐ richt zur Neubemessung der Strafe im März 1946 endete dann doch mit der Anwendung der Befreiungsamnestie. 374 Genau auf die gleiche Weise wurde der Akt des Sondergerichts Feldkirch gegen den Wiener Wehrdienstentzieher Karl Neubauer im Juni 1947 endgültig ge‐ schlossen. 375 Bemerkenswert und daher wichtig festzuhalten bleibt, dass das Landesgericht Feldkirch beim Delikt der Beihilfe zur Fahnenflucht nicht die allgemeine Befreiungsam‐ nestie anwandte, sondern stets das Einstellungsgesetz für Freiheitskämpfer*innen und ihre Unterstützer*innen heranzog. Es gab damit implizit ein rechtspolitisches Statement ab. Ein Aspekt der Personalpolitik trübte die rasche Einstellung der Verfahren und die Aufhebung der Urteile gegen Wehrdienstentzieher und ihre Helfer*innen. Herwig Sprung, ein Staatsanwalt und Richter der Sondergerichte Feldkirch, Innsbruck und Bozen, der an mehreren Todesurteilen gegen Südtiroler Wehrdienstentzieher beteiligt war, wurde 1955 zum Präsidenten des Landesgerichts Feldkirch bestellt und blieb es bis 1957. 376 Die Nachsicht gegenüber einem in Todesurteile involvierten Richter steht - wie wir noch sehen werden - im scharfen Kontrast zur überaus strengen Prüfung von Deserteuren und ihren Helfer*innen in den Opferfürsorgeverfahren, die das Amt der Vorarlberger Landesregierung zeitgleich durchführte. 134 Peter Pirker <?page no="135"?> 377 Siehe dazu den Beitrag von Hagen in diesem Band. 378 Wiener Zeitung, 6.12.1949, 4; Salzburger Nachrichten, 6.12.1949, 2. 379 Ermittlungsgruppe des Landesgendarmeriekommandos Vorarlberg an das Bezirksgericht Dornbirn, Unsinn Eduard und Riedmann Eduard, Verdacht des Mordes, 1.12.1949. VLA, LGF Vr 944/ 49. 380 Ebd. 381 Befragt wurden unter anderem Wilhelm Bruckner, der mittlerweile in Wien lebte, Viktor Schmon, Pfarrer von Heerbrugg (St. Gallen), der Unsinn und Riedmann beherbergt hatte, der Lustenauer Prokurist Hannes Grabher, der die beiden im April 1945 in Heerbrugg getroffen hatte, und der Lust‐ enauer Rechtsanwalt Rudolf Scheffknecht. Weitere prominente Personen, zu denen die Patria laut den Ermittlungen Kontakt gehabt hatte, waren Oberstaatsanwalt Ernst Grünewald und Univ.-Prof. Eduard Reut-Nicolussi. Zu ihren Aktivitäten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Jahr 1945 siehe Schreiber, Endzeit, 372. 7.1.2 Mordermittlungen gegen Deserteure Bereits 1946 führten zwei Schießereien zwischen Deserteuren und Grenzwächtern, die mit tödlichen Verwundungen letzterer geendet hatten, zu Mordermittlungen gegen unbekannte Täter. Diese Ermittlungen verliefen bald im Sand. Im November 1949 kam es jedoch zur Festnahme des ehemaligen Deserteurs Erwin Müller, der bei seiner illegalen Rückkehr aus der Schweiz im Juni 1944 den Hilfszöllner Wilhelm Tschabrun im Montafoner Rellstal erschossen hatte. 377 Sie war der Auslöser dafür, dass auch der Bruder des mutmaßlich von Deserteuren im April 1945 an der Grenze bei Lustenau erschossenen Hilfszöllners Johann Holzer Anzeige erstattete. 378 Er nannte als Verdächtige Eduard Unsinn und Eduard Ried‐ mann, die seit Kriegsende unauffällig in Lustenau lebten und ihren Berufen nachgingen. Der Verdacht erhärtete sich, weil die Gendarmerie damals am Tatort ein Taschentuch mit den Initialen „E. U.“ sichergestellt hatte. Unsinn und Riedmann wurden daher am 1. Dezember 1949 von der Gendarmerie Lustenau verhaftet und einvernommen. Sie legten ihre Beteiligung am Schusswechsel mit den Grenzbeamten des Zollamts Lustenau offen, verantworteten sich aber damit, „als Angehörige der englisch-französischen-amerikanischen Widerstandsbewegung ‚Patria‘ auf Befehl des Leiters derselben, namens Wilhelm Bruckner […] nach Österreich bewaffnet einge‐ drungen zu sein, um hier eine Widerstandsbewegung zu organisieren, die aktiv am Kampfe gegen den nationalsozialistischen Staat teilnehmen sollte.“ 379 Jedes andere Motiv außer Selbstverteidigung in Ausführung ihres Auftrags bestritten sie. Bei einer Hausdurchsuchung bei Unsinn fand die Gendarmerie Ausweise der Patria und ein Dokument des britischen Konsulats in Basel vom 15. März 1945, nach dem „die Eng‐ länder die Widerstandsbewegung Patria als unabhängigen österreichischen Wehrverband anerkennen und soweit unterstützen, als er militärische Hilfe zur Vertreibung der Nazis aus Österreich leistet.“ 380 Dennoch nahm das Landesgericht Feldkirch die Voruntersuchung wegen Mordverdacht auf und verhängte über Unsinn und Riedmann Untersuchungshaft. Befragungen von Personen, die an Aktivitäten der Patria beteiligt gewesen waren oder von ihr Kenntnis hatten, ergaben, dass Unsinns und Riedmanns Angaben zur Patria korrekt waren. 381 Schließlich wurde das Verfahren ebenfalls auf Basis des Gesetzes „betreffend die Einstellung von Strafverfahren und die Nachsicht von Strafen für Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus“ ad acta gelegt. Beide wurden nach etwas mehr als drei Wochen zwar Flucht vor dem Krieg 135 <?page no="136"?> 382 Bezirksgericht Dornbirn, Beschluss im Strafverfahren gegen Eduard Unsinn, 2.1.1950. VLA, LGF Vr 944/ 49. 383 Ebd. 384 Gemeindeblatt Lustenau, 31.12.1949, 2. 385 Oberster Gerichtshof, Spruch 5.3.1951. VLA, LGF Vr 944/ 49. 386 Ebd. aus der Untersuchungshaft entlassen, aber nur „außer Verfolgung gesetzt“. 382 Zugleich verweigerte das Bezirksgericht Dornbirn den beiden ehemaligen Widerstandskämpfern Haftentschädigung, weil der Mordverdacht nicht entkräftet worden sei. Der Richter zog zudem eine Passage aus dem Gesetz über den Anspruch auf Haftentschädigung aus dem Jahr 1918 heran. Demnach bestand dann kein Anspruch, wenn „die Tat des Verhafteten eine grobe Unsittlichkeit enthielt“. 383 Diese richterliche Bewertung verbitterte Eduard Unsinn zutiefst. Ihm wurde dadurch attestiert, moralisch und sittlich verwerflich gehandelt zu haben, dabei hatte er sich freiwillig an einer hochriskanten Widerstandsaktion an der Seite der Alliierten beteiligt. Nun stand er ohne Gerichtsentscheidung mehr oder weniger als amnestierter Mörder da. Dagegen wehrte er sich mit publizistischen und rechtlichen Mitteln. Am 31. Dezember 1949 veröffentlichte er gemeinsam mit Riedmann im Gemeindeblatt Lustenau eine „Warnung“: Jeder, der „verleumderischer Gerüchte“ weiterverbreite, die im Zusammenhang mit der gerichtlichen Untersuchung entstanden seien, werde zur Verantwortung gezogen. 384 Als erstes hob der Oberste Gerichtshof nach einer Nichtigkeitsbeschwerde der Generalprokuratur den Beschluss des Bezirksgerichts Dornbirn auf, da es nicht entscheidungsbefugt gewesen war. 385 Als das Landesgericht Feldkirch in einem neuen Beschluss Unsinn und Riedmann ebenfalls keinen Anspruch auf Haftentschädigung zuerkannte, dieses Mal mit der Begründung, dass die Verfolgung bloß wegen des Einstellungsgesetzes vom 12. Dezember 1945 unterblieben sei, erhob Unsinn Beschwerde beim Oberlandesgericht Innsbruck und erhielt Recht. Das OLG Innsbruck stellte am 5. Dezember 1951 gegenüber den Vorarlberger Gerichten auch klar, was die Ermittlungen tatsächlich ergeben hatten: „Durch diese Erhebungen ist erwiesen, daß es sich bei dem Versuch des Beschuldigten Unsinn und seines Begleiters Riedmann, die Schweizer Grenze zu überschreiten und bei dem daraus sich ergebenden Zusammenstoß mit der Grenzwache um eine kriegsmäßige Kampfhandlung im Rahmen einer von den alliierten Streitkräften anerkannten organisierten Kampfgruppe handelte. Die Tötung eines Gegners im Kriege, soweit sie sich als militärische, kriegsmäßige Kampfhandlung darstellt, kann aber nicht als Mord angesehen werden.“ 386 Das OLG Innsbruck bejahte daher den Anspruch von Unsinn und Riedmann auf Haft‐ entschädigung. Der Konflikt mit der Vorarlberger Justiz erschütterte Unsinn indessen nachhaltig. Als er 1958 vom Bezirksgericht Dornbirn die Herausgabe der 1949 beschlag‐ nahmten Dokumente der Patria verlangte, beendete er seinen Brief an den Bezirksrichter mit folgenden Worten: „In längere Debatten will ich mich hier nicht einlassen, nur will ich Ihnen mitteilen, dass durch diesen Fall die Verbitterung in mir noch nicht nachgelassen hat. Falls Sie mir meinen Wunsch, 136 Peter Pirker <?page no="137"?> 387 Eduard Unsinn an Bezirksgericht Dornbirn, 15.6.1958. VLA, LGF Vr 944/ 49. 388 Berichte erschienen u.-a. in den Vorarlberger Nachrichten, 6.12.1949; 10.1.1950. 389 Gespräch des Autors mit Wolfgang (Enkel) und Silke Lackner, 11.8.2020. 390 Siehe den Beitrag von Hagen in diesem Band. 391 Romeo/ Steurer (Hg.), Lazangna, Der Fall des Partisanen Pircher. einmal von Mensch zu Mensch mit Ihnen sprechen zu können erfüllen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“ 387 Ob dieses Gespräch stattfand, ist dem Akt nicht zu entnehmen. Unsinn und Riedmann äußerten sich nach den mit der Nachkriegsjustiz gemachten Erfahrungen nie mehr zu ihren Aktivitäten im transnationalen Widerstand. Dieser Umstand hat wohl als wesentlicher Faktor dafür zu gelten, dass ihr Engagement gegen das NS-Regime in Vorarlberg gänzlich unbekannt geblieben ist. Man kann davon ausgehen, dass Eugen Cia die Medienberichterstattung 388 über die Verhaftungen im November/ Dezember 1949 genau beobachtete, war er doch auch in eine Schießerei an der Grenze verwickelt gewesen. Nach der Rückkehr nach Lech hielt er sich über seine Einsätze für die Patria bedeckt, arbeitete als Schilehrer und Bergführer und betrieb eine Pension. Selbst innerhalb der Familie sprach Cia später nicht über den Krieg. In Erinnerung blieb hingegen, dass er über Jahre hinweg als Obmann der Schützengilde Lech fungierte und im Kleinkaliberschießsport mehrfach den Staatsmeistertitel gewann. 389 Anders als bei Unsinn und Riedmann ging offenbar die Voruntersuchung gegen Erwin Müller aus. Er war individuell, ohne Mitglied einer Widerstandsorganisation zu sein, aus der Internierung in der Schweiz zurück nach Vorarlberg geflüchtet und hatte dabei einen Grenzbeamten erschossen. Wie Nikolaus Hagen in diesem Band darlegt, dürfte er in einem Gerichtsverfahren zu einer Haftstrafe verurteilt worden sein. 390 Katastrophal verlief der juristische Nachkriegsumgang mit Gewaltereignissen im Rahmen des Widerstandskampfes gegen die NS-Herrschaft für Johann Pircher, einen Südtiroler Deserteur, der in der Schweiz ebenfalls der Patria beigetreten war und als Verbindungsmann zu den Deserteursgruppen im Passeiertal agiert hatte. Die italienische Justiz verurteilte ihn und andere bei Prozessen in den Jahren 1949 bis 1953 wegen Mord und Diebstahl in Abwesenheit zu Haftstrafen von bis zu dreißig Jahren. In Haft genommen wurde Pircher allerdings - zufällig bei einer Verkehrskontrolle - erst 1966. Ohne Verteidigung und Unterstützung konnte er seine Zugehörigkeit zum antinazistischen Widerstand nicht belegen und saß bis 1975 im Gefängnis, als italienische Antifaschisten seine Geschichte wahrnahmen und für seine Entlassung und Rehabilitierung eintraten. 391 - 7.2 Deserteure und Helfer*innen in Opferfürsorgeverfahren Eines der ersten Gesetze der provisorischen Bundesregierung nach der Befreiung vom Nationalsozialismus betraf die Versorgung von Personen, die wegen politischer Gegner‐ schaft verfolgt worden waren oder aktiven Widerstand gegen den NS-Staat geleistet und dabei Verwundungen und körperliche Schäden erlitten hatten, außerdem Hinterbliebene von getöteten NS-Gegner*innen und Widerstandskämpfer*innen. Das Opferfürsorgegesetz (OFG) war Personen gewidmet, „die um ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewußtes Österreich, insbesondere gegen Ideen und Ziele des Flucht vor dem Krieg 137 <?page no="138"?> 392 Bundesgesetz vom 4. Juli 1947 über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich und die Opfer politischer Verfolgung (Opferfürsorgegesetz), BGBl. Nr. 183/ 1947. Grundlegend dazu: Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993; Walter J. Pfeil, Die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus im österreichischen Sozialrecht, Wien 2004. 393 Bailer, Wiedergutmachung, 54. 394 Neben dem OFG und seinen vielen Novellierungen dienten den Behörden außerdem Durchführungs‐ erlässe und Urteile von Höchstgerichten über umstrittene Bescheide als Beurteilungsgrundlagen. 395 Der KZ-Verband Vorarlberg schloss 1947 beispielsweise Anton Kofler aus, der als politischer Häftling das KZ Mauthausen überlebt hatte, weil das Strafregister bei ihm eine Reihe von Eigentumsdelikten und Bettel auswies. VLA, AVLReg IVa-168/ 91. Siehe zu Kofler auch weiter unten in diesem Beitrag. 396 Nach wie vor sind etwa KZ-Häftlinge, die von der SS als „Kriminelle“ kategorisiert wurden, vom Zugang zu den Leistungen des OFG ausgeschlossen. Nationalsozialismus, mit der Waffe in der Hand gekämpft oder sich rücksichtslos in Wort oder Tat eingesetzt haben.“ 392 De facto war das Gesetz auf Angehörige von politischen Parteien zugeschnitten. 393 Das OFG wurde 1947 erstmals novelliert, um eine zweite Kate‐ gorie von Opfern zu berücksichtigen, nämlich Personen, die „aus politischen Gründen oder aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität“ von Gerichten, der Polizei, der Verwaltung des NS-Staates oder durch die NSDAP in erheblichem Ausmaß geschädigt worden waren. Das OFG differenzierte bis 1949 materiell zwischen Opfern des Widerstandskampfes und ihren Angehörigen und Opfern der Verfolgung und deren Angehörigen. Bis dahin standen nur ersteren Rentenleistungen, allen anderen lediglich Begünstigungen im Sozialbereich, am Arbeitsmarkt und bei der Nutzung der öffentlichen Infrastruktur zu. Neben den materiellen Aspekten hatte das Opferfürsorgegesetz eine politische und moralische Komponente, nämlich die staatliche Würdigung von aktiven Widerstandsleistungen und die Anerkennung von erlittenem Unrecht. Von Beginn an wohnte der Differenzierung zwischen aktivem Widerstand und passivem Opferwerden eine Hierarchisierung inne. Während Angehörige des Widerstands eine „Amtsbescheinigung“ erhielten, von der Ansprüche auf Versorgung abgeleitet werden konnten, vergab die Repu‐ blik „passiven“ Opfern einen Opferausweis, mit dem bloß „Begünstigungen“ einhergingen. Kennzeichen des Opferfürsorgegesetzes war außerdem, dass der Staat nicht amtswegig vorging, sondern Antragsteller*innen belegen mussten, dass sie den Anforderungen des Gesetzes entsprachen. Die Behörden - in erster Instanz die Sozialabteilungen des Landes, in dem die Antragsteller*innen ihren Wohnsitz hatten, in zweiter Instanz das Sozialmi‐ nisterium in Wien - beurteilten dann, ob das Vorgebrachte dem Gesetz Genüge tat. 394 Zudem mussten die Antragsteller*innen ein moralisch einwandfreies Leben geführt haben. Als Beurteilungskriterium diente das Strafregister. Ähnlich strenge Maßstäbe legten Orga‐ nisationen von Widerstandskämpfer*innen und KZ-Überlebenden bei Bewerbungen um Mitgliedschaft an oder schlossen Mitglieder aus, wenn Vorstrafen bekannt wurden. 395 Aus diesen drei Faktoren - Priorität politischer Motive, moralisches Anforderungsprofil und selektive Anerkennung von Verfolgungsgründen - entstand eine Dynamik der Konkurrenz zwischen parteipolitisch-orientierten Verbänden ehemaliger Widerstandskämpfer*innen bzw. NS-Gegner*innen und Opfern rassistischer und antisemitischer Verfolgung sowie, schließlich, anderen Opfergruppen, die gleiche staatliche Anerkennung und gleichen Anspruch auf „Wiedergutmachung“ verlangten. Sie besteht im Grunde bis heute. 396 138 Peter Pirker <?page no="139"?> 397 Vgl. David Forster, Die Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit und die Zweite Republik. Fürsorge und Entschädigung, in: Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz, 651-703, 661. Forster untersuchte vor allem Antragstellungen beim Sozialamt der Stadt Wien. 398 Zit. n. Österreichischer Bundesverband ehem. Politischer Verfolgter (K.Z. Verband), Landesverband Vorarlberg an Hans Frick, 31.7.1947. VLA, AVLReg IVa-168/ 121. 399 Amtsvermerk, 15.1.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 75. 400 Landeshauptmannschaft Vorarlberg, IVa-257/ 15, Opferfürsorge-Konferenz in Wien vom 10.10.1946. VLA, AVLReg III, Opferfürsorgewesen. Es ist bekannt, dass Deserteure und Opfer der NS-Militärjustiz über Jahrzehnte hinweg auf beträchtliche Schwierigkeiten stießen, wenn sie versuchten, bei den Sozialbehörden Anerkennung nach dem OFG zu finden, obwohl - wie bereits gezeigt - die Alliierten seit 1943 und die Provisorische Regierung in ihrer ersten Proklamation am 27. April 1945 zur Desertion aus der Wehrmacht aufgerufen hatten. 397 Eine wesentliche Ursache dafür war der Inhalt des zweiten Durchführungserlasses zum OFG vom 8. April 1946. Er hielt fest, dass der „[…] Tatbestand der Fahnenflucht allein den […] rückhaltlosen Einsatz für ein freies, demokrati‐ sches Österreich nicht begründen [kann], es muss schon der Nachweis darüber erbracht werden, dass ein Einsatz des Lebens und der Freiheit erfolgte, um den [im Gesetz] angeführten Zielen den Weg zu bahnen.“ 398 Eine bloße Ablehnung der Kriegsführung der Wehrmacht war demnach zu wenig, um eine Amtsbescheinigung zu erhalten. Freilich gab es auch Gegenstimmen. Ein Beamter der Vorarlberger Landesregierung hielt in einem Amtsvermerk fest: „Von allem was der Nationalsozialismus über die Menschen gebracht hat, war der Krieg das größte Unglück. Wenn sich daher [K.] gegen diesen ausgesprochen hat, so ist das zweifellos eine politische Äußerung, denn kaum jemals in der Geschichte war ein Krieg eine politische Angelegenheit wie in diesem Falle.“ 399 Durchgesetzt hat sich diese Ansicht jedoch nicht. Was als Nachweis des Einsatzes für die Wiedererrichtung Österreichs oder für politische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus gelten könne, war eines der Themen bei einer Opferfürsorge-Konferenz der zuständigen Bundes- und Landesbehörden am 10. Oktober 1946 in Wien. Ein Ergebnis lautete, dass in Fällen von Fahnenflucht und Zersetzung der Wehrkraft jedenfalls „dann ein politisches Delikt erblickt werden kann, wenn Todesurteil erfolgte oder eine besonders schwere Bestrafung, etwa über 4 Jahre Zuchthaus.“ 400 Im Durchführungserlass von 1948 wurde jedoch ergänzt, dass zusätzlich zum Nachweis der Todes- oder Zuchthausstrafe Aussagen oder Erklärungen von Zeugen über das bereits erwähnte politische Motiv der hingerichteten oder schwer bestraften Personen vorgelegt werden mussten. Im selben Erlass wurden außerdem Einschränkungen der Anerkennung von Personen, die Widerstandskämpfer*innen und Opfern der Verfolgung geholfen hatten, festgelegt. Diese durften, um Anerkennung zu finden, nicht „unter äußerem Druck“, aus „Erwerbsgründen“, aus „eigensüchtigen“, „freundschaftlichen“ oder „verwandtschaft‐ Flucht vor dem Krieg 139 <?page no="140"?> 401 Eduard Tomaschek, Das Opferfürsorgegesetz, Wien 1950, 29, 31. Siehe auch Karin Berger et al. (Hg.), Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“. Analyse der praktischen Vollziehung des einschlägigen Sozialrechts, Wien 2004, 44. 402 Tomaschek, Das Opferfürsorgegesetz, 51. Diese Vorurteilsstruktur erinnert ihrer Logik nach an die vorbeugende Verbrechensbekämpfung des NS-Staates, die freilich auch ideelle Vorläufer hatte. Kranebitter, Kampf gegen das Verbrechertum, 153-154. 403 Gezählt wurden nicht die Zahl der Antragsteller*innen (das konnten bei Todesfällen Eltern, Ehe‐ frauen und Kinder sein), sondern die Fälle von Verfolgten, auf die sich Antragstellungen bezogen. lichen“ Gründen geschehen sein. 401 Damit entstand die paradoxe, ja groteske Situation, dass Familienangehörige und Freund*innen von Deserteuren beweisen mussten, den desertierten Söhnen, Brüdern, Ehemännern, Vätern, Freunden und Liebhabern nicht bloß aus „verwandtschaftlichen“ oder „freundschaftlichen“ Gründen geholfen zu haben. Dem Durchführungserlass 1948 zufolge reichte außerdem bereits eine einschlägige Vorstrafe für die Ablehnung eines Opferfürsorgeantrags, unabhängig davon, ob jemand Widerstands‐ kämpfer*in war oder politische Haft erlitten hatte. Argumentiert wurde der Ausschluss von Vorbestraften damit, dass etwa begangene Eigentumsdelikte „eine missbräuchliche Ausnutzung der erlangten Begünstigungen“ erwarten ließen und so die Gefahr bestehe, dass Amtsbescheinigung und Opferausweis diskreditiert werden könnten. 402 Der weitgehende Ausschluss von Deserteuren, ihren Angehörigen und Helfer*innen änderte sich erst im Rahmen einer Novelle des OFG im Jahr 2005, als alle Verfolgten und Verurteilten der NS-Militärjustiz als Opfer von Unrecht in die Bestimmungen des OFG aufgenommen wurden. Freilich erlebte diese Gesetzesänderung fast niemand der Betroffenen mehr, wie wir auch am Beispiel Vorarlbergs sehen werden. Wie wurden Anträge von Deserteuren und Wehrdienstentziehern sowie Helfer*innen und Angehörigen vom Amt der Vorarlberger Landesregierung behandelt? Welche Bilanz kann nach der Durchsicht aller relevanten Akten gezogen werden? Im Bestand der Opferfürsorgeakten der Vorarlberger Landesregierung fanden wir Ver‐ fahren zu 47 einschlägigen Fällen. Bezogen auf die insgesamt 137 Vorarlberger*innen, die im Zusammenhang mit Entziehungsdelikten festgenommen oder verurteilt worden waren, macht dies einen Anteil von knapp 34 Prozent aus. In anderen Worten: Nur ein Drittel der wegen Entziehungsdelikten in Haft genommenen Personen taucht in den Opferfürsorgeverfahren überhaupt auf. Ein Großteil möglicher Antragsteller*innen hatte also entweder vom Opferfürsorgewesen keine Kenntnis oder verzichtete auf eine Antrag‐ stellung. Die geringe Antragsquote legt den Schluss nahe, dass das Opferfürsorgewesen für Wehrdienstentzieher bzw. ihre Angehörigen kaum attraktiv war. Die Ergebnisse der Verläufe der eingebrachten Anträge bestätigen diese These (Tab. 15). 403 Jahr Entschei‐ dung Entscheidung positiv Entscheidung negativ Rückzug/ Tod Gesamtergebnis 1946 4 1 - 5 1947 1 3 - 4 1948 5 8 - 13 1949 2 3 - 5 140 Peter Pirker <?page no="141"?> 1951 - - 1 1 1952 - 1 - 1 1953 2 1 1 4 1954 - 2 - 2 1959 - 6 - 6 1965 - - 1 1 1971 - 1 - 1 1989 - 1 - 1 2005 - - 2 2 2008 - - 1 1 Gesamtergebnis 14 (30-%) 27 (57-%) 6 (13-%) 47 (100-%) Tab. 15: Verlauf von Opferfürsorgeanträgen basierend auf der Auswertung von Anträgen zur Opfereigen‐ schaft von 47 Personen, die desertiert waren, sich dem Wehrdienst entzogen oder Hilfe hierzu geleistet hatten. Bewertet wurde die Entscheidung der 1. Instanz. Von den 14 positiven Entscheidungen lauteten elf auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung und vier auf Ausstellung eines Opferausweises. Von allen eingebrachten Anträgen wurden 57 Prozent abgelehnt und nur dreißig Prozent positiv beschieden, 13 Prozent blieben ohne Entscheidung, weil die Antragsteller*innen den Antrag auf Empfehlung der Behörde mangels Aussicht auf einen positiven Bescheid zurückzogen oder vor Abschluss des Verfahrens verstarben. Letzteres war bei zwei von drei Personen der Fall, die im Zuge der Novellierung des OFG im Jahr 2005 erstmals Anträge gestellt hatten. Der damals eingebrachte dritte Antrag wurde offenbar aus anderen - dem Verfasser unbekannten - Gründen nicht mit einem Bescheid abgeschlossen. Eine Amtsbescheinigung und damit eine Anerkennung als Widerstandskämpfer*in vergab die Vorarlberger Landesregierung überhaupt nur in elf Antragsfällen (23 Prozent). Das Ergebnis der Auswertung belegt für Vorarlberg eine deutlich niedrigere Zuerkennungs‐ rate, als sie David Forster in einem Sample von 137 Deserteuren, die überwiegend in Wien Anträge eingebracht hatten, feststellte (34 Prozent). Wie Tabelle 15 zeigt, hatten Antragsteller*innen in den ersten vier Nachkriegsjahren deutlich bessere Chancen auf einen positiven Bescheid als in den 1950er-Jahren. Immerhin 44 Prozent der vorgebrachten Fälle fanden in dieser Phase Anerkennung bei der Behörde. Aber nur im ersten Entschei‐ dungsjahr 1946 überwogen die positiven Entscheidungen. Die Ursache dafür war offenbar nicht der Charakter der Handlungen der Antragsteller*innen während der NS-Herrschaft, sondern die Veränderung ihrer Bewertung durch die Behörden im Laufe der Zeit. In den 1950er-Jahren wurden 14 weitere Fälle geprüft, die Verfahren endeten mit einer Ablehnungsquote von 71 Prozent. Danach kamen die Antragstellungen de facto zum Erliegen. Letzteres bedeutet auch, dass bis 2005 keine Fälle von Deserteuren wie etwa Leonhard Burtscher und Tobias Studer behandelt wurden, die über Monate hinweg auf der Flucht vor Militärjustiz und Gestapo im Verborgenen gelebt hatten. Diese Form Flucht vor dem Krieg 141 <?page no="142"?> 404 Forster, Opfer, 659; Peter Pirker, „Ich verstehe nicht, warum ich Menschen erschiessen gehen soll…“ Die Deserteursgruppe im Tiroler Vomperloch und die Zerstörung von Erinnerung, in: Geldmacher et al. (Hg.), Da machen wir nicht mehr mit, 155-166. 405 VLA, AVLReg IVa-168/ 205, IVa-168/ 90, 168/ 123. 406 Der Bürgermeister des Marktes Lustenau an BH Feldkirch, 10.12.1947. VLA, AVLReg IVa-168/ 163. 407 Österreichische demokratische Widerstandsbewegung an Landesausschuss Bregenz, 16.10.1945. VLA, AVLReg IVa-168-175. einer erlittenen Freiheitsbeschränkung war erst mit der Novelle von 1961 in das OFG eingeführt worden und fand in anderen Bundesländern in Einzelfällen bei Anträgen von Wehrmachtsdeserteuren Anwendung. Mögliche Betroffene - die den Behörden bekannt waren - wurden davon nicht in Kenntnis gesetzt. 404 Die Detailanalyse der Verfahren mit positiven Ergebnissen in der Phase bis 1949 ergibt folgendes Bild: Acht von insgesamt zwölf Fällen betrafen die Versorgung Hinterbliebener von Deserteuren, welche zweifelsfrei aktiv gegen das NS-Regime aufgetreten und dabei ums Leben gekommen waren. Dabei handelte es sich um Nachkommen und Angehörige der getöteten Aktivisten der Widerstandsgruppen in Langenegg und Krumbach, um einen Deserteur bei den Österreichischen Freiheitsbataillonen in Slowenien und um Hinterblie‐ bene eines Fahnenflüchtigen, der mit den Partisanen in Italien gekämpft hatte und deshalb hingerichtet worden war. Die Angehörigen von Robert Bader, Adolf Schwärzler und Max Ibele konnten Bestä‐ tigungen von Widerstandsorganisationen und Bürgermeistern vorlegen. Sie waren au‐ ßerdem als damals bekannte Widerstandskämpfer von der französischen Militärregierung posthum geehrt worden. In Langenegg gründeten die Aktivisten des Aufstands von Ende April 1945 mit Bürgermeister Josef Anton Bechter an der Spitze außerdem unmittelbar nach der Befreiung eine Ortsgruppe der österreichischen Freiheitsbewegung, die sich erfolgreich um die Versorgung aller Hinterbliebenen der von der SS erschossenen Widerstandskämpfer bemühte. Solche Zeugnisse der Beteiligung von Deserteuren am bewaffneten Widerstand hatten zumindest bis 1948 Gewicht. Ebenfalls positive Bescheide erhielten die Nachkommen der wegen Wehrkraftzersetzung bzw. Fahnenflucht und Kriegsverrat hingerichteten Rudolf Bodemann, Max Bonat, Adolf Hartmann und Ernst Volkmann. Sie konnten Dokumente vorlegen, aus denen die Todesur‐ teile hervorgingen, außerdem erhielten sie Bestätigungen von Personen, die die Verfolgung miterlebt hatten, oder Fürsprache von Politikern und der „Österreichischen demokratischen Widerstandsbewegung“. 405 Bei Überlebenden der Verfolgung führten die Vorlage von Anklagen und Urteilen von Ge‐ richten sowie Aussagen von Beteiligten oder Behörden über den politischen Charakter der Handlungen bzw. die antinazistische Einstellung der Antragsteller ebenfalls zu positiven Bescheiden. So bezeugte der Bürgermeister von Lustenau, dass Ferdinand und Filomena Neher „immer Gegner des Nationalsozialismus [waren]“ und durch ihre Fluchthilfe „eine Gefälligkeit erwiesen und gleichzeitig die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht [haben]“. 406 Über Wilhelm Häusle, der wegen Wehrkraftzersetzung ver‐ urteilt worden war, bestätigte die Österreichische Demokratische Widerstandsbewegung, dass er „sich während der Zeit der Nazi-Regierung illegal gegen dieselbe betätigt u. ständig mit alliierten Kreisen in jeder Hinsicht zusammengearbeitet“ habe. 407 Selbst wenn keine 142 Peter Pirker <?page no="143"?> 408 VLA, AVLReg IVa-168/ 167. 409 Niederschrift, 14.8.1946. VLA, AVLReg IVa-168/ 16. 410 Österreichische demokratische Widerstandsbewegung an Landesinvalidenamt Vorarlberg, 20.1.1946. VLA, AVLReg IVa-168/ 16. 411 Spruch, 26.8.1946. VLA, AVLReg IVa-168/ 16. entsprechende Bewertung der antinazistischen Einstellung vorlag, wie im Fall von Johann Stuchly, genügte die Vorlage einer Verurteilung wegen Beihilfe zur Fahnenflucht zumindest für die Ausstellung eines Opferausweises. 408 Unter den Fällen mit negativen Bescheiden in der Phase bis 1949 befinden sich die zwei Anträge von Hinterbliebenen der hingerichteten Deserteure Heinrich Pfister jun. und Martin Lorenz. Über die Hinrichtung von Heinrich Pfister, der wesentlich zum Lebensunterhalt seiner sozial randständigen Eltern beigetragen hatte, konnten diese zwar eine Nachricht über die Vollstreckung des Todesurteils vorweisen, das Fluchtmotiv ihres Sohnes ging daraus jedoch nicht hervor. Die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch stellte deshalb fest, dass die Erfüllung der Voraussetzung des OFG „nicht einwandfrei erwiesen“ sei. Die näheren Umstände müssten durch Befragung von Bekannten eruiert werden; den Aussagen des Vaters wurde offenbar nicht viel Gewicht beigemessen. Ein Freund von Heinrich Pfister jun. erklärte dann, dass dieser ihm gegenüber „nie eine besondere politische Einstellung kundgetan“ habe: „Er brachte nur hie und da zum Ausdruck, daß er es satt habe bei der Naziwehrmacht zu dienen.“ 409 Die Österreichische demokratische Widerstandsbewegung, Ortstelle Feldkirch, brachte der Behörde knapp ihre Auffassung zur Kenntnis, dass es sich um eine „Justifizierung handelt, der politische Motive zu Grunde lagen.“ 410 Dies hätte im Fall des Überlebens von Heinrich Pfister zwar die Ausstellung eines Opferausweises begründen können, nicht jedoch einer Amtsbescheinigung für die Eltern, da diese den Nachweis eines aktiven Eintretens für Österreich oder gegen Ideen und Ziele des Nationalsozialismus erforderte. So scheint jedenfalls der zuständige Beamte der Sozialabteilung gedacht zu haben, als er den Antrag der Eltern mit der Begründung abwies, dass der Nachweis dafür nicht erbracht worden sei. 411 An dieser Entscheidung wird bereits die Tendenz deutlich, im Zweifel einen negativen Bescheid auszustellen. Besonders hart erscheint der Umgang mit Maria Lorenz, der Mutter von Martin Lorenz. Sie verfügte bei ihrer Antragstellung im Jahr 1947 über keinerlei Dokumente zur Hinrich‐ tung ihres Sohnes. Erst im Juni 1948 erhielt sie vom Landesgericht Graz eine Bestätigung, dass er am 8. Dezember 1944 exekutiert worden war; die „Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“ (WASt) dokumentierte die Exekution durch das Reichskriegsgericht ebenfalls. Zum geforderten Nachweis der antinazistischen Haltung bzw. von Handlungen, die auf die Wiederrichtung Österreichs abzielten, forderte die Behörde eine Stellungnahme des Gendarmeriepostens Schlins ein. Der Postenkommandant schilderte die Geschichte der drei Deserteure von Sonntag und hielt zunächst, ohne seine Quellen auszuweisen, fest, dass Martin Lorenz bis zum Herbst 1943 nicht als Gegner des Nationalsozialismus angesehen werden könne. Dann beschrieb er die Liebesbeziehung zu Delphina Burtscher und einen Wandel, der mit der gemeinsam mit Wilhelm und Leonhard Burtscher vollzogenen Deser‐ tion eingesetzt habe: Flucht vor dem Krieg 143 <?page no="144"?> 412 GP Schlins an die BH Feldkirch, 28.6.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 121. 413 Gemeindeamt Schnifis an BH Feldkirch, 12.7.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 121. 414 Republik Österreich, Bundesministerium für Soziale Verwaltung, 29.1.1949. VLA, AVLReg IVa-168/ 121. 415 Bescheid, 21.2.1949. VLA, AVLReg IVa-168/ 121. „Die Familie Burtscher […] war als nazifeindlich bekannt. Auch Lorenz zeigte sich bei seiner Verhaftung nazifeindlich und trug auf seiner deutschen Militäruniform auf dem Kragen rote Aufschläge und Sterne. Die Unteroffiziersborten hatte er entfernt.“ 412 Ähnlich fiel die Stellungnahme der Gemeinde Schnifis, dem Heimatort von Lorenz, aus: „[…] es muss aber doch angenommen werden, dass er gegen den Nationalsozialismus war und seine Fahnenflucht als Widerstandsbewegung gewertet werden kann.“ 413 Kontakte zu Organisationen von Widerstandskämpfern hatte Maria Lorenz nicht, denn von dieser Seite gab es offenbar keinerlei Unterstützung. Erhebungen zu ihren Lebensverhältnissen ergaben das Bild einer völlig verarmten, alleinstehenden Kleinbäuerin, die mit dem Ertrag von einer Kuh und einer kleinen Witwenrente nach ihrem im Ersten Weltkrieg gefallenen Ehemann den Lebensunterhalt bestritt. Die Sozialabteilung der Vorarlberger Landesregierung war unschlüssig, wie sie entscheiden sollte und legte den Antrag mit der Stellungnahme der Gendarmerie Schlins dem Sozialministerium in Wien mit der Bitte um Prüfung und Weisung vor. Eigene Anstrengungen, das Urteil des Reichskriegsgerichts gegen Martin Lorenz zu besorgen (es lag im Landesgericht Feldkirch), sind dem Akt nicht zu entnehmen. Die Antwort aus Wien war eindeutig: „Aus dem vorgelegten Verhandlungsakt kann unter Berücksichtigung aller Umstände keinerlei Voraussetzung für eine Anspruchsberechtigung […] angenommen werden. Der Sohn der An‐ spruchswerberin war, wie aus dem Gend.Bericht hervorgeht, bis zu seinem Urlaub im Herbst 1943 ein pflichteifriger Soldat. Erst durch die Bekanntschaft eines Mädchens wurde er zur Fahnenflucht bewogen. Diese getätigte Handlung kann nicht als Einsatz im Kampf für ein freies, demokratisches Österreich gewertet werden.“ 414 Unschwer erkennbar, zitierte die Weisung äußerst selektiv aus dem Bericht der Gendar‐ merie. Der Aspekt des Wandels der Gesinnung, das Auftreten in einer durch österreichische Symbole veränderten Uniform und das Faktum, dass Lorenz nicht bloß wegen Fahnenflucht, sondern auch wegen Kriegsverrat verurteilt worden war, wurden vom Ministerium völlig ausgeblendet. Das Amt der Vorarlberger Landesregierung reproduzierte diese Argumen‐ tation im negativen Bescheid, den Maria Lorenz einen Monat später erhielt. 415 Hier ist tatsächlich Behördenversagen festzustellen, weil entgegen der Möglichkeit, das Urteil des Reichskriegsgerichts in die Betrachtung miteinzubeziehen, ein unvollständiges und damit unzutreffendes Bild über die Fahnenflucht von Martin Lorenz gezeichnet wurde. Ferner hatte die Behörde offenbar keine Kenntnis davon gewonnen oder unberücksichtigt gelassen, dass das Landesgericht Feldkirch 1946 bei der Aufhebung und Einstellung der Sondergerichtsverfahren gegen die Helfer*innen von Martin Lorenz, Wilhelm und Leonhard Burtscher diese eindeutig als Freiheitskämpfer eingestuft hatte. Maria Lorenz legte mit Hilfe eines Unterstützers Berufung gegen den Bescheid ein. Vorgebracht wurde, dass die Begründung auf unbelegten Behauptungen beruhe und 144 Peter Pirker <?page no="145"?> 416 Bescheid, 14.9.1949. VLA, AVLReg IVa-168/ 121. 417 Gemeindeamt Langenegg an BH Bregenz, 26.4.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 161. 418 Julius Schwärzler an das Amt der Vlg. Landesregierung, 23.4.1949. VLA, AVLReg IVa-168/ 161. dass Martin Lorenz das Motiv seiner Fahnenflucht ja nicht mehr selbst angeben könne. Angesichts des Todes ihres einzigen Sohnes und seines Wegfalls als Stütze ersuchte der Helfer von Maria Lorenz die Behörde um eine wohlwollende Behandlung. Das Amt der Vorarlberger Landesregierung reichte die Berufung an das Sozialministerium weiter, bereits mit dem Antrag, sie abzuweisen. Das Sozialministerium folgte dem Vorschlag mit drei Sätzen. Einer davon lautete faktenwidrig: „Es ist […] von Seiten des Opfers keinerlei Handlung gesetzt worden, die einen besonderen Einsatz für Österreich im Sinne des Opferfürsorgegesetzes erkennen ließe.“ 416 Die restlichen neun Ablehnungen bis 1949 betrafen Überlebende der Verfolgung. Vier von ihnen waren wegen Fahnenflucht oder Wehrdienstentziehung zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen von einem bis acht Jahren verurteilt worden. Die negativen Bescheide für diese vier Antragsteller ergingen im Jahr 1948. Besonders harsch erscheint der behördliche Umgang mit Julius Schwärzler, dem ersten Deserteur von Langenegg und Mitglied der lokalen Widerstandsgruppe. Er verlangte die Anerkennung einer mehr als ein Jahr wäh‐ renden Haft nach einem Urteil des Gerichts der 147. Division wegen Wehrkraftzersetzung im Jahr 1942/ 43, aus der er geflohen war und fortan im Untergrund gelebt hatte. Das Amt der Vorarlberger Landesregierung begründete die Ablehnung mit dem Mangel des Nachweises eines politischen Motivs der Handlungen, die zur Verurteilung geführt hatten. Das Urteil lag nicht vor, es war bloß im Strafregister verzeichnet. Obwohl Schwärzler seine antinazistischen Beweggründe ausführlich schilderte, schenkte ihm die Behörde keinen Glauben. Daran konnten auch zwei positive Stellungnahmen des Bürgermeisters von Langenegg, Joseph Anton Bechter, nichts ändern. In beiden hielt Bechter fest, dass Schwärzler sich mehrfach geweigert habe, der Einberufung Folge zu leisten, sich bei einem Festnahmeversuch gegen Polizisten gewehrt und mehrere Soldaten aufgefordert hatte, den Kriegsdienst zu verweigern. 417 All das verwarf die Behörde als unzulänglich. Sie stellte vielmehr rein persönliche Motive in den Raum. Auch Julius Schwärzler wehrte sich gegen die abschätzige Bewertung seiner Person durch die Behörden, allerdings anders als Maria Lorenz. Er attackierte die Amtsführer mit scharfen Worten: „Wenn ich mich weigerte, die Wortbefehle der Nazi durchzuführen und das Blutvergiessen für dieses verbrecherische System hasste, geschah dies aus politischen Gründen. Ich bezweifle, dass alle, die sich heute als gute Österreicher ausgeben, schon damals einen solchen konsequenten Kampf gegen den Krieg geführt haben. Oder sollte nach Ihrer Meinung der Kampf gegen den Krieg kein politischer Kampf gegen das nationalsozialistische Regime gewesen sein? Dann lasse ich mich von Ihnen gerne belehren, was ein wirklicher politischer Kampf ist.“ 418 Seine Berufung stieß auf taube Ohren. Julius Schwärzler gab jedoch nicht nach. Er beschäftigte die Behörde mit weiteren Anträgen und wandte sich mit ausführlichen Briefen an prominente Politiker außerhalb Vorarlbergs mit dem Ersuchen um Gehör, so an den Landeshauptmann von Oberösterreich, Heinrich Gleißner (ÖVP), von dem bekannt war, Flucht vor dem Krieg 145 <?page no="146"?> 419 An Julius Schwärzler, 20.10.1960. VLA, AVLReg IVa-168/ 161. 420 Bescheid, 19.4.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 136. dass er mehrfach in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen war. Zuletzt trat er 1960 an den Präsidenten des Nationalrats, Leopold Figl (ÖVP), ebenfalls KZ-Überlebender, heran, mit dem Ersuchen, ihm bei der Zuerkennung einer Haftentschädigung behilflich zu sein. Auch darauf reagierte das Amt der Vorarlberger Landesregierung bloß mit einem Schreiben an Schwärzler, dass nach der Entscheidung des Sozialministeriums ein Antrag „nicht mehr in Frage kommt“. 419 Eine ähnliche Auseinandersetzung, verursacht durch widerstreitende Bewertungen der Verweigerung der Wehrpflicht gegenüber dem NS-Staat, entstand zwischen dem Bregenzer Otto Dürnberger und den Behörden. Dürnberger, den die Vorarlberger KPÖ als Sympathisanten und Antifaschisten beschrieb, hatte das Sondergericht Kiel 1941 wegen Wehrdienstentziehung durch Flucht in das Ausland zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, die er bis zur Befreiung verbüßte. Im negativen Bescheid seines Antrags bekam er Folgendes zu lesen: „Die Verurteilung des Sondergerichts Kiel […] beruht auf rein militärischer Grundlage. Der Flucht vor dem Militärdienst liegen keine politischen Momente zugrunde, da der Anspruchswerber selbst angibt, vor 1938 keiner Partei angehört zu haben und er nur die Wehrdienstverweigerung als Ursache seiner Bestrafung anführt.“ Die Bestätigung der KPÖ wischte der Verfasser des Bescheids vom Tisch, ebenso die Angabe im Entlassungsschein des Zuchthauses, wonach Dürnberger „wegen pol. Vergehens“ in Haft gewesen war. Diese, so heißt es im Bescheid, „ist nicht wörtlich, sondern als allgemein gebräuchliche Redewendung aufzufassen.“ 420 Das Dokument zeigt weitere typische Merkmale negativer Bescheide: Der Beamte betrachtete den Fall gänzlich aus der Perspektive des Sondergerichts. Er ignorierte dabei den politischen Charakter der Sondergerichte und der KSSVO, den das Landesgericht Feldkirch im Zuge der Aufhebungs- und Einstellungsbeschlüsse der Urteile des Sondergerichts Feldkirch längst festgestellt hatte. Mittlerweile wurde jegliches Handeln fast nur mehr dann als „politisch“ gewertet, wenn der Antragsteller Mitglied einer politischen Partei gewesen war. Genau diese Problematiken thematisierte Dürnberger in seiner Berufung: „Eine politische Handlung wider die bestehende Nazi-Regierung konnte mir physisch im Augen‐ blicke der Fahnenflucht […] nicht nachgewiesen werden, denn weitaus nicht jeder aktive Gegner und Kämpfer gegen eine ihm […] verhasste Regierung muß dabei erwischt werden. […] Meine Flucht vor dem Militärdienst erfolgte jedoch ausschließlich aus Ablehnung des Naziregimes und den durch diesen verursachten, ungerecht geführten Krieg. Meine politische Überzeugung und Einstellung war ausgesprochen antifaschistisch im Sinne des meiner Klassenzugehörigkeit als Arbeiter angestrebten Zieles des wirklichen Sozialismus.“ Zur Einschätzung der Fahnenflucht als unpolitische Handlung sui generis stellte Dürn‐ berger aus seiner Sicht klar: „Fahnenflucht ist, insoferne sie nicht in Verbindung mit einem anderen gemeinen Verbrechen begangen wird, als solche allein schon eine politische Handlung, sie ist der Ausdruck des Gegenteils 146 Peter Pirker <?page no="147"?> 421 Ebd. 422 Siehe dazu den Beitrag von Pirker/ Salzmann in diesem Buch. VLA, AVLReg IVa-168/ 148. 423 Ein Nachweis für eine Nichtanrechnung von Zeiten der Flucht und des Lebens im Verborgenen in einem anderen Fall findet sich bei Pirker, „Ich verstehe nicht, warum ich Menschen erschiessen gehen soll…“. 424 Bescheid, 2.2.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 91. vom verlangten Verteidigungswillen der jeweils herrschenden Staatsmacht und Staatsordnung. Mir besonders aber gab diese politische Einstellung, die kategorische Verneinung des Hitlerfa‐ schismus, den Antrieb zur Flucht vor dieser verhassten Staatsform.“ 421 Dürnberger wies auch nach - um eine Behauptung des Bescheids zu widerlegen -, dass er Anfang der 1930er-Jahre Mitglied der Metallarbeiter-Gewerkschaft gewesen war. Trotzdem unterzog das Sozialministerium seine Argumentation keiner ernsthaften Abwägung. Die Zurückweisung erfolgte mit einem Satz. Bei Karl Schertler, der vom Sondergericht Feldkirch nach der KSSVO wegen Wehr‐ dienstentziehung verurteilt worden war, reichte das Eingeständnis, dass „er nicht aus parteipolitischen Gründen“ nach Liechtenstein geflohen war, sondern „um dem Militärdrill und deren Schikanen“ zu entgehen, für einen negativen Bescheid. Der Niederschrift der Einvernahme durch die Behörde ist zu entnehmen, dass er genau in diese Richtung befragt wurde. Nachvollziehbar ist auf der Grundlage des OFG vielleicht, dass ihm die Behörde keine Amtsbescheinigung gewährte, kaum jedoch, dass er für zweieinhalb Jahre Haft in Zuchthäusern und im Strafgefangenenlager IV Walchum keinen Opferausweis und keine Haftentschädigung erhielt. 422 Ein Schriftverkehr aus den späten 1970er-Jahren mit der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter legt nahe - ohne dies abschließend beurteilen zu können -, dass die Nichtanerkennung seiner Haft auch die Konsequenz hatte, dass sie nicht als Pensionsersatzzeit angerechnet wurde. Die negative Entscheidung der Behörde wirkte in dieser Hinsicht wie eine zweite Kriminalisierung, obwohl das Urteil des Sondergerichts ja bereits 1946 aufgehoben worden war. 423 Dem Fluchthelfer Anton Kofler versagte das Amt der Vorarlberger Landesregierung die bereits beschlossene Amtsbescheinigung, als bekannt wurde, dass er vom KZ-Verband Vorarlberg ausgeschlossen worden war, weil sein Strafregisterauszug eine längere Liste von Eigentumsdelikten dokumentierte, die er vor der politischen Haft im KZ Mauthausen begangen hatte. 424 Häufig erstellte die Bezirkshauptmannschaft Bregenz die inhaltlichen Grundlagen für negative Entscheidungen auf der Basis spekulativer Beurteilungen der Antragsteller. So wusste sie über Gebhard Jenny missgünstig zu berichten, dass „er in der Fahnenflucht nur eine Möglichkeit suchte, der Härte des Wehrdienstes im deutschen Heere zu entkommen. Ein Einsatz zur Schaffung eines unabhängigen, demokratischen Österreichs kann dem Handeln des Anspruchwerbers wohl nicht untergeschoben werden, zumal sein Streben, im amerikanischen Heer Dienst zu leisten, zu keinem Erfolg geführt hat.“ Das Scheitern dieses „Strebens“, zur amerikanischen Armee überzulaufen, hatte seine Ursache freilich zunächst darin gehabt, dass der einmal mehr zu erwähnende Postenkom‐ mandant von Blons, Josef Burtscher, seine Flucht in die Schweiz durch Verhaftung vereitelt Flucht vor dem Krieg 147 <?page no="148"?> 425 Gebhard Jenny an Fürsorgeamt Bregenz, 3.4.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 173. 426 Gutachten, 2.4.1942. VLA, AVLReg IVa-168/ 171. 427 Berufung, 14.6.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 171. 428 An die österr. demokratische Widerstandsbewegung in Bludenz, 27.9.1945. VLA, AVLReg IVa-168/ 320. Warum dieser Antrag/ Bericht erst 1953 dem Amt der Vorarlberger Landesregierung vorgelegt wurde, blieb offen. hatte. Sie gelang ihm erst später, nach dem Entweichen aus der Haft in Innsbruck. 425 Dass sich seine Vorstellung, in der Schweiz der US Army beitreten zu können, schon aufgrund der dortigen Internierung nicht realisieren ließ, war nicht ihm anzulasten. Weit auseinanderklafften Selbstdarstellung und Fremdeinschätzung durch die Behörde im Verfahren zum Antrag von Josef R. aus Dornbirn. In seinem Ansuchen machte er geltend, dass er zweimal Einberufungsbefehle sabotiert habe und deshalb in Gestapohaft genommen sowie in den Nervenheilanstalten Hall in Tirol und Valduna in Rankweil festgehalten worden ist. Er legte dem Amt Bestätigungen zur Gestapohaft und zu Einweisungen in die Anstalten vor. Ein ärztliches Gutachten vom April 1942 offenbarte, dass er tatsächlich 1939 nach der Musterung die Unterfertigung des Wehrpasses verweigert und 1942 einen neuerlichen Einberufungsbefehl verbrannt und sich nach Vorführung am Wehrmeldeamt der Stellung widersetzt hatte. Der Gutachter, Arzt in der Nervenheilanstalt Hall, beschied ihm dann „ein fanatisch zähes Verharren auf seinem Standpunkt“, ein „übersteigertes Rechtsempfinden mit Starrsinn und zäher Opposition“ 426 . Er goss seinen Eindruck in das Krankheitsbild „schizoider Psychopath“ und rechtfertigte somit die Anhaltung in einer geschlossenen Anstalt. Das Amt der Vorarlberger Landesregierung folgte 1948 der Darstellung des NS-Arztes und lehnte den Antrag ab, weil es sich um keine politische Haft gehandelt habe - die Einweisung in die Nervenheilanstalten sei mit Rücksicht auf sein Nervenleiden erfolgt. Auch R. wies in einer erfolglosen Berufung die Begründung des Bescheids „auf das Schärfste“ zurück. 427 Die beiden letzten positiven Bescheide des Amts der Vorarlberger Landesregierung stammen aus dem Jahr 1953. Beide betrafen Verfolgungen im Zusammenhang mit dem Delikt Kriegsverrat. Benjamin Bischof, den das Sondergericht Feldkirch zwar vom Vorwurf der Begünstigung der Fahnenflucht von Wilhelm und Leonhard Burtscher freigesprochen, aber für die Nichtanzeige ihres kriegsverräterischen Unternehmens verurteilt hatte, er‐ hielt einen Opferausweis und Haftentschädigung. Um es vorwegzunehmen, es sollte der einzige positive Ausgang von Opferfürsorgeverfahren im Zusammenhang mit der Deserteursgruppe von Sonntag bleiben. Bemerkenswert ist die positive Entscheidung aus zwei Gründen: Erstens erfolgte sie auf Basis der Vorlage einer Abschrift des Urteils des Sondergerichts Feldkirch - den Beamten der Fürsorgeabteilung war spätestens ab diesem Zeitpunkt bekannt, dass sich der Akt im Landesgericht befand. Zweitens fiel die positive Entscheidung fünf Jahre nach der negativen Entscheidung über das Ansuchen der Mutter von Martin Lorenz, der wegen der Beteiligung an diesem „kriegsverräterischen Unternehmen“ ja hingerichtet worden war. In den vorgelegten Dokumenten führte Bischof aus, was er im Strafverfahren begreiflicherweise bestritten hatte, nämlich dass er die Deserteure verköstigt und ihnen weitergeholfen habe. Außerdem habe er im Dezember 1944, nach der Haftentlassung, den noch flüchtigen Deserteur Leonhard Burtscher durch mehrere Tage bzw. Wochen hindurch verpflegt. 428 Bischof legte als Beweis für seine 148 Peter Pirker <?page no="149"?> 429 Bescheid, 24.7.1953. VLA, AVLReg IVa-168/ 320. Die vom Gericht verhängte Haftstrafe hatte Bischof wegen Haftunfähigkeit nicht angetreten. 430 VLA, AVLReg IVa-168/ 417. 431 Schreiben an die BH Feldkirch, 12.5.1959. VLA, AVLReg IVa-168/ 420. 432 BH Feldkirch an Amt der Vorarlberger Landesregierung, 23.6.1959. VLA, AVLReg IVa-168/ 420. 433 Bescheid, 29.9.1959. VLA, AVLReg IVa-168/ 420. antinazistische Einstellung ein Schreiben der HJ vom Februar 1945 vor, in dem er dafür gerügt worden war, seinen Sohn nicht zu den HJ-Appellen zu schicken. Dem Amt der Vorarlberger Landesregierung genügte dieses Schreiben, um festzustellen, dass Bischof die Deserteure „wegen seiner gegnerischen Einstellung zum Nationalsozialismus nicht angezeigt habe“ und weiter: „Der Antragsteller war daher als Opfer der politischen Verfol‐ gung anzuerkennen, weil er aus politischen Gründen durch Maßnahmen eines Gerichts in erheblichem Ausmaße zu Schaden gekommen ist.“ Für die Zeit der Untersuchungshaft vom 9. Juli bis 27. November 1944 erhielt er die vorgesehene Haftentschädigung. 429 Paradox erscheint, dass das Amt der Vorarlberger Landesregierung sechs Jahre später alle Anträge der im selben Verfahren sechs beschuldigten und vier verurteilten Mitglieder der Familie Burtscher ablehnte bzw. zurückwies. Die Angehörigen des hingerichteten Wilhelm brachten ihre Anträge zeitgleich am 1. Juli 1958 bei der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch ein - warum dies nicht schon 1945/ 46 geschehen ist, kann nur mit mangelnder Unterstüt‐ zung oder einem „Burgfrieden“ in der Gemeinde erklärt werden. Nachvollziehbar ist vor dem Hintergrund der damaligen Gesetzeslage, dass das Amt der Vorarlberger Landesregie‐ rung Paula Rützler (geb. Burtscher) umgehend empfahl, ihren Antrag zurückzuziehen, da sie aufgrund einer Schwangerschaft und Geburt kürzer als die für einen Opferausweis erforderlichen drei Monate inhaftiert gewesen war. 430 Ihr Hinweis darauf, dass sie durch die Verfolgung wirtschaftlich erheblich gelitten hatte, weil ihr die Familienunterstützung entzogen worden war, kümmerte das Amt nicht. Für eine derartige Entschädigung gebe es kein Gesetz. Schon weniger nachvollziehbar ist, dass die Behörde die Anträge von Franz Josef und Ignaz Burtscher, gegen die das Verfahren wegen Begünstigung ihrer desertierten Brüder und von Martin Lorenz mangels Beweisen eingestellt worden war, ablehnte. Sie hatten von Anfang Juli bis Mitte Oktober mehr als drei Monate in Untersuchungshaft verbracht. Den Behörden ging es nun darum, ob Ignaz, damals ein Kind, seinen desertierten Brüdern aus politischen Motiven geholfen hatte. Der Bearbeiter des Aktes im Amt der Landesregierung hegte bereits eine Vermutung: „Bei den Fahnenflüchtigen handelt es sich um Verwandte des Anspruchswerbers, sodass eher anzunehmen ist, dass ihn andere als politische Gründe zur Nichtanzeige bewogen haben.“ 431 Wenig überraschend ging die Klärung dieser Frage durch die damit beauftragte Gendarmerie Satteins ganz in diesem Sinne aus. Mit Ignaz Burtscher selber wurde nicht gesprochen, man begnügte sich mit der Auskunft des Vaters, der wohl wahrheitsgemäß angab: „Mein Sohn Ignaz war im Jahr 1944 erst 15 Jahre alt und hatte von einer politischen Tätigkeit oder Gesinnung noch keine Ahnung.“ 432 Wenige Tage später legte die Behörde Ignaz Burtscher nahe, seinen Antrag zurückzuziehen. Er tat es nicht und so folgte der negative Bescheid. Darin behauptete der verantwortliche Beamte wahrheitswidrig, dass die Einvernahme Ignaz Burtschers (die nie stattgefunden hatte) keinerlei politische Motive ergeben habe. 433 Keine Berücksichtigung Flucht vor dem Krieg 149 <?page no="150"?> 434 Niederschrift, 8.1.1959. VLA, AVLReg IVa-168/ 420. 435 Niederschrift, 11.6.1959. VLA, AVLReg IVa-168/ 426. 436 BH Feldkirch an Amt der Vorarlberger Landesregierung, 3.6.1959. VLA, AVLReg IVa-168/ 416. 437 Bescheid, 25.9.1959. VLA, AVLReg IVa-168/ 419. fand hingegen die Einvernahme des Altbürgermeisters von Sonntag, wonach „die ganze Familie Burtscher gegen das damalige Regime eingestellt war.“ 434 Die Behandlung von Ignaz Burtscher verdeutlicht nicht zuletzt, wie blind das OFG und die Behörde gegenüber der Verfolgung von damaligen Kindern durch das NS-Regime war. Der Antrag von Franz Josef Burtscher nahm dieselben Bahnen. Immerhin wurde er auf dem Gendarmerieposten Hohenems persönlich befragt. Er schilderte sein damaliges Wissen um die Desertion seiner Brüder und seine Lebensmittelhilfe für sie, zur Gretchenfrage sagte er: „Wenn ich auch der NSDAP ablehnend gegenüberstand so muß ich doch sagen, daß ich von einer Anzeigenerstattung über die Fahnenflucht meiner Brüder vorwiegend deshalb Abstand nahm, weil es sich eben um meine leiblichen Brüder handelte.“ 435 Mit diesem Hinweis war auch sein Antrag - negativ - erledigt. Juliana Stemmer, die als alleinerziehende Mutter von sechs Kindern vier Monate in U- Haft gehalten worden war, wurde vom Gendarmeriekommando Schlins zu ihrem Antrag befragt. Sie gab an, dass sie bei ihrem Aufenthalt am Burtscher-Hof im Juni 1944 von der Fahnenflucht ihrer Brüder erfahren hatte und von ihnen gewarnt worden sei, wenn sie etwas verrate, ihr und ihren Kindern Haft drohe. Der Gendarm protokollierte: „Die Verheimlichung, bzw. seinerzeitige Nichtanzeige der Fahnenflüchtigen beruhte damals an‐ geblich nicht auf politische Motive, sondern aus Furcht vor eventueller Strafverfolgung.“ 436 Genauso verfasste der Beamte der Landesregierung die Begründung für den negativen Bescheid. Auch Juliana Stemmer erhielt trotz ihrer ärmlichen Lage keine Entschädigung für die während der Haft entwendeten Habseligkeiten, worum sie in der Einvernahme durch den Gendarmen gebeten hatte. Auf den Antrag von Delphina Burtscher, die insgesamt viereinhalb Monate in Haft verbracht hatte, beschied derselbe Beamte, dass sie ihre Brüder und ihren Liebhaber Martin Lorenz nur deswegen nicht angezeigt hatte, weil es ihr „zuhause eingeschärft wurde, Stillschweigen zu bewahren und nichts zu verraten.“ 437 Der Vater der Deserteure, Franz Xaver Burtscher, mittlerweile achtzig Jahre alt, bemühte sich besonders dringlich um eine Anerkennung nach dem OFG und um Auszahlung einer Haftentschädigung - er hatte fast ein Jahr in Gefängnissen in Bludenz, Feldkirch und Schwäbisch-Hall verbracht. Ein Grund für seinen Antrag war, dass er seinen Kindern nichts vererben konnte. Er machte die Plünderung seines Hofes nach der Verhaftung für die wirtschaftliche Misere verantwortlich. Die Gemeinde Sonntag hatte ihm informell offenbar nur einen Teil des geraubten Gutes ersetzt. Er machte auch geltend, dass sein Sohn Leonhard vom langen Leben im Verborgenen gesundheitlich stark mitgenommen, bereits 1956 im Alter von 38 Jahren verstorben sei und eine Frau mit sechs Kindern hinterlassen hatte. Auch zu seinem Antrag erging vom Amt der Landesregierung ein Auftrag an die BH Feldkirch zu ermitteln, ob der Hilfe für seine desertierten Söhne politische Motive zu Grunde lagen. Die Erhebungen der Gendarmerie Schlins erbrachten ein klares Ergebnis: „Seine seinerzeitige Unterlassung der Anzeige betreffs Fahnenflucht seiner Söhne und eines Bekannten, beruhten sicherlich nicht nur auf verwandtschaftlichen Gründen, sondern auch aus 150 Peter Pirker <?page no="151"?> 438 GP Schlins an BH Feldkirch, 8.1.1960. VLA, AVLReg IVa-168/ 418. 439 Amt der Vorarlberger Landesregierung an Franz Xaver Burtscher, 26.1.1960. VLA, AVLReg IVa-168/ 418. 440 Franz Xaver Burtscher an Vorarlberger Landesregierung Abt. IVa, 19.2.1960. VLA, AVLReg IVa-168/ 418. 441 Bestätigung, 31.1.1960. VLA, AVLReg 168/ 420. politischen Motiven heraus […]. Nach h.o. Dafürhalten ist Burtscher im Sinne der Opferfürsorge vorzugsweise zu behandeln, zumal es als erwiesen erscheint, daß er durch die seinerzeitige Naziherrschaft und ob seiner politischen Einstellung alles verloren hat […]. Durch die ganzen Umstände zu schließen, beruhte die Unterstützung durch Nichtanzeige im großen Maße auf politischen Motiven, bezw. Überzeugung, daß die Machtherrschaft und der Krieg zu Ungunsten der nat.soz. Regierung ende.“ 438 Dem zuständigen Beamten der Vorarlberger Landesregierung scheint diese Stellungnahme nach den bereits erfolgten Ablehnungen der Anträge der Kinder von Franz Xaver Burtscher nicht ins Konzept gepasst zu haben, denn er berücksichtigte sie in keiner Weise, ganz im Unterschied zu vorangegangenen Berichten der Gendarmerie, in denen er für die Begründung negativer Bescheide stets passende Zitate gefunden hatte. Der Beamte richtete ein Schreiben an Franz Xaver Burtscher und ersuchte ihn, „Beweismittel beizubringen (Zeugen etc.), aus denen hervorgeht, dass Ihre Haft aus politischen Gründen erfolgte.“ 439 Dieser antwortete erstmals geharnischt. Er warf dem Beamten vor, voreingenommen zu sein. Unter anderem führte er dagegen die Aufhebung seiner Verurteilung durch das Sondergericht Feldkirch seitens der Justiz der Zweiten Republik an: „Eine von ihnen gewünschte Bestätigung lege ich diesem Schreiben bei und hoffe, daß die Landesregierung meine Verurteilung von 1944 genauso als politische Strafe anerkennt, wie es die österr. Bundesregierung tat, als sie vor einigen Jahren alle politischen Strafen amnestierte. Daß auch meine Strafe unter diese gefallen ist, dürfte Ihnen bei den Erhebungen entgangen sein. […] Jedenfalls haben sich die Herren beim Gericht in Feldkirch mit Verwunderung geäussert, daß die Landesregierung diesen in Vorarlberg bekannten und krassesten Fall als politisch bezweifelt.“ 440 Burtscher legte eine Bestätigung zweier ehemaliger Bürgermeister bei, darunter des Amts‐ inhabers während der NS-Zeit, der an der Verfolgung nicht unwesentlich beteiligt gewesen war. Darin wurde die Verhaftung und Beraubung der Familie Burtscher als ein „politisches Verbrechen“ bezeichnet. Die Verfasser betonten, es sei „weit und breit bekannt [gewesen], daß sich in diesem entlegenen Walsertal eine Widerstandsgruppe aufhalte, die immer noch nicht gefasst werden konnte. Auch war bekannt, daß diese Gruppe von gleichgesinnten Bauern unterstützt wird und gegen den Zugriff der Gestapo gedeckt wird.“ 441 Aus dem Schreiben der Altbürgermeister geht - en passant - auch hervor, warum es unmittelbar nach Kriegsende zu keiner Aufarbeitung der Verfolgung gekommen war: „Es ist uns bekannt, daß der Sohn des Burtscher, Leonhard Burtscher, noch in seinem Versteck das Versprechen machte, daß er sich an niemanden rächen werde, niemanden verraten werde, ja sogar seinen Gegnern helfen werde, wenn er diese harte Zeit überlebe. Burtscher hat dieses Versprechen auch gehalten. Kein Einwohner wurde durch ihn oder seine Mitwirkung verhaftet oder geschädigt.“ Flucht vor dem Krieg 151 <?page no="152"?> 442 Bestätigung, 31.1.1960. VLA, AVLReg 168/ 420. 443 Bundesministerium für soziale Verwaltung an Amt der Vorarlberger Landesregierung, 27.12.1961. VLA, AVLReg 168/ 420. Die Altbürgermeister sahen nun offenbar die Zeit gekommen, sich ihrerseits für die Zurückhaltung der Überlebenden der Burtscher-Familie nach Kriegsende und den scho‐ nenden Umgang mit den NS-Funktionären erkenntlich zu zeigen. Franz Xaver Burtscher untermauerte sein Schreiben außerdem noch mit einem Bericht seines Sohnes Leonhard, den dieser 1947 für die französischen Militärbehörden über die Deserteursgruppe Sonntag verfasst hatte. Den Beamten der Landesregierung beeindruckte all das wenig. Er hatte sich in der Zwischenzeit vom Landesgericht Feldkirch den Akt des Sondergerichts besorgt. Während Franz Xaver Burtscher davon ausging, dass darin die politischen Hintergründe der Ver‐ folgung zweifelsfrei belegt waren, verwendete ihn der Beamte genau umgekehrt. Er nahm die damaligen Aussagen Burtschers bei der Gestapo und vor Gericht, in denen er nachvollziehbarerweise jede politische Motivation bestritten hatte, als Fakten, um den Antrag Burtschers auf Opferfürsorge und Haftentschädigung ablehnen zu können: „In den Strafakten KLs 52/ 44 […] ist zu ersehen, daß die Unterlassung der Anzeige der Fahnenflucht durch Burtscher, wie er damals dem Gericht angab, erfolgte, weil er von den fahnenflüchtigen Söhnen bedroht wurde und aus väterlichen Gefühlen heraus.“ 442 Ganz sicher war er sich seines Vorgehens offenbar nicht, denn - wie in anderen Fällen - legte er die Begründung dem Sozialministerium vor und ersuchte um eine Weisung. Diese kam umgehend mit einem Satz: „Im vorliegenden Fall erscheint es nicht erwiesen, dass die Begünstigung der fahnenflüchtigen Söhne aus politischen Gründen erfolgte.“ 443 Wenige Tage später schloss der Beamte den Fall Burtscher ab. Es dürfte Franz Xaver Burtscher sprachlos gemacht haben, dass ihn das Sondergericht - nun gewissermaßen im Gewand der Vorarlberger Landesregierung - für seine Aussage zum zweiten Mal verurteilte. Eine Berufung liegt im Akt nicht ein. Das Opferfürsorgeverfahren über den Antrag von Franz Xaver Burtscher war noch aus einem anderen Grund fragwürdig. Die Behörde hätte ihm, wenn sie ihm schon keine Amtsbescheinigung aufgrund von Widerstandshandlungen ausstellen und die damit verbundenen Leistungen nicht gewähren wollte, jedenfalls einen Opferausweis zuerkennen können, denn dafür benötigte es nur den Nachweis einer Haft infolge eines politischen Gerichtsverfahrens. Diesen Nachweis hatte das Landesgericht Feldkirch - wie oben ge‐ zeigt - bereits 1946 durch die Anwendung des Gesetzes „betreffend die Einstellung von Strafverfahren und die Nachsicht von Strafen für Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus“ erbracht. Mit dem Opferausweis wäre ebenfalls die Zuerkennung einer Haftentschädigung möglich gewesen. Doch Bemühungen des zuständigen Beamten, das Verfahren mit dieser Maßnahme „abzufedern“, findet man in den Akten nicht. Sachlich falsch und unverständlich bleibt, dass die Beamten der Fürsorgeabteilung das vorliegende Todesurteil des Reichskriegsgerichts gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz sowie das ebenso vorliegende Sondergerichtsurteil gegen die Verwandten und Helfer*innen nicht 152 Peter Pirker <?page no="153"?> 444 Peter Pirker, Waisen nach Holocaust-Opfern und politischen Verfolgten in der Opferfürsorge. Rechtliche Rahmenbedingungen, Anspruchsprobleme, quantitative Schätzungen, 2. Bericht zum Forschungsprojekt Evaluierung des Opferfürsorgegesetzes hinsichtlich der Behandlung von Waisen nach NS-Opfern, Wien 2013, 14-15. als Dokumente der politischen Verfolgung heranzogen und der Behandlung der Anträge zugrunde legten. Delphina Burtscher hätte das OFG noch eine andere Möglichkeit der Fürsorge geboten. Da sie im September 1944 die Tochter von Martin Lorenz zur Welt gebracht hatte, wäre ihr ein Antrag auf eine Waisenrente für ihr Kind, entweder als Kind eines hingerichteten Widerstandskämpfers (OFG 1945) oder eines Todesopfers der politischen Verfolgung (OFG- Novelle 1949), zugestanden. 444 Die Zurückweisung der Anträge der Familie Burtscher stellen keinen Sonderfall dar. Das Amt der Vorarlberger Landesregierung entschied in vier weiteren Fällen von Flucht‐ helfer*innen in erster Instanz in den 1950er-Jahren gleich ( Johann König, Hermann Hofer, Adelreich und Maria Nagel). In allen Fällen lautete der Ablehnungsgrund dass ein politisches Motiv fehle. In zwei von diesen Fällen gewährte die Behörde immerhin schließlich einen Opferausweis und Haftentschädigung, in der Familie Burtscher hatte aber offenbar niemand Kraft, Ressourcen und Unterstützung genug, um in die Berufung zu gehen. Die schlechte Bilanz der Anträge auf Opferfürsorge bei Deserteuren, Wehrdienstent‐ ziehern und ihren Helfer*innen wirft natürlich die Frage auf, wie es überhaupt dazu kam. Einerseits ist die Ursache sicher grundsätzlich in der restriktiven Gesetzeslage und in den Formulierungen der Durchführungserlässe von 1946 und 1948 zu suchen, die eine Diskriminierung von „persönlichen“ Motiven für Fahnenflucht und Hilfestellungen einführten und nur rein „politische“ Beweggründe als hinreichend für die Aufnahme in die Opferfürsorge zuließen. Die Aufgabe von Beamten ist im demokratischen Rechtsstaat der Vollzug der vom Parlament erlassenen Gesetze. Andererseits zeigte die Analyse von Einzelfällen, dass die Sozialabteilung des Amts der Vorarlberger Landesregierung doch einigen Handlungsspielraum bei der Gewichtung und Berücksichtigung von verlangten Nachweisen hatte, der jedoch meist zu Ungunsten der Antragsteller*innen genutzt wurde. Auffällig ist, dass bei der Entscheidungsfindung bisweilen Inhalten aus Ermittlungen und bereits als nicht erfolgt aufgehobenen Urteilen der NS-Justiz der Vorzug gegenüber Zeugenaussagen und Ermittlungsergebnissen gegeben wurde, die Angaben der Antrag‐ steller*innen bestätigten. Um die Entscheidungspraxis ergänzend zu erklären, ist daher ein Blick auf das handelnde Personal der Behörde notwendig. Leiter der Fürsorgeabteilung im Zeitraum von 1945 bis 1958 war der Jurist Hermann Winter. Viele der Amtsschreiben in den analysierten Akten (etwa im Verfahren zu Julius Schwärzler und Benjamin Bischof, aber nicht mehr in den Verfahren zur Familie Burtscher) wurden von ihm abgezeichnet. Der Lebenslauf von Hermann Winter, geboren 1893 in Pöchlarn (Niederösterreich), zeigt eine nicht untypische österreichische Beamtenkarriere. Nach dem Jusstudium leistete er von 1914 bis 1918 Kriegsdienst in der k. u. k.-Armee und erhielt als Frontoffizier mehrere Tapfer‐ keitsauszeichnungen. Nach dem Ersten Weltkrieg leitete er in Feldkirch von 1921 bis 1938 die Arbeiterkammer Vorarlberg, nach deren Auflösung wurde er Angestellter der Flucht vor dem Krieg 153 <?page no="154"?> 445 VLA, AVLReg III, PrsP-P00609 Dr. Hermann Winter (25.12.1893); Auskunft von Ulrich Nachbaur, 19.7.2023; Vorarlberger Nachrichten, 26.1.1955; 30.12.1958. 446 Rechenschaftsbericht der Vorarlberger Landesregierung an den Vorarlberger Landtag über das Jahr 1960, 14. Beilage im Jahr 1961 zu den stenographischen Sitzungsberichten des XIX. Vorarlberger Landtages. 447 Bescheid, o. D. VLA, AVLReg IVa-168/ 320. 448 50 Jahre IfS - „…es ist ein Gemeinschaftswerk! “ Ein Gespräch mit Hermann Girardi, in: Zeitschrift des Instituts für Sozialdienste Vorarlberg 22 (2012) 2, 6-7. 449 Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg, 368-370 Landeshauptmannschaft Vorarlberg, dann war er Mitarbeiter des Reichsstatthalters für Tirol und Vorarlberg; im Juni 1945 übernahm ihn der Vorarlberger Landesausschuss. Er wurde zum Landesoberregierungsrat ernannt und erhielt die Leitung der Fürsorgeabtei‐ lung. Winter war Mitglied von vier politischen Parteien bzw. Organisationen: Von 1923 bis 1934 gehörte er der Sozialdemokratischen Partei an, von 1934 bis 1938 der christlichsozialen Vaterländischen Front, 1939 beantragte er die Mitgliedschaft bei der NSDAP, die er 1940 erhielt. Nach dem Ende des Nationalsozialismus schloss er sich der SPÖ an. Bezüglich seiner Wehrpflicht kann noch ergänzt werden, dass er 1939 einen Offiziers-Umschulungskurs beim Gebirgsjägerregiment 136 in Innsbruck absolvierte. 1941 beantragte er eine Uk- Stellung, die zunächst von der Wehrersatzinspektion abgelehnt wurde, dann jedoch - wohl nach Intervention des stellvertretenden Gauleiters Herbert Parson - durchging. Im Februar 1945 rückte er doch noch zu den Standschützen nach Schlanders ein. Die Übernahme in den Dienst des demokratisch gewordenen Landes Vorarlberg drei Monate später dürfte zur Ausnahme von der Registrierungspflicht im Jahr 1947 geführt haben. 445 Bei aller gebotenen Vorsicht lässt sich angesichts einer derart geschmeidigen, an alle politischen Verhältnisse sich anpassenden Biografie kaum Empathie für Antragsteller*innen erwarten, die zu einer kleinen nonkonformistischen Minderheit gehörten. Auch als Frontoffizier der kaiserlichen Armee und als Reserveoffizier der Wehrmacht dürfte Winter - wenngleich ihm ein neuerlicher Kriegseinsatz erspart blieb - wenig Verständnis für Deserteure und ihre Helfer*innen aufgebracht haben. Er scheint sich strikt an die Richtschnur geschriebenen Rechts gehalten zu haben, ausgelegt immer zugunsten des Staates und - wenn irgendwie möglich - gegen die Antragsteller*innen. Sein Nachfolger Hermann Girardi 446 hatte als junger Jurist bereits unter seiner Leitung Opferfürsorgeakten bearbeitet, etwa den positiven Bescheid zum Antrag von Benjamin Bischof ausgestellt. Nach der Pensionierung Winters bearbeitete er - zumindest zum Teil - die Anträge der Burtscher-Familie. 447 Hermann Gi‐ rardi gründete wenige Jahre später das Institut für Sozialdienste, unter anderem gemeinsam mit dem ehemaligen Deserteur Kaplan Emil Bonetti. 448 Da es nach 1959 kaum mehr Anträge von Deserteuren und Helfer*innen gab, lässt sich nicht sagen, ob er später eine andere, Verfolgungsopfern entgegenkommendere Haltung entwickelte. Der äußerst restriktive, oft kaltschnäuzige Umgang mit Verfolgten des NS-Regimes in den Nachkriegsjahrzehnten charakterisiert die konservative politische Kultur der Landesverwaltung, die eben auch stark und nachhaltig von ehemaligen Nationalsozialisten wie dem langjährigen Landes‐ amtsdirektor Elmar Grabher (1911-1987) geprägt war. 449 Das Opferfürsorgesetz wurde nach 1945 nie grundlegend verändert, nur ständig repa‐ riert. Strukturelle Defizite, wie ein ganz enges Verständnis politischen Handelns, der Ausschluss sozialer Beweggründe für widerständiges Handeln, mangelnde Sensibilität 154 Peter Pirker <?page no="155"?> 450 Metzler, Soldaten, 559; Forster, Opfer, 675. 451 Zu Weiss siehe Bundschuh, August Weiß; zu Metzler siehe Pirker, Subversion. 452 Email von Rainer Sandholzer an Peter Pirker, 8.10.2020. für die Situation von Kindern und Familien von Verfolgten oder der Ausschluss von Vertriebenen, wurden zwar erkannt, aber nicht behoben. Der Gesetzgeber milderte die negativen Folgen für die „vergessenen Opfer“ durch die Gründung des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus im Jahr 1995 zumindest ein Stück weit ab. Für die Anerkennung als „Opfer des Nationalsozialismus“ genügte nun der Nachweis „Opfer typisch nationalsozialistischen Unrechts“ geworden zu sein. Im Jahr 2002, drei Jahre bevor das Parlament die NS-Militärjustiz als Unrecht bewertete, verzichtete der Nationalfonds nach einigen Auseinandersetzungen schließlich auf die „Motivforschung“ bei Deserteuren, deren Angehörigen und Helfer*innen. Zwei der Präzedenzfälle dafür waren August Weiß und Emil Bonetti aus Dornbirn. 450 Von den Betroffenen der Familie Burtscher lebten zu diesem Zeitpunkt nur mehr Delphina, deren Tochter Maria und Ignaz. Sie stellten keinen Antrag mehr. - 7.3 Mein Vater war Deserteur - Positive Tradierung innerhalb von Familien Die österreichische Nachkriegsgesellschaft war eine Gesellschaft der Veteranen der Wehr‐ macht; Deserteure, deren Angehörige und Helfer*innen blieben eine kleine Minderheit in einem eher verständnislosen Umfeld. Spätestens in den 1950er-Jahren, mit der Wiederauf‐ stellung des Bundesheeres unter dem Kommando ehemaliger Wehrmachtsoffiziere und dem Entstehen der Kameradschaftsverbände, auch angesichts der restriktiven Opferfür‐ sorge verstummten viele. Doch dabei ist es nicht geblieben - durch das Empowerment der Rehabilitierungsinitiativen seit den späten 1990er-Jahren fanden Deserteure wie August Weiss und Überläufer zu den Alliierten wie Walter Metzler, beide aus Dornbirn, ihre Sprache wieder. 451 Im Verlauf des Forschungsprojekts meldeten sich nach Medienberichten überraschend viele Angehörige oder Bekannte bereits verstorbener Deserteure. Mit einigen von ihnen konnten längere Gespräche oder Interviews geführt werden. Diese Gespräche zeigten, dass es bei Deserteuren nicht nur Schweigen oder Verbitterung gab, sondern auch positive und selbstbewusste Tradierungen der Emanzipation aus der von ihnen erwarteten totalen Aufopferung im Krieg des NS-Staates. Rainer Sandholzer aus Bürs meldete sich, um auf die Desertion von Elmar Steurer hinzuweisen: „Auch er gehörte zu diesem Personenkreis, dem es nach seinem Fronturlaub nicht mehr gelüstete dem Tod in die Augen zu sehen oder gar als Held auf einem Friedhof zu landen.“ 452 Er vermittelte ein Interview mit Konrad Steurer, dem 1966 geborenen Sohn von Elmar Steurer. Sandholzers Empfehlung, sich mit der Geschichte des langjährigen Bürger‐ meisters von Bürs, Landtagsabgeordneten der SPÖ und Vizepräsidenten des Vorarlberger Landtags zu beschäftigen, traf sich mit einer Zuschrift von Hansjörg Klotz (geboren 1946) aus Stallehr, der Näheres über das Versteck und die Versorgung von Elmar Steurer und zwei weiteren Deserteuren am Zalum, einem steilen Bergmähder südwestlich über Bürs und Bludenz, wusste. Flucht vor dem Krieg 155 <?page no="156"?> 453 Truppenarzt, Heeresentlassungsstelle XVIII, Wehrmachtsärztliches Zeugnis Klotz Johann, 23.6.1944. TLA, Wehrstammbuch Johann Klotz. 454 Interview mit Hansjörg Klotz, geführt von Peter Pirker, 11.8.2020. 455 Franz J. Fröwis, Das Kriegsende 1945 in Bludenz, in: Montfort 47 (1995) 3, 207-239, 208-210. 456 Die in der Nacht vom 3.5. auf den 4.5. aktiv an dem Anschlag auf die Kreisleitung teilgenommenen Personen. VLA, LR Bludenz, Sch. 15, Akt 23. 457 Interview mit Konrad Steurer, geführt von Peter Pirker, 17.6.1921. Die folgenden direkten Zitate von Konrad Steurer stammen aus diesem Interview, wenn nicht anders angegeben. Johann Klotz, Hansjörg Klotzs Vater, war von 1941 bis 1944 Sanitäts-Unteroffizier in der 6. Gebirgsdivision an der Lizzafront in Nordfinnland. Wegen eines chronischen Zwölffingerdarmgeschwürs, das sich, wie es in einem wehrmachtsärztlichen Zeugnis hieß, während des Wehrdienstes „schicksalsmäßig“ verschlimmerte, wurde er im Juli 1944 mit sehr guten Bewertungen seiner bisherigen militärischen Leistungen entlassen und kehrte als Bediensteter zu den Stadtwerken Bludenz zurück. 453 Bald kam er durch seine Mutter in Kontakt mit einer Gruppe von christlichsozialen Regimegegnern in Bürs. Er hatte mit den Worten des Sohnes „die Nase voll vom Nationalsozialismus ohne besonders politisch zu sein“. 454 In den Nachbargemeinden Bludenz und Bürs gingen im April 1945 mehrere Gruppen daran, eine kampflose Übergabe der Gemeinden an die alliierten Truppen vorzubereiten. Einer Widerstandsgruppe gelang es, Kontakt mit der französischen Armee in Mühlhausen aufzunehmen, um Bludenz vor Bombardierungen zu bewahren. Bedingung dafür soll ein selbstständiger Beitrag zur Entmachtung der lokalen Nationalsozialisten gewesen sein. Am 1. Mai 1945 griffen die bewaffneten Widerstandsgruppen die NSDAP- Kreisleitung in Bludenz an, die auf der Verteidigung der Stadt beharrt hatte. 455 Hansjörg Klotz berichtete, dass sein Vater - bereits in die Verpflegung der Deserteursgruppe um Elmar Steurer am Zalum involviert - am „Sturm auf die Kreisleitung“ ebenfalls an prominenter Stelle beteiligt war. Auch eine überlieferte Liste der Aktivisten mit etwa vierzig Namen führt Johann Klotz und Elmar Steurer an. 456 Die Geschichte der beiden Wehrmachtssoldaten könnte kaum unterschiedlicher sein. Elmar Steurer stammte aus einer Eisenbahnerfamilie, die in allen Zweigen „tiefrot“ war, „mütterlicherseits und väterlicherseits alles Sozialisten“ mit einer distanzierten Haltung zum Militär. 457 Die väterliche Linie von Johann Klotz hingegen war seit Jahrzehnten fest im konservativen Soldatentum verankert, Großvater und Vater waren Berufssoldaten, genau wie er Unteroffiziere. Die Pfade setzten sich in der nächsten Generation fort, zumindest im Ansatz. Während Hansjörg Klotz 1965 den Präsenzdienst bei den Gebirgsjägern in Innsbruck ableistete und sich zur ersten österreichischen UNO-Friedenstruppe meldete, mied Konrad Steurer bewusst das Bundesheer. Als er 1982 wehrpflichtig wurde, entschied er sich für den Zivildienst und engagierte sich friedenspolitisch und gegen „Militarismus“. Beide Väter hatten über Jahre hinweg die Pflicht in der Wehrmacht bis zu einem gewissen Punkt erfüllt und berichteten ihren Söhnen später sowohl von ihren Kriegserlebnissen als auch vom Bruch mit der Wehrmacht. Johann (Hans) Klotz war 1938/ 39 zunächst zur Enttäuschung seines Vaters, eines ehemaligen Berufssoldaten und Offiziersausbilders der christlichsozialen Frontmiliz, vom Nationalsozialismus begeistert. Er stieg in Bludenz zum Führer der Hitlerjugend auf, die ihm als Sportler und Bergsteiger viel Betätigung und ein „tolles Leben“ ermöglichte, ihn 156 Peter Pirker <?page no="157"?> 458 In der Wehrmacht litten viele Soldaten an Magenkrankheiten, die von der Forschung auf Kriegstrau‐ mata zurückgeführt werden. Christoph Wörle, Verhärmte Seelen, Der Spiegel, 7.2.2020. 459 Gemeint sind die „Richtlinien für die Behandlung von politischen Kommissaren“ vom 6.6.1941, mit denen das Oberkommando der Wehrmacht die deutschen Truppen anwies, im bevorstehenden Krieg gegen die Sowjetunion „Politkommissare“ der Roten Armee sofort zu erschießen und sie nicht als Kriegsgefangene zu behandeln. 460 Interview mit Hansjörg Klotz, geführt von Peter Pirker, 11.8.2020. Die direkten Zitate von Hansjörg Klotz stammen aus diesem Interview, wenn nicht anders angegeben. 461 Karl Ruef, Gebirgsjäger zwischen Kreta und Murmansk. Die 6. GD im Einsatz, Graz 1970. 462 Die 6. Gebirgsdivision und andere deutsche Formationen zerstörten beim Rückzug aus Lappland systematisch zigtausende Siedlungen und Bauwerke und vertrieben mehr als 150.000 Zivilist*innen. Fast vollständig zerstört wurde beispielsweise die Hauptstadt Lapplands Rovaniemi. Siehe Militärge‐ schichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 8, München 2007, 998-999. 463 Email von Hansjörg Klotz an Peter Pirker, 11.2.2020. auch vom ungeliebten Kirchgang befreite. Mit dem Reichsarbeitsdienst kam er nach Paris und wurde beim Roten Kreuz zum Sanitäter ausgebildet. Als Sanitäter an der arktischen Kriegsfront in Nordfinnland begann sich seine Einstellung zu verändern. Dort wurde er bei Skistoßtruppen, bei Spähtrupps und im Grabenkampf eingesetzt, wo Sanitäter bei der Bergung von Verwundeten ins Visier von Scharfschützen der Roten Armee gerieten; viele verloren dabei ihr Leben. Hansjörg Klotz erinnert sich an Erzählungen seines Vaters über schwere psychische Belastungen, die wohl auch jene Magenprobleme verschlimmerten 458 , die ihn letztlich von der Front wegbrachten: „Wen lässt man liegen, wen rettet man? “ Aber auch der Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen gefiel ihm nicht: „Er kannte den Kommissarbefehl 459 , den fand er nicht gut. Er hat einmal russische Überläufer gefangengenommen. Als sie ihn sahen, warfen sie die Waffen weg. Er wurde dennoch wie ein Held gefeiert. Was wurde aus den Überläufern? Das war eine Frage, die ihn beschäftigte.“ 460 Ein Anlass für Erzählungen über den Krieg entstand, als Hansjörg Klotz bei seinem Prä‐ senzdienst im Bundesheer in den 1960er-Jahren dem Bataillonskommandanten Karl Ruef unterstand, der seinem Vater bereits als Kommandant in der 6. Gebirgsdivision bekannt war, weil er unter den Soldaten an der Eismeerfront berüchtigt für seine Härte gewesen war. 461 Die Ausbildung beim Bundesheer sei damals generell in der Hand ehemaliger Wehr‐ machtsoffiziere gelegen, dementsprechend rüde sei sie gewesen, erinnert sich Hansjörg Klotz. Seine Berichte über den Präsenzdienst lösten nun beim Vater Erzählungen über die Verantwortung der Truppenführer an der Eismeerfront für die hohen Verluste unter den Gebirgsjägern aus. Er schilderte, dass die Offiziere die Russen als „Untermenschen“ dargestellt hätten. Über das Motiv, in den Widerstand zu wechseln, gab der Vater dem Sohn folgende Erklärung: Als er bereits abgerüstet war, habe er durch genesende Soldaten im Lazarett Feldkirch von der Taktik der „verbrannten Erde“ erfahren. 462 „Vater wusste, dass dieser Krieg sinnlos war […] und hat dann noch von ins Lazarett Feldkirch nachkommenden verwundeten Kameraden der 6.GD […] erfahren, was für Verbrechen da be‐ gangen wurden. Und war daher mit der Waffe bereit, solche Verbrechen der Wehrmacht, der SS in Vorarlberg zu verhindern.“ 463 Flucht vor dem Krieg 157 <?page no="158"?> Konrad Steurer hingegen gewann aus den Erzählungen seines 2011 verstorbenen Vaters über den Fronteinsatz als Funker in der Sowjetunion den Eindruck, „dass er im Grunde genommen von Anfang an Widerstand geleistet hat, auf seine Art“. Da er immer im niedrigsten Rang geblieben sei, hab er ihn einmal gefragt, warum er nie befördert worden sei. „Da sagte er ‚Nein, das wollte ich nicht. Dann fällst du mehr auf.‘ Er hat geschaut, dass er so wenig wie möglich mit der Kriegsmaschinerie zu tun hat.“ Viele seiner Berichte handelten von Aufklärungseinsätzen mit Krafträdern an der Frontlinie: „Aus Bürs waren einige bei den Funkern und viele sind ums Leben gekommen, weil sie sehr nahe an der Front waren in Russland und die Russen haben natürlich gewusst, das sind die Funker, die richten die Kanonen ein für die Artillerie und haben sie als erstes abgeschossen. Davon hat er viel erzählt, das war erlebnisreich, auch traumatisierend.“ Er sei selber mehrfach nur knapp mit dem Leben davongekommen. Auch dem Kessel von Stalingrad entging der Vater im allerletzten Moment: „Da hat er gemerkt, jetzt wird es eng. Er hat einen Fahrschein gehabt, in drei Tagen hätte er da rausfahren können und er ist unruhig geworden und hat gemerkt ‚Nein, da stimmt was nicht, das ist nicht gut‘ und hat dann mit einem Offizier den Fahrschein getauscht und ist dann weg und am nächsten Tag, hat er erzählt, ist dann der Kessel bei Stalingrad zugegangen. Da ist er grad noch rausgeschlüpft und hat da viele Geschichten gehabt, wo er echt viel Glück gehabt hat.“ Um aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich der Front zu kommen, wandte Elmar Steurer zwei Strategien an. Zunächst lernte er Russisch, um sich als Dolmetscher im Stab seiner Einheit unentbehrlich zu machen. Schließlich verschaffte ihm Asthma die Gelegenheit für eine Reihe von Lazarettaufenthalten. „Und dann die Endphase 1945, da war er auch wieder aufgrund von Krankenstand nach Vorarlberg gekommen, da ist er dann untergetaucht.“ Die Geschichte der Desertion ist bruchstückhaft überliefert. Konrad Steurer ist bewusst, dass der Vater über vieles - auch vom Kriegseinsatz in der Sowjetunion - nicht redete. Erzählt bekam er jedenfalls, dass ein Freund und Nachbar der entscheidende Helfer bei der Flucht aus der Wehrmacht war: „Mein Vater hat selber von seiner Desertion erzählt. Er war in Bürs bei Richard Töchterle untergebracht, das heißt, Richard Töchterle hat ihn versteckt in seinem Haus, in einem Schluf, den kenne ich.“ Ein zweites Versteck wurde in einer Hütte am Zalum eingerichtet. „Er war dann auch immer wieder am Zalum oben und hat sich in der Natur versteckt, kam aber immer wieder runter ins Dorf und hat sich bei Richard Töchterle in Sicherheit gebracht. Und irgendwann war er in Bürs und so dunkel habe ich seine Erzählung im Kopf. Da hat es geheißen: Jetzt geht es los. Dann hat er seine zwei Pistolen gepackt, die gibt es noch, und ist dann nach Bludenz und da hat es dann geheißen Sturm auf die Kreisleitung, wir vertreiben die Nazis und da war er mit dabei.“ Hansjörg Klotz wiederum erfuhr von seinem Vater, wie die Versorgung der kleinen Deserteursgruppe am Zalum funktionierte. 158 Peter Pirker <?page no="159"?> 464 Während des Angriffs wurde der Widerstandskämpfer Alois Jeller von Funktionären der NSDAP im Keller der Kreisleitung misshandelt und anschließend erschossen. Pichler, Nationalsozialismus, 354. „Sie versteckten sich in einer Holzerhütte im oberen Zalum und hatten ein Maschinengewehr vor der Hütte aufgepflanzt. Die Aufgabe meines Vaters war, sie zu warnen vor drohender Verfolgung und er half bei der Versorgung mit.“ Letzteres gelang relativ leicht, weil Hans Klotz in der Landwirtschaft seines Schwiegerva‐ ters Dominikus Müller mithalf, der am Zalum Bergmähder bewirtschaftete. So konnte er unauffällig Versorgungsgänge durchführen. Nach dem Verschwinden von Elmar Steurer soll das Haus der Familie überwacht worden sein. Seinem Sohn Konrad ist aus den Erzählungen weniger der funktionelle Ablauf der Versorgung in Erinnerung als die damals vorherrschende Emotion, die er vermittelt bekam: „Als er sich versteckt hat, ist er sehr selten nach Hause gekommen, um die Leute zu Hause nicht zu gefährden. Sie haben ihn schon versorgt. Sie haben einen Hühnerstall gehabt und geschaut, dass er was zu essen kriegt. Aber wie das alles stattgefunden hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, es war eine Heidenangst. Verstecken, ja nicht erwischt werden und es geht ja nicht nur ihn an, sondern alle anderen auch. Das haben wir schon gespürt, da war viel Angst.“ Die Attacke auf die Kreisleitung bekamen Hansjörg Klotz und Konrad Steurer unterschied‐ lich dramatisch geschildert - das hing wohl mit dem Ausmaß der Involvierung ihrer Väter zusammen. Während Hans Klotz in die militärische Planung eingebunden war und zu den offensiven Akteuren gehörte, die auf die Kreisleitung und die Nationalsozialisten schossen, glaubt Konrad Steurer nicht, dass der Vater seine Pistolen benutzte. Hansjörg Klotz weiß zudem, dass sein Vater einen SS-Mann erschoss, die Verteidiger der Kreisleitung das Feuer aber so heftig erwiderten, dass die Aufständischen flüchten mussten. 464 Nach dem Gefecht verließen die NS-Funktionäre trotzdem die Stadt. Konrad Steurer erhielt vom Vater keine ausführliche Schilderung der Ereignisse, er hatte den militärischen Einsatz eher relativiert, aber die Aktion selbst für bedeutsam gehalten: „Die Nazis haben da nicht einen Riesenwiderstand geleistet, die sind dann eh gegangen, aber es war natürlich ein klares Zeichen und auch sicher wichtig, damit die Zivilbevölkerung keinen Schaden davon trägt vom Krieg.“ Stärker als an Erzählungen über den „Sturm“ auf die Kreisleitung erinnert sich Konrad Steurer an Alltagssituationen in seiner Kindheit und Jugend, wo sein Vater plötzlich und drastisch vom Krieg zu erzählen begann. Als Kind kaufte sich Konrad während eines Italienurlaubs ein Kriegsspielzeug, ein Beiwagenmotorrad mit einem Maschinengewehr, ähnlich dem Gerät, das der Vater im Kriegseinsatz benutzt hatte: „Da hat er geschimpft mit mir, wie kann man nur, Krieg… und dann hat er die Geschichten erzählt. Das war eine Verbindung für ihn und das ist mir hängengeblieben. Irgendwann als Jugendlicher habe ich mir eine Armeehose billig gekauft. Und dann hat er gesagt: Das Zeug haben wir damals weggeschmissen und du zahlst jetzt auch noch Geld für den Dreck.“ Konrad Steurer sprach im Interview von starken Prägungen seines eigenen Denkens durch die Erzählungen des Vaters, von dem er auch Antikriegsliteratur bekam. Bis heute Flucht vor dem Krieg 159 <?page no="160"?> 465 Der Zivildienst wurde in Österreich 1974 als Wehrersatzdienst eingeführt. Bis 1991 mussten zivildienstwillige Jugendliche vor einer Kommission des Innenministeriums ihre Gewissensgründe für die Ablehnung von Waffengewalt glaubhaft machen. 466 Horst Hinrichsen, Kräder der Wehrmacht 1935-1945. Deutsche und erbeutete Solo- und Beiwagen‐ maschinen im Einsatz und als Modell, Eggolsheim 1999. 467 Ruef, Gebirgsjäger. Nachlass von Johann Klotz im Besitz von Hansjörg Klotz. beeindruckt den Sohn der Auftritt des Vaters bei seiner „Gewissensprüfung“ 465 vor einer Kommission zur Zulassung zum Zivildienst: „Da hat man einen Vertrauensmann gebraucht und da habe ich meinen Vater mitgenommen als Vertrauensmann nach Wien in das Innenministerium. Das war echt super, wie mein Vater da aufgetreten ist. Ich war da noch ziemlich schüchtern, würde ich sagen. Und fünf Sätze von ihm, wo er sagt, vom Militär und vom Militarismus hält er nichts und er hat auch kurz seine Erfahrung in Russland erwähnt und dann war der Fall klar. Ich habe die Genehmigung bekommen. Kurz und bündig war die Geschichte, er hat das so authentisch rübergebracht und für mich war auch ganz klar, ich mache Zivildienst, ich gehe sicher nicht ins Militär. Das wäre ein Sündenfall gewesen. Das hätte mein Vater nie unterstützt.“ Selbst Regelbrüche des Sohnes beim Zivildienst hielt der Vater für gerechtfertigt: „Und dann beim Grundlehrgang war ich auch einer der ‚Deserteure‘, die vom Grundlehrgang abgehaut sind, und wir sind auf das Friedensinstitut Schlaining, da war eine Friedenswoche im Juli, da sind wir dorthin und wurden danach zum Nachdienen verdonnert. Bei diesen Themen habe ich immer die volle Unterstützung bekommen, auch dass wir vom Grundlehrgang abgehaut sind. Die Prägung war schon sehr tief. Für ihn war klar, Abschaffung des Bundesheeres, Abschaffung des Militarismus. Mit Waffen werden wir nie Frieden bekommen. Und jeder Schilling dafür ist verschwendetes Geld, schade darum, das waren so seine Aussagen.“ Während die Kriegserfahrung bei Elmar Steurer offenbar zu einer tiefen Ablehnung militärischer Gewaltausübung führte und er sich in keiner Weise mit ehemaligen „Kame‐ raden“ austauschte oder Kontakt suchte, überliefert Hansjörg Klotz keine derart radikale Abwendung vom Militär. Sein Vater habe immer Waffen besessen, er sei sogar einmal von der französischen Militärverwaltung wegen Waffenbesitz festgenommen worden. Beide wiederum griffen im Alter zu Kriegsliteratur, die von Veteranen in den 1960ern und 1970ern verfasst wurden. Eine Spezialdarstellung der Kradfahrer in der Wehrmacht diente Elmar Steurer als Gedächtnisanker für seine Antikriegserzählungen 466 , bei Johann Klotz war es Karl Ruefs weitverbreitetes Werk über die 6. Gebirgsdivision, das er mit handschriftlichen Einträgen versah („Auch ich war Angehöriger der 6. GD“). Er klebte ein historisches Foto vom Soldatenfriedhof in Petsamo (Finnland) ein und schrieb dazu: „Hier […] ruht für immer ein Großteil unserer Div.[ision], meines Wissens ca. 8.000 Mann. Beim Rückzug wurde der Friedhof von unserer 3. Schwadron aus taktischen Gründen zusammengewalzt. Heute, nach bald 40 Jahren sehe ich noch viele von ‚Euch‘ vor mir, wie wenn es gestern geschehen wäre! “ Zu Weihnachten 1979 gab er das Buch, mit diesen Einträgen versehen, an seinen Sohn weiter, der wiederum die Ahnenreihe der Unteroffiziere der Familie ins Buch eintrug. 467 160 Peter Pirker <?page no="161"?> 468 Email von Romana Bereuter an Peter Pirker, 19.2.2020. 469 Interview mit Romana Bereuter, geführt von Peter Pirker, 10.8.2020. Alle weiteren Zitate von Romana Bereuter stammen, falls nicht anders angegeben, aus diesem Interview. Die Geschichte der beiden Soldaten aus Bürs, deren Kriegsbiografien sich im Frühjahr 1945 an ihrem Herkunftsort kreuzten, weil sie den Krieg nicht mehr aushielten und überleben wollten, zeigt, wie unterschiedlich nach Herkunft, sozialem Milieu und weltanschaulicher Orientierung Deserteure und ihre Helfer sein konnten und auch eine gewisse Bandbreite an ideellen und praktischen Konsequenzen, die sie aus ihren Kriegserfahrungen zogen. Bei Interviews mit Töchtern von Deserteuren standen weniger erzählte Kriegserlebnisse der Väter im Vordergrund, es ging mehr um die Fluchtbewegung selbst. „Erinnerung ist trügerisch.“ Mit dieser Vorwarnung meldete sich Romana Bereuter, um dennoch über die „Flucht“ ihres Vaters Max Augustini (geb. 1923), Sohn einer randständigen landprole‐ tarischen Immigrantenfamilie aus dem Trentino, zu berichten. Den Begriff „Deserteur“ verwendete sie nicht, dieser war für sie negativ besetzt, vor allem durch Aussagen von FPÖ-Politikern. „Mein Vater war mutiger als viele, die es sich richten konnten. Er hat es nicht verdient, als Deserteur (Kameradenschwein) bezeichnet zu werden. Ich habe von ihm schon als Kind von den Nazigräueln erfahren, von den aufgerissenen Augen, die er zwischen den Brettern der Viehwaggons gesehen hat, von den Frauen, die ihre Babys aus den Waggonen den Bauern auf den Feldern zugeworfen haben, um zumindest die Kinder zu retten.“ 468 Im Interview stützte sie ihre Erzählung nicht nur auf das ihr Berichtete, vor ihr auf dem Küchentisch lag ein Kompendium von Wehrmachtsdokumenten, darunter das Soldbuch, Marschbefehle und Wehrmachtsfahrscheine, Bescheinigungen der Widerstandsbewegung und Fotoalben, die der Vater hinterlassen hatte. Max Augustini, obwohl in Tschagguns zur Welt gekommen, war bis 1938 italienischer Staatsbürger. Nach der Volksschule arbeitete er als Hilfskraft in der Landwirtschaft, für eine Ausbildung fehlte das Geld. 1941 wurde er im Rahmen des Arbeitsdienstes Briefträger beim Postamt Feldkirch-Altenstadt, ein Jahr später kam die Einberufung zur Luftwaffe. 1942/ 43 gehörte er Einheiten des Luftnachrichtenregiments 202 an, die auf den Ostseeinseln Langeoog und Rügen für die nächtliche Luftverteidigung zuständig waren. Glaubt man dem Soldbuch, wurde Augustini binnen 14 Monaten vom Gefreiten zum Unteroffizier befördert. Über seine konkrete militärische Tätigkeit berichtete er wenig. Was er überlieferte oder sich Romana Bereuter bewahrte, waren Momente der Resistenz innerhalb des militärischen Systems. Seine körperliche Zähigkeit half ihm, sich von Drill und Schikanen Vorgesetzter nicht brechen zu lassen. Nach einem Heimaturlaub in Feldkirch im Herbst 1944 kehrte er zur Truppe zurück, zuletzt war er im Jänner 1945 in Kolberg (heute Kołobrzeg, Polen) an der Ostsee stationiert. „Und in Kolberg, ich glaube Jänner 1945, da hat er gewusst, das Ende wird furchtbar und er kann es sich aussuchen, entweder russische Gefangenschaft oder gleich sterben oder gehen. Und das Gehen hat er dann gewählt.“ 469 Flucht vor dem Krieg 161 <?page no="162"?> 470 Bezeichnung für Angehörige der Feldgendarmerie. Unmittelbarer Auslöser für die Flucht war, dass er eine Pistole stahl und dabei von einem Soldaten, der in der Schreibstube der Kompanie Dienst tat, ertappt und zur Rede gestellt wurde. Der Soldat wollte ebenso verschwinden und es kam - so erinnert sich Romana Bereuter an die Erzählungen ihres Vaters - zu einer Art Arbeitsteilung bei der Organisation und Durchführung der Flucht. Der „Schriftgelehrte“ aus der Schreibstube, er hieß Leopold Pertsch und kam aus Nordhorn (Niedersachsen), stellte am 11. Februar 1945 illegal Sonderausweise für Augustini und sich aus, lautend auf eine dringende Kommandierung zu einer Luftwaffen-Stelle in Bregenz ebenso Wehrmachtsfahrscheine für die Fahrt nach Vorarlberg. „Der [Kamerad] war derjenige, der für das Papier zuständig war und mein Vater war derjenige, der für die Lebenspraxis zuständig war. Also Nahrung stehlen, Fahrrad klauen, schauen, wie man durch die bombardierten Städte in Deutschland durchkommt. Ich glaube, er hat alle diese Bombennächte erlebt. Bremen hat er erzählt, Köln hat er erzählt. Und er konnte mit seinem Kameraden nie in einen Luftschutzkeller gehen, weil da standen immer die, er hat es so bezeichnet, die Kettenhunde 470 davor, die haben kontrolliert und da wären sie wahrscheinlich aufgeflogen. Also die wollten jedes Aufsehen vermeiden.“ Seine Familie - der Vater war uk gestellt - hatte Max Augustini bereits vorgewarnt, jedenfalls bereitete sie ein Versteck vor. An das kleine Wohnhaus angebaut war ein Hühnerstall mit einem doppelten Boden. Dort verbargen sich die beiden „Fliehenden“ tagsüber, in der Nacht hielten sie sich auch im Haus auf, in dem außer den Eltern noch zwei Schwestern, Leonie und Elvira, lebten. Im Versteck wurde Augustini Ohrenzeuge davon, wie Funktionäre der NSDAP, wahrscheinlich auch Polizisten, die Familie über seinen Verbleib ausfragten und drangsalierten. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie so ein beengtes Versteck in einem doppelten Stallboden funktioniert und wie es unentdeckt bleiben kann. Romana Bereuter griff zum Fotoalbum und zeigte eine Aufnahme des Hauses, wie es damals aussah: „Da war ein Schuppen auf der linken Seite für Kleinvieh, da waren Ziegen drin und vorgebaut war dieser Hühnerstall. Ich weiß noch, wie der ausgesehen hat. Da waren Stangen drinnen, da sind die Hühner draufgesessen, dann gab es an der Wand so Gelege und in dem Stall waren ganz tief Heublumen. Meine Großmutter hatte immer Heublumen ausgestreut und da drunter war ein doppelter Boden, also grad, dass man sich hineinlegen konnte und da ist er versorgt worden von seinen Geschwistern, von seiner Mutter.“ Im April scheiterte ein Versuch, über den Rhein in die Schweiz zu entkommen. Es blieb nichts anderes übrig, als sich wieder in den Bodenverschlag zu begeben. Romana Bereuter erinnert sich auch an eine Erzählung ihres Vaters über eine Flucht in das Laternsertal zu einem Bergbauern. Sie folgte wohl auf den Einmarsch der französischen Truppen und ihr Zweck war es, der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Max Augustini organisierte sich eine Bestätigung der Österreichischen Widerstandsbewegung, die ihn als aktives Mitglied auswies; dabei war er staatenlos, denn die österreichische Staatsbürgerschaft hatte er nie besessen und die italienische hatte er mit der Annahme der deutschen 1939 verloren. 162 Peter Pirker <?page no="163"?> Erst im Juni 1947 stellte ihm das Land Vorarlberg die Urkunde über die Verleihung der Staatsbürgerschaft aus. Als Beruf war im Dokument „Holzschnitzer“ eingetragen. Der Wiedereinstieg in das Arbeitsleben verlief nicht komplikationslos. Ende Mai 1945 kehrte Augustini zunächst an seine alte Dienststelle bei der Post zurück, doch das Arbeits‐ buch zeigt, dass die Beschäftigung nicht von langer Dauer war. Im September 1945 wurde er Hilfsarbeiter im Leitungsbau der Stadtwerke Feldkirch, auch das nur für wenige Monate. Warum er nicht bei der Post geblieben war, konnte Romana Bereuter erklären: „Er hat sich geweigert, eine Uniform anzuziehen. Das war schon mal das Erste. Es gab für ihn auch keinen Verein, das ist soweit gegangen, dass er mir das später auch verboten hat, keine Pfadfinder, keine katholische Jungschar, kommt nicht infrage, striktes Verbot. Alles, was so mit Anhäufung und Indoktrinierung und Belehrung zu tun hat, das hat für ihn nicht gegolten.“ Ein fixer Arbeitsplatz stellte sich schließlich bei der Textilfabrik Kunert in Rankweil ein. Dort arbeitete er sich bis zum Werkmeister hoch. Romana Bereuter erzählte, dass er bei den Arbeitsmigrant*innen aus Jugoslawien und der Türkei im Unternehmen hoch angesehen war. Er lud sie sogar nach Hause ein, um ihnen beratend zur Seite zu stehen, beispielsweise half er ihnen, einen Gebetsraum einzurichten. Sein Motto lautete zwar „Lieber rot als tot“, aber einer politischen Partei oder Organisation gehörte er nicht an. Von der Kirche hielt er sich und seine Familie fern - das bekam die Tochter in der Schule negativ zu spüren. Sie war generell mit latenten Ressentiments konfrontiert, die aber weniger mit dem Kriegsverhalten des Vaters, als mit der sozialen Herkunft und mit der Geringschätzung der Siedlung zu tun hatten, in der die Augustinis ihr Häuschen bauen hatten können. Außerhalb der Familie sprach Max Augustini nicht über seine Flucht aus der Wehrmacht, überhaupt pflegte er nur wenige Bekanntschaften. „Er wollte seine Ruhe haben.“ Nach der Frühschicht in der Fabrik begab er sich zu Hause meist in seine kleine Werkstatt, um zu schnitzen und den Radiosender Ö1 zu hören. Befreundet blieb er mit dem Fluchtgefährten Leopold Pertsch, der ihn bei Urlaubsreisen nach Italien regelmäßig besuchte. Er selbst fuhr gerne ins Trentino. Als Romana Bereuter etwa fünfzehn Jahre alt war, bemerkte sie wiederkehrende nächtliche Unruhe bei ihrem Vater: „Er konnte nicht schlafen, ist herumgewandert, war schlecht aufgelegt.“ Die Mutter erklärte ihr den Zustand mit dem Wiederaufleben und Durchleben von Fluchtepisoden. Heute, so Romana Bereuter, würde man solches wohl als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen. In der Familie war die Flucht nie ein Tabu gewesen, da alle davon gewusst hatten. Der Vater gab Romana Bereuter in der Kindheit und Jugend eine Reihe von Orientierungen vor, an die er sich selbst vorbildlich zu halten versuchte: „Denke selber, lass dir nichts vordenken“, „Sei solidarisch mit jenen, die deine Hilfe brauchen“, „Meide Menschenansammlungen“, „Sieh immer zu, dass du einen Ausgang findest“, „Lerne, lerne, lerne“, „Hinterfrage alles“, „Wehre den Anfängen“ und andere mehr. Romana Bereuter zeigte sich im Gespräch überzeugt davon, dass vieles von dem, was er ihr weitergab, mit seinen Erfahrungen im Krieg und auf der Flucht zu tun hatte. Deshalb lag ihr viel daran, dass der Pfarrer bei seinem Begräbnis an diesen Zusammenhang erinnerte und seine Fluchtgeschichte erzählte. Klara Hagen aus Nendeln in Liechtenstein meldete sich mit dem Wunsch, mehr über die Kriegserlebnisse ihres Vaters Ewald zu erfahren: Flucht vor dem Krieg 163 <?page no="164"?> 471 Email von Klara Hagen an Peter Pirker, 17.2.2020. 472 Email von Klara Hagen an Peter Pirker, 23.7. 2020. 473 Verwendungskarte Hagen Ewald. VLA, LGF Js 42/ 43. 474 Gestapo, Grenzpolizeiposten Feldkirch, 2.4.1943. VLA, LGF Js 42/ 43. „Mein Vater Ewald Hagen, geb. 15.02.1907 in Schaan (Liechtenstein), ist auch desertiert. Er war in Norwegen und ist im 3. Quartal 1944 nach dem Heimaturlaub bei seiner Schwester in Frastanz nicht nach Norwegen gefahren, sondern über die Berge nach Liechtenstein zu seinen Geschwistern in Nendeln (Liechtenstein) gewandert. Mich würde interessieren, ob es über ihn Akten gibt und ob ich diese einsehen kann. Gerne bin ich bereit, Ihre Fragen zu beantworten, so gut ich kann.“ 471 Sich mit Angehörigen von Deserteuren auf die von Klara Hagen vorgeschlagene Weise - im wahrsten Sinne des Wortes - „auszutauschen“, zieht in den Forschungsprozess eine soziale Dynamik ein, die beidseitig bereichernd sein kann. Nimmt man sie ernst, erfordert sie Zeit für Begegnung und vor allem Zurückkommen, also Verlässlichkeit. Oft haben Angehörige das Gefühl, nicht viel zu wissen, nicht viel berichten zu können, erhoffen sich aber zugleich vom Archiv (und Historiker*innen) Antworten auf Fragen, die sie sich selber - meist nach der Pensionierung - zu ihrer Herkunftsfamilie stellen oder die ihnen von ihren Kindern oder Enkel*innen gestellt werden. Ewald Hagen sprach mit seiner Tochter „praktisch nie über seine Zeit als Soldat“ 472 . Der Verfasser wiederum wusste praktisch nichts über Soldaten, die als deutsche Staatsbürger bei ihren Familien in Liechtenstein lebten, in Vorarlberg arbeiteten und wieder nach Liechtenstein desertierten, dort aber in Gefahr standen, ins Deutsche Reich abgeschoben zu werden. Die Neugierde des Historikers kann bei Angehörigen das Gefühl oder die Befürchtung auslösen, abgeschöpft und ohne Möglichkeit der Einflussnahme schließlich der öffentlichen Neugierde ausgesetzt zu werden. Doch die Rekonstruktion einer im Archiv staatlicherseits nur fragmentiert, bruchstückhaft und ohne Hinweise auf den Ausgang überlieferten Flucht wird erst durch Zeugnisse aus sozialen und familiären Archiven möglich. Die Interpretation dieser Zeugnisse benötigt jedoch mehr, als dies bei staatlichen Dokumenten der Fall ist, die erklärende und Sinn zuweisende Erzählung, um sie in ihrem sozialen Kontext verstehen zu können. Die sozial „nackte“ Rekonstruktion des Verlaufs der „Wehrmachtskarriere“ von Ewald Hagen anhand von Justiz- und Wehrmachtsakten erbrachte, dass er, ledig, im Alter von 33 Jahren 1940 zur Luftwaffe eingezogen wurde, jedoch bereits wenige Monate später auf Antrag seines Arbeitgebers, des Schlossermeisters Keck in Feldkirch, unabkömmlich gestellt, also aus dem Wehrdienst entlassen wurde, damit Keck öffentliche Aufträge der Reichsbahn und des Reichsbauamtes erfüllen konnte. 473 Ewald Hagen pendelte wieder von seinem Wohnort Nendeln bzw. Schaan nach Feldkirch. Anfang 1943 erhielten er und alle weiteren in Liechtenstein wohnenden reichsdeutschen Staatsbürger im Rahmen der „Sondereinberufungsaktion 1943“ eine Aufforderung des Deutschen Konsulats in Zürich, sich einer neuerlichen Musterung beim Wehrbezirkskommando in Bregenz zu unterziehen. Elf von ihnen kamen dieser Aufforderung nicht nach, unter ihnen befanden sich Ewald Hagen und sein Bruder Benno, der bei einem Schuhmachermeister in Feldkirch beschäftigt war. 474 Benno Hagen hatte zur kritischen Zeit einen Urlaub zur Frühjahrsbestellung der Felder am Bauernhof der Familie in Liechtenstein, musste sich also der Gefahr, an der Grenze festgenommen zu werden, nicht aussetzen. Ewald Hagen hingegen pendelte weiter 164 Peter Pirker <?page no="165"?> 475 Ebd. 476 LG Feldkirch, Beschluss, 23.4.1943. VLA, LGF Js 42/ 43. 477 Wehrstammbuch Ewald Hagen. TLA. 478 Telefonat mit Klara Hagen, geführt von Peter Pirker, 28.7.2020. 479 Ebd.; Gespräch mit Klara Hagen, geführt von Peter Pirker, 11.8.2020. nach Feldkirch. Als die Liechtensteiner Wehrpflichtigen weitere Aufforderungen zur Musterung ignorierten, nahm das Grenzpolizeikommando Bregenz Ermittlungen auf und stellte fest, dass Ewald Hagen täglich die Grenze überquerte. Am 31. März wollte ihn die Gestapo festnehmen, doch Hagen war bereits verschwunden. Umgehend beauftragte die Gestapo das Hauptzollamt Feldkirch, seine Ausreise zu verhindern. Als er an der Grenze erschien, wurde er zurückgehalten und kurz darauf festgenommen und in die Haftanstalt Feldkirch eingeliefert. In den Einvernahmen durch die Gestapo bestritt Ewald Hagen vehement, die Aufforderungen zur Musterung erhalten zu erhaben. Die Gestapo konnte durch Zusammenarbeit mit der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP in Liechtenstein aber in Erfahrung bringen, dass die Familie Hagen die Annahme der Post des Deutschen Konsulats verweigert hatte. Insgesamt waren drei Brüder betroffen. Der ermittelnde Funktionär der AO teilte der Gestapo mit, dass die Brüder Hagen in Liechtenstein erklärt hätten, „lieber würden sie sich erschießen, als zur Deutschen Wehrmacht einzurücken.“ 475 Das Sondergericht Feldkirch erließ daraufhin einen Haftbefehl wegen Verdachts des Verbrechens der Wehrdienstentziehung, gegen den Ewald Hagen sofort Beschwerde ein‐ legte. Da ihm der Ermittlungsrichter nicht nachweisen konnte, dass er die Annahme der Musterungsaufforderung persönlich verweigert hatte, musste er den Haftbefehl aufheben und das Ermittlungsverfahren einstellen. Die Gestapo griff nun zum Mittel der extralegalen Schutzhaft, sodass er weiterhin zu „ihrer Verfügung“ eingesperrt blieb. 476 Auf diese Weise wurde Ewald Hagen ein zweites Mal in den Kriegsdienst gepresst. Das Wehrstammbuch dokumentiert, dass er am 28. April 1943 einer Luftwaffen-Einheit in Aussig (Reichsprotektorat Böhmen und Mähren) zugeteilt wurde, von wo er schließlich nach Nord-Norwegen zum Einsatz gegen die sowjetische Luftwaffe an der Eismeerküste abkommandiert wurde. 477 Etwas mehr als ein Jahr später, im August 1944, erhielt Ewald Hagen den ersten Heimaturlaub zu seiner in Frastanz lebenden Schwester. Was er dort machte, wusste wiederum Klara Hagen. Seine Verlobte Bernadette Ott, die in Liechtenstein lebte, besuchte ihn in Frastanz. Ewald Hagen und Bernadette Ott wollten heiraten, sie planten ein gemeinsames Leben. Mit ihr besprach er die möglichen Wege der Flucht und sie lotete die Bedingungen aus, damit er als deutscher Staatsbürger und Angehöriger der Wehrmacht von Liechtenstein nicht an die deutschen Behörden ausgeliefert werden würde. 478 Sie erkundigte sich bei ihr bekannten Schweizer Zollbeamten: „Was passiert mit Ewald, wenn er nach Liechtenstein flüchtet? Die Auskunft war, wenn sein Lebensunterhalt in Liechtenstein gesichert sei, werde er nicht zurückgeschickt. Das war die Voraussetzung für die Flucht.“ 479 Während des Urlaubs unternahm Ewald Hagen Wanderungen bei den Drei Schwestern, dem Grenzgebirge zwischen Frastanz und Schaan, und erkundigte sich bei Älplern nach den Kontrollgängen der Grenzwächter auf der deutschen Seite. Auf der Liechtensteiner Seite kannte er sich aus und wusste, wo er die Flucht „wagen“ konnte. Seiner Verlobten trug er auf, sie solle den Geschwistern in Nendeln ausrichten, die Haustüre nicht mehr zu verschließen. Mitte August 1944 vollzog er seinen Plan. Während der Flucht vor dem Krieg 165 <?page no="166"?> 480 Deutsches Generalkonsulat Zürich, 7.10.1944. TLA, Wehrstammbuch. 481 Gespräch mit Klara Hagen, geführt von Peter Pirker, 11.8.2020. 482 Ebd. ersten Wochen nach der Desertion ließ er sich außerhalb des Hauses seiner Geschwister nicht blicken. In Vorarlberg setzte die Fahndung nach ihm ein, schnell erhärtete sich der Verdacht, dass er zu Angehörigen in Liechtenstein desertiert war. 480 Seine Schwester wurde in Frastanz unter dem Verdacht der Beihilfe zur Fahnenflucht einvernommen und vorübergehend festgenommen. „Sie hat nichts gewusst. Sie hat ihn von Frastanz nach Feldkirch begleitet zum Bahnhof. Seine Verlobte hat ihn während des Heimaturlaubes in Frastanz besucht. Sie war die Einzige, die er ins Vertrauen zog.“ 481 Für Ewald Hagen, seine Freundin und Geschwister ging es nun darum, seinen Auf‐ enthaltsstatus zu verfestigen und die nötigen Papiere zu bekommen. Er war nach der Fahnenflucht im Grunde staatenlos. Zu dieser Zeit fungierten in Liechtenstein Pfarrer zugleich als Standesbeamte. Daraus ergab sich das Dilemma, dass ansässige Pfarrer die Trauung ohne Papiere nicht vollziehen konnten. Den Brief, der die Lösung brachte, verwahrt Klara Hagen wie eine Gründungsurkunde ihrer Familie. Es handelt sich um einige Zeilen des Pfarrers von Eschen, Ludwig Jenal, an Ewald Hagen, er solle sich mit dem Pfarrer und bekannten Genealogen Fridolin Tschugmell, dem Kaplan des Schlosses Vaduz, in Verbindung setzen. Tschugmell fand nun in Balzers im Haus Gutenberg des Salettiner Ordens vertraulich einen Missionar, der knapp vor seiner Abreise ins Ausland im Jänner 1945 bereit war, die Trauung ohne das nötige Dokument zu vollziehen. In der Familie von Klara Hagen wird eine Geschichte dazu tradiert. Am Tag der Hochzeit kochte Ewalds Schwester zu Mittag Fleisch. „Die Geschwister wunderten sich: ‚Was ist denn heute los? Wir bekommen Fleisch? ‘ Und am Abend erfuhren sie dann: Der Ewald hat geheiratet.“ 482 Auf die Frage, wann sie zur Welt gekommen ist, antwortete Klara Hagen lachend: „Im November 1945…“ Klara Hagen berichtete noch über ihren Vater, dass er als mittel- und arbeitsloser junger Mann mit dem Fahrrad von Nendeln bis nach Neapel gefahren und Mitglied bei einem Arbeiterfahrradklub gewesen sei. Zu Hause sei während ihres Aufwachsens nicht politisiert worden. Auch für die Flucht ihres Vaters aus der Wehrmacht und deren Krieg sah sie kein „politisches“ Motiv: „Er wollte heim, weg von der Wehrmacht. Es war die Sehnsucht nach seiner Familie und seiner Freundin, die er heiraten wollte.“ Die Durchsicht des Wehrstammbuchs und der darin eingelegten Dokumente riefen bei Klara Hagen verschüttete Erinnerungen an Erzählungen des Vaters wach: „Auf einem […] Dokument ist die Feindberührung erwähnt. Ein russisches Wort hat er nie vergessen: ‚Chleb‘ = Brot. Es gab russische Kriegsgefangene, die bei ihm um Brot bettelten. Diese Kopien haben viele Erinnerungen an den Vater geweckt. Vor allem jene Schreiben, die nach seiner Flucht verfasst wurden, sind interessant. Was für eine Strafe stand auf Fahnenflucht? In einem Schreiben wird seine Schwester in Frastanz erwähnt. Eine Kopie davon werde ich an ihren Sohn weiterleiten, der […] Familiendokumente sammelt.“ Karl Polanc gab Zeugnisse der Desertion seines Vaters weiter und fertigte selber neue an. Sein Vater Albert, Sohn eines von Slowenien nach Feldkirch zugewanderten Sargschreiners, 166 Peter Pirker <?page no="167"?> 483 Interview mit Karl Polanc, geführt von Peter Pirker, 11.8.2020. Ausführlich: Peter Pirker, Kein Kanonenfutter, in: Flucht- und Zufluchtsorte von Wehrmachtsdeserteuren. Eine Fotodokumentation, 2023, URL: https: / / www.uibk.ac.at/ zeitgeschichte/ flucht-und-zufluchtsorte-von-wehrmachtsdeserte uren/ (abgerufen 16.6.2023). 484 Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 2000, 318; siehe auch Richard Germann, „Österreicher“ im Gleichschritt? , in: Sönke Neitzel/ Harald Welzer, „Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll“. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten, Frankfurt/ Main 2011, 217-233, 218. 485 Statistische Daten - Stand 31. Mai 1946. VLA, Kriegsgefangenenfürsorge (Heimkehrerstelle) 1. flüchtete im Oktober 1944 nach einem Heimaturlaub in die Schweiz. Verbittert vom Solda‐ tentod seines Bruders und voll Hass auf das NS-Regime nutzte er die letzte Gelegenheit, um sein eigenes Leben zu retten. Oft habe ihm sein Vater die Geschichte der Flucht in die Schweiz und jene der ebenso illegalen Rückkehr nach Vorarlberg noch vor Kriegsende erzählt, berichtete Karl Polanc schon bei der ersten Kontaktaufnahme. Im Gespräch bot er eine umfassende Erzählung. Albert Polanc erklärte seinem Sohn genau, warum und wie er sich dem Kriegsdienst entzogen hatte. „Ich bin kein Kanonenfutter“, war die zentrale Aussage, die sich dem Sohn einprägte. Er zeigte ihm sogar die Stellen seiner Fluchten, Richtung Schweiz am Alten Rhein in Hohenems, dort, wo sich heute das Freibad Rheinauen befindet, und retour aus dem Internierungslager in Luzern über den Rhein bei Buchs und weiter über den Sarojasattel ins Saminatal nach Frastanz. Manchmal fliegt Karl Polanc mit dem Drachenflieger die Fluchtrouten seines Vaters ab, gleitet über den Alten Rhein bei Hohenems und den Sarojasattel bei den Drei Schwestern. Welche Bedeutung diese Landstriche für ihn haben, ist aus seinen Erzählungen und Berichten zu spüren. Seine in Luftaufnahmen eingezeichneten Fluchtrouten bieten einen sinnlichen Eindruck vom Überschreiten der Grenzen, die in der Landschaft nicht existieren. 483 VIII. Resümee Seit der Eingliederung des österreichischen Bundesheeres in die Wehrmacht im März 1938 dienten etwa 1,3 Millionen Österreicher in den deutschen Streitkräften. Von Kriegsbeginn im September 1939 bis zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 fielen nach Berechnungen von Rüdiger Overmans etwa 260.000 (acht Prozent). Die Todesquote lag demnach bei österreichischen Wehrmachtssoldaten um etwa die Hälfte unter jener von Soldaten aus dem „Altreich“. Die Ursachen für diese Differenz sind bis heute weitgehend ungeklärt. 484 Statistische Daten der Vorarlberger Kriegsgefangenenfürsorge nähren allerdings Zweifel an den von Overmans präsentierten Zahlen: Der „Heimkehrerstelle“ zufolge lagen im Mai 1946 für 4.600 von insgesamt 27.000 eingerückten Vorarlbergern Todesmeldungen vor, was einer Sterberate von 17 Prozent entspricht. Damit deckt sie sich in etwa mit jener von Soldaten aus dem Altreich. 485 Unsere Forschungen ergaben, dass von 256 bekannten Vorarlberger Deserteuren 27 die Flucht bzw. Verfolgung nicht überlebten. Die Todesrate von etwa zehn Prozent lag somit deutlich unter der Gefallenenquote. Desertieren kann daher als eine vergleichsweise erfolgreiche und rationale Strategie eines Soldaten betrachtet werden, sein Leben zu retten, zumal in der Kriegsendphase. Von Juli 1944 bis Mai 1945 fielen noch einmal annähernd so viele deutsche Soldaten wie in der viel längeren Zeitspanne von September Flucht vor dem Krieg 167 <?page no="168"?> 486 Overmans, Deutsche militärische Verluste, 318. 487 Geldmacher, Auf Nimmerwiedersehen, 188. Die Ergebnisse für Tirol liegen nahe an jenen für Vorarlberg: Pirker, Deserteure in den Alpen, 488-489. 1939 bis Juni 1944. 486 Wie wir zeigen konnten, stieg die Zahl der Desertionen parallel zu den horrenden Opferzahlen auf den Schlachtfeldern. Freilich zeigt unsere Untersuchung auch, dass nur eine sehr kleine Minderheit diesen Weg aus dem Verhängnis des Krieges wählte oder vielleicht genauer: über individuelle Fähigkeiten und günstige soziale Erfahrungen sowie Beziehungen verfügte, um situativ Chancen der Flucht aus der Wehrmacht zu erkennen und zu nutzen. Gemessen an den Zahlen der Vorarlberger Heimkehrerstelle betrug ihr Anteil unter allen zur Wehrmacht und militärischen Organisationen eingerückten Vorarlbergern etwas weniger als ein Prozent, gemessen an der Statistik der Vorarlberger Wehrmeldeämter (Tab. 1) fast genau ein Prozent. Selbst wenn wir die Gesamtzahl der Vorarlberger Deserteure insgesamt (inklusive der unentdeckten) auf das Doppelte ansetzen (wobei dies aufgrund unserer umfangreichen Erhebungen eher als zu hoch gegriffen erscheint), liegt der Anteil von Deserteuren sehr wahrscheinlich deutlich unter den bisher für österreichische Wehrmachtssoldaten geschätzten drei bis fünf Prozent. 487 Im Kontext des gesamten Desertionsgeschehens in Vorarlberg machten Fahnenfluchten einheimischer Soldaten nur einen Bruchteil aus: Etwa siebzig Prozent der insgesamt etwa 650 festgestellten Deserteure und Wehrdienstentzieher in Vorarlberg waren ortsfremd, von denen wiederum fast fünfzig Prozent aus dem „Altreich“ stammten. Ihr Ziel war fast durchwegs die Schweiz. Die Fluchtbewegungen der einheimischen Soldaten hatten stark mit ihrer Herkunft zu tun. Während Deserteure aus dem Rheintal und der Umgebung von Bregenz in den allermeisten Fällen erfolgreich in die Schweiz flüchteten, begaben sich fahnenflüchtige Soldaten aus dem Bregenzerwald, dem Großen Walsertal und dem Montafon eher in ihrer sozialen Umgebung in den Untergrund. In etwa sechzig Prozent der Vorarlberger Gemeinden gab es zumindest einen Deserteur. Die höchste Zahl an Wehrdienstentziehern in Relation zur Gesamtbevölkerung wies Krumbach auf, gefolgt von einigen weiteren kleinen Gemeinden im Bregenzerwald, Montafon und Walsertal. Vorarlberger Deserteure waren überwiegend (Land-)Arbeiter und Handwerker. Bezogen auf die sozioökonomische Struktur Vorarlbergs war ihr Profil jedoch unauffällig. Allerdings waren sie im Durchschnitt älter als bislang angenommen - der hohe Anteil an gelungenen Desertionen in unserer Fallsammlung nährt daher die These, dass ältere Soldaten mit mehr Lebens- und militärischer Erfahrung erfolgreicher desertierten als jüngere. Mehr als sechzig Prozent der uns bekannten Deserteure blickten zum Zeitpunkt der Flucht auf Kriegserfahrungen von ein bis vier Jahren zurück, meistens an der Ostfront, viele davon im hohen Norden an der „Eismeerfront“. Hier liegt eine Gemeinsamkeit der meisten Deserteure: Sie hatten genug vom Krieg und dem Grauen der Front, sie betrachteten das Weiterkämpfen angesichts des Kriegsverlaufs, der hohen Gefallenenzahlen und der Überlegenheit der alliierten Armeen als „sinnlos“. Sie weigerten sich, das eigene Leben einer als katastrophal erkannten Kriegspolitik des NS-Regimes aufzuopfern, sei es auf dem Schlachtfeld, sei es in der zu erwartenden Kriegsgefangenschaft. Viele hatten Ver‐ wundungen erlitten, den Verlust von nahen Verwandten erfahren, nicht wenige hatten 168 Peter Pirker <?page no="169"?> Verbrechen an der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten und an Kriegsgefangenen miterlebt. Lazarettaufenthalte und Heimaturlaube gaben ihnen, fern unmittelbaren militä‐ rischen Drucks, Gelegenheit, über ihre Situation nachzudenken und die Chancen einer Flucht abzuwägen. Die meisten Vorarlberger Deserteure traten sie in ihrer Heimat an, relativ wenige flohen zu Partisanen, nach Schweden oder versteckten sich in anderen Gebieten. Deserteure erhielten Fluchthilfe, häufig von Frauen. In den Gemeinden im Rheintal stießen auch ortsfremde Soldaten gelegentlich auf Unterstützung Einheimischer, etwa aus dem Arbeiter*innenmilieu, fallweise auch durch Hilfszöllner. Evident ist, dass von den Verfolgungsmaßnahmen der Grenzwache, der Gendarmerie und der Gestapo vor allem ortsfremde Deserteure und Wehrdienstentzieher betroffen waren und einheimischen Deserteuren aufgrund guter Ortskenntnisse der illegale Grenzübertritt weit leichter fiel. Die Untersuchung von vier Vorarlberger Gemeinden mit einem vergleichsweise starken Desertionsgeschehen zeigte ähnliche sozioökonomische und politische Erfahrungsräume für fluchtwillige Soldaten. Beträchtliche Unterschiede konnten hinsichtlich der Verfol‐ gungsintensität festgestellt werden. Während in Krumbach, Langenegg und St. Gallenkirch lokale Instanzen des Staates wenig Initiative und Verfolgungsaktivismus an den Tag legten, waren die Deserteure in Sonntag im Großen Walsertal stärkerer Verfolgung ausgesetzt. Neben verfolgungswilligen Gendarmen und NS-Funktionären gab es im Frühjahr 1944 Druck von höheren Instanzen, die Deserteure zu fassen, zumal die Gemeinde in das Aufbauprogramm der Berglandwirtschaft aufgenommen werden sollte und die Deserteure seit Sommer/ Herbst 1943 erfolglos gesucht worden waren. In allen „Deserteursgemeinden“ entwickelten Deserteure aus dem Fluchtwiderstand heraus aktiven und offenen Wider‐ stand gegen das NS-Regime, in Einzelfällen war dieser Übergang auch für Vorarlberger Deserteure in der Schweiz feststellbar, die im Auftrag der transnational organisierten Widerstandsgruppe Patria nach Vorarlberg zurückkehrten. Der Fund eines verschwunden geglaubten Aktes des Sondergerichts Feldkirch erlaubte die exemplarische Rekonstruktion der Verfolgung der Deserteursgruppe von Sonntag durch Gendarmerie und Gestapo sowie durch das Reichskriegsgericht und das Sondergericht. Die Repression hatte verschiedene Dimensionen: Der Gestapo lag an einer peniblen Aufdeckung der organisatorischen und sozialen Hintergründe und Einschätzung der tatsächlichen politischen Gefahr, die von der Gruppe ausging; das Reichskriegsgericht dämonisierte die Deserteure als skrupellos und gewalttätig; das Sondergericht verurteilte die Hilfeleistungen der Angehörigen - insbesondere der Frauen - als egoistisch und ge‐ meinschaftsschädlich. Auf Initiative der Gestapo kam es in Rücksprache mit der Gauleitung zur Beschlagnahmung des Besitzes und somit zu einem Akt der Sippenhaft, die nur noch in einem weiteren Fall (Adelreich und Sylvia Nagel) angewandt wurde. Fast vierzig Prozent der Soldaten, die wegen Fahnenflucht vor Militärgerichten standen, wurden zum Tode verurteilt. Den Vollzug von Zuchthaus- und Gefängnisstrafen setzten die Gerichte in den meisten Fällen früher oder später zur Frontbewährung aus. Auffällig war, dass die Divisions- und Standortgerichte sehr unterschiedlich entschieden, ganz ähnliche Handlungen wurden je nach Handlungszeitpunkt, Gerichtsstandort und Zusammensetzung des Gerichts mit zum Teil stark differierenden Strafen belegt. Die Analyse des Umgangs mit Deserteuren und ihren Helfer*innen in der Nachkriegs‐ gesellschaft erbrachte ein Auseinanderfallen zwischen zumindest formeller juristischer Flucht vor dem Krieg 169 <?page no="170"?> Rehabilitierung und Anerkennung als Freiheitskämpfer bzw. als deren Unterstützer*innen in den Jahren 1945/ 46 und - im krassen, dramatischen Widerspruch dazu - in fehlender bzw. äußerst selektiver Anerkennung in der Opferfürsorge einige Jahre später, vor allem in den 1950ern. So erhielt etwa Maria Lorenz, die Mutter des vom Reichskriegsgericht hingerichteten Martin Lorenz, keinerlei Unterstützung aus der Opferfürsorge. Alle Anträge der durch die Verfolgung schwer geprüften Angehörigen der Deserteure Wilhelm und Leonhard Burtscher erhielten negative Bescheide. Die Ursache dafür lag vor allem in den restriktiven Bestimmungen des Opferfürsorgegesetzes und seiner Durchführungser‐ lässe, aber auch darin, dass Beamte ihren Handlungsspielraum meist zuungunsten der Antragsteller*innen nutzten. Mordermittlungen gegen Deserteure, die im Zuge von Wi‐ derstandsaktionen Organe des NS-Staates erschossen hatten, wurden Ende der 1940er- Jahre eingestellt. Deserteure und ihre Angehörigen wehrten sich gegen Abqualifizierungen ihres widerständigen Handelns durch Behörden der Zweiten Republik. Manchmal hatten sie auf dem Rechtsweg Erfolg - insgesamt vermittelt die Analyse der Opferfürsorgeakten aber ein betrübliches Bild einer Kontinuität der Wahrnehmung von Fluchten aus der Wehrmacht. Während des Nationalsozialismus wurden Deserteure und ihre Helfer*innen als „Schädlinge“ der wehrhaften deutschen Volksgemeinschaft angeprangert und bestraft, nach 1945 brachte ihnen die behördliche Einschätzung, nicht mit der politischen Zielset‐ zung der Wiederrichtung Österreichs, sondern nur aus persönlichen Beweggründen die weitere Beteiligung an der deutschen Kriegsführung abgelehnt zu haben, den Ausschluss aus Opferfürsorge und Haftentschädigung. Ihre Verfolgung durch die Wehrmachtsjustiz wurde gewissermaßen als gerechtfertigt anerkannt. Interviews mit Angehörigen von Deserteuren zeigten demgegenüber, dass in den Fami‐ lien nicht bloß Schweigen vorherrschte, sondern auch positive Vermittlungen der Flucht aus der Wehrmacht stattfanden. Desertieren erscheint auch hier als Fluchtwiderstand, als eine rationale Reaktion gegen den Aufopferungsfanatismus der Wehrmacht und die Kriegspolitik des NS-Staates. 170 Peter Pirker <?page no="171"?> Silvrettadorf, Montafon, Standort einer Wehrmachtsgefangenenabteilung. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="172"?> Röhrenkanal, Lustenau. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="173"?> Silvrettadorf, Montafon, Standort einer Wehrmachtsgefangenenabteilung. Im Hintergrund die Stau‐ mauer des Silvrettastausees der Illwerke AG. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="174"?> Alois Amann. Foto: Wehrstammbuch, VLA. <?page no="175"?> Anhang - 55 Todesfälle A. Herkunft Vorarlberg (27) Amann, Alois * 17. Juli 1896 Koblach † 16. Dezember 1944 Torgau (Deutschland) □ Koblach Der Maurer Alois Amann, wohnhaft in Koblach 31, ledig, rückte nach einem Heimaturlaub vom 28. März bis 3. April 1944 nicht mehr zum Luftnachrichtenregiment 204 in Döberitz in Brandenburg, ein. Alois Amann war 1943 zu dieser Einheit eingezogen worden. Nach seiner Desertion versteckte er sich die meiste Zeit in einer Felshöhle im Klauswald an der sogenannten Halde im Gemeindegebiet von Koblach. Der Chronik des Gendarmeriepostens Götzis zufolge führten Nachforschungen des Meisters der Gendarmerie Franz Schmid und des Meisters der Gendarmerie a. D. Ludwig Gruber zu seiner Festnahme am 17. April 1944. Die Gendarmen übergaben ihn den Militärbehörden. Nach Überlieferung von Angehörigen wurde Alois Amann wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt und im Wehrmachtsgefängnis Torgau hingerichtet. Im Archiv des Erinnerungsortes Torgau befindet sich eine Vermisstenliste des Roten Kreuzes, in der Alois Amann mit dem letzten bekannten Aufenthaltsort „Wehrmachtsgefängnis Torgau“ im September 1944 als „vermisst“ verzeichnet ist. Im Taufbuch der Pfarre Koblach ist sein Todesdatum mit 16. Dezember 1944 angegeben, basierend auf einer Todeserklärung des Landesgerichts Feldkirch aus dem Jahr 1951. Aus dieser Todeserklärung geht auch hervor, dass Alois Amann während seiner Haft in die Nervenheilanstalt Leipzig-Dösen eingeliefert wurde. Von dort erhielten seine Angehörigen die letzte schriftliche Mitteilung von ihm. Am 16. Dezember 1944 verschickte das Wehrmachtsgefängnis Torgau die von Alois Amann hinterlassenen Privatsachen an seinen Bruder Gabriel. Quellen: Pfarre Koblach, Taufbuch; VLA, Chronik des Gendarmerieposten Götzis, 17.4.1944; Auskunft Erinnerungsort Torgau, 21.2.2023; VLA, VLA-LESt P Aman3; TLA, Suchkarte Alois Amann; LG Feldkirch, T 84/ 5. Literatur: Gächter, NS-Opfer aus Koblach; JAMG, VuWiV. Bader, Innozenz * 24. Dezember 1896 Langenegg † 2. Mai 1945 Langenegg □ Langenegg Der Landwirt Innozenz Bader hatte bereits im Ersten Weltkrieg als Soldat gedient. Er war seit 1940 unabkömmlich gestellt, also aus dem Wehrdienst entlassen. Am 20. März 1945 wurde ihm eine Kriegsbeorderung, wahrscheinlich für den Volkssturm, zugestellt. Innozenz Bader folgte der Einberufung nicht und schloss sich der Widerstandsgruppe in Langenegg an. Ihr Ziel war es, in den letzten Kriegstagen die Zerstörung der lokalen Verkehrsinfrastruktur durch Einheiten von Wehrmacht und SS zu verhindern und die lokalen NS-Führer zu entmachten. Am 1. Mai erlitt er in Langenegg bei einem Gefecht mit <?page no="176"?> Angehörigen eines SS-Trupps schwere Schussverletzungen, denen er am folgenden Tag erlag. Quellen: VLA, VLA-LESt EC VWK 1 Bader Innozenz; VLA, VLA-LESt P 1896-Bade1 Bader Innozenz. Literatur: Schelling, Festung Vorarlberg, 224; Schwarz, Heimatbuch Langenegg, 61-65; JAMG, VuWiV. Bader, Robert * 5. April 1920 Langenegg † 1. Mai 1945 Langenegg □ Langenegg Der Landwirt Robert Bader wurde im August 1940 zum Infanterie-Ersatz-Bataillon 61 in München einberufen. Über seinen Kriegsdienst bis 1945 liegen keine Daten vor. Im April 1945 befand er sich in Langenegg. Wann und wo er aus der Wehrmacht desertiert ist, kann nicht mehr festgestellt werden. Er schloss sich der Widerstandsgruppe Langenegg an. Ihr Ziel war es, in den letzten Kriegstagen die Zerstörung der lokalen Verkehrsinfrastruktur durch Einheiten von Wehrmacht und SS zu verhindern und die lokalen NS-Führer zu ent‐ machten. Am 1. Mai wurde er in Langenegg von Angehörigen eines SS-Trupps erschossen. Robert Bader war verheiratet und hinterließ drei Kinder. Quellen: VLA, VLA EC BR-WStR Langenegg (Wehrstammrollen Landkreis Bregenz). Literatur: Schelling, Festung Vorarlberg, 224; Schwarz, Heimatbuch Langenegg, 61-65; JAMG, VuWiV. Bodemann, Rudolf * 21. April 1912 Dornbirn † 24. Juni 1942 Parkkina (SU) □ Dornbirn Der Mineur Rudolf Bodemann, zuletzt im Steinbruch Breitenberg der Firma J. M. Fus‐ senegger in Dornbirn beschäftigt, rückte im März 1940 zur 2. Gebirgsdivision ein. Seit Anfang 1942 war er Gefreiter in der 13. Kompanie des Gebirgs-Jäger-Regiments 143 (6. Gebirgsdivision), das in Lappland im Fronteinsatz gegen die Rote Armee stand. Am 8. Juni 1942 wurde er vom Gericht der 6. Gebirgsdivision wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 24. Juni 1942 in Parkkina durch Erschießen vollstreckt. Aus „Besondere Anordnungen für das rückwärtige Armeegebiet“ Nr.-23 vom 9. Juli 1942: „Der Gefreite B. hat auf der Fahrt vom Ersatztruppenteil zum Feldheer ein Stück Kreide gegessen in der Absicht, dadurch krank zu werden und wieder zum Ersatztruppenteil zu kommen. Er hat dann bei zwei Kameraden, mit denen er in vorderster Linie auf Posten stand, den Versuch gemacht, diese zu überreden, dass sie gemeinsam mit ihm zu den Russen überliefen. Hierbei gab er sich als überzeugter Kommunist zu erkennen und pries die angeblich besseren Lebensverhältnisse in der Sowjetunion. Ausserdem hat er einem von diesen beiden Kameraden noch 50 RM gegeben, damit dieser nichts verraten solle, wenn er sich mit seinem Karabiner anschösse. Er hat dann auch tatsächlich auf sich angelegt in der Absicht, sich selbst zu verstümmeln, hat aber nicht den Mut zum Abdrücken aufgebracht. Vom Kriegsgericht wurde er wegen Zersetzung der Wehrkraft in 4 Fällen dreimal zum Tode, ferner zu einer Zuchthausstrafe von 5 Jahren, zur Wehrunwürdigkeit und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Das Todesurteil wurde durch Erschiessen vollstreckt.“ 176 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="177"?> Rudolf Bodemann hinterließ zwei Töchter aus der Ehe mit seiner zweiten Frau Elisabeth und eine Tochter aus seiner ersten Ehe. Quellen: BArch, RH 23/ 7/ Vol. 1, 276; Standesamt Berlin I, Sterbebuch, 18.6.1943; VLA, AVLReg IVa-168/ 205. Literatur: Pichler, Nationalsozialismus, 327; Böhler, Dornbirn, 217, 230; JAMG, VuWiV. Bonat, Max * 12. Mai 1912 Bregenz † 2. oder 3. Februar 1945 Verona (I) □ Höchst Der Bäcker Max Bonat rückte im Mai 1940 zum Gebirgsjäger-Ersatz-Regiment 136 in Innsbruck ein, das im April 1941 am Überfall der Wehrmacht auf Jugoslawien beteiligt war. Im Herbst 1942 befand sich Max Bonat wegen einer Verwundung oder Krankheit in einem Lazarett in München. Er verließ es ohne Erlaubnis und begab sich nach Bregenz, wo er am 25. Dezember 1942 von Beamten des Grenzpolizeikommissariats Bregenz (Gestapo) verhaftet und zurück nach München überstellt wurde. Ein Militärgericht verurteilte ihn wegen Fahnenflucht zu einer Zuchthausstrafe. Im April 1943 wurde er aus dem Wehrmachtsgefängnis Bruchsal in die Feldstrafgefangenenabteilung 9 zur Bewährung an der Ostfront überstellt. Von dort kam er im September 1943 zum Grenadier-Regiment 499, das im Rahmen der 268. Infanterie-Division ebenfalls an der Ostfront (Weißrussland) gegen die Rote Armee kämpfte. Im Jahr 1944 dürfte Max Bonat neuerlich in ein Lazarett im Heimatgebiet eingewiesen worden sein, wahrscheinlich wegen Magenbeschwerden. Jedenfalls wurde er 1944 dem Sicherungs-Bataillon M (Magenkranke) 1217 zugeteilt, das in Völs in Tirol gebildet und zur Partisanen-Bekämpfung nach Italien geschickt worden war. Max Bonat lief zu den Partisanen über und reihte sich in eine Partisaneneinheit ein. Er übernahm Versorgungsaufgaben. Bei einem dieser Einsätze für die Partisanen wurde er festgenommen und am 8. Jänner 1945 wegen Fahnenflucht und Kriegsverrat vor das Gericht der Leitkommandantur Verona gestellt. Das Kriegsgericht verurteilte ihn zum Tode, zum Verlust der Wehrwürdigkeit und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit. Generalfeldmarschall Albert Kesselring bestätigte das Urteil und ordnete am 3. Februar 1945 die Hinrichtung an. Max Bonat war verheiratet und hinterließ zwei Kinder. Quellen: VLA, AVLReg IVa-168/ 90; VLA, AVLReg IVa-168/ 240+241; VLA, BG Bregenz, Gefangenenbuch 1941-1944. Literatur: JAMG, VuWiV. Bösch, Engelbert * 14. Juni 1913 Lustenau † 20. Juli 1945 Murimoos (CH) □ Lustenau Der Metalldreher und Textilarbeiter Engelbert Bösch rückte im Februar 1940 zur Kraftfahr- Ersatz-Abteilung 18 in Bregenz ein. Als Kraftfahrer machte er den deutschen Angriffskrieg an verschiedenen Fronten bis Mai 1943 mit. Zunächst war er gegen Frankreich eingesetzt, dann in Polen im Vorfeld des Angriffs auf die Sowjetunion, schließlich beim Nachschub für die deutschen Truppen bis Gomel (Homel, Weißrussland). Zuletzt war er dort bei der Bewachung von Munitionsmagazinen eingesetzt. Im April 1943 erhielt er einen Heimaturlaub, den er für die Flucht in die Schweiz nutzte. Am 1. Mai 1943 gelang ihm die Überquerung des Rheins bei Lustenau auf der Höhe von Au-Oberfahr. Gegenüber Anhang - 55 Todesfälle 177 <?page no="178"?> der Schweizer Polizei begründete er seine Flucht damit, dass er als Österreicher kein begeisterter Regimeanhänger sei und nicht mehr weiterkämpfen wollte. Er berichtete außerdem über die verbrecherische deutsche Kriegsführung in der Sowjetunion und schilderte unter anderem die Zerstörung des Ghettos in der Stadt Sluzk südlich von Minsk und den dabei durchgeführten Massenmord an der jüdischen Bevölkerung im Februar 1943. Die Schweizer Behörden beurteilten ihn als „Prototyp eines rechtschaffenen Menschen und anscheinend auch guten Soldaten, der wohl kaum aus Feigheit fahnenflüchtig wurde. Die Motive seiner Flucht sind eher auf ethischem Gebiet zu suchen.“ Engelbert Bösch wurde im Lager Murimoos interniert, wo er am 20. Juli 1945 bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam. Er war mit einer Schweizer Staatsbürgerin verheiratet. Quellen: BAR, E27#1000/ 721#9928*, Bd. 5, Bericht 162, 19.6.1943; BAR, E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrakteure 1943, PA N 10279 Ws, 10.6.1943; VLA, VLA-LESt P Bosc28. Literatur: JAMG, VuWiV. Burtscher, Wilhelm * 27. Oktober 1922 Sonntag-Küngswald † 8. Dezember 1944 Graz □ Sonntag-Küngswald Wilhelm Burtscher stammte aus einer Bergbauernfamilie in Küngswald, einem hochgele‐ genen Weiler der Gemeinde Sonntag im hintersten Teil des Großen Walsertals. Er hatte insgesamt vierzehn Geschwister, von denen im Sommer 1943 noch acht lebten. Sein Vater Franz Xaver Burtscher (* 6.7.1880), ein Zimmermann, hatte im Jahr 1909 das Bauernanwesen in Küngswald, zu dem ein Maisäß gehörte, gekauft und im selben Jahr das Dienstmädchen Paula Franziska Malaun aus Brixlegg in Tirol geheiratet. Im Ersten Weltkrieg diente der Vater als Soldat in einem Tiroler Kaiserjägerregiment, wurde an der russischen Front in Galizien verwundet und mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Paula Burtscher verstarb im Juni 1943 im Alter von 57 Jahren. Seit ihrer Erkrankung im Jahr zuvor führte die letzte noch auf dem Hof lebende, 16-jährige Tochter Delphina (* 13.7.1926) den Haushalt, dem neben dem Vater und Wilhelm noch der etwas ältere Bruder Leonhard (* 12.9.1918) und der 14-jährige Ignaz (* 17.7.1929) angehörten. Der älteste der Brüder, Franz Josef (* 1.11.1916), lebte bis 1937 ebenfalls auf dem Hof, war allerdings von 1937 bis Juli 1942 Soldat, zunächst im österreichischen Bundesheer in Bludenz, dann im Gebirgs-Artillerie- Regiment 111 in der Wehrmacht, mit dem er den Angriff auf Polen bis Lemberg, danach auf Norwegen und dort auf die Sowjetunion mitmachte. Franz Xaver Burtscher hatte die Wirtschaft über die Jahre stetig vergrößert, zunächst um die Alpe Wang oberhalb von Küngswald, dann pachtete er einen Bauernhof im 15 Kilometer entfernten Schnifis und ein Stallgut in Düns, beide am Ausgang des Großen Walsertals zwischen Feldkirch und Bludenz gelegen. Während der NS-Zeit kamen mehrere Wiesen mit unbewohnten Gebäuden bzw. Ställen in Sonntag hinzu. Die verschiedenen Exposituren des Betriebes dienten zum Teil als einfache Wohnsitze, wenn dort Arbeit zu verrichten war. Je nach Saison, Arbeitsanfall und Schneelage wechselten Teile der Familie zwischen diesen Wohnsitzen hin und her. Der älteste Sohn, Franz Josef, bewirtschaftete mit seiner Ehefrau und zwei kleinen Kindern während der schneefreien Monate die zum Hof gehörende Alpe Wang, im Winter lebte seine Familie in der Sennerei in Sonntag-Seeberg, für bestimmte Arbeiten hielt er sich weiterhin auch am Hof in Küngswald auf. Zwei der bereits in Sonntag bzw. Schruns verheirateten Töchter Paula Rützler (* 27.2.1912) und Juliane Stemmer (* 11.10.1909) 178 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="179"?> halfen zeitweise in der Wirtschaft mit. Am Hof waren phasenweise weitere Arbeitskräfte beschäftigt, nachdem die Söhne zur Wehrmacht eingezogen worden waren: die aus Sonntag stammende Hausgehilfin Hermine Gassner (* 14.11.1921), ein serbischer Kriegsgefangener und die ukrainische Zwangsarbeiterin Natalje Sadonwikowa (* 2.9.1924). Zudem halfen etwa während saisonal intensiver Arbeitsphasen Nachbarn aus, so am Anwesen in Schnifis der Bauernsohn Martin Lorenz. Nur mehr lose Beziehungen bestanden zum weichenden Sohn Karl (* 8.3.1921), der den Hof bereits nach der Volksschule verlassen hatte und bis zu seiner Einziehung zur Wehrmacht zunächst als Knecht bei anderen Bauern arbeitete und wahrscheinlich ab 1938 als Holzarbeiter beim Stadtforstamt Feldkirch Beschäftigung fand, dann aber in den Reichsarbeitsdienst und die Wehrmacht eingezogen wurde. Im Sommer 1943 lag Karl nach einer schweren Beinverwundung an der Eismeerfront seit Monaten im Reserve-Lazarett in Feldkirch. Wilhelm rückte im November 1941 zum Rekruten-Ausbildungskommando in Gross-Elf‐ ingen ein und wurde dort dann dem Bodenpersonal der Luftwaffe zugeteilt. Da er aus gesundheitlichen Gründen nicht kriegsverwendungsfähig war, kam er im Jänner 1942 zu einer Landesschützenkompanie in den besetzten Niederlanden. Danach wurde er als Gefreiter zum Grenadier-Ersatz-Bataillon 366 in Bonn versetzt, wo er, nun als kriegsver‐ wendungsfähig gemustert, mit der baldigen Abstellung zu einer Feldeinheit rechnen musste. Aufgrund des Todes seiner Mutter erhielt er vom 18. bis zum 25. Juli 1943 einen Sonderurlaub nach Hause, von dem er nicht mehr einrückte. Einem Einvernahmeprotokoll der Gestapo zufolge fasste er den Entschluss spontan, da er sich bereits wieder zur Rückreise am Bahnhof Bludenz eingefunden hatte und ohne Absprache mit seiner Familie: „Ich war wieder im Begriff rechtzeitig zum Truppenteil zurückzukehren und befand mich bereits am Bahnhof in Bludenz. Dort überlegte ich mir die Sache und kehrte heimlich wieder nach Sonntag zurück.“ Ein einschneidendes Kriegsereignis dieser Tage war die Landung der alliierten Armeen in Italien, womöglich hatte er in Bludenz davon erfahren und rechnete deshalb mit einem baldigen Kriegsende, einem Argument, mit dem er seine Desertion häufig rechtfertigte. Einige Tage nach Wilhelms Untertauchen traf Leonhard zu einem Urlaub in Sonntag ein. Er hatte als Soldat des Gebirgsjäger-Regiments 136 die Angriffe auf Frankreich, Griechenland und in Norwegen auf die Sowjetunion mitgemacht. Er kam von der Eismeerfront, wo sein Bruder Karl jüngst schwer verwundet worden war. Der Durchbruch gegen die sowjetische Verteidigung war dort nicht einmal 1941 gelungen und es war ein verlustreicher, zer‐ mürbender Stellungskrieg unter klimatisch extremen Bedingungen entstanden. Leonhard schätzte die Kriegslage ähnlich wie sein Bruder ein und schloss sich diesem an, um in den Bergen des Großen Walsertals das vermeintlich nahe Kriegsende abzuwarten. Im Oktober 1943 kam der Unteroffizier Martin Lorenz (* 6.5.1918) aus Schnifis auf Heimaturlaub. Er war mit der Familie Burtscher gut bekannt (siehe Lorenz, Martin). Während des Urlaubs begann er ein Liebesverhältnis mit Delphina. Die drei Deserteure wurden von der Familie Burtscher und anderen Einheimischen durch Beherbergung und Verpflegung auf ihren Höfen, Maisäßen und Alpen unterstützt. Im Winter waren diese Orte für Außenstehende aufgrund ihrer Abgelegenheit und der Schneelage kaum zugänglich. In Anhang - 55 Todesfälle 179 <?page no="180"?> der Nähe des Burtscher-Hofes richteten sie sich unter einer Felswand, den „Roten Schrofen“, außerdem ein weiteres Versteck ein. Bis Juli 1944 blieben mehrere Nachforschungen und Fahndungen durch Gendarmerie, Gestapo, Landwacht und Wehrmacht ergebnislos. Erst Anfang Juli 1944 gelang es dem Ge‐ ndarmeriemeister von Blons, Josef Burtscher, den Deserteuren mit Hilfe eines Informanten eine Falle zu stellen. Am 9. Juli 1944 um fünf Uhr früh drangen mehr als ein Dutzend Gendarmen in den Hof in Küngswald ein und nahmen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz sowie Franz Xaver und Ignaz Burtscher, andernorts den Bauern Benjamin Bischof (* 18.8.1909) fest. In den folgenden Tagen wurden weitere Familienmitglieder verhaftet und zu Einvernahmen durch Beamte des Grenzpolizeikommissariats Bregenz (Gestapo) in das Gefängnis Bludenz gebracht. Leonhard Burtscher entkam der Verhaftung. Auf Basis des Ermittlungsberichts der Gestapo erhob der Staatsanwalt des Reichskriegsge‐ richts Torgau einen Monat später Anklage gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz wegen Fahnenflucht und Hochverrat. Das Reichskriegsgericht befand sie am 13. Oktober 1944 der Fahnenflucht und des Kriegsverrats schuldig und verurteilte sie zum Tode, zum Verlust der Wehrwürdigkeit und zum dauernden Verlust der Ehrenrechte. Die Hinrichtung erfolgte am 8. Dezember 1944 im Landgericht Graz. Die Verurteilung wegen Kriegsverrat hatte das Reichskriegsgericht damit begründet, dass die drei Deserteure als „österreichische Freiheitskämpfer“ aufgetreten seien, entsprechende Abzeichen auf ihren Uniformen und rot-weiß-rote Armbinden getragen und um Unterstützung für einen politischen Umsturz geworben hätten. Außerdem hätten sie eine Liste mit Personen zusammengestellt, deren Bestrafung sie einer künftigen österreichischen Staatsregierung vorschlugen. Franz Xaver Burtscher, Delphina Burtscher, Juliane Stemmer, Benjamin Bischof, Paula Rützler und Hermine Gassner wurden vom Sondergericht Feldkirch angeklagt und bei der Verhandlung am 20. Dezember 1944 von Landgerichtspräsident Heinrich Eccher zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt: • Franz Xaver Burtscher nach §§ 220 und 222 StG (Begünstigung von Fahnenflüch‐ tigen, Verleitung eines Soldaten zur Verletzung militärischer Dienstpflicht) sowie Unterlassung der Anzeige eines geplanten kriegsverräterischen Unternehmens (§ 139 RStGB) zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus. Er wurde in die Haftanstalt Schwäbisch-Hall eingewiesen. • Delphina Burtscher nach § 220 StG sowie § 5 KSSVO (Zersetzung der Wehrkraft) zu fünf Jahren Jugendgefängnis. Sie war zum Zeitpunkt der Festnahme von Martin Lorenz schwanger und brachte ihre Tochter Maria im September zur Welt. Sie wurde am 16. März 1945 in die Haftanstalt Feldkirch und von dort am 27. März 1945 in das Frauengefängnis Rothenfeld eingeliefert. Sie kam erst Mitte Juni 1945 frei. • Juliane Stemmer nach § 139 Abs. 1 RStGB (Nichtanzeige) zu drei Monaten Gefängnis (Haftanstalt Feldkirch). Sie kam in Haft, obwohl sie vier Kinder zu versorgen hatte. Ihr Mann war als Soldat in Stalingrad vermisst. • Benjamin Bischof nach § 139 Abs. 1 RStGB wegen Unterlassens der Anzeige eines kriegsverräterischen Unternehmens zu sieben Monaten Gefängnis. Nach zweieinhalb Monaten Untersuchungshaft wurde er Ende November 1944 wegen Haftunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen entlassen. 180 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="181"?> Die Verhandlung gegen Paula Rützler und Hermine Gassner, die beide zum Zeitpunkt der Festnahme hochschwanger waren, wurde noch am 18. April 1945 zu Ende geführt. Paula Rützler erhielt wegen Beihilfe zur Fahnenflucht eine Strafe von zwei Monaten Zuchthaus, Hermine Gassner vier Monate Gefängnis. Sie traten die Haft nicht mehr an. Franz Josef Burtscher und Ignaz Burtscher blieben drei Monate in Untersuchungshaft in Bludenz und Feldkirch. Erst wenige Tage nach dem Todesurteil gegen ihren Bruder wurden sie enthaftet. Oberstaatsanwalt Herbert Möller stellte das Verfahren ein. Die Gründe dafür waren verschieden. Franz Josef Burtscher hatte bei der Einvernahme durch die Gestapo jede Unterstützung der Deserteure bestritten. Seine Verwandten hatten ihn nicht belastet. Die Ermittlungen hatten somit keine Anhaltspunkte für strafbares Verhalten erbracht. Beim minderjährigen Ignaz Burtscher führte Möller an, dass er unter Drohungen seiner Brüder gehandelt hatte. Er bezweifelte, ob der Bub „die nötige Einsicht in das Strafbare seines Tuns überhaupt hatte.“ Ferner stellte Möller die Verfahren gegen Ilga Bischof (Ehefrau von Benjamin) und Maria Lorenz, der Mutter von Martin Lorenz, ein. Auch bei ihnen fehlten Nachweise einer Unterstützung der Deserteure. Die Repressalien gegen die Familie Burtscher betrafen auch ihren Besitz. Die Staatspoli‐ zeistelle Innsbruck erließ nach den Festnahmen im Einvernehmen mit Gauleiter Franz Hofer die vorläufige Beschlagnahmung der Landwirtschaft bis zur Durchführung eines möglichen Enteignungsverfahrens. Mit der Abwicklung wurde die Kreisleitung der NSDAP in Bludenz beauftragt. Nach Angaben des damaligen Bürgermeisters von Sonntag, Franz Josef Burtscher, und der Gendarmerie Schlins wurde der Besitz in der Folge vollständig ausgeplündert. Quellen: VLA, LGF KLs 52/ 44, darin: Feldurteil des Reichskriegsgerichts gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 13.10.1944, Geheime Staatspolizei, Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Vernehmungsnie‐ derschrift Wilhelm Burtscher, 12.7.1944, Urteil des SG Feldkirch gegen Franz Xaver Burtscher, Delphina Burtscher, Juliana Stemmer, Benjamin Bischof, 20.12.1944, Urteil des SG Feldkirch gegen Paula Rützler und Hermine Gassner, 18.4.1945; MA Prag, RKG-Vollstreckungslisten, Vollstreckungsliste III, 1944, Nr. 1-281, 1945 Nr. 1-; VLA, AVLReg IVa-168/ 417, IVa-168/ 418, IVa-168/ 419, IVa-168/ 420, IVa-168/ 121, IVa-168/ 426, IVa-168/ 320; VLA, BG Bludenz, Hs 5 Gefangenenbuch 1943-1945, 1944; VLA, Häftlingsprotokolle des Landgerichts Feldkirch, Vormerkbuch 1944-1945. Literatur: Barnay/ Gamon, Delphina Burtscher; Barnay, Wehrmachtsdeserteure; JAMG, VuWiV. Domig, Jakob * 25. Juli 1924 Sonntag-Buchboden † 12. April 1945 Blons □ Sonntag-Buchboden Jakob Domig war ein Sohn von Johann Alois Domig, Bergbauer und Lehrer der einklassigen Volksschule von Buchboden, der hintersten Ortschaft im Großen Walsertal, die zur Ge‐ meinde Sonntag gehörte. Der elterliche Hof war einschichtig gelegen. Nach der Volksschule absolvierte Jakob Domig eine Lehre bei einem Schumacher in St. Gerold. Seine Mutter Maria Magdalena starb 1938. Jakob, der 1924 zur Welt gekommen war, hatte elf Geschwister, fünf Brüder waren zum Zeitpunkt seiner Desertion im September 1944 Soldaten in der Wehrmacht, ein weiterer war bereits 1942 an der Ostfront gefallen. Die Brüder Arnold und Franz Josef sowie die beiden Schwestern Hedwig und Anna bewirtschafteten den elterlichen Hof. Anhang - 55 Todesfälle 181 <?page no="182"?> Jakob Domig rückte im Oktober 1942, kaum achtzehnjährig, zur Wehrmacht ein. Zuletzt war er dem Gebirgsjäger-Regiment 138 (3. Gebirgsdivision) zugeteilt, das im Frühjahr 1944 von der Roten Armee in der Südukraine eingekesselt und nach einem Ausbruch bis zurück an die Moldau getrieben wurde. Das bedeutete extrem weite Fußmärsche unter ständigen Angriffen mit schweren Verlusten. Jakob Domig hatte Glück: Im Frühsommer 1944 erlitt er einen Oberschenkelsteckschuss, der ihn zur Behandlung in das Reserve-Lazarett II in Feldkirch brachte. Im Anschluss erhielt er einen Genesungsurlaub nach Hause, der am 16. September 1944 zu Ende ging. Nach Angaben seines Bruders Arnold sollte er zum Ersatztruppenteil in Leoben einrücken. Während des Urlaubs erzählte Jakob Domig zu Hause häufig „von den im Osten mitgemachten Strapazen“ und zeigte keine Lust, in den Krieg zurückzukehren. Zur Verschleierung seiner Fluchtabsicht verließ er dennoch wie vorgesehen das Elternhaus und fuhr mit dem Bus, begleitet von seiner Schwester Anna, nach Bludenz. Im Bus traf er den Soldaten Tobias Studer aus St. Gerold, der ebenfalls nach einem Genesungsurlaub wieder einrücken musste. Jakob Domig soll Studer zugeredet haben, ebenfalls zu flüchten. Während Studer seinen Urlaub bereits überschritten hatte und deshalb in Feldkirch von der Feldgendarmerie festgenommen wurde, aber aus der Wachstube entkam, fuhr Jakob Domig nach einem Besuch bei seinem Bruder Alfons, der verwundet im Reserve-Lazarett II in Feldkirch lag, zurück nach Bludenz. Im Zug begegnete er erneut Studer und sie beschlossen, die weitere Flucht zurück in das Große Walsertal gemeinsam anzutreten. Beide Deserteure wussten, dass sich in der Umgebung von Sonntag der Deserteur Leonhard Burtscher verborgen hielt, dessen Fluchtgefährten Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz samt der Familie Burtscher im Juli 1944 jedoch verhaftet worden waren. Der Hof der Familie Burtscher lag im Weiler Küngswald, noch höher als der Domig-Hof. Jakob Domig und Tobias Studer fanden Leonhard daher bald und bis November 1944 blieben die drei Deserteure zusammen. Jakob Domig fällte seine Entscheidung zu desertieren gegen den Willen seines Vaters Alois und seines älteren Bruders Arnold. Er konnte sich zu Hause nicht mehr blicken lassen. Der mündlichen Überlieferung von Verwandten zufolge hatte er sich häufig gegen die Autorität des Vaters und des älteren Bruders aufgelehnt. Bei Tobias Studer war es anders: Er konnte seine Mutter Katharina in die Flucht einweihen und erhielt nicht nur von ihr, sondern auch von einem jüngeren Bruder mehrfach Unterstützung. Zeitweilig gewährte Katharina Studer den Deserteuren in ihrem Haus in St. Gerold auch für mehrere Tage Unterschlupf und Verpflegung, meist während der Abwesenheit des Ehemanns, der sich auf dem Maisäß aufhielt. Sonst verbargen sie sich an anderen Orten im Walsertal in Heustadeln, Ställen, Maisäßen und Alpen, die ihren Familien und ihnen bekannten Bauern gehörten, für die sie zum Teil gegen Verpflegung arbeiteten, etwa Schwarzschlachtungen und Forstarbeiten durchführten. Sie mussten ihre Verstecke häufig wechseln und kamen kaum zur Ruhe. Ihre Versuche, weitere auf Heimaturlaub befindliche Soldaten zum Desertieren zu bewegen und eine Widerstandsgruppe zu bilden, schlugen fehl. Mit dem Beginn des Winters wurde das Überleben der Gruppe noch schwieriger, da Schnee und Lawinengefahr das Fortbewegen in Hochlagen stark einschränkten. Gerüchte über die Anwesenheit der Deserteure erhöhten das Risiko, verraten zu werden. Zudem kam es zu einem Konflikt zwischen Leonhard 182 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="183"?> Burtscher und Jakob Domig, der sich mit dem Gedanken getragen haben soll, sich zu stellen. Leonhard Burtscher verließ die Gruppe und schlug sich alleine bis Kriegsende durch. Anfang 1945 suchten Tobias Studer und Jakob Domig mehrfach Studers Elternhaus in St. Gerold auf und blieben über längere Zeit dort bzw. in umliegenden Heustädel. Verpflegt wurden sie in dieser Zeit von Katharina Studer, Tabak erhielten sie von einem Nachbarn. Die beiden zeigten sich sogar Besucher*innen im Haus, etwa um mit ihnen Karten zu spielen. Dabei soll Jakob Domig auf die Nachfrage, warum sie als Soldaten überhaupt hier sein konnten, geantwortet haben: „Wir sind Banditen und haben auch gute Gelegenheit gehabt, solche zu werden! “ Auch andere Einheimische, die sie kannten, sprachen sie auf ihren Wegen an und gaben sich zu erkennen. Ihr Verhalten zeigt einerseits, dass sie sich in ihrer Umgebung recht sicher fühlten, andererseits führte es im Februar und März 1945 zu mindestens zwei Anzeigen bei der Gendarmerie Blons und zu Versuchen der Gendarmerie, die beiden Deserteure aufzuspüren und festzunehmen. Einer der Anzeiger ersuchte die Gendarmen, seinen Namen als Zeuge auf keinen Fall bekanntzugeben, „weil ich sonst unter der Walsertaler Bevölkerung als Schuft und Verräter verschrien werde.“ Im Februar und März 1945 gelang es den Deserteuren zweimal in letzter Sekunde ihren Verfolgern - Gendarmerie, Soldaten und Gestapobeamten - in Blons und Thüringerberg zu entkommen. Bei einer größeren Fahndungsaktion auf Betreiben der Gestapo (Grenzpoli‐ zeikommissariat Bregenz) jedoch wurden am 27. März 1945 basierend auf den Anzeigen eine Reihe von Familienangehörigen und Mitwisser*innen festgenommen: Katharina Studer (* 20.5.1897, St. Gerold), Ida Dobler (* 25.6.1926, St. Gerold), Josef Dobler (* 19.3.1891, St. Ge‐ rold), Gottlieb Burtscher (* 23.1.1891, St. Gerold), Hedwig Domig (*-21.3.1923, Buchboden), Anna Domig (* 18.6.1921, Buchboden), Franz Josef Domig (* 21.2.1928, Buchboden), Arnold Domig (*-23.2.1916, Buchboden). Weitere Personen wurden der Mitwisserschaft und Hilfe verdächtigt, blieben jedoch zum Teil aus gesundheitlichen Gründen auf freiem Fuß. Obwohl gegen den Vater und die Geschwister von Jakob Domig keinerlei Nachweise vorlagen, dass sie ihn unterstützt hatten, wurden nur Arnold und Hedwig nach einigen Tagen Haft wieder entlassen. Alle anderen blieben wohl bis Anfang Mai 1945 in Bludenz in Haft. Zu einer Anklageerhebung vor dem Sondergericht Feldkirch wegen Begünstigung von Deserteuren kam es nicht mehr. Der Gestapo lag ein vertraulicher Hinweis vor, dass die Deserteure am Tag vor der Razzia durch ein anonymes Schreiben an Katharina Studer gewarnt worden waren, so dass sie das bereits verratene Versteck in einem Heuschuppen in der Nähe des Studer-Hofes rechtzeitig verlassen konnten. Sie flüchteten tiefer ins Tal hinein, bis nach Buchboden, wo sie sich in Hütten der Familie Domig verbargen. Die Beschaffung von Lebensmitteln war nun aber noch schwieriger und gefahrvoller als bisher. Die beiden dürften sich in ihrer Not auch durch einen Einbruchdiebstahl versorgt haben, zumindest nach Darstellung der Gendarmerie: Am 12. April 1945 fahndeten der Meister der Gendarmerie Blons, Josef Burtscher, und der Wachtmeister der Reserve, Josef Descher, in der Umgebung von Sonntag und Blons nach Tätern eines Einbruchdiebstahls. Dabei beobachteten sie auf dem Gemeindegebiet von Blons zwei Männer, wie sie sich in einen abgelegenen Stall begaben. Tobias Studer berichtete im Jahr 2002 der Historikerin Maria Fritsche, dass Jakob Domig und ihm in diesem Stall von jemandem die Übergabe von Speck versprochen worden war. Anhang - 55 Todesfälle 183 <?page no="184"?> Im Protokoll des Gendarmeriepostens Blons ist die Version der beteiligten Gendarmen nachzulesen: Sie folgten den Verdächtigen zum Stall und forderten sie auf, sich zu ergeben. „In diesem Augenblick eröffneten die im Heustock versteckten Männer auf die Gendarmen das Feuer, worauf auch die Gendarmen von der Schußwaffe Gebrauch machten. […] Als dann die Gendarmen ihre Munition verfeuert hatten und sich in Sicherheit begeben mußten, ergriff einer der zwei Männer die Flucht, wogegen der andere auf dem Stall mit einem Kopfschuß tot aufgefunden wurde. Die weitere Durchsuchung des Stallgebäudes ergab, daß tatsächlich das Diebsgut von vorerwähntem Einbruchdiebstahl im Heustock versteckt aufgefunden werden konnte.“ Der Tote wurde als Jakob Domig identifiziert, der Flüchtende als Tobias Studer. Im Interview mit Maria Fritsche sprach Tobias Studer von einer Falle, die den beiden Deserteuren gestellt worden sei. Er habe zunächst nur einen Schuss auf die Gendarmen abgegeben, dann habe sich sein Gewehr verklemmt. Jakob Domig habe demnach gar nicht geschossen und sich auch geweigert, ihm sein Gewehr zu überlassen, bevor dieser von den Gendarmen tödlich getroffen wurde. In einem anderen Bericht der Gendarmerie Bludenz ist abweichend zur Darstellung in der Chronik zu lesen, Jakob Domig sei mit einem Herzschuss tot im Stall aufgefunden worden. Ein Augenzeuge des Ereignisses überlieferte Verwandten von Jakob Domig wiederum, dass die Gendarmen als erste geschossen hätten. Tobias Studer gelang die Flucht, bevor Wehrmachtssoldaten und die Landwacht eintrafen. Er nahm das Gewehr seines toten Freundes an sich, beschoss die Gendarmen, entkam in die Schlucht der Lutz, legte sich dort unter die Wurzeln eines umgefallenen Baumes und hielt sich mit Moos bedeckt so lange verborgen, bis die Fahndung nach ihm abgebrochen wurde. Er überlebte die Wochen bis zum Kriegsende mit Hilfe von Knechten und Verwandten in Ställen und auf einem höher gelegenen Maisäß in Thüringerberg. Der Leichnam von Jakob Domig wurde in Blons außerhalb des Friedhofs verscharrt. Dieser Umgang mit erschossenen Deserteuren entsprach den Vorschriften der Wehrmacht, wonach Deserteure ehrlos waren und nicht nach den üblichen Riten bestattet werden durften. 1948 wurde der Leichnam exhumiert und im Familiengrab in Buchboden beerdigt, allerdings ohne den Namen auf dem Kreuz des Familiengrabes, das heute nicht mehr existiert, hinzuzufügen. Wahrscheinlich aus Anlass der Beerdigung ließ die Familie ein Sterbebild zur Erinnerung an Jakob Domig anfertigen. Darauf finden sich die Worte „Er suchte die Freiheit und fand den Tod.“ Als der lokale Kameradschaftsbund später ein Gedenkkreuz für die gefallenen Soldaten aus Buchboden errichtete, ließ man den Namen von Jakob Domig weg - an seine gefallenen bzw. vermissten Brüder Alois und Hubert hingegen wird erinnert. Offenbar blieb der erschossene Deserteur ehrlos, einer Erinnerung am Friedhof seines Heimatortes nicht würdig - eine Haltung, die den Gesetzen der Republik Österreich zur Rehabilitierung von Deserteuren der Wehrmacht widerspricht und Angehörige von Jakob Domig schmerzt. Quellen: VLA, LGF Js 53/ 45; VLA, VLA-LESt P Domi20; Chronik des Gendarmerieposten Blons, 12.4.1945; VLA, AVLReg IVa-168/ 418 (Burtscher Franz Xaver); Pfarre Buchboden, Taufbuch; Gespräch mit Bernadette Forte (geb. Domig), Leo Forte, Norbert Burtscher, 21.4.2023. Literatur: Barnay/ Gamon, Delphina Burtscher; Barnay, Wehrmachtsdeserteure; Fritsche, Die wagemutige Flucht; JAMG, VuWiV. 184 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="185"?> Engstler, Christian * 17. August 1916 Lorüns † Todesdatum unbekannt (vermisst) □ Lorüns Der Malerhilfsarbeiter Christian Engstler gehörte zu jenen Vorarlberger Soldaten, die bereits im Dezember 1938 zur Wehrmacht eingezogen wurden, und zwar zum Gebirgs- Artillerie-Regiment 111, das nach dem „Anschluss“ in Hall in Tirol aus einem Artillerie- Regiment des österreichischen Bundesheeres gebildet und der 2. Gebirgsdivision unterstellt wurde. Als er sich am 20. Jänner 1943 in Finnland an der Front von seiner Kompanie unerlaubt absetzte, hatte er bereits dreieinhalb Jahre Kriegseinsatz hinter sich, in Polen, an der Westfront, beim Angriff auf Norwegen und bei der folgenden Besetzung, beim Überfall auf die Sowjetunion in Nordfinnland und im zermürbenden Stellungskrieg in der lebensfeindlichen Landschaft der arktischen Tundra. Seine Fahnenflucht ist durch einen Akt des Gerichts der 2. Gebirgsdivision dokumentiert. Christian Engstler verließ seine Einheit auf dem Rückweg von einem Kinobesuch, um per Anhalter mit Lastwagen der Wehrmacht auf der Eismeerstraße immer Richtung Süden zu fahren, bis er nach drei Tagen Rovaniemi erreichte, wo er sich in einem Soldatenheim einquartierte. Er fiel zwei Offizieren auf, da er sich angeblich wie ein Soldat verhielt, der sich von seiner Truppe entfernt hatte. Sie meldeten ihn bei der Feldgendarmerie, die ihn festnahm. Bei der Durchsuchung seiner Kleider wurden zwei sowjetische Flugblätter gefunden. Sie riefen die deutschen Soldaten zur Fahnenflucht auf: „Deutsche Soldaten! Sowjetrussland hat die Unabhängigkeit und Unversehrtheit Deutschlands nicht angetastet und tastet sie nicht an. Überlegt Euch, wofür vergiesst Ihr Euer Blut? “ Christian Engstler rechtfertigte ihren Besitz damit, dass die Flugblätter im Fall einer Gefangennahme durch die Rote Armee günstig wären. Zum Ziel seiner Entfernung von der Truppe meinte er, er wolle bei einem Finnen Arbeit finden. In einem Verhör gab er dann an, dass er in den ersten beiden Kriegsjahren gerne Soldat gewesen sei, es ihm jetzt aber lieber wäre, wenn er entlassen würde und nach Hause käme. Zwei Monate vorher hatte er einen Heimaturlaub absolviert. Er sagte auch: „Ich hatte keine Lust mehr und verließ deshalb die Einheit. Es war mir egal, wie die Sache ausgeht.“ In die Ermittlungen schaltete sich der Bürgermeister von Lorüns mit einem Brief an das Gericht ein. Er stellte die Absicht einer Fahnenflucht in Abrede und verwies auf psychische Probleme und die Schwerhörigkeit Engstlers: „Bei seinem letzten Urlaub im September 1942 war er ganz eigenartig still, scheu und nach den Angaben seines Vaters im Schlaf sehr unruhig oft aufschreckend, tagsüber gedankenlos, alles vergessend. […] Es kann somit das Entfernen von der Truppe nur auf eine geistige Umnachtung zurückzuführen sein, also krankhafte Erscheinung, Nervenzusammenbruch oder ähnliches, kei‐ neswegs eine Tat, welche bei vollem Bewusstsein erfolgte.“ Der Bürgermeister schlug statt einer Bestrafung die Einweisung in eine Nervenheilanstalt vor. Auch der Vater versuchte zugunsten seines Sohnes zu intervenieren. Vor Gericht erklärte Christian Engstler, dass er wahrscheinlich nach Deutschland und möglicherweise zu seinen Angehörigen gefahren wäre. Über Folgen habe er nicht nach‐ gedacht. Der Richter ordnete ein psychiatrisches Gutachten an. Das Gutachten stellte Anhang - 55 Todesfälle 185 <?page no="186"?> Schwerhörigkeit und zugleich volle Zurechnungsfähigkeit fest. Bei der Neuverhandlung am 14. Mai 1943 erklärte Engstler zu seinen Motiven: „Ich hatte eigentlich keinen direkten Grund, warum ich mich damals von der Truppe entfernte. Mir war der Dienst verleidet, ich hatte gar keine Lust mehr. Ich hätte gerne gehabt, unsere Truppe wäre einmal von hier weggekommen, aber nachdem das nicht der Fall war, bin ich eben allein weggegangen.“ Seit dem letzten Heimaturlaub habe er keine Freude mehr am Dienst. Er gestand die Absicht, sich dauernd vom Dienst in der Wehrmacht zu entziehen. Der Richter erkannte ihn daher der Fahnenflucht für schuldig. Bei der Strafbemessung betrachtete er auch das Vorleben Engstlers. Als Zivilist war er unbescholten geblieben, aber in der Wehrmacht hatte er bereits elf Disziplinarstrafen erhalten, meist wegen Überschreitung des Ausgangs und wegen Fernbleibens vom Dienst. Im Hinblick auf Hitlers Richtlinien zur Verhängung der Todesstrafe bei Fahnenflucht hielt der Richter die Höchststrafe für nicht notwendig. Es gebe keine Anzeichen dafür, dass Engstler aus Furcht vor persönlicher Gefahr geflohen sei. Auch zur Aufrechterhaltung der Manneszucht sei die Verhängung der Todesstrafe nicht notwendig, da es sich um einen absoluten Einzelfall dieser Art in der 2. Gebirgsdivision handle. Ferner gab es keine Anhaltspunkte, dass Engstler ins Ausland flüchten wollte, er habe sich auch der Festnahme nicht entzogen. Zusammenfassend kam das Feldkriegsgericht zum Ergebnis, dass „der Angeklagte die Tat weniger aus charakterlich schlechter Veranlagung, als vielmehr im Zustand einer möglicherweise psychiatrisch nicht erfassbaren seelischen Depression, also nicht aus unehrenhaften Beweggründen, begangen hat.“ Die Strafe wurde mit fünf Jahren Zuchthaus und Verlust der Wehrwürdigkeit festgelegt. Das Urteil wurde vom Gerichtsherrn, dem Kommandanten der 2. Gebirgsdivision, Georg Ritter von Hengl, bestätigt. Christian Engstler wurde in das Strafgefangenenlager III Aschendorfermoor im Emsland überstellt, wo Wehrmachtshäftlinge schwere Zwangsarbeit bei der Entwässerung des Moors und auf Baustellen leisten mussten. Ein Jahr später, im Juni 1944, lehnte der Befehlshaber des Ersatzheeres einen Gnadenerweis ab. Auch die vom Bürgermeister beantragte Wiederaufnahme des Verfahrens wegen des schlechten Gesundheitszustands und der Schwerhörigkeit wurde abgelehnt. Der Vater bemühte sich im Oktober 1944 noch einmal, seinen Sohn zur Ausheilung einer Brustfellentzündung nach Hause zu bekommen, auch das blieb erfolglos. Einen Monat später wurde Christian Engstler eine Strafaussetzung zur „Feindbewährung in einer Bewährungs-Truppe“ bewilligt. Diesen Einsatz überlebte Christian Engstler nicht. Im Dorfbuch von Lorüns ist er in der Namensliste der Soldaten aus Lorüns als „vermisst“ verzeichnet. Quellen: ÖStA, AdR, DWM, GerA 239/ 20; DÖW 6314; Literatur: Truschnegg, Löruns. 186 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="187"?> 1 Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, 350; Geldmacher, Strafvollzug, 436-438. Fitz, Edwin * 22. Oktober 1903 Hard † 1944/ 45 Sowjetunion (vermisst) □ Hard Der Holzarbeiter Edwin Fitz erhielt Anfang Oktober 1941 die Einberufung zum Gebirgsjäger- Ersatzregiment 137 in Wörgl. Sein Leben war in den 1930er-Jahren nicht gerade glücklich verlaufen. In seinem ursprünglichen Beruf als Monogrammsticker hatte er keine Arbeit mehr gefunden, die Ehe wurde 1935 geschieden, er hatte für eine Tochter zu sorgen, die bei ihrer Mutter lebte. Die Scheidung dürfte ihn aus der Bahn geworfen haben, denn in den Folgejahren fasste er eine Reihe von Arreststrafen wegen unbezahlter Schulden aus, wohl auch im Zusammenhang mit dem häufigen Erwerb und Genuss von Most und Schnaps. Von Wörgl wurde Edwin Fitz zum Landesschützen-Ersatz-Bataillon 18 in Lienz versetzt und von dort zurück nach Bregenz, zur Kraftfahr-Ersatz-Abteilung 18. In Bregenz angekommen, entfernte er sich unerlaubt aus der Kaserne und, so heißt es in der Urteilsschrift, „trieb sich, meist betrunken, von einem Gasthaus zum anderen ziehend, in Bregenz und Umgebung bis zu seiner Festnahme am 21.1.1942 herum“. Für diese mehr als zwei Wochen unerlaubte Abwesenheit, Betrug im Rückfall (20 RM) und Veruntreuung wurde er vom Gericht der Division 188 in Innsbruck zu einer Strafe von zehn Monaten Gefängnis verurteilt, die er im Wehrmachtsgefängnis Freiburg im Breisgau durch einen Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie verbüßte. Danach wurde er wieder zur Kraftfahr-Ersatz-Abteilung 18 eingezogen. Im Februar 1943 bat er nach der Rückkehr von einem vierwöchigen Lehrgang in Kochel um einen Nachturlaub in Bregenz, den er nicht erhielt. Er entfernte sich trotzdem ohne Erlaubnis, übernachtete in einem Heustadel und ersuchte am folgenden Tag neuerlich, nun telefonisch, um einen Urlaub, der ihm verwehrt wurde. Er erhielt den Befehl, sofort in die Kaserne zurückzukehren. Dennoch blieb er in Bregenz und Umgebung, trank und wurde zehn Tage später in einem Gasthaus in Bregenz in der Nähe seiner Truppe bei einer Kontrolle festgenommen und neuerlich wegen unerlaubter Entfernung beim Gericht der Division 188 in Innsbruck angeklagt. Edwin Fitz bestritt die Absicht, sich der Verpflichtung zum Dienst in der Wehrmacht dauerhaft zu entziehen, also Fahnenflucht begangen zu haben. Bei der Hauptverhandlung am 9. März 1943 hielt Kriegsgerichtsrat Oswald von Gschließer diese Angaben für glaubhaft, da Fitz sich vom Standort seiner Einheit nicht weit entfernt, stets Uniform getragen hatte und vor Gericht einen guten Eindruck hinterließ. Gschließer machte Gelegenheiten zum Schnaps- und Mosttrinken in seiner Heimatumgebung als Ursache der unerlaubten Entfernungen aus. Er verurteilte Edwin Fitz zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis, etwas milder als der Ankläger gefordert hatte. Der Gerichtsherr ordnete die Strafvollstreckung in einer Feldstrafgefangenenabteilung an, mit Verweis darauf, dass Fitz bislang noch nicht im Fronteinsatz gewesen war. Nun sollte er zu einem „Fronteinsatz unter schwierigen Verhältnissen“ herangezogen werden. Vom Wehrmachtsgefängnis Freiburg wurde Fitz am 15. Juli 1943 zur Feldstrafgefangenenabteilung 10 verlegt, die im Südabschnitt an der Ostfront eingesetzt war. Die Gefangenen wurden bei reduzierter Verpflegung zu „härtesten Arbeiten unter gefahrvollen Umständen im Operationsgebiet, möglichst im Einsatzgebiet der kämpfenden Truppe (Minenräumen, Aufräumen von Leichenfeldern gefallener Feinde, Bunker- und Stellungsbau)“ 1 herangezogen. Die Arbeitszeit betrug täglich mindestens zehn Stunden, die Anhang - 55 Todesfälle 187 <?page no="188"?> Gefangenen konnten bei jedem Fluchtversuch sofort erschossen werden. Am 2. Jänner 1944 ergriff Edwin Fitz die Gelegenheit eines Umzugs seiner Kompanie in Lelekowa bei Kirowograd in der Ukraine, um die Strafgefangenenabteilung unbemerkt zu verlassen. Suchaktionen blieben bis in den Juni 1944 erfolglos. Was mit ihm geschah, blieb ungeklärt. Sein Name findet sich auf dem Kriegerdenkmal von Hard mit dem Vermerk „vermisst“. Quellen: ÖStA, AdR, DWM, GerA 334/ 6; VLA, VLA-LESt P Fitz12. Literatur: JAMG, VuWiV. Frankenhauser, Andreas * 16. Jänner 1916 Götzis † 24. September 1944 Flossenbürg (Bayern) □ Schnifis Andreas Frankenhauser, Beruf unbekannt, erhielt 1939 die Einberufung zu einer Einheit der 33. Infanterie-Division der Wehrmacht. Statt einzurücken, versuchte er offenbar, illegal über Tirol nach Italien zu reisen, wurde von der italienischen Grenzwache festgenommen und zurückgeschoben. Der Verlauf seiner Wehrdienstentziehung ist nur rudimentär anhand einiger Briefe zu rekonstruieren, die er nach seiner Verurteilung im Februar und März 1940 aus der Haft im Gefängnis Diez in Deutschland an seinen Bruder Arthur schrieb, weiters liegt ein Gnadengesuch seiner Mutter Josefine vom Oktober 1940 vor. Demnach wurde Andreas Frankenhauser vom Gericht der 33. Infanterie-Division wegen Fahnenflucht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, wobei er offenbar zweimal versucht hatte, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Von 1939 bis 1941 war er im Gefängnis Diez inhaftiert. In einem Brief an den Bruder schrieb er über seine Hoffnung, dass eine Person, die ihn gut kenne („am allerbesten Mama persönlich“), bei Gericht vorbringen könne, dass seine Handlung „wirklich harmlos und mehr Dummheit“ gewesen sei. Nur so könne er auf die Wiederzuerkennung der Wehrwürdigkeit hoffen. Er schlug auch den Ortsgruppenleiter der NSDAP von Götzis vor, „da wir gut national gesinnt sind.“ Die Mutter stellte im Oktober 1940 an das Gericht der 33. Infanterie-Division ein Gesuch um Freilassung und Begnadigung des Sohnes: „Wenn mein Sohn schon damals über die Grenze ging, so bin ich überzeugt, dass dies nicht aus Schlechtigkeit, sondern nur aus Unüberlegtheit geschehen ist und er sich seiner Handlungsweise bestimmt nicht voll bewusst war. Gleichzeitig möchte ich Ihnen sagen, dass sein Rückfall, wie er mir gebeichtet hat, nicht wissentlich geschehen sei, da er in Unkenntnis der Grenzziehung diese nicht erkannt [habe] und daher zu nahe gekommen wäre.“ Sie führte die Handlung ihres Sohnes auf Jugendleichtsinn und Gedankenlosigkeit zurück. Das Gesuch blieb offenbar ohne Folgen. Auf der Familienkarte der Heimatgemeinde Götzis ist sein Tod in einem „KZ-Lager“ mit dem Datum 24. September 1944 verzeichnet. Nach familiärer Überlieferung starb er im KZ Flossenbürg. Zu beachten ist, dass die vorliegenden Briefe unter den Augen der Zensur verfasst worden waren und die Mutter jedes Interesse hatte, die Handlung ihres Sohnes als Unbedachtheit darzustellen. Quellen: Gemeindearchiv Götzis, Familienkarte Josefine Frankenhauser; Privatsammlung Bernd Franken‐ hauser, Abschriften von Briefen von Andreas Frankenhauser und Josefine Frankenhauser. 188 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="189"?> Hagen, Josef * 11. März 1919 Lustenau † 30. Mai 1944 Lustenau □ Lustenau Der Textilarbeiter Josef Hagen war schon mehr als vier Jahre Soldat, als er Anfang Mai 1944 einen Heimaturlaub von seiner Einheit, dem Artillerie-Regiment 349, nach Lustenau zu seinen Eltern erhielt. Seine Familie betrieb eine Landwirtschaft, der Vater Leopold (* 19.2.1884), Veteran des Ersten Weltkriegs, verdiente durch Gelegenheitsarbeiten etwas Geld dazu. Die Familie hatte sieben Kinder, alle drei Söhne wurden in die Wehrmacht eingezogen, einer war bereits an der Ostfront gefallen. Josef Hagen war mit seiner Einheit erst kürzlich von Frankreich in die Ukraine zu Abwehrkämpfen gegen die Rote Armee verlegt worden. Einen Tag vor Ablauf des Urlaubs erhielten die Eltern einen Brief der Einheit ihres Sohnes Robert, dass diese an der Ostfront zersprengt worden war und er seither vermisst werde. Die Mutter Regina Hagen (* 15.9.1884) beschloss angesichts dieser bestürzenden Nachricht mit ihrem Sohn Josef - wie sie später bei einer Einvernahme durch die Gestapo (Grenzpolizeikommissariat Bregenz) erklärte -, „daß er nicht mehr einrücken sollte. Aus Angst, daß er auch noch fallen könnte, habe ich eben versucht ihn mir zu erhalten.“ Mit Regina Hagens Bruder Hermann Hofer (* 12.11.1886), ebenfalls Veteran des Ersten Weltkriegs - auch er hatte bereits einen Sohn im Krieg verloren -, berieten die beiden, was zu tun war. Hermann Hofer versuchte später in einer Einvernahme durch den Ermittlungsrichter seine Schwester zu entlasten, als er festhielt, dass der Antrieb zur Fahnenflucht nicht von ihr, sondern von Josef Hagen kam: „Horcht, Mutter, ich rücke nicht mehr ein, es geht mir sonst gleich wie meinen beiden Brüdern“, soll er zu ihr gesagt haben. Später, vor Gericht, hielt sich Regina Hagen an diese entlastende Aussage, als sie die Worte ihres Sohnes wiedergab: „Mutter, es geht mir genau so, wie meinen Brüdern, wenn ich morgen wieder zur Frontleitstelle nach Brody [Ukraine] komme, muss ich auf einen vorgeschobenen Posten. Ich rücke nicht mehr ein, ich gehe in die Schweiz.“ Zur Rettung des Lebens von Josef Hagen lag die Flucht in die Schweiz nahe. Da sich Josef im Grenzgebiet nicht gut genug auskannte, benötigten sie einen ortskundigen Helfer, um Josef den Weg über die Grenze zu weisen. Hermann Hofer suchte Rat bei dem Sticker und Hilfsarbeiter Johann König (* 9.2.1887), der ebenfalls zwei Söhne im Krieg verloren hatte; aber einem dritten Sohn, Anton König, war im Februar 1944 die Flucht in die Schweiz gelungen. Hermann Hofer kannte König, auch er war Sticker, und er wusste, dass König früher als Schmuggler tätig gewesen war. Johann König gab seinem Drängen nach und erklärte sich bereit, dem fluchtwilligen Soldaten einen Weg in die Schweiz zu zeigen, den er selbst als Schmuggler benutzt hatte. Am 30. Mai 1944, einen Tag bevor Josef Hagens Urlaub endete, begleitete er diesen am späten Nachmittag in die Nähe des Freibads am Alten Rhein zu einem Röhrenkanal, der durch den Rheindamm und unter dem Alten Rhein hindurch auf einer Strecke von etwa 200 Metern in die Schweiz führte und aufgrund der Höhe des betonierten Gewölbes von etwa zweieinhalb Metern begehbar war (in Lustenau lautet die gängige Bezeichnung für den Kanal „Rohr“). Der Eingang war zwar durch ein Gitter Anhang - 55 Todesfälle 189 <?page no="190"?> versperrt, dieses konnte aber bei genauer Ortskenntnis durch einen Einstieg überwunden werden. Die beiden wurden jedoch vom Hilfszollbetriebsassistenten Willibald Hofer, der in der Nähe auf einem Posten stand, entdeckt und beobachtet. Josef Hagen befand sich bereits im Wasser und als der Grenzwächter an den Röhrenkanal kam, war er darin bereits verschwunden. Willibald Hofer feuerte neun Schüsse in die Kanalöffnung und verwundete Josef Hagen schwer. Dieser schaffte den kurzen Weg in die Schweiz noch, wurde auf der anderen Seite des Kanals geborgen und in das Krankenhaus Altstätten eingeliefert, wo er noch am selben Tag seinen Schussverletzungen erlag. Wenig später wurde Johann König von Beamten der Zollgrenzaufsichtsstelle Wiesenrhein wegen Verdachts auf Beihilfe zur Fahnenflucht festgenommen. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fand die Gendarmerie einen Beileidsbrief des Unteroffiziers Manfred Hämmerle. Darin kondolierte Hämmerle seinem Nachbarn zum Tod seines gefallenen Sohnes Ernst. Der Brief beleuchtet die situative Motivlage von fluchtwilligen Soldaten aus dem Arbeitermilieu in Lustenau: „Ja liebe Nachbarn ich weiß Euer Schmerz ist zu groß als daß man ihn durch Worte aus Euren Herzen wischen könnte. […] Daß Euer Anton in die Schweiz gegangen ist, hat mich überrascht und doch nicht. Denn ich hätte es an seiner Stelle auch so gemacht. Wenigstens bleibt Euch ein Sohn erhalten und für ihn ist der Krieg aus.“ Die weiteren Ermittlungen der Gendarmerie führten schnell zur Aufklärung der Identität des Flüchtlings im „Rohr“. Bei der Durchsuchung des Hauses der Familie Hagen wurde die militärische Ausrüstung von Josef Hagen gefunden. Mutter und Sohn hatten den Vater in den Fluchtplan nicht eingeweiht, dieser hatte vielmehr bei der Gendarmerie das Verschwinden des Sohnes angezeigt. Regina Hagen, Hermann Hofer und Johann König hin‐ gegen wurden vom Landgericht Feldkirch am 10. Oktober 1944 angeklagt, „einem aus dem Militärdienst entwichenen Soldaten hilfreiche Hand geboten und dadurch die Fortsetzung seiner Flucht begünstigt“ zu haben. Der Richter Dr. Hämmerle befand sie nach dem § 220 ÖStG und gemäß § 221 ÖStG in einem verkürzten Verfahren für schuldig und verurteilte Regina Hagen zu vier, Hermann Hofer zu sechs und Johann König zu zehn Monaten Gefängnis. Die Strafbemessung blieb deutlich hinter den Strafanträgen von Staatsanwalt Herbert Möller zurück. Der Oberstaatsanwalt berief gegen die ausgesprochenen Strafen. Das Oberlandesgericht Innsbruck erhöhte sie schließlich am 15. November 1944 im Fall von Regina Hagen auf sechs Monate Gefängnis und im Fall von Johann König auf fünfzehn Monate Zuchthaus. Während Regina Hagen aus gesundheitlichen Gründen nicht haftfähig war, wurde Johann König in das Straflager Rodgau-Dieburg in Hessen überstellt, wo er am 25. April 1945 von den Alliierten befreit wurde. Das Urteil gegen Hermann Hofer wurde wegen eines fehlenden Gutachtens zu seiner Urteilsfähigkeit aufgehoben, zu einer neuen Verhandlung gegen ihn kam es nicht mehr. Josef Hagen hatte mit der Ahnung, die Rückkehr zu seiner Einheit würde zu seinem Tod führen, recht. Seine Einheit, das Artillerie-Regiment 349, wurde mit der 349. Infanterie- Division im Juli 1944 in der Nordukraine vollständig ausgelöscht. Die Flucht in die Schweiz bot bessere Aussichten, am Leben zu bleiben. Fast wäre sie ihm wie Anton König und anderen Vorarlberger Deserteuren gelungen. 190 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="191"?> Quellen: VLA, LGF, 5E Vr347/ 44; VLA, AVLReg IVa-168/ 294; VLA, AVLReg IVa-168/ 258; VLA, VLA-LESt P Hage56. Literatur: Platzgummer, Josef Hagen; JAMG, VuWiV; Jüdisches Museum Hohenems, URL: https: / / www.jm-hohenems.at/ vermittlung/ projekte (abgerufen 22.6.2023). Hartmann, Adolf * 12. Oktober 1900 Düns † 21. November 1944 Črnomelj (Slowenien) □ Nenzing Der Zimmermeister Adolf Hartmann betrieb in Nenzing eine eigene Werkstatt und wurde 1940 von der Reichskammer der bildenden Künste zum baugewerblich tätigen Architekten ernannt. Adolf Hartmann hatte 1930 geheiratet, seine Frau Maria gebar bis 1941 drei Kinder. Die Befähigung zum Architekten strebte er wohl an, um Aufträge für öffentliche Siedlungsbauten zu erhalten. Damit im Zusammenhang stand nach späteren Informationen der Gemeinde Nenzing auch sein Beitrittsgesuch zur NSDAP, von der er als Anwärter geführt wurde. Hartmann blieben aber offenbar lukrative Geschäfte versagt und trotz seines Alters wurde er bereits im Mai 1940 zur Wehrmacht einberufen. Nach dem Überfall auf Jugoslawien und der Angliederung der Südsteiermark und von Krain (Slowenien) gehörte er dem Landesschützen-Bataillon 921 an, das dort zur „Befriedung“, das heißt zur Bekämpfung der Partisanen und Beherrschung der Bevölkerung, eingesetzt war. Schließlich desertierte Adolf Hartmann gemeinsam mit seinem Kameraden Gotthard Anker, Tischlermeister aus Kufstein. Im Opferfürsorgeverfahren von Maria Hartmann zu ihrer eigenen und der Versorgung der drei Kinder bezeugte Gottfried Anker, wie Adolf Hartmann ums Leben gekommen war: „Ich habe mit Adolf Hartmann bei der gleichen Kompanie bei der ehem. deutschen Wehrmacht gedient. Wir sind am 21.10.1944 zwischen Cilli und Marburg [Slowenien, damals Zivilverwaltungs‐ gebiet Untersteiermark] im Tunnel Lindenkogel eigenmächtig von unserer Einheit weg. Letzter Anlaß hiezu war das unmenschliche Verhalten unseres Feldwebels. Dieser hat nämlich eine Frau erschossen und wollte auch noch ihre Kinder erschießen, was nur mit Mühe verhindert werden konnte. Daraufhin sind unser vier von unserer Kompanie geflüchtet. Ca. einen Monat mussten wir ‚marschieren‘ tageweise ohne Nahrung und ohne Ruhe. Adolf Hartmann war noch bei uns als wir als Freiheitskämpfer bereits mit Waffen ausgerüstet wurden. Durch die Strapazen hatte Hartmann schließlich so viel gelitten, daß er zuletzt nicht mehr mitkam und zurück bleiben mußte und an Erschöpfung starb. Damals war das erste Freiheitsbataillon schon errichtet und die Einreihung der Einzelnen im Gange. Durch den Kommandanten Max Bair wurde die Aufstellung des Bataillons durchgeführt. Wegen Kriegsereignisse mußte aber plötzlich weiter marschiert werden. Bei diesem Marsch ist dann Hartmann gestorben.“ Demnach schlossen sich Adolf Hartmann, Gotthard Anker und zwei weitere österreichische Soldaten nach der Flucht aus ihrer Einheit zunächst den slowenischen Partisanen und dann dem 1. Österreichischen Freiheitsbataillon in Slowenien an, das am 24. November 1944 in Tribuče bei Črnomelj auf Initiative von KPÖ-Funktionären im Moskauer Exil im Rahmen der Jugoslawischen Volksarmee offiziell gegründet worden war. Unter den ersten siebzig Angehörigen des Bataillons befanden sich österreichische Kommunisten, die aus der Sowjetunion eingeflogen worden waren, Kriegsgefangene und Deserteure der Wehrmacht, die zu den Partisanen übergelaufen waren. Die im slowenischen Staatsarchiv Anhang - 55 Todesfälle 191 <?page no="192"?> aufbewahrte handgeschriebene Liste der Mitglieder weist Gotthard Anker als Gefreiten der II. Kompanie aus. Was er in wenigen Sätzen über die Zeit nach der Desertion im Norden Sloweniens und dem Erreichen des von den Partisanen im Süden bereits befreiten Gebietes um Črnomelj schreibt, gibt die Beschwerlichkeit des Partisanenlebens unter der deutschen Besatzung wieder: Repressalien gegen die Zivilbevölkerung, weite Märsche, schnelle und rastlose Bewegung, um Umzingelungen durch Einheiten der deutschen Besatzungsmacht zu vermeiden und Verfolger abzuschütteln, unregelmäßige und karge Er‐ nährung, prekäre Versorgung von Erschöpften und Verwundeten. Im Opferfürsorgeakt von Maria Hartmann befindet sich eine ins Deutsche übersetzte Abschrift eines Totenscheins der Pfarre Črnomelj. Sie belegt, dass er während der ärztlichen Versorgung verschied, ein anderes Dokument der Republik Jugoslawien enthält die Information, dass er auf dem Transport in ein Spital starb. Die KPÖ bescheinigte im März 1946, dass er im „1. österr. Freiheitsbataillon in Jugoslawien unter Major Max Bair (heutiger Landesparteisekretär der KPÖ in Tirol) gekämpft hat und für sein über alles geliebtes Vaterland Österreich, fern von seinen Lieben am 15. bzw. 17.11.1944 den Heldentod starb.“ Quellen: VLA, AVLReg IVa-168/ 34; VLA, VLA-LESt P Hart11; SI AS 1932, t.e. 614/ 301-84 (Faszikel zum 1. Österreichischen Freiheitsbataillon); Bludenzer Anzeiger, 20.01.1940, 2. Ibele, Max * 15. Februar 1921 Bregenz † 9. Mai 1945 Bregenz □ Bregenz Max Ibele war ein außerehelicher Sohn der Näherin Paula Ibele und des Polizisten Max Stampfl. Er wuchs bei seiner Mutter in Bregenz in geordneten katholischen Verhältnissen auf, war Kornett bei den Pfadfindern und stand vom 8. Lebensjahr an unter der Obhut von Eugen Leissing, des Landesobmanns des Reichsbundes (einem Verband katholischer Sportvereine) und Sekretärs der Vaterländischen Front. Max Ibele erlernte das Schlosser‐ handwerk und meldete sich auf Anraten seines Vaters 1939 zur Polizei, wurde jedoch nach späteren Angaben seiner Mutter im März 1940 zur Waffen-SS eingezogen. 1943 war er Un‐ terscharführer des SS-Panzer-Grenadier-Regiments „Germania“. Sein Kriegsdienst in dieser Einheit lässt sich kaum rekonstruieren, einzig eine schwere Verwundung Anfang März 1943 an der Hüfte, die ihn für drei Monate in verschiedene Lazarette in der Ukraine und schließlich zu einer Ersatztruppe brachte. Erhalten geblieben ist im Bundesarchiv Berlin seine Gebührnis-Karte. Aus ihr lässt sich ablesen, dass er im November oder Dezember 1944 aus seiner damaligen Einheit bei der Waffen-SS verschwand, denn danach wurde die Auszahlung des Solds eingestellt. Der Geistliche Georg Schelling, der im Herbst und Winter 1945 für eine Artikelserie im „Vorarlberger Volksblatt“ Recherchen über den Widerstand in Vorarlberg durchführte, sprach mit Menschen, die Ibele in seiner letzten Lebensphase als Deserteur zwischen Herbst 1944 und April 1945 begegnet waren. Dabei hörte er zwei Versionen. Der ersten zufolge habe Ibele in Frankreich einen Befehl, auf die „eigenen Leute“, wahrscheinlich (ungehorsame) Angehörige seiner Truppe, zu schießen, verweigert, sei deshalb zum Tode verurteilt worden, habe jedoch über die Schweiz nach Vorarlberg fliehen können. Der zweiten Version zufolge verweigerte Ibele ihm befohlene Zwangsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung und musste deswegen fliehen. Zurück in Vorarlberg fand 192 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="193"?> Ibele den Weg nach Krumbach im Bregenzerwald, wo ihm die Familie des Landwirts Josef Bilgeri Unterschlupf und Verpflegung gewährte. Hintergrund der Aufnahme bildeten wahrscheinlich politische Verbindungen aus der Zeit vor 1938, denn Bilgeri war ein strikter NS-Gegner, der sich nach familiärer Überlieferung selbst das Knie zertrümmert hatte, um keinesfalls zur Wehrmacht einrücken zu müssen. Sein gleichnamiger Sohn Josef desertierte im März 1945. Einen weiteren Zufluchtsort in Krumbach fand Max Ibele beim Gastwirt Adam Steurer, dem ältesten Sohn des ehemaligen christlichsozialen Bürgermeisters Franz Josef Steurer. Im April 1945 organisierte Max Ibele maßgeblich die Widerstandsgruppe von Krumbach, deren Ziel es war, die Brücken rund um das Dorf vor Zerstörung durch Wehrmachts- und SS-Truppen zu bewahren, die in Krumbach Stellung gegen die heranrückenden alliierten Armeen beziehen wollten. Bei einem Kampf mit einer SS-Einheit am 30. April wurde Max Ibele durch einen Kopfschuss so schwer verletzt, dass er einige Tage später im Krankenhaus in Bregenz verstarb. Quellen: VLA, AVLReg IVa-168/ 190; VLA, EC BR-WStB 1921 Bregenz 1921-2 Ibele Max; BArch, B 563-1 Karte II; BArch, R-9361-III-334266; BA MA, RH 7/ 2476 fol. 405. Literatur: Schelling, Festung; weitere Literatur siehe im Beitrag zu Krumbach. Lampert, Stefan * 18. März 1915 Göfis † 15. November 1942 Finnland □ Dornbirn Der Kaminkehrer Stefan Lampert war Unteroffizier im Gebirgsjäger-Regiment 143, das ab 1942 an der Murmansk-Front in Lappland unter arktischen Bedingungen einen Stellungs‐ krieg gegen die Rote Armee führte. Nach Angaben im Lexikon „Widerstand und Verfolgung in Tirol“, basierend auf mündlicher Überlieferung, schoss er sich selbst in die Hand und wurde von einem Kriegsgericht wegen „Selbstverstümmelung“ zum Tode verurteilt und hingerichtet. In den erhaltenen Gerichtsakten der zuständigen 6. Gebirgsdivision und im Wehrmachtsschriftgut zu seiner Person finden sich dazu keine Belege. Im Taufbuch der Pfarre Göfis wurde als Sterbedatum der 15. November 1942 mit dem Todesort Finnland eingetragen. Im Sterbebuch findet sich ein Vermerk zur Todesursache: „Er verließ die Unterkunft mit Gewehr und wurde tot aufgefunden. Es konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob Anfall von Schwermut oder Unfall.“ Dieser Eintrag deutet auf einen Selbstmord durch Erschießen hin. Stefan Lampert war seit 1942 mit Maria Hämmerle verheiratet. Auf dem Kriegerdenkmal in Göfis ist Stefan Lampert als gefallener Soldat angeführt. Quelle: Pfarre Göfis, Taufbuch und Sterbebuch (Mitteilung des Pfarramts Göfis, 4.7.2023). Literatur: JAMG, WuViV. Latzer, Leonhard * 28.11.1912 Nenzing † 23.11.1943 Tisis □ Latz bei Nenzing Der ledige Bauarbeiter Leonhard Latzer befand sich im November 1943 auf einem vierwö‐ chigen Heimaturlaub bei seiner Mutter Elisabeth in Latz 11 bei Nenzing. Etwa eine Woche Anhang - 55 Todesfälle 193 <?page no="194"?> vor Ablauf des Urlaubs entschloss er sich offenbar, nach Liechtenstein bzw. in die Schweiz zu flüchten. Er begab sich in Zivilkleidern, mit Proviant, einer größeren Menge Bargeld und bewaffnet mit zwei Dolchen nach Tisis. Sein Plan war offenbar, nachmittags über die Tisner- Halde die Grenze zu Liechtenstein zu überqueren. Knapp vor der Grenze wurde er vom Hilfszollassistenten Franz Berchtold aus Bad Tölz (Bayern) entdeckt, der sich auf Patrouille in Grenznähe befand, und zum Stehenbleiben aufgefordert. Eine Darstellung der folgenden Ereignisse liegt nur von Franz Berchtold vor. Demnach versperrte er Leonhard Latzer den Weg Richtung Grenze. Als dieser sich umdrehte und ohne Ausweisleistung zurück Richtung Amerlügen lief, gab Berchtold im steilen Gelände einen Warnschuss ab und als Latzer nicht reagierte, lief er ihm nach und schoss dreimal gezielt auf den Flüchtenden. „Nach dem dritten Schuss hörte ich einen Wehschrei und musste annehmen, dass der Mann getroffen war. Er lief aber trotzdem noch weiter, stürzte aber bald darauf zu Boden und kollerte über den Hang einige Meter hinunter. […] Bei meinem Ankommen lag der Mann mit dem Gesichte zur Erde gekehrt in etwas zusammengekrümmter Haltung am Boden und gab keinen Laut mehr von sich.“ Die Leiche wurde aus der steilen Geröllhalde etwa zwanzig Meter nördlich der Grenze geborgen und untersucht, dabei kam das Soldbuch, ausgestellt vom Gebirgsjäger-Ersatz- Regiment 136 in Innsbruck, und der Urlaubsschein von seiner Einheit zum Vorschein. Eine kurze Untersuchung des Vorfalls durch das Kriminalkommissariat Feldkirch ergab, dass Berchtold „den tödlich verlaufenen Waffengebrauch vollkommen und pflichtgemäß unternommen“ hatte, da zweifelsfrei davon auszugehen war, dass Leonhard Latzer den Übergang über die „grüne“ Grenze versucht hatte. Weitere Nachforschungen zu möglichen Helfer*innen und Mitwisser*innen blieben ergebnislos. Quellen: VLA, LGF Js 164/ 43. Lins, Josef * 15. Jänner 1921 Hohenems † 28.09.1941 Kirkenes (Norwegen) □ Röthis Der Hilfsarbeiter Josef Lins war ein adoptierter Sohn des Stickers August Lins und der Hausfrau Elisabeth Lins. Nach seiner Musterung im Juni 1940 wurde er für Oktober zunächst zum Reichsarbeitsdienst abgestellt und erhielt dort eine sehr gute Bewertung. Im Februar 1941 wurde er vorzeitig zum Gebirgsjäger-Ersatz-Regiment 136 in Landeck einbe‐ rufen, das Soldaten für die Gebirgsjäger-Regimenter der 2. Gebirgsdivision in Norwegen ausbildete. Die Ausbildung in Landeck beendete er ebenfalls mit einer guten Bewertung hinsichtlich seiner Führung und seiner Fähigkeiten als Gewehrschütze. Anfang August 1941, zwei Monate nach dem Angriff auf die Sowjetunion, den im hohen Norden am Eismeer die 2. Gebirgsdivision mit schweren Verlusten und ohne wesentliche Gebietserfolge um Bunkerstellungen im Nahkampf führte, wurde Josef Lins als Ersatz zum Gebirgsjäger- Regiment 137 an die Front geschickt. Dem Kriegstagebuch der 2. Gebirgsdivision ist zu entnehmen, dass die Soldaten bei dem ehrgeizigen Vorhaben der Truppenführung, über den Fluss Liza in Richtung der strategisch wichtigen russischen Stadt Murmansk zu gelangen, der Kampfmoral und der harten Gegenwehr der Soldaten der Roten Armee nicht gewachsen 194 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="195"?> 2 Jakob Knab, Generaloberst Eduard Dietl, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Hitlers militärische Elite. 68 Lebensläufe, Darmstadt 2015, 301. waren. Die Strategie des raschen Vorrückens mit Panzern an südlicheren Abschnitten des Überfalls auf die Sowjetunion ließ das zerklüftete Gelände der arktischen Tundra nicht zu. Soldaten des Gebirgsjäger-Regiments 137 waren zu diesem Zeitpunkt an einem vorge‐ rückten Brückenkopf eingesetzt. Die Stellungen wurden von der Roten Armee ständig mit Artilleriefeuer und aus der Luft angegriffen. Die Kampfmoral der deutschen Soldaten war im August bereits dramatisch gesunken. Der Kommandeur der 2. Gebirgsdivision, Generalmajor Ernst Schlemmer, wandte sich deshalb in einem Schreiben an seine Kommandanten: „Zweimal ist der Division trotz heldenmütiger Anstrengungen der Erfolg versagt geblieben. Die meisten Truppenteile der Div. [Division] haben bei diesen Angriffen und darauf folgenden erbitterten Abwehrkämpfen schwere Verluste erlitten. Es wäre denkbar, daß hierdurch manche unserer Leute an Selbstvertrauen und Zuversicht verloren haben. Darüberhinaus laufen bei einzelnen Truppenteilen Gerüchte um, daß dem Geb.Korps [Gebirgskorps] nicht 2 sondern 4 russ. Divisionen gegenüberständen, und daß das mit unseren Kräften nicht zu schaffen sei. Ich erblicke darin eine gewisse Gefahr, die sich auf Geist und Schwung unserer Truppe, insbesondere aber auf den jungen, nicht kampferprobten Ersatz, sehr nachteilig auswirken kann.“ Den jungen Ersatzsoldaten, die an die Stelle der Gefallenen und Verwundeten rücken sollten, fehle „jedoch jegliche Kriegserfahrung und zum Teil die nötige Härte. […] Schwache Naturen müssen erkannt werden. Sie sind rechtzeitig abzusondern und bei rückwärtigen Staffeln einzuteilen, bevor sie im Gefecht Unheil anrichten und dann womöglich wegen Selbstverstümmelung, Fahnenflucht, Feigheit usw. erschossen werden müssen. […] Abschließend wünsche ich für den kommenden Einsatz allen Kommandeuren das Beste und Ihren Einheiten vollen Erfolg. Heil unserem Führer! “ Josef Lins hielt diesen Druck nicht aus. Kaum drei Wochen nach seiner Abstellung an die Front schoss er sich am 25. August 1941 selbst in die Knie. Am 19. September 1941 verurteilte ihn das Gericht der 3. Gebirgsdivision wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ durch „Selbstverstümmelung“ zum Tode, zur Wehrunwürdigkeit und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Zehn Tage später wurde er in Kirkenes durch Erschießen hingerichtet. Der später von Kameradschaftsverbänden als heldenhaft erinnerte Kampf an der „Eismeerfront“ war geprägt von fanatischen und rücksichtslosen, dabei militärisch inkompetenten Kommandeuren, die ihre Soldaten nicht nur zu „rücksichtsloser Härte“ gegen die Soldaten der Roten Armee antrieben, sondern mit ihren Strategien bis zum Winter 1941/ 42 die in Prozenten höchsten Verluste der deutschen Streitkräfte an der gesamten Ostfront verursachten. 2 Quellen: ÖStA, AdR, MilEv WStB-Reihe, Wehrstammbuch Josef Lins; BA MA, RH 28-2/ 17. Anhang - 55 Todesfälle 195 <?page no="196"?> 3 Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland, München 2010, 501. Lorenz, Martin * 6. Mai 1918 Schnifis † 8. Dezember 1944 Graz □ Schnifis Martin Lorenz arbeitete bis Mitte 1939 in der kleinen Landwirtschaft seiner Mutter und seiner Schwester. Der Vater war im Ersten Weltkrieg gefallen. Nach dem Reichsarbeits‐ dienst wurde er im Februar 1940 zum Infanterie-Ersatz-Bataillon 499 in Bludenz einberufen. Wenige Monate später nahm er im Infanterie-Regiment 634 am Angriff auf Frankreich teil. Zur Aufklärungsabteilung 95 (4. Gebirgsdivision) versetzt, war er von Bulgarien aus im April 1941 am Überfall auf Jugoslawien und im Juni 1941 auf die Sowjetunion beteiligt. Im Frühjahr 1942 wurde er als einziger Sohn eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten von der Front abgezogen und einer Sicherungskompanie in der besetzten Ukraine im rückwär‐ tigen Armeegebiet zugeteilt. Zuletzt war er im Jahr 1943 der Gefangenen-Sammelstelle 19 zugeordnet, die seit 1942 das Zivil-Gefangenenlager Gluchow betrieb, in das auch als politische Gegner identifizierte Zivilisten („zweifelhafte Elemente“, „Verdächtige und nicht tragbare Elemente“ 3 ) eingewiesen wurden. Die Gefangenen-Sammelstellen überließen sowjetische Kriegsgefangene bereits vielfach unterversorgt dem Tod oder exekutierten sie. Im September 1943 erhielt Martin Lorenz die Beförderung zum Unteroffizier, was darauf hindeutet, dass er bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur diensteifrig war, sondern auch Führungsfunktionen in der unteren militärischen Hierarchie innehatte. Vom 1. Oktober bis 1. November erhielt er einen Heimaturlaub nach Schnifis und ging ein Liebesverhältnis mit Delphina Burtscher ein. Da er sich deshalb auch auf den abgelegenen Burtscher-Hof in Küngswald begab, kam er in Kontakt mit den bereits desertierten Brüdern Wilhelm und Leonhard Burtscher, die ihn aufforderten, bei ihnen zu bleiben. Ende Oktober entschloss er sich, nicht mehr nach Weißrussland einzurücken. Am 9. Juli 1944 wurde er am Hof der Familie Burtscher festgenommen (siehe dazu Wilhelm Burtscher) und gemeinsam mit Wilhelm Burtscher beim Reichskriegsgericht wegen Fahnenflucht und Kriegsverrat angeklagt und bei der Verhandlung in Salzburg am 20. Dezember 1944 zum Tode verurteilt. Die NS-Justiz vollstreckte das Todesurteil am 8. Dezember 1944 im Landesgericht Graz. Quellen: VLA, LGF KLs 52/ 44, darin: Feldurteil des Reichskriegsgerichts gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 13.10.1944, Geheime Staatspolizei, Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Vernehmungsnie‐ derschrift Martin Lorenz, 11.7.1944; MA Prag, RKG-Vollstreckungslisten, Vollstreckungsliste III, 1944, Nr. 1-281, 1945 Nr. 1-; VLA, AVLReg IVa-168/ 121; VLA, Häftlingsprotokolle des Landgerichts Feldkirch, Vormerkbuch 1944-1945; VLA, BG Bludenz, Gefangenenbuch 1943-1945, Zl. 152. Literatur: Barnay/ Gamon, Delphina Burtscher; Barnay, Wehrmachtsdeserteure; JAMG, VuWiV. Maier, Jakob * 14. August 1911 Au † 7. Juli 1942 Glanegg □ Bludenz Jakob Maier war ein unehelicher Sohn des Tagelöhners und Korbflechters Josef Maier aus Bludenz und der Maria Kuen (* 21.1.1886) aus der Südtiroler Gemeinde Tartsch im 196 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="197"?> 4 Siehe dazu die Beiträge in Michael Haupt/ Edith Hessenberger (Hg.), Fahrend? Um die Ötztaler Alpen. Aspekte jenischer Geschichte in Tirol, Innsbruck 2021. Vinschgau. Zum Zeitpunkt der Geburt wohnten sie bei Jakob Moosbrugger in Au, dürften also zumindest zeitweise zum Verkauf der Körbe mobil gewesen sein. Maria Kuens Vater Alois hatte in Südtirol ebenfalls vom Korbflechten gelebt. Auch Jakob Maier erlernte von seinem Vater Josef dieses Handwerk. Er heiratete 1933 Aloisia Maier (geb. Gabelon) aus Strengen im Westen Tirols (Oberes Gericht). Nach dem Tod des Vaters betrieb Jakob Maier bis 1938 in Bludenz eine eigene Korbflechterei. Danach konnte er sein Gewerbe offenbar nicht mehr weiterführen und arbeitete als Hilfsarbeiter auf Baustellen. Die familiären, gewerblichen und räumlichen Beziehungen zwischen dem Vinschgau, Vorarlberg und dem Oberen Gericht sowie die im Folgenden noch deutlicher werdenden Erfahrungen der sozialen Randständigkeit und Diskriminierung, der politischen Bekämpfung seines Lebensstils, die man auch als erzwungene Inklusion verstehen kann, deuten darauf hin, dass Jakob Maier in heute häufig so bezeichneten jenischen sozialen Zusammenhängen lebte. 4 Ende Jänner 1940 erhielt er die Einberufung zum Gebirgs-Pionier-Ersatz-Bataillon 82 in Salzburg. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er nur im Innendienst der Kaserne eingesetzt werden. Von Beginn an geriet Jakob Maier mit den strikten Regeln militärischer Disziplin in Konflikt. Auch die Ordnungsvorstellungen der Nationalsozialisten, die soziale Randgruppen, insbesondere wenn sie - wie manche Jenische - mobil lebten, schwer unter Druck setzten, widersprachen wohl grundlegend seinem bisherigen Lebensstil. Bei einer späteren Einvernahme durch Beamte des Schweizer Armeekommandos berichtete er, dass er „noch nie für das [NS-]Regime eingestellt“ gewesen sei und „der ganzen Sache keine Sympathien“ entgegengebracht habe. Er fühlte sich von seinen Vorgesetzten in der Kaserne besonders beobachtet und strikt kontrolliert. Ab und zu sei er abends 15 bis dreißig Minuten zu spät eingerückt, sei dafür mit drei bis vier Tagen Arrest bestraft worden und habe sich ständig zu Anwesenheitskontrollen melden müssen. Im Verlauf des Jahres 1940 erhielt er auch längere Disziplinarstrafen, etwa als er im Dezember 1940 nach einem Lazarettaufenthalt in Bregenz zwei Tage nicht einrückte und in Bludenz in Haft genommen wurde. „Als mir die Sache dann zu bunt wurde, fasste ich den Entschluss, zu fliehen“, heißt es in der Niederschrift der Einvernahme weiter. Im Frühsommer 1941 lernte er in Salzburg die 20-jährige Fabrikarbeiterin Hildegard Daniel aus Bayern kennen, die in Salzburg zur Arbeit in einer Munitionsfabrik verpflichtet worden war und in einem Zirkuswagen lebte. Auch sie hatte bereits eine Arreststrafe wegen unerlaubtem Fernbleiben vom Arbeitsplatz hinter sich. Die beiden machten sich am 4. August 1941 zu Fuß auf den Weg nach Bludenz, von wo sie über das Gebirge um die Drei Schwestern den Ort Schaan in Liechtenstein erreichten und von dort - etwa drei Wochen nach dem Aufbruch in Salzburg - die Schweizer Grenze bei Buchs überschritten. Unterwegs hatten sie tagsüber „mit Vorliebe die Wälder“ aufgesucht und „in abgelegeneren Ortschaften auch die Wirtschaften, um uns zu verpflegen“, wie Jakob Maier berichtete. Da Jakob Maier zivil gekleidet war und keinerlei Papiere bei sich hatte, waren sich die Schweizer Behörden unsicher, ob seine Angaben über die Flucht aus der Wehrmacht zu‐ Anhang - 55 Todesfälle 197 <?page no="198"?> trafen. Die vorgebrachten Gründe für die Desertion hielten sie für „nicht sehr einleuchtend“. Das Schweizer Armeekommando schlug der Schweizer Polizei vor, ihn nach Deutschland zurückzuschieben. Die Polizei entschied anders: „Maier behauptet Deserteur zu sein. Obschon hierüber Zweifel besteht, muss er interniert werden, da der Fall nicht wesentlich anders liegt als zahlreiche andere zweifelhafte Fälle, in denen wir die Internierung verfügt haben.“ Auf Versuche, ihn zur freiwilligen Rückkehr nach Deutschland zu bewegen, reagierte Jakob Maier ablehnend: „Ich möchte hier arbeiten, wenn es möglich ist. Lieber hier arbeiten ohne Lohn, als wieder zurück nach Salzburg. Ich bin mir bewusst, was mir bevorsteht, wenn ich wieder in deutsche Hände falle.“ In den Fragebogen für Emigranten trug er am 5. September 1941 als Grund für seine Auswanderung ein: „Weil ich mit dem neuen Regime nicht einverstanden bin & deshalb keinen Militärdienst leisten wollte.“ Während der Internierung in einem Lager für Deser‐ teure, das zur Strafanstalt Witzwil gehörte, verhielt sich Jakob Maier zunächst zur vollen Zufriedenheit der Leitung, er wurde sogar zum Stellvertreter des Lagerchefs ernannt. Ende Dezember 1941 entwich er nach einem Konflikt mit dem Direktor der Strafanstalt, der ihm Schwindel vorwarf, wurde aber bald festgenommen. Als Motiv für die Flucht gab er den Verlust seiner Funktion, Verleumdungen und Schikanen durch andere Lagerinsassen an. Er wollte außerdem einen anderen Arbeitsplatz. Die Bewertungen der Lagerleitung waren ab diesem Zeitpunkt negativ. Nun wurde Druck auf ihn ausgeübt, die Schweiz freiwillig zu verlassen. In einer Stellungnahme heißt es: „Wir erachten es als Glück, wenn der Mann die Schweiz baldmöglichst verlässt. Maier will unser Land natürlich nicht verlassen. Wir werden ihn nun für einige Zeit in der Kaserne belassen.“ Bald darauf gab Jakob Maier dem Druck nach und unterschrieb eine dürre Erklärung: „Ich erkläre, bedingungslos nach Deutschland gehen zu wollen.“ Der Direktor der Haftanstalt Witzwil beantragte bei der Polizei, dem „Wunsch“ stattzugeben. Am 10. Februar 1942 wurde Jakob Maier am Grenzübergang Lörrach-Stetten den deutschen Behörden übergeben. Zum weiteren Verlauf seiner Biografie ist nur mehr festzustellen, dass er schon bald von einem Gericht der Division 188 in Salzburg zum Tode verurteilt und am 7. Juli 1942 am Schießplatz Glanegg erschossen wurde. Seinen Körper ließ das Gericht der Division 188 anonym am Kommunalfriedhof der Stadt Salzburg begraben. An Jakob Maier erinnert ein Stolperstein am Kajetanerplatz 2 in Salzburg. Jakob Maiers Fluchtgefährtin Hildegard Daniel wurde unmittelbar nach dem illegalen Grenzübertritt von der Polizei St. Gallen zurück nach Vorarlberg geschoben. Sie hatte darum gebeten, bleiben zu dürfen. Auch sie wies die Schweizer Polizei auf die Folgen einer zwangsweisen Rückführung hin: „Ich möchte hier in der Schweiz arbeiten, denn ich weiss, wenn ich wieder nach Deutschland komme, würde ich in ein Arbeitslager gesteckt, wo ich umsonst arbeiten müsste und überhaupt nicht mehr herauskäme.“ 198 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="199"?> Tatsächlich deportierte die SS sie nach einem Strafverfahren vor dem Sondergericht Salzburg in das KZ Ravensbrück, wo sie am 24. Februar 1942 als „asozial“ und „Zigeunerin“ kategorisiert wurde. Mehr Informationen konnten zu ihr nicht gefunden werden. Quellen: VLA, Gefangenen-Vermerk BG Bludenz 1940, 160; BAR, E4320B#1991/ 243/ 20 Deserteure Refrak‐ teure 1941, N 2758 Sü.; BAR, E4264#1985/ 196#2248* Daniel Hildegard, Maier Jakob; BSFK Tirol, Todesur‐ teilskartei Liste Christina Müller; Pfarre Au, Matriken, Taufbuch, Eintrag Jakob Maier; Kirchenbücher Mals, Taufbuch, Eintrag Maria Kuen; Auskunft Meldeamt Bludenz, 21.03.2023. Zu Hildegard Daniel: SLA, Namensverzeichnis Vr-Akten 1941, 12 Vr 675/ 41 [Akt nicht vorhanden], SLA, SG Salzburg Js 2988/ 41 [Akt nicht vorhanden], SLA, LG Salzburg, Gefangenenhaus, Häftlingspersonalblatt, 967/ 41; AA, DocID: 129643002; Auskunft Gedenkstätte Ravensbrück, 6.4.2023; Auskunft Michael Haupt, Initiative Minderheiten Tirol, 20.3.2023. Meusburger, Ludwig * 2. Juli 1921 Egg-Großdorf † 1. Juni 1943 Berlin □ Egg-Großdorf Der Bauer Ludwig Meusburger wurde im März 1942 zur Wehrmacht eingezogen und war im September 1943 Gefreiter in der Stabsbatterie (also der Kommandostelle) der Artillerie-Abteilung 3, die zur 3. Luftwaffen-Felddivision gehörte. Die Division wurde nach kurzer Ausbildung zur Heeresgruppe Mitte in der Sowjetunion verlegt, genauer nach Newel in Nordwestrussland, wo ein Großangriff der Roten Armee erwartet wurde. Am 22. September 1943 erhielt die Polizeidirektion Bregenz ein Telegramm des Feldgerichts der Division, wonach Ludwig Meusburger fahnenflüchtig sei und dringend des Mordes an einem Oberleutnant verdächtig war. Das Gericht gab die Heimatanschrift Egg-Großdorf 122 durch und ersuchte um Fahndung und Festnahme des Gesuchten. Der Aufruf wurde vom Landrat des Kreises Bregenz, Walter Didlaukies, an alle Gendarmerieposten im Kreis, an das Bezirkszollkommissariat, die Gestapo (Greko Bregenz) und den Bürgermeister von Egg weitergeleitet. Ludwig Meusburger befand sich zwar auf der Flucht Richtung Deutschland, erreichte Vorarlberg jedoch nicht. Er wurde in Wittenberg südwestlich von Berlin festgenommen und vor das Feldgericht des kommandierenden Generals und Befehlshabers im Luftgau III Berlin gestellt. Dieses verurteilte ihn am 11. November 1943 wegen Fahnenflucht und Mord zum Tode. In den Arolsen Archives finden sich Listen und Mitteilungen der Zuchthäuser in Berlin-Spandau und Brandenburg-Görden, die seine Haft und die Hinrichtung durch Enthauptung am 20. März 1944 dokumentieren. Die Mutter von Ludwig Meusburger (der Vater war bereits verstorben) wurde von der Vollstreckungsabteilung des Gerichts knapp über die Hinrichtung informiert und darauf hingewiesen, dass „Todesanzeigen und Nachrufe in Zeitschriften oder dergleichen“ verboten waren. Quellen: AA, Dok. Nr. 12086247, 12116566, 12117014, 12117020, 12119099; VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1, Verzeichnis über Fahnenflüchtige die im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben; VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1, Nr. 6-10, Korrespondenz zu Ludwig Meusburger; TLA, Suchkarte Meusburger Ludwig. Literatur: JAMG, WuViV. Anhang - 55 Todesfälle 199 <?page no="200"?> Pfister, Heinrich jun. * 28. August 1924 Burgrain (Bayern) † 20.12.1943 Rouen (Frankreich) □ Feldkirch Der Fabrikarbeiter Heinrich Pfister jun. war ein Sohn des Korbflechters Heinrich Pfister (* 07.11.1900) und der Magdalena Pfister (* 4.11.1893). Das vermögenslose Ehepaar hatte noch eine ledige Tochter, die Textilarbeiterin Magdalena Pfister (* 19.4.1921). Die Familie lebte in Feldkirch-Gisingen, Kolonie 13. Eine weitere Tochter war mit Wilhelm Sparr verheiratet. Heinrich Pfister jun. wurde im August 1942 zur Wehrmacht eingezogen, mel‐ dete sich zur Marine und wurde der Marine-Artillerie-Abteilung 266 an der französischen Atlantikküste zwischen den Flüssen Somme und Seine zugeteilt. Auch Heinrich sen. und Wilhelm Sparr mussten einrücken. Nach Angaben von Heinrich sen. befanden sich alle drei im Dezember 1942 zufällig gleichzeitig auf Heimaturlaub und besprachen, dass sie desertieren wollten. Heinrich Pfister jun. setzte sein Vorhaben im Jahr 1943 in Frankreich um. Er verließ sein Kommando in Zivilkleidung und fuhr mit der Eisenbahn bis zur deutschen Grenze, wo er aufgegriffen und zurück zu seiner Einheit geschickt wurde. Er entwich aus der Untersuchungshaft, entwendete in einem Gartenhaus Zivilkleider und begab sich neuerlich auf die Flucht. Nach einer weiteren Festnahme wurde er vor das Feldgericht des Hafen‐ kommandanten Le Havre gestellt und wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Am 24. Dezember 1943 erhielt die Familie Pfister die Benachrichtigung von der Hinrichtung des Sohnes. Die Bestattung erfolgte am Friedhof Mont Gorgan in Rouen. Ignaz Welte, ein Schulfreund von Heinrich Pfister jun., sagte im Verfahren zur Behandlung des Opferfürsorgeantrags der hinterbliebenen Eltern im August 1946 aus: „Heinrich Pfister war mein Schulfreund. […] Heinrich Pfister war immer etwas abenteuerlich veranlagt. Er sprach häufig davon, daß er einmal nach Amerika möchte. […] Als Heinrich Pfister, der vor mir einrückte, erstmals im Urlaub hier war, sagte er mir, daß er es satt habe, den Nazilumpen zu dienen und er möchte abhauen. Soviel mir erinnerlich, hatte er anlässlich des damaligen Urlaubs auch einige Zeit die Absicht in die Schweiz zu flüchten. Es kam nicht dazu. Kurz darauf rückte ich ebenfalls ein und wir waren beide in einer Entfernung von etwa 300 km in Frankreich. Er schrieb mir einmal, ich hätte doch schon Anspruch auf Urlaub, ob ich nicht in Urlaub gehe. Wir könnten uns dann in Metz oder zu Hause treffen. Mir kam die Sache sonderbar vor, da ich wusste, daß Pfister keinen Urlaubsanspruch hat. Einige Zeit später erhielt ich dann von zu Hause die Mitteilung, daß Heinrich Pfister wegen Fahnenflucht hingerichtet worden sei. Heinrich Pfister hat mir gegenüber nie eine besondere politische Einstellung kundgetan. Er brachte nur hie und da zum Ausdruck, daß er es satt habe, bei der deutschen Naziwehrmacht weiter zu dienen.“ Heinrich Pfister sen. berichtete im Opferfürsorgeverfahren, dass auch er 1943 desertiert und noch am 23. April 1945 zum Tode verurteilt worden sei. Am 3. Mai 1945 sei er aus dem Militärgefängnis Linz geflohen. Wilhelm Sparr konnte von den Beamten der Vorarlberger Landesregierung nicht befragt werden, er war vermisst. Die Familie befand sich 1946 in einer wirtschaftlich ziemlich prekären Lage. Heinrich Pfister bezog durch Gelegenheitsarbeiten und als Totengräber von Gisingen nur ein geringes Einkommen. Sein Sohn hatte als Arbeiter bei den Dornier-Werken mit seinem 200 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="201"?> Lohn erheblich zum Familienbudget beigetragen. „Wenn mein Sohn zurückgekehrt wäre, hätten wir die Möglichkeit gehabt, uns gemeinsam eine Existenz im Korbflechtergewerbe aufzurichten,“ brachte Heinrich Pfister beim Amt der Vorarlberger Landesregierung vor. Nun fehlten ihm die Mittel für die Einrichtung einer Werkstätte, um das Gewerbe seines bereits verstorbenen Vaters fortzuführen. Das Ansuchen von Heinrich und Magdalena Pfister auf Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferfürsorgegesetz wurde abgewiesen, weil in den Augen der Behörde kein Nachweis erbracht worden sei, „dass ihr Sohn um ein freies und demokratisches Österreich gekämpft hat“. Die Österreichische demokratische Widerstandsbewegung, Ortsstelle Feldkirch, drang mit ihrer, der Behörde knapp kundgetanen Auffassung, „daß es sich im Falle Pfister Heinrich um eine Justifizierung handelt, der politische Motive zu Grunde liegen“, nicht durch. Quellen: VLA, AVLReg IVa-168/ 16. Reinisch, Franz * 1. Februar 1903 Feldkirch † 21. August 1942 Berlin □ wirkte an vielen Orten, zuletzt in Wegscheid (Bayern) Franz Reinisch war seit 1928 Priester des Pallottinerordens. Er äußerte sich in Predigten und Reden ablehnend über den Nationalsozialismus. Das NS-Regime erteilte ihm 1940 ein Redeverbot im Deutschen Reich. Wenige Monate später, im April 1941, erhielt er die Einberufung zur Sanitäts-Ersatz-Abteilung 13 in Bad Kissingen, der er Folge leistete, aber nur um seine Entscheidung bekannt zu geben, den Eid auf Adolf Hitler nicht abzulegen. Nach seiner Festnahme wurde er am 7. Juli 1942 wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und am 21. August 1942 in Berlin-Brandenburg enthauptet. Der Forschungslite‐ ratur zufolge war Franz Reinisch der einzige Priester Deutschlands, der den Eid auf Adolf Hitler verweigerte und hingerichtet wurde. Literatur: Brantzen, Pater Franz Reinisch; Holzer/ Reiter/ Tschol, Zeugen des Widerstandes; DÖW, WuViT. Renz, Anton * 18. Mai 1924 Bregenz † 1. Mai 1945 Lauterach □ Bregenz Der Techniker Anton Renz rückte im Februar 1943 zur Wehrmacht ein und war zuletzt Unteroffizier im Gebirgs-Pionier-Bataillon 83, das der 3. Gebirgsdivision angehörte. Diese kämpfte 1943 an der Ostfront in Weißrussland und führte bis April 1945 Rückzugsgefechte bis nach Olmütz, wo sie am 8. Mai 1945 kapitulierte. Anton Renz soll im April 1945 allerdings einer Pioniereinheit angehört haben, die in Oberstauffen im Allgäu ihren Standort hatte und damit beauftragt gewesen sein soll, vor den einrückenden alliierten Truppen Sprengungen der Verkehrsinfrastruktur zu überwachen. Aus dieser Einheit soll Anton Renz mit einem anderen Unteroffizier, dem gleichaltrigen Helmut Falch aus Mötz in Tirol, desertiert sein. Falch hatte 1942 in Innsbruck die staatliche Ingenieurschule absolviert, bevor er ebenfalls zum Gebirgs-Pionier-Bataillon 83 einrückte. Die beiden flüchteten demnach bis Bregenz, wo sie sich im Keller des Elternhauses von Anton Renz verbargen. Nach einer anderen Darstellung des Gendarmeriepostens Lauterach vom September 1945 waren die beiden aus Lazaretten in Vorarlberg entwichen. Anhang - 55 Todesfälle 201 <?page no="202"?> Einigkeit herrscht darüber, dass sie von der geplanten Sprengung der Straßen- und Eisen‐ bahnbrücken über die Bregenzer Ach Kenntnis hatten und versuchten, deren Zerstörung zu verhindern. Nach einer Darstellung von Georg Schelling aus dem Jahr 1947 begaben sie sich deshalb in ihren Uniformen zu den Bewachungsposten der Wehrmacht an der Lauteracher Eisenbahnbrücke und wollten diese dazu bewegen, die Brücke vor der Sprengung zu bewahren, so Schelling: „Der Major einer etwa 60 Mann starken SS-Abteilung, die in Lauterach einquartiert war, wurde das Vorhaben der beiden Leutnante gewahr und schickte Streifen aus. Renz und Falch wurden [am 1. Mai] aufgegriffen, zum Stabsquartier im Gasthaus ‚Zum Kreuz‘ gebracht und dort erschossen. Bald darauf wurde diese Hauptbrücke gesprengt. Die Leichen der beiden Patrioten wurden von der SS in eine Jauchengrube geworfen und schließlich hinter dem Haus verscharrt. Am 8. Mai wurden sie sodann auf dem Friedhof in Vorkloster beigesetzt.“ Hermann Renz, der Vater von Anton Renz, beantragte 1952 eine Hinterbliebenenrente nach dem Opferfürsorgegesetz, weil er der Ansicht war, dass sein Sohn als Widerstands‐ kämpfer gehandelt hatte. Er musste den Antrag zurückziehen, weil der Gendarmerieposten Vorkloster 1953 eine - von der älteren Darstellung des Postens abweichende - Version der Ereignisse formulierte, wonach Anton Renz die Brückensprengung nur deshalb verhindern hatte wollen, um sein nahegelegenes Elternhaus und die umliegenden Gebäude vor Schaden zu bewahren. Dieser Darstellung folgten die BH Bregenz und die zuständige Abteilung der Landesregierung, woraufhin Hermann Renz sich genötigt sah, seinen Anspruch aufzugeben. Eine ähnliche Differenz entstand Mitte der 1980er-Jahre, als Angehörige von Anton Renz bei der Republik Österreich den Antrag stellten, ihm posthum das Befreiung‐ sehrenzeichen für Verdienste um ein freies demokratisches Österreich zu verleihen. Das Ansuchen wurde zunächst, basierend auf der Stellungnahme der Gendarmerie Vorkloster von 1953, abgelehnt, doch nach einem Einschreiten der „ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten“ im Jahr 1985 ihm doch zuerkannt. In einem Aktenvermerk zur Entscheidung hieß es: „Durch diese Handlungen [den Versuchen, die Sprengungen zu verhindern] hat sich Anton Renz offensichtlich aktiv gegen die Ziele und Ideen des Nationalsozialismus und der von diesem Regime angeordneten Maßnahmen eingesetzt. Er hat damit einen Beitrag für ein freies demokratisches Österreich erbracht.“ Quellen: VLA, AVLReg IVa-168/ 286. Literatur: Schelling, Festung Vorarlberg, 84; Johann-August-Malin- Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen, 216; Weber, NS-Herrschaft, 126. Reuschmann, Herbert * 21. Jänner 1921 Bregenz † 17. März 1945 Bregenz □ Bregenz Der Obergefreite Herbert Reuschmann besuchte am 15. März 1945 überraschend seine Eltern in deren Wohnung in Bregenz-Vorkloster. Er erklärte seinem Vater Josef, dass er sich auf einer Durchreise von Ulm nach Königgrätz befinde und er sich bei dieser Gelegenheit noch etwas Wäsche mitnehmen wolle. Wie der Vater der Gendarmerie erklärte, verhielt sich der Sohn während des Aufenthalts anders als gewohnt. Er habe wenig gesprochen, nie 202 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="203"?> 5 Nach Auskunft des Stadtarchivs Feldkirch war Klaudia Gutmann, geb. Zangerl (* 17.12.1921) 1947 150 Meter von der angegebenen Adresse in der Parallelstraße Schillerstraße 3 gemeldet. Bei den Angaben Pachers könnte es sich um eine Verwechslung der Straßennamen handeln. viel gegessen. Am 17. März wollte er mit dem Mittagszug von Bregenz die Weiterreise zu seiner Dienststelle antreten. „Mein Sohn ass nur einige Löffel voll Suppe, stand dann vom Tische auf, ging zuerst in die Stube und von dort in eine daneben befindliche Dachkammer, von wo wir einen Schuss krachen hörten.“ Herbert Reuschmann erschoss sich mit seinem Infanteriegewehr. Ein Beamter des Landrats von Bregenz trug Herbert Reuschmann in das „Verzeichnis der Fahnenflüchtigen, die im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben“ ein. Er war die Nummer-65, in der Spalte Bemerkungen schrieb der Beamte: „Selbstmord“. Quellen: VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1, Verzeichnis der Fahnenflüchtigen die im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben; VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1, Gendarmerieposten Vorkloster an Landrat Kreis Bregenz, 17.3.1945; VLA, VLA-LESt P Reusc. Riedmann, Johann * 20. Oktober 1920 Rankweil † 20. April 1945 Mauren (Liechtenstein) □ Rankweil Johann Riedmann war der älteste Sohn des Landwirts und Holzhändlers Johann Riedmann und der Hausfrau Aloisia. Er desertierte nach Angaben von Josef Kirschner aus Bregenz im Jahr 1943. Kirschner war im Jänner 1944 vom Gericht der Division 418 in Innsbruck wegen Beihilfe zur Fahnenflucht verurteilt worden. Demnach versteckte sich Johann Riedmann in Innsbruck und der Umgebung. Er gehörte mit den Wehrmachtsangehörigen Josef Kirschner und Karl Niederwanger, dem Kriminalpolizisten Erich Pacher, alle in Innsbruck, sowie dem Soldaten Josef Düngler in Bregenz zu einer losen Gruppe konservativer Gegner des NS- Regimes, die Wehrmachtssoldaten von Innsbruck aus zur Flucht in die Schweiz verhalfen. Erich Pacher berichtete am 28. August 1945 in einem für das Polizeipräsidium verfassten Lebenslauf über seine Zusammenarbeit mit Johann Riedmann: „Stand mit dem von der Gestapo langgesuchten Hans Riedmann in Verbindung, welcher über 2 Jahre fahnenflüchtig war und Fahnenflüchtige in Tirol mit hunderten von Lebensmittelkarten versorgte, welcher er mit gef. [gefälschten] Wehrmachtsscheinen vom Kontenamt bezog. Die Gestapo erfuhr von meiner Verbindung mit Riedmann und musste ich im Feber 1945 flüchten. Riedmann und ich fuhren nach Feldkirch zu dessen Braut Klaudia Zangerl, Liechtensteinerstraße 3 5 , nahmen dort Unterschlupf und versuchten in die Schweiz zu gelangen. [Unleserlich] holte ich ebenf. aus Ibk [Innsbruck], um ihn über die Grenze zu bringen. Da alle diesbezüglichen Versuche fehlschlugen, schlug ich mich in die Steiermark durch und verblieb dort bis Kriegsende. Hans Riedmann, Rankweil wh. [wohnhaft] stürzte beim Überschreiten der Schweizergrenze tödlich ab.“ Auch Josef Kirschner berichtete in Aussagen gegenüber Behörden mehrfach davon, dass Johann Riedmann auf diese Weise ums Leben kam. Ein Eintrag im Taufbuch der Pfarre Rankweil bestätigt diese Angaben. Dort ist die Geburt von Johann Riedmann, Sohn von Johann Riedmann (* 16.8.1877) und Aloisia Ludescher (* 29.7.1888), verzeichnet. Darunter findet sich der Eintrag „Gest. am 20.4.45 in Mauren“, der Grenzgemeinde in Liechtenstein. Johann Riedmann dürfte den Grenzübertritt nördlich des Sarojasattels geschafft haben, Anhang - 55 Todesfälle 203 <?page no="204"?> dann aber im steilabfallenden Gelände der Maurer Berge auf Liechtensteiner Seite verun‐ glückt sein. Im Landesarchiv Liechtenstein existiert ein Ermittlungsakt zum Fund seiner Leiche in Mauren. Quellen: TLA, LG Innsbruck, 10 Vr 1732/ 47 (Aussage Josef Kirschner); Pfarre Rankweil, Taufbuch 1919-, 34; SLA, Opferfürsorge, Düngler Anton; BPD Innsbruck, Personalakt Pacher Erich; LAL, V005/ 0738, Ermittlungen zum Fund des Leichnams des Johann Riedmann aus Rankweil in Mauren, 19.4.1945; LAL, RF 230/ 240, Bericht des F.I. Sicherheitskorps über die Auffindung der Leiche des Johann (Hans) Riedmann aus Rankweil, 1945; LAL, J 007/ S078/ 108, Riedmann Johann, Rankweil - tot aufgefunden, 1945. Schwärzler, Adolf * 20. Februar 1906 Langenegg † 1. Mai 1945 Langenegg □ Langenegg Adolf Schwärzler wuchs in Langenegg auf. Er lebte in Bregenz, war besitzlos und von Beruf Fuhrmann, als er im Oktober 1940 zum Bau-Ersatz-Bataillon 15 in Ulm einberufen wurde, von dem er zum Wach-Bataillon 58 im besetzten Frankreich kam. Im Mai 1941 wurde er aus dem Militärdienst entlassen, dann wieder am 30. Dezember 1941 zum Landesschützen- Bataillon 17 in Hainburg an der Donau eingezogen, aus dem er wenige Wochen später wegen einer Unabkömmlichkeitsstellung neuerlich entlassen wurde. Kampfhandlungen hatte er den Eintragungen auf der Suchkarte der Wehrersatzinspektion Innsbruck zufolge bei diesen Einsätzen nicht mitmachen müssen. Mehr als zweieinhalb Jahre blieb er dann vom Wehrdienst befreit. In dieser Zeit heiratete er seine ebenfalls aus Langenegg stammende Frau Ida, die 1943 einen Sohn zur Welt brachte. Im August 1944 erhielt er seine dritte Einberufung, nun zum Gebirgs-Pionier-Ersatz-Bataillon 82 in Salzburg, das seine Soldaten zu verschiedenen Feldeinheiten schickte. Diesem Fronteinsatz wollte Adolf Schwärzler nicht nachkommen. Die Bedingungen fürs Untertauchen in seiner Heimatumgebung waren nicht schlecht. Zu diesem Zeitpunkt lebte sein um vier Jahre jüngerer lediger Bruder Julius Schwärzler bereits seit einem Jahr im Untergrund - er war aus der Haft in Landsberg am Lech geflohen, wo er eine Strafe wegen Wehrkraftzersetzung zu verbüßen hatte. Mündlichen Überlieferungen aus Langenegg zufolge blieb der lokale Verfolgungsdruck gering, weil sich im Ort keine Gendarmen befanden, diese für Kontrollen weite Wege aus Nachbargemeinden zurücklegen mussten, auf denen sie auffielen. Das machte es lokalen Mitwissenden unter der stark christlichsozial eingestellten Bevölkerung leicht, Julius Schwärzler zu warnen, wenn er sich in seinem Haus oder in der Nähe aufhielt. Seinem Bruder Adolf und drei weiteren Wehrmachtsflüchtlingen aus Lochau und dem Allgäu gab Julius Schwärzler ein Beispiel, dass ein Deserteur über längere Zeit überleben konnte. Das Gericht der Division 418 in Salzburg erhielt unterdessen vom Gebirgs-Pionier-Ersatz- Bataillon 82 eine Meldung, dass Adolf Schwärzler nicht eingerückt sei und zeigte ihn wegen unerlaubter Entfernung an. Nach drei Monaten erfolgloser Fahndung gab das Divisionsgericht den Akt an das Zentralgericht des Heeres ab. Auf der Suchkarte wurde nun der Vermerk „Fahnenflüchtling“ hinzugefügt, auf der Verwendungskarte der Hinweis „hat sich nach Erhalt des Einb.Befehls [Einberufungsbefehl] durch die Flucht dem Wehrdienst entzogen.“ 204 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="205"?> Im April 1945 beteiligten sich Adolf und Julius Schwärzler in Langenegg an der Bildung einer Widerstandsgruppe, deren Ziel der Schutz der Brücken vor Zerstörung durch Wehrmacht- und SS-Truppen und die Entmachtung der lokalen NSDAP war. Bei einem Angriff von SS-Männern auf die Widerstandskämpfer wurden am 1. Mai in Langenegg Adolf Schwärzler, Josef Nußbaumer, Martin Gmeiner, Robert Bader und Otto Bechter erschossen, ein weiterer Deserteur und Widerstandskämpfer, Innozenz Bader, starb einen Tag später an den Schussverletzungen. Quellen: VLA, AVLReg IVa-168/ 2; VLA, VLA-LESt EC VWK 10 Schwärzler Adolf; ÖStA, AdR, DWM, Strafsachenlisten 1944 Gericht der Divisionen 418 und 188, II/ / 751; TLA, Wehrmeldekartei, Suchkarte; VLA, Chronik des Gendarmeriepostens Lingenau; VLA, AVLReg IVa-168/ 161. Literatur: Schelling, Festung Vorarlberg, 221-222; Schwarz, Heimatbuch Langenegg, 61-65; Weiss, Stimmen aus den Alpen, 199. Volkmann, Ernst * 3. März 1902 Schönbach bei Eger (Böhmen, heute Luby, Tschechien) † 9. August 1941 Brandenburg an der Havel (Berlin) □ Bregenz Der Instrumentenbauer Ernst Volkmann kam 1924 aus der böhmischen Kleinstadt Schön‐ bach nach Bregenz, wo er 1927 die Gewerbeberechtigung erhielt und Maria Handle aus Bregenz heiratete. Mit ihr hatte er drei Kinder. Die österreichische Staatsbürgerschaft hatte er noch nicht erhalten, als die Nationalsozialisten 1938 die Macht übernahmen. Ende 1939 erhielt er die erste Aufforderung zur Stellung, die er nicht befolgte, ebenso eine zweite, was zur Verhaftung führte. Das Motiv der Verweigerung war eine tiefe, in seinem katholischen Glauben begründete Ablehnung des Nationalsozialismus. Trotz Versuchen seiner Ehefrau, von Verwandten und Geistlichen, ihn umzustimmen, blieb er während der Haft im Landgericht Feldkirch bei seiner Haltung. Laut Meinrad Pichler ließ ihn die Staatsanwaltschaft psychiatrieren und schließlich frei, weil Volkmann nicht „abnormal, aber geisteskrank“ sei. Die Gestapo veranlasste den Entzug des Gewerbes, wodurch Volkmann das Einkommen genommen wurde. Seine Kompromisslosigkeit hatte zur Folge, dass sich seine Ehefrau von ihm abwandte. Im Februar 1941 wurde er zum Landesschützen-Ersatz-Bataillon 18 in Lienz einberufen, wo er die Eidesleistung auf Adolf Hitler neuerlich verweigerte. Es folgten Haftzeiten in Graz und Salzburg und schließlich die Anklage vor dem Reichskriegsgericht nach § 5 („Zersetzung der Wehrkraft“) der 1939 eingeführten Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO). Am 7. Juli 1941 wurde er in Berlin zum Tode verurteilt und am 9. August 1941 in Brandenburg an der Havel durch das Fallbeil hingerichtet. Der Geistliche, der Ernst Volkmann in der Zeit vor der Hinrichtung begleitete, berichtete 1946 an Maria Volkmann: „Ich habe seit meiner ersten Begegnung bis heute in ihm einen Heiligen gesehen, einen Mann der tief religiös war und mit glühender Liebe an Österreich hing. Er sagte mir u.a.: Er könne einen Mann wie Hitler nach allem, was er der Kirche und Österreich angetan habe, nicht den Eid der Treue leisten. Für diese seine Überzeugung ist er in den Tod gegangen.“ Meinrad Pichler befasste sich eingehend mit der Biografie von Ernst Volkmann. Im Jahr 2005 schrieb er: Anhang - 55 Todesfälle 205 <?page no="206"?> „Ernst Volkmann hat unter Einsatz seines Lebens das zurückgewiesen, was er als Unrecht erkannte, er ist seinem Gewissen gefolgt, obwohl ihm seine gesamte Umwelt zum Obrigkeitsgehorsam riet. Wir sollten heute in ihm nicht nur ein Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sehen, sondern ein außergewöhnliches Exempel an religiöser Aufrichtigkeit, politischer Prinzipientreue und moralischer Integrität.“ Quellen: VLA, AVLReg IVa-168/ 123; VLA, AVLReg PrsA-225-1981 Befreiungs-Ehrenzeichen; MA Prag, RKG, Vollstreckungsliste II, 1-999, 874, III 173/ 41; AA, DocIDs 12089936, 12110093. Literatur: Pichler, „Nicht für Hitler“; Eder, Ernst Volkmann. 206 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="207"?> B. Herkunft von außerhalb Vorarlbergs (28) Basler, Paul * 17. Juni 1911 Deuben (Preußen) † 17. März 1944 Rodgau (Hessen) □ Wurzen (Sachsen) Der Elektroschweißer Paul Basler wurde am 7. Oktober 1943 vom Sondergericht Feldkirch wegen Passvergehens (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 PassstrafenVO) und Wehrdienstentziehung (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 KSSVO) zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb während des Strafvoll‐ zugs im Strafgefangenenlager Rodgau nach offiziellen Angaben an einer doppelseitigen Lungenentzündung, Herzschwäche und Kreislaufstörung. Paul Basler, der verheiratet war und sechs Kinder hatte, versuchte gemeinsam mit seiner ebenfalls aus Wurzen stammenden und ebenso verheirateten, langjährigen Geliebten Emma Pohl in die Schweiz zu gelangen, um - wie sie aussagten - gemeinsam leben zu können. Paul Basler hatte sich eigenmächtig von seinem Arbeitsplatz entfernt und war mit Emma Pohl von Wurzen über Innsbruck nach Feldkirch gefahren. Dort gingen sie auf der Straße zu Fuß Richtung Tisis, waren in der Nähe der Grenze zu Liechtenstein angesichts der starken Grenzbewachung aber unschlüssig, wo sie den illegalen Übertritt durchführen sollten. Sie entschieden sich, die Nacht in einer Heuhütte abzuwarten und die Grenze bei Dunkelheit zu überschreiten. Dazu kam es nicht mehr; sie wurden etwa 200 Meter vor dem Grenzübergang auf der Staatsstraße von einem Hilfszollassistenten der Zollaufsichtsstelle Tisis angehalten, kontrolliert und festgenommen, sodann der Grenzpolizeistelle (Gestapo) Feldkirch übergeben, die auch die Einvernahmen durchführte. Da Paul Basler wehrpflichtig war, wurde er auch wegen Wehrkraftzersetzung in Form von Wehrdienstentziehung angeklagt und verurteilt. Emma Pohl wurde wegen des Versuchs der illegalen Ausreise (Passvergehen) zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Quellen: VLA, LGF KLs 34/ 43. Baumgartner, Franz * 16. September 1917 Birkfeld (Steiermark) † 19. Mai 1944 München Stadelheim □ Birkfeld Der Eisendreher Franz Baumgartner war vom Jänner 1941 bis zum 24. März 1944 Soldat der Wehrmacht, zuletzt als Gefreiter bei der Gebirgs-Sanitäts-Abteilung 18 in Saalfelden. An diesem Tag desertierte er, um in die Schweiz zu flüchten. Er wurde am 10. April 1944 in Brand beim Versuch, über die Grenze zu gelangen von Gendarmen des Postens Brand festgenommen, dem Standortältesten der Wehrmacht in Bregenz übergeben und vor das Gericht der Division 418 in Salzburg gestellt. Richter Julius Poth verurteilte ihn wegen Fahnenflucht zum Tode. Franz Baumgartner wurde im Zuchthaus München-Stadelheim hingerichtet. Er war ein Sohn der ledigen Hilfsarbeiterin Juliana Baumgartner und mit Erika Rathfelder verheiratet. Seine einzige Hinterlassenschaft, seine Kleider, vermachte er Julie Schniederisch in Birkfeld. Sein Leichnam wurde dem Bestattungsamt München übergeben und soll im Perlacher Forst südlich von München anonym begraben worden sein. In der Stadt Salzburg erinnert seit September 2022 ein Stolperstein an ihn. Anhang - 55 Todesfälle 207 <?page no="208"?> Quellen: VLA, BG Bludenz, Hs 5 Gefangenenbuch 1943-1945; StAM, JVA München, Hinrichtungsakten, 37; NS-Opferverzeichnis Bundesland Salzburg. Literatur: URL: https: / / www.stolpersteine-salzburg.at/ stolpers tein/ baumgartner_franz/ (abgerufen 22.6.2023). Brandl, Karl * 30. September 1923 Wien † 5. September 1944 Au □ unbekannt Am 5. September 1944 brannte in der Gemeinde Au im Hinteren Bregenzerwald das Schulhaus ab. Am Tag zuvor hatten Gendarmen einen jungen Mann namens Karl Brandl als Fahnenflüchtigen festgenommen und im Gemeindearrest, der sich im Dachboden des Schulgebäudes befand, inhaftiert. Er soll einem Pionier-Ersatz-Bataillon angehört haben. Karl Brandl kam in den Flammen um und konnte nur mehr als gänzlich verkohlte Leiche geborgen werden. Er wurde am Ortsfriedhof von Au begraben. Die Brandursache konnte laut Chronik des Gendarmeriepostens Brand nicht festgestellt werden. Der Inhaftierte war demnach gründlich durchsucht worden und nicht im Besitze von feuergefährlichen Gegenständen gewesen. Quellen: VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 1, Stimmungsbericht Dezember 1943; VLA, Chronik des Gendarme‐ riepostens Au, 9.5.1944. Busch, Bernhard * 14. Februar 1923 Stettin (Sudetenland, heute Štítina, Tschechien) † 27. Jänner 1945 Bregenz □ Stettin Der Gefreite der Luftwaffe Bernhard Busch wurde am 16. Jänner 1945 von der Gestapo (Greko) Bregenz wegen Verdachts der Fahnenflucht in das Polizeigefängnis Bregenz eingeliefert. Vermutlich wurde er auf dem Weg zur Schweizer Grenze festgenommen. In seiner Haftzelle befand sich der ebenfalls der Fahnenflucht beschuldigte Soldat Hans Krüll aus Köln. Die beiden gingen am 27. Jänner 1945 daran, aus dem völlig überfüllten und schlecht gesicherten Gefängnis auszubrechen. Beim Versuch, die Aufseher zu überwältigen, wurde Bernhard Busch erschossen. Hans Krüll wurde zwei Tage später von der Wehrmacht nach Augsburg überstellt. Was weiter mit ihm geschehen ist, bleibt offen. Quellen: VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 2 Vorfallensberichte 1945, Schutzpolizei Bregenz an Gestapo (Greko) Bregenz, 27.1.1945; VLA, BG Bregenz, Hs 11 Gefangenenbuch 26.12.1944-1945. Busse, Werner * 17. April 1915 Berlin † wahrscheinlich 24. Mai 1942 Höchst □ Berlin Am 26. Mai 1942, um ein Uhr früh, trafen Polizisten der Schweizer Grenzwacht St. Margarethen bei einem Bretterlager nahe des Rheinkanals auf einen völlig durchnässten und erschöpften Mann. Auf Befragung gab er sich als Hermann Hannemann aus Berlin zu erkennen. Er sei gemeinsam mit dem Unteroffizier Werner Busse, ebenfalls aus Berlin, aus seiner Garnison in Crossen an der Oder in Brandenburg (heute Polen) desertiert und habe beim Bruggerhorn den Rhein und den Binnenkanal durchschwommen, um in die Schweiz zu gelangen. Wo sich sein Fluchtgefährte befand, wusste Hannemann 208 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="209"?> nicht. Er habe ihn bereits im Rhein verloren, sein Kamerad sei vermutlich abgetrieben und wieder auf deutschem Gebiet gelandet oder ertrunken. Als Grund für die illegale Einreise in die Schweiz gab er an, er habe „bis zum Hals hinauf “ genug vom deutschen Kriegsdienst und wünsche dem englischen oder amerikanischen Konsulat zugeführt zu werden, um sich diesen Mächten zur Verfügung zu stellen. Die Grenzwächter nahmen Hermann Hannemann fest und übergaben ihn nach einer ärztlichen Untersuchung dem Polizeikommando St. Gallen, wo er zwei Tage später ausführlich einvernommen wurde. Das Protokoll der Einvernahme bietet eine genaue Rekonstruktion der Flucht des 24-jäh‐ rigen Maschinenschlossers, der 1938 zum 9. Infanterieregiment der Wehrmacht eingezogen worden war. Ausgebildet als Schütze an einem leichten Maschinengewehr machte er ab September 1939 in Infanterieeinheiten die Angriffskriege auf Polen, Frankreich und die Sowjetunion mit. Im Oktober 1941 erlitt er bei Kämpfen gegen die Rote Armee am Illmensee in Nordwestrussland einen Handdurchschuss, kam in ein Lazarett in Vilnius und wurde zur Genesung zu seiner Ersatztruppe in Crossen an der Oder verlegt, wo er bis zur vollständigen Genesung neue Rekruten für den Einsatz an der Ostfront ausbilden sollte. Im März 1942 traf er dort den Unteroffizier Werner Busse, einen alten Bekannten aus Berlin, der den Winter an der Ostfront und damit die erste Gegenoffensive der Roten Armee am Illmensee mitgemacht hatte und ebenfalls verwundet worden war. Er schilderte ihm eindrücklich, wie sich die Lage der deutschen Soldaten verändert hatte: Verwundete würden nicht mehr versorgt und einfach liegen gelassen, weil der Rücktransport nicht mehr klappte. Sie würden den Erfrierungstod sterben. Die anfängliche Überlegenheit der Wehrmachtstruppen habe sich ins Gegenteil verkehrt. Busse berichtete davon, dass die Rote Armee Kriegsgefangene er‐ schlagen würde, dass in seiner Kompanie Soldaten wegen Befehlsverweigerung erschossen würden. Heinemann missfiel, dass, während die einfachen Soldaten kämpften, sich die Offiziere „satt fressen“ und Lebensmittel unterschlagen würden. Busse habe ihm den Vorschlag, zu desertieren und in die Schweiz oder nach Schweden zu flüchten, unterbreitet. Als Busse die Erlaubnis für einen Urlaub in Lindau am Bodensee erhielt, fassten sie den Entschluss, sich in die Schweiz abzusetzen. Hannemann fälschte einen Urlaubsschein und so begaben sich die beiden auf die Zugreise an den 800 km entfernten Bodensee. In den dicht besetzten Zügen überstanden sie mehrere Kontrollen von Wehrmachtsstreifen. In Lindau angekommen, beschafften sie sich Landkarten vom Rheintal und wählten die Stelle am Bruggerhorn bei Lustenau aus, um den Rhein zu durchschwimmen. In der Kaserne in Crossen an der Oder fiel die Flucht der beiden Soldaten bald auf. Da Busses Urlaubsort bekannt war, wurde die Kriminalpolizei Lindau um Fahndung nach dem Deserteur ersucht. Die Unterkunft in Lindau war schnell ausgeforscht. Dort brachte die Polizei in Erfahrung, dass Busse und sein Begleiter zu einem Ausflug an den Arlberg aufgebrochen seien. Nun wurden alle Gendarmerieposten des Landkreises Bregenz mit der Fahndung beauftragt. Am 14. Juli 1942 informierte der Landrat des Kreises Bregenz die Kripo in Lindau darüber, dass die Suche nach Busse und seinem Begleiter ergebnislos verlaufen sei. Was mit Werner Busse geschehen ist, ließ sich nicht vollständig klären. Doch Vorfallens‐ berichte der Gendarmerie des Kreises Bregenz, verwahrt im Vorarlberger Landesarchiv, deuten darauf hin, dass er im Rhein ertrunken ist. Sieben Wochen nach seinem Flucht‐ versuch (und einen Tag nach der Meldung des Landrats an die Kripo in Lindau) fand Anhang - 55 Todesfälle 209 <?page no="210"?> ein Arbeiter aus Rheinau-Fußach an der Mündung des Rheins in den Bodensee eine Wasserleiche, die nicht identifiziert werden konnte. Die wenigen Utensilien, die noch am Körper waren, zeigten, dass es sich um einen Soldaten handelte. Vergleicht man das geschätzte Alter, die Maße und die Haarfarbe mit der Personenbeschreibung im Fahndungsbrief, ergeben sich Übereinstimmungen. Dies trifft freilich auch auf eine weitere Wasserleiche eines nicht identifizierbaren Soldaten zu, die zehn Tage später ebenfalls in der Rheinmündung aufgetaucht ist. Ohne weitere Nachforschungen - oder Vergleiche mit Personenbeschreibungen in Fahndungsbriefen - wurden beide Leichen am Ortsfriedhof von Hard anonym begraben. Quellen: VLA, LR Bregenz, Sch. 33, PV 043/ 1/ 1; BAR, E4320B#1993/ 214_5_C.29/ A116/ 42.578; BAR, E4264#1985/ 196#3163* Hannemann Hermann. Falch, Helmut * 19. Februar 1924 Mieming (Tirol) † 1. Mai 1945 Lauterach □ Mötz Siehe Renz, Anton Fischer, Franz * 17. Dezember 1921 Markersdorf (Sudetenland, heute Markvartice, Tschechien) † 13. Oktober 1942 Brieg (heute Brzeg, Polen) □ Bransdorf (Sudetenland, heute Brantice, Tschechien) Der Hilfsarbeiter Franz Fischer war gemustert, hatte am 28. Dezember 1940 einen Bereitstel‐ lungsschein erhalten und musste Anfang Februar 1941 mit der Einberufung zur Wehrmacht rechnen. Nach einem Studium der Landkarte von Vorarlberg fuhr er von der elterlichen Wohnung in Bransdorf mit dem Zug über Wien und Innsbruck nach Feldkirch. Seine Absicht war, bei Tisis die Grenze zu Liechtenstein zu überqueren und in die Schweiz zu gelangen. Er wurde am 20. Jänner 1941 um 18 Uhr etwa 600 Meter vor dem Zollamt Tisis von einem Beamten des Zollamts Tisis aufgegriffen und festgenommen. Er gab zunächst an, wegen Arbeitslosigkeit in die Schweiz auswandern zu wollen. Ermittlungen des Grenzpolizeipostens Feldkirch (Gestapo) bei der Gendarmerie in Bransdorf ergaben, dass er wegen eines Einbruchs und des Diebstahls eines Motors zur Fahndung ausgeschrieben war. Er wurde im Bericht des Gendarmeriepostens Bransdorf als politisch unzuverlässig beschrieben, sein Vater war bereits mehrfach in Schutzhaft genommen worden. Die Einvernahme eines Bekannten legte nahe, dass er marxistisch-kommunistisch eingestellt war. Er habe geäußert, niemals einrücken zu wollen, habe britische Radiosender gehört und die Inhalte weitererzählt. Er wurde am 4. April 1941 wegen schweren Diebstahls und Wehrdienstentziehung vor dem Sondergericht Feldkirch angeklagt und für schuldig befunden. Nach Ansicht des Gerichts hatte der Diebstahl zur Finanzierung der Flucht gedient. Staatsanwalt Anton Heim beantragte ein Strafausmaß von 15 Jahren Zuchthaus, Richter Heinrich Eccher verurteilte ihn zu 12 Jahren Zuchthaus. Die hohe Strafe wurde mit der „besonders verwerflichen Gesinnung“ des Angeklagten begründet. Da für Wehr‐ dienstentziehung in der KSSVO als Regelstrafe die Todesstrafe vorgesehen war, hob das Reichsgericht am 15. August 1941 das Urteil auf und verlangte eine Neuverhandlung. Franz Fischer, der mittlerweile in das Strafgefangenenlager I Börgermoor im Emsland 210 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="211"?> zur Zwangsarbeit eingewiesen worden war, wurde zu diesem Zweck nach Feldkirch gebracht. Bei der Hauptverhandlung am 27. November 1941 verlangte Oberstaatsanwalt Herbert Möller die Todesstrafe. Eccher argumentierte dagegen, dass es sich um einen „minderschweren Fall“ handle, weil der Angeklagte in ungünstigen Familienverhältnissen erzogen worden sei. „Die geschilderte Art der Erziehung und die staatsbürgerliche Gesinnung in der ehemaligen Tschechoslowakei im Allgemeinen bewirkten eine Hemmungslosigkeit und konnten ein Pflicht‐ bewusstsein gegenüber Staat und Volk, einen sittlichen Ernst nicht erwirken.“ Die Unreife des Angeklagten hätte sich auch in der Art des Versuchs, in die Schweiz zu gelangen, gezeigt. Er hätte die Tragweite seines Handelns nicht voll und ganz erfassen können. Im „nationalsozialistischen Sinne erzogen, zur Arbeit verhalten und sittlich gefes‐ tigt“, werde er „doch noch immerhin fruchtbringende Arbeit […] leisten können“, so Eccher im zweiten Urteil. Unter Einbeziehung eines zweiten Strafverfahrens des Sondergerichts Troppau wegen Abhörens ausländischer Sender erhöhte Eccher nun die Strafe auf 15 Jahre Zuchthaus. Franz Fischer starb am 13. Oktober 1942 im Lazarett des Zuchthauses Brieg. Quellen: VLA, LGF, SLs 6/ 41. Glatzl, Alois * 19. Juni 1904 Mühlbachl (Tirol) † Februar 1941 Bregenz □ Mühlbachl Alois Glatzl war der Sohn des Zimmermanns Franz Glatzl und der Maria Scheiber aus Matrei am Brenner. Er wurde im Herbst 1940 zur Kraftfahrabteilung 18 in Bregenz einberufen. Am 23. Dezember 1941 wurde er an das Infanterie-Regiment 71 abgestellt, das im Rahmen der 29. Infanterie-Division an der Ostfront in der Sowjetunion kämpfte. Während oder vor dem Transport an die Front dürfte Alois Glatzl desertiert sein. Bekannt ist, dass er in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 1941 im Gasthaus Helvetia in Bregenz nächtigte. Mehr als drei Monate später, am 19. März 1941, entdeckte der Schiffsmeister Josef Lutz bei der Fahrt mit seinem Kies-Schleppkahn in den Schiffshafen Bregenz im Wasser die Leiche von Alois Glatzl. Bei der Obduktion durch das Gericht der Division 188 in Innsbruck wurde festgestellt, dass der Tod durch Ertrinken eingetreten war. Da Spuren von Verletzungen und Gewalteinwirkung fehlten, ging man davon aus, dass er Selbstmord verübt hatte. Auf welche Weise Alois Glatzl trotz seiner Überstellung zur Feldeinheit nach Bregenz zurückgekehrt war, konnte nicht eruiert werden. Er hatte als vermisst gegolten. Quellen: VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 2, Gendarmerieposten Bregenz an Landrat des Kreises Bregenz, 24.3.1941. Gress, Philipp * 21. November 1920 Nackenheim am Rhein † 5. März 1941 Freiburg im Breisgau □ Darmstadt (Hessen) Der Rheinschiffer Philipp Gress, Sohn eines Zimmermanns, gehörte nach eigenen Angaben der NSDAP an, war bei der HJ, absolvierte den Reichsarbeitsdienst und meldete sich 1938 freiwillig zur Wehrmacht. Vor seinem Eintritt in die Wehrmacht im November dieses Jahres Anhang - 55 Todesfälle 211 <?page no="212"?> war er unbescholten. Straffällig wurde er erst im Rahmen der Wehrmacht. Er diente als Grenadier in einer Infanterieeinheit der 33. Division, die zur Sicherung der Westgrenze Deutschlands eingesetzt wurde. Im Jahr 1939 überschritt Philipp Gress mehrfach den Zapfenstreich und Urlaube, immer im Zusammenhang mit Beziehungen zu Frauen, und wurde dafür disziplinarisch bestraft. Zuletzt hatte er seine Einheit unerlaubt verlassen, um einer weiteren Disziplinarstrafe zu entgehen. Er verbrachte bis zu seiner Festnahme zwei Wochen zum Teil in Zivilkleidern mit seiner Freundin. Das Feldkriegsgericht der Division 133 verurteilte ihn im Jänner 1940 zu einer drakonischen Strafe von fünf Jahren Zuchthaus, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und der Wehrwürdigkeit. Philipp Gress war daraufhin in den Wehrmachtsgefängnissen Germersheim und Freiburg im Breisgau inhaftiert. Infolge eines Gnadengesuchs seines Vaters wurde das Urteil als zu hart aufgehoben und eine Neuverhandlung angeordnet. Unterdessen war Philipp Gress in die Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf über‐ stellt worden, einer lagerähnlichen Außenstelle des Wehrmachtsgefängnisses Freiburg im Breisgau, die 2.000 Meter hoch auf der Bielerhöhe im Silvrettagebirge lag. Dort musste er als Verwahrungshäftling auf einer Baustelle der Illwerke zur Errichtung einer Staumauer für den Silvretta-Stausee zunächst Schwerarbeit leisten, dann wurde er Ordonnanz der Unteroffiziere des Wachpersonals. Am 29. Juni 1940 flüchtete Philipp Gress gemeinsam mit einem weiteren Wehrmachtshäftling, Herbert Kessner aus Berlin, aus dem Lager. Sie verschafften sich in der Wäscherei Zivilkleider, zogen diese in einem Abort an und gingen unbemerkt aus dem Lager. Sie wandten sich in der Folge nicht in Richtung Schweizer Grenze, marschierten vielmehr talwärts über Partenen nach Gaschurn, wo sie in einem Heustadel übernachteten. Am nächsten Tag erreichten sie Bludenz, übernachteten dort, entwendeten in einem Gasthaus Lebensmittel und Zigaretten und fuhren nach einer weiteren Übernachtung mit dem Zug nach Feldkirch. Während der Fahrt wurde Gress von einer Frau erkannt, die er im Lager einmal bedient hatte. Sie zeigte die Entflohenen bei den im Zug befindlichen Gendarmen an, die sie festnahmen und in das Lager zurückbrachten. Dort wurden sie im Arresthaus in Zellen gesperrt. Knapp zehn Tage später versuchten Gress und Kessner neuerlich zu entweichen, nun nach Absprache mit drei weiteren Insassen, den Wehrmachtshäftlingen Paul Paaries, Andreas Kary und Albert Pawlicki. Letzterer hatte seinen Mithäftlingen erzählt, seit einem Lazarettaufenthalt in Innsbruck über ausgezeichnete Kontakte zu verfügen, die eine weitere Flucht begünstigen würden. Philipp Gress gelang es als einzigem, die Beschläge der Zellentür abzuschrauben. Er befreite auch Kessner aus seiner Zelle. Pawlicki jedoch wollte seine Zelle nicht verlassen, die beiden anderen Häftlinge schafften es nicht, ihre Zellentüren auszuheben. Gress und Kessner montierten das Sitzgestell eines Aborts ab, schlüpften durch das Loch aus der Baracke und unter dem Lagerzaun durch. Sie robbten zur Ill und wateten im Wasser talwärts, kamen im Gebirgsfluss aber bald nicht mehr weiter. Sie versteckten sich im Stall der Madlenerhütte. Dort wurden sie von einem Wachmann des Lagers entdeckt, festgenommen und angezeigt. Der Kriegsgerichtsrat des Gerichts der Division 188 Norbert Kügele klagte sie wegen Fahnenflucht an. Bei der Verhandlung vor dem Feldkriegsgericht der Division 188 am 17. und 18. Juli 1940 im Lager Silvrettadorf stellten Gress und Kessner die Absicht einer dauerhaften Flucht in Abrede. Gress gab an, dass er von einem Unteroffizier erfahren habe, dass 212 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="213"?> ihm die bürgerlichen Ehrenrechte entzogen worden waren. Im Entsetzen darüber sei ihm der Gedanke der Flucht gekommen. Kessner und er hätten das Lager nur verlassen, um für einige Tage Erholung in Heidelberg und Berlin zu finden und sich dann bei einer Frontsammelstelle in Mainz zu melden, um durch „Frontbewährung ihre Soldatenehre“ wiederherzustellen. Der Richter, Kriegsgerichtsrat Dr. Toplak, nahm diese Darstellung als nicht widerlegbar an. Den zweiten Fluchtversuch erklärten sie mit der Furcht vor der Todesstrafe für ihre erste Flucht und den für sie vorstellbaren Ausweg, sich für die Frontbewährung zu melden. Auch dieser Darstellung folgte der Richter, jedenfalls sah er keine Handhabe dafür, ihnen die Absicht einer Fahnenflucht nachzuweisen. Gegen den Antrag des Anklägers, sie wegen Fahnenflucht mit dem Tod zu bestrafen, verurteilte er Philipp Gress und Herbert Kessner wegen unerlaubten Entfernungen in der Dauer von einmal unter drei Tagen und einmal länger als drei Tagen zu zehn Jahren Zuchthaus. Gegen dieses Urteil wandte sich der Kommandant der Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf am 8. August 1940 in einem Schreiben an den Gerichtsherrn, Generalleutnant Hans von Hößlin: „Denn im Hinblick auf die nur behelfsmäßige Anlage des Lagers, die durch die Geländeverhält‐ nisse bedingte überaus schwierige Überwachungsmöglichkeit sowie die unmittelbare Nähe der Schweizer und Liechtensteiner Grenze können die Verwahrungsgefangenen auf die Dauer letzten Endes nur durch die Furcht vor der drohenden Todesstrafe von Fluchtversuchen abgehalten werden.“ Hößlin folgte diesem Einwand, hob das Urteil auf und forderte: „[…] von der durch § 5a KSSVO gegebenen Möglichkeit der Todesstrafe muß in derartigen Fällen Gebrauch gemacht werden.“ Das Gericht, das am 10. Dezember 1940 in Bludenz zusammentrat, urteilte entsprechend. Neben dem Richter Dr. Roschker als Verhandlungsleiter gehörten dem Tribunal der Standortälteste von Bludenz, Major Koch, und ein Gefreiter Gasser vom Wehrmeldeamt Bludenz an. Anders als das erste Gericht erkannten sie auf das Delikt Fahnenflucht und legten der Strafbemessung die „Richtlinien des Führers zur Verhängung der Todesstrafe bei Fahnenflucht“ vom April 1940 zu Grunde: Demnach war die Todesstrafe geboten, wenn als Handlungsmotiv „Furcht vor persönlicher Gefahr“ erkannt wurde, bei „wiederholter und gemeinschaftlicher Fahnenflucht und bei Flucht oder versuchter Flucht ins Ausland“. Das Gericht verurteilte Philipp Gress und Herbert Kessner wegen zweimaliger Fahnenflucht zweimal zum Tode. Am selben Tag revidierte das Gericht der 33. Division die ursprüngliche Strafe gegen Philipp Gress für die erste unerlaubte Entfernung von fünf Jahren Zuchthaus auf zwei Jahre Gefängnis. In Anbetracht des Urteils von Bludenz spielte diese Milderung keine Rolle mehr, sie zeigt aber im Kontext der Prozesse in Silvrettadorf und Bludenz noch einmal die große Bandbreite von Urteilen und Strafen für dieselben Vergehen. Das zweite Urteil wurde von allen Instanzen bestätigt. Das Gnadengesuch der Eltern zur Abwendung der Todesstrafe, das vom Standortpfarrer Freiburg befürwortet wurde, blieb erfolglos, obwohl ein Kriegsgerichtsrat des Gerichts der Division 188 zu bedenken gab, dass es sich bei Philipp Gress und Herbert Kessner „nicht um Verbrechernaturen handelt, sondern mehr Leichtsinn und jugendliche Unbesonnenheit zu den Verfehlungen führten.“ Anhang - 55 Todesfälle 213 <?page no="214"?> Philipp Gress und Herbert Kessner wurden im Wehrmachtsgefängnis Freiburg im Breisgau hingerichtet. Quellen: ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 342/ 1 und 336/ 8 (Gnadenheft). Hauschild, Friedrich * unbekannt † 3. Juni 1941 St. Gallenkirch □ Darmstadt (Hessen) Friedrich Hauschild war Wehrmachtshäftling in einem Lager der Wehrmachtsgefangenen‐ abteilung Silvrettadorf, welches sich in der zur Gemeinde Gaschurn gehörenden Ortschaft Rifa im Montafon befand. Er flüchtete am 3. Juni 1941 um 16 Uhr aus dem Lager oder von einem Arbeitskommando. Um seine Verfolger abzuschütteln, sprang er in die reißende Ill, erreichte das andere Ufer jedoch nicht. Er wurde abgetrieben und ertrank. Die Leiche wurde weggeschwemmt und konnte von der Gendarmerie nicht gefunden werden. Nach einer späteren Darstellung der Österreichischen demokratischen Widerstandsbewegung St. Gallenkirch handelte es sich bei einem Verfolger um Alois Köll aus Partenen, einem Natio‐ nalsozialisten der ersten Stunde. Er habe den Wehrmachtsflüchtling in die Ill getrieben. Erhebungen der Kriminalpolizei gegen Köll blieben im Jahr 1948 ohne Ergebnis. Quelle: MA, Chronik des Gendarmeriepostens St. Gallenkirch, Auszug 3.6.1941; MA, Politisches Gutachten zu Alois Köll, 1.2.1946. Literatur: Kasper, Montafon, 39-40, 160. Heinen, Heinrich * 14. Mai 1920 Köln † 1. September 1942 Hohenems □ Berlin Heinrich Heinen stammte aus einer katholischen Arbeiterfamilie in Köln und wurde 1942 als Kalkulator zu den Henschel-Werken in Berlin, einem großen Rüstungsbetrieb, dienstverpflichtet, da er nach der Musterung als nicht kriegsverwendungs-, sondern arbeitsverwendungsfähig eingeteilt worden war. Seit 1938 hatte Heinrich Heinen eine Liebesbeziehung zu Edith Meyer, die aus einer jüdischen Familie kam, eine Beziehung, die wegen der nationalsozialistischen Rassengesetze verboten war, die sie heimlich aber dennoch aufrechterhielten. Im Dezember 1941 wurde Edith Meyer wie Tausende andere Jüdinnen und Juden in die von der Wehrmacht eroberten Gebiete in Osteuropa deportiert. Heinrich Heinen gelang es, den Aufenthaltsort seiner Geliebten im Ghetto von Riga (Lettland) herauszufinden. Er fuhr dorthin und befreite sie aus dem Ghetto. Gemeinsam traten sie die Flucht über Deutschland in die Schweiz an. Im Juni erreichten sie über Konstanz unerkannt Vorarlberg, zunächst Feldkirch, dann Bludenz, wo sie sich in einem Hotel einquartierten. Als ihnen das Geld ausging, versuchten sie am 22. Juni 1942 bei Nofels, einem Ortsteil von Feldkirch, über die Grenze in die Schweiz zu gelangen, wurden jedoch von Beamten des Zollgrenzschutzes festgenommen. Die Grenzpolizeistelle Feldkirch (Gestapo) nahm die Ermittlungen auf. Zwei Monate später wurde Heinrich Heinen von Oberstaatsanwalt Herbert Möller vor dem Sondergericht Feldkirch wegen Rassenschande, Wehrdienstentziehung und Passvergehen angeklagt. Richter Heinrich Eccher verurteilte ihn zu fünf Jahren Zuchthaus. 214 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="215"?> Am 30. August 1942, drei Tage nach dem Urteil, brach Heinrich Heinen gemeinsam mit fünf weiteren Häftlingen aus der Haftanstalt Feldkirch aus. Es gelang der Gruppe zwar, die Aufseher trickreich zu überwältigen, zu entwaffnen, ihnen die Schlüssel abzunehmen, sie einzusperren und sich Zivilkleider anzueignen. Sie fanden aber Heinrich Heinens Geliebte Edith Meyer, die er mitnehmen wollte, im Gebäude nicht, da sie bereits nach Innsbruck abtransportiert worden war. Schließlich fuhr er mit zwei seiner Fluchtgefährten auf entwendeten Rädern nach Hohenems und weiter nach Lustenau, wo sie den Rhein überqueren wollten. In der Nähe eines Gasthauses wurden sie von Zollgrenzschutzbeamten gestellt, konnten dank ihrer Bewaffnung jedoch fliehen. Mittlerweile war eine Großfahn‐ dung eingeleitet worden. In Oberklien bei Hohenems kam es zu einem Schusswechsel mit Beamten des Zollgrenzschutzes, bei dem Heinrich Heinen und sein Fluchtgefährte Josef Höfel erschossen wurden. Zur Gruppe der Ausbrecher aus der Haftanstalt Feldkirch gehörten außerdem Friedrich Frolik, Paul Schwetling, Othmar Rathgeb und Erwin Kermer. Sie wurden festgenommen. Frolik, der aus Linz stammte, verurteilte Richter Heinrich Eccher bei der Verhandlung des Sondergerichts Feldkirch am 19. Mai 1943 nach der Gewaltverbrecher-Verordnung, wegen Diebstahls und Passvergehens zum Tode; die noch jugendlichen Othmar Rathgeb (ein Schweizer Staatsangehöriger aus Basel) und Erich Kermer aus Wien, die wegen eines Versuchs des verbotenen Grenzübertritts in Haft gewesen waren, erhielten Strafen von eineinhalb Jahren und drei Monaten Gefängnis. Das Ermittlungsverfahren gegen Edith Meyer stellte das Landgericht Feldkirch am 22. Juli 1942 ein, da sie von der Gestapo Innsbruck bereits für die Deportation in ein Konzentrati‐ onslager vorgesehen war. Einen Tag vor dem missglückten Befreiungsversuch wurde sie in das Polizeigefängnis Innsbruck überstellt und von dort in das KZ Auschwitz deportiert, wo sie wenige Wochen später ermordet wurde. Zu Paul Schwetling siehe eigenen Eintrag. Quellen: TLA, LG Innsbruck, STA OLG Innsbruck, Allg. Akten, I 703/ 42 Strafsache Frolik Fried‐ rich u. a.; VLA, LGF KLs 29/ 42; VLA, Chronik des Gendarmeriepostens Hohenems, 1.9.1942; BAR, E4264#2004/ 103#869; zu Edith Meyer: Hohenems Genealogie, Jüdisches Museum Hohenems, URL: https: / / www.hohenemsgenealogie.at/ gen/ getperson.php? personID=I3298&tree=Hohenems (abgerufen 22.6.2023). Literatur: Dür, Unerhörter Mut. Jakobitz, Karl * 26. März 1919 Karlshorst (Berlin) † 16. April 1943 Bregenz □ Berlin Karl Jakobitz war Gefreiter in der Artillerie-Ersatz-Abteilung 75 in Sommerfelde bei Berlin, genauer in der I. Marschbatterie. Das bedeutet, dass er unmittelbar vor einer Abstellung an eine kämpfende Truppe stand. Er desertierte, um in die Schweiz zu flüchten und gelangte jedenfalls unbemerkt und in Zivilkleidern bis an die Grenze bei Hard. Nach einer Meldung des Gendarmeriepostens Hard wurde er am 4. April 1943 um 9.30 Uhr am westlichen Ortsausgang in der Parzelle Gerbe vor der Rheinbrücke vom Hilfszollbetriebsassistenten Treber angehalten und kontrolliert. Karl Jakobitz wies sich mit einem gültigen Reisepass aus, wurde von Treber aber nicht in Richtung Grenze weitergelassen. Treber schickte ihn nach Hard zurück. Er folgte Jakobitz, da er ihm „bedenklich“ vorkam und nahm ihn fest. Anhang - 55 Todesfälle 215 <?page no="216"?> Während der Eskorte zur Zollaufsichtsstelle Fußach gab Jakobitz vor, austreten zu müssen. Er stellte sich an den Wegrand, zog eine Pistole und schoss sich in den Kopf. Angeblich gab der Schwerverletzte auf Frage des Grenzwächters noch zu, „daß er fahnenflüchtig sei, den Reisepass seines Bruders Hermann gestohlen habe und in die Schweiz flüchten wollte“. Karl Jakobitz wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen in das Stadtspital Bregenz eingeliefert. Er verstarb am 16. April 1943 und ruht auf der Kriegsgräberstätte des Friedhofs Reinickendorf II in Berlin-Reinickendorf. Quellen: VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 2 Vorfallensberichte Selbstmord und Selbstmordversuche, Gendar‐ merieposten Hard, 4.4.1943; Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Abfrage Gräbersuche-Online. Kantschieder, Josef * 10. September 1922 Thal (Osttirol) † 30. September 1944 Dachau (Bayern) □ Thal Der Pferdeknecht Josef Kantschieder meldete sich im Alter von 17 Jahren als Freiwilliger zur Waffen-SS und wurde 1940 nach Oranienburg einberufen. Er war in der Folge bis März 1944 an der Ostfront im Einsatz. Genaueres zu seinem Kriegsdienst ist nicht bekannt. Im März 1944 desertierte er in Ungarn aus einer Einheit der Waffen-SS, flüchtete zu Fuß und per Bahn nach Wien und von dort weiter nach Spittal an der Drau. Hier ersuchte er Wilhelm Mayr, einen Freund und ehemaligen Arbeitskollegen, um Zivilkleider und um Kontaktaufnahme mit seinem Onkel Josef Posch, Bürstenbindermeister in Lienz, bei dem sein 17-jähriger Bruder Friedrich lebte und in die Lehre ging. Kantscheider erklärte seine Desertion damit, dass er es bei seiner Einheit nicht mehr ausgehalten habe. Nach Herstellung der Verbindung mit den Verwandten in Lienz wurde Josef Kantschieder von seinem Bruder abgeholt. Er versteckte sich mehrere Tage in Lienz und Umgebung in Heustadeln und bei Marianne Feistl in Burgfried bei Lienz, die er aus einem Trachtenverein seit vielen Jahren kannte. Bei ihr erhielt er auch Besuch von Josef Posch und dessen Ehefrau Rosa. Josef Posch war seit seiner Jugend Nationalsozialist, hatte sich 1923 am Putschversuch in München beteiligt und war Mitglieder der illegalen NSDAP zwischen 1933 und 1938, 1940 aber nach Konflikten mit der Kreisleitung in Lienz aus der Partei ausgetreten. Dennoch halfen sie ihrem Neffen, als sie von seinem Plan einer Flucht in die Schweiz erfuhren. Sie statteten ihn mit Geld, einer Landkarte, einer Pistole und anderen Gegenständen aus. Weitere Tage hielt sich Kantschieder bei seiner Stiefmutter Josefa in Möllbrücke und wieder bei Wilhelm Mayr in Spittal auf, der ihm zuvor bereits eine größere Zahl von Lebensmittelkarten überlassen hatte. Schließlich begleitete ihn sein Bruder Friedrich per Bahn nach Dornbirn. Dort wurden die beiden am 27. Mai 1944 von der Schutzpolizei Dornbirn festgenommen, nachdem sie eine Frau angezeigt hatte. Das SS- und Polizeigericht XXXI Verona verurteilte Josef Kantschieder wegen Fahnen‐ flucht zum Tode, offenbar in seiner Abwesenheit. Denn dieser war Anfang September 1944 noch Häftling im Polizeigefängnis Bregenz. Einer Korrespondenz zwischen dem Grenzpolizeikommissariat Bregenz (Gestapo) und dem Landrat des Kreises Bregenz über Gefangenentransporte ist zu entnehmen, dass er am 11. September nicht zur Verfügung des SS- und Polizeigerichts nach Innsbruck überstellt werden sollte, sondern gleich zur Vollstreckung des Todesurteils in das KZ Dachau. Am 14. September 1944 wurde Josef Kantschieder im Polizeigefängnis Bregenz abgeholt, am 30. September 1944 hingerichtet. 216 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="217"?> Seine Helferinnen und Helfer verurteilt das Landgericht Klagenfurt wegen Beihilfe zur und Begünstigung der Fahnenflucht zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Unklar bleibt, was mit seinem Bruder Friedrich geschah, nachdem er am 27. Mai 1944 in die Haftanstalt des Landgerichts Feldkirch überstellt worden war. Quellen: VLA, LR Bregenz, PV 117/ 1/ 1 Gefangenentransporte H-M, Greko (Gestapo) Bregenz an Landrat Bregenz, 7.9.1944; VLA, BG Bregenz, Hs 11 Gefangenenbuch 1941-1944, 2837, 2838; TLA, ATLR Va+Vf 826 (darin enthalten Urteil des LG Klagenfurt, 8 Vr E 663/ 44-8 gegen die Helferinnen und Helfer). Kary, Andreas * 30. November 1916 Spittal an der Drau (Kärnten) † 15. September 1942 Herbrum (Hannover) □ Spittal an der Drau Der Bauhilfsarbeiter Andreas Kary war ein außerehelicher Sohn von Josefa Kary und zivilgerichtlich wegen eines Fahrradunfalls, nach dem Vagabundengesetz, wegen Bettelns und eines Diebstahls vorbestraft, als er am 1. Dezember 1938 zum Gebirgs-Pionier-Bataillon 82 in Schwaz einberufen wurde. Von Beginn an war er in Konflikt mit der militärischen Disziplin und widersetzte sich Vorschriften und Ermahnung, gab Vorgesetzten „freche Antwort“, übertrat den Zapfenstreich, verschlief den Dienstantritt, hielt sich nicht an Sprechverbote und Vorschriften im Arrest, rauchte trotz Verbot im Lazarett, trat „unmili‐ tärisch“ auf, verließ unerlaubt Arbeitsplätze, störte den Unterricht, führte Befehle nur widerwillig aus und vernachlässigte seine Ausrüstung. Kary erhielt dafür bis Juli 1939 insgesamt elf Disziplinarstrafen, die er im Truppenarrest verbüßte. Er nahm mit seinem Bataillon im Rahmen der 2. Gebirgsdivision im September 1939 am Angriff auf Polen teil. Danach wurde er im Jänner 1940 zum Ersatztruppenteil zurück nach Tirol versetzt; dort fiel er durch weitere ähnliche Regelverstöße auf, weshalb er in eine Sonderabteilung musste. Wegen welcher Verurteilung er im Mai 1940 zur Verwahrung in die Wehrmachtsgefange‐ nenabteilung Silvrettadorf im Montafon verbracht wurde, geht aus den vorliegenden Akten nicht hervor. Dort setzte er sein regelwidriges und widersetzliches Verhalten fort. Als er am 29. Juni 1940 vor versammelter Mannschaft eines Arbeitskommandos dem Arbeitsbefehl des Unteroffiziers mehrfach nicht folgte, wurde er beim Gericht der Division 188 wegen Befehlsverweigerung und Wehrkraftzersetzung (§ 5a KSSVO) angezeigt und in Arrest genommen. Die Anzeige zielte auf eine langjährige Zuchthausstrafe oder die Todesstrafe, denn nach dem am 1.-November 1939 zur Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens eingeführten § 5a waren diese vorgeschrieben, „wenn es die Aufrechterhaltung der Mannszucht oder die Sicherheit der Truppe erfordert.“ Der Führer der Wehrmachtsstrafge‐ fangenenabteilung hatte kurz zuvor folgende vernichtende Beurteilung über Andreas Kary abgegeben: „[…] Seine Haltung ist schlapp. Fleiß, Arbeitsleistung und Ordnung waren ungenügend. K. ist ein minderwertiger Mensch, der sich in der Sonderabteilung mit den dort zu Gebote stehenden Mitteln nicht erziehen ließ. Er ist verschlagen und muß als Repräsentant der Disziplinwidrigkeiten und der Brutalität [Anm. Gewalt hatte Kary bei seinen Verstößen gegen die militärische Disziplin nie angewandt.] angesehen werden. Die zivilen Vorstrafen, die disziplinarischen Strafen während der Dienstzeit, der Aufenthalt in der Sonderabteilung und in der Verwahrung haben ihn nicht beeindruckt. K. ist daher als dauernd unerziehbar anzusehen.“ Anhang - 55 Todesfälle 217 <?page no="218"?> Am 12. Juli 1940 versuchte Andreas Kary, wie Philipp Gress, Herbert Kessner, Paul Paries und Albert Pawlicki, aus seiner Arrestzelle auszubrechen. Er scheiterte aber daran, die Zellentür auszuheben. Es blieb bei einer Beschädigung der Beschläge. Zur schon bestehenden Anklage kam nun ein Tatbericht wegen versuchter Fahnenflucht an das Divisionsgericht hinzu. Zunächst wurde er aber am 7. Juli 1940 vom Gericht der Division 188 wegen Befehlsverweigerung zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Eine Woche später fand die Verhandlung des Gerichts der Division 188 in Silvrettadorf gegen die fünf gescheiterten Ausbrecher statt. Anders als die anderen ließ Kary in der Verhandlung anklingen, dass unter den Angeklagten durch die Bretterwände der Zellen auch über eine Flucht in die Schweiz gesprochen worden sei, was diese allerdings vehement bestritten. Über seine eigenen Absichten nach einer Flucht aus dem Lager hatte Kary nur zu sagen, dass er seiner bevorstehenden Strafe wegen der Befehlsverweigerungen entgehen wollte. Bezüglich einer Flucht in die Schweiz schien er über die geografischen Verhältnisse nicht im Bilde gewesen zu sein. Er sprach davon, dass ein Fluchtweg über Innsbruck verlaufe. Die Arbeitsverweigerungen begründete er mit der starken Kälte, seiner schlechten Ausrüstung (keine Handschuhe) und Schikanen der Vorarbeiter. Obwohl der Ankläger für versuchte Fahnenflucht und zwei Fälle von Gehorsamsverweigerung eine lebenslange plus zehnjährige Zuchthausstrafe forderte, hielt der Richter Karys Aussagen für hinreichend, ihn nicht der versuchten Fahnenflucht, sondern nur der unerlaubten Entfernung und der Gehorsamsverweigerung schuldig zu sprechen und zu einer Gesamtstrafe von sieben Jahren Zuchthaus zu verurteilen. Bei der Neuverhandlung [siehe dazu Gress, Philipp] am 10. Dezember 1940 erkannte Kriegsgerichtsrat Dr. Roschker ohne Änderung der Beweislage auf versuchte Fahnenflucht und erhöhte die Strafe auf insgesamt zehn Jahre Zuchthaus, obwohl der Ankläger ein Jahr weniger verlangt hatte. Andreas Kary war zunächst im Wehrmachtsgefängnis Freiburg im Breisgau inhaftiert, am 15. April 1941 wurde er in das Strafgefangenenlager Aschendorfermoor II im Emsland zur Zwangsarbeit überstellt. Dort starb er am 15. September 1942. Als offizielle Todesursache ist auf einer Mitteilung an das Gericht der Division 188 „Herz- und Kreislaufschwäche“ zu lesen. Quellen: ÖStA, AdR, DWM, GerA 342/ 1; ÖStA, AdR, DWM, GerA, 341/ 10; AA, DocIDs 76774103, 129586610. Kessner, Herbert * 14. August 1916 Berlin † 5. März 1941 Freiburg im Breisgau □ Berlin Der Schneidergehilfe1935 Herbert Kessner stammte aus einer evangelischen Familie, der Vater Gustav war Werkmeister, die Mutter Anna Hausfrau. Herbert Kessner war Mitglied der NSDAP und angeblich Mitglied des SA-Sturm 13/ 1. Er wurde 1935 zur Wehrmacht eingezogen und wieder entlassen, nach einer freiwilligen Meldung im September 1939 zur 60. motorisierten Bäckereikompanie neuerlich eingezogen. Er hatte bei der Landes‐ polizei Berlin, beim Infanterie-Regiment 50 und beim Infanterie-Regiment 244 Dienst versehen, ohne Fronteinsatz. Im Zivilleben blieb Herbert Kessner unbescholten. Innerhalb der Wehrmacht hatte er vier disziplinäre Arreststrafen verbüßt, wegen Überschreitung des Zapfenstreichs und wegen Bedrohung eines Gefreiten. Zur Verwahrung in die Wehr‐ machtsgefangenenabteilung Silvrettadorf kam Herbert Kessner am 25. Mai 1940, nachdem ihn das Gericht der 60. Infanterie-Division wegen unerlaubter Entfernung und eines 218 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="219"?> Diebstahls zu drei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt hatte. Im Lager zeigte Kessner gute Führung, verhielt sich fleißig und ruhig und wurde nach einigen Wochen vom Arbeitseinsatz als Lagerschneider in die Schneiderei außerhalb des Lagers abkommandiert. Am 29. Juni 1940 flüchtete Kessner gemeinsam mit Philipp Gress aus dem Lager und wurde drei Tage später in Feldkirch festgenommen. Ein zweiter Fluchtversuch mit Gress aus dem Arrestgebäude des Lagers scheiterte am 12. Juli 1940 nach einer Stunde in der Nähe des Lagers [siehe Gress, Philipp]. In den beiden Verhandlungen des Gerichts der Division 188 beschrieb Kessner seine Motivlage ganz ähnlich wie Gress. Absicht sei nicht die dauerhafte Entziehung gewesen, sondern nach einigen Tagen der Erholung die Meldung bei einer Frontleitstelle zur Frontbewährung. Bei der ersten Verhandlung am 17. Juli 1940 in Silvrettadorf hielt der Richter diese Darstellung für nicht widerlegbar und verurteilte Kessner und Gress wegen versuchter unerlaubter Entfernung zu zehn Jahren Zuchthaus. In der Neuverhandlung nach Aufhebung dieses Urteils am 10. Dezember 1940 verurteilte Kriegsgerichtsrat Roschker die beiden wegen zweimaliger Fahnenflucht zweimal zum Tode. Das Urteil wurde von den höheren Instanzen bestätigt. Die Eltern reichten Gnadengesuche ein. Der Vater brachte in einem Brief an Adolf Hitler vor, dass Herbert sein einziger Sohn sei, dass er selbst im Ersten Weltkrieg gedient und sich mit Kriegsbeginn freiwillig als Lagerführer zur Organisation Todt an die Westfront gemeldet habe. Das Gnadengesuch wurde vom evangelischen Standortpfarrer in Freiburg unterstützt. Ein Kriegsgerichtsrat des Gerichts der Division 188 gab zu bedenken, dass es sich bei Philipp Gress und Herbert Kessner „nicht um Verbrechernaturen handelt, sondern mehr Leichtsinn und jugendliche Unbesonnenheit zu den Verfehlungen führten.“ Der Kommandeur der Division 188, Generalleutnant Hößlin, der ursprünglich das Todesurteil gefordert hatte, befürwortete die Begnadigung mit Hinweis auf die Jugendlichkeit und den Status als einziger Sohn. Der Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, Friedrich Fromm, lehnte die Gnadengesuche am 26. Februar 1941 ab. Zehn Tage später, am 5. März 1941, führte ein Erschießungskommando aus zehn Mann am Schießplatz Freiburg um 8.30 Uhr früh die Vollstreckung des Todesurteils aus. Siehe auch Gress, Philipp. Quellen: ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 342/ 1; VLA, Gefangenenvermerk BG Bludenz 1939, 57. Lendl, Franz * 1913 unklar † 27. Mai 1940 Hohenems □ Tulln Franz Lendl, Angehöriger einer Luftwaffeneinheit, war fahnenflüchtig, als er vom Zollwa‐ cheassistenten Johann Riedhammer in der abgelegenen Parzelle Auen, Hohenems-Reute, in einem Heuschuppen entdeckt wurde. Einzige Quelle zu den folgenden Ereignissen ist die Chronik des Gendarmeriepostens Hohenems. Darin heißt es in einem Eintrag, datiert mit 27. Mai 1940: „Lendl setzte sich bei der Anhaltung mit einer geladenen Pistole zur Gegenwehr. Riedhammer feuerte in Ausübung gerechter Notwehr mehrere Schüsse aus seiner Pistole auf Lendl ab und verletzte Lendl schwer. Lendl ist dann etwa 1 Stunde später auf dem Transporte gestorben.“ Quelle: VLA, Chronik Gendarmerieposten Hohenems, 27.5.1940. Anhang - 55 Todesfälle 219 <?page no="220"?> Massheimer, Heinz * 29. Mai 1917 Marienburg (Westpreußen) † 5. April 1944 Bregenz □ Hamburg Massheimer, Helmut * 14. Juni 1919 Wilhelmshaven (Oldenburg) † 5. April 1944 Bregenz □ Hamburg Die Brüder Heinz und Helmut Massheimer desertierten im März 1944 von ihren Truppen‐ teilen aus der Wehrmacht. Heinz war Oberleutnant der Marine auf dem Zerstörer Z 35, der am 24. März zu Übungen in die Ostsee auslaufen sollte und für die Verminung des finnischen Meerbusens vorgesehen war. Heinz verließ den Zerstörer unerlaubt Anfang März in Danzig. Sein Bruder Helmut war Obergefreiter, ursprünglich eingerückt zur Nachrichten-Ersatz- Kompanie 17 in Wien. Er hatte sich zuletzt in einem Lazarett in Lemberg befunden. Um aus ihren Einheiten zu verschwinden und unbemerkt nach Vorarlberg zu gelangen, schufen sie sich falsche Identitäten. Dazu verwendeten sie Soldbücher und Formulare für Urlaubsscheine und Wehrmachtsfahrscheine, die sie mit Setzkästen für Druckschriften auf Oberleutnant Ing. Heinz Müncheberg (in einem anderen Dokument Heinz Mumboley) und Oberleutnant Ing. Hartmut Marben ausstellten. Mit diesen Identitäten mieteten sie sich in Zivilkleidern am 1. April 1944 in der Pension Fischer in Bregenz ein. Vier Tage später, am 5. April 1944 um 15 Uhr, erhielt das Grenzpolizeikommissariat Bregenz (Greko) der Geheimen Staatspolizei die vertrauliche Mitteilung, dass in der Pension Fischer angeblich seit drei Wochen auf Zimmer Nr. 7 zwei Männer wohnten, die „tagsüber in ihrem Zimmer Lichtbilder oder Zeichnungen entwickeln oder andere fotografische Arbeiten verrichteten“. Drei Beamte des Grenzpolizeikommissariats begaben sich sofort in die Pension Fischer, um die Männer zu überprüfen. Die Brüder Massheimer wiesen sich mit ihren gefälschten Dokumenten aus; diese stießen bei den Gestapobeamten aber offenbar auf Skepsis. Über die folgenden Ereignisse liegt ausschließlich ein Bericht des Greko Bregenz vor: „Scheinbar als sie merkten, daß ihre Papiere als Fälschung erkannt wurden, griffen sie die Beamten an. Der eine der beiden befand sich plötzlich im Besitz einer Pistole […] und schoß den Kriminaloberassistenten Lautner nieder. Unmittelbar darauf richtete er die Waffe gegen den Kriminalassistenten Münkel, der ebenfalls getroffen zusammenbrach. Der dritte Beamte (Kriminalsekretär Forstner) schoß hierauf den Angreifer und auch dessen Begleiter, der schon eine Maschinenpistole auf Forstner gerichtet hatte, durch Kopfschüsse nieder. Der eine der beiden war sofort tot, der andere wurde in schwer verletztem Zustand in das Sanatorium Mehrerau verbracht, wo er gegen 18.00 Uhr gestorben ist.“ Bei der Durchsuchung des Zimmers und der Koffer wurden eine Maschinenpistole, vier Pistolen, Handgranaten und Rauchkörper, außerdem zwei Setzkästen für Druckschrift und Urlaubsschein- und Wehrmachtsfahrscheinformulare gefunden. Anhand von Dokumenten, die als echt bewertet wurden, wurde die tatsächliche Identität der beiden Männer festge‐ stellt und durch Erhebungen der Gestapoleitstelle Hamburg und der Kripoleitstelle Bremen bestätigt. Lichtbilder der beiden getöteten Deserteure konnten nicht beschafft werden, da die Wohnung der Eltern in Hamburg bei alliierten Bombardements völlig zerstört worden 220 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="221"?> war. In staatspolizeilicher Hinsicht lag nichts gegen die Familie Massheimer vor. Die Eltern gaben an, von ihren Söhnen schon länger nichts mehr gehört zu haben. Sie wussten aber, dass Heinz von seiner Einheit in der Hafenstadt Gotenhaven (heute Gdynia, Polen) wegen Fahnenflucht gesucht wurde. Es gab keine Hinweise auf einen nachrichtendienstlichen Hintergrund des Aufenthalts der Brüder Massheimer in Bregenz. Ihre Leichen wurden - zu welchem Zeitpunkt ist unbekannt - im Familiengrab in Hamburg beerdigt. Quellen: VLA, LGF Js 45/ 44; VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 2, Bregenz, 6.4.1944; Hamburg, Sterberegister, 1874-1950, Hamburg-Eppendorf, 1950, Bd.-2. Mattersberger, Franz * 13. September 1913 Innichen (Südtirol) † 1. Juni 1943 Berlin □ Lienz (Osttirol) Der landwirtschaftliche Hilfsarbeiter Franz Mattersberger wurde als unehelicher Sohn der Anna Mattersberger geboren und wuchs in einer armen Familie in Matrei in Osttirol auf. In den frühen 1930er-Jahren war er zweimal straffällig geworden. 1933 hatte er in Obervellach auf einem Heimatschein die Bezeichnung „Berufsarbeiter“ in „Landarbeiter“ verfälscht und gebettelt, um seine Eltern zu unterstützen, wofür er mit einem Arrest von drei Tagen bestraft worden war. 1934 hatte ihn das Bezirksgericht Matrei wegen Raufhandels zu 24 Stunden Arrest verurteilt. Er war verheiratet, hatte zwei Kinder und lebte in Lienz. Im Oktober 1940 erhielt er die Einberufung zum Infanterieersatzbataillon 499 in Bludenz. Nach einem Lazarettaufenthalt wegen eines Magengeschwürs rückte er im August 1941 nicht wie vorgeschrieben zu seiner Einheit ein. Er fuhr nach Hause, beschaffte sich einen Einweisungsschein für die Heeresentlassungsstelle und meldete sich damit, um aus dem Heeresdienst entlassen zu werden. Ohne entlassen worden zu sein, zog er sich am 16. August 1941 Zivilkleider an und fuhr neuerlich nach Hause, wo er drei Wochen später nach dem Vorwurf einer unsittlichen Handlung von der Schutzpolizei festgenommen wurde. Das Gericht der Division 188 verurteilte ihn am 23. Oktober 1941 wegen unerlaubter Entfernung unter Freispruch vom Vorwurf eines Sitte-Delikts zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten. Im Wehrmachtsgefängnis Freiburg wurde er laut Anklageschrift während der Überstellung in ein Lazarett straffällig, als er sich vor Kindern entblößte. Dafür verurteilte ihn das Gericht der Befestigungen Oberrhein wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in Tateinheit mit versuchter Unzucht mit Kindern zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Diese Strafe verbüßte er zunächst im Wehrmachtsgefängnis Freiburg, von wo er am 1. Oktober 1942 in die Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf zur Zwangsarbeit eingewiesen wurde. Dort kam er in das „Arbeitskommando Rhomberg“ im Dorf Partenen, wo ein Lager der Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf bestand. Am 25. Oktober 1942 meldete er sich zum Austreten und nutzte die Gelegenheit zur Flucht. In Gaschurn stieg er in ein Haus ein, zog sich dort aufgefundene Zivilkleider an, nahm Wäsche, Schuhe, Lebensmittel und andere Gegenstände an sich, verkaufte einiges davon und fuhr mit diesem Geld nach Innsbruck, von wo aus er zu Fuß Lienz erreichte. Bereits am Tag nach seiner Ankunft wurde er verhaftet, brach aber aus der Arrestzelle aus. Nach einer neuerlichen Festnahme floh er auf dem Transport nach Freiburg aus dem Abort des Arrests in Spittal an der Drau. Als er Bauern in einem Dorf bei Spittal ersuchte, ihm dabei zu helfen, sich aus Anhang - 55 Todesfälle 221 <?page no="222"?> den Handfesseln zu befreien, verständigten diese die Polizei, die ihn bald darauf in einem Nachbardorf festnahm. Das Gericht der Wehrmachtskommandantur Oberrhein in Freiburg verurteilte ihn zunächst im Jänner 1943 wegen Fahnenflucht und schweren Diebstahls zu elf Jahren Zuchthaus und ordnete seine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt an. Bei der Verhandlung gab Mattersberger zu, sich dauernd von der Truppe entfernt haben zu wollen. Das Gericht legte dem Urteil ein psychiatrisches Gutachten zugrunde, wonach er infolge „Schwachsinns mittleren Grades“ in seiner Zurechnungsfähigkeit erheblich beschränkt sei. Der Kommandant der Schutzpolizei Lienz hatte in seinem Bericht Mattersberger als eine Person bezeichnet, „die bestimmt nicht mehr den Namen ‚Volksgenosse‘ verdient, vielweniger aber noch die Bezeich‐ nung Wehrmachtsangehöriger. Er ist eine für die Menschheit vollkommen untaugliche Person, sodaß eine ständige Verwahrung am Platze wäre.“ Ein Rechtsgutachten aus dem Oberkommando des Heeres befand jedoch, dass im Hinblick „auf die durchaus asoziale Persönlichkeit“ des Angeklagten die Todesstrafe geboten sei: „Die besonderen Verhältnisse der Wehrmacht und die Notwendigkeiten des Krieges zwingen dazu, verminderte Zurechnungsfähigkeit nicht als Strafmilderungsgrund anzusehen, vermindert zurechnungsfähige Täter grundsätzlich nicht anders zu behandeln als strafrechtlich voll verant‐ wortliche.“ Das Urteil wurde vom Befehlshaber des Ersatzheers Friedrich Fromm, aufgehoben. Bei der Neuverhandlung am 11. Februar 1943 erhöhte dasselbe Gericht die Strafe auf 15 Jahre Zuchthaus und ordnete neuerlich die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt an. Auch dieses Urteil hob Fromm auf, forderte die Todesstrafe und beauftragte das Gericht des Wehrmachtskommandanten von Berlin mit der Durchführung der dritten Verhandlung. Am 4. Mai 1943 verurteilte dieses Gericht unter dem Vorsitz von Heeresrichter Günther von Glasenapp Franz Mattersberger zum Tode. Vor Gericht bestritt Mattersberger nun, die Absicht gehabt zu haben, sich dauernd der Verpflichtung zum Wehrdienst zu entziehen. Als Antrieb für seine Fluchten nannte er Heimweh, eine große Sehnsucht nach Frau und Kindern. Das Gericht hielt dazu fest, dass das Motiv des Heimwehs die Absicht der Fahnenflucht nicht ausräume. Fahnenflüchtige, so der Richter in der Urteilsschrift, gingen „zum größten Teil immer in ihre Heimat nach Hause […]. Hier denken sie, in ihrer Abscheu gegen die militärischen Institutionen, Sicherheit zu finden und sich vor allen Dingen auch in der ihnen vertrauten Umgebung am besten verbergen zu können. Aus diesem Grunde ist auch der Angeklagte in seinen Heimatort geflüchtet, ohne dabei daran zu denken, bald wieder ergriffen werden zu können.“ Glasenapp legte dem Todesurteil die Bewertung von Franz Mattersberger als „durchaus asoziale Persönlichkeit“ zu Grunde. Als Beleg dafür wurde angeführt: „In seinem Berufsleben hat er nirgends eine längere Zeit fest gearbeitet oder sogar dauernd auf einer Arbeitsstelle Dienst getan, sondern hat seine Stelle fortwährend gewechselt. Er ist durch 222 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="223"?> gerichtliche Verurteilungen in seinem Zivilleben wie auch während seiner Militärzeit erheblich vorbestraft.“ Das Gericht bezweifelte ferner die zuvor festgestellte verminderte Zurechnungsfähigkeit wegen „Schwachsinns“. Hinsichtlich der Strafbemessung hielt Glasenapp die Frage der Zurechnungsfähigkeit überhaupt für zweitrangig: „Das Gericht war der Ansicht, dass der Angeklagte bei sämtlich gegebenen Voraussetzungen einer Fahnenflucht, wenn er vermindert zurechnungsfähig gewesen war, gerade deshalb noch mehr als ein anderer Täter, der die volle Einsicht in sein Tun hat, der Todesstrafe verfallen gewesen wäre, denn der voll zurechnungsfähige Täter ist immer noch ein würdigeres Mitglied der Volksgemeinschaft, als der Täter, der asozial und vermindert zurechnungsfähig ist. Ein solcher ist überhaupt nicht mehr in die Volksgemeinschaft einzureihen, und es ist nicht einzusehen, warum sich die Gemeinschaft mit solchen krankhaften Tätern herumtragen soll, während auf der anderen Seite jetzt im Kriege das beste deutsche Blut auf den Schlachtfeldern sein Leben einsetzt. Der Frontsoldat hat nicht verdient, sein Leben für solche Menschen einzusetzen.“ Dieses von nationalsozialistischer Ideologie durchdrungene Urteil wurde von Friedrich Fromm am 19. Mai 1943 bestätigt und er ordnete die Vollstreckung an. Das Gnadengesuch Mattersbergers und jene seines Vaters und seiner Ehefrau wurden abgewiesen. Als er am 1. Juni 1943 um 16 Uhr in der Zelle im Zuchthaus Brandenburg von der bevorstehenden Hinrichtung erfuhr und gefragt wurde, ob er einen Wunsch zu äußern habe, antwortete er: „Ich möchte noch etwas zu rauchen haben.“ Eine Stunde später starb Franz Mattersberger durch das Fallbeil. Sein Leichnam wurde dem Anatomisch-Biologischen Institut der Uni‐ versität Berlin übergeben. Ein Mithäftling von Franz Mattersberger, Gottfried Pätzka, hatte bei einer Vernehmung zur Flucht Mattersbergers aus dem Arbeitskommando der Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf von anderen, nämlich politischen Äußerungen, berichtet: „Ungefähr 1 Woche später hat Mattersberger begonnen, bei jeder Gelegenheit wo wir beim Arbeitseinsatz eine gemeinsame Arbeit verrichteten, politische Gespräche zu führen. […] Bei solchen Gelegenheiten äusserte Mattersberger, wenn Reichsmarshall Hermann Göring nicht wäre, dann würde der Krieg schon längst beendet sein. - Weiter äusserte er, die S.S. sei aus der Kirche ausgeschieden und wer an die Kirche nicht glaube, der gleiche einem Stück Vieh. Die Handlungsweise der S.S. sei auch dementsprechend. - Endlich äusserte er sich mir gegenüber, dass es ihm früher wirtschaftlich und finanziell besser gegangen sei und dass er heute, seitdem die ‚Braune Pest‘ herrsche, durch seine Einberufung zur Wehrmacht und Trennung von seiner Familie Hunger leiden müsse.“ Quellen: BA MA, MW 55/ 2269; AA, Namensliste Verstorbene Zuchthaus Brandenburg; Pfarre Matrei, Taufbuch. Literatur: Franz Mattersberger (1913-1943), URL: https: / / deserteursdenkmal.at/ wordpress/ stra fvollzug/ (abgerufen 26.6.2023). Anhang - 55 Todesfälle 223 <?page no="224"?> Müller, Roman * 25. April 1907 Innsbruck † 27. März 1944 Brandenburg-Görden □ Innsbruck Der Artist Roman Müller wurde am 14. Oktober 1943 von Beamten des Grenzpolizeistelle Feldkirch in die Haftanstalt des Landgerichts Feldkirch eingeliefert. Vom 18. bis 23. Oktober wurde er im Polizeigefängnis Bregenz für den Wehrmachtsstandortältesten verwahrt, bevor ihn Soldaten einer Wehrmachtsstelle in Berlin abholten. Dem Obergrenadier wurde Fahnenflucht vorgeworfen. Wahrscheinlich war er bei einem Fluchtversuch in die Schweiz festgenommen worden. Die Einheit, aus der er geflüchtet war, ist nicht genannt. Dokumente in den Arolson Archives belegen, dass er wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt wurde. Aus den Zugangs- und Vollstreckungslisten des Zuchthauses Brandenburg-Görden geht hervor, dass er am 22. März 1944 dort eingeliefert und am 27. März um 13 Uhr mit dreizehn weiteren verurteilten Soldaten mit dem Fallbeil hingerichtet wurde. Quellen: VLA, BG Bregenz, Hs 11, Gefangenenbuch 1941-1944, 2101; VLA, Häftlingsprotokolle des Landgerichts Feldkirch, Vormerkbuch 1943-1944, Zl. 433; AA, DocIDs 12086247, 12116568, 12119106. Neuner, Josef * 11. Jänner 1923 Olmütz (heute Olomouc, Tschechien) † 10. November 1943 Hohenems □ Brünn (heute Brno, Tschechien) Am 9. November 1943 nahm ein Hilfszollassistent der Grenzaufsichtsstelle Mäder etwa 1.500 Meter vom Rheindamm entfernt zwischen Mäder und Altach zwei Männer fest, die er in die Grenzaufsichtsstelle eskortierte. Die Männer wiesen sich als die Brüder Josef und Alfred Neuner aus. Josef Neuner zeigte einen Dienstausweis der Staatspolizeistelle Brünn und war demnach Kriminalangestellter der Gestapo. Sein Bruder hatte einen Durch‐ lassschein, der vom Bezirkshauptmann in Zlin ausgestellt worden war. Beide wohnten demnach im Hotel Viktoria in Brünn. Auf Aufforderung legten die beiden jeweils eine Pistole auf den Tisch und wurden dann durchsucht. Zu den folgenden Ereignissen liegt nur eine Darstellung der Beamten vor. In einer Meldung des Gendarmeriepostens Altach an den Landrat des Kreises Bregenz heißt es: „Bei der weiteren Einvernahme der Angehaltenen griff der Kriminalbeamte Josef [Neuner] in die Innentasche, zog eine weitere mit sich geführte Pistole und schoss sich zwei Fingerbreit oberhalb des Herzens in die Brust.“ Josef Neuner verstarb einen Tag später im Spital in Hohenems. Sein Bruder Alfred Neuner wurde samt den Gegenständen und Dokumenten, die ihm abgenommen worden waren, der Gestapo Bregenz übergeben. Bereits drei Tage später holten Beamte der Gestapo Brünn Alfred ab und nahmen ihn in Schutzhaft. Er war im November 1942 „als für die Deutsche Wehrmacht untragbar“ aus dem Wehrdienst entlassen worden, wie die Gestapo Bregenz das Sondergericht Feldkirch informierte, nachdem es Interesse an einer Strafverfolgung wegen versuchter Wehrdienstentziehung durch Flucht in die Schweiz bekundet hatte. Die Gestapo Brünn zog die Ermittlungen zu Alfred Neuner an sich, weil gegen seinen Bruder Spionageverdacht bestand. Nach deren Abschluss wies die Gestapo Alfred Neuner im Juni 224 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="225"?> 1944 in das Konzentrationslager Flossenbürg ein. Am 24. April 1945 wurde er in das KZ Dachau überstellt, das fünf Tage später von US-Truppen befreit wurde. Quellen: VLA, LGF Js 154/ 43; VLA, BG Bregenz, Hs 11 Gefangenenbuch 1941-1944, 2169; AA, DocIDs 10220532, 10959429. Patzelt, Walter * 19. November 1920 Prosmik (Sudetenland, heute ehemals Prosmyky, Tschechien) † 21. April 1945 Innsbruck □ Leitmeritz (heute Litoměřice, Tschechien) Der Handelsgehilfe Walter Patzelt war Angehöriger der Flak-Ersatzabteilung 25, die in der tschechischen Stadt Ostrava stationiert war. Von dort dürfte Walter Patzelt desertiert sein, um in die Schweiz zu gelangen. Er wurde jedenfalls von der Gendarmerie Hohenems am 18. März 1945 in das Polizeigefängnis Bregenz eingeliefert und zur Verfügung der Gestapo verwahrt. Über die Ermittlungsergebnisse der Gestapo (Grenzpolizeikommissariat Bregenz) ist nichts bekannt. Am 30. März wurde er dem Standortältesten der Wehrmacht in Innsbruck ausgeliefert. Aus dem Gefangenenbuch der Justizanstalt Innsbruck konnte die Historikerin Christina Müller eruieren, dass er dort bis 21. April 1945 zur Verfügung des Gerichts der Division 418 in Haft war. Das Gericht verurteilte ihn am 11. April 1945 zum Tode, sehr wahrscheinlich im provisorischen Gerichtsgebäude in der Michael-Gaismair- Straße 1. Das Delikt ist nicht bekannt. Aufgrund der Festnahme in Hohenems scheint Fahnenflucht als Verfolgungsgrund sehr wahrscheinlich. Das Urteil blieb nicht erhalten, denn das Personal des Gerichts vernichtete die noch in Innsbruck befindlichen Gerichts‐ akten vor dem Eintreffen der amerikanischen Truppen. Die Hinrichtung durch Erschießen erfolgte durch Militär am 21. April 1945 um sieben Uhr morgens in Innsbruck, wohl an der üblichen Hinrichtungsstätte in einem aufgelassenen Steinbruch am Paschberg. Sie ist im Haftbuch verzeichnet. Gemeinsam mit Walter Patzelt wurde der Innsbrucker Deserteur Ernst Federspiel hingerichtet. Es waren die letzten heute bekannten Hinrichtungen durch Militärgerichte am Paschberg. Quellen: VLA, BG Bregenz, Hs 11 Gefangenenbuch 26.12.1944-1945, 413; BSFK Tirol, Liste der Wehrmachts‐ häftlinge der Haftanstalt Innsbruck (Christina Müller). Literatur: Müller, Die Vergessenen, o. S. (Liste der zum Tode Verurteilten). Pfeil, Eugen * 1. Oktober 1903 Arbon (Schweiz) † 19. Februar 1945 Graz □ München (Bayern) Der Dreher Eugen Pfeil wanderte Ende 1938 wegen Arbeitslosigkeit nach Deutschland aus. Im Jänner 1939 fand er in München Beschäftigung bei der Forschungsanstalt Prof. Junkers GmbH, einer Firma der teilverstaatlichten Junkers Flugzeug- und Motorenwerke, die für die deutsche Rüstung eine bedeutende Rolle spielte. Er nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an. In Altstätten in der Ostschweiz zurück blieb seine Frau Mina Bötschi, die er seit Kriegsbeginn nicht mehr besuchen konnte. Nach einer längeren Krankheit im Frühjahr 1943 erhielt er im Oktober 1943 einen Erholungsurlaub, den er nach vier Jahren der Trennung mit seiner Frau bei seinen Eltern in Arbon verbrachte. Als der Urlaub zu Ende ging, fiel ihm der Abschied von seiner Frau sehr schwer. Wie er später bei einer Vernehmung durch Anhang - 55 Todesfälle 225 <?page no="226"?> einen Beamten des Grenzpolizeikommissariats Bregenz (Gestapo) schilderte, bat ihn seine Frau, sie bald wieder zu besuchen. Sie begleitete ihn bis zur Grenze in St. Margarethen, wo sie ihn ersuchte, doch bei ihr zu bleiben. Er kehrte dennoch nach München zurück, weil er den Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft und die damit verbundene Staatenlosigkeit befürchtete. In München nahm er die Arbeit nicht mehr auf. „Ich war mit den Nerven ganz herunter und hatte keine Ruhe mehr. Dies ist auf den Abschied von meiner Frau zurückzuführen. Mehrere Nächte konnte ich nicht schlafen und bin dann am 25.10.43 vor Verzweiflung von München weggefahren. Der Grund warum ich meine Arbeitsstelle verlassen habe, bzw. meine Arbeit nicht aufgenommen habe, war das Heimweh nach meiner Frau.“ Eugen Pfeil entschloss sich an diesem Tag zur illegalen Rückkehr in die Schweiz. Er fuhr von München mit dem Zug nach Bregenz und mit dem Bus weiter nach Höchst und ging von dort zu Fuß Richtung Gaißau. Auf welchen Wegen er vorhatte, die Grenze zu überqueren, geht aus den Einvernahmeprotokollen nicht hervor. Er wurde am 25. Oktober 1943 um ca. 16 Uhr auf der Straße von einem Soldaten angehalten und zur Befragung in die Grenzaufsichtsstelle Gaißau gebracht. Dort gab er zunächst an, die ihm bekannte Familie Böhler in Gaißau zu besuchen und dort seinen Urlaub zu verbringen, weil er hier Gelegenheit haben würde, um an der Grenze auf der Gaißauer Brücke mit seiner Frau sprechen zu können. Nach der Überstellung in das Grenzpolizeikommissariat Bregenz gab er bei einer Einvernahme durch SS-Oberscharführer Fritz Kraft am folgenden Tag jedoch zu, nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet zu haben, um in die Schweiz zu flüchten. Er habe seinen Arbeitsplatz in München ohne Genehmigung des Arbeitgebers verlassen. Die Gestapo wies ihn nach der Vernehmung zu ihrer Verfügung in das Polizeigefängnis in Bregenz ein. Weitere Ermittlungen der Gestapo München ergaben, dass Eugen Pfeil unbescholten und politisch unverdächtig war. Hinsichtlich seines Wehrverhältnisses war er wehrpflichtig und bereits als „garnisonsverwendungsfähig Heimat“ gemustert worden, doch aktuell als Schlüsselkraft der Forschungsanstalt unabkömmlich gestellt. Daher, so die Gestapo München, könne nicht angenommen werden, „dass er sich seiner Wehrpflicht entziehen wollte“. Die Gestapo zeigte Eugen Pfeil am 4. November 1944 beim Landgericht Feldkirch daher nur wegen eines versuchten Passvergehens (illegaler Grenzübertritt) und unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes an; dieser wurde beim Landgericht Feldkirch in Untersuchungshaft genommen. Für den Oberstaatsanwalt des Landgerichts Feldkirch, Herbert Möller, und Staatsanwalt René Daniaux war jedoch trotz der Feststellung der Gestapo München zu prüfen, ob er nicht auch das Verbrechen der Wehrdienstentziehung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 KSSVO begangen hatte und dafür anzuklagen sei. Möller übermittelte die Untersuchungsakte daher an den Oberreichsanwalt des Volksgerichtshofes in Berlin, der das weitere Verfahren an sich zog. Dann geschah lange nichts bzw. dem Volksgerichtshof Ungelegenes, denn die Akten wurden durch „Feindeinwirkung“ in Berlin vernichtet, sprich im Zuge eines alliierten Bombenangriffs zerstört. Unterdessen verlangte die Forschungsanstalt seit Anfang Dezember 1943 vom Volksge‐ richtshof, Eugen Pfeil wieder in den Arbeitsprozess eingliedern zu können, „da wir mit Heeresaufgaben der dringendsten Stufen beschäftigt sind.“ Im Juni 1944 gab der Volksgerichtshof das Verfahren an das Landgericht bzw. Sondergericht Feldkirch ab. Möller und Daniaux erhoben am 20. Juli 1944 schließlich Anklage gegen Eugen Pfeil 226 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="227"?> wegen pflichtwidrigen Fernbleibens von der Arbeitsstelle, wegen Versuchs des unbefugten Grenzübertritts, wegen versuchten Devisenvergehens (er hatte 215 RM mit sich geführt) und des Versuchs, sich der Erfüllung des Wehrdienstes ganz oder zumindest teilweise zu entziehen. Letztere Absicht hatte Eugen Pfeil stets bestritten, Möller und Daniaux pochten aber darauf, dass er das Delikt als Begleiterscheinung der Flucht in die Schweiz zumindest in Kauf genommen habe. Die Verhandlung am 11. August 1944 dauerte eine Stunde, einen Verteidiger gab es nicht. Richter Heinrich Eccher folgte im Wesentlichen der Anklage. Hinsichtlich der Wehrdienstentziehung wollte er jedoch nicht ausschließen, dass Heinrich Pfeil einer in der Schweiz zugestellten Einberufung zur Wehrmacht Folge geleistet hätte. Er nahm daher an, dass „Pfeil sich nur teilweise dem Wehrdienst entziehen wollte“. Eccher verwendete ferner das Argument, dass Pfeil „in geistiger Hinsicht nicht ganz vollwertig“ zu sein scheine und der Beeinflussung seiner Frau unterliege. Er verurteilte den Angeklagten zu einer Gefängnisstrafe von zwanzig Monaten, vier Monate weniger als Daniaux verlangt hatte. Auf die Strafe wurde die U-Haft angerechnet. Zur Verbüßung der Reststrafe wurde Eugen Pfeil in das Strafgefängnis Graz überstellt. Nach Angaben der Gefängnisverwaltung starb er am 19. Februar 1945 bei einem Bombenangriff der Alliierten. Quellen: VLA, LGF KLs 35/ 44; VLA, BG Bregenz, Hs 11 Gefangenenbuch 1941-1944, 2123. Roth, Eduard * 17. Dezember 1919 Nürnberg (Bayern) † 11. Dezember 1940 Feldkirch □ Nürnberg Der Monteur Eduard Roth wurde 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Er kam im November als Fahrer einer Nachschubtruppe nach Rotterdam in die besetzten Niederlande. Dort lernte er kurz nach seiner Ankunft beim Einkaufen in einem Lebensmittelgeschäft einer jüdischen Familie die 21-jährige Elisabeth Sloves kennen, die dort als Verkäuferin arbeitete. Eduard Roth und Elisabeth Sloves gingen ein Liebesverhältnis ein. Als Roths Vorgesetzter davon erfuhr, befahl er ihm, die verbotene Beziehung sofort zu beenden und drohte ihm eine Anzeige wegen „Rassenschande“ an. Er erhielt einen Stubenarrest, an den er sich nicht hielt und desertierte am 16. November 1940. Zunächst verbarg er sich bei seiner Geliebten in einem von ihr gemieteten Zimmer, wo sie gemeinsam die weitere Flucht vorbereiteten. Elisabeth Sloves schneiderte ihm Zivilkleider zurecht, die er sich beschafft hatte. Erste Station der Flucht war Groningen. Sie kehrten aber noch einmal nach Rotterdam zurück, wo sie neuerlich ein Zimmer mieteten und Elisabeth ihre Eltern um Geld bitten wollte. Da ihr Vater die Beziehung ablehnte, entschied sich das Paar, zu Roths Mutter nach Nürnberg zu reisen. Die deutsche Grenze überquerten sie auf Schleichwegen. Während kurzer Aufenthalte bei Verwandten in Frankfurt und bei Roths Mutter in Nürnberg, die über die Fahnenflucht aufgebracht war, fassten sie den Entschluss, in die Schweiz zu fliehen. Sie fuhren nach Lindau, weiter mit einem Schiff nach Bregenz und gelangten nach Feldkirch, wo sie die Grenze nach Liechtenstein überschreiten wollten. Am 11. Dezember abends fragten sie in Tosters einen Passanten nach dem Weg. Der Mann denunzierte sie wenig später bei einer Kontrolle durch die Hilfszollbetriebsassistenten Anton Weixel‐ mann und Ludwig Haselbeck, die sich sogleich auf die Suche machten und die beiden Verdächtigen beim Schulhaus in Tosters antrafen. Während sich Eduard Roth mit einem Arbeitsbuch auswies und davon sprach, Verwandte zu besuchen, konnte Elisabeth Sloves Anhang - 55 Todesfälle 227 <?page no="228"?> keine Dokumente vorzeigen. Die Grenzschützer eskortierten sie zur Grenzaufsichtsstelle, um die gegebenen Identitäten genauer zu überprüfen. Als die Beamten bei Roth eine Leibesvisitation durchführen wollten, zog er aus einer Manteltasche einen Revolver und schoss in kurzem Abstand zweimal auf Elisabeth Sloves, bevor er sich in die Schläfe schoss. Eduard Roth war sofort tot. Elisabeth Sloves erlitt leichte Verletzungen an der rechten Hand und am Hinterkopf und wurde in das Krankenhaus Feldkirch eingeliefert. Nach der Genesung wurde sie am 3. Jänner 1941 im Landgericht Feldkirch in Untersuchungshaft genommen. Zwei Wochen später erhielt sie nach einem Gerichtsverfahren eine Strafe von einem Monat wegen versuchten unbefugten Grenzübertritts. Nachdem am 10. Jänner 1941 der Ermittlungsakt des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) für die besetzten niederländischen Gebiete zur Fahnenflucht von Eduard Roth beim Kriminalkommissariat Feldkirch eintraf, aus dem hervorging, dass sie diese begünstigt hatte, wurde sie wegen des Verdachts der Mitwirkung angezeigt. Elisabeth Sloves bestritt in einer Einvernahme jede Beeinflussung. Der Oberstaatsanwalt des Landgerichts Feldkirch konnte nach Beweislage keine aktive Tätigkeit oder gar Anstiftung erkennen. Er beabsich‐ tigte deshalb, das Strafverfahren mangels Tatbestandes einzustellen. Dem widersprach der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Innsbruck kurz, aber vehement. Er sah den Tatbestand der Wehrkraftzersetzung erfüllt. Nun wurde Elisabeth Sloves am 7. Februar nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 der KSSVO (Zersetzung der Wehrkraft) angeklagt. Der Oberstaatsanwalt des Landgerichts Feldkirch beurteilte in der Anklageschrift Sloves’ Beitrag zur Fahnenflucht als minderschweren Fall und beabsichtigte eine geringe Strafe von sechs Monaten Gefängnis zu beantragen. Dem widersprach der Generalstaatsanwalt des Oberlandgerichts Innsbruck, Alarich Obrist, neuerlich energisch, indem er Elisabeth Sloves die Schuld am Tod eines deutschen Soldaten gab: „Nachdem die Beschuldigte aber als Jüdin sich mit einem deutschen Soldaten in ein rassenschän‐ derisches Verhältnis eingelassen und dadurch dessen Fahnenflucht und Tod herbeigeführt hat, halte ich eine Zuchthausstrafe von wenigsten 3 Jahren für erforderlich.“ Tatsächlich folgte Staatsanwalt Anton Heim dieser Forderung bei der Hauptverhandlung am 18. Februar 1941. Richter Heinrich Eccher hielt aber - mit eigentümlichen Argumenten - dagegen. Eccher beurteilte die Mitwirkung als nicht schwerwiegend, „sexuelle Hörigkeit“ habe nämlich bei Roth den Entschluss zur Fahnenflucht reifen lassen. Er führte die „stark in Erscheinung tretende sexuelle Veranlagung“ jedoch auf das jugendliche Alter der Angeklagten zurück und führte ihre Notlage, wegen der Beziehung zu Roth aus dem Elternhaus verwiesen worden zu sein, als Milderungsgrund an. Außerdem habe sie schon die Folgen der Schüsse von Roth zu tragen. Eccher befand sie der Wehrkraftzersetzung für schuldig, die von ihm ausgesprochene Strafe von acht Monaten Gefängnis lag aber sehr deutlich unter den geforderten drei Jahren Zuchthaus. Elisabeth Sloves wurde in das Frauenstrafgefängnis Rothenfeld eingeliefert und nach Verbüßung der Strafe nach Rotterdam abgeschoben. In den Niederlanden begannen die deutschen Besatzungsbehörden Anfang 1942 unter der Federführung des Österreichers Arthur Seyss-Inquart damit, die Juden aus ihren Häusern und Wohnungen zu vertreiben und sie zu berauben. Elisabeth Sloves wurde im Herbst 1942 mit ihren Eltern und ihrer Schwester in das Durchgangslager Westerbork verbracht. Dort heiratete sie Michael Sa‐ 228 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="229"?> lomon van Dantzig aus Rotterdam. Kurz darauf wurde die gesamte Familie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Als Todestag von Elisabeth Sloves gilt der 2. November 1942. Quellen: VLA, LGF SLs 1/ 41; VLA, LGF Vr 5/ 41; VLA, Dokumentensammlung der Malin Gesellschaft, Sch XV/ 1 Mappe Sloves. Literatur: Dür, Ich hatte den Roth gerne wie noch nie einen Mann; Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg; Burmeister, Geschichte der Juden in Stadt und Herrschaft Feldkirch. Schuh, Johannes * 22. August 1902 Bremen † 22. März 1945 Bregenz □ Siegburg (Rheinprovinz) Der Obergefreite Johannes (Hans) Schuh, seit 1923 verheiratet mit Theresa Schuh und Vater von zwei Söhnen (Kurt * 20.4.1924, Johannes * 14.5.1927), desertierte im März 1945 aus dem Fliegerhorst Bonn-Hangelar. Am 22. März 1945 tauchte er vormittags in der Gastwirtschaft „Zum Adler“ in Bregenz-Fluh auf, fragte nach einem Telefonbuch, führte in der Telefonzelle ein Gespräch, trank in der Gaststube einen Kaffee und bezahlte. Danach ging er zum Abort und erschoss sich mit einer Pistole. Der Kommandant des Gendarmeriepostens Kennelbach fand bei der Durchsuchung der Leiche ein Soldbuch, in dem ein undatierter Brief ohne Ortsangabe eingelegt war. Den Inhalt gab der Gendarm in einer Meldung an den Wehrmachtsstandortältesten in Bregenz wieder: „[…] er schrieb, dass er sich ohne Erlaubnis von seiner Truppe entfernt habe, daß sein Heim in Siegburg, Kaiser-Wilhelmplatz 11, zerstört, seine Frau ausgebombt und unbekannten Aufenthalts, sowie seine 2 Söhne im Westen an der Front stünden u. vielleicht schon gefallen seien und er somit einen völligen Nervenzusammenbruch erlitten habe.“ Die zehn Kilometer östlich von Bonn gelegene Stadt Siegburg war von der alliierten Luftwaffe insbesondere am 6. März 1945 schwer bombardiert worden, mit Schäden an 1.000 Gebäuden. Hans Schuh schrieb weiter, dass er sich ohne Wissen seiner Angehörigen Zivil‐ kleider beschafft und bei seiner Flucht nach Bregenz meist in kleinen Dörfern übernachtet habe. In Bregenz wollte er dem Brief zufolge seine Schwägerin Gertrud Peffekoven, die in der Belruptstraße 17 wohnte, aufsuchen. Vermutlich handelte es sich um eine der vielen in Deutschland ausgebombten Zivilist*innen, die 1944/ 45 in Vorarlberg einquartiert wurden. Möglicherweise fand Hans Schuh bei seiner Schwägerin keine Zuflucht. An Bargeld hatte er nur mehr 32 RM bei sich. Seine Leiche wurde nach Bregenz gebracht. Auf der Meldekarte der Familie im Stadtarchiv Siegburg wurde sein Tod mit „gef.[allen] am 22.3.45 in Bregenz“ verzeichnet. Quellen: VLA, LR Bregenz, PV 051/ 10/ 2, Vorfallensberichte 1945: Gendarmerieposten Kennelbach an Wehrmachts-Standortältesten Bregenz, 23.3.1945; Stadtarchiv Siegburg, Meldekarten Johannes Schuh. Schwetling, Paul * 19. November 1920 Labab bei Angerburg (Ostpreußen, heute Łabapa, Polen) † 26. Mai 1944 Straubing □ Labab (Ostpreußen) Der Gärtner Paul Schwetling diente von November 1937 bis Oktober 1938 in der Wehr‐ macht. Er arbeitete bis zum Juli 1942 als Tankwart bei der Luftwaffe, wahrscheinlich auf Feldluftparks in Belgien, Frankreich und Rumänien. Er war unbescholten. Im Juli 1942 folgte Anhang - 55 Todesfälle 229 <?page no="230"?> er der Einberufung zur Fliegerhorstkommandantur in Jessau (Ostpreußen), erhielt bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Uk-Stellung noch einen Urlaub. Diesen nutzte er, um von Jessau über Berlin, München und Lindau nach Lustenau zu reisen und in die Schweiz zu gelangen. Am 7. August 1942 wurde er in der Augartenstraße, in unmittelbarer Nähe des Rheinufers, von Zollbeamten festgenommen und in die Haftanstalt Feldkirch eingeliefert. Dort beteiligte er sich am 27. August am Ausbruch von Heinrich Heinen, wurde jedoch von der Schutzpolizei in der Nähe der Schweizer Grenze wieder festgenommen. Im Prozess vor dem Sondergericht Feldkirch am 23. September 1943 nannte er als Motiv für den ersten Fluchtversuch in die Schweiz die Behandlung einer Geschlechtskrankheit (die er nicht hatte), für die Beteiligung am Ausbruch, er „habe auf und davon wollen, um nicht wegen Wehrdienstentziehung eingesperrt zu werden.“ Das Sondergericht Feldkirch hatte das Verfahren gegen ihn vom Kommandierenden General und Befehlshaber Luftgau I übernommen. Im Zuge der Untersuchung ordnete Richter Heinrich Eccher eine Begutachtung von Schwetlings Geisteszustand an, um zu entscheiden, ob sich die Gewaltverbrecher-VO mit dem Strafmaß der Todesstrafe in seinem Fall anwenden ließ. Die Sachverständigen Univ.Ass. Dr. Gänser und Med.Rat. Dr. Steiner stellten fest, dass Schwetlings Zurechnungsfähigkeit wesentlich herabgemindert war, da er an angeborenem Schwachsinn leide. Med.Rat Nikolaus Wlad erklärte, dass Schwetling den „Eindruck eines Blödsinnigen“ mache. Richter Eccher wandte daher die Gewaltverbrecher- VO im Gegensatz zum Antrag von Staatsanwalt Herbert Möller nicht an. Das Gericht könne den Angeklagten „nicht mit Beruhigung dem Tätertyp eines Gewaltverbrechers unterstellen“. Er könne „nicht als so gemeinschaftsschädlich angesehen werden, dass er nach dem gesunden Volksempfinden nur den Tod verdienen würde“. Eccher verurteilte Schwetling wegen öffentlicher Gewalttätigkeit, versuchten Passvergehens, einem minder schweren Fall von Wehrdienstentziehung sowie Gesellschaftsdiebstahl zu vier Jahren Zuchthaus. Der Reichsminister der Justiz zeigte sich mit dem Urteil nicht zufrieden und ließ den Oberstaatsanwalt beim Landgericht Feldkirch wissen: „Geistige Minderwertigkeit des Täters rechtfertigt nur unter hier nicht ersichtlichen Ausnahmen eine Strafmilderung; im übrigen besteht gegenüber geistig minderwertigen Tätern gerade ein erhöhtes Schutzbedürfnis der Allgemeinheit. Auch im vorliegenden Fall wäre die Todesstrafe am Platze gewesen.“ Eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil war beim Reichsgericht in Leipzig in Prüfung, als eine andere Nachricht das Verfahren beendete. Das Zuchthaus Straubing informierte das Landgericht Feldkirch am 26. Mai 1944, dass Paul Schwetling verstorben sei. Näherer Angaben zur Todesursache wurden nicht gemacht. Quellen: TLA, LG Innsbruck, STA OLG Innsbruck, Allgemeine Akten I, I 703/ 42, darin Anklageschrift, 29.4.1943 und Urteil, 23.9.1943; SG Feldkirch KLs 12/ 43 (Akt befand sich beim LG Feldkirch); VLA, BG Bregenz, Hs 11 Gefangenenbuch 1941-1944, 695. 230 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="231"?> Staudt, Nikolaus * 11. Februar 1919, Düsseldorf (Rheinprovinz) † 27. September 1944 Gargellen □ Köln/ Wien Der Medizinstudent Nikolaus Staudt wurde mit dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 zur Wehrmacht eingezogen, erhielt aber kurz danach eine Freistellung für die Fortsetzung seines Studiums an der Universität Wien. Als der Bedarf der Wehrmacht an Soldaten im Frühjahr 1941 zur Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion stieg, erhielt Nikolaus Staudt neuerlich eine Einberufung, dieses Mal zur Panzer-Ersatz-Abteilung 33 in St. Pölten, mit der er als Gefreiter den Feldzug gegen die Sowjetunion mitmachte. Im September wurde er verwundet oder kam wegen einer Krankheit ins Lazarett, anschließend in die Genesendenkompanie seiner Einheit. Bis Oktober 1942 war er verschiedenen Sanitätseinheiten in Wien zugeteilt, immer wieder mit Unterbrechungen für sein Studium. Zuletzt hatte er den Rang eines Unteroffiziers. Nach dem Bericht einer Verwandten stand er 1944 vor dem Abschluss und ging davon aus, dass er nun an die Front eingezogen werden würde. Mehrere Verwandte waren bereits gefallen, den Krieg hielt er für verloren. Aus diesen Gründen soll er sich entschlossen haben, in die Schweiz zu fliehen. Ende September 1944 begab er sich nach Gargellen im Montafon, wo er nach einem einhei‐ mischen Bergführer suchte, der ihn zum Gafierjoch auf 2.400 Meter Seehöhe bringen sollte. Edith Hessenberger und Michael Kasper haben verschiedene mündliche Überlieferungen und schriftliche Darstellungen der folgenden Ereignisse recherchiert und publiziert. Durch Ermittlungen der Kriminalpolizei Bludenz in den Nachkriegsjahren ergab sich folgender Ablauf: Nikolaus Staudt dürfte sich zuerst an den Bergführer und Skilehrer Johann Josef Thöny gewandt und ihm für die illegale Dienstleistung einen größeren Geldbetrag angeboten haben. Thöny soll dann den Bergführer Engelbert Willi und den Zollkommissar von Gargellen überredet haben, den Auftrag anzunehmen. Ob Nikolaus Staudt von der Involvierung eines Zollbeamten wusste, war nicht mehr feststellbar. In einer Einvernahme schilderte Engelbert Willi seine Wahrnehmung der Ereignisse, nachdem Nikolaus Staudt von Thöny zu ihm gebracht worden war und er von Staudt für die Führung an die Gebirgsgrenze 4.700 RM erhalten hatte: „Es war ca 3 Uhr in der früh, als wir von meiner Wohnung weggingen. Thöny blieb zurück. Mir wurde auf einer Karte der Weg vorgeschrieben. Es ging in der Richtung zum Gandasee, ca ½ Wegstunde bis zur schweizer Grenze. Thöny sagte mir beim Weggehen, daß der Mann bewaffnet sei. Um ca 7 Uhr 30 früh kamen wir zum Gandasee. Der nächste Ort in der Schweiz ist St. Antönien. Da wurden wir von einer Patroille [sic! ] der Zollwache angerufen ‚Hände hoch‘. Wir blieben stehen, ich hob die Hände hoch, aber mein Begleiter wollte flüchten. Die Stelle ist ca 2200 m hoch und muldig, (Berghänge) Da sah ich plötzlich wie der Mann eine Pistole zog und sich in den Kopf schoß. Darauf zog er noch eine zweite Pistole und zielte auf die Zollwache. Die Patroille gab aber daraufhin auch Feuer. Der Mann flüchtete über einen Berghang hinunter. Ich mußte mit erhobenen Händen stehen bleiben und wurde festgenommen und zur Zollwache nach Gargellen gebracht wo man mit mir ein Protokoll aufnahm. Man nahm mir die 4700 RM wieder ab […]. Nach 2 oder 3 Tagen wurde ich wieder zur Zollwache gerufen und man gab mir den Auftrag ich solle mit einem gewißen Christian Tschofen, den Mann beerdigen, der auf der Flucht erschoßen wurde. […] Dabei Anhang - 55 Todesfälle 231 <?page no="232"?> habe ich gesehen, daß der Mann ohne Kleider war […]. Nach ca 3 oder 4 Monaten erhielt ich von der Zollkasse in Innsbruck 500 RM angewiesen.“ Für die Beerdigung in Gargellen soll sich Pater Fridolin Gmeinder eingesetzt haben. Im Sterbebuch wurde der Tod von Nikolaus Staudt mit dem Sterbedatum „27. September 1944, 10 gegen 12 Uhr mittags“ verzeichnet. Demnach starb er nicht unmittelbar nach dem von Willi geschilderten Schusswechsel. Bei einem Nachtrag fügte jemand folgende Bemerkung hinzu: „erschossen auf der Flucht in die Schweiz durch Hinterhältigkeit und Tücke, mit Vorauswissen und Vorausbestellen damaliger N.S.D.A.P + in Umgebung d. Gandasees“. Der Leichnam wurde später auf einen Soldatenfriedhof in Tisis umgebettet. Auf der Friedhofskapelle in St. Gallenkirch befindet sich heute eine Gedenktafel für Nikolaus Staudt, auf der er als „Kriegsdienstverweigerer“ erinnert wird, der „auf der Flucht am Gandasee von der deutschen Grenzpolizei am 27.8.1944 erschossen“ worden sei. Literatur: Hessenberger, Gescheiterte Grenzüberschreitungen; Hessenberger, Flucht über die Vorarlberger Gebirgsgrenze; Kasper, Montafon, 372-376 (Zitate); Kasper, Mord am Gafier-Joch. Vetter, Karl * 16. Jänner 1919 Meran † 16. November 1944 Vigljoch (Lana) □ Lana Karl Vetter, unehelicher Sohn der Bauerntochter Katharina Vetter aus Lana in der damaligen Provinz Bozen in Italien (Südtirol), entschied sich 1939 im Zuge der Option für eine Auswanderung ins Deutsche Reich. Im Jänner 1940 stellte der Hilfsarbeiter, beschäftigt in einer Marmeladefabrik, den entsprechenden Antrag und ersuchte um einen Arbeitsplatz in einer Fabrik in Nordtirol. Angeboten wurde ihm von der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle in Meran jedoch nur eine Stelle als landwirtschaftlicher Arbeiter im Kreis Kitzbühel. Am 26. April 1940 erhielt Karl Vetter die Einbürgerungsurkunde des Deutschen Reiches, blieb aber in Südtirol bis die Wehrmacht Anfang 1942 Nachschub für die Kriegsfronten benötigte. Anfang Februar wurde er zum Gebirgsjäger-Ersatz-Regiment 136 nach Landeck einberufen, kurz ausgebildet (er hatte bereits 15 Monate als Infanterist im italienischen Heer gedient) und in den Krieg geschickt. Im September 1943 war Karl Vetter Gefreiter im Gebirgsjäger-Regiment 85, das zu diesem Zeitpunkt an der Ostfront in der Nähe von Leningrad kämpfte und befand sich gerade auf einem Heimaturlaub, den er in Südtirol oder in Bregenz verbrachte, wie eine Mitteilung des Bürgermeisters von Bregenz an den Landrat des Kreises Bregenz vom 30. November 1943 festhielt. Doch nach Ablauf des Urlaubs am 14. September 1943 war Karl Vetter nicht mehr zu seiner Truppe zurückgekehrt. In seine Urlaubszeit fiel der Abschluss eines Waffenstillstands zwischen der neuen italienischen Regierung von Roberto Badoglio und den Alliierten und die Landung der alliierten Armeen am italienischen Festland in Salerno südlich von Neapel. Der Bürgermeister von Bregenz vermutete eine Flucht Vetters in die Schweiz. Ein Beamter des Landrats fügte Karl Vetter im „Verzeichnis der Fahnenflüchtigen, die nicht im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben“ hinzu. Sollte Karl Vetter tatsächlich in Bregenz gewesen sein, kehrte er an seinen Herkunftsort zurück, machte seine „Option“ gewissermaßen auf subversivem Weg rückgängig, und versteckte sich im weitläufigen Waldgebiet des Vigiljoch bei Lana. Dort wurde er „auf der Flucht“ erschossen. 232 Anhang - 55 Todesfälle <?page no="233"?> Quellen: VLA, LR Bregenz, PV 043/ 1/ 1, Schutzpolizei Bregenz an LR des Kreises Bregenz, 30.11.1943; Südtirols Opfergang, Liste der von den Nazisten verfolgten Burggräfler, Volksbote, 22.11.1945, 2; Pfarre Meran St. Nikolaus, Taufbuch 1905-1918, 286/ 9; TLA, DUS-Akt Karl Vetter, 217323. Literatur: Holzner, Zeugen des Widerstandes, 104. Anhang - 55 Todesfälle 233 <?page no="234"?> Amerlügen - Drei Schwestern. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="235"?> Bei Tisis, Feldkirch. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="237"?> 1 Geheime Staatspolizei Grenzpolizeiposten Feldkirch an Staatsanwaltschaft Feldkirch, 6.12.1940. Vorarl‐ berger Landesarchiv (VLA), Landesgericht Feldkirch (LGF), SLs 27/ 40. Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch Beschuldigte, Gerichtspersonal, Spruchpraxis, Handlungsspielräume und ein knapper transregionaler Vergleich Peter Pirker / Aaron Salzmann I. Einleitung Am Mittwoch, den 4. Dezember 1940 gegen 22 Uhr, hielten die Hilfszollassistenten Vonbun und Breuss in der Nähe der Ortschaft Fellengatter bei Feldkirch zwei junge Männer an. Etwa 800 Meter von der Grenze des Deutschen Reichs zu Liechtenstein entfernt, versuchten die beiden sich gerade an einer Wegkreuzung zu orientieren. Den Grenzbewachern erklärten die Burschen, bloß eine Bergtour auf die Drei Schwestern, einer Gipfelkette im nördlichen Rätikon, unternehmen zu wollen. Doch Vonbun und Breuss glaubten ihnen nicht und nahmen sie wegen Verdachts auf unerlaubten Grenzübertritt fest, eskortierten sie in das Gefangenenhaus Feldkirch und stellten sie dem Grenzpolizeiposten Feldkirch, einer Außenstelle der Geheimen Staatspolizei Innsbruck, zur Verfügung. Die Festgenommenen hießen Herbert Kleiser und Karl Steffek, waren 18 Jahre alt und stammten aus dem mehr als 600 Kilometer entfernten Wiener Arbeiterbezirk Favoriten. Kleiser war dort zuletzt als Kanzleikraft beschäftigt gewesen, Steffek hatte sich seinen Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter in einer Kupferschmiede und in einer Keramikfabrik verdient, bevor er 1940 in eine Maturaschule eingetreten war. Bereits am Tag nach der Festnahme vernahm sie ein Gestapobeamter. Sehr rasch gaben sie zu, „dass sie sich auf Umwegen nach Liechtenstein, bzw. nach der Schweiz begeben wollten, da sie für die Ableistung der Arbeitsdienstsowie der Wehrpflicht kein Interesse hätten.“ 1 Die Gestapo zeigte die beiden am 6. Dezember „wegen versuchten unerlaubten Grenzübertritts und vorsätzlicher Entziehung von der Arbeitsdienstbzw. Wehrpflicht“ bei der Staatsanwaltschaft Feldkirch an. Der Ermittlungsrichter führte eine weitere Vernehmung durch und verfasste darauf basierend die Anklageschrift. Beiden wurde das Verbrechen der „Wehrkraftzersetzung“ nach § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vorgeworfen. Einen Monat nach der Festnahme standen Kleiser und Steffek vor dem Sondergericht. Nach nur dreißig Minuten Verhandlung - einen Verteidiger gab es nicht - fällte der Richter, Landgerichtspräsident Heinrich Eccher, das Urteil. Die beiden Unbescholtenen erhielten wegen Vergehens gegen die Passstrafenverordnung und des Verbrechens der Zersetzung der Wehrkraft jeweils eine Strafe von acht Jahren Zuchthaus. Eccher begründete das Urteil unter anderem mit dem Kalkül der Angeklagten, <?page no="238"?> 2 Urteil, 9.1.1941. VLA, LGF, SLs 27/ 40. 3 Peter Pirker/ Aaron Salzmann, Wehrdienstentziehungen an der Reichsgrenze. Die Verfolgungspraxis des Sondergerichts Feldkirch im regionalen Vergleich, in: Kerstin von Lingen/ Peter Pirker (Hg.), Deserteure der Wehrmacht und der Waffen-SS. Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung, Paderborn 2023, 259-279. 4 Michael Wedekind, Expansion und regionale Herrschaftsbildung in der ‚Ostmark‘ am Beispiel des Gaues Tirol-Vorarlberg, in: Jürgen John et al. (Hg.), Die NS-Gaue: Regionale Mittlerinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“? , München u.-a. 2018, 386-394. „[…] dass sie ihren Plan wiederholt besprochen und verabredet hatten, Kleiser besaß auch eine Landkarte von Vorarlberg und beide hofften, in der Annahme, dass die Grenze nicht allzu stark bewacht sei, ohne Schwierigkeiten in das Ausland zu gelangen.“ 2 Kleiser war erst wenige Tage vor dem Fluchtversuch in Wien gemustert worden, Steffek hatte die Vorladung dazu gerade erst erhalten. Das Studium der Landkarte hatte sie überzeugt, in Vorarlberg einen Weg über die Berge nach Liechtenstein und weiter in die Schweiz finden zu können. Die Akten des Sondergerichts Feldkirch im Vorarlberger Landesarchiv spiegeln eine Reihe von (versuchten) Wehrdienstentziehungen von Zivilisten, wie jene von Steffek und Kleiser, und Hilfsleistungen von dritten Personen für desertierte Soldaten wider, wenngleich sie keineswegs das gesamte Geschehen von Entziehungen vor der Einberufung zur Wehrmacht oder Flucht aus der Wehrmacht in Vorarlberg abbilden. Neben Material für Fallrekonstruktionen und die Beantwortung der Frage, wer die Wehrdienstentzieher in Vorarlberg waren, bieten sie vor allem die Möglichkeit, Einblick darin zu gewinnen, wie Staatsanwälte und Richter des Landgerichts Feldkirch und der vorgesetzten Dienststelle, dem Oberlandesgericht Innsbruck, das Delikt der Wehrdienstentziehung bei Verfahren des Sondergerichts Feldkirch angewandt haben und ob es Differenzen und Spielräume innerhalb der Justiz gab. In diesem Beitrag erweitern und vertiefen wir einen bereits vorgelegten Artikel 3 , indem wir uns zusätzlich und auf Basis neuer Aktenfunde mit bislang nicht berücksichtigten Aspekten zu den verfolgten Personen und zur Praxis von Staatsanwälten, insbesondere von Oberstaatsanwalt Herbert Möller, und von Heinrich Eccher, dem einzigen vorsitzenden Richter des Sondergerichts, eingehender beschäftigen und mehrere Fälle schildern. Zu Beginn beschreiben wir die Grundzüge der Sondergerichtsbarkeit und die spezifischen Rahmenbedingungen des Sondergerichts Feldkirch im Reichsgau Tirol und Vorarlberg, die sich aus der Grenzlage Vorarlbergs zur Schweiz ergaben. Im Anschluss analysieren wir, was die überlieferten Akten über Beschuldigte, das Fluchtgeschehen und die Verfolgungspraxis des Sondergerichts auch über Handlungsspielräume der Beteiligten aussagen, um schließlich anhand eigener Forschungen und der Literatur zu den Sondergerichten Innsbruck und Bozen einige vergleichende Überlegungen mit Bezug zu Tirol und der Operationszone Alpenvorland anzustellen. Letztere wurde mit der deutschen Besetzung Norditaliens im September 1943 eingerichtet und umfasste die italienischen Provinzen Bozen, Trient (Trento) und Belluno. 4 II. Die Sonderjustiz des NS-Staates und das Sondergericht Feldkirch Die Sonderjustiz des NS-Staates verfolgte einen ähnlichen Zweck wie die 1933 wieder einge‐ führte und nach Kriegsbeginn 1939 radikalisierte Militärjustiz. Sie kann gewissermaßen als deren zivile Ergänzung gesehen werden, da sie komplementäre und verwandte Delikte wie 238 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="239"?> 5 Etwa Michael Hensle, Die Todesurteile des Sondergerichts Freiburg 1940-1945, München 1996; Oskar Vurgun, Die Staatsanwaltschaft beim Sondergericht Aachen, Berlin 2017; Konrad Graczyk, Ein anderes Gericht in Oberschlesien. Sondergericht Kattowitz 1939-1945, Tübingen 2021. 6 Martin Achrainer, Die Aufgabe der Justiz. Nationalsozialismus und Justiz in Österreich 1938 bis 1945 anhand der Akten des Oberlandesgerichts Innsbruck, Dipl. Arb., Universität Innsbruck 2001. Insbesondere zum SG Innsbruck: Martin Achrainer, „Standgerichte der Heimatfront“: Die Sondergerichte in Tirol und Vorarlberg, in: Rolf Steininger/ Sabine Pitscheider (Hg.), Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit, Innsbruck 2002, 111-130. Bezogen auf das Delikt „Heimtücke“: Roland Staudinger, Politische Justiz. Die Tiroler Sondergerichtsbarkeit im Dritten Reich am Beispiel des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat, Schwaz 1994. 7 Gerald Steinacher, „… verlangt das gesunde Volksempfinden die schwerste Strafe …“: Das Sondergericht für die Operationszone Alpenvorland 1943-1945. Ein Vorbericht, in: Klaus Eisterer (Hg.), Tirol zwischen Diktatur und Demokratie (1930-1950), Innsbruck 2002, 247-266; Kerstin von Lingen, Sondergericht Bozen: ‚Standgerichte der Besatzungsjustiz‘ gegen Südtiroler, 1943-1945, in: Geschichte und Region/ Storia e regione 24 (2015) 2, 75-94; Michael Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943-1945, München 2003, 301-304. 8 VLA, LGF, Verzeichnis der Verfahren KLs Sondergericht beim Landgericht Feldkirch 1939 bis 1945; Gernot Egger, Furchtbare Juristen, in: Kultur 3 (1988) 1, 17-18. Einzelne Fälle des Sondergerichts wurden in der Literatur ausführlich dargestellt, siehe besonders: Alfons Dür, Unerhörter Mut. Eine Liebe in der Zeit des Rassenwahns, Innsbruck 2012; Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945, Bregenz 1985, 129-131; Ingrid Böhler, Ein glamouröser Fall am Sondergericht Feldkirch, in: Lucile Dreidemy et al. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Band 1, Wien 2015, 230-242. Zuletzt zu einem zentralen Akteur des Sondergerichts Feldkirch: Gernot Kiermayr, „Ein derart eingestellter Charakter muss aus dem Kreise derer, denen die Rechtspflege nach objektiven Grundsätzen anvertraut ist, ausgeschlossen werden.“ Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg des Richters und Staatsanwalts Herbert Möller (1902-1981), in: Werner Bundschuh (Hg.), Menschenverächter. Vorarlberger als Akteure bei Entrechtung und Vernichtung im Nationalsozialismus, Bregenz 2022, 163-185. Einen knappen Einblick in Verfahren nach dem Heimtückegesetz bietet jüngst Daniel Heinzle, Das Heimtückegesetz und seine Anwendung beim Sondergericht Feldkirch von 1938 bis 1945, Masterarbeit, Johannes Kepler Universität Linz 2021. Wehrdienstentziehung und Beihilfe zur Fahnenflucht unter Zivilist*innen verfolgte. Wesen und Funktionsweise der Sondergerichtsbarkeit sind mittlerweile recht gut erforscht, auch zur Tätigkeit einzelner Gerichte liegen Studien vor. 5 Bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten untersuchte Martin Achrainer mit dem SG Innsbruck und dem SG Salzburg zwei der drei Sondergerichte des Oberlandesgerichtsbezirks Innsbruck. 6 Auch zum Sondergericht Bozen, das nach seiner Etablierung im Herbst 1943 ebenfalls dem Oberlandesgericht (OLG) Innsbruck zugeordnet war, liegen Arbeiten von Gerald Steinacher und Kerstin von Lingen vor. 7 Über das vierte Sondergericht im Bereich des OLG Innsbruck, Feldkirch, gab es bislang jedoch keine genauere Untersuchung, wenngleich Gernot Egger bereits 1988 zehn Todesurteile dokumentierte. Neun davon fällte Richter Heinrich Eccher auf Grundlage von Verordnungen des NS-Staats, in denen es nicht um die Bestrafung für ein konkretes Delikt, vielmehr um die Ausschaltung von definierten „Tätertypen“ ging („Volksschädling“, „Gewaltverbrecher“, „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“). Vier der Hingerichteten hatten ausschließlich Eigen‐ tumsdelikte begangen. Kein Todesurteil fällte Eccher wegen Wehrdienstentziehung. 8 Im Rahmen des Forschungsprojekts „Wehrmachtsdeserteure in Vorarlberg“ erfassten wir den vorhandenen Bestand an Verfahrensakten des Sondergerichts Feldkirch nach Beschul‐ digten und Delikten und analysierten die Fälle mit den Vorwürfen Wehrdienstentziehung und Beihilfe zur Fahnenflucht genauer. Auf dieser Grundlage ist es einerseits möglich, einen Einblick in Fluchten vor der Wehrpflicht bei den deutschen Streitkräften an der Grenze zur Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 239 <?page no="240"?> 9 Siehe dazu den Beitrag von Pirker in diesem Band. 10 Zit. n. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933-1945, Paderborn 2005, 73. 11 Wolfgang Form, Wehrkraftzersetzung: Die Verfolgung des „Inneren Feindes“. Die Wandlung eines rein militärischen Straftatbestandes zu einer der schärfsten Waffen der politischen Justiz, in: Peter Pirker/ Florian Wenninger (Hg.), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2011, 62-78, 61-62. 12 Albrecht Kirschner, Wehrkraftzersetzung, in: Wolfgang Form et al. (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938-1945, München 2006, 405-750, 437. 13 Siehe dazu Kirschner, Wehrkraftzersetzung, 448. Der Grund dafür dürfte laut Kirschner gewesen sein, dass dem Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS die Urteilspraxis der Sondergerichte bei entsprechenden Fällen der Wehrkraftzersetzung zu uneinheitlich und zu milde war. 14 Graczyk, Gericht, 33-34. Schweiz zu erhalten, andererseits werden anhand von Vergleichsmöglichkeiten mit den Sondergerichten Innsbruck und Bozen Spezifika sowohl der jeweiligen Sondergerichte als auch des Fluchtgeschehens erkennbar. Die Konsequenzen eines gescheiterten Fluchtversuchs an den von beiden Seiten stark bewachten Grenzen zur Schweiz und zu Liechtenstein 9 konnten für die Betroffenen dra‐ matisch sein. Den Polizei- und Justizapparaten stand ein breites Arsenal an Maßnahmen zur Bekämpfung von Fahnenflucht und Wehrdienstentziehung von Soldaten zur Verfügung. Zusätzlich zum deutschen Militärstrafgesetzbuch wurden im September 1939 die Kriegs‐ strafverfahrensordnung (KStVO) sowie die Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) erlassen. Im § 5 Abs. 1 KSSVO wurde die „Zersetzung der Wehrkraft“ als neues Delikt defi‐ niert. Die Reichskriegsanwaltschaft verstand darunter „die Störung oder Beeinträchtigung der totalen völkischen Einsatzbereitschaft zur Erringung des Endsieges in diesem Kriege“. 10 Es handelte sich um eindeutig von der nationalsozialistischen Ideologie durchtränktes „Recht“. Der Paragraf gliederte sich in drei Teiltatbestände: Unter Zahl 1 wurde jede Form der öffentlichen Wehrkraftzersetzung erfasst, unter Zahl 2 die Verleitung eines Soldaten oder Wehrpflichtigen zur Fahnenflucht oder unerlaubten Entfernung und unter Zahl 3 jegliche Form, sich oder einen anderen der Erfüllung des Wehrdienstes zu entziehen. Jede Ausprägung der Wehrkraftzersetzung wurde wie die Fahnenflucht (§ 6) mit der Todesstrafe als Regelstrafe belegt, nur in minder schweren Fällen konnten Richter Zuchthausstrafen von bis zu 15 Jahren oder Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren verfügen. 11 Die KSSVO war aber nicht nur ein Instrument der Militärgerichte, denn im Mai 1940 wurde sie auch für die Sonderjustiz der allgemeinen Justiz gegen Zivilist*innen anwendbar. 12 Der § 5 der KSSVO sollte gerade beim Sondergericht Feldkirch eine vergleichsweise wichtige Rolle spielen. Hinzuweisen ist noch darauf, dass für Strafsachen der KSSVO, denen ein im engeren Sinne politischer Charakter zugeschrieben wurde, etwa wenn öffentliche Bemerkungen gegen die deutsche Kriegsführung gerichtet oder als Verleitung zur Wehrdienstentziehung gewertet wurden, bis Juli 1942 das Reichskriegsgericht und danach der Volksgerichtshof zuständig war. 13 Auf der Ebene der Landgerichte wurden Sondergerichte per Erlass des Reichsjustizmi‐ nisters nach dem Angriff auf Polen im September 1939 eingerichtet, 1940 bestanden im Deutschen Reich bereits 55 derartige Tribunale, allein auf dem ehemaligen Staatsgebiet Österreichs waren es zehn. 14 In Feldkirch wurde der Senat für ein Sondergericht mit 240 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="241"?> 15 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Generalstaatsanwalt beim OLG Innsbruck, 20.9.1939. VLA, Landgericht Feldkirch (LGF), Justizverwaltung, Generalakten, 32E. 16 Achrainer, Standgerichte, 113. 17 Neben der KSSVO sind fünf weitere „Kriegsverordnungen“ zu nennen: Rundfunkverordnung, Kriegswirtschaftsverordnung, „Volksschädlingsverordnung“, Wehrkraftschutzverordnung und Ge‐ waltverbrecherverordnung. 18 Achrainer, Standgerichte, 114. 19 Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht an Oberstaatsanwalt in Feldkirch, 10.12.1939. VLA, LGF, Justizverwaltung, StA beim LG Feldkirch, Generalakten Materielles Strafrecht. 20 Ebd. 21 Ebd. Verfügung des OLG Innsbruck vom 18. September 1939 aufgestellt. 15 Eine Funktion der Sondergerichte war es, im Krieg für die Stabilität der sogenannten „Inneren Front“ bzw. der „Heimatfront“ zu sorgen. Es galt jede tatsächliche oder vermeintliche Schwächung der militärischen Schlagkraft der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu bekämpfen. 16 Aus der Sicht der NS-Justiz gehörte dazu auch ein radikales Vorgehen gegen bestimmte Formen von Kriminalität, die eine Schwächung der „Wehrkraft“ bedeuten würden. 17 Ein wesentliches Charakteristikum aller Sondergerichte war die gegenüber herkömmlichen Gerichten veränderte Verfahrenspraxis. Sie zeigte sich in der Machtfülle des Richters einer‐ seits und den rechtlichen Einschränkungen der Angeklagten andererseits. Diese konnten gegen ein Urteil kein ordentliches Rechtsmittel ergreifen, womit sie dem jeweiligen Richter gänzlich ausgeliefert waren. Das Strafmaß wurde vom Staatsanwalt beantragt. Als weisungsgebundene Behörde hatte die Staatsanwaltschaft dem Reichsjustizministerium ausführlich zu berichten, die Anklageschrift und die beantragte Strafe zur Genehmigung vorzulegen und den Weisungen der unmittelbar vorgesetzten Dienststelle zu folgen. Im Fall des Sondergerichts Feldkirch war dies die Generalstaatsanwaltschaft am OLG Innsbruck. 18 Bald nach der Einrichtung der Sondergerichte im Gerichtssprengel des OLG Innsbruck erhielt der Oberstaatsanwalt in Feldkirch ein Schreiben des Generalstaatsanwalts in Inns‐ bruck, Johann Moser, in dem dieser noch einmal die zentrale Funktion der Sondergerichte in Erinnerung rief, nämlich „der Kampf gegen das die innere Front des Volkes gefährdende Schwerverbrechertum, gegen den Kriegsschmarotzer und Kriegsausbeuter unnachsichtlich und mit Mitteln zu führen, die Dritte abzuschrecken geeignet sind und denjenigen, der die durch den Krieg bedingten ausserordentli‐ chen Verhältnissen für seine eigensüchtigen Zwecke missbraucht, als [unleserlich] und Saboteur unschädlich macht und, wenn erforderlich, ganz beseitigt.“ 19 Moser verlangte, „ein Klebenbleiben in der unteren Hälfte des Strafrahmens“ zu vermeiden und „der Höchstgrenze sich nähernde Strafen und, sachlich und rechtlich geboten, unbe‐ denklich auch Todesstrafen“ zu verhängen. 20 Unerwünscht waren zudem große Differenzen zwischen Strafanträgen des Staatsanwalts und Urteilsstrafen des Richters. Deshalb müsse die Staatsanwaltschaft im Vorfeld „mit den Richtern Fühlung nehmen, um die Erwirkung einer den oben dargelegten Grundsätzen und der Sach- und Rechtslage entsprechenden Strafe zu ermöglichen“. 21 Die Beziehung zwischen Staatsanwalt und Richter war damit auch auf dieser Ebene nicht mehr allein dem Prinzip der unabhängigen Würdigung der Strafsache und der Anklageschrift unterworfen, sondern die leitenden Justizbehörden drängten das Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 241 <?page no="242"?> 22 Sabine Pitscheider, Die Entnazifizierung des Oberlandesgerichtes Innsbruck nach 1945, in: Bundes‐ ministerium für Justiz (Hg.), Täter - Richter - Opfer. Tiroler und Vorarlberger Justiz unter dem Hakenkreuz, Wien 2016, 49-108, 87; Kiermayer, Ein derart eingestellter Charakter, 16. 23 Zit. n. Graczyk, Gericht, 29. 24 Anfang Mai 1911 wurde Heinrich von Eccher ab Echo und Marienberg zum Richter in Bregenz ernannt, vorher war er Auskultant des Oberlandesgerichtssprengels Innsbruck gewesen. 1918 wurde er Bezirksrichter für Bregenz, danach Landesgerichtsrat und Oberlandesgerichtsrat, 1933 Senatsvorsitzender am Landesgericht Feldkirch. Juristische Blätter (1911), 223; Juristische Blätter (1918), 276; Österreichische Richterzeitung 7/ 8 (1933), 165; Pitscheider, Entnazifizierung, 82; Dür, Mut, 110. 25 OLG Innsbruck, Sk-34, Erkenntnis der Sonderkommission, 27.4.1946. Die Autoren danken Sabine Pitscheider für eine Kopie des Dokuments. 26 Kirschner, Wehrkraftzersetzung, 419-423. 27 Graczyk, Gericht, 32. Gericht darauf, den politisch vorgegebenen Zweck zu erfüllen. Die weisungsgebundenen Staatsanwälte bei den Landgerichten waren mehr oder weniger offen dazu aufgerufen, wenn nötig, Druck auf die Richter auszuüben. In Feldkirch nahm von Ende 1939 bis Juni 1941 zunächst Herwig Sprung die Funktion des leitenden Staatsanwalts ein. Sprung, bereits im Jahr 1933 Mitglied der NS-Beamtenschaft Wien, war somit für die Anklageerhebung vor dem Sondergericht zuständig. Nach dessen Versetzung nach Innsbruck bekam diese Position der gebürtige Südtiroler Herbert Möller, der von 1932 bis 1938 Richter und Staatsanwalt in Wien und seit 1939 als einziger Österreicher Staatsanwalt beim Volksgerichtshof in Berlin gewesen war. Er war 1938 der NSDAP beigetreten und hatte sich karrieretechnisch rasch dem NS-Staat angedient. 22 Nach Vorermittlungen und Anzeigen der regionalen Gestapostellen sollten die Sonder‐ gerichte schnell und drakonisch urteilen, also keine langen Untersuchungen durchführen. Der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Roland Freisler nannte die Sondergerichte „Panzertruppe der Rechtspflege“ und forderte die Richter auf, „des Führers politischer Soldat auf dem Gebiet des Rechts zu sein.“ 23 Als Richter fungierten erfahrene Juristen, meist die Präsidenten des jeweiligen Landgerichts. Im Fall Feldkirchs handelte es sich um Heinrich Eccher, ebenfalls ein gebürtiger Südtiroler, der bereits seit 1911 überwiegend in Vorarlberg als Richter tätig gewesen war. 24 Seine frühe Mitgliedschaft bei der NSDAP im Jahr 1933 (bis zum Verbot im selben Jahr) und der Wiedereintritt 1938 brachten ihm 1939 den Posten des Präsidenten des Landgerichts Feldkirch ein. Ab Herbst 1943 fungierte er auch als Vorsitzender bei Verhandlungen des Sondergerichts Bozen. 25 Die Sondergerichte verfolgten ausschließlich Zivilist*innen wegen Wehrdienstentzie‐ hung. Dabei konnte es sich entweder um Wehrpflichtige handeln, die (noch) nicht im Wehrdienst standen, oder um Personen, die Wehrpflichtigen bzw. Soldaten die Flucht vor dem Dienst in der Wehrmacht nahegelegt und/ oder sie dabei in irgendeiner Form unterstützt hatten. Als Rechtsgrundlage wandten Sondergerichte im ehemaligen Österreich neben dem § 5 der KSSVO auch das Österreichische Strafgesetzbuch (ÖStGB), mit den nach wie vor in Kraft befindlichen Paragrafen § 220 (Begünstigung der Fahnenflucht), § 221 (Beihilfe zur Fahnenflucht) und § 222 (Verleitung oder Hilfeleistung zur Verletzung militärischer Dienstpflicht), an. 26 Relevant für unsere Untersuchung war außerdem die Verordnung zum Schutz des Reichsarbeitsdienstes (§ 4 Fahnenflucht, § 5 Dienstpflicht). Die örtliche Zuständigkeit der Sondergerichte war „breit und flexibel“. 27 Sie konnte auf dem 242 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="243"?> 28 VLA, LGF, Verzeichnis der Verfahren KLs Sondergericht Feldkirch 1939 bis 1945 (KLs-V). Die Liste enthält Angaben zur „konkreten Straftat“, der Besetzung des Gerichts, den angewandten Gesetzesbestimmungen, zu Strafrahmen, Strafantrag und zum Urteil. Wir danken Ulrich Nachbaur für die kurzfristige Zurverfügungstellung von Kopien. 29 Sie wurden offenbar in die Zählung der Reihe KLs eingegliedert. Dies würde unsere Hochrechnung hinsichtlich fehlender SLs-Akten, die wir an anderer Stelle publiziert haben, hinfällig machen. An der Aussage über einen vergleichsweise hohen Anteil von Gerichtsvorgängen zu Wehrdienstentzie‐ hungen am Sondergericht Feldkirch ändert sich nichts. Pirker/ Salzmann, Wehrdienstentziehungen an der Reichsgrenze. 30 Der Akt KLs 52/ 44 mit dem Verfahren gegen Franz Xaver Burtscher und fünf weitere wegen Begünstigung der Deserteure Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, Wehrkraftzersetzung und Nichtanzeige von Kriegsverrat Angeklagte galt als verschollen, wurde im Juli 2023 aber an einer entlegenen Stelle gefunden. Wir danken Ulrich Nachbaur für den Fund und die Zurverfügungstellung eines Digitalisats. Der Akt KLs 27/ 44 zum Strafverfahren gegen Josef Mennel und Rosa Fink wegen Wehrdienstentziehung ist im Akt des Landesgerichts Feldkirch mit der Zahl Vr 176/ 46 eingelegt. 31 Dür, Unerhörter Mut. Ort der Tatbegehung, dem Wohnort des Täters, dem Ort der Festnahme oder dem Ort der Inhaftierung beruhen - das eröffnete dem Gericht auch einigen Spielraum. Beispielsweise gab das Sondergericht Feldkirch mitunter Verfahren ab, selbst wenn andernorts bereits Straftaten zur Verhandlung anstanden. III. Die Akten des Sondergerichts Feldkirch zu Wehrdienstentziehung und Fahnenflucht Im Vorarlberger Landesarchiv befanden sich bei Abschluss der Arbeiten zu diesem Beitrag 937 Verfahrensakten des Sondergerichts Feldkirch, laut den eingetragenen Aktenzeichen müsste es ursprünglich 1.562 Verfahrensakten gegeben haben. Demnach fehlten in dem bearbeiteten Bestand circa vierzig Prozent der ursprünglich angelegten Akten. Von den Akten, die den Reihen „KMs“ und „SMs“ mit leichteren Vergehen zugeordnet waren, sind 77-Prozent der Fälle überliefert (109). Ein jüngst aufgefundenes Verzeichnis von schweren Straftatbeständen der Reihe „KLs“, das vermutlich im Jahr 1945 nach der Befreiung angelegt wurde, listet 237 Verfahren auf. 28 Eine Überprüfung ergab, dass hier auch Strafsachen mit Verbrechen enthalten sind, die in den Jahren 1940 bis 1942 mit „SLs“-Aktenzahlen versehen worden waren und die in diesem Beitrag auch mit diesem Kürzel zitiert werden. 29 Von den 237 verzeichneten KLs-Akten waren im entsprechenden Bestand des Vorarlberger Landesarchivs 205 vorhanden. Zwei weitere KLs-Akten wurden an anderen Orten im Archiv gefunden. 30 Insgesamt gingen in unsere Auswertung somit 207 Akten mit schweren Straftatbeständen (88 Prozent) ein. Ein Teil der fehlenden KLs-Akten, insbesondere jene elf mit Todesurteilen, waren bei Abschluss unseres Projekts noch beim Landesgericht Feldkirch verwahrt. Sie enthalten keine Strafsachen zu Entziehungsdelikten. Mindestens ein weiterer Untersuchungs- und Verhandlungsakt, jener zu den Beteiligten am Ausbruch von Heinrich Heinen, der wegen Rassenschande und Wehrdienstentziehung zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden war, befand sich ebenfalls noch in Verwahrung des Landesgerichts. Dieser Fall wurde allerdings bereits gründlich aufgearbeitet und konnte zudem über Splitter in anderen Akten rekonstruiert werden. 31 Einige wenige der 1945 verzeichneten Akten galten bereits damals als nicht mehr vorhanden, nur einer betraf das Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 243 <?page no="244"?> 32 LGF KLs 56/ 44, Beschuldigter Franz Schwarzgruber. VLA, KLs-V. Dieser Fall eines Schuldspruches wegen Wehrdienstentziehung und eines Passvergehens mit einer Strafe im Ausmaß von einem Jahr Gefängnis war uns bislang unbekannt und konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden. 33 LGF KLs 16/ 41 (in anderen Akten als Js 16/ 41 zitiert), Beschuldigter Gerhard Heinz Grossmann. Dieser Fall eines Schuldspruchs wegen Wehrdienstentziehung und Passvergehen ging zum Teil in die Auswertung ein, da er durch ein Zitat in einem anderen Akt bekannt war. Bislang unbekannt war der Strafantrag von sechs Jahren Zuchthaus und die Strafe von vier Jahren Zuchthaus. VLA, KLs-V. 34 Dazu sind im VLA 67 Akten vorhanden, die noch kaum systematisch analysiert wurden, was ein Forschungsdesiderat darstellt, das im Rahmen von Masterarbeiten für das Studium der Geschichte behoben werden sollte. 35 Demnach war - wie auch beim Sondergericht Innsbruck - in diesem Segment mit 103 Fällen ein Vergehen gegen das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei das häufigste verur‐ teilte Delikt. Siehe Ulrich Nachbaur, Österreich als Opfer Hitlerdeutschlands. Das Rot-Weiß-Rot- Buch 1946 und die unveröffentlichten Vorarlberger Beiträge, Regensburg 2009, 314-315; Heinzle, Heimtückegesetz. Delikt Wehrdienstentziehung. 32 Wo der Rest von etwa zwanzig Akten verblieb, konnten wir nicht klären - es befindet sich auch hier nur ein Fall von Wehrdienstentziehung darunter, den wir in der Auswertung ebenfalls nicht mehr berücksichtigen konnten. 33 Der größte Teilbestand der Sondergerichtsakten im Vorarlberger Landesarchiv mit dem Kürzel „Js“ beinhaltet ausschließlich Vorverfahren ohne Anklageerhebung. Sie waren in den meisten Fällen eingestellt, an andere Gerichte abgetreten oder wegen Flucht der Beschuldigten bzw. aufgrund des Kriegsendes nicht weitergeführt worden. Hier sind, gemessen an den ursprünglichen Aktenzahlen, noch 55 Prozent vorhanden, allerdings konnten wir nicht überprüfen, wie viele mit der Eröffnung eines Hauptverfahrens in Ls- oder Ms-Akten verwandelt wurden. Vor diesem Hintergrund lässt sich nur sagen, dass jene Akten des Sondergerichts Feldkirch, die Gerichtsverfahren mit Anklagen und Urteilen abbilden, zu einem sehr großen Teil (77 Prozent bei Vergehen, 92 Prozent bei Verbrechen) überliefert sind. Der Abgleich des genannten Verzeichnisses mit unseren Erhebungen ergab, dass die Akten der für unser Erkenntnisinteresse relevanten verhandelten Strafsachen fast vollständig vorhanden sind. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Analyse von Strafsachen mit dem Vorwurf der Wehrdienstentziehung, die entweder nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 KSSVO oder nach den oben zitierten Strafbestimmungen des ÖStG verfolgt wurden. Ergänzend hinzugenommen wurden einige wenige Strafsachen wegen „Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbin‐ dung“ (§ 3 WehrkraftschutzVO), bei denen Anklage erfolgte, sowie einzelne Vorwürfe von Hoch- und Landesverrat, Gewaltverbrechen und Passvergehen, die in Zusammenhang mit Entziehungen aus der Wehrmacht standen, aber ohne Prozess blieben. Strafsachen wegen öffentlicher Wehrkraftzersetzung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 KSSVO) haben wir nicht berücksichtigt, da es sich nicht um ein Entziehungsdelikte im engeren Sinn handelt. 34 Die Frage, welche Bedeutung die Ahndung von Entziehungsdelikten für das Sonderge‐ richt Feldkirch hatte, lässt sich vor der oben skizzierten Aktenlage gut beantworten: Der Anteil von Strafsachen mit Bezug zu Wehrdienstentziehungen an den KLsbzw. SLs- Akten macht in etwa zwanzig Prozent aus. Eine Aufstellung von „Verurteilungen wegen politischen Vergehen“ durch das Sondergericht Feldkirch aus dem Jahr 1946 beziffert die Entziehungsdelikte mit 57, was unter den in dieser Quelle als im engeren Sinne als politisch kategorisierten Delikten sogar einen Anteil von 28 Prozent ausmacht. 35 Bereits hier wird 244 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="245"?> 36 Hensle, Todesurteile, 32. Auch beim Sondergericht Aachen war der Anteil von Strafsachen nach § 5 Abs.-1 Nr.-3 KSSVO äußerst gering. Vurgun, Staatsanwaltschaft, 482. 37 Nur einer von ihnen, Paul Schwetling, war bereits einberufen worden - sein Fall wurde wegen einem größeren Handlungszusammenhang vom zuständigen Militärgericht dem Sondergericht Feldkirch überlassen. Siehe zu Paul Schwetling in diesem Buch S.-229-230. 38 Es handelte sich überwiegend um bereits einberufene Wehrpflichtige oder Personen, bei denen die Ermittlungen ergaben, dass sie fahnenflüchtige Soldaten waren. 39 Als größte Gruppe von Beschuldigten sind hier die Familienangehörigen und Unterstützer*innen der Deserteure Tobias Studer und Jakob Domig aus Sonntag im Großen Walsertal zu nennen (VLA, LGF Js 52/ 45). die Spezifik des Sondergerichts Feldkirch deutlich, denn selbst im Sondergerichtsbezirk Freiburg im Breisgau, der ebenfalls an die Schweiz grenzte, spielten Delikte der Wehrdienst‐ entziehung offenbar nur eine verschwindende Rolle. 36 Insgesamt standen uns 133 Fälle mit 179 Beschuldigten für die Analyse zur Verfügung. Den 59 relevanten Hauptverfahrensakten ist zu entnehmen, dass gegen 76 Personen schließlich Anklagen erhoben wurden, bei 69 von ihnen folgte ein Urteil, das in fast allen Fällen „schuldig“ lautete. 37 Bei fünf Angeklagten kam es durch den Einmarsch der französischen Truppen Anfang Mai 1945 zu keiner Hauptverhandlung mehr (Tabelle 1). Jahr Akten Beschul‐ digte Einstellung | Abtretung Flucht | Kriegsende Unklar Anklage Urteil 1940 19 23 9 (39,1 %) 1 - 13 13 1941 29 33 19 (57,6 %) 1 - 11 11 1942 22 27 14 (51,8 %) - 3 12 12 1943 30 36 16 (44,4 %) 4 4 12 12 1944 20 33 9 (27,3 %) 3 2 19 17 1945 13 27 4 (14,8 %) 14 - 9 4 Gesamt 133 179 71 (39,7 %) 23 9 76 69 Tab. 1: Verläufe der eruierten Verfahren des SG Feldkirch zu Wehrdienstentziehung, Fahnenflucht, verwandten Delikten und einschlägigen Hilfsdelikten. Für insgesamt 103 Beschuldigte (58 Prozent) endete das Vorverfahren in Feldkirch ohne Anklage: Bei 71 Personen (knapp 40 Prozent) erfolgte die Einstellung (36 Personen, 20 Prozent) oder die Abtretung an andere Gerichte (35 Personen, 20 Prozent) 38 ; 23 kamen nicht vor Gericht, weil sie sich einem möglichen Hauptverfahren durch Flucht (9) entzogen oder dies das Kriegsende vereitelte (14 39 ). Drei Beschuldigte wurden der Gestapo übergeben und in weiteren sechs Fällen unterblieb die Anklage aus ungeklärten Gründen. Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 245 <?page no="246"?> IV. Beschuldigte in den Akten des Sondergerichts Feldkirch Im Folgenden werden einige Merkmale der in den einschlägigen Akten des Sondergerichts Feldkirch behandelten Menschen herausgearbeitet. Die These, wonach überwiegend nicht in Vorarlberg Ansässige wegen Wehrdienstentziehungsdelikten ins Visier des Sonderge‐ richts Feldkirch gerieten, bestätigt sich eindrucksvoll. Herkunft (Wohnort) 1940 1941 1942 1943 1944 1945 Gesamt Vorarlberg 10 6 4 5 11 16 52 Tirol - - - - 1 1 2 Kärnten 1 - - - - - 1 Wien 2 2 4 1 - - 9 Niederdonau - - 1 3 - - 4 Oberdonau - - 2 - - - 2 Salzburg - - - 2 - - 2 Steiermark - - - 1 - - 1 ∑ DR Alpenu. Donaugaue (ohne Vorarlberg) 3 2 7 7 1 1 21 Preußen 3 7 10 7 4 5 36 Bayern 3 7 3 4 5 1 23 Sachsen 1 1 1 4 1 2 10 Württemberg - 4 - 2 - - 6 Baden 1 - 1 - 1 - 3 Hamburg - - - - 2 - 2 Mecklenburg - - - 1 - 1 2 Thüringen - - 1 1 - - 2 ∑ DR andere Länder 8 19 16 19 13 9 84 Sudetenland 1 1 - - - - 2 Reichsgau Wartheland - 1 - - - - 1 Reichprotektorat - - - 2 - - 2 Niederlande - 1 - - - - 1 Liechtenstein - - - 1 - - 1 246 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="247"?> 40 Angeklagt waren Martin Thaler (St. Anton im Montafon), Josef Berndorfer (Bartholomäberg), Maria Wegeler (Dornbirn) und Johann Brotzge (Dornbirn). VLA, LGF KLs 18/ 40. 41 Verurteilt wurden Delphina Burtscher, Hermine Gassner, Paula Rützler (geb. Burtscher), Benjamin Bischof, Franz Xaver Burtscher (alle Sonntag) und Juliane Stemmer (geb. Burtscher). VLA, LGF KLs 52/ 44, Js 175/ 44. 42 Ermittelt wurde im Vorverfahren u. a. gegen Johann Studer, Franz Josef, Hedwig, Anna, Arnold und Alois Domig, Gottlieb Burtscher, Bernhard Bickel, Frieda und Josef Dobler (alle aus Sonntag bzw. St. Gerold). VLA, LGF KLs 53/ 45. ∑ Herkunft bekannt 22 30 27 34 25 26 164 Unklar/ unstet 1 3 - 2 8 1 15 Gesamt 23 33 27 36 33 27 179 Anteil Vorarlberg an ∑ Her‐ kunft bekannt 45 % 20 % 15 % 15 % 44 % 62 % 32 % Tab. 2: Beschuldigte des SG Feldkirch mit Bezug zu Wehrdienstentziehung nach Herkunft (DR = Deutsches Reich). Nur ein Drittel, deren Herkunft feststellbar war (164), lebte in Vorarlberg (52). Die große Mehrheit (105) stammte aus Preußen (36), Bayern (23), Sachsen (10), Württemberg (6) und anderen Ländern des „Altreichs“ (9) sowie dem übrigen ehemaligen Österreich (21). Die Prozentwerte für Vorarlberg zeigen indessen in den Jahren 1940, 1944 und 1945 einen deutlich höheren Anteil Einheimischer als in den Jahren 1941 bis 1943. Ursache dafür bildeten einzelne umfangreichere Verfahren: Im Jahr 1940 etwa führte die Gestapo Ermittlungen gegen eine größere Gruppe von Vorarlberger*innen wegen Zugehörigkeit zu einer „wehrfeindlichen Verbindung“ (Internationale Bibelforscher-Vereinigung, IBV) durch, wobei der Prozess gegen vier Angeklagte mit Freisprüchen endete. 40 Im Jahr 1944 wurden - wie bereits erwähnt - sechs Angehörige bzw. Unterstützer*innen der Deserteure Wilhelm und Leonhard Burtscher sowie Martin Lorenz aus dem Großen Walsertal wegen Begünstigung und Nichtanzeige von Fahnenflüchtigen angeklagt und zu Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen verurteilt. 41 Im Jahr 1945 führten die Gestapo und das LG Feldkirch Ermittlungen zu den ebenfalls bereits erwähnten Angehörigen und Unterstützer*innen der Deserteure Tobias Studer und Jakob Domig durch. 42 Die meisten Festgenommenen waren unterwegs in die Schweiz (bzw. in das auf dem Weg dorthin liegende Liechtenstein). Das verraten die Orte der Festnahmen. Von den 164 zuor‐ denbaren Fällen von Aufgriffen und Festnahmen spielten sich die meisten in grenznahen Städten bzw. Gemeinden, ausgestattet mit guten überregionalen Verkehrsanbindungen, oder deren Umgebung ab. In den Ortsteilen von Feldkirch und den umliegenden Gemeinden wurden 38 Prozent (63 Personen) festgenommen, in Bregenz und Umgebung 18 Prozent (30 Personen), in Lustenau elf Prozent (18 Personen). Auffallend wenig Festnahmen gab es im Bereich des Alten Rheins bei Hohenems (6), was darauf hindeuten könnte, dass das Gebiet schwerer zu bewachen bzw. durchlässiger war. Auch für gescheiterte Fluchten an der Gebirgsgrenze in der Umgebung von Bludenz (5) und im Montafon (4) finden sich in den überlieferten Akten des Sondergerichts nur wenige Fälle. Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 247 <?page no="248"?> Wird die Altersverteilung jener Beschuldigten, von denen wir das Geburtsjahr kennen, betrachtet, stellen wir fest, dass 35 Prozent erst 16 bis 20 Jahre alt waren. Zum Vergleich: Die Gruppe der 21bis 35-Jährigen kam bei dreimal so vielen Jahrgängen auf den gleichen Anteil. 24 Prozent waren zwischen 36 und 50 Jahre, der Rest über 51 Jahre alt. Zu betonen ist, dass 1941 und 1942 sogar die Mehrheit jünger als 21 war. Bis 1943 blieb die absolute Zahl der in die Gruppe der Jüngsten Fallenden zwischen elf bis 15 pro Jahr. Danach sind nur mehr Einzelfälle registriert, dafür wurden häufiger als zuvor ältere Männer, die noch nicht einberufen worden waren oder sich noch in Uk-Stellung befanden, beschuldigt, sich dem Wehrdienst entziehen zu wollen. Vorwürfe 1940 1941 1942 1943 1944 1945 Ge‐ samt Wehrdienstentziehung § 5,1,3 KSSVO 18 31 22 26 12 8 117 Eigenmächtiges Verlassen der Einheit - - - - - 1 1 Fahnenflucht - - 1 1 2 - 4 Entziehung RAD § 4 VO Schutz des RAD - - - 3 - - 3 Flucht aus RAD - - - 1 - - 1 Summe Fälle eigene Entziehung 18 31 23 31 14 9 126 Wehrdienstentziehung § 5,1,3 und § 4 KSSVO - - 3 2 7 1 13 Begünstigung Fahnenflucht § 220 ÖStG - - - - 3 15 18 Begünstigung Hilfe Fahnenflucht §§ 220, 222 ÖStG - 1 - - 3 - 4 Beihilfe Fahnenflucht § 49 RStG/ § 69 MStG - - - 2 - 2 4 Nichtanzeige Fahnenflucht § 139 RStGB - - - - 1 - 1 Summe Fälle Entziehung anderer - 1 3 4 14 18 40 Wehrfeindliche Verbindung § 3 VO SchdWK 4 1 - - - - 5 Hochverrat - - - - 1 - 1 Landesverrat § 91 ÖSTGB 1 - - - - - 1 Mordversuch (Grenze) - - - - 2 - 2 Gewaltverbrechen (Deserteure) - - - - 2 - 2 Passvergehen - - 1 1 - - 2 Summe andere relevante Fälle 5 1 1 1 5 - 13 Gesamt 23 33 27 36 33 27 179 Tab. 3: Vorgeworfene Delikte mit Bezug zu Wehrdienstentziehungen. 248 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="249"?> Das niedrige Alter korrespondiert mit der Struktur der vorgeworfenen Straftaten (Tabelle 3). 71 Prozent der Beschuldigten wurde eine eigene Entziehung aus der Wehr- oder Dienstpflicht in der Wehrmacht oder im Reichsarbeitsdienst vorgeworfen. Es mag daher wenig überraschen, dass das Sondergericht Feldkirch vor allem gegen Männer (151 bzw. 84 %) ermitteln ließ und Verfahren durchführte. Die meisten von ihnen waren ledig. Bei Entziehung oder Desertion unterstützenden Delikten (Begünstigung, direkte Hilfeleistung, Nichtanzeigen), die aber nur knapp zwanzig Prozent aller ausge‐ werteten Entziehungsdelikte ausmachten, betrug die Zahl der Beschuldigten 40, davon waren allerdings 24 weiblich. Soweit die soziale Lage feststellbar war, handelte es sich bei den Männern zu 71 Prozent um Arbeiter und Hilfsarbeiter, während bei den Frauen 67 Prozent im Hausverband ihrer Herkunftsfamilie tätig und 33 Prozent Arbeiterinnen oder Hausgehilfinnen waren. Insgesamt betrachtet waren somit junge, ledige Männer aus der Arbeiterklasse von außerhalb Vorarlbergs, denen Wehrdienstentziehung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 vorgeworfen wurde, die weitaus größte Gruppe unter den Beschuldigten. Sieht man sich den Zeitverlauf an (Grafik 1), trat dieses dominante soziale Profil am stärksten in den Jahren 1940 bis 1943 auf. Grafik 1: Häufigkeit von Deliktgruppen im Zeitverlauf zwischen 1940 und 1945. Die Ergebnisse der empirischen Forschung bestätigen den Befund, den Eccher im Mai 1942 in einem - wie Martin Achrainer formulierte - „äußerst ungewöhnlichen Brief “ an den Präsidenten des Oberlandesgerichtes Innsbruck, Oskar Stritzl, stellte, wonach „das Sondergericht Feldkirch infolge seiner Lage insbesondere Jugendliche zu verhandeln hat, Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 249 <?page no="250"?> 43 Eccher an den Präsidenten des OLG Innsbruck, 25.8.1942. Tiroler Landesarchiv (TLA), OLG Inns‐ bruck, General- und Sammelakten, Zl. 41E-81, zit. n. Achrainer, Standgerichte, 122. 44 Ebd. 45 NSDAP Gauleitung Tirol-Vorarlberg, Hauptamt für Volkswohlfahrt an den Generalstaatsanwalt Dr. Köllinger, LG Innsbruck, 17.4.1944. TLA, LGI, OLG General- und Sammelakten, 441 E-JA. 46 Generalstaatsanwalt an Oberamtsrichter in Dornbirn, 8.7.1944. TLA, LGI, OLG General- und Sammelakten, 441 E-JA. die in ihrer Gedankenlosigkeit und Unreife und ohne die schweren Folgen zu überlegen, über die Grenze in die Schweiz usw. zu gelangen suchen […]“. 43 Eccher schrieb Stritzl, den er als etwa gleichaltrigen Juristenkollegen wahrscheinlich seit vielen Jahren kannte, es sei für ihn „betrübend, die Jugendlichen abzuurteilen und ihnen dadurch das spätere Fortkommen zumindest stark zu erschweren“. Die Staatsanwaltschaft Feldkirch würde versuchen, „wenn nur irgendwie möglich, von einer Anklage Abstand zu nehmen“. Er regte zudem an, vom Justizministerium eine spezielle Weisung für das SG Feldkirch zu erwirken, „die die schwere Beeinträchtigung des Fortkommens der Jugendlichen mildert und für die weitere Zukunft richtungsgebend sein kann.“ 44 Eine entsprechende Anordnung konnten wir in den Akten nicht finden. Ein Schreiben des Hauptamts für Volkswohlfahrt der NSDAP, Gauleitung Tirol-Vorarlberg, vom April 1944 weist aber auf eine zumindest teilweise geänderte Umgangsweise mit Jugendlichen hin, die im Kreis Bregenz versuchten, illegal in die Schweiz zu gelangen: „Es kommt immer wieder vor, daß Minderjährige, die im Alter von 14 bis 18 Jahren, meist aus den Gauen des Altreichs aus irgendeinem Grund versuchen, im Kreisgebiet Bregenz über die Schweizer Grenze in das Ausland zu entkommen. Hierbei handelt es sich weniger um Fahnenflüchtige als vielmehr um Jugendliche, die aus einer gewissen Abenteuerlust oder aus Angst vor Strafe wegen einer vorher begangenen Tat diesen Weg einschlagen.“ 45 In den Monaten zuvor hatte die Polizei diese Jugendlichen - die Zahl wurde mit zwei bis drei Fällen pro Monat angegeben - in einem Raum des Waisenhauses Bregenz untergebracht, bevor sie „in die zuständigen Haftanstalten bzw. in ihren Heimatort zurückgebracht werden können“. Da das Waisenhaus in einen Kindergarten umgebaut wurde, erfolgte die Unterbringung bis zu ihrer Überstellung nun in einer Zelle des Jugendarrests Dorn‐ birn. 46 Der deutliche Rückgang der Zahl von Wehrdienstentziehungsdelikten im Jahr 1944 dürfte mit der nun offenbar gepflogenen raschen Rückführung von Jugendlichen an ihre Herkunftsorte zusammenhängen. V. Die Spruchpraxis des Sondergerichts Feldkirch zu Wehrdienstentziehungen bis 1944 Die Analyse der Tätigkeit des Sondergerichts Feldkirch bis Ende 1942 zeigt indessen einen durchaus ambivalenten Umgang mit dem von Eccher beschriebenen Phänomen. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, trifft einerseits zu, dass die Staatsanwaltschaft Feldkirch einen beträchtlichen Anteil der aufgenommenen Voruntersuchungen einstellte oder an andere Gerichte abgab (1940: 39 Prozent; 1941: 58 Prozent). Auch bei den Fällen von 1942 und 1943 blieb diese Quote hoch; 1944 sank sie jedoch auf 27 Prozent, vor allem weil sich die 250 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="251"?> 47 VLA, LGF SLs 21/ 40. Deliktstruktur änderte. Andererseits urteilte Eccher in den Fällen, die zur Anklage gebracht wurden, hart (Tabelle 4): Von den 31 bekannten Urteilen bis Ende 1942 mündeten mehr als die Hälfte (18 bzw. 58 Prozent) in mehrjährige Zuchthausstrafen von zwei bis 15 Jahren, fünf (16 Prozent) lauteten auf zwei bis drei Jahre Gefängnis, bei sechs Angeklagten (19 Prozent) entschied er auf eine Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr, zwei sprach er frei. Urteile Delikt Wehr‐ dienstentziehung (ei‐ gene) 1940 1941 1942 1943 1944 1945 Gesamt Freispruch - 1 1 1 - - 3 Gefängnis bis 1 Jahr 2 1 3 2 - 2 10 Gefängnis 1-2 Jahre - 1 2 3 5 1 12 Gefängnis 2-3 Jahre - - 2 - 1 - 3 Zuchthaus bis 1 Jahr - - - - - 1 1 Zuchthaus 1-2 Jahre 4 - 1 1 - 1 7 Zuchthaus 2-3 Jahre - 2 3 - - - 5 Zuchthaus 3-4 Jahre - - - 2 - - 2 Zuchthaus 4-10 Jahre - 5 1 - 2 - 8 Zuchthaus 10-15 Jahre - 2 - - - - 2 Gesamt 6 12 13 9 8 5 53 Tab. 4: Urteile des Sondergerichts Feldkirch zum Delikt Wehrdienstentziehung. Der graue Bereich zeigt die 18 strengen Urteile bis Ende 1942. Bei der Strafbeantragung und bei der Strafbemessung hatten die Staatsanwälte und der Vorsitzende des Sondergerichts einigen Ermessensspielraum, selbst wenn es - wie eingangs bereits gezeigt - klare politische Zielformulierungen und Erwartungen des Reichsjustizministeriums gab. Zwischen den Juristen des Landgerichts Feldkirch, die für die Anklageerhebungen und die Hauptverhandlungen vor dem Sondergericht Feldkirch zuständig waren, und den Juristen des Reichsjustizministeriums bzw. der Generalstaatsan‐ waltschaft am Oberlandesgericht Innsbruck, welche die Kontrollinstanz bildeten, konnte es bei Strafsachen zu Wehrdienstentziehung mitunter zu mehr oder weniger deutlichen Auffassungsunterschieden kommen. Dies kann an einigen Fällen gezeigt werden. Der 19-jährige Paul Böhm, Metzgergeselle aus Hainbach in Oberhessen, wurde am 18. September 1940 in Höchst am Rhein von einem Zollbeamten aufgegriffen. 47 Da er einen Wehrpass bei sich hatte, bestand der Verdacht der Wehrdienstentziehung. Die Ermittlungen ergaben, dass er seinen Arbeitsplatz unerlaubt verlassen und in Tirol zweimal versucht hatte, nach Italien zu gelangen, von italienischen Zöllnern aber zurückgeschoben worden Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 251 <?page no="252"?> 48 Siehe die Darstellung zu Franz Fischer auf Seite 210. 49 Urteil, 27.11.1941. VLA, LGF SLs 6/ 41. war. Als er in Höchst in die Fänge der Behörden geriet, befand er sich bereits seit zwei Monaten überwiegend zu Fuß auf seiner illegalen Reise, wobei er sich das Überleben zum Teil mit kleineren Diebstählen gesichert hatte. Bei den Einvernahmen gab er an, sich freiwillig zur Panzertruppe der Wehrmacht gemeldet zu haben, aber nicht eingezogen worden zu sein, weil sein Arbeitgeber ihn habe unabkömmlich stellen lassen. Deshalb habe er sich auf den Weg gemacht, um sich bei den italienischen Kolonialtruppen in Afrika zu melden. Offen blieb die Frage, warum er zuletzt den Weg in die Schweiz gesucht hatte. Der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Feldkirch legte dem Reichsjustizministerium die Anklage wegen Wehrdienstentziehung in einem minderschweren Fall vor, mit einem Strafantrag von eineinhalb Jahren Zuchthaus. Das Reichsjustizministerium forderte eine genaue Klärung, ob die Behauptung Böhms, er habe sich den italienischen Truppen anschließen wollen, widerlegt werden könne. Wenn nicht, sei eine Strafe von zwei Jahren Zuchthaus ausreichend. Andernfalls sei jedoch die Todesstrafe zu erwägen, weil es sich dann um keinen minderschweren Fall handle. Der leitende Staatsanwalt Herwig Sprung hielt sich an ersteres. Er argumentierte in der Anklageschrift, die Darstellung Böhms sei nicht zu widerlegen und beantragte eine Zuchthausstrafe von 18 Monaten. Auch Richter Eccher hielt Böhms Rechtfertigung für glaubwürdig und sprach bei der Verhandlung am 8. November 1940 eine Strafe von 13 Monaten Zuchthaus aus. Das Urteil hielt bei der Überprüfung durch die übergeordneten Instanzen. Am 9. Jänner 1941 verurteilte Eccher den unbescholtenen 19-jährigen Sägearbeiter Franz Fischer aus dem Sudetenland wegen Wehrdienstentziehung zu einer drastischen Strafe von zwölf Jahren Zuchthaus. 48 Fischer hatte in seiner Heimat Bransdorf (Brantice) einen als schwer eingestuften Diebstahl begangen, um sich kurz vor seiner Einberufung damit die Flucht über Wien, Innsbruck und Feldkirch in die Schweiz zu finanzieren. Trotz dieser harten Strafe legte der Reichsstaatsanwalt Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil ein. Im August 1941 hob das Reichsgericht das Urteil sowohl hinsichtlich des Strafausmaßes als auch der zugrundeliegenden Feststellungen auf. Bei der Neuverhandlung im November 1941 beantragte Sprungs Nachfolger Oberstaatsanwalt Herbert Möller - einem Erlass des Reichsjustizministeriums entsprechend - die Todesstrafe. Eccher beharrte jedoch darauf, dass es sich um einen minderschweren Fall handle, erhöhte das Strafausmaß aber auf die höchstmögliche Zuchthausstrafe von 15 Jahren. Gegen die Todesstrafe argumentierte er mit den „ungünstigen Familienverhältnissen“, in denen Fischer erzogen worden sei, und mit der deutschfeindlichen Stimmung in der ehemaligen Tschechoslowakei. 49 Ebenfalls am 9. Jänner 1941 verhandelte Eccher den eingangs geschilderten Fall Kleiser und Steffek. Der Staatsanwalt forderte jeweils zehn Jahre Zuchthaus. Eccher sprach Strafen von jeweils acht Jahren Zuchthaus aus und begründete seine Entscheidung ähnlich wie im Fall Fischer: „Die Verhandlung ergab einerseits, dass sie sich ihres strafbaren Vorgehens bewusst waren, sich aber andererseits in ihrem jugendl. Leichtsinn der Schwere und der Folgen ihrer Handlungen nicht ganz im Klaren waren, ein sittlicher Ernst, eine Charakterfestigkeit, eine jugendliche Begeisterung 252 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="253"?> 50 Urteil, 9.1.1941, VLA, LGF SLs 27/ 40. 51 Siehe die Darstellung zu Eduard Roth auf Seite 227. 52 Zit. n. Dür, Unerhörter Mut, 117-119. für die Heldentaten der Wehrmacht, für das neue Reich traten bei den Angeklagten nicht in Erscheinung.“ Er machte jedoch nicht so sehr die Angeklagten dafür verantwortlich, als wiederum ihr soziales Umfeld: Sie hatten bereits vor dem „Anschluss“ die Schule verlassen, waren in keiner NS-Organisation Mitglied gewesen, außerdem lebten sie „in Wien […], wo bis zum Umbruch in den Kreisen der Arbeiter und kleinen Angestellten der Hass gegen den Nationalsozialismus und gegen Grossdeutschland gepflegt wurde.“ 50 Gegen dieses Urteil gab es keine Nichtigkeitsbeschwerde. Am 11. Dezember 1940 scheiterte in Tosters bei Feldkirch die gemeinsame Flucht des deutschen Deserteurs Eduard Roth 51 und seiner Geliebten Elisabeth Sloves, einer Jüdin aus Rotterdam. Während der Vernehmung in der Grenzaufsichtsstelle schoss Roth auf Sloves und verübte anschließend Selbstmord. Sloves war verdächtig, Roth bei der Fahnenflucht geholfen zu haben und die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Feldkirch musste entscheiden, ob Anklage nach dem § 5 der KSSVO zu erheben war. Der Oberstaats‐ anwalt beabsichtigte den Tatbestand mangels Beweisen fallenzulassen, wurde vom Gene‐ ralstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Innsbruck aber strikt zurechtgewiesen, denn er sah den Tatbestand eindeutig erfüllt. Sloves wurde wegen Wehrdienstentziehung angeklagt, wenngleich die Staatsanwaltschaft den Fall als minderschwer klassifizierte. Aber auch die Vorlage des beabsichtigten Strafantrags von sechs Monaten Gefängnis wies der Innsbrucker Generalstaatsanwalt Alarich Obrist brüsk zurück. Nach seiner Auffassung hatte Sloves durch das Eingehen einer Liebesbeziehung mit Roth dessen Fahnenflucht und in der Folge auch dessen Tod und damit den eines „deutschen Soldaten“ herbeigeführt. Er verlangte eine Zuchthausstrafe von wenigstens drei Jahren. Dementsprechend trug Staatsanwalt Anton Heim bei der Hauptverhandlung am 18. Februar 1941 dieses Strafmaß vor. Richter Heinrich Eccher hingegen befand Sloves zwar der Wehrkraftzersetzung schuldig, folgte der antisemitisch begründeten Ansicht des Generalstaatsanwalts jedoch nicht, wenngleich auch er ihre Motive sexualisierte. Eccher verurteilte sie aber zu einer deutlich geringeren Strafe von acht Monaten Gefängnis. Etwa eineinhalb Jahre später, am 27. August 1942, stand nach einem ebenso dramatisch gescheiterten Fluchtversuch der Berliner Arbeiter Heinrich Heinen vor Ecchers Gericht. Heinen hatte versucht mit seiner Geliebten Edith Meyer, die er aus dem jüdischen Ghetto von Riga befreit hatte, in die Schweiz gelangen. Ihn sprach Eccher in erster Linie der Rassenschande schuldig - „schon mit Rücksicht auf den langjährigen und oftmaligen Geschlechtsverkehr mit Edith Sarah Meyer ist der Tatbestand eines Verbrechens anzunehmen“, heißt es in der Ausfertigung des Urteils. 52 Er warf ihm zudem die Absicht einer dauerhaften Wehrdienstentziehung vor, obwohl Heinen dies bestritt. Eccher bemaß die Strafe mit fünf Jahren Zuchthaus. Wie anhand dieser Beispiele sichtbar wird, war Wehrdienstentziehung oftmals nicht der primäre Grund der Fluchtbewegung in die Schweiz, jedenfalls wenn man den Aussagen der Beschuldigten in den Ermittlungs- und Strafverfahren folgt. Freilich lag es im dringenden Interesse der Festgenommenen, die Absicht einer Wehrdienstentziehung zu verneinen. Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 253 <?page no="254"?> 53 Ein Beispiel dafür ist das Verfahren gegen August Schober. VLA, LGF KLs 40/ 43. 54 VLA, AVLReg IVa, Schachtel 151, Zl. 168/ 148; VLA, LGF SLs 24/ 40. 55 Geheime Staatspolizei, Grenzpolizeikommissariat Bregenz an Ermittlungsrichter beim Landgericht, 3.4.1940. VLA, LGF SLs 24/ 40. 56 Leiter des Eignungsprüfungswesens im Luftgau III, Oberregierungsrat Dr. Ruppert, Gutachten, Juli 1940. VLA, LGF SLs 24/ 40. Schließlich war diese im Regelfall mit der Todesstrafe und in minderschweren Fällen mit langen Zuchthausstrafen bedroht. Gleichzeitig entsteht bei der Lektüre der Urteilsbe‐ gründungen der Eindruck, dass Eccher, um die Regelstrafe zu vermeiden, daran lag, die Wehrdienstentziehungen als minderschwere Fälle zu klassifizieren, etwa als die unbedachte Folge einer Flucht vom Arbeitsplatz oder vor einer Strafe, was er wiederum auf ungünstige Erziehung, negativen Einfluss anderer und persönliche Unreife zurückführte. 53 Zugleich ist evident, dass Eccher illegale Absetzbewegungen von Jugendlichen und jungen Männern fallweise als Ausdruck einer „minderwertigen Persönlichkeit“ und einer „kriminellen Veranlagung“ bewertete. Die unbescholtenen Brüder Josef und Karl Schertler, Hilfsarbeiter aus Bregenz, Jahrgang 1923 und 1921, wurden am 19. Februar 1940 in Feldkirch wegen des Verdachts auf Landesverrat und Wehrdienstentziehung festgenommen. 54 Es ließ sich nachweisen, dass sie zwei Tage zuvor ohne Genehmigung nach Liechtenstein geflohen waren. Nach dem ursprünglich erfolgreichen Grenzübertritt waren die beiden Brüder in Liechtenstein Grenzbeamten in die Arme gelaufen, die sie nach Feldkirch zurückgeschoben hatten, wo sie am Bahnhof Beamte der Grenzpolizeistelle (Gestapo) Feldkirch verhafteten, noch bevor sie ihren Plan B - eine Flucht nach Italien über den Brenner - in die Tat umsetzen konnten. Josef gab in der Einvernahme an, den französischen Auslandssender gehört zu haben und einer dort propagierten österreichischen Legion in Frankreich beitreten zu wollen. Karl bestritt diese Absicht und nannte Unzufriedenheit mit der Situation zu Hause als Grund für das Ausreißen. In Wahrheit wollten sie nach Südamerika, um dort Arbeit zu finden. Das Grenzkommissariat Bregenz beurteilte die Aktionen der Brüder noch als „unüber‐ legte Bubenstreiche“ 55 - die beiden waren zum Tatzeitpunkt auch erst 16 bzw. 18 Jahre alt. In Folge eines Berichts an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin erließ das Reichskriegsge‐ richt (RKG) mit Blick auf die Aussagen von Josef jedoch einen Haftbefehl wegen Abhörens ausländischer Sender und der Absicht als Deutsche bei einer fremden Kriegsmacht zu dienen. Die beiden wurden umgehend in das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin eingeliefert. Im Zuge der Ermittlungen beauftragte das RKG ein psychologisches Gutachten, welches zu einer gänzlich anderen Auffassung über die Brüder kam als die Beamten des Grenzkommissariats Bregenz. Der Arzt beurteilte Josef als „gerissen und intelligent“, „gefühlsmäßig kühl“ und attestierte ihm einen „Mangel an Empfänglichkeit für höhere Werte: Vaterland, Gemeinschaft, Beruf “, somit „Wertstumpfheit“. 56 Der Absicht, sich in den Dienst eines Feindstaates zu stellen, schenkte er daher keinen Glauben. Die Fluchthandlung schrieb er vielmehr einem Trieb zu Aktivität ohne „tiefere ethische Bindungen“ zu, daraus resultiere „Abenteuerdrang“. Dieser zeuge zwar von einem Mangel an sittlicher Reife, sei jedoch nicht Ausdruck einer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung, sondern „mehr […] einer kriminellen Veranlagung“. 254 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="255"?> 57 Urteil, 12.12.1940. VLA, LGF SLs 24/ 40. 58 Siehe dazu den Beitrag von Pirker in diesem Buch, S. 147. Über seinen jüngeren Bruder Karl meinte der Arzt, dass er von Josef angeleitet werde. Ihm attestierte er ein „proletarisches Empfinden“ der Minderwertigkeit, sein Wunsch, Detektiv zu werden, weise wahrscheinlich auch auf eine „kriminelle Veranlagung“ hin. Zuletzt schloss der Gutachter aus der geographischen Herkunft und der „kriminellen Veranlagung“ der Brüder auf eine dem völkischen Ordnungsprojekt des NS-Staates abträg‐ liche Gesinnung. Er bezeichnete sie als ausgesprochene „Grenzler“, denen „auf Grund der charakterlichen Minderwertigkeit aus ihrem An-der-Grenze-wohnen keinesfalls eine be‐ sondere Verpflichtung erwächst, sondern dies eher Ursache dafür ist, die staatspolitischen und völkischen Belange zu verwässern oder zu ignorieren.“ Nachdem keine stichhaltigen Belege für die Haftgründe gefunden wurden, stellte das RKG das Verfahren ein, wies das Sondergericht Feldkirch aber darauf hin, das Delikt der Wehrdienstentziehung bei Karl Schertler anwenden zu können ( Josef hingegen war noch nicht wehrpflichtig und wurde entlassen). Karl überstellte man von Berlin in das Landgericht Feldkirch und klagte ihn nach dem § 5 KSSVO an. Staatsanwalt Sprung zog zur Beurteilung der Tat das Gutachten des RKG heran und bezeichnete sie als „einen Grenzfall zwischen dummen Jugendstreich und krimineller Handlung“. Er beantragte beim Generalstaatsanwalt eine in seinen Augen milde Zuchthausstrafe von 15 Monaten, wies aber eilfertig darauf hin, dass die Gestapo ohnehin die Einweisung in ein Lager beabsichtige. Bei der kurzen Hauptverhandlung kam es zu keinen weiteren Erwägungen. Eccher zitierte im Urteil einfach aus den Bewertungen des Gutachters und beschrieb Karl Schertler als „einen minderwertigen Menschen, der im Ansatz kriminelle Anlagen zeigt“. Seiner Aussage, dass er nicht daran gedacht habe, mit seinen Wanderungen „seine Wehrdienstpflichten zu vereiteln“, schenkte er keinen Glauben. Waren es ursprünglich „unüberlegte Bubenstreiche“, stand am Ende des Verfahrens im Urteil Ecchers ein „auf krimineller Veranlagung beruhende[r] Dummjungenstreich“. Als strafmildernd brachte er wiederum Unreife und mangelnde Intelligenz vor. Er verurteilte Karl Schertler zu 15 Monaten Zuchthaus. 57 Der Vorgang zeigt, wie das Sondergericht Feldkirch durch die Anwendung der KSSVO einen unbescholtenen Ausreißer in einen „minderwertigen“ Gesin‐ nungstäter verwandelte und ihn einem Tätertyp anglich, der aus der „Volksgemeinschaft“ zu entfernen war. Auch die folgenden Gnadengesuche der Mutter wurden mit Verweis auf das Gutachten abgelehnt. Damit hatte das hochideologische Gutachten zum zweiten Mal einen negativen Einfluss auf das Leben von Karl Schertler haben. Und es sollte nicht zum letzten Mal sein. 58 Nach 1942 urteilte Eccher etwas milder: Er sprach in fast zwei Drittel der Fälle mit dem Delikt einer eigenen Wehrdienstentziehung Strafen von bis zu zwei Jahren Gefängnis aus. Ein Beispiel: Karl Hannig (21) und Holdine Koch (22) aus Osterode waren seit drei Jahren liiert. Beide waren dienstverpflichtet, er - aufgrund eines steifen Beins als arbeitsverwendungsfähig gemusterter Wehrpflichtiger - beim Transportkorps Speer, sie als Buchhalterin bei einer Baustoffhandlung in ihrer Heimat. Als Holdine Koch im Oktober 1944 einen Stellungsbefehl zum Flakwaffenhelferinnenkorps erhielt, fuhr Karl Hannig unerlaubt zu ihr, um sich zu verabschieden. Spontan fassten sie den Entschluss, in die Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 255 <?page no="256"?> 59 Urteil, 30.1.1945. VLA, LGF KLs 35/ 45. 60 Siehe dazu den Beitrag von Greber/ Pirker in diesem Buch. Staatsanwalt war in diesem Fall René Daniaux. 61 Siehe dazu die Darstellung zu Paul Schwetling auf S. 229. Schweiz zu flüchten und dort zu heiraten. Am Bahnhof Lustenau überraschte sie die - der Grenze weit vorgelagerte - Kontrolle durch die Beamten des Zollgrenzschutzes. Beim ersten Verhör nahm Karl Hannig die Verantwortung für die Flucht auf sich - sie hätten sich nicht trennen können und da habe er seine Freundin dazu überredet, nicht zur Flugabwehr einzurücken, sondern mit ihm in die Schweiz zu gehen. Eccher verurteilte Hannig mit den üblichen Nebendelikten wegen Wehrdienstentziehung zu 18 Monaten Gefängnis und Koch zu zwölf Monaten Gefängnis. Hannig, der das Fluchtmotiv der eigenen Wehrdienstentziehung bestritt, habe es in Kauf genommen, in einem Krieg, „der die Heranziehung der ganzen Bevölkerung zum Einsatz bedingt“, nicht herangezogen werden zu können. Koch habe den Entschluss Hannigs gebilligt und „schon durch ihre Begleitung ihn in seinem verbrecherischen Vergehen bestärkt und angeeifert“. Als mildernd ließ Eccher das Verliebtsein, den Wunsch zu heiraten, die Leichtfertigkeit des Handelns und die Jugendlichkeit der beiden gelten. 59 Im Vergleich urteilte Eccher über Karl Hannig härter als über Holdine Koch. Bei Hannig folgte er dem geforderten Strafausmaß des Anklägers, allerdings mit dem Unterschied, dass er Hannig nicht mit einer Zuchthaus-, sondern mit einer Gefängnisstrafe belegte. Bei Holdine Koch sprach er eine um drei Monate mildere Strafe als beantragt aus, was er häufig tat. Im Ganzen betrachtet, erlaubt das Verhältnis zwischen Strafantrag und Urteilsstrafe zumindest ansatzweise eine Einschätzung, inwieweit Eccher sich Ermessens‐ spielraum gegenüber der Staatsanwaltschaft bewahrte. Insgesamt zeigt sich, dass er bei 69 Urteilen mit bekannten Strafanträgen in fünfzig Fällen (72 Prozent) vom Strafantrag abwich: Viermal entschied er trotz zum Teil strenger Strafforderungen von zwei bis drei Jahren Zuchthaus auf Freispruch, 46-mal reduzierte er das verlangte Strafmaß. In drei Fällen von Wehrdienstentziehung wies er die beantragte Todesstrafe zurück: Im bereits skizzierten Verfahren gegen Franz Fischer im Jahr 1941 griff er gegen den Antrag von Möller zur höchst möglichen Zuchthausstrafe, im Jahr 1943 entschied er im Fall von Josef Mennel 60 auf sechs Jahre Zuchthaus, im Fall von Paul Schwetling auf vier Jahre Zuchthaus. Bei Schwetling verwehrte er sich - im Unterschied zum Fall des oben erwähnten Karl Schertler - entschieden dagegen, den Angeklagten im Sinne der Anklage Möllers als Tätertyp („Gewaltverbrecher“) zu klassifizieren. 61 In 19 Fällen urteilte er mit Möller übereinstimmend, in keinem Fall fasste er einen höheren Strafbeschluss. Nimmt man das oben zitierte Bestreben des Generalstaatsanwalts, durch Einwirken auf die Richter möglichst keine Differenzen zwischen Strafantrag und Urteilsstrafe entstehen zu lassen, so deutet das doch häufige und in einigen Fällen maßgebliche Abweichen vom Strafantrag darauf hin, dass Eccher sich eine gewisse Autonomie gegenüber Oberstaatsanwalt Möller bewahrte. Charakteristisch für ihn war zudem, dass er in den untersuchten Fällen über Frauen etwas milder als über Männer urteilte. Der Anteil von Frauen bei geringer Bestraften ist höher (17,4 Prozent) als bei allen 68 vergleichbaren Fällen (10-Prozent). 256 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="257"?> 62 Anklageschrift, 19.10.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44; Protokoll der Hauptverhandlung, 8.11.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44; Protokoll der Hauptverhandlung, 20.12.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 63 Siehe dazu den Beitrag von Pirker in diesem Band, S. 120. Delikt---Urteil 1940 1941 1942 1943 1944 1945 Ge‐ samt Wehrdienstentziehung (eigene) 6 12 13 9 8 5 53 Wehrdienstentziehung (an‐ dere) - - - 1 1 2 4 Begünstigung, Hilfe, Nicht‐ anzeige Fahnenflucht - - - - 4 2 6 Wehrfeindliche Verbindung 4 1 - - - - 5 - 10 13 13 10 13 9 68 Tab. 5: Zahl der bekannten Urteile des SG Feldkirch nach einschlägigen Delikten pro Jahr des Urteils. Eine Verurteilung erfolgte wegen eines Passvergehens und wurde hier nicht gezählt. VI. 1944/ 45: Das „Bedürfnis der Volksgemeinschaft nach Schuld und Sühne“ Werfen wir noch einen Blick auf die größeren Verfahren im letzten Jahr der NS-Justiz. Auffällig ist, dass die Zahl der Strafsachen zu eigener Wehrdienstentziehung 1944 gegen‐ über 1943 um mehr als die Hälfte zurückging (von 26 auf 12). 1943, also überraschend spät, fällte das Sondergericht Feldkirch erstmals auch Urteile wegen Beitragsdelikten zu Wehr‐ dienstentziehung und Fahnenflucht (Tabelle 5). Der einzige große Fall mit einschlägiger Materie, der 1944/ 45 zur Verhandlung kam, betraf das oben bereits erwähnte Verfahren gegen vier Mitglieder der Familie Burtscher sowie eine weitere Helferin und einen weiteren Helfer der Deserteure Martin Lorenz, Wilhelm und Leonhard Burtscher aus dem Großen Walsertal. Wegen Schwangerschaften von drei festgenommenen jungen Frauen wurde es in zwei Hauptverhandlungen abgewickelt. Konstatieren kann man, dass Eccher, neben zwei Freisprüchen in Teilen der Anklage, noch einmal zu harten Strafen griff, im Ausmaß aber wieder unter den Strafanträgen von Staatsanwalt Möller blieb. Bei der ersten, vom 8. November auf den 20. Dezember 1944 vertagten Verhandlung waren Franz Xaver Burtscher (Vater der desertierten Burtscher- Brüder), Delphina Burtscher (Schwester, Freundin von Martin Lorenz und Mutter seines Kindes), Juliane Stemmer (Schwester) und Benjamin Bischof (Verwandter) nach §§ 220 und 222 ÖStG (Begünstigung von Fahnenflüchtigen, Verleitung eines Soldaten zur Verletzung militärischer Dienstpflicht) sowie § 139 RStGB (Unterlassung der Anzeige eines geplanten kriegsverräterischen Unternehmens) angeklagt. 62 Letzterer Vorwurf bezog sich darauf, dass das Reichskriegsgericht wenige Tage vor der Anklageerhebung Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz wegen Fahnenflucht und aufgrund der Bildung einer bewaffneten österreichisch-patriotischen Widerstandsgruppe auch wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt hatte. 63 Der Generalstaatsanwalt Innsbruck bemängelte an der Anklageschrift, Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 257 <?page no="258"?> 64 Generalstaatsanwalt Innsbruck an Oberstaatsanwalt Feldkirch, 27.10.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 65 Protokoll der Hauptverhandlung, 8.11.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 66 Geheime Staatspolizei, Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Einvernahme Delphina Burtscher, 12.7.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 67 Reichskriegsgericht, Feldurteil, 13.10.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. dass die Delphina Burtscher vorgeworfene Verleitung ihres Geliebten Martin Lorenz zur Fahnenflucht bei der Hauptverhandlung als Wehrkraftzersetzung nach dem § 5 KSSVO anzuklagen sei. Mit Möllers Strafvorschlägen war er hingegen offenbar zufrieden. 64 Eccher legte dem Urteil die Aussagen der Angeklagten bei der vertagten Hauptverhand‐ lung und das nun vorliegende Urteil des Reichskriegsgericht zu Grunde. Franz Xaver Burtscher wies in der Verhandlung jede Schuld an der Fahnenflucht seiner Söhne von sich. Sie seien gegen seinen Willen nicht mehr eingerückt und am Hof geblieben. Ihre Nichtanzeige begründete er mit Gewaltandrohungen und Handgreiflichkeiten seitens der Söhne. Deshalb habe er sich nicht getraut, die Gendarmerie oder den Bürgermeister zu informieren. Zugleich warb er um Verständnis dafür, dass er „als Vater nicht die eigenen Söhne anzeigen“ könne: „Wenn ich meine Söhne angezeigt hätte, so hätte ich meine Familie u. das ganze Dorf gegen mich gehabt.“ Mitwissen oder Mithilfe an der Bildung einer Widerstandsgruppe bestritt er. 65 Delphina Burtscher legte über ihre fast ein Jahr lang währende Hilfe für die Brüder und Martin Lorenz ein umfassendes Geständnis ab. Sie hatte bereits in der Einvernahme durch das Grenzpolizeikommissariat Bregenz die Schuld an der Fahnenflucht von Martin Lorenz gänzlich auf sich genommen, um ihn zu entlasten. 66 Diese Verantwortung wiederholte sie vor Gericht. Er sei ihretwegen nicht mehr eingerückt. Ähnlich wie ihr Vater machte sie geltend, dass sie unter Gewaltandrohung ihrer Brüder gehandelt habe. Vorgeworfen wurde Delphina Burtscher von der Anklage zudem, dass sie ihre Brüder dabei unterstützt habe, ihre Uniformen mit Kragenspiegeln und Sternen zu versehen, was vom Reichskriegsgericht als Beleg für die Absicht der Deserteure gewertet wurde, eine „reichsfeindliche Zelle“ zu bilden. 67 Sie gab die Stickarbeiten zu, stellte aber jedes Verständnis der Handlung in Abrede. Sie erklärte, nichts über den Nationalsozialismus und nichts über Österreich zu wissen, verwies auf ihre Volksschulbildung und darauf, dass sie ihren Heimatort Sonntag noch nie verlassen habe und auch nicht beim Bund deutscher Mädel gewesen sei. Über Politik sei zu Hause nicht viel gesprochen worden. Die anderen Angeklagten verantworteten sich ähnlich: Paula Rützler begründete die Nichtanzeige mit dem Geschwisterverhältnis. Benjamin Bischof konnte darauf verweisen, dass ihn die Deserteure immer ungebeten aufgesucht hatten. Ihr Reden über die Bildung einer Organisation habe er für ein „Hirngespinst“ gehalten, das ihrer Langeweile ent‐ sprungen sei. Die Anzeige habe er unterlassen, weil er gedacht habe, es sei „alles nur ein Spass“. Als Zeuge war in der Verhandlung auch der Gestapobeamte Emmerich Dünser aus Götzis geladen, der die Einvernahmen von Franz Xaver und Delphina Burtscher durchgeführt hatte. Seine Aussage ist im Protokoll so vermerkt: „Ich halte die Freiheitsbewegung der Deserteure für einen Unfug. Die wären zu dumm gewesen, eine Organisation zu bilden. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Leute in Verbindung mit einer grossen Organisation sind.“ Der Verteidiger von Franz Xaver Burtscher befragte ihn zum Eindruck, den er in den 258 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="259"?> 68 Ebd., zitiert im Urteil des Sondergerichts Feldkirch gegen Franz Xaver Burtscher u. a., 20.12.1944. VLA, LGF KLs 52/ 44. 69 Ebd. Einvernahmen vom zu diesem Zeitpunkt noch flüchtigen Deserteur Leonhard Burtscher gewonnen habe. Er bezeichnete ihn als „Rohling“. Damit bestätigte er im Grunde die Aussagen der Angeklagten, mit der sich diese entlasten wollten. Bei der Wiederaufnahme der Verhandlung wurde das Urteil des Reichskriegsgerichts verlesen. Dieses war allerdings zur Auffassung gekommen, dass die Deserteure mit ernsten Absichten, „in dem Bewusstsein, dem Feinde und damit zum Schaden der Kriegsmacht des Reiches, zu nutzen, eine reichsfeindliche Zelle bilden wollten, wobei es nichts verschlägt, dass die Durchführung zum Teil unreife, ja lächerliche Züge trägt“. 68 Eccher hielt sich im Urteil an diese Feststellung des Reichskriegsgerichts. Er befand daher Franz Xaver Burtscher im Sinne der Anklage für schuldig. Möllers Strafantrag von vier Jahren Zuchthaus reduzierte er auf 2,5 Jahre. Als wesentlichsten Milderungsgrund führte Eccher die von Burtscher geschilderten Gewaltandrohungen und Handgreiflichkeiten seines Sohnes an; dadurch sei sein Handeln beeinträchtigt gewesen. Für die Darstellung eines gewalttätigen Deserteurs, der seinen Vater bedrohte, war Eccher offenbar empfänglich. Sie entsprach dem gepflogenen Bild über die Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit von Deserteuren. Als erschwerend wertete er aber die lange Dauer der Verhinderung der Ausforschung der Deserteure. Die harte Zuchthausstrafe solle „anderen Volksgenossen als Warnung dienen“. 69 Delphina Burtscher verurteilte er wegen Begünstigung und Zersetzung der Wehrkraft zu fünf Jahren Jugendgefängnis, Möller hatte sechs Jahre beantragt. Es handelte sich um die härteste Strafe, die Eccher gegen eine Frau im Zusammenhang mit Fahnenflucht bzw. Wehrdienstentziehung aussprach. Er begründete den Schuldspruch nahe an Formu‐ lierungen des Täterstrafrechts folgendermaßen: „Sie war jedenfalls diejenige im Hause Burtscher, die in erster Linie für die Sicherheit und Verkösti‐ gung der Fahnenflüchtigen sorgte, ihre Schuld an der Fahnenflucht des Lorenz Martin ist besonders gross. Das Bedürfnis der Volksgemeinschaft nach Schuld und Sühne, das Zusammentreffen zweier Verbrechen verlangt eine harte Anfassung […]. Sie war pflichtvergessen und eigennützig genug ihren Liebhaber von der Erfüllung seiner militärischen Pflichten abzuhalten, ihn zur Fahnenflucht zu verleiten […]. Sie verabreichte nach eigenem Geständnis den fahnenflüchtigen Soldaten das Essen, sie war wohl in erster Linie für sie besorgt und hat ihnen alles mögliche zukommen lassen.“ Vom Vorwurf der Nichtanzeige eines kriegsverräterischen Unternehmens sprach er sie hingegen frei - hier beschied er ihr „wohl nicht die geistige Reife [zu haben], die politischen Zusammenhänge zu erfassen, die Ziele der sogenannten Freiheitsbewegung zu verstehen […]“. Dies war der einzige Grund für eine gegenüber dem Antrag niedrigere Strafe. Auffällig ist, dass Eccher im Unterschied zu den anderen Frauen bei Delphina Burtscher ansonsten keinen Milderungsgrund fand, obwohl auch sie für ein drei Monate altes Kind zu sorgen hatte. Das Argument der Gewaltandrohung ließ er in ihrem Fall ebenso wenig gelten. Im Unterschied zu anderen Liebesverhältnissen, mit denen er sich im Zusammenhang mit Wehrdienstentziehungen zu befassen hatte, sah er die Liebe von Delphina Burtscher zu Martin Lorenz nicht als „Verliebtsein“, als Sehnsucht nach Zusammensein, wie etwa bei Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 259 <?page no="260"?> 70 LG Feldkirch, Beschluss, 23.7.1946. VLA, Landreg IVs-168-417. 71 Landesgerichtspräsident an Oberlandesgerichtspräsidenten in Innsbruck, 16.1.1945. VLA, LGF KLs 35/ 45. Holdine Koch und Karl Hannig, sondern offenbar beispielhaft als gefährliche Emotion, mit der junge Frauen in der Lage waren, Soldaten im Heimaturlaub andere Loyalitäten zu eröffnen, als die maskuline Kameradschaft in einem Krieg, der verloren ging. Delphina Burtscher verstieß gegen das Gebot der „Manneszucht“, wie sie im § 5 der KSSVO als Pflicht der Volksgemeinschaft gefordert wurde, daher war Liebe und die daraus entstandene Schwangerschaft in ihrem Fall kein Milderungsgrund, vielmehr ausschlaggebend für eine beispielhafte Abschreckungsstrafe. Juliane Stemmer erhielt drei Monate Gefängnis (ein Monat weniger als im Strafantrag), Benjamin Bischof sieben Monate Gefängnis (Antrag: ein Jahr Zuchthaus). In beiden Fällen begründete Eccher die Milderung mit Sorgepflichten für Kinder. Den Vorwurf der Begünstigung von Fahnenflüchtigen verwarf er im Falle Bischofs und folgte damit dessen Erklärungen. Die Verhandlung gegen Paula Rützler und Hermine Gassner, die beide zum Zeitpunkt der Festnahme hochschwanger waren (Hermine Gassner vom noch immer flüchtigen Deserteur Leonhard Burtscher), führte Eccher einige Monate nach den Geburten noch am 18. April 1945 zu Ende. Paula Rützler erhielt wegen Beihilfe zur Fahnenflucht eine Strafe von zwei Monaten Zuchthaus, Hermine Gassner vier Monate Gefängnis. 70 Von der Zielsetzung, abschreckend zu wirken, waren neben anderen Faktoren auch die Vorbereitungen für eine Verhandlung gekennzeichnet, die Eccher Anfang Februar 1945 ausnahmsweise „vor einer größeren Öffentlichkeit“ inszenieren wollte. Es sollte eine Art Schauprozess in Lustenau stattfinden. 71 Es ging um die beabsichtigte Verurteilung von zwei Fluchthelfern, des Hilfszollassistenten der Grenzaufsichtsstelle Brugg bei Lustenau, Ernst Emhofer aus Höchst, und des ehemaligen Textilkaufmanns, nun Hilfsarbeiters Gebhard Bösch aus Lustenau. Fast ein Jahr nach den Fluchtereignissen am 18. Februar 1944 und nach zehn Monate lang dauernden Ermittlungen legte Oberstaatsanwalt Möller am 3. Jänner 1945 die Anklageschrift gegen Emhofer und Bösch vor. Emhofer habe sein Amt als Hilfs‐ zollassistent missbraucht, um den bekannten Lustenauer Stickereifabrikanten Hermann Scheffknecht samt Familie unbefugt die Grenze zur Schweiz an der Brugger Rheinbrücke überqueren zu lassen. Gleichzeitig habe er zwei wehrpflichtige Deutsche dem Wehrdienst entzogen. Einer der insgesamt sechsköpfigen Fluchtgruppe war Josef Reichart, ehemaliger Bauleiter des Heeresbauamtes Bregenz, der sich zum Fluchtzeitpunkt auf Heimaturlaub von seiner Dienststelle in Dänemark befand. Beim zweiten Deserteur handelte es sich um Scheffknechts Sohn Rudolf; auch er hatte zum Fluchtzeitpunkt Heimaturlaub von der Ostfront. Bei Bösch wiederum lautete der Vorwurf, dass er Emhofer zur Tat veranlasst und Hilfe geleistet habe; außerdem habe er Rudolf Scheffknechts Flucht begünstigt. Erstmals in einem der Verfahren mit Bezug zu Wehrdienstentziehung klagte Möller beide Männer auch als „Volksschädlinge“ nach der Volksschädlings-Verordnung an. Gegen Scheffknecht führte das Landgericht Feldkirch seit Jahren ein umfangreiches Verfahren wegen Devisenvergehen und Betrug. Auf die komplexe Vorgeschichte kann hier 260 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="261"?> 72 Siehe dazu ausführlich Peter Melichar, Ein besonderer Grenzgänger: Der Unternehmer Hermann Scheffknecht aus Lustenau, in: Nicole Stadelmann et al. (Hg.), Hüben & Drüben. Wirtschaft ohne Grenzen im mittleren Alpenraum, Innsbruck 2020, 171-210. 73 Zur Folter siehe die Aussagen des Gestapobeamten Adolf Bähr im Jahr 1947. TLA, LGI, 10 Vr 3739/ 47, und im Nachkriegsverfahren gegen den Leiter der Gestapostelle Innsbruck, Max Nedwed. TLA, LGI, 10 Vr 2515/ 47; Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen, 192-193. 74 Geheime Staatspolizei, Staatspolizeistelle Innsbruck an Oberstaatsanwalt beim Landgericht in Feldkirch, 30.11.1944. VLA, LGF KLs 1/ 45. 75 Ebd. nicht näher eingegangen werden, 72 die Organisation und Durchführung der Flucht wird an anderer Stelle in diesem Buch geschildert. Für die Beurteilung der Praxis des Sondergerichts Feldkirch ist von Bedeutung, dass die Anklage erst spät erhoben wurde. Die Ursache dafür war, dass Emhofer die Fluchthilfe monatelang bei Einvernahmen durch das Grenzkommissariat Bregenz und Ermittlungs‐ richter des Sondergerichts Feldkirch bestritten hatte, was in seine Haftentlassung im Juni 1944 mündete. Erst nach neuerlicher Inhaftnahme und bei „verschärften Vernehmungen“ mit äußerst brutaler Folter in der Gestapostelle Innsbruck im November 1944 brach er zusammen, gestand und nannte Bösch, der ebenfalls von der Innsbrucker Gestapo bei den Einvernahmen misshandelt wurde, als seinen Helfer. Die Gestapostelle Innsbruck betonte in ihrem Bericht, dass sein „nunmehriges Geständnis und Nennung des Helfers Bösch unter keinen Umständen als freiwillig zu betrachten“ war, „sondern es musste ihm geradezu Wort für Wort abgerungen werden.“ 73 Warum hatte die Gestapo Innsbruck eingegriffen? Als vorgesetzte Dienststelle des Grenzkommissariats Bregenz wurde sie tätig, weil die Flucht der Familie Scheffknecht mit zwei Deserteuren nicht nur in Vorarlberg, sondern auch außerhalb des Deutschen Reichs Aufsehen erregt hatte und dort angeblich als Symbol für den „inneren Verfall der Kriegsmoral und der Ordnung im Deutschen Reich“ gewertet worden war. Die Gestapo Innsbruck hielt diese Flucht für den einzigen Fall reichsweit, bei dem „gleich 6 Personen, darunter 2 Fahnenflüchtige, die Grenze mit Hilfe eines Zollbeamten nach der Schweiz überschritten haben.“ 74 Im Ermittlungsbericht betonte die Gestapo Innsbruck, dass Emhofer „seine Dienstpflicht aus niedrigster Gewinnsucht verletzt und dadurch dem Reich schwersten Schaden zugefügt“ habe. Damit war Emhofer als „Volksschädling“ kategorisiert. Ferner ersuchte die Gestapo das Sondergericht Feldkirch erneut zu prüfen, ob nicht das Delikt der Wehrdienstentziehung nach § 5 KSSVO zur Anwendung gebracht werden könne und zwar als schwerer Fall, der als „Sühne die Todesstrafe erheischt“. 75 Bemerkenswert ist, dass Möller im Anklageentwurf vollständig der Gestapo folgte, je‐ doch bei der Vorlage für das Reichsjustizministerium nach Hinweis auf die von der Gestapo vertretene Todesstrafe seine Ansicht andeutete, „dass eine zeitliche Zuchthausstrafe (6-8 Jahre) genügte“, jedoch zugleich um Weisung für seinen Strafantrag ersuchte. Umgehend wurde der Prozess für den 2. Februar 1945 im Landgericht Feldkirch festgesetzt - Eccher war bei seinen Bemühungen, in Lustenau einen prominenten Ort für die Verhandlung zu finden, offenbar gescheitert. Doch einen Tag vor dem Prozess erhielt Möller telefonisch vom Generalstaatsanwalt in Innsbruck die Weisung des Reichsjustizministeriums übermittelt, die Verhandlung abzusetzen und einen schriftlichen Erlass abzuwarten. Darin verlangte dann das Reichsjustizministerium zu prüfen, ob das Sondergericht Feldkirch überhaupt Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 261 <?page no="262"?> 76 Aktenvermerk, 1.2.1945; Der Reichsminister für Justiz an Oberstaatsanwalt in Feldkirch, 25.1.1945. VLA, LGF KLs 1/ 45. 77 Vgl. Christopher Theel, Italienische Soldaten vor SS- und Polizeigerichten. Beispiele aus Italien und Griechenland, in: Geschichte und Region/ Storia e regione 24 (2015) 2, 75-94. 78 Siehe dazu: Peter Pirker, Institutionen und Tat-Orte. Justiz und Polizei in Innsbruck während der NS-Herrschaft, 1938-1945, URL: https: / / treuundredlichkeit.at/ #text (abgerufen 2.7.2023), und die eigene ausführliche Darstellung von Emhofer im Opferfürsorgeverfahren: Ernst Emhofer an Landeshauptmann Ulrich Ilg, Höchst 12.3.1947. Siehe auch Meldung des Abgangs aus der Haftanstalt Feldkirch, 27.3.1945. VLA, LGF KLs 1/ 45. 79 SS- und Polizeigericht XXXVI Kaltern/ Alpenvorland an Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, 11.4.1945. VLA, LGF KLs 1/ 45. 80 Oberstaatsanwalt beim Landgericht Feldkirch an das SS- und Polizeigericht XXXVI Kaltern, 10.3.1945. VLA, LGF KLs 1/ 45. zuständig war. Der Zollgrenzschutz war nämlich im Juli 1944 der Militärgerichtsbarkeit unterstellt worden. Möller hatte die Strafsache daher dem Gericht der Division 418 in Innsbruck bzw. dem SS- und Polizeigericht Verona zur Verhandlung anzubieten. Für den Fall, dass die Verhandlung schließlich doch an das Sondergericht Feldkirch abgetreten werde, verlangte das Reichsjustizministerium für beide Angeklagte unmissverständlich den Antrag auf Todesstrafe. 76 Möller leistete der Weisung Folge. Das Wehrmachtsgericht in Innsbruck zeigte kein Interesse an der Übernahme. In der Korrespondenz mit dem territorial zuständigen SS- und Polizeigericht XXXVI, das in Verona, dann auch in Kaltern, eine Dienststelle hatte, 77 for‐ mulierte Möller klar sein Interesse, den Prozess gegen beide Angeklagte mit Strafanträgen auf Todesstrafe in Feldkirch durchführen zu wollen. Möller argumentierte, dass es sich um eine politische Straftat handelte, die vor der Unterstellung des Grenzschutzes unter die SS-Gerichtsbarkeit begangen worden sei. Deshalb sei die zivile Justiz zuständig. Letztlich blieben seine Bemühungen erfolglos, denn das SS- und Polizeigericht zog den Fall an sich. Die Ursache lag wohl im Misstrauen der Gestapo gegenüber dem Sondergericht Feldkirch, das in diesem Fall bisher wenig Schlagkraft gezeigt hatte. In der Nacht auf den 27. März 1945 brachten Gestapobeamte Emhofer nach Innsbruck, wo das SS- und Polizeigericht XXXVI Verhandlungen in der Kaserne der Schutzpolizei im 1939 beschlagnahmten Jesuitenkolleg durchführte. 78 Laut einer Schilderung Emhofers trat das Gericht um 8.30 Uhr zusammen und verurteilte ihn eine halbe Stunde später, wie es in einer Mitteilung des Gerichts an Möller hieß, wegen „passiver Bestechung und wegen Wachverfehlung in Tateinheit mit Beihilfe zu unbefugtem Grenzübertritt und Begünstigung [Anm. wohl von Fahnenflucht] zum Tode“. 79 Das Urteil wurde nicht mehr vollstreckt, da es noch vom Gerichtsherrn bestätigt hätte werden müssen und auch Gnadengesuche eingingen. Emhofer überlebte diese Frist bis zur Befreiung durch die amerikanischen Truppen im Gestapo-Lager Reichenau. Die unfreiwillige Abtretung des Falles Emhofer an das SS- und Polizeigericht hatte nicht intendierte positive Folgen für Gebhard Bösch. Anfang März 1945 musste Möller den gesamten Akt an das SS- und Polizeigericht übermitteln. Er ersuchte um „eheste Rückgabe meiner Akten, da ich das Verfahren gegen Bösch durchführen muss“ 80 , für den er die Todesstrafe vorgesehen hatte. Einstweilen führten Eccher und Möller im März 1945 noch drei Prozesse wegen Wehrdienstentziehungen. Zwei der Angeklagten wurden zu Zuchthausstrafen von ein bzw. zwei Jahren verurteilt und zum Strafvollzug in das 262 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="263"?> 81 Die Verurteilten waren Josef Fischer aus Bayern (VLA, LGF KLs 12/ 45) und Franz Heerwald aus Sachsen-Anhalt (VLA, LGF KLs 6/ 45). 82 SS- und Polizeigericht XXXVI Kaltern/ Alpenvorland an Oberstaatsanwalt beim LGF, 11.4.1945. VLA, LGF KLs 1/ 45. 83 Anklage gegen Josef Winter, 21.4.1945. VLA, Js 42/ 45. 84 Siehe die Darstellungen zu den Genannten im Beitrag von Pirker (Anhang). Gefängnis Bernau geschickt. 81 Die Anklage- und Urteilsschriften von Möller und Eccher waren nur mehr dürr formuliert und vermieden NS-Jargon. Anfang April vertagten sie eine Verhandlung wegen Wehrdienstentziehung; Mitte April trat das Duo eine einschlägige Strafsache an ein Militärgericht ab. Am 18. April führten sie - wie bereits erwähnt - die im Herbst 1944 vertagte Verhandlung gegen Paula Rützler und Hermine Gassner mit geringen Gefängnisstrafen zu Ende. Erst am 16. April erhielt Möller seinen dringend erbetenen Untersuchungsakt zum Fall Scheffknecht/ Emhofer/ Bösch vom SS- und Polizeigericht in Innsbruck zurück. 82 Er setzte keine Verhandlung mehr gegen den in Feldkirch in Haft verbliebenen Gebhard Bösch an. Anklage erhob er noch am 21. April gegen den obdachlosen Tagelöhner Josef Winter, weil er ohne polizeiliche Meldung ständig seinen Aufenthaltsort wechselte, um sich wie gewohnt seinen Lebensunterhalt als Veredler von Obstbäumen bei Bauern zu verdienen, sich dadurch in den Augen Möllers zugleich aber dem Wehrdienst zu entziehen. 83 Möller und Eccher hielten den Betrieb des Sondergerichts bis zum 2. Mai 1945 vorschriftsgemäß aufrecht. Das dokumentiert der Umgang mit den Helfer*innen der Deserteure Tobias Studer und Jakob Domig aus dem Großen Walsertal. Der Ermittlungsbericht der Gestapo Bregenz zu acht Beschuldigten, von denen sich vier noch in Bludenz in Haft befanden, traf am 7. April in Feldkirch ein. Eine Woche später beauftragte Möller das Amtsgericht Bludenz damit, die Beschuldigten Ida Dobler und Katharina Studer gerichtlich zu vernehmen und gegebenenfalls einen Haftbefehl zu erlassen, was am 20. und 23. April geschah. Am 2. Mai wurde in den Amtsräumen des Landgerichts Feldkirch noch eine Anzeige des Gendar‐ merieposten-Führers von Blons, Josef Burtscher, über die Festnahme und Befragung von Edmund, des 15-jährigen Bruders von Tobias Studer, entgegengenommen, abgestempelt und in den Ermittlungsakt gelegt. Die Juristen arbeiteten pflichtbewusst bis zur Besetzung des Landgerichts am 3. Mai durch französische Truppen. Erst sie befreiten die Häftlinge aus der Strafanstalt des Landgerichts. Die Tatsache, dass Eccher für Wehrdienstentziehungsdelikte keine Todesstrafen ver‐ hängte, bedeutet nicht, dass die von ihm Verurteilten den Strafvollzug überlebten. Franz Fischer verstarb knapp ein Jahr nach seiner Verurteilung im Zuchthaus Brieg, wo er schwere Zwangsarbeit hatte leisten müssen. Fünf weitere zu Zuchthausstrafen Verurteilte verloren ihr Leben nach der Verurteilung - während des Strafvollzugs, bei Fluchtversuchen oder durch die Haftbedingungen: Paul Basler, Franz Fischer, Heinrich Heinen, Eugen Pfeil und Paul Schwetling. 84 Die beiden Jüdinnen Edith Meyer und Elisabeth Sloves, die mit Deserteuren versucht hatten, in die Schweiz zu entkommen, starben im KZ Auschwitz. Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 263 <?page no="264"?> 85 Eigene Auswertung des Aktenbestands der KLs-Reihe des Sondergerichts Innsbruck im TLA. Die KMs-Akten wurden anhand eines Verzeichnisses des TLA analysiert. VII. Besonderheiten der Sondergerichte Feldkirch, Innsbruck und Bozen Um die Praxis des Sondergerichts Feldkirch zur Verfolgung von Wehrdienstentziehungen besser einschätzen zu können, soll im Folgenden ein knapper Vergleich mit den Sonderge‐ richten in Innsbruck und Bozen angestellt werden. Zunächst zum Sondergericht Innsbruck (Tabelle 6): Im Tiroler Landesarchiv sind ausschließlich KLs- und KMs-Akten erhalten, also schwere und leichtere Strafsachen, die auch angeklagt wurden. Daher lässt sich zu eingestellten oder abgegebenen Verfahren kein Vergleich durchführen. Laut den Aktenzei‐ chen wurden 1.078 Verfahren zur Anklage gebracht, Akten sowie Aufzeichnungen zu Straftatbeständen und Angeklagten existieren zu 966 (89 Prozent) Verfahren, wobei 67 für unsere Untersuchungen relevant sind. Bei einem weit größeren Gerichtsbezirk sind dies in absoluten Zahlen nur wenige mehr als beim Sondergericht Feldkirch. 85 Dieser Unterschied wird im Verhältnis von Entziehungsverfahren zu den gesamten Hauptverfahren noch deut‐ licher: In Innsbruck sind es 6,9 Prozent der bekannten Verfahren, in Feldkirch 19 Prozent. Auch die Struktur der angeklagten Delikte unterscheidet sich beträchtlich. In Innsbruck mussten sich 66 der 94 Angeklagten (70,2 Prozent) wegen Hilfsdelikten im Zusammenhang mit Fahnenflucht, die größtenteils dem ÖStG entnommen wurden, verantworten. Nur 16 eigene Entziehungen wurden verhandelt. In Feldkirch war das Verhältnis umgekehrt: 72-Prozent Wehrdienstentziehungen und nur 21-Prozent Hilfsleistungen. Sonder‐ gerichte Strafakten Bekannte Anklagen relevanter Verfahren Ge‐ samt Be‐ kannte Ver‐ fahren Davon rele‐ vante Ver‐ fahren Ge‐ samt Wehr‐ dienstentzie‐ hung (ei‐ gene) Hilfsde‐ likte Wehrfeind‐ liche Ver‐ bindung SG Inns‐ bruck 1.078 966 67 (6,9 %) 94 16 (13,7 %) 66 (70,2 %) 12 (12,7 %) SG Feld‐ kirch 429 311 59 (19-%) 75 54 (72-%) 16 (21,3 %) 5 (9,2 %) Tab. 6: Vergleich der Tätigkeit der Sondergerichte Feldkirch und Innsbruck. Das Entziehungs- und Desertionsgeschehen in Tirol präsentiert sich im Spiegel der Sondergerichtsakten also gänzlich anders gelagert. Fluchtversuche in die Schweiz spielten zwar auch eine gewisse Rolle, aber die kurze Hochgebirgsgrenze zog deutlich weniger Fluchtwillige an als die Rheingrenze bzw. die flache Landgrenze zu Liechtenstein in Vorarlberg. Die Fälle von Wehrdienstentziehung und Hilfe zur Fahnenflucht betrafen in Tirol daher überwiegend Binnenfluchten, sei es in der Stadt Innsbruck und Umgebung, sei es in den zahlreichen Gebirgstälern mit einschichtig gelegenen Bauernhöfen und Almen. Damit zusammenhängend taucht in den Akten des Sondergerichts Innsbruck ein Phä‐ nomen auf, das in Vorarlberg wenig sichtbar wurde: Die außergerichtliche Schutzhaft für 264 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="265"?> 86 Die meisten Angehörigen der festgenommenen Deserteure in der Gemeinde Sonntag im Großen Walsertal wurden wie oben beschrieben wegen Hilfsdelikten vor dem Sondergericht angeklagt oder standen vor der Anklage. Ihre Inhaftierung kann nicht als Sippenhaft im engeren Sinn bezeichnet werden, siehe dazu Fritsche, Entziehungen, 77-81. 87 Gestapostelle Innsbruck, Bericht Festnahme, 1.9.1943. TLA, SGI, KLs 3/ 44. 88 Nach einer Vereinbarung zwischen Italien und Deutschland mussten sich 1939 Angehörige der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung in der Provinz Bozen und in bestimmten Tälern bzw. Sprachinseln in den Provinzen Trient und Udine entscheiden, die deutsche Reichsbürgerschaft anzunehmen und in das Deutsche Reich umzusiedeln („Optanten“) oder in Italien zu verbleiben („Dableiber“). 89 Johannes Kramer, Sonderfall Südtirol. Die erfolgreiche und die gescheiterte Aktivierung des „volks‐ deutschen Wehrwillens“, in: zeitgeschichte 49 (2022) 4, 491-512; Steinacher, Volksempfinden, 252- 253; Wedekind, Besatzungs- und Annexionspolitik, 209-210. 90 Steinacher, Volksempfinden, 257. Sie sind im Staatsarchiv Bozen zugänglich. In der Liste Steinachers fehlt der Akt KLs 162/ 44 gegen den wegen Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls angeklagten Siegfried Dapunt. Das Verfahren wurde allerdings gemeinsam mit dem Verfahren gegen Paul Mischi, der wegen desselben Delikts verfolgt wurde, unter der Az KLs 161/ 44 zur Verhandlung gebracht und abgeschlossen. Angehörige als Instrument der Verfolgung von auf der Flucht befindlichen Deserteuren, begleitet von der Enteignung von Bauernhöfen, was als Sippenhaft bezeichnet werden kann. 86 Anlass, diese Maßnahme erstmals anzuwenden, bildete die Desertion von sechs einheimischen Soldaten aus Pfunds in die Schweiz im Frühjahr 1943. Obwohl es keine Hinweise auf eine Beteiligung der Familien gab, nahm die Gestapo Innsbruck Eltern und Geschwister der Deserteure in Schutzhaft, was „präventiv und abschreckend gegenüber anderen Dorfeinwohnern wirken sollte“. Die Maßnahme erfolgte ausdrücklich „in engstem Einvernehmen und mit Zustimmung der zuständigen Kreis- und Gauleitung der NSDAP“, also letztlich Gauleiter Franz Hofers. 87 Hofer war es auch, der als Oberster Kommissar der Operationszone Alpenvorland im November 1943 das Sondergericht der Operationszone Alpenvorland in Bozen einsetzte. Will man die Praxis des Sondergerichts Bozen zu Wehrdienstentziehungen erfassen, ist erstens festzuhalten, dass sich Wehrdienstentziehungen in Südtirol in zwei verschiedenen Szenarien abspielten: Mit der „Option“ 88 von 1939 unterlagen alle Männer der Wehrpflicht, die sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und/ oder für die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft optiert hatten, auch wenn sie weiterhin in der italienischen Provinz Bozen lebten. Entziehungen von der Wehrpflicht bzw. Hilfsdelikte konnte der NS-Staat in Italien jedoch nicht ahnden; er war auf Auslieferungen durch die italienischen Behörden angewiesen. Nach der Bildung der Operationszone erfolgte mit völkerrechtswidrigen Verordnungen Hofers, beginnend mit 7. Januar 1944, die schrittweise Ausweitung der Wehrpflicht auf in den Provinzen Bozen (Bolzano), Trient (Trento) und Belluno lebende Männer, auch wenn sie italienische Staatsbürger geblieben waren, weil sie nicht für das Deutsche Reich optiert hatten. 89 Mit dem Sondergericht schuf sich Hofer nun ein Instrument der Bekämpfung von Wehrdienstentziehungen vor Ort. Zweitens ist die empirische Grundlage für die Beschreibung der Tätigkeit des Sonder‐ gerichts Bozen vergleichsweise schwach. Bislang sind von den geschätzten 600 Gerichts‐ verhandlungen nur 22 Akten aufgefunden worden. 90 Aus Häftlingspersonalakten des Zuchthauses Rodgau/ Dieburg lassen sich Rückschlüsse auf weitere neun vom Sonderge‐ Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 265 <?page no="266"?> 91 von Lingen, Sondergericht, 85. 92 Michael Messner, Die ungehorsamen Badioten. Wehrdienstentziehungen und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg am Beispiel des Gadertals und des Fersentals, Masterarbeit, Universität Innsbruck 2023, 144-151. 93 Steinacher, Volksempfinden, 263-264; von Lingen, Sondergericht, 86. 94 Siehe dazu Michael Wildt, Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Frankels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 1.6.2011, URL: http: / / d ocupedia.de/ zg/ Fraenkel,_Der_Doppelstaat (abgerufen 3.7.2023). richt Bozen verhandelte Strafsachen ziehen. 91 Von diesen 31 bekannten Strafsachen waren bei sechs Verfahren zehn Männer (ein Teil hatte 1939 für die italienische Staatsbürgerschaft optiert) wegen Delikten der Wehrdienstentziehung angeklagt. Aus anderen Quellen sind drei weitere aus diesem Grund vom Sondergericht Bozen bestrafte Männer bekannt, ohne dass Gerichtsakten vorliegen. 92 Bei den sechs bekannten Gerichtsverfahren lauteten die Anklagen auf „Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls“ bzw. „Wehrdienstverweigerung“. Zwei der zehn Angeklagten wurden freigesprochen, drei zu Zuchthausstrafen und fünf zum Tod verurteilt. Von den Todesstrafen ließ Gauleiter Hofer drei in Zuchthausstrafen umwandeln; Richard Reitsamer und Johann Öttl ließ er in Bozen hinrichten. 93 Auffällig sind zwei Besonderheiten: Die erste betrifft die Kompetenzen des Sonderge‐ richts. Wehrpflichtige, die einen Einberufungsbefehl nicht befolgten, wurden im Deutschen Reich normalerweise von der Militärjustiz verfolgt. Wer bereits die Musterung verweigerte (wie es zumindest in einem Bozner Fall dokumentiert ist) oder nach der Musterung zu fliehen versuchte (wie im in der Einleitung vorgestellten Fall von Herbert Kleiser), unterstand der zivilen Sonderjustiz. In der Operationszone Alpenvorland zog Hofer beide Formen der Entziehung bzw. Verweigerung an das Sondergericht. Damit erweiterte er seine eigenen Machtinstrumente zur Disziplinierung der regionalen Bevölkerung. Den § 5 Abs 1 Nr. 3 KSSVO konnten die Richter in Bozen als Rechtsgrundlage gegen italienische Staatsbürger jedoch nicht heranziehen. Geahndet wurden ihre Verweigerungen nun als Vergehen gegen Hofers Verordnung über die Wehrpflicht vom Januar 1944. Damit agierte die Sondergerichtsbarkeit in Bozen im Bereich der Durchsetzung der Wehrpflicht vollends als Instrument des nationalsozialistischen Maßnahmenstaats. 94 Die Häufung von Verfahren wegen Wehrdienstentziehungen am Sondergericht Bozen (die bislang allerdings mehr angenommen als aufgrund der schlechten Aktenlage belegbar ist) stellt mit Blick auf die Vorgänge in Feldkirch kein Alleinstellungsmerkmal der Sonder‐ gerichtsbarkeit in der Operationszone Alpenvorland dar. Die Ursachen waren in Bozen und Feldkirch jedoch jeweils andere: In der Operationszone schuf sich Hofer ein flexibles, willkürliches Machtinstrument der Repression von Dissident*innen unter der ansässigen Bevölkerung (er besaß auch das Gnadenrecht) - in Feldkirch agierte das Sondergericht wie ein Grenzposten der Wehrmacht bzw. der militarisierten „Volksgemeinschaft“ und sanktionierte meist jugendliche Abtrünnige aus dem gesamten Reichsgebiet, die in die Schweiz flüchten wollten, mit Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Direkte Interventionen von Hofer sind in Feldkirch nicht sichtbar. Die Spruchpraxis gegen Reichsangehörige - es gab kein Todesurteil - war deutlich milder als in Bozen, wo das Sondergericht die von Hofer verordnete Wehrpflicht bzw. Loyalität zum Deutschen Reich in einer national 266 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="267"?> 95 Johann Weissteiner aus Mühlbach, einen Bruder des Deserteurs Bernhard Weissteiner, verurteilte das Sondergericht Bozen 1944 wegen „Begünstigung zur Fahnenflucht“ zu zehn Monaten Zuchthaus. Gendarmerie Mühlbach an den Kommandeur der Sicherheitspolizei u. d. SD in Bozen, 19.9.1944. BA MA, PERS 15/ 145466. 96 Leopold Steurer/ Martha Verdorfer/ Walter Pichler, Verfolgt, Verfemt, Vergessen: Lebensgeschicht‐ liche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943-1945, Innsbruck 1997, 443-453. Sie interviewten zwanzig interniert gewesene Frauen, keine berichtete offenbar von einem Gerichtsverfahren. Vgl. auch zu Fällen von Sippenhaft im Gadertal Messner, Die ungehorsamen Badioten. diffusen Gesellschaft mit unterschiedlichen Staatszugehörigkeiten auch mit Todesstrafen durchsetzen wollte. Die zweite Besonderheit des Sondergerichts Bozen ist - zumindest unter den bekannten Verfahren - das Fehlen von Gerichtsverfahren zu Hilfsdelikten. Bislang konnte erst ein Hinweis auf eine Verurteilung wegen Hilfsdelikten eruiert werden. 95 In Südtirol scheint Hofer zur Regel gemacht zu haben, was er in Tirol im Frühjahr 1943 mit Hilfe der Gestapo ausprobierte, dort aber eher die Ausnahme blieb: Im § 4 der Verordnung vom 6. Jänner 1944 führte er in Südtirol die außergerichtliche Verfolgung von Angehörigen flüchtiger Deserteure und Wehrdienstverweigerer ein und erklärte sie zur allgemeinen Maßnahme. Ehefrauen, Eltern, Geschwister oder Kinder über 18 Jahre konnten nun ohne Weiteres bis zum Ergreifen der Gesuchten festgenommen und in Gefängnissen und Lagern (etwa im Durchgangslager Bozen) festgehalten werden. 96 Die Sippenhaft sollte zudem weitere Fluchten von Deserteuren über das Münstertal in die Schweiz unterbinden bzw. ihre Rückkehr erzwingen. Es zeigt sich jedenfalls, dass Heinrich Eccher in Feldkirch selten und bei seinen Verhandlungen am Sondergericht Bozen offenbar noch weniger mit Fällen der Beihilfe zur Fahnenflucht beschäftigt war. Die Gründe dafür waren freilich unterschiedlich: In Vorarlberg war das „einheimische“ Desertionsgeschehen vergleichsweise selten Gegen‐ stand des Sondergerichts, in Südtirol wurde es mit drastischen außergerichtlichen Mitteln bekämpft. Entlang dieser regionalen Unterschiede der Herrschaftspraxis waren auch die Geschlech‐ terverhältnisse spezifisch: Am Sondergericht Feldkirch waren 83 Prozent der Angeklagten Männer, am Sondergericht Innsbruck waren 60 Prozent der Angeklagten Frauen. Für das Sondergericht in Bozen lässt sich aufgrund der schlechten Aktenlage keine sichere Aussage treffen, aber in den bekannten Fällen waren ausschließlich Männer angeklagt, während Frauen als Angehörige und Helferinnen von Deserteuren der unmittelbaren polizeilichen Gewalt ausgesetzt waren. Durch die doppelte Tätigkeit von Heinrich Eccher als alleiniger Richter des Sonderge‐ richts Feldkirch und Richter neben anderen Juristen des Oberlandesgerichts Innsbruck am Sondergericht Bozen eröffnet sich noch die weitere Vergleichsmöglichkeit hinsichtlich seiner jeweiligen Praxis. Wie in Vorarlberg verhängte Eccher offenbar auch in Südtirol keine Todesurteile gegen Wehrdienstentzieher. So verurteilte er die ladinischsprachigen Bauernsöhne Franz Frenademetz, Anton Anvidalfarei und Albin Daporta aus dem Gadertal im Juli 1944 in Bruneck wegen Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls - sehr wahrschein‐ lich gegen den Antrag des Anklägers auf Todesstrafe - zu immer noch harten sechs Jahren Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 267 <?page no="268"?> 97 Urteil, 11.7.1944, SG Bozen, KLs 165/ 44. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt (LHASA), Z 259, Nr. 26. Zwei weitere Burschen aus Sand in Taufers sprach er frei, weil nicht widerlegbar war, dass sie den Einberufungsbefehl nicht zugestellt bekommen hatten. Aus Formulierungen im Urteil geht hervor, dass der Strafantrag weit strenger gewesen war, die Annahme des Antrags auf Todesstrafe leitet sich von Strafanträgen in anderen bekannten Verfahren her. Der Autor dankt Kerstin von Lingen für die Überlassung einer Kopie. 98 Sprung, der von 1955 bis 1957 Präsident des LG Feldkirch wurde, verurteilte die Gadertaler Paul Mischi und Siegfried Dapunt am 4.7.1944 zum Tode, sie wurden dann aber zu Zuchthausstrafen begnadigt. StA Bozen, SG Bozen, KLs 161/ 44; Messner, Die ungehorsamen Badioten. Karl Wolf verhängte über Richard Reitsamer aus Meran am 4.7.1944 und über Johann Öttl aus Gossensass am 28.7.1944, jeweils wegen Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls, die Todesstrafe, ebenfalls am 28.7.1944 über den gebürtigen Bludenzer und in Primiero (Trient) lebenden Bergarbeiter August Taferner, der 1943 aus der italienischen Armee zu den Partisanen desertiert war. An allen drei und etlichen anderen an italienischen Partisanen vollstreckten Todesurteilen war Sprung als Beisitzer beteiligt. StA Bozen, SG Bozen, KLs 166/ 44 (Reitsamer), KLs 212/ 44 (Öttl); Johann Holzner et al. (Hg.), Zeugen des Widerstandes. Eine Dokumentation über die Opfer des Nationalsozialismus in Nord-, Ost- und Südtirol, Innsbruck 1977, 69, 83-84. 99 Steinacher, Sondergericht Bozen, 256. 100 Zit. n. Kiermayr, Ein derart eingestellter Charakter, 173. 101 Dr. Arthur Ender, 11.1.1946. OLG Innsbruck, Sk 226. 102 Kriminalabteilung für Vorarlberg an die Staatsanwaltschaft Feldkirch, 14.1.1945. OLG Innsbruck, Sk 226. 103 Dr. Arthur Ender, 11.1.1946. OLG Innsbruck, Sk 226. Zuchthaus, 97 während andere Richter wie Herwig Sprung und Karl Wolf in ähnlichen Fällen zur gleichen Zeit Todesurteile aussprachen. 98 Diese relative Zurückhaltung legte Eccher wiederum bei Eigentumsdelikten nicht an den Tag: Den Arbeiter Franz B. aus Bozen verurteilte er wegen „Plünderung“ (Diebstahl von zwei Öfen und einem Boiler, die er für 4.500 Lire verkauft hatte) als „Volksschädling“ zum Tode. Er hielt ihn auch einer Begnadigung nicht für würdig, sodass B. hingerichtet wurde. 99 VIII. Schlussbetrachtung Am Tag der Befreiung durch die französischen Truppen entlud sich in Feldkirch der Zorn eines Teils der Bevölkerung gegen Herbert Möller, wie Christoph Volaucnik schrieb: „Er wurde von bewaffneten Widerständlern aus seiner Wohnung geholt, in das Gericht gezerrt und barfuß, nur mit einer Hose bekleidet durch die Stadt getrieben. Er sollte hingerichtet werden.“ 100 Dazu kam es durch das Eingreifen des Rechtsanwalts Arthur Ender nicht, der von den Franzosen kurzfristig zum Bürgermeister bestellt wurde. 101 Die Menge machte Möller für Todesurteile „gegen arme Ausländer“ und Höchststrafen verantwortlich, die er „mit lächelnder Miene und zynischen Bemerkungen“ kommentiert habe. 102 Ender berichtete später nüchtern, dass Möller „in seinem Amte unnahbar und streng [war] und fast jede Intervention zugunsten eines Beschuldigten oder Verurteilten […] von ihm abgelehnt [wurde].“ 103 Bei der Beurteilung Möllers im Zuge der Entnazifizierung des Justizpersonals durch die Sonderkommission des Oberlandesgerichts Innsbruck kam diese zum Schluss, dass er „der Gedankenwelt des Nationalsozialismus vollständig verfallen war und daß er auch die abwegigen, die natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit widersprechenden Teile des politischen Parteiprogramms des Nationalsozialismus gebilligt und in seiner 268 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="269"?> 104 Erkenntnis der Sonderkommission, 17.2.1947. OLG Innsbruck, Sk 226. Vgl. Pitscheider, Entnazifizie‐ rung, 73. 105 Bei den Fällen mit Wehrdienstentziehung schlug Möller im Fall von Paul Schwetling die Todesstrafe selbst vor. Dies trifft beispielsweise auch im Fall des hingerichteten Friedrich Frolik zu, der nach einer Flucht aus der Haftanstalt Feldkirch in die Schweiz wollte. Auch bei ihm beantragte Möller von sich aus die Todesstrafe. 106 Nicht nur in seinem Fall sticht die selektive Betrachtung der Gerichtspraxis von Tiroler Juristen durch die Sonderkommission des OLG Innsbruck ins Auge. In der Verhandlung seines Falles wurde die Tätigkeit am Sondergericht Bozen völlig außer Acht gelassen, Sprung wurde nicht dazu befragt und er selbst verschwieg sie zur Gänze. Sprung wurde schließlich zugutegehalten, er sei „ein großer Feind des preußischen Militarismus gewesen und habe unter seinen Bekannten als typischer Österreicher“ gegolten. Erkenntnis der Sonderkommission, 7.2.1947. OLG Innsbruck, Vd 210 (Der Autor dankt Sabine Pitscheider für die Überlassung einer Kopie des Dokuments). Diese (Selbst-)Einschätzung wirft wiederum ein anderes Licht auf die Praxis von Tiroler Richtern beim Sondergericht Bozen, nämlich weniger nationalsozialistisch motiviert als in der Tradition der Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg gegen „Verräter“ gehandelt zu haben. Vgl. Oswald Ueberegger, Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002; Claus Gatterer, Unter seinem Galgen stand Österreich: Cesare Battisti. Porträt eines „Hochverräters“, Wien 1997. 107 Kiermayr, Ein derart eingestellter Charakter, 177-178. Amtsführung in die Tat umgesetzt“ habe. 104 In den Erwägungen der Kommission finden sich als Beispiele für sein hartes Vorgehen keine Strafsachen wegen Wehrdienstentziehungen. Sie verwies auf Todesstrafen, die Möller unter anderem gegen den Tschechen Friedrich Frolik nach der Gewaltverbrecher-VO und gegen die Hausiererin Anna Guttenberger nach der Volksschädling-VO beantragt hatte. Anna Guttenberger hatte er als „asoziales Element“ wegen ihrer „negativen Einstellung zur Volksgemeinschaft“ auch nicht - im Unterschied zu Eccher - für begnadigungswürdig gehalten. Möller rechtfertigte sich damit, dass er sich an die Weisungen übergeordneter Stellen zu halten gehabt hätte, insbesondere in der Beantragung von Todesstrafen. Dies traf bei Wehrdienstentziehungen - wie gezeigt wurde - nur in zwei von drei Fällen zu und auch bei anderen Strafanträgen schlug Möller von sich aus die Todesstrafe vor. 105 Obwohl er ursprünglich weniger eng mit der NSDAP verbunden war, erfüllte er die Erwartungen der leitenden Justizbehörden weitgehender als Eccher. Dabei mag, neben charakterlichen Eigenschaften, das Alter und damit zusammenhängendes Karrierestreben eine Rolle gespielt haben: Möller war erst 39, als er Oberstaatsanwalt in Feldkirch wurde; Eccher als Präsident des Landgerichts und Vorsitzender des Sondergerichts zwanzig Jahre älter. Die Sonderkommission schickte Möller 1947 in Pension. Eine Untersuchung nach dem Kriegsverbrechergesetz fand bald ihre Einstellung. Möller wurde vielmehr als minderbelastet eingestuft und machte später - wie viele andere Juristen des NS-Staates, die für Todesurteile verantwortlich waren (prominent in Vorarlberg etwa Herwig Sprung 106 ) - neuerlich Karriere bis hin zum Mitglied des Obersten Gerichtshofs der Zweiten Republik. 107 Auch Eccher, der bei der Entfernung aus seinem Amt im Mai 1945 bereits 62 Jahre alt war, wurde von der Sonderkommission pensioniert und für seine Spruchpraxis nicht weiter strafrechtlich belangt. Die elf von ihm verhängten, in zehn Fällen vollstreckten Todesurteile betrafen sogenannte „Gefährliche Gewohnheitsverbrecher“, mindestens sechs davon wegen Eigentumsdelikten. Die Sonderkommission beriet über die Todesurteile nicht näher, das Protokoll der Verhandlung liest sich, als wären sie ihren Mitgliedern, ausnahmslos Juristen, nicht weiter problematisch erschienen. Sie betrafen ohnehin „Krimi‐ Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 269 <?page no="270"?> 108 Ebd., 175. 109 Mündliche Verhandlung vor der Sonderkommission des OLG Innsbruck, 27.4.1946. OLG Innsbruck, Sk-34; siehe auch Pitscheider, Entnazifizierung, 71-72. 110 Mündliche Verhandlung vor der Sonderkommission des OLG Innsbruck, 27.4.1946. OLG Innsbruck, Sk-34. nelle“. 108 Eccher fühlte sich, da ihm abgesehen von seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP und seiner Karriere im NS-Staat keine konkreten Verfehlungen vorgehalten wurden, ungerecht behandelt, unter anderem, weil er nach seinem Empfinden „ohnedies wegen seiner Milde und Güte im verflossenen Systeme nur Schwierigkeiten“ hatte. Seine Gerichtspraxis betrachtete er in einer Kontinuität bis zurück in die Monarchie als tadellos, maßvoll, immer das Beste und nur das Wohl des Volkes im Auge habend. 109 Dabei könnte er mit einigem Recht an seinen Umgang mit jungen Wehrpflichtigen gedacht haben, die an der Schweizer Grenze aufgegriffen wurden und seinem Gericht zufielen. In Vorarlberg offenbarte sich die Problematik der völlig maßlosen Bestimmungen des § 5 der KSSVO vielleicht deutlicher als an anderen Sondergerichten. Im Grunde konnte jeder illegale Übertritt eines Wehrpflichtigen in die Schweiz als dauerhafte Wehrdienst‐ entziehung bewertet werden. Das hätte aber der Regel nach für den Richter bedeutet, laufend Todesurteile aussprechen zu müssen. Zur Umgehung dieser vermutlich auch der Bevölkerung in der Region kaum vermittelbaren Drastik des NS-Rechts griff der erfahrene Richter zur Methode, durch Verweis auf andere soziale und persönliche Umstände stets auf minderschwere Fälle zu erkennen. Tatsächlich ist Ecchers Spruchpraxis zur Beantwortung der Frage nach dem Hand‐ lungsspielraum von Akteuren der NS-Justiz interessant. Sie zeigt, dass der Richter eines Sondergerichts seinen Spielraum nutzen konnte, um nicht nur in einem Einzelfall die in der Rechtsnorm vorgesehene, von Oberstaatsanwaltschaft und Reichsjustizministerium mit Nachdruck verlangte Todesstrafe abzuwenden. Er tat dies nachweislich in drei Fällen; in 43 weiteren Fällen blieb sein Strafmaß zum Teil deutlich unter der beantragten Strafe. Bei der Analyse des Verfahrens gegen Elisabeth Sloves fiel auf, dass er trotz einer entsprechenden Vorlage des Generalstaatsanwalts auf antisemitische Begründungen für ihre Verurteilung verzichtete und eine deutlich geringere Strafe verhängte. Im Fall ihres Liebhabers Heinrich Heinen, den er wegen Rassenschande und Wehrdienstentziehung zu einer schweren Zuchthausstrafe verurteilt hatte, entsprach er dem Strafantrag. Während der mündlichen Verhandlung vor der Sonderkommission des Oberlandesgerichts Innsbruck zur Entnazifizierung äußerte sich Eccher nicht zu diesen konkreten Fällen und wurde auch nicht auf sie angesprochen. Er verwies aber vorsorglich darauf, dass seine Ehefrau Hedwig in erster Ehe mit dem Juden Heinrich Jakobowski verheiratet gewesen war und aus dieser Ehe drei Kinder hervorgegangen waren, „die dann im Haushalt der Mutter zeitweilig gelebt haben; er habe mit den Stiefkindern ein gutes Verhältnis gehabt und sei daher schon aus fam. Gründen gegen das Vorgehen des Nat.Soz. [Nationalsozialismus] in der Judenfrage eingestellt gewesen.“ 110 Im Fall von Liebesverhältnissen schien Eccher gegenüber den Frauen zunächst eine gewisse Milde walten zu lassen, doch das harte Urteil gegen Delphina Burtscher im Dezember 1944 bedeutet, dass hier weniger das Geschlecht der Angeklagten ausschlaggebend war, als deren Versuch, einen Soldaten für ein gemeinsames Leben zu retten, anstatt dem Aufopferungsgebot des Staates zu folgen. An Delphina Burtscher fällte 270 Peter Pirker / Aaron Salzmann <?page no="271"?> er ein Abschreckungsurteil für junge Frauen und Familien, deren Liebhaber, Väter und Söhne an letzterem zu zweifeln begonnen hatten. Auch am Sondergericht Bozen fällte Eccher - soweit sich dies mit Akten überprüfen lässt - kein Todesurteil gegen Kriegsdienstverweigerer, was andere Richter des Oberlan‐ desgerichts Innsbruck zur gleichen Zeit und in ganz ähnlichen Fällen sehr wohl taten. Ob er diese Praxis auch im Fall des Fluchthelfers Ernst Emhofer beibehalten hätte, gegen den er einen Schauprozess ins Auge gefasst hatte, ist zweifelhaft. Die Frage bleibt jedoch Spekulation. Wichtiger ist der Befund, dass Eccher seinen Handlungsspielraum nutzte, um die Todesstrafe auch von einem Wehrdienstentzieher abzuwenden, der von der Staatsan‐ waltschaft nach dem NS-Recht dem Tätertyp „Gewaltverbrecher“ zugerechnet worden war. In anderen Fällen, bei denen die Staatsanwaltschaft mit Tätertypen argumentiert hatte, um Todesstrafen zu verlangen, nutzte er diesen Spielraum nicht. Das betraf etwa sozial deklassierte, als „Asoziale“ und „Zigeuner“ vorverurteilte Angeklagte, die Eigentumsdelikte begangen hatten. Hier wies er sich als Konformist aus, nicht nur des NS-Rechts, sondern in längerer Tradition auch der bürgerlichen Rechtsordnung. Der knappe Vergleich des Sondergerichts Feldkirch mit jenen von Innsbruck und Bozen erbrachte, dass sich Wehrdienstentziehung und Fahnenflucht in den Akten dieser Sondergerichte sehr unterschiedlich spiegeln. In Vorarlberg war es die vermeintliche Attraktivität einer günstigen Fluchtmöglichkeit in die Schweiz, die (junge) Wehrpflichtige und Deserteure aus dem gesamten Reichsgebiet anzog. Hier waren die Angeklagten selten Einheimische und das anteilsmäßig am häufigsten verfolgte einschlägige Delikt war Wehrdienstentziehung. In Nordtirol war das Geschehen viel stärker von Desertionen Einheimischer im Binnenland und der Verfolgung von Hilfsdelikten geprägt. In Südtirol bzw. der Provinz Bozen reagierten Gauleiter Hofer und die Juristen des Oberlandesgerichts Innsbruck auf die Zunahme von Wehrdienstverweigerungen und Fahnenfluchten nach dem September 1943, indem sie die rechtliche Basis der Verfolgung von Wehrdienstentziehungen weiter flexibilisierten und radikalisierten. Eine darüber hinaus gehende Dimension war, dass sie den Umgang mit Angehörigen desertierter und wehrunwilliger Italien- und Deutschland-Optanten von zumindest dem Anschein nach noch rechtsförmigen Verfahren, wie sie in Vorarlberg und weitgehend auch in Tirol bestanden, auf rein polizeiliches, willkürliches Vorgehen umstellten. Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht Feldkirch 271 <?page no="272"?> Bildstock zum Gedenken an sechs erschossene Freiheitskämpfer, Langenegg. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="273"?> Langenegg im Vorderen Bregenzerwald. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="274"?> Krumbach im Vorderen Bregenzerwald. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="275"?> 1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung des Artikels Isabella Greber/ Peter Pirker, Unabkömmlichkeit, Selbstbeschädigung, Desertion, Widerstand: Wehrdienst‐ entziehungen im Vorarlberger Dorf Krumbach, in: zeitgeschichte 49 (2022) 4, 513-542. Militärregierung des Bezirks von Bregenz an den Herrn Bezirkshauptmann von Bregenz, 28.8.1945, zit. n. Wolfgang Weber, NS-Herrschaft am Land. Die Jahre 1938 bis 1945 in den Selbstdarstellungen der Vorarlberger Gemeinden des Bezirks Bregenz, Regensburg 1999, 27-28, 27. 2 Vorarlberger Tagblatt, 16.7.1938, 5. 3 Gouvernement Militaire en Autriche, Fragebogen, Girardi Karl, 7.8.1945. Vorarlberger Landesarchiv (VLA), Personalakt Girardi Carlo Luigi. 4 Gendarmerie-Posten Krumbach Landkreis Bregenz an die Bezirkshauptmannschaft in Bregenz, E.Nr. 358, Darstellung des geschichtlichen Werdeganges über die deutsche Besatzung von Österreich bis zur Befreiung durch die Alliierten, eingelangt am 2.10.1945, zit. n. Weber, NS-Herrschaft, 102-106, 103 (im Folgenden zitiert als Bericht Girardi/ Steurer/ Gafanesche). Krumbach Varianten der Wehrdienstentziehung und Handlungsspielräume in einem Dorf im Bregenzerwald Isabella Greber / Peter Pirker I. Einleitung Etwa vier Monate nach dem Ende der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges in Europa forderte der Chef der französischen Militärregierung im Bezirk Bregenz in Vorarlberg, Joseph Martial Benité, Bezirkshauptmann Emil Seeberger dazu auf, von den Bürgermeistern der Gemeinden seines Bezirks Berichte über „den geschichtlichen Werdegang“ der „deut‐ schen Besetzung von Österreich“ einzuholen. 1 Ein Aspekt, über den Benité in Kenntnis gesetzt werden wollte, war die Haltung der lokalen Bevölkerung zum „Anschluss“ im März 1938, ein anderer der „Widerstand gegen Nationalsozialisten“. Den Bericht über die Gemeinde Krumbach verfassten drei Männer: Bürgermeister Franz Josef Steurer, Gendarmerie-Revier-Inspektor Karl Girardi und Pfarrer Oskar Gafanesche. Steurer hatte seine Funktion bereits zwischen 1935 und 1938 innegehabt und war im Juli 1938 vom NS-Regime abgesetzt worden. 2 Girardi und Gafanesche übten ihre Ämter seit den frühen 1930er-Jahren kontinuierlich aus. 3 Zum ersten Punkt hielten sie fest: „Mit Ausnahme weniger Nationalsozialisten wurde der Anschluß mit großer Traurigkeit aufge‐ nommen. […] Durch die Drohung, daß Krumbach es büßen müsse, stimmte der Großteil der Bevölkerung mit ‚Ja‘. Doch dürfte kaum eine Gemeinde des Landes relativ so viele Neinstimmen gehabt haben.“ 4 <?page no="276"?> 5 Ebd. 6 Vgl. den Beitrag von Pirker in diesem Buch. Diese These bestätigte sich auch durch vertiefende Recherchen zu einer Reihe von Gemeinden im Bregenzerwaldarchiv (BAW), für die wir der Leiterin des Archivs Katrin Netter sehr herzlich danken. 7 Vgl. Kurt Klein, Daten zur Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung der Vorarlberger Gemeinden seit dem 18.-Jahrhundert, in: Montfort 43 (1991) 4, 281-302. 8 Registrierungen und Nachregistrierungen 1947-1956. VLA, Bezirkshauptmannschaft Bregenz II, Sch. 85, Abteilung I. 9 Wolfgang Weber, Aspekte der administrativen Entnazifizierung in Vorarlberg, in: Walter Schuster/ Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, 59-96, 87. Zum zweiten Punkt gaben sie an: „Starker passiver Widerstand des Großteiles der Bevölkerung. - 10 Wehrmachtsflüchtlinge, die zum Teil 3 Jahre von der Bevölkerung verborgen gehalten wurden. - Ein französischer Dienstverpflichteter wurde in der Gemeinde über 1 Jahr verborgen gehalten und unterstützt (1944-1945). In den letzten Wochen bildete sich eine organisierte Widerstandsbewegung.“ 5 Man neigt zunächst dazu, die Darstellung als eines von vielen Beispielen für die Konstruk‐ tion des Opfermythos in der Nachkriegsgesellschaft einzuordnen. Doch im Vergleich mit den Berichten aus den 35 anderen Gemeinden des Bezirks sticht Krumbach hervor: Nur der Bericht aus dem Nachbarort Langenegg enthielt eine ähnlich starke Betonung des Widerstands - in den meisten Berichten wurde er angesichts der Repressionsdrohung als unmöglich bezeichnet - und in kaum einem anderen Dorf wurde explizit über „Wehrmachtsflüchtlinge“, schon gar nicht von einer derart großen Zahl, berichtet. Eine vorläufige Auswertung der im Forschungsprojekt „Deserteure der Wehrmacht. Verweige‐ rungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“ bei Archiv- und Literaturrecherchen eruierten Fälle von Wehrdienstentziehungen bestätigte den Eindruck. In keiner Gemeinde außerhalb des Rheintales, wo sich aufgrund der Nähe zur Schweizer Grenze die meisten Fälle von Entziehungen aus den deutschen Streitkräften in Vorarlberg ereigneten, 6 waren so viele Wehrdienstentziehungen aktenkundig geworden. Dabei war davon auszugehen, dass die in den Archiven aufgefundenen Fälle mit den im Bericht vom August 1945 erwähnten Fällen nicht ident waren, die Entziehungspraxis also noch stärker gewesen war. Aus diesen Gründen wurde Krumbach für eine Mikrostudie im Rahmen des Projekts ausgewählt. Krumbach liegt auf 730 Meter Seehöhe im Vorderen Bregenzerwald, einer ländlich geprägten Hügel- und Gebirgsregion, die zum politischen Bezirk Bregenz gehört. Das Dorf wird im Nordwesten von der Weißach und im Osten von der Bolgenach umrahmt. Ringsum befinden sich Steilufer, weshalb Krumbach durch Brücken mit den Nachbardör‐ fern verbunden ist. Im Jahr 1934 verzeichnete Krumbach 737 Einwohner*innen. 7 1947 mussten sich 73 Personen nach dem „Gesetz über die Behandlung der Nationalsozialisten“ registrieren. 8 Das bedeutet, dass ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Krumbach lag damit im Vorarlberger Durchschnitt. 9 Mehr als die Hälfte der Eintritte wurden in den Jahren 1938 und 1939 verzeichnet. Nach dem Bericht von Steurer/ Girardi/ Grafenesche hatte die lokale NSDAP viele der neuen Parteimitglieder nur „durch offene und versteckte Drohungen“ und „mit innerem Widerstreben“ gewonnen. Tatsächlich war 276 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="277"?> 10 Wolfgang Weber, Nationalsozialismus und Kriegsende 1945 in Langenegg, in: Wolfgang Weber/ Kurt Bereuter/ Andreas Hammerer (Hg.), Nationalsozialismus im Bregenzerwald unter besonderer Be‐ rücksichtigung der NS-„Euthanasie“ im Bregenzerwald, Alberschwende 2008, 93-105, 95; Wolfgang Weber, Opfer und Täter der NS-Diktatur in Alberschwende, in: ebd., 10-36, 20. 11 Der Reichsstatthalter, Der Staatskommissar, Fragebogen 47623 Girardi Karl, 15.8.1938. VLA, Person‐ alakt Girardi Carlo Luigi. 12 Hauptgrundbuchsblatt, Karl Luigi Girardi. VLA, Personalakt Girardi Carlo Luigi. 13 Wiederstandsbewegung [sic] Krumbach (Breg.Wald), o. D. Bregenzerwald Archiv (BWA), I-060, Sch. 15, Fasz. 200. 14 Georg Schelling, Festung Vorarlberg. Ein Bericht über das Kriegsgeschehen 1945 in Vorarlberg, Bregenz 1987, 218. die Zahl der sogenannten „Illegalen“, die bereits vor 1938 der NSDAP beigetreten waren, mit zehn in Krumbach niedrig (14 Prozent). Gemessen an den Stimmberechtigten bei der Volksabstimmung vom 10. April 1938 (415) lag der Prozentsatz bei 2,4. Im Vergleich mit den Nachbargemeinden Langenegg (17 Prozent) und Alberschwende (12,1 Prozent) ist dieser Anteil auffallend gering. 10 Dem Bericht ist ferner zu entnehmen, dass es im Juni 1943 einen ungewöhnlichen Bruch in der NSDAP gegeben hatte, als die Gestapo den im August 1938 eingesetzten Bürgermeister Johann Peter Fink, den Ortsgruppenleiter Emil Nußbaumer und den Orts‐ bauernführer Josef Nußbaumer verhaftete. Die Gründe dafür wurden von Girardi/ Steurer/ Gafanesche nicht angeführt. So viel kann jedoch vorweggenommen werden: Sie hatten mit Vorwürfen der Wehrdienstentziehung von Wehrpflichtigen zu tun. Einer der Krumbacher, die noch 1938 einen Aufnahmeantrag stellten, war Postenkom‐ mandant Karl Girardi, Mitverfasser des Berichts. Girardi, 1938 51 Jahre alt, stammte aus Pergine im Trentino und sprach Deutsch und Italienisch. Nach seiner Ausbildung in Innsbruck hatte er als Gendarm seit 1911 an verschiedenen Gendarmerieposten in Vorarlberg gedient. Seit 1927 führte er den Gendarmerieposten von Krumbach und lebte hier mit seiner Ehefrau und der 16-jährigen Tochter. Nach der Ausschaltung der Demokratie war er 1933 der Vaterländischen Front beigetreten. Er erhielt durchgehend Auszeichnungen und Beförderungen und dürfte den Posten auch zwischen 1938 und 1945 zur Zufriedenheit aller geführt haben. 11 Gegenüber der französischen Militärregierung erklärte er seinen Beitritt zur NSDAP mit dem „Zwang der Verhältnisse“. Anfang Mai 1945 blieb er mit Zustimmung der französischen Militärregierung im Amt. 12 Das hatte wohl stark mit seinem Verhalten gegenüber Deserteuren und der Widerstandsgruppe in Krumbach im April und Mai 1945 zu tun - auf einer Liste mit 37 Mitgliedern, die wahrscheinlich im Mai 1945 erstellt wurde, scheint er bereits an dritter Stelle als Mitglied auf. Nicht umsonst finden sich im Bericht vom Oktober 1945 die „Wehrmachtsflüchtlinge“ unter der Rubrik Widerstand: Ihre Namen stehen ebenfalls auf der Mitgliederliste der Widerstandsgruppe. Ein weiterer Name, der ins Auge fällt, ist der des Gemeindearztes Dr. Johann Müller. 13 Aufgrund seiner Lage und Topografie wurde Krumbach vom Festungskommandanten von Vorarlberg im Frühjahr 1945 als Verteidigungspunkt im sogenannten Vorderwald auserkoren. Um das Vordringen französischer Truppen aus dem bayerischen Allgäu zu erschweren, sollten die Brücken gesprengt und die Stellungen verteidigt werden. 14 Durch diese Entscheidung waren Krumbach und die umliegenden Dörfer von Zerstörung bedroht. Dies zu verhindern, war das wesentliche Ziel der Widerstandsgruppe, die Ende April unter Krumbach 277 <?page no="278"?> 15 Maria Fritsche, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien/ Köln/ Weimar 2004, 26-31. Vgl. die Fallstudien in Thomas Geldmacher/ Magnus Koch/ Hannes Metzler/ Peter Pirker/ Lisa Rettl (Hg.), „Da machen wir nicht mehr mit …“. Österreichi‐ sche Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010, sowie Markus Barnay, Wehrmachtsdeserteure und ihr Umfeld im Großen Walsertal, URL: https: / / www.malingesellschaft. at/ pdf/ Barnay-Burtscher-Lorenz.pdf (abgerufen 6.7.2023). 16 Leopold Steurer/ Martha Verdorfer/ Walter Pichler, Verfolgt, Verfemt, Vergessen. Lebensgeschicht‐ liche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg, Südtirol 1943-1945, Bozen 1997, 16-18. 17 Ebd., 29. der Führung des aus Bregenz stammenden Deserteurs Max Ibele auftrat. Er fiel am 30. April im Kampf mit einer in Krumbach stationierten SS-Einheit. Bemerkenswert ist, dass Ibele als einziger Todesfall unter den Deserteuren von Krumbach genannt wurde, was die Frage aufwarf, wie die Deserteure der Verfolgung durch die Wehrmachtsjustiz entgangen waren und wie sie überlebt hatten. Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass das Überleben von Deserteuren in den österreichischen Alpen nicht die Regel war, aber auch nicht die Ausnahme. Die ortsbezogenen Studien zeigen oftmals individuelle Fälle und Kleingruppenstrukturen auf, die von Hilfeleistungen aus dem Familienund/ oder Freundeskreis gekennzeichnet waren. In Bezug auf die Motive und die Herkunft von Deserteuren ergaben die Untersuchungen, dass die Beweggründe einerseits mit der Sozialisation der Soldaten verbunden waren. Es handelte sich oftmals um junge Männer, die aufgrund ihrer antifaschistischen Einstel‐ lung oder aufgrund ihrer Religiosität Ablehnung gegenüber dem NS-Regime und seiner Kriegsführung entwickelt hatten. Andererseits handelte es sich häufig um Menschen, die aus ärmlichen Verhältnissen stammten und abseits der bürgerlichen Norm aufgewachsen waren - sie waren oftmals Arbeiter, Pächter, Kleinbauern und Knechte. 15 Eine Pionierstudie über Wehrmachtsdeserteure in Südtirol stellte nicht nur diesen Sachverhalt fest, sondern damit zusammenhängend auch, dass Deserteure selten aus dem städtischen Raum kamen. Die meisten der beschriebenen Männer stammten aus Bergregionen, die dem Zugriff staatlicher Autoritäten durch ihre periphere Lage bis zu einem gewissen Grad entzogen waren. 16 Freilich ist bei der Generalisierung solcher Beobachtungen Vorsicht geboten: Die politischen Verhältnisse waren in den 1920er- und 1930er-Jahren in Südtirol gänzlich andere als beispielsweise in Vorarlberg. Auch Spezifika der politischen Geographie und der Topographie sind zu beachten. In Vorarlberg scheint die Verteilung zwischen Zentrum und Peripherie umgekehrt zu Südtirol gewesen zu sein: Das dicht besiedelte Gebiet im Rheintal zog wegen der dort verlaufenden Flussgrenze zur Schweiz viel mehr fluchtwillige Soldaten an als die Peripherie des Bregenzerwalds. Bekannt ist, dass während der NS-Diktatur nonkonformes Handeln lokal und fallbezogen unterschiedlich stark verfolgt wurde. Dies lässt sich zum einen durch die Willkür der Polizei- und Justizbehörden des NS-Staates begründen, lag zum anderen aber auch an unterschiedlich starker Verfolgungsintensität durch lokale Instanzen des NS-Staates, wie Steurer/ Verdorfer/ Pichler bereits angemerkt haben. 17 Vom Verhalten lokaler Funktions‐ träger wie dem Bürgermeister, dem Postenführer der Gendarmerie, dem Ortsgruppenleiter, dem Ortsbauernführer, aber auch dem Gemeindearzt konnte im Einzelfall viel abhängen. Sie befanden sich an der Schnittstelle zwischen den staatlichen Behörden der Kreis- und 278 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="279"?> 18 Siehe dazu den Beitrag von Pirker und Salzmann in diesem Buch 19 Vgl. Liste über Fahnenflüchtige ohne Entlassungspapiere, 21.7.1945. BWA, I-060, Sch. 15 Fasz. 199. 20 Seine Herkunft war zum Zeitpunkt der Drucklegung von Greber/ Pirker, Unabkömmlichkeit, noch nicht bekannt. Da er wohl wie andere Deserteure in Schweden erst im September 1946 zurückkam, stand er auch nicht auf den Listen der Deserteure und Heimkehrer, die von der Gemeinde 1945/ 46 angelegt wurden. Wehrstammbuch Hörburger, Johann Friedrich. TLA. Gauverwaltung bzw. des Wehrkreises und der lokalen Lebenswelt. Sie hatten die Direktiven „von oben“ umzusetzen und darüber Bericht zu erstatten, mit potentiell beträchtlichen Folgen für ihnen meist gut bekannte Personen und Familien. Ebenso waren sie Anlauf‐ stelle für Anzeigen aus der Bevölkerung und mussten entscheiden, wie sie damit weiter umgingen. Nicht selten ergriffen sie selbst die Initiative, um die Normen und Ideale der propagierten Volksgemeinschaft durchzusetzen. Gravierende Unterschiede lassen sich aber auch auf regionaler Ebene feststellen: Das Sondergericht Feldkirch, das für die juristische Verfolgung der Delikte Wehrdienstentziehung und Beihilfe zur Fahnenflucht zuständig war, fällte - im Unterschied etwa zum Sondergericht Bozen - kein einziges Todesurteil wegen Wehrdienstentziehung 18 , selbst wenn der Staatsanwalt sie als Ankläger in der Verhandlung forderte. Einer dieser Fälle betraf Krumbach und war gekennzeichnet von der eingangs erwähnten Involvierung der lokalen NS-Funktionäre, wobei Gendarmeriemeister Girardi intensiv in die Ermittlungen involviert war. Bemerkenswert milde Urteile gegen flüchtige Soldaten aus Krumbach konnten wir außerdem in den überlieferten Strafakten des Kriegsgerichts der Division 188 feststellen. II. Formen der Wehrdienstentziehung Am 21. Juli 1945 erstellte der von der französischen Militärregierung eingesetzte Bürger‐ meister und „Gruppenführer“ der Widerstandsbewegung Krumbach, Franz Josef Steurer, eine „Liste über Fahnenflüchtige ohne Entlassungspapiere“, die im Bregenzerwald Archiv überliefert ist. 19 Von den neun angeführten Männern waren sechs im Zeitraum zwischen 23. März und 26. April 1945 desertiert. Zu diesen sechs Soldaten wurden in Staats- und Landesarchiven keine Akten der Wehrmachtsjustiz oder Meldungen der Polizeibehörden gefunden - sie wären bei der Nichtbeachtung lokaler Archive unsichtbar geblieben. Zu drei Personen auf der Liste, die 1942, 1944 und Anfang Februar 1945 aus der Wehrmacht geflohen waren, wurden Akten der Wehrmachtsjustiz und Meldungen der Polizeibehörden eruiert. Drei weitere Soldaten, die nicht auf der Liste standen, aber sich ebenfalls aus der Wehrmacht abgesetzt hatten, sind durch Aktenfunde in Staats- und Landesarchiven belegbar. Noch eine Desertion eines Krumbacher Soldaten wurde erst durch eine kombinierte Recherche in schwedischen Regionalarchiven und im Tiroler Landesarchiv sichtbar: Auf einer vom schwedischen Historiker Lars Hannson recherchierten Liste von Tiroler und Vorarlberger Deserteuren, die von Norwegen bzw. Finnland in das neutrale Land geflüchtet waren, schien mit Herkunft Innsbruck der Soldat Johann Hörburger auf. Wie seinem Wehrstamm‐ buch zu entnehmen ist, stammte Hörburger jedoch aus Krumbach. Auf dem Deckel findet sich die Anmerkung: „am 1.11.44 fahnenflüchtig nach Schweden“. 20 Hinzu kommt ein Fall der Wehrdienstentziehung mit einer Reihe von Beschuldigten, der ebenfalls nicht auf der Liste des Bürgermeisters aufschien, weil es sich zum Tatzeitpunkt um Zivilisten, darunter Krumbach 279 <?page no="280"?> 21 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Reichsminister der Justiz, 9.12.1943. VLA, LGF 27/ 44 (verwahrt unter LGF Vr 176/ 46). 22 Die Anträge mussten an eine vorlageberechtigte Dienststelle wie die Kreisbauernschaft (Ernäh‐ rungsamt) gerichtet werden, die sie nach Überprüfung dem Wehrbezirkskommando vorlegte. Wehrbezirkskommando Bregenz, Inkraftsetzung der neuen „Bestimmungen für Unabkömmlich‐ keitsstellung bei besonderem Einsatz“, 29.1.1941. Bundesarchiv Militärarchiv (BA MA), RW 14 Wehrersatzinspektion Innsbruck. 23 Wehrersatz-Inspektion Innsbruck, Unabkömmlichkeit von Wehrpflichtigen, o. D. Tiroler Landes‐ archiv (TLA), Landesgericht (LG) Innsbruck, Oberlandesgericht (OLG) Innsbruck, Generalakten betreffend Wehrmacht. 24 Der Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht, 25.9.1944. VLA, Sonderge‐ richt Feldkirch (SGF), KLs 46/ 44. 25 Liste der Heimkehrer in der Gemeinde Krumbach, o. D. BWA, I-060, Sch. 15, Fasz. 199. 26 Bürgermeister der Gemeinde Krumbach an Landrat des Kreises Bregenz, 10.7.1941. VLA, Der Landrat (LR) Bregenz 1940-1945, Sch. 35, Wehrangelegenheiten, Übersicht 1941. eine Frau, und wohl auch, weil es sich zum großen Teil um Nationalsozialisten handelte. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Personen, die desertierten oder sich auf andere Weise dem Wehrdienst entzogen, auf 15, wovon 14 aus Krumbach stammten. Hinzuzuzählen sind vier Personen, die wegen Beihilfe zur Entziehung verfolgt wurden. Im Folgenden schildern wir ausgewählte Fälle, die sich zwischen 1940 und 1945 ereig‐ neten, verschiedene Formen der Wehrdienstentziehung zeigen, hinsichtlich des Kreises der Beteiligten unterschiedlich komplex und dem System der Wehrverpflichtung gegenüber unterschiedlich radikal waren. - 2.1 Fingierte Uk-Stellung und Selbstverstümmelung Der 1913 geborene Josef Mennel betrieb auf einer Fläche von 5,5 ha eine Landwirtschaft mit sieben Stück Vieh und einem Pferd, die er 1936 von seinem damals 67-jährigen halbblinden Vater Alois übernommen hatte. 21 Auf dem Hof lebte 1939 neben Vater und Sohn außerdem noch Josefs 22-jährige Braut Rosa Fink, die Schwester des damaligen Bürgermeisters Johann Peter Fink. Sie war als Haushaltsgehilfin bedienstet und half in der Landwirtschaft mit. Josef Mennel war Parteianwärter und Blockleiter der NSDAP sowie Mitglied der SA. Er wurde 1939 zur Wehrmacht eingezogen und diente als Sanitätssoldat bei der Sanitäts-Ersatz-Kompanie 18 in Saalfelden in Salzburg. Ab November 1939 reichten Alois und Josef Mennel über die Kreisbauernschaft mehrere Gesuche auf Zuerkennung einer Uk-Stellung ein. 22 Diese durfte maximal drei Monate dauern, eine Verlängerung sollte „nur in den aller-seltensten Fällen“ beschieden werden. 23 Im Fragebogen, der nachweisen sollte, dass die Arbeitskraft des Sohns auf dem Hof unbedingt notwendig war, fehlte ein Hinweis auf Rosa Fink. Bestätigt wurden die Angaben mehrfach durch Bürgermeister und Baumwärter Johann Peter Fink, seit 1933 Mitglied der NSDAP, Ortsbauernführer Josef Nussbaumer und Ortsgruppenleiter Emil Nussbaumer, von Beruf Reichsbahnangestellter. 24 Sie befürworteten die Freimachung Mennels vom Wehrdienst, dessen Entlassung schließ‐ lich am 8. Juni 1940 erfolgte. 25 Die Uk-Stellung wurde mit gleichlautenden Anträgen und Befürwortungen bis Herbst 1942 laufend verlängert. Freilich war Josef Mennel nicht der einzige Wehrpflichtige in Krumbach, der uk gestellt war. Im Juli 1941 befanden sich 68 Männer im Militär, demgegenüber waren dreißig wegen Unabkömmlichkeit vom Dienst befreit. 26 Damit lag Krumbach auf ähnlichem Niveau wie 280 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="281"?> 27 Berichte von Bürgermeistern des Kreises Bregenz in: VLA, LR Bregenz 1940-1945, Sch. 35, Wehran‐ gelegenheiten, Übersicht 1941. 28 Wehrersatz-Inspektion Innsbruck, Unabkömmlichkeit von Wehrpflichtigen, o. D. TLA, LG Inns‐ bruck, OLG Innsbruck, Generalakten betreffend Wehrmacht. 29 Wehrbezirkskommando Bregenz an den Landrat des Kreises Bregenz, 23.11.1942. VLA, LR Bregenz, 1940-1945, Sch. 35, PV 043/ 15. 30 Zit. n. Wolfgang Form, Wehrkraftzersetzung: Die Verfolgung des „Inneren Feindes“. Die Wandlung eines rein militärischen Straftatbestandes zu einer der schärfsten Waffen der politischen Justiz, in: Peter Pirker/ Florian Wenninger (Hg.), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2011, 60-76, 62. 31 Ebd. einige andere ländliche Gemeinden in der Umgebung (Langen, Langenegg, Andelsbuch, Bildstein, Doren). In Gemeinden wie etwa Alberschwende lag die Zahl der Uk-Stellungen jedoch deutlich niedriger (160: 60). 27 Die Bürgermeister hatten nicht nur die Zahl der Uk- Stellungen in ihren Gemeinden an den Landrat des Kreises Bregenz zu melden, sondern damit verbunden auch die Stimmung in der Bevölkerung. Die Ortsgranden standen unter zweierlei Beobachtung: Versuche, Uk-Stellungen durch‐ zubringen oder zu verlängern, konnten auf höherer Ebene den Eindruck einer laschen Mitarbeit an der Kriegsmobilisierung erwecken, denn die Wehrersatzinspektion Inns‐ bruck machte jeden „Bauer, Handwerker, Betriebsführer, Amtsvorstand, Dienststellenleiter […] für jeden nicht mit strengstem Maßstab überprüften Unabkömmlichkeitsantrag“ verantwortlich. 28 In der Gemeinde nährten auffällige Uk-Stellungen Gerüchte über Günst‐ lingswirtschaft und Bevorzugungen gegen Vorteilnahme, was wiederum die Stimmung gegenüber NS-Staat und Wehrmacht negativ beeinflusste und zu Anzeigen bzw. Denun‐ ziationen wegen Amtsmissbrauch führen konnte. Nicht nur deshalb erodierte der Spiel‐ raum und die Macht der lokalen NS-Funktionäre. Mit dem beginnenden Einsatz von Zwangsarbeiter*innen in der Landwirtschaft und der steigenden Zahl an Gefallenen nach der massiven Ausweitung der Kriegsführung in Ost- und Südosteuropa handhabten die Wehrbezirkskommandos den Zugang zu Uk-Stellungen immer restriktiver. Auch die Kontrollen der Angaben über den Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft wurden strenger. Das Wehrbezirkskommando Bregenz veranlasste den Landrat, die Angaben der Antragsteller von der lokalen Gendarmerie genau überprüfen zu lassen. Alle Uk- Antragsteller unterzeichneten ab 1942 außerdem eine Erklärung, dass sie im Fall von Falschangaben „schwere Bestrafung wegen Zersetzung der Wehrkraft“ nach der Kriegs‐ sonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) zu gewärtigen hatten. 29 Im § 5 der KSSVO war das Delikt der Wehrkraftzersetzung definiert. Darunter fielen neben anderen Ausprägungen laut Absatz 1, Ziffer 3 auch Handlungen, die dazu geeignet waren, „sich oder einen anderen durch Selbstverstümmelung, durch ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf eine andere Weise der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen“. 30 Als Normstrafe war die Todesstrafe festgelegt, nur in minderschweren Fällen konnten Richter die Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen verhängen. 31 Im Dezember 1942 fertigte die Wehrersatzinspektion Innsbruck aus 18 Verfügungen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), des Wehrkreiskommandos XVIII und der Wehrersatzinspektion einen nach Nichtbergbauerngemeinden und Bergbauerngemeinden gegliederten Raster für die Freimachung von Wehrpflichtigen aus der Landwirtschaft für Krumbach 281 <?page no="282"?> 32 Wehrersatzinspektion Innsbruck, Übersicht Austausch in der Landwirtschaft, 14.12.1942. BA MA, RW 15, Wehrmeldeamt Bregenz. 33 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Reichsminister der Justiz, Ermittlungsverfahren gegen Josef Mennel aus Krumbach u. a. wegen Wehrdienstentziehung bezw. Beihilfe hierzu usw., 9.12.1943. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 34 Der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Feldkirch an den Gend.Posten Krumbach, 25.9.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Kopie in VLA, LGF KLs 46/ 44). 35 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Reichsminister der Justiz, 9.12.1943. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 36 GP Krumbach an Geheime Staatspolizei Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Erhebungsbericht Mennel Josef, 25.5.1943. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). die Wehrmacht an, der eine möglichst vollständige Mobilisierung aller Männer, die kriegs‐ verwendungstauglich waren, gewährleisten sollte. 32 Josef Mennels Uk-Stellung lief im Oktober 1942 aus. Am 3. November erhielt er einen Einberufungsbefehl. Nach den späteren Ermittlungen des Oberstaatsanwalts des Landgerichts Feldkirch Herbert Möller entzog er sich jedoch der Rückkehr in die Wehrmacht durch Selbstverstümmelung, indem er sich in der Tenne seines Anwesens durch einen Sturz von der Leiter den rechten Arm brach. 33 Wenig später beantragte er eine neuerliche Uk-Stellung, wofür er wiederum Bestätigungen und Befürwortungen von Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer einholte. Wie bisher verschwieg er die Mithilfe von Rosa Fink. Der Antrag wurde genehmigt. Bis Mitte März 1943 konnte Mennel somit auf seinem Hof bleiben. Ein weiterer Antrag wurde jedoch abgelehnt. Um der Einberufung zu entgehen, habe er sich nach Darstellung des Oberstaatsanwalts wenige Tage später auf Anraten des Gemeindearztes Johann Müller, bei dem er bereits zuvor über Bauchschmerzen geklagt hatte, in das Sanatorium Mehrerau bei Bregenz begeben, um sich dort einer „nicht unbedingt notwendigen“ Blinddarmoperation zu unterziehen. 34 Nach der Ausheilung erfuhr Mennel von der Kreisbauernschaft, dass seine Einberufung bevorstehe. Nun versuchte er mit Hilfe von Rosa Fink bei einem mit ihr verwandten Drogisten Medikamente zu beschaffen, um damit Herzprobleme zu simulieren. So sollte bei der Nachmusterung ein geringer Tauglichkeitsgrad bewirkt werden. Das hätte die Chance auf eine neuerliche Verlängerung der Uk-Stellung verbessert. Auch bei verschiedenen Ärzten soll Mennel probiert haben, entsprechende Tipps und Medikamente zur Reduzierung der Tauglichkeit zu erhalten. Im Mai 1943 wurde Mennel nach der Musterung dennoch für kriegsverwendungsfähig (kv) erklärt. 35 Etwa zur gleichen Zeit erhielt die Gestapo Bregenz eine Mitteilung über Josef Mennel, die den Verdacht der Selbstverstümmelung begründete. Die Gestapo beauftragte Revier- Inspektor Girardi Erhebungen vorzunehmen. In einem ausführlichen Bericht schilderte Girardi, es werde in Krumbach allgemein „schmunzelnd die Ansicht vertreten“, dass der Armbruch Mennels „kein reiner Zufall sei, sondern dass Mennel wahrscheinlich sich selbst den Arm gebrochen habe, um nicht einrücken zu müssen.“ 36 Auch die Blinddarmopera‐ tion Mennels sei in Krumbach mit demselben Verdacht Tagesgespräch gewesen. Girardi zitierte ausführlich die Aussage einer Frau aus Krumbach, die Mennel der zweifachen Selbstverstümmelung und der Verleitung anderer auf Heimaturlaub befindlichen Soldaten dazu bezichtigte. Bei der Nationalsozialistin dürfte es sich um dieselbe Person handeln, 282 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="283"?> 37 Registrierungsblatt zur Verzeichnung der Nationalsozialisten gemäß § 4 des Verbotsgesetz 1947. VLA, Bezirkshauptmannschaft Bregenz (BH), Registrierungsbehörde, Krumbach, BH Bregenz II, Sch. 285. 38 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Reichsminister der Justiz, Ermittlungsverfahren gegen Josef Mennel, 9.12.1943. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 39 Geheime Staatspolizei Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Bericht, 6.7.1943. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 40 Der Landrat des Kreises Bregenz, Stimmungsbericht, 6.7.1943. VLA, LR Bregenz, Sch. 46, PV 51/ 10/ 1. 41 Der Landrat des Kreises Bregenz, Stimmungsbericht, 2.10.1943. VLA, LR Bregenz, Sch. 46, PV 51/ 10/ 1; Der Reichsstatthalter in Tirol und Vorarlberg, Preisüberwachungsstelle, Betrugsanzeige gegen Josef Nußbaumer und Josef Fink, Innsbruck 10.1.1945. VLA, LGF KLs 46/ 44. 42 GP Krumbach an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Feldkirch, 8.7.1943. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 43 Siehe Pirker/ Salzmann in diesem Buch. 44 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, Verfügung, 18.5.1943. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 45 Der Reichsminister der Justiz an den Oberstaatsanwalt in Feldkirch, 26.2.1945. TLA, LG Innsbruck, OLG Innsbruck, Sammelakten betreffend Strafverfahrensrecht 41. die ursprünglich die Gestapo informiert hatte. 37 Sie gab außerdem Hinweise auf „dunkle Geschäfte“ Mennels, die sich später als recht schwunghafter illegaler Tauschhandel mit Schnaps und Holz in der näheren und weiteren Umgebung herausstellten. 38 Am 19. Juni 1943 nahm die Gestapo Josef Mennel und Rosa Fink fest und führte eine Hausdurchsuchung durch, bei der Entwürfe der Uk-Stellungsgesuche und Briefe, die auf Selbstverstümmelung und Schwarzhandel hinwiesen, gefunden wurden. 39 Diese Doku‐ mente rückten nun die Trias, bestehend aus Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbau‐ ernführer, ins Visier der Gestapo. Auch sie wurden festgenommen und in das Landesgericht Feldkirch eingeliefert. 40 Die Ermittlungen gegen die drei Funktionäre beschränkten sich nicht nur auf den Vorwurf der Zersetzung der Wehrkraft. Sie basierten außerdem auf Betrugsanzeigen, die Verstöße gegen die kriegswirtschaftliche Verbrauchsregelung, wie die Verteilung von Kleiderbezugskarten an unberechtigte Personen, die Erzielung von Überpreisen zum Schaden einiger Landwirte und andere Formen von Amtsmissbrauch betrafen. 41 Zu den Beschuldigten gehörten vorübergehend auch der Drogist und zwei Ärzte, die Mennel und Rosa Fink konsultiert hatten. Girardi berichtete nach Einvernahmen vor Ort außerdem von weiteren Uk-Stellungen, die angeblich durch den Bürgermeister gegen Abgabe von Lebensmitteln begünstigt worden seien. 42 Die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Feldkirch strengte ursprünglich ein gemein‐ sames Verfahren vor dem Sondergericht Feldkirch gegen die Beschuldigten an. Ein wesent‐ licher Zweck der Einführung der Sondergerichtsbarkeit im Jahr 1939 war es gewesen, dem Richter rasches und radikales Vorgehen gegen jegliche Schwächung der Wehrkraft des deutschen Volkes zu ermöglichen. 43 Die große Zahl von Beschuldigten mit diversen Deliktvorwürfen bremste jedoch die Ermittlungen, weil Aussagen in den Einvernahmen durch Gendarmerie, Gestapo und Gericht widersprüchlich ausfielen, zum Teil wurden Vorwürfe auch vehement bestritten. Mitte Mai 1944 teilte der Oberstaatsanwalt das Verfahren 44 , stellte die Ermittlungen gegen einige Beschuldigte ein und erhob zunächst am 18. Mai 1944 gegen Josef Mennel und Rosa Fink Anklage wegen Wehrdienstentziehung und kriegswirtschaftlicher Delikte. 45 Der Oberstaatsanwalt hielt es für erwiesen, dass sich Mennel mit Finks Hilfe durch Selbstverstümmelung und Täuschung wiederholt der Erfüllung des Wehrdienstes teilweise bzw. zeitweise entzogen hatte. Der Ankläger berief Krumbach 283 <?page no="284"?> 46 Ermittlungsrichter des LG Feldkirch, Vernehmung des Beschuldigten Josef Mennel, 24.7.1943. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 47 Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht, Anklageschrift gegen Josef Mennel und Rosa Fink, 18.5.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 48 Amtsgericht Bezau, Zeugenvernehmung Josef Mennel, 22.6.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 49 GP Krumbach an SG bei LG Feldkirch, Erhebungsbericht, Strafsache gegen Josef Mennel, Arbeits‐ verhältnis der Rosa Fink, 3.7.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). sich auf § 5 Abs. 1. Nr. 3 KSSVO, damit stand die Todesstrafe im Raum. In der Einvernahme durch den Untersuchungsrichter hatte Mennel zwar die Nichtangabe von Rosa Fink in den Uk-Stellungsanträgen zugegeben und bedauert, aber bestritten, aus Angst vor dem Wehrdienst gehandelt zu haben. Als Motiv hatte er einzig die Sorge um sein Anwesen genannt. Seine Braut habe er nicht als Arbeitskraft in der Landwirtschaft betrachtet und sie deshalb nicht erwähnt. Auch den Verdacht der absichtlichen Selbstverletzung und der bewusst vor der Einberufung durchgeführten Blinddarmoperation zur Vermeidung des Wehrdienstes hatte er strikt zurückgewiesen. 46 Oberstaatsanwalt Möller schenkte dem keinen Glauben und warf Mennel „eigensüchtiges, die Belange der Volksgemeinschaft schädigendes Verhalten“ vor. Zur Untermauerung zitierte er eine von Girardi befragte Zeugin, zu der Mennel gesagt hätte, er „habe es wie der Jude, lieber kein Vaterland, als keinen Kopf mehr, lieber am Morgen tot im Bette sein, als noch einmal einrücken müssen, er könne nichts dafür, er habe vor dem Einrücken Angst.“ 47 Bei der Hauptverhandlung unter dem Vorsitz von Landgerichtspräsident Heinrich Eccher am 15. Juni 1944 prallten die konträren Darstellungen aufeinander. Der Verteidiger Wilhelm Schratz beantragte die Vernehmung des Krumbacher Gemeindearztes Johann Müller und des Primarius des Sanatoriums Mehrerau Walter Vogel. Ein Sachverständiger des Wehrbezirkskommandos Bregenz sollte darlegen, welchen Einfluss das Verschweigen Rosa Finks auf die Bewilligung der Uk-Stellungen überhaupt gehabt hatte. Der Vertreter der Anklagebehörde, Staatsanwalt René Daniaux, beantragte seinerseits weitere Erhebungen der Gendarmerie zu Finks Mithilfe auf dem Hof. Eccher genehmigte alle Anträge und vertagte die Verhandlung auf unbestimmte Zeit. Der Gemeindearzt schloss indessen Selbstverstümmelung als Ursache für den Armbruch aus. Auch hinsichtlich der Blinddarmoperation wurde Mennel durch die Aussagen Müllers, er habe die Operation empfohlen, und des Primars, die Operation sei medizinisch geboten gewesen, entlastet. 48 Müller erklärte zudem, dass Rosa Fink kränklich an Nerven und Herz und nicht voll leistungsfähig sei. Die Erhebungen des Gendarmen Girardi zu Rosa Fink ergaben, dass sie nur zeitweise bei Mennel mitgeholfen und tage-, wochen- und monatsweise bei ihren Eltern gearbeitet hatte sowie regelmäßige schwere Tätigkeiten wie Melken nicht richtig beherrsche. 49 Damit hatten die vom Verteidiger verlangten Einvernahmen und Ermittlungen die schwersten Vorwürfe des Staatsanwalts entkräftet. Bei der wiederaufgenommenen Hauptverhandlung trat Major Adolf Reinl als Vertreter des Wehrbezirkskommandos Bregenz als Sachverständiger auf. Er hielt fest, dass Mennel unter allen Umständen verpflichtet gewesen wäre, Rosa Fink als Hilfskraft anzuführen. Er führte aber auch aus, dass sie wegen ihres angeschlagenen Zustands, wie vom Ge‐ meindearzt festgestellt, nicht als „volle, männliche und einsatzfähige Arbeitskraft zu 284 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="285"?> 50 SG Feldkirch, Urteil in der Strafsache gegen Josef Mennel und Rosa Fink, 21.7.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 51 Protokoll geführt in der öffentlichen Sitzung des SG beim LG Feldkirch, 21.7.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 52 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, Bescheid, 7.8.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 53 Vgl. Pirker/ Salzmann in diesem Buch. Eccher fällte insgesamt zehn Todesurteile im Falle von „Gefährlichen Gewohnheitsverbrechern“, sechs davon wegen Eigentumsdelikten. Martin Achrainer, „Standgerichte der Heimatfront“: Die Sondergerichte in Tirol und Vorarlberg, in: Rolf Steininger/ Sa‐ bine Pitscheider (Hg.), Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit, Innsbruck 2002, 111-130, 121-122. Zu seiner Biografie und zur „Entnazifizierung“ siehe Sabine Pitscheider, Die Entnazifizierung des erkennen“ sei. 50 Ihre Nennung im Erhebungsblatt hätte die Erledigung der Uk-Gesuche nicht beeinflusst. Für den Gutachter war evident, dass sie und der Vater Mennels allein nicht in der Lage gewesen seien, den Hof ordentlich zu bewirtschaften. Aber trotz dieser Aussagen beantragte die Staatsanwaltschaft Schuldspruch im Sinne der Anklage. Sie verlangte die Verurteilung Mennels zum Tode und Finks zu einer Zucht‐ hausstrafe von drei Jahren. 51 Der Richter folgte dem Staatsanwalt zwar hinsichtlich des Schuldspruches, nicht jedoch beim Strafausmaß. Aufgrund der Aussagen des Krumbacher Gemeindearztes und des Primarius des Sanatoriums Mehrerau verwarf Eccher den Vorwurf der Selbstverstümmelung - übrig blieben das bewusste Auslassen Rosa Finks in den Uk- Anträgen und die Versuche, durch die Einnahme von Medikamenten vor der Musterung im Mai 1943 den Tauglichkeitsgrad herabzusetzen. Beides erachtete Eccher als „Unternehmen […], um sich zumindest zeitweise dem Wehrdienst zu entziehen“, stufte beides jedoch als jeweils „minderschwere[n] Fall“ ein. Interessant ist die Begründung, mit der er die Todesstrafe abwendete: Eccher beschrieb Mennel als unbescholtenen, tüchtigen und fleißigen Landwirt, aber minderbegabten und schwerfälligen, jedoch nicht durchtriebenen Menschen. Er habe sich nur zeitweilig und nicht gänzlich dem Wehrdienst entziehen wollen. Als einziges Motiv Mennels erkannte er, „nur das Bestreben […], den Hof lebensfähig zu erhalten“. Das erschwerende und verpönte Motiv „Angst vor dem Militär“ schloss Eccher aus - ohne auf die entsprechenden Passagen in der Anklage einzugehen. Indem er den Ergebnissen der Beweisanträge des Verteidigers folgte, konnte er zu einer völlig anderen Einschätzung der Motivlage kommen als der Oberstaatsanwalt. Eccher verurteilte Mennel schließlich unter Einbeziehung der eingestandenen kriegswirtschaftlichen Vergehen zu sechs Jahren Zuchthaus. Rosa Fink sprach er ebenfalls wegen Wehrdienstentziehung schuldig, weil sie den Kontakt zwischen Mennel und dem Drogisten hergestellt und diesen um Medikamente für ihren Bräutigam ersucht hatte. Eccher hielt Fink aber für „intelligenter als ihr Bräutigam und jedenfalls durchtrieben“. 52 Damit wälzte er Verantwortung auf Rosa Fink ab. Sie habe Mennel verleitet. Er verurteilte sie in Kombination mit kriegswirtschaftlichen Vergehen zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus und damit fast so hart, wie vom Staatsanwalt beantragt. Stellt man die Strafausmaße in den Kontext anderer Urteile Ecchers zum Delikt der Wehrdienstentziehung, wird ersichtlich, dass es sich um den zweiten Fall handelt, in dem er die vom Staatsanwalt beantragte Todesstrafe nicht anwandte. Von den 52 bekannten Strafbemessungen Ecchers wegen eigener Wehrdienstentziehung waren jedoch nur fünf schärfer. Rosa Fink erhielt die deutlich höchste Strafe, die Eccher wegen Wehrdienstent‐ ziehung anderer Personen aussprach. 53 Die Urteile wirken wie ein Balanceakt - Mennel Krumbach 285 <?page no="286"?> Oberlandesgerichtes Innsbruck nach 1945, in: Bundesministerium für Justiz (Hg.), Täter - Richter - Opfer. Tiroler und Vorarlberger Justiz unter dem Hakenkreuz, Wien 2016, 49-108, 82. 54 Die Verhandlungsführung Ecchers ähnelt seinem Vorgehen in einem anderen Aufsehen erregenden Prozess vor dem SG Feldkirch im Jahr 1944, den Ingrid Böhler analysiert hat: Ingrid Böhler, Ein glamouröser Fall am Sondergericht Feldkirch, in: Lucile Dreidemy et al. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20.-Jahrhundert, Band-1, Wien 2015, 230-242. 55 GP Krumbach an Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, 3.10.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 56 GP Krumbach an Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, 26.10.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 57 Der Landrat des Kreises Feldkirch, Staatl. Gesundheitsamt an den Direktor der Haftanstalt Feldkirch, 25.10.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 58 Dr. med. Joh. Müller, Bestätigung, 20.11.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 59 Der Landrat des Kreises Bregenz an den Oberstaatsanwalt beim LG in Feldkirch, 1.12.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 60 GP Krumbach an Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, Erhebungsbericht Fink Rosa, 23.12.1944. VLA, LGF KLs 27/ 44 (Az LGF Vr 176/ 46). 61 Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) in der Fassung der ErgänzungsVO vom 1. November 1939 (RGBl. 1939 I 1455, 2131) und vom 10. Oktober 1940 (RGBl. I 1940, 1362). wurde im Vergleich zur Strafdrohung relativ mild, Fink dafür streng verurteilt. Obwohl es Überlegungen in diese Richtung gab, verzichtete die übergeordnete Justizbehörde darauf, das Urteil aufzuheben. 54 Am 9. August 1944 wurde Mennel in das Strafgefangenenlager Rodgau-Dieburg in Hessen überstellt, wo er Zwangsarbeit zu leisten hatte. Er überlebte die Haft. Rosa Fink entkam dem Strafvollzug. Sie sollte ihre Strafe Anfang September 1944 in der Haftanstalt Feldkirch antreten, was Gemeindearzt Müller verhinderte, der sie zu einer Entfernung von Knochenauswüchsen an beiden Füßen in die Mehrerau überwies. 55 Da sie zum neuen Hafttermin Ende September nicht erschien, wurde sie von Girardi in Krumbach verhaftet, allerdings erst vier Wochen nach der ersten Aufforderung des Oberstaatsanwalts und zwei Wochen nach der zweiten Aufforderung. 56 Fink verlangte in der Haftanstalt Feldkirch Spitalsbehandlung und wurde vom Amtsarzt untersucht. Dieser stellte Schwellungen und Bewegungseinschränkungen an den Füßen fest und empfahl die Verschiebung des Strafant‐ ritts um vier Wochen. 57 Als neuer Haftantrittstermin wurde der 1. Dezember 1944 festgelegt. Zehn Tage vorher erklärte der Gemeindearzt, dass sich die Gehfähigkeit „nur unbedeutend gebessert“ habe. 58 Nichtsdestotrotz beschied ihr der Amtsarzt Haftfähigkeit. 59 Rosa Fink trat die Haft jedoch auch dieses Mal nicht an. Nach der Untersuchung im Gesundheitsamt in Bregenz verschwand sie von der Bildfläche. Mit der Ermittlung ihres Aufenthaltsortes war Girardi beauftragt. Ende Dezember 1944 berichtete er dem Oberstaatsanwalt ausführlich von seinen Misserfolgen bei der Suche. Sie sollte erst im Mai 1945 wieder auftauchen 60 und bald darauf Josef Mennel heiraten. Beim abgetrennten Verfahren gegen die lokale NS-Elite - Johann Peter Fink, Josef und Emil Nussbaumer - wollte sich die Staatsanwaltschaft zunächst damit begnügen, einen Strafantrag bei einem Einzelrichter des Landgerichts Feldkirch zu stellen. Der Vorwurf lautete auf Mitschuld an der Wehrdienstentziehung Mennels nach § 5 Abs. 4 KSSVO. Danach war mit Gefängnis zu bestrafen, wer „leichtfertig unrichtige oder unvollständige Angaben macht, die dazu bestimmt sind, sich oder einen anderen von der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise freistellen zu lassen“. 61 Das Vorgehen war ungewöhnlich, 286 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="287"?> 62 Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht an Oberstaatsanwalt in Feldkirch, Innsbruck, 30.9.1940. VLA, LGF, Generalakten, Gerichtsorganisation, 32/ 1. 63 Der Landgerichtspräsident an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Innsbruck, 20.3.1945. TLA, LG Innsbruck, OLG Innsbruck, Sammelakten betreffend Strafverfahrensrecht 41. 64 Der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Feldkirch an den Reichsminister der Justiz, 25.9.1944. VLA, LGF KLs 46/ 44. 65 Der Reichsminister der Justiz an den Oberstaatsanwalt in Feldkirch, 26.2.1945. TLA, LG Innsbruck, OLG Innsbruck, Sammelakten betreffend Strafverfahrensrecht 41. 66 Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Feldkirch, Handakten zu der Strafsache Fink Johann Peter u. 3 andere. VLA, LGF KLs 46/ 44. 67 Sondergericht beim Landgericht Feldkirch, Urteil gegen Johann Peter Fink, 14.3.1945. VLA, LGF KLs 46/ 44. 68 Ebd. da „Verfahren wegen Kriegsverbrechen“, wozu Verstöße gegen die KSSVO gehörten, generell vor einem Sondergericht durchzuführen waren. 62 Das Reichsjustizministerium maßregelte deswegen auch den Feldkircher Oberstaatsanwalt und bestand auf Anklage vor dem Sondergericht. 63 Erst am 25. September 1944 lag die Anklageschrift vor; 64 die Hauptverhandlung wurde von Eccher für den 29. Dezember 1944 anberaumt. All diese Verzögerungen riefen Nachfragen und Kritik des Ministeriums hervor. Moniert wurde etwa, dass „in Sondergerichtssachen auch bei ungünstigen Verkehrsverhältnissen die Hauptver‐ handlung innerhalb von zwei bis drei Wochen“ stattzufinden habe. 65 Eccher vertagte den Gerichtstermin trotzdem - weil Johann Peter Fink und Josef Nussbaumer zum Wehrdienst eingezogen worden seien (was im Falle Finks bereits im Februar 1944 nach der Entlassung aus der U-Haft geschehen war). Nun hieß es zuerst die Zuständigkeit des Gerichts zu klären, da die Strafverfolgung von Soldaten eigentlich der Militärjustiz oblag. Die Entscheidung des zuständigen Gerichtsherrn, das Verfahren an das Sondergericht Feldkirch abzutreten, fiel erst Ende Jänner 1945. Eccher setzte daraufhin die Hauptverhandlung für den 14. März 1945 an. Vor Gericht erschien dann nur Fink, die beiden weiteren Angeklagten Johann und Emil Nußbaumer waren wegen Wehrdienst bzw. Krankheit verhindert. Für die Nicht- Erschienenen legte Eccher den 4. Mai 1945 als neuen Termin fest 66 - doch zu diesem Zeitpunkt war die NS-Herrschaft im Reichsgau Tirol und Vorarlberg durch den Einmarsch der alliierten Armeen bereits Geschichte. Das Urteil Ecchers gegen Johann Peter Fink fiel milde aus. Er beschrieb Fink als Mitglied der NSDAP seit 1933, was ihm 1938 das Bürgermeisteramt eingebracht hatte. Fink sei ein einfacher, wenig energischer und leicht beeinflussbarer Mann mit durchschnittlicher Intelligenz, „der den vielfachen Aufgaben eines Bürgermeisters, insbesondere in der Kriegszeit, nicht gewachsen zu sein scheint“. 67 Milderungsgründe für das Strafausmaß waren das volle Geständnis, die Unbescholtenheit, die Sorge für die Familie, die Bewährung im Krieg und der Umstand, „dass Fink aus falschem Mitleid gehandelt“ hatte. 68 Der Staatsanwalt beantragte ein Jahr Zuchthaus als Strafe, Eccher hielt zehn Monate Gefängnis für angemessen und rechnete auch die U-Haft an. - 2.2 Desertion vor der Frontabstellung Der Landwirtssohn Johann Steurer, geboren 1913, arbeitete 1939/ 40 auf dem Bauernhof seines Vaters Alfred, eines Bruders des ehemaligen christlichsozialen Bürgermeisters Franz Krumbach 287 <?page no="288"?> 69 Wehrstammbuch Johann Steurer, IV. Aktiver Wehrdienst. TLA. 70 Ebd. 71 4./ Marschbataillon 1/ 1, Meldung über unerlaubte Entfernung/ Fahnenflucht, 31.1.1942. Österreichi‐ sches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Deutsche Wehrmacht (DWM), Gerichtsakten (GerA) 334/ 3. 72 Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, 2.3.1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 334/ 3 73 Bürgermeister und Gemeindearzt Krumbach an Wehrbezirkskommando Bregenz, Bitte um einstwei‐ lige Entlassung, 19.1.1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 334/ 3. 74 Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Kommandantur Berlin, Abteilung Fahndung, 15.6.1942, und Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, Steurer Johann und Fink Josef Pankraz, 17.2.1942. BA MA, PERS 15/ 145287. Josef Steurer. Er erhielt nach einer kurzen militärischen Ausbildung im März 1939 am 3. Dezember 1940 die Einberufung zur Radfahr-Ersatz-Kompanie 67 in Kufstein. Nach der ärztlichen Untersuchung wurde er als „garnisonsverwendungsfähig Heimat“ eingestuft, konnte also nicht zur kämpfenden Truppe im Kriegseinsatz geschickt werden. 69 Am 13. März 1941 erhielt er, auch bedingt durch diese Einstufung, eine Uk-Stellung und wurde nach Krumbach entlassen. Diese endete Anfang Jänner 1942, als er zum Gebirgsjäger- Ersatz-Regiment 136 in Landeck einberufen wurde, wo ihn der Musterungsarzt nun als kv einstufte. Das bedeutete die baldige Abstellung an die Front. Wenige Tage später wurde er zum Marschbataillon 1/ 1 nach Innsbruck verlegt. Am 28. Jänner 1942 meldete diese Einheit dem Divisionsgericht 188 in Innsbruck, Steurer habe sich eigenmächtig aus der Kaserne entfernt und sei abgängig. 70 Dem nicht genug, vermisste das Marschbataillon 1/ 1 noch einen weiteren Soldaten aus Krumbach, den 1905 geborenen Kraftfahrer Josef Pankraz Fink. 71 Er war Johann Steurers Schwager. Finks Ehefrau Elisabetha führte zu dieser Zeit eine Krämereihandlung, die beiden hatten für vier Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren zu sorgen. 72 Finks bisheriges Sol‐ datenleben ähnelte stark jenem von Steurer: Auch er wurde im August 1939 zu einer kurzen Grundausbildung bei der Gebirgs-Kraftfahr-Ersatzabteilung 18 eingezogen und danach als Chauffeur des bereits erwähnten Gemeindearztes Müller uk gestellt. Fink übernahm die Krankentransporte in den Nachbargemeinden und war außerdem einer Frächterei, dessen Besitzer zur Wehrmacht eingezogen worden war, als Kraftfahrer zugeteilt. Auch seine Uk-Stellung endete Mitte Jänner 1942 mit einer Einberufung zum Marschbataillon 1/ 1 nach Innsbruck. Diese Einberufung versuchten Bürgermeister Johann Peter Fink und der Gemeindearzt abzuwenden, indem sie eine „einstweilige Entlassung“ beim Wehrbe‐ zirkskommando Bregenz beantragten. Die vom Arzt zu versorgenden Gemeinden seien ausgesprochene Berggemeinden. Die hier lebenden Bauern würden einen Arzt oftmals erst dann rufen, wenn es fast zu spät sei. Daher sei es von höchster Notwendigkeit, den Chauffeur des Arztes uk zu stellen. 73 Fink händigte das Ansuchen auch seinem vorgesetzten Hauptmann aus, der ihm Hoffnung auf eine Befreiung vom Wehrdienst gemacht hatte. Einige Tage später hieß es jedoch, dass die Truppe ins Feld abgestellt werde und das Uk- Ansuchen somit wohl hinfällig sei. Gemeinsam mit Johann Steurer verließ Fink am 28. Jänner 1942 unerlaubt die Truppe. Bei Befragungen beteuerten die Familien der beiden Soldaten, nichts über deren Verbleib zu wissen. 74 Da die Ermittlungen des Divisionsgerichts erfolglos blieben, veröffentlichte 288 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="289"?> 75 Zit. n. Haftbefehl, Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, 25.2.1942. BA MA, PERS 15/ 145287; Gericht Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, Steckbrief und Haftbefehl Fink Josef Pankraz, 17.2.1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 334/ 3. 76 Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, Fink Josef Pankraz, Jäger, Fahnenflucht, 2.3.1942. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/ 3. 77 Zit. n. Abwehrstelle im Wehrkreis XVIII, Nebenstelle Innsbruck, an das Gericht der Wehrmachtkom‐ mandantur, Abteilung Fahndung Berlin, 28.9.1942. BA MA, PERS 15/ 145287. 78 Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Wehrmachtkommandantur, Abteilung Fahndung Berlin, 25.10.1943. BA MA, PERS 15/ 145287. 79 Deutsches Konsulat St. Gallen an das Gericht der Wehrmachtkommandantur, Abteilung Fahndung Berlin, 11.1.1944. BA MA, PERS 15/ 145287. Tatsächlich gibt es im Schweizer Bundesarchiv Bern keinen Flüchtlingsakt zu Johann Steurer. 80 Gendarmerieposten Krumbach an das Zentralgericht des Heeres, Abteilung Fahndung, 25.8.1944. BA MA, PERS 15/ 145287. 81 Zit. n. ebd. es Mitte Februar 1942 Steckbriefe der beiden und stellte Haftbefehle wegen Fahnenflucht aus. 75 Bei Fahnenflucht drohte, wie bei Wehrkraftzersetzung, Todesstrafe. Mit den weiteren Ermittlungen in Krumbach war wiederum Gendarmeriemeister Girardi beauftragt. Anfang März 1942 nahm er mit zwei weiteren Gendarmen eine Hausdurchsuchung in Finks Wohnung vor und traf den Gesuchten in der Stube sitzend an. Nach der Festnahme fasste Girardi die Aussagen Finks über die Flucht mit Johann Steurer zusammen. In drei Tagen hätten sie die 200 km weite Strecke nach Krumbach zu Fuß bewältigt. Fink versteckte sich in seinem Haus, während Steurer angeblich beabsichtigt hatte, sich auf einer Alm in Aach in Bayern zu verbergen, wo seine Familie eine Hütte gepachtet hatte. 76 Die Suche auf der genannten Alm blieb erfolglos. Im hohen Schnee gab es keine Spuren, die umliegenden Hütten waren verlassen. Auch die Familie beteuerte, den Gesuchten weder gesehen, noch etwas von ihm gehört zu haben. Girardi durchsuchte mit weiteren Beamten mehrfach das Elternhaus, immer vergeblich. Da Steurer nicht gefunden wurde, vermutete die Gestapo Innsbruck, dass er in die Schweiz geflüchtet war. 77 Auch Girardi meldete im Oktober 1943 an das Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin, dass die Möglichkeit einer Flucht Steurers zu seinem Onkel in Diepoldsau-Schmitter in der Schweiz in Betracht gezogen werden sollte. 78 Die Fahndung wurde nach St. Gallen weitergeleitet, zeitigte aber ebenfalls kein Ergebnis. 79 Als weitere Maßnahme ließ die Militärjustiz Briefsendungen durch das lokale Postamt überprüfen. 80 Am 25. August 1944 berichtete Girardi abschließend an das Zentralgericht des Heeres, Abteilung Fahndung, dass „der Aufenthalt des fahnenflüchtigen Johann Steurer nicht festgestellt werden konnte“. 81 Tatsächlich hielt sich Johann Steurer zumindest zeitweise in seinem Elternhaus in Krumbach versteckt. Girardi wusste davon und soll die Hausdurchsuchungen entsprechend gestaltet haben. Dazu gibt es eine mündliche Überlieferung, berichtet vom Gendarmerie‐ beamten i. R. Kilian Höfle: „In Krumbach, Haus 90, war Johann versteckt im unteren Stock. Als die Polizei kontrollieren kam, ging Girardi in den unteren Stock, der jüngere Gendarm in den oberen Stock. Unten war Johann Krumbach 289 <?page no="290"?> 82 Interview mit Kilian Höfle, geführt von Isabella Greber, 19.3.2022, Aufzeichnungen bei der Autorin. 83 Anmerkungen des BWA zur Liste über Fahnenflüchtige ohne Entlassungspapiere. Von einer „Kir‐ chenmaus“, einem jahrelang im Kirchturm versteckten Deserteur, im Nachbardorf berichtet Paula Weiss geb. Schwarz aus Langenegg ihrem Sohn Hans Weiss im Jahr 1985. Hans Weiss, Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg, profil, 20.5.1985, 55. 84 Zit. n. Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, Fink Josef Pankraz, Jäger, Fahnenflucht, 2.3.1942. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/ 3. 85 Gericht der Division Nr. 188, Einvernahme des Beschuldigten Josef Pankraz Fink, Innsbruck 11.3.1942. Ebd. Faktisch war die - angebliche - Aussage des Bürgermeisters falsch, wenngleich diese Ansicht weitverbreitet gewesen sein dürfte. Nach den Richtlinien Hitlers für die Strafzumessung bei Fahnenflucht vom 14.4.1940 war die Höchststrafe geboten, wenn „der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr gehandelt hat oder wenn sie […] unerlässlich ist, um die Manneszucht aufrecht zu erhalten“, außerdem bei wiederholter oder gemeinschaftlicher Fahnenflucht und bei Fahnenflucht ins Ausland. Rudolf Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg. Sammlungen der grundle‐ genden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, Kornelimünster 1958, 77. 86 Brief des Bürgermeisters und des Ortsgruppenleiters an das Gericht der Division Nr. 188, 7.3.1942. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/ 3. versteckt. Die Eltern [Alfred und Agathe Steurer] gaben Girardi einen Speck in die Hand. Johann wurde nicht gefunden.“ 82 Einer anderen mündlichen Überlieferung nach soll Steurer zwei Jahre lang im Kirchturm gelebt haben. 83 Im April 1945 wurde er Mitglied der Widerstandsgruppe in Krumbach. Steurers Fluchtgefährte Josef Pankraz Fink kam nach der Festnahme am 2. März 1942 in die Haftanstalt Innsbruck. Bereits einen Monat später fand die Hauptverhandlung vor dem Gericht der Division 188 statt. Bemerkenswert ist, dass die Anklage nicht mehr auf Fahnenflucht, sondern nur mehr auf unerlaubte Entfernung lautete. Ersteres wurde - unter bestimmten Umständen - mit der Todesstrafe geahndet, zweiteres hatte einen Strafrahmen, der von 14 Tagen verschärften Arrests bis zu zehn Jahren Gefängnis reichte. Bereits dem Einvernahmeprotokoll Girardis ist zu entnehmen, dass Fink die Absicht der Fahnenflucht, also einer dauerhaften Entziehung aus der Wehrmacht, dezidiert in Abrede stellte. Er sei bloß von seinem Schwager überredet worden, mit ihm nach Hause zu gehen. Weiters gab er an, er sei nur deshalb mitgegangen, weil er „furchtbar Heimweh nach meiner Frau und Kindern“ hatte. 84 Er sei entschlossen gewesen, sich beim Militärkommando in Bregenz zu stellen. Nachdem der Bürgermeister seiner Ehefrau allerdings gesagt habe, Deserteuren drohe die Todesstrafe, wenn die Abwesenheit mehr als drei Tage dauere, habe ihm der Mut dazu gefehlt. Deshalb habe er sich dazu entschlossen, in seiner Wohnstube auf die Gendarmerie zu warten. 85 Das Motiv des starken Heimwehs wurde vom Bürgermeister, vom Ortsgruppenleiter und auch der Ehefrau bestätigt. Sie bescheinigten Fink in Briefen an das Gericht ein Familienmensch zu sein, sprachen von einer unüberlegten Handlung und baten um ein mildes Urteil. 86 Diese Darstellung erschien dem Ankläger, Kriegsgerichtsrat Theodor Dürnbauer, of‐ fenbar glaubwürdig, obwohl Fink sich fast einen Monat lang versteckt gehalten hatte. Die Hauptverhandlung unter dem Vorsitz von Kriegsgerichtsrat Jakob Gorbach dauerte nur kurz. Fink wiederholte und bestätigte seine bisherigen Angaben. Dürnbauer beantragte, die unerlaubte Entfernung mit zehn Monaten Gefängnis zu bestrafen. In einem seltenen Fall der 290 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="291"?> 87 Öffentliche Sitzung des Kriegsgerichts der Division Nr. 188, 2.4.1942. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/ 3. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Geb. Jäg. Ers. Rgt. 137 an das Gericht der Division Nr. 188, Strafsache gegen den Jg. Fink Josef Pankraz, 17.6.1942. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/ 3. 91 Gericht der Division Nr. 188 an das Geb. Jäg. Ers. Rgt. 137, Strafsache gegen den Jg. Josef Fink, 1.7.1942. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/ 3. 92 Dienststelle 29 812 an das Gericht der Division Nr.-188, 15.3.1942. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/ 3. 93 Schwere Züge, GJR 100 an Gericht der Division Nr.-188, 16.10.1943. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/ 3. 94 Liste der österreichischen Heimkehrer in der Gemeinde Krumbach, 22.5.1946. BWA, I-060 Sch. 15, Fasz. 199. 95 IV. Aktiver Wehrdienst, Einstellung, Wehrstammbuch mit Einlagen, Alois Nenning. TLA. Überbietung des Anklägers verurteilte Gorbach Fink schließlich zu 18 Monaten. 87 Gorbach beschrieb Fink als bescheidenen Mann, dem jede soldatische Haltung und jedes Verständnis dafür fehle. Die Ursache sah er darin, dass Fink nie weit über die Berggemeinden Riefens‐ berg und Krumbach hinausgekommen sei und er sehr an Familie und Heimat hänge. Es sei also die „Sehnsucht nach Heimat und Familie und nicht Feigheit oder Furcht vor der Front bestimmend“ 88 gewesen. Im Rahmen des Delikts „Unerlaubte Entfernung“ war die Strafbemessung durchaus hart. Da er trotz des Zeitpunktes der unerlaubten Entfernung unmittelbar vor der Frontabstellung nicht auf Fahnenflucht erkannt hatte, begründete der Richter das Strafausmaß mit „dem schlechten Beispiel und die zersetzende Wirkung auf die Truppe“. 89 Schlussendlich musste Fink die 18 Monate nicht absitzen. Nach sechs Wochen ver‐ schärftem Arrest in der Haftanstalt Innsbruck sollte der Strafrest bis Kriegsende zur Frontbewährung ausgesetzt werden. Da er Jahrgang 1905 war und die Jahrgänge 1907 und ältere nicht zur kämpfenden Truppe abgestellt wurden, entstand zunächst Unklarheit über die weitere Vorgangsweise. 90 Im Juni 1942 war die Kriegslage und der Mannschaftsbedarf der Wehrmacht jedoch derart ernst, dass „bei nicht unbedingt gegebener Notwendigkeit kein Mann im Gefängnis angehalten werden darf, der in irgendeiner Weise zu einer Feldverwendung herangezogen werden kann,“ 91 wie der Gerichtsherr festhielt. So landete Fink rasch als Lkw-Fahrer beim Gebirgsjäger-Regiment 100, das in der Sowjetunion gegen die Rote Armee kämpfte. Er fügte sich den Anforderungen der Truppe gemäß diszipliniert ein. Im März 1943 meldete seine Kompanie an das Divisionsgericht, er sei „willig und arbeitsam“. 92 Ein halbes Jahr später fiel die Bewertung noch vorteilhafter aus („in jeder Beziehung einwandfrei“, „stets willig sein Bestes zu geben“). 93 Im November 1943 wurde das Regiment an die Front in Italien verlegt. In der Anfangsphase der Schlachten gegen die US- Truppen am Monte Cassino erhielt Fink eine Beförderung zum Gefreiten. Kurz darauf war der Krieg für ihn zu Ende, als er Anfang März 1944 von US-Truppen in Kriegsgefangenschaft genommen wurde. Im September 1945 kehrte er nach Krumbach heim. 94 - 2.3 Desertion nach Fronteinsatz und Verwundung Der Tischler Alois Nenning, geboren 1912, erhielt am 27. Mai 1940 den Einberufungsbefehl zur 3. Kompanie des Gebirgsjäger-Ersatz-Regiments 136 in Landeck, wo er zum MG- Schützen ausgebildet wurde. 95 Seine Vorgesetzten lobten ihn als „sehr willig“, Leistung und Krumbach 291 <?page no="292"?> 96 Ebd. 97 Interview mit Franz, Josef und Pauline Nenning, geführt von Isabella Greber, 18.3.2022. 98 Wehrbezirkskommando Bregenz, 25.9.1940, Wehrstammbuch mit Einlagen, Alois Nenning. TLA. 99 Interview mit Franz, Josef und Pauline Nenning, geführt von Isabella Greber, 18.3.2022. 100 IV. Aktiver Wehrdienst, Zugehörigkeit zu Dienststellen des Heeres, Wehrstammbuch mit Einlagen, Alois Nenning. TLA. 101 Gren.E.B.I/ 134, Marschkompanie, Unerlaubte Entfernung des Obgefr. Alois Nenning, Brünn 25.2.1946. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), 6055. Führung bewerteten sie als gut. 96 Bereits am 7. September 1940 ging ein Urlaubsgesuch bei der Kompanie für ihn ein. Der Vater Ludwig Nenning bat darum, seinen Sohn für den gemeinsamen Betrieb freizustellen, da er seine Hilfe für Arbeiten benötige, die noch vor dem Winter zu erledigen seien. Es handelte sich um das Erneuern von Fensterstöcken und Türen in Behelfswohnungen für Familien aus Südtirol, die für Deutschland optiert hatten und bis zur Fertigstellung von Siedlungsbauten vorübergehend auch in Krumbach untergebracht wurden. Nenning, der sehr gläubig war und als Anhänger der Christlichsozialen Partei bekannt 97 , verzichtete auf politische Anbiederungen. Bürgermeister Fink unterstützte sein Ansuchen dennoch, ebenso Ortsgruppenleiter Nussbaumer. Das Wehrbezirkskommando bewilligte einen Sonderurlaub von bis zu sechs Wochen, um eine Uk-Stellung zu vermeiden. 98 Anschließend diente Alois Nenning bis Jänner 1943 als MG-Schütze im Infanterie-Regiment 596 der in Wien aufgestellten 327. Infanteriedivision in Frankreich. Im Küstenschutz an der Atlantik- und Mittelmeerküste gab es in diesem Zeit‐ raum keine Kämpfe. 99 Der vergleichsweise komfortable Einsatz änderte sich schlagartig im Februar 1943, als die Division nach der Niederlage von Stalingrad zu den Abwehrkämpfen gegen die Offensive der Roten Armee im Raum Woronesch und Kursk verlegt wurde. Bei Kämpfen im Raum Kiew und Shitomir wurde er im November 1943 schwer verwundet. Er erlitt einen Durchschuss der linken Ferse. Bis Februar 1944 kurierte er die Verletzung in verschiedenen Lazaretten aus, anschließend erhielt er zwei Wochen Genesungsurlaub. Im April 1944 wurde er zum Grenadier-Ersatz-Bataillon I/ 462, Znaim, abgestellt, wo er die folgenden Monate blieb. 100 Erst Mitte Februar 1945 nutzte er einen Sonderurlaub nach Krumbach, um sich von der Wehrmacht abzusetzen. Der Zeitpunkt war nicht zufällig: Der Einsatz gegen die näher rückende Rote Armee stand unmittelbar bevor. 101 Offenbar um Spuren einer Ankunft in Krumbach zu verwischen, schlug sich Nenning gemeinsam mit einem befreundeten Soldaten zu Fuß nach Vorarlberg durch. Seinen Söhnen erzählte er später, sie seien ausschließlich nachts gewandert und hätten sich tagsüber in Wäldern versteckt. In Bregenz trennten sich die beiden. Zuhause angekommen, machte sich die Tischlerfamilie daran, für Alois ein Versteck zu bauen. Im Haus wurde eine zusätzliche Wand zwischen Schlafzimmer und Stube eingezogen. Das Refugium war gerade einmal so breit, dass der geheime Bewohner darin einige Schritte gehen und sich umdrehen konnte. Bei Durchsuchungen - die im Februar und März 1945 nicht Girardi, der sich im Krankenstand befand, durchführte - blieb die Doppelwand unbemerkt. - 2.4 Übergänge zu Widerstand Der 1891 geborene Bauer Josef Bilgeri hatte bereits im Ersten Weltkrieg gedient, zwei Brüder waren gefallen. Laut 1939 erfolgter Musterung war Bilgeri „Ldst. II av“ (Landsturm 292 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="293"?> 102 Suchkarte Bilgeri Karl Josef. TLA. 103 Interview mit Katharina Freithofer, geführt von Isabella Greber, 17.2.2022, Aufzeichnungen bei der Autorin. 104 Der Landrat des Kreises Bregenz an den Reichsstatthalter in Tirol und Vorarlberg, Stimmungsbericht 3. Quartal 1944, 7.10.1944. VLA, LR Bregenz, Sch 46, PV 051/ 10/ 1. 105 Ebd. 106 Paula Ibele an die Bezirkshauptmannschaft in Bregenz, 4.11.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 190. Siehe auch die Darstellung zu Max Ibele auf S. 106 in diesem Buch. 107 Zu Leissing siehe Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933-1945, Bregenz 1985, 320. 108 Vgl. Gebürniskarte Ibele Max. Bundesarchiv Berlin, R-9361-III-334266; Verleihungsliste zur Verlei‐ hung des Eisernen Kreuzes II. Klasse, 5.4.1943, BA MA, RH 7/ 2476 fol. 405. II arbeitsverwendungsfähig). 102 Er konnte daher ausschließlich in der Heimat im Rahmen eines Landesschützenverbandes für Sicherungsaufgaben verwendet werden. Seiner Enkelin zufolge wollte er aber unter keinen Umständen ein weiteres Mal einrücken. 103 Sie berichtet, dass sich Bilgeri deshalb am 1. September 1939, unter dem Eindruck des verkündeten Kriegsbeginns, mit einem Hammer ein Knie zertrümmerte, was ihm für den Rest seines Lebens ein steifes Bein einbrachte. Als NS-Gegner hörte er verbotene „Feindsender“ und verweigerte den „Hitlergruß“. Die Familie repräsentierte wohl, was als katholisch-konser‐ vative Resistenz gegen das Eindringen des Nationalsozialismus in die bisherige religiöspatriarchal geprägte Gesellschaft gilt. Sie dürfte auch eine Keimzelle der Desertionen im Frühjahr 1945 sowie der Widerstandsgruppe gewesen sein. Aufrufe zur Desertion gab es in Krumbach bereits früher: In der Nacht vom 4. auf den 5. September 1944 brachten Unbekannte an einem Zaun zwei handgeschriebene Zettel an. Mit Bezug auf die berühmte Rede von Propagandaminister Joseph Goebbels vom Februar 1943 lautete die erste Botschaft „Der totale Krieg, der totale Einsatz, wir erklären den totalen Widerstand“, 104 die zweite „Einberufene sollen ins Holz gehen“, sich also in die Wälder absetzen. 105 Im Oktober oder November 1944 nahm die Familie Bilgeri den aus Bregenz stammenden Deserteur Max Ibele bei sich auf und gewährte ihm sechs Monate Schutz und Verpflegung. 106 Warum Ibele, damals 23 Jahre alt, nach Krumbach zur Familie Bilgeri kam, ließ sich nicht klären, es finden sich aber Hinweise auf politische Verbindungslinien zwischen Bregenz und dem Bregenzerwald, die noch aus der Zeit der Vaterländischen Front stammten. Der außereheliche Sohn der Näherin Paula Ibele und des Polizisten Max Stampfl wuchs in Bregenz in geordneten katholischen Verhältnissen auf, war Kornett bei den Pfadfindern und stand vom achten Lebensjahr an unter der Obhut von Eugen Leissing, dem Landesobmann des Reichsbundes (einem Verband katholischer Sportvereine) und Sekretär der Vaterländi‐ schen Front. 107 Ibele erlernte das Schlosserhandwerk und meldete sich auf Anraten seines Vaters 1939 zur Polizei, wurde jedoch - so die Darstellung der Mutter -, weil er für die Polizei zu jung war, im März 1940 zur Waffen-SS eingezogen und dem SS-Panzer-Grenadier- Regiment „Germania“ zugeteilt. 108 Leissing wurde im März 1938 vorübergehend verhaftet, bekam dann Gauverweis, war aber im Frühjahr 1945 unter den Widerstandsaktivisten in Bregenz, die sich auf den Zusammenbruch der NS-Herrschaft vorbereiteten. Er flüchtete im April vor der Gestapo nach Langen im Bregenzerwald und fand aufgrund alter politischer Krumbach 293 <?page no="294"?> 109 Schelling, Festung Vorarlberg, 97; Meinrad Pichler, Das Land Vorarlberg 1861 bis 2015, Innsbruck 2015, 226, 276. 110 Vgl. Schelling, Festung, 218-221. 111 Strafsachenliste 1944 Div. 418 und Div. 188, II/ 748. ÖStA, AdR, DWM. Seine Desertion geht auch aus dem Wehrstammbuch hervor. Wehrstammbuch Theodor Steurer. TLA. 112 Liste über Wehrmachts-Entlassene und Fahnenflüchtige ohne Entlassungspapiere. BWA, I-060, Sch. 15, Fasz. 199; Wehrstammbuch Alfred Steurer. TLA. 113 Paula Ibele an die Bezirkshauptmannschaft in Bregenz, 4.11.1948. VLA, AVLReg IVa-168/ 190. Kontakte Unterschlupf beim örtlichen Gendarmeriepostenführer. 109 Da befand sich Ibele bereits seit einigen Monaten bei der Familie Bilgeri. Die Darstellungen des Geistlichen Georg Schelling, der im Herbst und Winter 1945 für eine Artikelserie im „Vorarlberger Volksblatt“ Recherchen über den Widerstand durchführte und diese für sein hier mehrfach zitiertes Buch „Festung Vorarlberg“ fortführte, ist die einzige verfügbare Quelle zum Verlauf der Desertion Ibeles. Schelling sprach mit Menschen, die Ibele zwischen Herbst 1944 und April 1945 begegnet waren. Dabei hörte er zwei Versionen. In der ersten erhielt Ibele in Frankreich den Befehl, auf die „eigenen Leute“, wahrscheinlich (ungehorsame) Angehörige seiner Truppe, zu schießen. Weil er dies wiederholt verweigerte, sei er zum Tode verurteilt worden, habe jedoch über die Schweiz nach Vorarlberg fliehen können. Der zweiten Version zufolge verweigerte Ibele ihm befohlene Zwangsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung und musste deswegen fliehen. 110 Ibele war nicht der einzige Deserteur im Hause Josef Bilgeri. Auch dessen gleichnamiger 24-jährige Sohn kehrte im März 1945 der Wehrmacht den Rücken und blieb in Krumbach. Richtet sich der Blick auf die weiteren Deserteure aus bzw. in Krumbach, zeigt sich, dass neben der Familie Bilgeri die Familie des ehemaligen Bürgermeisters Franz Josef Steurer den sozialen Raum für Desertion und Widerstand bildete. Zwei seiner Söhne verabschiedeten sich 1944/ 45 ebenfalls unerlaubt von ihren Truppen: Der 32-jährige Theodor, Erbe des Hofes seiner Tante, kam von der Gebirgs-Nachrichten-Ersatz-Abteilung 18 bereits Anfang Oktober 1944 illegal nach Hause 111 , sein 23-jähriger Bruder Alfred tat es ihm am 1. April 1945 gleich. 112 Beide wurden nicht gefasst und waren bei der Bildung der Widerstandsgruppe dabei. Die Familien Bilgeri und Steurer waren nicht nur politisch gleich gesinnt, sie waren auch durch gegenseitige Hilfe verbunden: Die Familie von Adam Steurer, dem ältesten Sohn Franz Josef Steurers, betrieb den Gasthof „Zum Löwen“. Sie beherbergte und verpflegte Max Ibele über einen Monat hinweg (vor oder nach Bilgeri), wie dessen Mutter bezeugte. 113 Persönliche Beziehungen gab es zudem zwischen dem Deserteur Alois Nenning und der Familie Steurer: Er war mit Franz Josefs Tochter Anna liiert und sollte sie 1946 heiraten. III. Widerstand in der Kriegsendphase Von der Festnahme und Absetzung der lokalen NS-Funktionäre im Juni 1943 dürfte sich die NSDAP-Ortsgruppe Krumbach nicht mehr erholt haben. Ein deutliches Zeichen der Erosion und öffentlichen Anfechtung ihrer Autorität meldete Girardi am 4. April 1945 an die Gestapo Bregenz. Demnach wurde in der Nacht vom 29. auf den 30. März „die vor dem Parteilokale der NSDAP, Ortsgruppe Krumbach, am hiesigen Schießstande gewesene, 11.45 m lange Fahnenstange von unbekanntem Täter, oder Tätern, in einer Höhe von 294 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="295"?> 114 GP Krumbach an Geheime Staatspolizei Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Tgb.Nr. 147/ 45, 4.4.1945. VLA, LR Bregenz, Sch. 48. 115 Chronik des Gendarmeriepostens Krumbach, Eintrag 30.4.1945 Kriegsende (verfasst von Karl Girardi). VLA. Schelling, Festung, 218, beziffert ihre Stärke auf 120 Mann. Die Stärke des Volkssturm‐ bataillons ist nicht bekannt. 116 Schelling, Festung, 214, 218. 117 Die Todesschüsse von Nauders. Widerstandskampf oder Mord? , Wiener Zeitung, 14.10.1949, 3. 118 Schelling, Festung, 215-216. 119 Horst Schreiber, Endzeit. Krieg und Alltag in Tirol 1945, Innsbruck 2020, 146. 105 cm vom Boden abgesägt“. Das von der Stangenspitze entfernte Hakenkreuz fand sich am Straßenrand liegend und darauf die vom Täter verrichtete „große Notdurft“. Girardis „vielseitig gepflogenen Erhebungen“ - die gleichwohl dazu führten, dass das Ereignis überall bekannt wurde - verliefen einmal mehr ergebnislos. 114 Etwa um diese Zeit begann das Festungskommando Vorarlberg mit dem eingangs erwähnten Stellungsbau in Krumbach. Die Straßenbrücken, die Krumbach mit Doren, Rie‐ fensberg bzw. Bolgenach verbanden, wurden mit Sprengbomben versehen. An Verteidigern schickte das Festungskommando zunächst das Volkssturmbataillon Dornbirn-Lustenau nach Krumbach. Hinzu kam am 30. April eine 175 Mann starke SS-Kompanie. 115 An diesem Tag trafen außerdem HJ-Führer im Dorf ein, angeblich mit dem Auftrag, gegebenenfalls die Häuser in Brand zu stecken. 116 Gerüchte wie diese machten auch andernorts die Runde und führten zu direkten Angriffen auf Nationalsozialisten, etwa im Tiroler Dorf Nauders, wo Deserteure am 2. Mai zwei Nationalsozialisten erschossen, um die Brandschatzung des Dorfes zu verhindern. 117 Im Bregenzerwald schlossen sich in mehreren Gemeinden Personen zusammen, um den apokalyptischen Endkampfvisionen regionaler Führungskräfte der Wehrmacht, der Waffen-SS und der HJ entgegenzutreten. Laut Schelling versammelten sich Mitte April etwa vierzig Vertreter aus dem Vorder- und Mittelbregenzerwald in einem Heustadel bei Großdorf, etwa zehn Kilometer von Krumbach entfernt. Schelling betont, dass es keine übergeordnete Organisation mit einem Namen oder einem politischen Programm gegeben habe, allerdings mündliche Absprachen, die er in mehreren Punkten rekonstruierte. Primäres Ziel war demnach die Bildung von Gruppen aktiver Freiheitskämpfer in jeder Gemeinde, die alles unternehmen sollten, damit „der Krieg ohne Kampf und Zerstörung“ zu Ende gehe. Deshalb sollte niemand mehr einer Einberufung zur Wehrmacht oder zum Volkssturm Folge leisten, der Volkssturm vor Ort außerdem dazu gebracht werden, die Waffen niederzulegen. Als zweites Ziel sollte die Sprengung von Brücken und Kraftwerken sowie das Anzünden von Häusern und Vorräten verhindert werden. Tunlichst vermieden werden sollten Kampfhandlungen mit der Wehrmacht. Schließlich sollten „im geeigneten Augenblicke“ auf eine Parole hin, weiße Fahnen gehisst und die öffentlichen Gebäude besetzt werden. 118 Das Ziel der (eigenmächtigen) Demobilisierung scheint in Krumbach funktioniert zu haben. Im April kamen zu den vier im Dorf bereits versteckten Deserteuren fünf weitere hinzu. Diese Gruppe von neun Deserteuren bildete unter der militärischen Führung von Max Ibele den aktivistischen Kern des Widerstands. Die seit November 1944 etwa vierzig zum Volkssturm eingezogenen Männer zwischen 47 und sechzig Jahren (im Reichsgau Tirol und Vorarlberg „Standschützen“ genannt 119 ) hatten eine vierwöchige Ausbildung Krumbach 295 <?page no="296"?> 120 Liste der ausgebildeten und heimgekehrten Soldaten in der Gemeinde Krumbach, 27.12.1945. BAW, I-060, Sch. S15, Fasz. 199. Bei Girardi/ Steurer/ Grafenesche gibt es dazu keine Angaben. 121 Bericht Girardi/ Steurer/ Gafanesche, 105; Schelling, Festung Vorarlberg, 230; Gespräch mit Reinhilde Repnik, geführt von Peter Pirker, 19.9.2023. 122 Chronik des Gendarmeriepostens Krumbach, Eintrag 30.4.1945. VLA; Bericht Girardi/ Steurer/ Gafa‐ nesche, 105. 123 Berkmann Jos. Anton an das Amt der Vorarlberger Landesregierung, betrifft Ibele Max, 13.5.1949; Todesbescheinigung Max Ibele. VLA, IVa-168/ 190. 124 Bericht Girardi/ Steurer/ Gafanesche, 105; Schelling, Festung, 218-221; Gemeinde Krumbach (Hg.), B’üs im Krumbah. Eine Gemeinde aus dem Vorder Bregenzerwald stellt sich vor, Hard 1999, 41. 125 Chronik des Gendarmeriepostens Krumbach, Eintrag 30.4.1945. VLA. in Kasernen in Südtirol (Schlanders, Meran, Gossensass) erhalten. Im April befanden sich die meisten von ihnen in Krumbach, ob sie in die Vorbereitungen zum „Endkampf “ eingebunden waren, ist nicht überliefert. 120 Allerdings stehen nur acht von ihnen auf der Liste der Widerstandsgruppe - die meisten dürften sich aber zumindest passiv verhalten haben. Die Standschützen aus Dornbirn und Lustenau ließen sich offenbar leicht davon überzeugen, nicht zu kämpfen. Sie machten sich am 30. April „heimlich gruppenweise“ auf den Weg nach Hause, so der 42-jährige Mechaniker Alois Zemlicka aus Dornbirn. Er versteckte sich in den folgenden Tagen im Dachboden seines Hauses. 121 Das Ziel, die Brücken zu retten, wurde in Krumbach nicht erreicht. Es gelang der Gruppe um Max Ibele wohl einmal, die Sprengladungen zu entfernen, das Sprengkommando der Wehrmacht erneuerte diese jedoch. Am Nachmittag des 30. April wurden die Brunsttobel-, die Bärentobel- und die Engelbrücke gesprengt. 122 In der Chronik des Gendarmeriepostens führte Girardi „Sprengkommandos der Deutschen Wehrmacht“ als Täter an, im Bericht Gi‐ rardi/ Steurer/ Grafenesche ist von „SS-Leuten“ die Rede. Ein Versuch des kommissarischen Bürgermeisters Anton Wagner, den Kommandanten der SS zum Abzug zu bewegen, war zuvor bereits gescheitert. Die Gruppe um Max Ibele dürfte den hartnäckigen Zerstörungswillen und die Präsenz der Waffen-SS am 30. April jedenfalls als eminente Bedrohung verstanden haben. Sie entschied sich entgegen der ursprünglichen Strategie, Kämpfe zu vermeiden, die SS-Einheit direkt im Dorf mit starkem Feuer aus einem Maschinengewehr, das sie von der Standschützen-Einheit übernommen hatte, anzugreifen und zu vertreiben. Bei der Attacke wurden fünf SS-Männer erschossen und mehrere verwundet. Überliefert ist, dass die Ausführung des Angriffs den Anschein einer großen Zahl von Widerstandskämpfern erweckte. Nach kurzem Gefecht verließ ein Teil der SS-Einheit Krumbach. Aufseiten der Widerstandsgruppe erlitt Max Ibele, der das MG bedient hatte, einen Kopfschuss, an dem er einige Tage später verstarb. 123 Bürgermeister Wagner wurde von der SS mit dem Erschießen bedroht. Wie seine Tochter erzählte, hatte er über Nacht ein Munitionsdepot der SS-Truppe zu bewachen. Am nächsten Tag, dem 1. Mai, hisste er die weiße Fahne und flüchtete. 124 Auch die restliche SS zog schließlich ab. In dieser Situation des Machtvakuums ergriff Girardi die Initiative und organisierte Wachen an den Ortseingängen, um Dorf und Bevölkerung zu schützen. 61 Frei‐ willige meldeten sich dafür. Sie blieben bis zum Eintreffen von 300 französischen Soldaten am 5. Mai auf ihren Posten. 125 Die Befreiung von existentieller Bedrohung, das war wohl das vorherrschende Gefühl in Krumbach. Mit einem Toten auf der Seite des Widerstands war die kurze Konfrontation mit Wehrmachts- und SS-Truppen, verglichen mit dem Nachbardorf 296 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="297"?> 126 Schelling, Festung, 223-225. 127 Vgl. Thomas Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen! “ Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und das Problem, die Tatbestände auseinander zu halten, in: Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS- Militärjustiz. Urteilspraxis - Strafvollzug - Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003, 133-194, 155 (Tab. 15 im Anhang, 748). Langenegg, relativ glimpflich verlaufen. Auch dort hatten Wehrmachtsdeserteure eine Widerstandsgruppe gebildet, um finale Zerstörungen und Gewalt zu vermeiden. Anders als in Krumbach mussten sie dafür aber zuerst die einheimischen NS-Funktionäre ausschalten. Daraus entstand am 1. Mai ein Kampf mit herbeigeholten Soldaten der Waffen-SS oder der Wehrmacht, bei dem fünf Angehörige des Widerstands und ein Dorfbewohner erschossen wurden. 126 IV. Conclusio Bei den vierzehn Deserteuren und Wehrdienstentziehern aus Krumbach sticht auf den ersten Blick die breite Palette der vertretenen Jahrgänge ins Auge, die zwischen 1891 und 1922 verteilt sind. Alle waren zu Beginn der Entziehungspraxis älter als 22, sieben sogar 31 Jahre und älter (50 Prozent). Im Vergleich mit verfügbaren Daten der Altersverteilung von österreichischen Deserteuren waren die Krumbacher Deserteure überdurchschnittlich alt; 127 ihre Handlungen liegen weit auseinander, von 1939 bis 1945. Wenig überraschend häuften sich die Entziehungen erst im Frühjahr 1945. Zu diesem Zeitpunkt gab es allerdings bereits drei bis dorthin geglückte Fahnenfluchten, die im Dorf sicherlich bekannt waren und zeigten, dass das Überleben entgegen der Todesdrohung der Kriegsgerichte und der Schlachtfelder durchaus möglich war. Bemerkenswert und auch überregional äußerst ungewöhnlich ist die mit mehr als vier Jahren extrem lange währende und erfolgreiche Desertion von Johann Steurer im Binnenland des Dritten Reiches. Nur ein Deserteur aus unserer mehr als 2.000 Fälle von Wehrdienstentziehungen umfassenden Sammlung überlebte die Fahnenflucht als U-Boot in Heimatnähe noch länger. Dieses Phänomen lenkt den Blick auf die eingangs aufgeworfene Frage der Verfolgungsintensität und der Unterstützung. Im Vergleich betrachtet scheint Krumbach kein für die NSDAP besonders fruchtbarer Boden gewesen zu sein. Eine relativ hohe Zahl an Uk-Stellungen zeigt nicht nur den breiten Versuch der bäuerlichen Bevölkerung, möglichst vom Militärdienst befreit zu werden. Sie kann auch als Schwäche der Funktionsträger interpretiert werden, Kriegsdienstbereitschaft durchzusetzen. Die Unterstützung von Uk-Stellungen scheint in der Anfangsphase des Krieges vielmehr eine Möglichkeit für den Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbau‐ ernführer gewesen zu sein, ihre Positionen im Dorf zu verbessern. Durch eine Denunzia‐ tion aus der NSDAP-Ortsgruppe brach dieses lokale System der (Selbst-)Privilegierung zusammen. Zudem gab es Rivalitäten zwischen der Partei und der zweiten Säule der NS- Herrschaft in Krumbach, der staatlichen Exekutive. Wohl auch mangels Alternativen blieb der langjährige Kommandant des Gendarmeriepostens 1938 im Amt. Er trat der NSDAP bei und tat damit den Erwartungen seiner vorgesetzten Dienststellen Genüge. Mit seinen Ermittlungen gegen die lokale NS-Elite lieferte er der Gestapo zunächst reichlich Material für Anklagen. Erst in der Phase der Verhandlung vor dem Sondergericht trug er ebenso Krumbach 297 <?page no="298"?> 128 Chronik des Gendarmeriepostens Krumbach, Einträge 1936/ 1937. VLA. 129 Diverse Listen von Heimkehrern in der Gemeinde Krumbach aus den Jahren 1945 und 1946. BWA, I-060, Sch. 15, Fasz. 199. 130 Namensliste entlassener ehemaliger Angehöriger der deutschen Wehrmacht in der Gemeinde Krumbach, 11.1.1946. BWA, I-060, Sch. 15, Fasz. 199. wie der Gemeindearzt wieder zur Entlastung der Beschuldigten bei, was die Todesstrafe für Josef Mennel abwendete. Auch den Haftantritt von Rosa Fink scheinen die beiden alles andere als forciert zu haben. Die erste Funktionselite der NSDAP verschwand 1943 in Haft bzw. in der Wehrmacht und musste ersetzt werden - zum Teil durch Personen, die bereits in hohem Alter waren. Girardis Position im Dorf stärkten diese Rochaden. Bei den Ermittlungen zu den Deserteuren wurde sichtbar, wie Girardi im Falle von Josef Pankraz Fink durch die Art der Formulierung der Anzeige den Weg für eine milde Bestrafung ebnete. Im Falle Johann Steurers ließ er den Schutz, den dieser bei seiner Familie gefunden hatte, unangetastet, wiewohl er zugleich die Anforderungen der Wehrmachtsjustiz nach Fahndungen beständig erfüllte, bis die Suche als aussichtslos abgebrochen wurde. Das Verhalten Girardis im Frühjahr 1945 offenbart, dass es für das längerfristige Gelingen von Desertionen (und Widerstand) nicht nur auf die Solidarität von Unterstützer*innen ankam. Das ambivalente Agieren von Polizisten und Gendarmen, die einerseits mit den übergeordneten Behörden kooperierten, andererseits durch Wegsehen und Verschleppen dissidenten Praktiken vor Ort Entfaltungsräume ließen, erweist sich als genauso wesentlich. Die Beziehungen der Deserteursfamilien zur Gendarmerie waren auf dieselbe Weise wie die Entfaltungsräume politisch grundiert: Die Familien gehörten zum vor 1938 tonangebenden katholisch-konservativen, monarchistisch orientierten Kern der Gemeinde, den Girardi bestens kannte. 128 Girardis Weiterverwendung nach 1945 demons‐ triert nicht zuletzt, wie ein Gendarm den Übergang von einem Regime zum nächsten durch eigenständiges Agieren auch für sich selbst vorteilhaft gestalten konnte. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen drängt sich die Frage auf, warum nicht mehr Soldaten aus Krumbach desertiert sind. Spezifische Situationen und Beziehungen, die das Überleben einzelner ermöglichten, sollten nicht zu Generalisierungen verleiten. Desertieren war die radikale Praxis einer kleinen Minderheit von Soldaten und sie war unter den Bedingungen einer sich weitgehend konformistisch verhaltenden Umgebung über längere Dauer nur im Verborgenen möglich, wofür die sozialen und ökonomischen Ressourcen sehr knapp waren. Die Eltern von Johann Steurer hätten wohl kaum auch ihren zweiten, jüngeren Sohn, der ebenfalls Soldat war, verbergen und verpflegen können. Ähnlich war es bei Franz Josef Steurer, der neben den zwei desertierten Söhnen zwei weitere in der Wehrmacht hatte. Zudem müssen die Größenverhältnisse im Blick behalten werden. Etwa 160 Krumbacher dienten in den deutschen Streitkräften, 129 14 von ihnen entzogen sich dem Kriegsdienst, was einen vergleichsweise hohen Anteil (acht Prozent) darstellt. Aus einer Liste mit 127 Heimkehrern geht auch hervor, dass 46 Parteimitglieder bzw. -anwärter waren (36 Prozent). Unter ihnen befand sich mit Josef Mennel nur ein Wehrdienstentzieher. 130 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass fast 40 Prozent der Soldaten eine mehr oder weniger ausgeprägte Affinität zum NS-Regime hatten. Diese Größenverhältnisse zeigen, wie stark es der NSDAP 1938/ 39 auch in Krumbach gelungen ist, Männer aus dem katholisch-konservativen bäuerli‐ 298 Isabella Greber / Peter Pirker <?page no="299"?> 131 Dies wird auch in der Dorfchronik deutlich: Gemeinde Krumbach (Hg.), B’üs im Krumbah. 132 Totenehrung in Langenegg, Vorarlberger Nachrichten, 8.10.1945, 1. 133 Protokoll der konstituierenden Gemeinderats-Sitzung, 29.5.1945. BWA, Krumbach GV 1903-1951. chen Milieu anzusprechen und aus den traditionellen politischen Bindungen herauszulösen. Diese Tatsache spielte wohl auch bei der lokalen Tradierung des Kriegshandelns ab 1946 eine wichtige Rolle. Auffallend ist jedenfalls, dass sich vor Ort keine manifeste öffentliche Erinnerung an die lokalen Deserteure und die Widerstandsgruppe herausbildete. 131 Der bei den Kämpfen mit der SS gefallene Deserteur Max Ibele wurde allerdings bei einer großen Gedenkfeier der Vorarlberger Landesregierung und der Vorarlberger Landesleitung der österreichischen Widerstandsbewegung am Sonntag, dem 7. Oktober 1945, im Nachbardorf Langenegg, wo sechs Angehörige der dortigen Widerstandsgruppe am 1. Mai 1945 von SS-Männern getötet worden waren, unter Anwesenheit des kommandierenden Generals der französischen Truppen in Vorarlberg als Freiheitskämpfer geehrt. Auf der bis heute gepflegten Gedenkstätte in Langenegg findet sich sein Name jedoch nicht. 132 Die vorliegende Fallstudie macht außerdem deutlich, dass Deserteure auch in einer relativ günstigen Umgebung solidarischer Familienzusammenhänge zwar eine kleine Minderheit blieben, jedoch keineswegs randständige Existenzen sein mussten. In Krumbach stammten sie vielmehr aus alteingesessenen Bauern- und Handwerkerfamilien, waren im Wirtschafts-, Kultur- und Sozialleben des Dorfes vor 1938 und nach 1945 nicht nur sehr gut integriert, sondern auch Träger politischer Macht. Aus der von den Deserteuren maßgeblich mitgeprägten Widerstandsgruppe entstand die erste Kommunalverwaltung nach der Befreiung, Deserteure nahmen darin wichtige Funktionen wahr. 133 Zur Befriedung der Dorfgesellschaft sorgten sie nach 1945 offenbar selbst dafür, dass ihre Geschichte und Desertieren als eine Form der möglichen Dissidenz in Vergessenheit gerieten. Krumbach 299 <?page no="300"?> Krumbach. Foto Miro Kuzmanovic. <?page no="301"?> Maisäß Relshüsli, Vandans. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="302"?> Rellstal - Schweizertor, Rätikon. Foto: Miro Kuzmanovic. <?page no="303"?> 1 Dieser Beitrag ist eine ergänzte Version des gleichbetitelten Artikels erschienen in der Zeitschrift zeitgeschichte 49 (2022) 4. 2 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Fritz Müller, 14.10.1943. Schweizerisches Bundesarchiv (BAR), E4264#1985#196#2250. 3 Siehe dazu den Beitrag von Peter Pirker in diesem Band (Tab. 5); auch: Peter Pirker, Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg. Ein Werkstattbericht mit Zwischenergebnissen und Thesen, in: Museumsverein Jahrbuch - Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsverein 2021, 96-111, 102. „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ Der Fall der Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller 1 Nikolaus Hagen Am 14. Oktober 1943 gab Fritz Müller, ein „fahnenflüchtiger“ Vorarlberger, der am Tag zuvor mit seinen zwei Brüdern Erwin und Kurt Müller die deutsch-schweizerische Grenze illegal überschritten hatte, folgende Darstellung der Beweggründe am Polizeiposten Buchs (St. Gallen) zu Protokoll: „Nachdem jeder seine Kriegserlebnisse erzählt hatte, mussten wir erkennen, dass Deutschland nie siegen werde. Da wir sowieso nicht für das deutsche Regime eingestellt sind und wieder Österreich werden möchten, beschlossen wir zu entfliehen. Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern oder später als Krüppel unser Leben fristen.“ 2 Gegenstand dieser Fallstudie ist die bislang weitgehend unbekannte Geschichte der drei Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller aus Hohenweiler im Laiblachtal, die im Oktober 1943 anlässlich eines Heimaturlaubs in Vorarlberg gemeinsam desertierten und über das Montafoner Rellstal in die Schweiz flohen. Der Fall der Brüder Müller tangiert zahlreiche zentrale Aspekte des Phänomens Desertion im alpinen Grenzgebiet des Deutschen Reichs zur Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Dazu gehören neben der erfolgreichen Flucht über die Alpen, die anschließende Internierung in der Schweiz, die Rückkehr noch während des Krieges sowie das erfolgreiche Verstecken innerhalb des Landes bis Kriegsende. Die Tatsache einer gemeinsamen, noch dazu erfolgreichen „Fahnenflucht“ dreier Brüder ist für sich allein genommen schon bemerkenswert, umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Zahl der Deserteure und Wehrdienstverweigerer aus Vorarlberg nach derzeitigem Wissensstand 256 betrug. 3 Auch im Verhältnis zur Gesamtzahl der in der Schweiz nachweisbaren deutschen Deserteure, die Daniel Zumbühl mit 1.358 von <?page no="304"?> 4 Daniel Zumbühl, 1939-1945: Deutsche Deserteure in der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 60 (2010) 4, 395-411. Siehe auch: Tonja Furrer/ Nina Kalser, Sowjetische und russische Militärinternierte in der Schweiz und in Liechtenstein während des Zweiten Weltkrieges, in: Carsten Goehrke/ Werner Zimmerman (Hg.), „Zuflucht Schweiz“. Der Umgang mit Asylproblemen im 19. und 20.-Jahrhundert, Zürich 1994, 309-343, 309. 5 Gerald Steinacher, Südtirol und die Geheimdienste 1943-1945, Innsbruck 2000, 89-95. 6 Thomas Albrich, Franz Weber. Widerstand und Politik, Innsbruck 2019; Peter Pirker, Codename Brooklyn. Jüdische Agenten im Feindesland, Die Operation Greenup 1945, Innsbruck/ Wien 2019. 7 Giambattista Lazagna, Der Fall des Partisanen Pircher, hg. v. Carlo Romeo und Leopold Steurer, Meran 2022. 8 Josef Berkmann, Stehengeblieben, in: Vorarlberger Volkskalender 1985, 85-89. 9 Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Lexikon Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg, 1985/ 2022, URL: https: / / www.malingesellschaft.at/ lexikon-verfolgung-und-widerstand (abgerufen 12.7.2023); Hanno Platzgummer et al. (Hg.), „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist …“ Vorarlberger vor den Gerichten der Wehrmacht, Dornbirn 2011, 72. 10 Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer-Täter-Gegner, Innsbruck 2012, 327. insgesamt etwa 103.869 fremden Militärinternierten erhoben hat, 4 sticht die Flucht der drei Brüder hervor. Der Fall gewinnt eine weitere Dimension durch Erwin Müllers im Juni 1944 auf umgekehrter Route erfolgte klandestine Rückkehr nach Vorarlberg, wo er sich bis zum Kriegsende in Hohenweiler versteckte. Da er bei seiner Rückkehr nach Vorarlberg einen Hilfszöllner namens Wilhelm Tschabrun erschoss, wurde der Fall Müller in der Nachkriegszeit Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung. Bei dieser Rückkehr noch vor Kriegsende handelt es sich zwar nicht um einen absoluten Einzelfall, 5 allerdings doch um ein Ereignis, zu dem bislang nur wenige regionale Vergleichsstudien existieren. Bekannteste Ausnahme sind die Arbeiten zu Franz Weber (1920-2001), einem Tiroler Deserteur, der sich dem US-amerikanischen Nachrichtendienst OSS anschloss und im Februar 1945 im Zuge der „Operation Greenup“ nach Tirol zurückkehrte. 6 Für einen Vergleich mit dem Fall Müller eignet sich aufgrund zahlreicher Parallelen besonders eine rezente Studie und Edition zum Südtiroler Deserteur und „Partisanen“ Johann Pircher. 7 Pircher hatte einen ähnlichen familiären und sozialen Hintergrund wie die Brüder Müller und flüchtete ebenfalls in die Schweiz. Wie Erwin Müller kehrte auch Pircher noch vor Kriegsende zurück und wurde aufgrund einer Verwicklung in die Tötung von lokalen NS- Kollaborateuren in der Nachkriegszeit von der italienischen Justiz belangt. Der Fall der Brüder Müller ist bislang nicht eingehend untersucht worden. Von den drei Brüdern hat nur Erwin Müller eine gewisse Beachtung in der regionalen (Forschungs-)Li‐ teratur gefunden. Seine Erlebnisse unmittelbar bei Kriegsende wurden im Jahr 1985 von Josef Berkmann in einer nicht ganz faktentreuen Kalendergeschichte verarbeitet, 8 die späteren Arbeiten offenbar als eine der Hauptquellen diente. So scheint Erwin Müller mit Kurzeinträgen im Lexikon „Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg“ und in einer Publikation zu Vorarlbergern vor den Gerichten der Wehrmacht auf, beide Mal unter Verweis auf Berkmann. 9 In letzterer werden auch Kurt und Fritz Müller beiläufig genannt. Weiters wird Erwin Müller in einem Jugendsachbuch zum Nationalsozialismus in Vorarl‐ berg als Fallbeispiel für einen Vorarlberger Deserteur erwähnt. 10 Der Historiker Michael Kasper thematisiert den Tod des Hilfszöllners Wilhelm Tschabrun in Zusammenhang mit 304 Nikolaus Hagen <?page no="305"?> 11 Michael Kasper, Flucht über die Berge. Desertion und Fluchthilfe an der Gebirgsgrenze zwischen Tirol-Vorarlberg und Graubünden, in: Kerstin von Lingen/ Peter Pirker (Hg.), Deserteure der Wehr‐ macht und der Waffen-SS. Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung, Paderborn 2023, 33-50. 12 Das Montafon „unterm Hitler“, 28 NS-Erinnerungsorte im Montafon, o. D., URL: https: / / stand-mon tafon.at/ kultur-wissenschaft/ ausstellungen/ das-montafon-unterm-hitler (abgerufen 10.6.2022). 13 Peter Pirker, Fahnenflucht in den Alpen, Vortrag im Rahmen der Tagung Wehrmachtsdeserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und (digitaler) Gedächtnisbildung, Innsbruck 16.9.2021, URL: https: / / www.youtube.com/ watch? v=JsK652KJfhw (abgerufen 12.7.2023). 14 Vgl. Maria Fritsche, Die Analyse der Beweggründe. Zur Problematik der Motivforschung bei Verfolgten der NS-Militärgerichtsbarkeit, in: Walter Manoschek, Opfer der NS-Militärjustiz, Wien 2003, 104-113. 15 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 2016, 171-209. 16 Ich danke Peter Pirker und Aaron Salzmann, die im Rahmen des Projekts „Deserteure der Wehrmacht. Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“ grundlegende Archivrecherchen getätigt und mir für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt haben. 17 Vorarlberger Landesarchiv (VLA), Kriminalbeamtenabteilung des Amtes der Vorarlberger Landes‐ regierung in Feldkirch (Kriminalstelle Feldkirch), 3488/ 49. Ich danke Markus Schmidgall für das Ausfindigmachen des Akts. Erwin Müllers Rückkehr in einem jüngst erschienenen Beitrag. 11 Der Todesort Tschabruns war zudem in einer 2020/ 21 gezeigten Ausstellung zum Nationalsozialismus im Montafon als „Erinnerungsort“ genannt, ohne allerdings Erwin Müller in diesem Zusammenhang namentlich anzuführen. 12 Das Forschungsinteresse dieser Mikrostudie richtet sich, neben einer Rekonstruktion des Fluchtaktes und der anschließenden Internierung in der Schweiz, primär auf die Lebens- und Erfahrungswelt der drei Brüder. Die Fallstudie orientiert sich dabei an einem Modell, das der Historiker Peter Pirker zur Erforschung des Phänomens Desertion vorge‐ schlagen hat. 13 Anstelle möglicher Motive 14 stehen die familiären, sozialen, militärischen und geografischen „Erfahrungsräume“, die zum Akt der „Fahnenflucht“ führten bzw. diesen ermöglichten, im Mittelpunkt des Interesses. Der Begriff des „Erfahrungsraums“ rekurriert damit auf Pierre Bourdieus Konzeption des sozialen Raums, 15 also auf die gesellschaftlichen Strukturen und die Positionierung des Individuums in diesen, und betont vor allem die Kontingenz der individuellen Erfahrungen und Erlebnisse innerhalb dieses Raums. Diese Erfahrungsräume zu skizzieren, muss in Anbetracht der derzeitigen Quellenlage ein Versuch bleiben. Es bedürfte zudem einer breiteren Vergleichsbasis, als sie zum derzeitigen Zeitpunkt existiert, um die Grenzen und Überlappungen dieser Räume und die Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und Positionierungen deutlicher sichtbar zu machen. Soweit bislang bekannt, haben die drei Brüder ihre Erlebnisse später nicht verschriftlicht oder öffentlich thematisiert. Hauptquellen der Fallstudie sind komplementäre Akten aus dem schweizerischen Bundesarchiv und dem Bundesarchiv (Militärarchiv) in Freiburg, die jeweils den Fahnenfluchtakt bzw. die Überschreitung der Grenze zum Inhalt haben. 16 Im schweizerischen Dossier finden sich u. a. die Soldbücher der Brüder sowie Einvernahme‐ protokolle, die kurz nach der Flucht am Polizeiposten in Buchs angefertigt wurden und für die Rekonstruktion des Fluchtaktes die Grundlage liefern. Komplementär wurde ein Akt der Vorarlberger Kriminalpolizei aus der Nachkriegszeit herangezogen. 17 Besonders dankbar bin ich auch dem Netzwerk Vorarlberger Kommunalarchivarinnen und -archivare, „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 305 <?page no="306"?> 18 Ich danke Carina Haltmayer (Hohenweiler), Oliver Heinzle (Lustenau), Nicole Ohneberg (Hard) und Stefan Stachniß (Bürs/ Nüziders) sowie Herbert Patt (Cazis/ Graubünden) und deren Auskunftsper‐ sonen für ihre wertvollen Hinweise. 19 Pfarre Mellau, Tauf-, Firm-, Trauungs- und Sterbebuch 1812-1883, fol. 240. 20 Die Datumsangaben variieren: Vorarlberger Volksblatt, 2.2.1915, 3; Vorarlberger Volksblatt, 22.3.1917, 3; Vorarlberger Tagblatt, 21.8.1920, 5; Pfarre Reuthe, Tauf-, Sterbe-, Trauungs- und Firmbuch 1830-1938, fol. 296 (Forthin als Taufbuch Reuthe zitiert). 21 Vorarlberger Volksblatt, 19.1.1916, 3. 22 Vorarlberger Landes-Zeitung, 8.5.1916, 2. 23 Alle Angaben aus Taufbuch Reuthe. die mich direkt oder indirekt mit zahlreichen wichtigen Informationen, insbesondere zu den Lebensstationen der Familienangehörigen, versorgt haben. 18 Im April 2023, nach Erscheinen der Erstversion dieses Beitrags, war es mir möglich, mit Susanne Müller, der verwitweten Ehefrau von Kurt Müller, sowie mit weiteren Angehörigen und Nachfahren Kurt Müllers in Lustenau zu sprechen. Dankenswerterweise durfte ich auch Einblick in das Familienfotoalbum nehmen. Dieses Gespräch führte zu neuen Erkenntnissen und not‐ wendigen Ergänzungen. Susanne Müller verstarb wenige Wochen nach unserem Gespräch im 101. Lebensjahr. Der Beitrag ist ihr gewidmet. I. Familiärer und sozialer Erfahrungsraum: Der Erste Weltkrieg als Folie Die drei Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller stammten aus einem kleinbäuerlichen bzw. ländlich-proletarischen Umfeld, das von den wirtschaftlichen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und dem für viele damit verbundenen sozialen Abstieg geprägt war. Ihre Mutter, Maria Berlinger-Müller, hatte als überwiegend alleinerziehende Mutter für acht Kinder zu sorgen. Diese mussten ihrerseits früh selbständig werden, was sich in den Berufs- und Bildungswegen vor dem Eintritt in den Wehrdienst niederschlug. In den unterschiedlichen Geburtsorten der Kinder spiegeln sich ökonomisch bedingte Umzüge und familiäre Brüche in der Zwischenkriegszeit wider. Maria Berlinger-Müller stammte aus Mellau im Bregenzerwald, wo sie am 28. Dezember 1882 als Maria Felder zur Welt kam. 19 Ihr erster Ehemann, Kaspar Berlinger, kam ebenfalls aus Mellau und war Bauer und Gastwirt („Gamswirt“) in Baien, einem Weiler nahe Bezau, der zu Reuthe gehört. Reuthe, das über Jahre den Lebensmittelpunkt der Familie bildete, war eine aus mehreren kleinen Weilern bestehende, agrarisch-geprägte Landgemeinde, die Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 350 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Der Erste Weltkrieg traf die Familie hart. Im März 1915 ging Kaspar Berlinger nach dem Fall der k.-u.-k. Festung Przemyśl in russische Kriegsgefangenschaft, in welcher er im November oder Dezember desselben Jahres an einer Infektionskrankheit verstarb. 20 Ein ähnliches Schicksal traf noch weitere enge Familienangehörige. Ein Bruder Kaspar Berlingers war bereits im Jahr zuvor gefallen 21 und auch Maria Berlingers Bruder Franz Josef Felder, der ebenfalls in Reuthe lebte, verstarb im April 1916 in einem Kriegslazarett. 22 Nach dem Tod ihres ersten Ehemanns musste Maria Berlinger allein für vier Kleinkinder, nämlich Arnold (geb. 1. November 1909), Theresia (geb. 15. Oktober 1910), Josef Emil (25. September 1912) und Walter (14. April 1914), 23 sorgen. 306 Nikolaus Hagen <?page no="307"?> 24 Ebd., fol. 410. 25 Ebd., fol. 84. 26 Bludenzer Anzeiger, 27.11.1920, 1. 27 Taufbuch Reuthe, fol. 162. 28 Ebd., fol. 164. Abb. 1: Baien in der Zwischenkriegszeit. Wohnhaus der Familie Berlinger-Müller in der Bildmitte (Bregenzerwald Archiv, Sammlung Hiller). Im April 1919 heiratete Maria Berlinger in Rankweil den zehn Jahre jüngeren Franz Anton Müller. 24 Dieser war am 3. November 1892 in Bezau als lediges Kind zur Welt gekommen und nach Reuthe zuständig. 25 Als Beruf ist in den Matriken der katholischen Pfarre Reuthe Oberbauarbeiter sowie Bahnoberbauarbeiter verzeichnet, was darauf schließen lässt, dass er zumindest zeitweise bei der Bregenzerwaldbahn, die Bezau mit der Landeshauptstadt Bregenz verband, im Dienst stand. Franz Anton Müller zog nach der Heirat zu seiner Ehefrau und den Kindern an deren Wohnstätte, die Gaststätte in Baien. Abgabenschulden, die nach dem Tod des ersten Ehemanns offengeblieben waren und welche Maria Berlinger-Müller erfolglos bekämpfte, dürften die Familie finanziell belastet haben. 26 Am 4. November 1919 kam Erwin, der erste gemeinsame Sohn des Paares, in Reuthe zur Welt. 27 Ein Jahr darauf, am 19. November 1920, folgte ein weiterer Sohn namens Leopold Kaspar, der schon kurz vor seinem ersten Geburtstag verstarb. 28 Während der Beruf des Vaters im Taufregister bei Erwins Geburt noch „Oberbauarbeiter“ lautete, war er bei der Geburt von Leopold Kaspar nur mehr als „Taglöhner“ verzeichnet. Ein Indiz, dass sich die wirtschaftliche Lage der Familie „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 307 <?page no="308"?> 29 Pfarre Feldkirchen, Taufbuch 1913-1927, fol. 216. 30 Eintrag Schweizer, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, URL: https: / / www.woerterbu chnetz.de/ DWB? lemid=S21762 (abgerufen 12.7.2023). 31 Gendarmerieposten Hörbranz an das Gericht der Division Nr. 418, Zweigstelle Innsbruck, Februar 1944. Bundesarchiv Freiburg (BArch-MA), Pers 15/ 146444, fol. 11. 32 Soldbuch, Erwin Müller. BAR, E4264#1985#196#2250. verschlechtert hatte. Vermutlich war die Berufssituation ein Grund, weshalb sich die Familie um 1921 dazu entschloss, in die Steiermark zu übersiedeln. Am 6. Dezember 1921 kam in Feldkirchen bei Graz der zweite überlebende Sohn des Paares, Kurt, zur Welt. Das Taufbuch der Pfarre Feldkirchen vermerkt beim Vater als Standesbezeichnung „Schweizer“. 29 Vermutlich war damit eine Tätigkeit in der Viehhaltung, als Knecht oder Hirte, oder im Molkereiwesen gemeint. 30 Wie lange die Familie in Feldkirchen verblieb, ist unklar. Sohn Fritz (Friedrich) kam am 5. Februar 1924 in Fürstenfeld in der Südoststeiermark zur Welt. Im Jahr darauf, am 5. Oktober 1925, folgte, ebenfalls in Fürstenfeld, das vierte und letzte gemeinsame Kind, ein Sohn namens Adalbert. 31 Beruflicher Erfolg dürfte sich für Franz Anton Müller auch in der Steiermark nicht eingestellt haben. Im späteren Soldbuch von Erwin Müller ist als Beruf des Vaters „Hilfsarbeiter“ verzeichnet; 32 in jenen von Kurt und Fritz Müller fehlt jeder Hinweis auf ihn. Abb. 2: Maria Berlinger mit ihrem zweiten Ehemann Franz Anton Müller (Familienalbum Susanne Müller). Im Jahr nach der Geburt des jüngsten Sohnes muss es eine ernste Ehekrise gegeben haben, die zur Trennung führte. Um 1925 kehrte Maria Berlinger-Müller mit ihren Kindern zurück 308 Nikolaus Hagen <?page no="309"?> 33 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Erwin Müller, 4.10.1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 34 Franz Anton Müller verstarb 1961 in Graz. Pfarre Rankweil, Ehebuch 1901-1931, fol. 545. 35 Oswald Überegger, Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918-1920, Paderborn 2019, 175-176. 36 Mitteilung Susanne Müller, 1.4.2023. nach Reuthe im Bregenzerwald. Der Vater, so gab Erwin Müller später an, hatte die Familie verlassen und war allein in Fürstenfeld zurückgeblieben. 33 Der Kontakt zu seinen Söhnen dürfte danach abgebrochen sein. 34 Der frühe Tod des ersten Ehemanns, die Trennung vom zweiten Ehemann, der offenbar kein stabiles berufliches Auslangen finden konnte, und die Wohnortswechsel bedeuteten in Summe wohl einen gravierenden sozialen und wirtschaft‐ lichen Abstieg für die alleinerziehende Maria Berlinger-Müller und ihre acht Kinder. Im Jahr 1937 übersiedelte die Familie von Reuthe nach Hohenweiler im Laiblachtal, einer ländlichen Gemeinde mit etwa 600 Einwohnerinnen und Einwohnern an der bayerischen Grenze. Dort pachtete Maria Berlinger-Müller ein kleines landwirtschaftliches Gut zur Selbstversorgung. Ein Teil der älteren Kinder war zu diesem Zeitpunkt schon volljährig und hatte eigene Familien gegründet. Wir wissen nur wenig über die Kindheit und Jugend der Geschwister Berlinger-Müller in Reuthe und in Hohenweiler. Die Familie war jedenfalls katholisch und die Kinder wurden alle gefirmt. Über eine besondere Politisierung und über die in der Familie oder bei einzelnen Angehörigen vorherrschende Einstellung zum Krieg und zum Kriegsdienst ist nichts bekannt. Die Tatsache, dass der leibliche Vater der ersten Kinder ebenso wie mindestens zwei weitere nahe Verwandte im Krieg ums Leben gekommen waren, stellte aber sicherlich eine schmerzhafte Erinnerung dar, wie sie viele Familien teilten. Der Historiker Oswald Überegger konstatiert für die unmittelbaren Nachkriegsjahre in Tirol und Vorarlberg zunächst eine durch „die Erfahrung von Leid und Tod sowie die allgegenwärtige Angst vor einer erneuten Rekrutierung zur Kriegsdienstleistung im Rahmen eines künftigen Kon‐ flikts“ Entfremdung von Gesellschaft und Militär, die allerdings nicht von Dauer geblieben sei. Schon Ende der 1920er-Jahre sei die leidvolle Kriegserinnerung in den Hintergrund getreten und durch die unmittelbare Erfahrung der drängenden ökonomischen Krisen der damaligen Jahre überlagert worden. 35 Im Fall der Familie Berlinger-Müller mag dieser Befund durchaus zutreffend gewesen sein. Auch wenn die Familie einen kleinen Hof bewirtschaftete, war sie ökonomisch im Landarbeitermilieu und nicht im Bauernstand zu verorten. Die Kinder mussten folglich, neben der Mithilfe daheim, früh eine Lohnarbeit ergreifen. Eine höhere Schulbildung oder gar Matura erlangte aus diesem Grund keines der acht Kinder; auch Fachausbildungen waren die Ausnahme. Erwin Müller absolvierte in Reuthe die achtjährige Volksschule, Fritz Müller, der jüngste der drei späteren Deserteure, sechs Jahre in Reuthe und die letzten beiden Klassen in Hohenweiler. Kurt Müller dürfte nach der überwiegend in Reuthe absolvierten Volksschule auch noch kurz in Hohenweiler in die Schule gegangen sein. 36 Nach dem Schulabschluss arbeitete Erwin Müller bei verschiedenen Bauern in der jeweiligen Umgebung als Knecht. Im Februar 1936 wurde er, so ein späterer Polizeibericht aus der Nachkriegszeit, wegen eines Diebstahls vom Landesgericht Feldkirch zu zweiwöchigem „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 309 <?page no="310"?> 37 Gendarmerieposten Hörbranz an die Kriminalabteilung für Vorarlberg, Müller Erwin aus Hohen‐ weiler, Aufenthaltsermittlung, 15.3.1946. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 38 Soldbuch, Erwin Müller. BAR, E4264#1985#196#2250. 39 Mittelung Susanne Müller, 1.4.2023. 40 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Kurt Müller, 4.10.1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 41 Taufbuch Reuthe, fol. 141; Bludenzer Anzeiger, 17.6.1939, 6. 42 Bludenzer Anzeiger, 21.5.1938, 12. 43 Gemeindearchiv Bürs, Meldekartei, Arnold Berlinger, 1938. 44 Gemeindearchiv Nüziders, Meldekartei, Arnold Berlinger, 1938-[1946? ]. 45 Wehrmachtsstandortältester von Bregenz an das Gericht der Division Nr. 188 Innsbruck, betr. Müller Erwin Obgfr., Müller Kurt Obgfr., Müller Fritz Jg. Fahnenflucht, 20.10.1943. BArch-MA, Pers 15/ 146444, fol. 1. Arrest verurteilt. 37 Die näheren Umstände sind allerdings unbekannt. Zu Jahresbeginn 1938 trat er nach eigenen Angaben eine Metzgerlehre an. Details dazu fehlen. In seinem späteren Soldbuch ist nur unspezifisch Hilfsarbeiter als Beruf verzeichnet. 38 Sein Bruder Kurt arbeitete nach der Schule auf dem Familiengut mit und begann schließlich 1937 eine Friseurlehre in Bregenz, die er 1940 mit der Gesellenprüfung abschloss. Schon in seiner Jugend in Hohenweiler lernte er seine spätere Ehefrau, die Nachbarstochter Susanne Hehle, deren Familie einen stattlichen Hof bewirtschaftete, kennen und lieben. 39 Der jüngste der drei Brüder, Fritz, arbeitete bis 1941 in der eigenen Landwirtschaft. Zu diesem Zeitpunkt musste die Mutter diese größtenteils aufgeben, da fast alle Söhne als Arbeitskräfte ausgefallen waren. In der Schweiz gab er später an, dass er sich damals für eine kaufmännische Schulbildung interessiert hätte. Allerdings sei ihm das vom Arbeitsamt nicht gestattet worden und stattdessen sei er einem Lochauer Bauern namens Johann Sinz als Knecht zugeteilt worden. In den Wintermonaten der Jahre 1941 und 1942 besuchte er nebenbei landwirtschaftliche Schulkurse, die er aber nicht mehr vor Beginn des Wehrdiensts abschließen konnte. Bei der Mutter verblieben waren zu diesem Zeitpunkt wohl nur mehr die Tochter Theresia Berlinger, Sohn Josef aus erster Ehe und der jüngste Sohn Adalbert. Kurt Müller, der zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ im März 1938 16 Jahre alt war, sagte vor den Schweizer Behörden aus, dass er in der Hitlerjugend (HJ) gewesen war, allerdings „nie mit rechter Begeisterung“. 40 Auch vom jüngeren Fritz Müller ist eine HJ-Mitgliedschaft anzunehmen. Im Zusammenhang mit der späteren Flucht der drei sind auch der ältere Halbbruder Arnold Berlinger und dessen Familie relevant. Berlinger verehelichte sich 1936 in Bludenz mit Maria Fetz und hatte mit dieser einen Sohn. 41 Im Mai 1938 pachtete er von Johann Bachmann eine Metzgerei in Bürs. 42 Anfang Juni verlegte die Familie ihren Wohnsitz von Wolfurt-Rickenbach nach Bürs. 43 Im November übersiedelte sie schließlich in die Nachbargemeinde Nüziders. 44 Es ist denkbar, dass Erwin Müller seine Metzgerlehre bei seinem Halbbruder antrat, auch wenn er in den Melderegistern von Bürs und Nüziders für die damalige Zeit nicht aufscheint. Allerdings hatte er in Nüziders zur Kriegszeit eine Freundin namens Lina Dressel. 45 Das spricht doch dafür, dass er häufig in der Gegend war und möglicherweise auch die nahen Berge des Rätikons kannte. An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit dem in der Einleitung genannten Südtiroler Johann Pircher an, dessen Familienhintergrund einige Parallelen aufweist. Pircher, geboren 310 Nikolaus Hagen <?page no="311"?> 46 Carlo Romeo/ Leopold Steurer, Vom Borbera-Tal über Fossano ins Vinschgau. Ein Spaziergang mit dem Fall des Partisanen Pircher im Kopf, in: Lazagna, Der Fall, 9-50, 15-16. 47 So auch die Schilderungen der Angehörigen von Kurt Müller im Gespräch mit dem Autor, 1.4.2023. 1924, im selben Jahr wie Fritz Müller, stammte aus Laas im Vinschgau aus einer ärmlichen Bauernfamilie mit fünf Kindern. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wuchs er bei fremden Bauern als unbezahlter Knecht auf. Wie die Brüder Müller besuchte auch Pircher nur die Volksschule. Erschwerend kam in Südtirol allerdings dazu, dass die Faschisten deutschsprachige Schulen verboten hatten und er folglich seine gesamte Schulbildung in einer Fremdsprache absolvieren musste. Wie die Brüder Müller war auch Pircher bis zu seinem Wehrdienst als Landarbeiter tätig. Im Zuge der sogenannten „Option“ 1939 entschied sich der Vater für Deutschland; ein Schritt, der den minderjährigen Sohn ebenfalls band. Insgesamt stimmte eine klare Mehrheit der deutschen Südtirolerinnen und Südtiroler für die Umsiedlung nach Deutschland, unter den ärmeren Schichten war das Votum für das Fortgehen aber besonders ausgeprägt. Da sich die tatsächliche Umsiedlung verzögerte, wurde Pircher, wie viele andere Optanten seiner Generation, bei seiner Volljährigkeit 1943 direkt aus Südtirol in den deutschen Wehrdienst rekrutiert. 46 Es ist natürlich spekulativ, darüber zu sinnieren, ob der familiäre Hintergrund und die soziale Lage in den Fällen Müller und Pircher die spätere Desertion entscheidend beeinflussten. Dazu bedürfte es, wie einleitend angemerkt, eines noch zu erhebenden Sozialprofils der Deserteure aus dem Raum Vorarlberg und Tirol. Vermutlich begünstigten aber die Tatsache geringer örtlicher Bindung (alle waren kinderlos und hatten kein Grund- oder Hauseigentum) sowie die wenig gefestigte Berufssituation (überwiegend Tätigkeiten als Hilfsarbeiter) die Entscheidung zur späteren Flucht in die Schweiz. Bemerkenswert ist der ausgeprägte familiäre Zusammenhalt, mit der alleinerziehenden Mutter Maria Berlinger-Müller im Zentrum, der offenbar die Familie schon in der Zwischenkriegszeit prägte und in der Nachkriegszeit anhielt. 47 II. Militärischer Erfahrungsraum: Leningrad und Eismeer Im Quellenmaterial, das für diese Fallstudie herangezogen wurde, finden sich nur rudimentäre Angaben zum Wehrdienst, zumeist aus offiziellen Unterlagen. Wir wissen also nichts über Einstellungen und Gefühle der Brüder Müller in Bezug auf das Militär, beispielsweise zu „soldatischen Tugenden“ oder „Kameradschaft“, und wie sich diese Vorstellungen im Kriegsverlauf veränderten. Wir wissen auch nicht, inwiefern sie NSspezifische Ideologeme und Konzeptionen vom Krieg, etwa als Kampf gegen „jüdischbolschewistische Gefahr“ oder als „Rassenkrieg“, teilten. Auch wenn wir dazu keine Aussagen kennen, so ist nicht anzunehmen, dass die Brüder gänzlich unbeeinflusst von derartigen Sinngebungen waren. „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 311 <?page no="312"?> 48 Taufbuch Reuthe, fol. 153. Adalbert Müllers Tod geht aus einem Tagebuchbericht der Kriminalabtei‐ lung Vorarlberg vom 4. Dezember 1949 hervor. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 49 Gemeindearchiv Nüziders, Meldekartei, Arnold Berlinger, 1938-[1946? ]. 50 Die Angaben zu den militärischen Stationen sind der polizeilichen Einvernahme am 14.10.1943 am Polizeiposten Buchs entnommen und wurden mit den Angaben im Soldbuch abgeglichen. Abb. 3: Maria Berlinger-Müller mit ihren Kindern. Zum Zeitpunkt der Aufnahme (vermutlich Anfang 1943) leisteten sechs Söhne Wehrdienst (Familienalbum Susanne Müller). Der Krieg traf die Familie Berlinger-Müller stark. Sechs der sieben Söhne mussten Wehr‐ dienst leisten; von diesen fielen zwei - Walter Berlinger und Adalbert Müller. 48 Einer der ersten, die einrücken mussten, war der junge Familienvater Arnold Berlinger, dessen Wehrdienst am 4. März 1940 begann. 49 Einen Monat später folgte ihm Erwin Müller. Beim Polizeiverhör in Buchs gab Müller an, dass er sich zuvor freiwillig zur Ordnungspolizei gemeldet hatte. 50 Mit einer derartigen Meldung könnten zwei Hoffnungen verbunden gewesen sein: Zum einen mochte der Polizeidienst einen gewissen sozialen Aufstieg versprechen, zum anderen waren Ordnungspolizisten grundsätzlich von der Wehrpflicht freigestellt. Am 15. April 1940 musste Erwin Müller zur Ausbildung zum Polizeidienst einrücken. Er kam zuerst nach Wiener Neustadt zur Grundausbildung, anschließend wurde die Ausbildung an der Polizeischule Heidenheim an der Brenz, nahe Ulm, fortgesetzt. Eine mögliche Hoffnung, vom Kriegsdienst freigestellt zu werden, zerschlug sich spätestens jetzt. Zwar blieb Müller nominell Ordnungspolizist, im Juni 1940 wurde er allerdings an die Artillerieschule Jüterbog bei Berlin versetzt und dort etwa zwei Monate lang zum Kanonier ausgebildet. Diese Ausbildung, die jener beim Heer entsprach, diente der Vorbereitung seiner Eingliederung in das neuaufzustellende Polizeiartillerieregiment, das Teil der SS- 312 Nikolaus Hagen <?page no="313"?> 51 Zur Entstehung der Polizeidivision und ihrem Zusammenhang mit der Waffen-SS siehe Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933-1945, Paderborn 1982, 127. Die weiteren Ausführungen zur SS-Polizei-Division entstammen im Wesentlichen dem Artikel SS-Polizei-Divi‐ sion/ Kampfgruppe SS-Polizei-Division/ Kampgruppe Bock, Internetportal Lexikon der Wehrmacht (o.-O. u. J.), URL: https: / / www.lexikon-der-wehrmacht.de/ Gliederungen/ SS-Divisionen/ SSDivPolize i.htm (abgerufen 12.7.2023). 52 Soldbuch, Erwin Müller. BAR, E4264#1985#196#2250. 53 Vgl. Jeff Rutherford, Combat and Genocide on the Eastern Front. The German Infrantry’s War, 1941-1944, Cambridge 2014, 115-150. 54 Richard Bidlack/ Nikita Lomagin, The Leningrad Blockade, 1941-1944. A New Documentary History from the Soviet Archives, New Haven-London 2011, 1. 55 Romeo/ Steurer, Vom Borbera-Tal, 16-17. Polizeidivision werden sollte. 51 Bis Sommer 1940 bestand die Polizeidivision, die in die reguläre Heeresorganisation eingegliedert war, zum einen aus Ordnungspolizisten und zum anderen aus einem Artillerieregiment und einer Nachrichtenabteilung des Heeres. Im Juni 1940 hatte sie am Westfeldzug teilgenommen. Die beiden Heereselemente wurden im Sommer 1940 herausgelöst und durch eigens aufgestellte Polizeieinheiten, darunter das genannte Polizeiartillerieregiment, dem Erwin Müller zugeteilt wurde, ersetzt. Den nominellen Zusatz „SS“ erhielt die Polizeidivision gerade in diesem August 1940, als Müller seine Ausbildung absolvierte, auf ausdrücklichen Wunsch des Chefs der deutschen Polizei, Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Himmler lag daran, die von ihm im November des Vorjahres erdachte „Waffen-SS“ symbolisch zu stärken. Zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich aber keineswegs um eine Gliederung der SS, sondern um eine reine Polizeieinheit. Nach seiner Ausbildung erhielt Müller im September erstmals Heimaturlaub und besuchte seine Familie in Hohenweiler. 52 In den folgenden Monaten war die SS- Polizeidivision als Besatzungstruppe im Raum um Paris eingeteilt. Im Juni 1941 wurde sie nach Ostpreußen verlegt und machte den deutschen Überfall auf die Sowjetunion mit. Über Litauen und Lettland erreichte die SS-Polizeidivision Anfang August die russische Stadt Luga, etwa 120 km südlich von Leningrad (St. Petersburg). Dort erlebte Erwin Müller seinen ersten Fronteinsatz. Die Kämpfe um Luga gingen mit schweren eigenen Verlusten einher. 53 Bis Anfang September soll die Division etwa 1.000 Gefallene und 2.000 Verwundete bei einer damaligen Sollmannschaftsstärke von ungefähr 15.000 verzeichnet haben. Nach einem Rückzug der Roten Armee aus Luga konnte die Division schon kurz darauf bis Leningrad vorrücken. In den nächsten Monaten waren Müller und seine Einheit Teil des Belagerungsrings um Leningrad. Die mehrjährige deutsche Belagerung dieser Stadt war von erschreckender Brutalität und hatte als Teil des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die sowjetische Zivilbevölkerung genozidalen Charakter. In den Jahren der Belagerung von 1941 bis 1944 verloren zwischen 1,6 und 2 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürger ihr Leben in und um die Stadt Leningrad. 54 Es sind keine Aussagen von Müller zu diesen Ereignissen dokumentiert. Der Südtiroler Pircher, der 1943 eingezogen wurde, war mit seiner Einheit ebenfalls Teil der Belagerung Leningrads. 55 „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 313 <?page no="314"?> Abb. 4: Erwin Müller in Uniform mit SA-Sportabzeichen (Familienalbum Susanne Müller). Abb. 5: Kurt Müller in Wehrmachtsuniform (Familienalbum Susanne Müller). Anfang Februar 1942 wurden die Angehörigen der SS-Polizeidivision formal in die SS aufgenommen und erhielten die entsprechenden Rangbezeichnungen zugeteilt. Für Erwin Müller ging die Eingliederung mit der Beförderung zum SS-Sturmmann (Gefreiter) einher. Im gleichen Monat zog die SS-Polizeidivision von Leningrad Richtung Südosten an den Wolchow ab, wo sie in der dortigen Kesselschlacht erneut massive Verluste erlitt. Im April wieder nach Leningrad zurückverlegt, wurde Erwin Müller verwundet. Von 30. April bis 29. Mai 1942 lag er mit Verbrennungen ersten und zweiten Grades an Torso und Hals in einem Ortslazarett. Am 8. August 1942 erhielt er die Ostmedaille, am 7. September das Verwundetenabzeichen in Schwarz und am 9. September das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen. Im Jänner 1943 wurde die Division von Leningrad abgezogen, um deutsche Truppen aus der umschlossenen Stadt Schlüsselburg am Ladogasee, östlich von Leningrad, freizukämpfen, was nicht gelang. Im April befand sich die Division erneut im Raum Leningrad. Zu diesem Zeitpunkt war sie de facto schon mehrmals beinahe aufgerieben worden. Trotz wiederholter Zuführung von Ersatztruppen wies sie nur mehr gut ein Drittel der Mannstärke vom Sommer 1940 auf. Als Kanonier stand Müller vermutlich nicht immer an vorderster Front, dennoch war angesichts der enormen Verluste sein Überleben bis dorthin mehr oder weniger Zufall. Im Mai 1943 erhielt er das Sturmabzeichen und mit Monatsbeginn September die Beförderung zum SS-Rottenführer (Obergefreiter). Zwei Wochen darauf, am 15. September, erhielt er einen Urlaubsschein auf zwanzig Tage ausgefertigt. Der Schein berechtigte zum Heimaturlaub in Hohenweiler und in Bludenz. 314 Nikolaus Hagen <?page no="315"?> 56 Kriegsurlaubsschein, 15.9.1943, Beilage zum Soldbuch, Erwin Müller. BAR, E4264#1985#196#2250. 57 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Kurt Müller, 14.10.1943. BAR, E4264#1985#196#2250; Soldbuch, Kurt Müller. Ebd. 58 Johannes Kramer/ Peter Pirker, Die „Alpensöhne“ im Zweiten Weltkrieg. Schlaglichter auf die Wehrmacht im Reichsgau Tirol und Vorarlberg und die Tiroler in der Wehrmacht, in: Matthias Egger (Hg.), „… aber mir steckt der Schreck noch in den Knochen.“ Innsbruck zwischen Diktatur, Krieg und Befreiung 1933-1945, Innsbruck 2020, 139-172. 59 Soldbuch, Fritz Müller. BAR, E4264#1985#196#2250. Die Abfahrt am Hauptumsteigebahnhof Tauroggen in Litauen war für den 18. September festgelegt, die Ankunft am selben Bahnhof für den 12. Oktober. 56 Kurt Müller rückte im Februar 1941 zum Gebirgsartillerieersatzregiment 111 in Hall in Tirol ein. 57 Nach der Ausbildung, die bis August dauerte, wurde er dem Gebirgsartilleriere‐ giment 118 zugeteilt, das zur 6. Gebirgsdivision gehörte. Anders als Erwin hatte Kurt Müller damit eine für einen Vorarlberger typische „Wehrmachtskarriere“. Besonders im Wehrkreis XVIII, der die Reichsgaue Tirol und Vorarlberg, Salzburg, Kärnten und Steiermark umfasste, wurde die Mehrzahl der Wehrpflichtigen in die Formationen der Gebirgstruppe rekrutiert. 58 Die 6. Gebirgsdivision hatte zu diesem Zeitpunkt schon Einsätze in Frankreich und Griechenland hinter sich. Im Sommer 1941, als Kurt Müller zu ihr stieß, wurde sie in Österreich wieder aufgefüllt und ging anschließend Richtung Finnland ab. Die Division war in den folgenden Jahren bis Kriegsende durchgehend im Raum Lappland-Murmansk-Eis‐ meerküste eingesetzt. Nach seiner Aussage im Oktober 1943 in Buchs kam Kurt Müller mit seinem Regiment nach Petsamo, damals in Nordfinnland gelegen, heute ein Teil Russlands, einem wichtigen Wehrmachtsstützpunkt im Norden. Aus den Wehrunterlagen geht weiters hervor, dass er am 1. Februar 1942 zum Gefreiten befördert wurde und im August desselben Jahres zu einem Erholungsurlaub nach Hohenweiler zurückkehren konnte. Ein Jahr darauf, am 1. August 1943, wurde er zum Obergefreiten befördert. Im September 1943 erhielt er 24 Tage Erholungsurlaub im Heimatgebiet zuerkannt. Die Fahrscheine wurden am 10. September ausgefertigt. Am nächsten Tag reiste er nach Vorarlberg ab. Fritz, der dritte Bruder, musste am 7. Dezember 1942 einrücken. 59 Wie Kurt kam auch er zur Gebirgstruppe, und zwar zum Ausbildungsbataillon des Gebirgsjägerersatzregiments 136 in Landeck, das der Division 188 unterstellt war. Nach der Ausbildung wurde er im April 1943 dem Marschbataillon 106 zugeteilt, einem Ersatzbataillon, das zur Auffrischung der 3. Gebirgsdivision in den Donbass entsandt wurde. Laut seiner Aussage in der Schweiz war er bis Mitte Juli 1943 an der Mius-Front eingesetzt und dort wohl direkt der Division zugeteilt. Zu diesem Zeitpunkt wurde er wegen einer ernsten Entzündung am Knie in ein Lazarett in Woroschilowsk (heute Altschewsk im ukrainischen Oblast Luhansk) verlegt, wo er operiert wurde. Von dort kam er über weitere Lazarette in Stalino (heute Donezk), Kiew und Lemberg schließlich in das Lazarett Bernkastel an der Mosel. Am 10. September erhielt er insgesamt 28 Tage Urlaub zuerkannt und reiste sofort nach Hause. Bei ihrer späteren Einvernahme in Buchs gaben alle drei Brüder unisono die Aussichtslo‐ sigkeit der militärischen Lage Deutschlands als primären Beweggrund für die Entscheidung zur Desertion an. Aufgrund der rudimentären Angaben in den Polizeiprotokollen und in den Soldbüchern lässt sich nicht feststellen, was sie an ihren jeweiligen Fronten tatsächlich erlebten, inwiefern sie Kriegsverbrechen beobachtet oder gar an diesen teilgenommen „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 315 <?page no="316"?> 60 Thomas Albrich, Luftkrieg über der Alpenfestung 1943-1945. Der Gau Tirol-Vorarlberg und die Operationszone Alpenvorland, Innsbruck 2014, 33, 38. 61 Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS, SD-Abschnitt Innsbruck, Allgemeine Stimmung und Lage, Innsbruck 5.10.1943. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Reichsstatthalter in Wien, Hauptbüro Schirach. 62 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Erwin Müller, 4.10.1943. BAR, E4264#1985#196#2250. hatten. Wir wissen auch nicht, wie sie sich zu diesen Ereignissen verhielten. Klar ist aber, dass die Art der Kriegsführung sich gerade an der Ostfront massiv gegen die dortige sowjetische Zivilbevölkerung richtete. Es ist kaum anzunehmen, dass diese Tatsache den Brüdern - vor allem Erwin und Fritz Müller - nicht bewusst war. Hinzu kamen Verletzungen, Verstümmelungen und Sterben der eigenen Kameraden. Erwin und Fritz waren selbst verwundet worden. Die eingangs zitierte Aussage Fritz Müllers, er wolle sein Leben nicht lassen oder als Invalider fristen, bezieht sich auf die Schrecken der Fronterfahrung. III. Erfahrungsraum Grenzgebiet I: Der Fluchtakt Dass die drei Brüder zur gleichen Zeit Heimaturlaub gewährt bekommen hatten, war ein Zufall. Zu diesem Zeitpunkt leisteten noch drei weitere Brüder Wehrdienst, nämlich Walter und Arnold Berlinger sowie Adalbert Müller. Letztere beide waren in Hall in Tirol und Innsbruck stationiert. Fritz Müller traf im September als erster zuhause in Hohenweiler ein. Kurz darauf folgten Erwin und Kurt. Der Entschluss zur Desertion und Flucht in die Schweiz dürfte nicht sofort, sondern erst relativ spät, gegen Ende des Urlaubs, erfolgt sein. Während Fritz und Kurt Müller ihren Heimaturlaub überwiegend in Hohenweiler verbrachten, reiste Erwin regelmäßig nach Nüziders, um dort seine Schwägerin Maria Berlinger und seine Freundin Lina Dressel zu besuchen. Etwa zur Mitte ihres gemeinsamen Heimaturlaubs wurde Vorarlberg zum ersten Mal Ziel eines schweren Luftangriffs. Am 1. Oktober warfen amerikanische Flugzeuge Bomben über Feldkirch ab. Mindestens 171 Personen verloren dabei ihr Leben. 60 Zwar vertuschte die lokale Propaganda zuerst das Ausmaß des Luftangriffes, der Sicherheitsdienst der SS vermerkte in seinem Bericht vom 5. Oktober dennoch die extrem negativen Auswirkungen auf die Stimmung der Bevölkerung: „Der Terrorangriff auf Feldkirch, als erster Stadt des Gaues, hat bei den Volksgenossen eine schockartige Wirkung ausgelöst […] Auf einen Schlag ist die Sorglosigkeit, die weite Kreise der Bevölkerung auch trotz der Alarme der letzten Tage immer wieder an den Tag legten, einer Angst gewichen, dass nun weitere Städte des Gaues das Angriffsziel der feindlichen Bomben sein werden.“ 61 Es ist denkbar, dass dieses Ereignis die Fluchtpläne der Brüder befeuerte und sie in ihrer Ansicht bestärkte, dass der Krieg, der sie bis in die Heimat verfolgt hatte, verloren war. „Wenige Tage bevor Fritz wieder hätte einrücken sollen, besprachen wir drei den Entschluss, nach der Schweiz zu desertieren“, gab Erwin in Buchs zu Protokoll. 62 316 Nikolaus Hagen <?page no="317"?> 63 Wehrmachtsstandortältester von Bregenz an das Gericht der Division Nr. 188 Innsbruck, betr. Müller Erwin Obgfr., Müller Kurt Obgfr., Müller Fritz Jg. Fahnenflucht, 20.10.1943. BArch-MA, Pers 15/ 146444, fol. 1. 64 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Fritz Müller, 14.10.1943. BAR, E4264#1985#196#2250. Nicht zu unterschätzen ist auch die Tatsache der Geografie: Die nahe, friedliche Schweiz lag als Antithese zu den eigenen Kriegserlebnissen direkt vor der Haustüre. Von Hohen‐ weiler ist die Grenze nur 15 km Luftlinie entfernt und die nahen Schweizer Berge sind sichtbar. Anders als an der Ostfront bot sich hier die Möglichkeit zur Flucht in ein neutrales Land. Die Deadline für eine gemeinsame Flucht setzte die Tatsache, dass Fritz Müller am Samstag, den 9. Oktober, in Landeck bei seinem Ersatztruppenteil einrücken musste. Zugleich bot diese Einrückung aber auch ein Alibi für eine Zugfahrt von Hohenweiler Richtung Arlberg. Ob andere Familienmitglieder in den Plan eingeweiht waren, lässt sich nicht mehr gesichert feststellen. In ihren Einvernahmen in der Schweiz behaupteten sie unisono, dass die Familie nichts davon gewusst habe. Vermutlich diente diese Aussage aber primär dem Schutz der Angehörigen. Den eigentlichen Ablauf der Flucht schilderten die drei Brüder bei ihrer polizeilichen Einvernahme übereinstimmend. Dieser deckt sich auch weitestgehend mit den Ermittlungen des Standortältesten der Wehrmacht in Bregenz. Am 6. Oktober, einem Mittwoch, fuhr Erwin Müller von Nüziders nach Hohenweiler. Er erklärte dort, dass er vor seiner Rückreise an die Front, die Anfang der kommenden Woche anstand, noch einmal in Nüziders vorbei wolle, um sich zu verabschieden. Am Freitag, den 8. Oktober, reiste er in Uniform und mit einem Koffer ab. Im Koffer hatte er offenbar Zivilkleidung für sich und seine beiden Brüder. Am Vormittag des nächsten Tages, Samstag, den 9. Oktober, nahmen auch Fritz und Kurt den Zug Richtung Bludenz. Fritz gab vor, nach Landeck zu seiner Ersatztruppe einzurücken - Kurt behauptete, seinen Bruder dorthin zu begleiten. Beide fuhren aber nur bis Nüziders, wo sie vermutlich zur Mittagszeit mit Erwin zusammentrafen. Was sich in den nächsten 36 Stunden genau zutrug, lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Der Bericht des Standortältesten der Wehrmacht vom 20. Oktober 1943 enthält folgende Darstellung: „Wie durch den Gendarmeriekreis-Posten Bludenz festgestellt werden konnte, hielten sich die drei Brüder bis zum Sonntag, den 10.10.43, 23 Uhr bei Familie Berlinger in Nüziders 143 und bei Lina Dressel in Nüziders 144 auf. Vor dem Weggang äußerte Kurt Müller, er fahre nach Hall i.T., wo er den Arnold Berlinger in der Kaserne besuchen werde. Fritz Müller sagte, er müsse nach Landeck Montag früh einrücken und Erwin Müller solle Montag früh in Lindau sein.“ 63 Davon abweichend gab Fritz Müller in Buchs an, dass sie in einem Gasthaus nahe Bludenz übernachtet hätten. 64 Wahrscheinlich diente diese Behauptung der Verschleierung der ei‐ gentlichen Fluchtumstände und damit dem Schutz der Angehörigen. Ein bemerkenswertes Detail fehlt allerdings in beiden Darstellungen - Erwin machte sich noch am Samstag nach Innsbruck auf. Zu entnehmen ist dies einem Brief, den Adalbert Müller am 10. Oktober an seine Mutter in Hohenweiler schrieb: „Wir haben am Samstag Ausgang gehabt, da war ich in Hall aber Arnold [den Bruder, Anm.] habe ich keinen gefunden […] Als wir heim kamen [nach Innsbruck, Anm.], ging ich in die Kantine was „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 317 <?page no="318"?> 65 Adalbert Müller an Maria Berlinger, Brief vom 10.10.1942 (Abschrift vom 18.2.1944). BArch-MA, Pers 15/ 146444, fol. 12. 66 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Erwin Müller, Feldkirch 1.12.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 67 Ebd. Essen, auf einmal stoßte mich jemand da schaute ich um, wer war es, Erwin, ganz erstaunt war ich, dann gingen wir den Hof hinaus und dann sagte er es mir. Er ist dann ganz verrückt geworden, aber ich war ganz übergeschnappt. Ich ging nicht mit. Bin sehr gespannt, wie die das machen.“ 65 Aus dem Brief könnte man möglicherweise schließen, dass Adalbert Müller davon ausging, dass die Mutter im Vorfeld Kenntnis vom Plan ihrer Söhne hatte. Nachgewiesen wurde ihr das allerdings nie. Erwin Müller selbst erwähnte erst in einer Einvernahme 1949 seine letztlich erfolglose Fahrt nach Innsbruck zu seinem Bruder Adalbert. 66 Anders als seine drei Brüder verfügte der sich in der Grundausbildung befindende Adalbert Müller noch nicht über Fronterfahrung. Er hatte auch keine Zeit gehabt, sich mit dem Gedanken an eine Fahnenflucht auseinanderzusetzen, sondern wurde von Erwin damit überrumpelt. „Der Bruder Adalbert wollte von einer Desertation nichts wissen oder besser gesagt, er getraute sich nicht und fuhr daher nicht mit mir nach Nüziders.“ 67 Abb. 6: Diese zeitgenössische Ansicht des Schweizertors vermittelt einen Eindruck vom Hochgebirg‐ scharakter der Fluchtroute (Vorarlberger Landesbibliothek). Noch am selben Tag oder spätestens am Sonntag, den 10. Oktober, traf Erwin Müller wieder in Nüziders ein. Am Sonntag, kurz vor Mitternacht, brachen die drei Brüder in das nahe Rellstal auf, ein unbewohntes alpines Tal, das durch das Rätikon-Gebirge bis an 318 Nikolaus Hagen <?page no="319"?> 68 Recte: Öfapass. 69 Allgemeine Schutzhütten-Zeitung 12 (Februar 1940) 2, 2. 70 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Kurt Müller, 14.10.1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 71 Walter Jäger, Internierung und Asylrecht, in: Die Neue Schulpraxis 15 (1945) 3, 97-108, 97. die Schweizer Grenze führt. Das Schweizertor, den Gebirgspass am Ende des Rellstals, überschritten sie allerdings erst am Mittwoch, den 13. Oktober. Vom Bahnhof in Bludenz bis zum Eingang in das Rellstal in der Montafoner Gemeinde Vandans ist es bereits auf den Hauptverkehrswegen ein gut zweistündiger Fußmarsch von etwa zehn Kilometer. In dieser ersten Nacht kamen sie wohl kaum weiter als bis zum Eingang des Rellstals. Dass dieses sich als Fluchtweg eignen würde, hatten sie nach eigenen Angaben einer Karte entnommen. Es war allerdings keineswegs ein ungefährlicher Weg. Zum einen handelt es sich um hochalpines Gelände - das Schweizertor befindet sich auf 2.137 m. ü. A. - zum anderen querten sie bewachtes Sperrgebiet. Ein Alpinistenblatt hatte schon 1940 Folgendes berichtet: „Im Interesse des Grenzschutzes ist es unvermeidlich, daß Teile der Vorarlberger Wintersportge‐ biete im Rätikon und in der Silvretta in Sperrbereiche fallen und sowohl für Wintersportgäste wie für Einheimische verboten sind. […] Gesperrt […] sind Douglashütte-Lünersee-Schesaplana und die Übergänge von dort ins Rells- und Gauertal, also auch die beliebte Rundfahrt über Verajoch-Schweizertor-Ofenpaß 68 -Lindauerhütte. Im Rellstal darf zwar das Rellshüsli und engste Umgebung besucht werden, da aber seine Hauptskigebiete, die Täler Lün und Salonien, gesperrt sind, desgleichen die Übergänge zum Lünersee und Gauertal, so ist diese Freigabe praktisch bedeutungslos, zumal das Rellshüsli selber von einer starken Grenzschutzwache belegt ist.“ 69 Da sich die drei nur in der Dunkelheit fortbewegen konnten, ist es verständlich, weshalb sie für die etwa elf Kilometer Wegstrecke vom Taleingang bis zum Schweizertor zwei weitere Nächte benötigten. Es ist anzunehmen, dass sie die bekannten Wege und die Alphütten mieden, auch wenn letztere zu dieser Jahreszeit wohl bereits verlassen waren. In der dritten Nacht, am 13. Oktober, um etwa fünf Uhr früh, erreichten sie das Schweizertor. Kurz nach dem Grenzübertritt versteckten sie ihre Uniformen und ihre drei Militärpistolen samt drei Dutzend Schuss Munition unter einem großen Stein. Wie aus der Aussage von Kurt Müller hervorgeht, wanderten sie noch einige Kilometer nach Graubünden hinein, ehe sie nahe der Ortschaft Schuders auf eine schweizerische Streife trafen und sich dieser stellten: „Wir wanderten nur während der Nacht und am Tag hielten wir uns versteckt. Aus diesem Grund kamen wir nur langsam vorwärts. Zwischen 0500 und 0600 passierten wir ungehindert Mittwoch, den 13. ac. die deutsch-schweiz. Grenze. Vor Schuders sprachen wir mit 2 Schweizersoldaten.“ 70 IV. Erfahrungsraum Internierungslager „Überall, in jedem Bergdorf, trifft man heute Soldaten in fremden Uniformen an, einzeln, in Gruppen oder in ganzen Lagern, an der Arbeit, auf dem Spaziergang, beim Sport“, so begann ein Artikel zu „Internierung und Asylrecht“ in einer schweizerischen Zeitschrift im März 1945. 71 Der Artikel pries die Leistungen des Landes in der Beherbergung von Zivil‐ „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 319 <?page no="320"?> 72 Ebd. 73 Zur Schweiz als Fluchtziel für deutsche Deserteure siehe Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg - Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008, 44-54. 74 Artikel 11. Übereinkommen vom 18. Oktober 1907, betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges (V. Übereinkommen der II. Haager Friedenskonfe‐ renz). Reichsgesetzblatt Nr.-181/ 1913. 75 O[scar] Schürch, Die Schweiz und die Flüchtlinge, Das Rote Kreuz 53 (1945) 23, 189-192, 191. 76 Zit. n. Eidg. Justiz- und Polizeidepartement, Das Flüchtlingswesen in der Schweiz während des zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1933-1950 (Bericht Schürch), o. O. 1950, 18. BAR, E4260C#1995/ 54#6*. Forthin als Bericht Schürch 1950 zitiert. 77 Bericht Schürch 1950, 9. 78 Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955. Bericht an den Bundesrat zuhanden der eidgenössischen Räte (Bericht Ludwig publiziert), o. O. 1957, 190. BAR, E4001C#1000/ 783#2731*. flüchtlingen und fremden Militärangehörigen - die meisten davon in Lagern interniert. Es müsse festgehalten werden, „dass unseren Bewachungstruppen lange nicht alle Flüchtlinge gleich viel zu schaffen geben. Es kommt auf die Nationalität der fremden Soldaten an“, hieß es weiter. Während die unter eigenem Kommando stehenden polnischen Soldaten als vorbildlich beschrieben werden, würden „gewisse Internierte sich ziemlich rebellisch und widerspenstig verhalten“. 72 Welche Nationen dem Autor als besonders aufsässig galten, bleibt unklar. Deserteure der Wehrmacht waren aus Sicht der schweizerischen Behörden jedenfalls problematisch. 73 In rechtlicher und organisatorischer Hinsicht unterschied die Schweiz unter den fremden Militärangehörigen vier Hauptgruppen: 1.) die eigentlichen Internierten im Sinne des Haager Abkommens 74 , d. h. vor allem fremde Soldaten, die der Gefangennahme durch Flucht entgehen wollten; 2.) Militärhospitalisierte, die sich auf Zeit zur medizinischen Behandlung in der Schweiz aufhielten; 3.) entwichene Kriegsgefangene; 4.) Deserteure. Bei Letzteren handelte es sich nach schweizerischer Definition um „Wehrmänner, die, während sie unter den Fahnen standen, unerlaubt ihre Einheit verlassen haben […]“. 75 Das Haager Abkommen über die Pflichten neutraler Mächte sah für diese letzte Gruppe keine Regelung vor. Die Schweiz gewährte Deserteuren dennoch eine Form des Asyls, auch nachdem sie ab 1942 ihre Politik gegenüber ausländischen Flüchtlingen massiv verschärft hatte. Eine Weisung der Polizeiabteilung vom 26. September 1942 verfügte die Ausweisung illegal einreisender Ausländer, wovon allerdings Ausnahmen zu machen waren, so bei „Deserteure[n], sofern sie sich durch Uniformstücke, durch ein Soldbuch oder irgend einen andern Ausweis als solche legitimieren“. 76 In einem Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements von 1950 (sogenannter „Bericht Schürch“) hieß es: „Die Deserteure, deren Zahl […] gering war und während des ganzen Krieges nie ein ausserordentliches Ausmass annahm, wurden interniert.“ 77 Tatsächlich wurden Deserteure erst ab 1942 in Lagern interniert und militärisch bewacht - bis dahin waren die wenigen einzeln Bauern zur Arbeit zugewiesen worden. 78 Die Inter‐ nierung sei „in erster Linie eine polizeiliche, innenpolitische Schutzmassnahme“ gewesen, so ein zeitgenössischer Bericht des Eidgenössischen Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung. Und zwar weil es sich bei den Deserteuren um eine „Kategorie“ von Personen gehandelt habe, „bei der die anständigen ‚Gesinnungs-Flüchtlinge‘ leider in der Minderzahl war“. Laut diesem Bericht habe es sich zu einem Drittel um „kriminelle 320 Nikolaus Hagen <?page no="321"?> 79 Schlussbericht des Eidg. Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung (EKIH) über die Internierung fremder Militärpersonen 1940-1945, o. O. 1947, 97. BAR, E5791#1000/ 949#2560*. Forthin als Schlussbericht 1947 zitiert. 80 Georg Kreis, Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Innsbruck-Wien 2011, 138-139. 81 May Broda, Verbotene Beziehungen. Polnische Militärinternierte und die Schweizer Zivilbevölke‐ rung während des Zweiten Weltkrieges am Beispiel des Internierten-Hochschullagers Herisau/ St. Gallen. Ein Bericht, in: Appenzellische Jahrbücher (1991) 119, 7-61, 22. 82 Zivilflüchtlinge sollen, mit Stand Oktober 1942, nur zwischen einem und 1,80 Franken erhalten haben. Hoerschelmann, Exilland, 130. 83 Schlussbericht 1947, 97. 84 Bericht Schürch 1950, 81. 85 Broda, Verbotene Beziehungen, 20-21. 86 Bericht Schürch 1950, 34. Elemente“ und zu einem weiteren Drittel um „moralisch schwache oder verlotterte Exis‐ tenzen“ gehandelt. Nur das letzte Drittel habe sich „durch anständiges Betragen und ihre Arbeitsleistungen unsere Achtung“ erworben. 79 Sehr deutlich zeigt sich, dass fremde Deserteure in der Schweiz grundsätzlich als verdächtig galten und ihnen unter allen Militärinternierten vermutlich das größte Misstrauen entgegenschlug. Nichtsdestotrotz unterschied sich in der Praxis die Unterbringung und Behandlung wenig von jener der anderen Flüchtlingsgruppen. „Die Schweiz sollte vor politischer und, was in den Augen der fremdenfeindlichen Nationalisten noch schlimmer gewesen wäre, vor sozialer Ansteckung - vor ‚kultureller Destabilisierung‘ - bewahrt werden“, so der Historiker Georg Kreis. 80 Ab 1940 wurden Militärinternierte generell zu landwirtschaftlichen Arbeiten abkom‐ mandiert. Massenhaft geschah das im Zuge der sogenannten „Anbauschlacht“ ab 1942. Bei äußerst bescheidener Entlohnung - im Oktober 1943 betrug der Tageslohn zwei Franken, im Akkord maximal fünf - hatten sie unter der Woche neun und am Samstag fünf Stunden zu arbeiten. 81 Die Zahlen stammen aus Forschungen zu polnischen Militärinternierten, aber es ist wohl davon auszugehen, dass für Deserteure gleiches galt. 82 Das Kommissariat für Internierung und Hospitalisierung war bestrebt, Deserteure „möglichst dauernd in Arbeit“ zu setzen. 83 Einerseits diente das der Kontrolle, andererseits erhielten diese im Gegensatz zu anderen Internierten keine finanzielle oder materielle Unterstützung durch ihr Heimatland, was ihre Situation besonders prekär machte und weshalb sie auf die geringen Tageslöhne angewiesen waren. 84 Die Internierung und die damit verbundene Arbeitsdienstpflicht mag von vielen Betroffenen wohl mit einigem Recht als Zwangsarbeit empfunden worden sein. Die Verpflegung in den Lagern entsprach den Rationen der schweizerischen Armee und konnte von den Internierten selbst zubereitet werden. Zwar waren die Rationen größer als jene der Zivilbevölkerung, und damit auch der Zivilflüchtlinge, die Ernährung war wohl dennoch vielfach karg. 85 Die Schweiz gewährte grundsätzlich nur desertierten Wehrmachtssoldaten Aufnahme, nicht jedoch SS-Angehörigen. Wie der Bericht Schürch festhielt, sorgte aber gerade die Beurteilung der Waffen-SS für Probleme: „Schwieriger war der Entscheid bei der soge‐ nannten Waffen-SS, indem dort eine Reihe von Ausländern durch Zwang in Deutschland eingegliedert worden waren. Zudem wurden in diesem Zeitpunkt auch alle neu rekrutierten Deutschen ohne Weiteres in die Waffen-SS eingereiht.“ 86 Bei Angehörigen der Waffen-SS behielt sich der Bundesrat einen Einzelfallentscheid vor. Im Falle Erwin Müllers scheint „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 321 <?page no="322"?> 87 Schürch, Die Schweiz und die Flüchtlinge, 192. 88 Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938-1945, Innsbruck 1997, 41. 89 May Broda, Die Agentenlinie „Mo“. Hans Eckert und der Nachrichtendienst der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg, in: May Broda/ Ueli Mäder/ Simon Mugier (Hg.), Geheimdienste - Netzwerke und Macht. Im Gedenken an Hans Eckert, Basel 2015, 68-137, 77, 107. 90 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Fritz Müller, Feldkirch 30.11.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 91 Polizeiabteilung an die Direktion des Interniertenlagers Unter-Realta, Bern 28.10.1943. BAR, E4264#1985#196#2250. zumindest in den überlieferten Akten kein derartiges Verfahren auf. Er dürfte ohne weitere Umstände als Deserteur anerkannt worden sein. Prinzipiell durchliefen alle fremden Militärpersonen bei ihrer Ankunft eine ähnliche Abfolge von Stationen: 1.) Aufnahme in einem Auffanglager (Sammellager); 2.) Transfer in ein Quarantänelager und 3.) die Verbringung in ein Interniertenarbeitslager. 87 Die erste Station konnte auch nur wenige Stunden dauern oder gänzlich durch ein Verhör auf einem Polizeiposten ersetzt werden. In diesem ersten Schritt wurde abgeklärt, um welche Kategorie von Flüchtling - Zivilperson oder Militärangehöriger - es sich handelte. 88 Die Brüder Müller wurden nach eigenen Angaben nach ihrem polizeilichen Verhör in Buchs und einer gewissen Zeit in Sargans zuerst am Dietschiberg bei Luzern interniert. Dort hatte der Nachrichtendienst der Schweizer Armee in einem ehemaligen Hotel ein Spezialintern‐ iertenlager eingerichtet. Dieses wurde zur Befragung von Deserteuren genützt, von denen sich die Armee wertvolle militärische Informationen erhoffte. 89 Fritz Müller gab 1949 an, dass sie sich dort für etwa vier bis fünf Wochen aufgehalten hätten. 90 Am 29. Oktober wurden die drei Brüder, gemeinsam mit acht weiteren deutschen Deserteuren, in das Lager Unterrealta nach Graubünden verlegt. 91 Abb. 7: In der Poststelle in Unterrealta befand sich das Deserteurslager (Kulturarchiv Cazis). Das Internierungslager Unterrealta war eines von mehreren in der Gemeinde Cazis, die nur wenige Kilometer südwestlich von Chur liegt. Das kleine Deserteurslager befand sich in der damaligen Poststelle, einem dreigeschossigen Gebäude, das wohl auch landwirtschaftlich 322 Nikolaus Hagen <?page no="323"?> 92 Schriftliche Mitteilung von Herbert Patt, Kulturarchiv Cazis, 23.6.2022. 93 Deutsche Deserteure welche am 1. Februar 1944 vom eidg. Kommissariat für Internierte und Hospitalisierung übernommen werden (Liste). BAR, E4264#1985#196#2250. 94 Josef Berlinger. 95 Theresia Berlinger. 96 Lina Dressel, Nüziders. 97 Maria Berlinger, Nüziders. 98 Möglicherweise Adalbert Müller. 99 BArch-MA, Pers 15/ 146444. 100 Lagerdirektion an die Polizeiabteilung Bern, 8.12.1943. BAR, E4264#1985#196#2250. genutzt wurde. Die weitaus größeren Lager in Cazis dienten der Internierung von Polen. 92 In einer Liste deutscher Deserteure, datiert mit 1. Februar 1944, scheinen neben den Brüdern Müller nur noch vier weitere Deserteure, nämlich Albert Frielingsdorf ( Jg. 1925), Traugott Maier ( Jg. 1921), Franz Stürtz ( Jg. 1905) und Karl Schmidt ( Jg. 1911) in Unterrealta auf. 93 Am 21. November 1943 schrieb Erwin Müller einen Brief aus Unterrealta an die Verwandten in Hohenweiler: „Vorerst recht herzl. Grüße aus dem Graubündnerland. Ich hoffe das es Euch allen gut geht was ich von uns auch berichten kann. Was macht Seppl 94 und die Resl 95 ? Ich habe schon lange nichts mehr gehört von Euch. Habt Ihr von Lini 96 oder von der Marie 97 auch schon Neuigkeiten? Und was schreibt Jeannine? Wir sind jetzt umgesiedelt ins Graubündnerland nach Unterrealta. In Luzern war es ja auch ganz schön. Ich bin fest am schnitzen sonst ist alles so ziemlich im alten. Nun will wieder langsam schließen mit tausend Grüßen von uns.“ Eine Woche darauf folgte ein weiterer Brief: „Aus dem Graubündnerland die besten Grüße. Wir hoffen das es Euch gut geht was wir von uns auch mitteilen können. Weihnachten steht nun auch wieder vor der Tür. Hoffentlich bringt uns das Christkind bessere Zeiten. Wie geht es dem Bübi 98 ? War er schon einmal auf Besuch bei Euch? Die Resl wird auch immer wohlauf sein. Habt Ihr unseren letzten Brief erhalten? Wir haben noch keine Antwort erhalten. Nun will ich für heute schließen in der Hoffnung bald wieder etwas von Euch zu hören. Nochmals recht liebe Grüße von uns allen.“ Beide Briefe wurden von der Gestapo konfisziert und dem Akt des Militärgerichts in Innsbruck beigelegt. 99 Am 1. Dezember entwich Erwin Müller aus dem Lager und versuchte auf eigene Faust über die Grenze nach Vorarlberg zurückzukehren. Schon am nächsten Tag wurde er in Landquart gefasst. Bei seiner Einvernahme erklärte Müller, „er habe in Innsbruck seinen 17-jährigen Bruder holen wollen, der nach der Beendigung der militärischen Ausbildung an die Ostfront geschickt werde. Es selbst habe 2 Jahre dort gestanden, ohne zu wissen warum, daher habe er sich verpflichtet gefühlt, seinen jüngsten Bruder davor zu bewahren, sollte er nicht verloren sein.“ Müller wurde mit fünf Tagen Zellenarrest bestraft. Die Lagerleitung ging dennoch davon aus, „dass er weiterhin seinen Plan verfolgen und allenfalls nochmals eine Flucht zu diesem Zwecke versuchen wird“. 100 „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 323 <?page no="324"?> 101 Gendarmeriepostenkommando Hörbranz, Vernehmungsniederschrift mit Kurt Müller, 22.12.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 102 Grenzwachtkorps des III. Schweiz. Zollkreises Diepoldsau an Grenzwachtkommando III Chur, Nacherhebungen Mordfall Müller Erwin - Tschabrun, 25.12.1949. BAR, E4320B#1973/ 171119. 103 Pirker, Codename Brooklyn, 9. 104 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Fritz Müller, Feldkirch 30.11.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 105 Gendarmeriepostenkommando Hörbranz, Vernehmungsniederschrift mit Josef Fessler, 29.11.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 106 Grenzwachtkorps des III. Schweiz. Zollkreises Diepoldsau an Grenzwachtkommando III Chur, Nacherhebungen Mordfall Müller Erwin - Tschabrun, 25.12.1949. BAR, E4320B#1973/ 171119. Anfang Februar 1944, nach etwa drei Monaten in Unterrealta, wurden die drei Brüder in den Kanton Aargau in das Lager Stalden bei Bözberg verlegt. Dort wurden sie verschiedenen Bauern in der weiteren Umgebung zur Arbeitsleistung zugeteilt. Nach Aussage von Kurt Müller kam er selbst nach Eggenwiel, sein Bruder Fritz nach Effingen und Erwin nach Oberbözberg. 101 Laut einem späteren Polizeibericht verließ Erwin Müller am 6. Juni 1944 seinen Arbeits‐ platz im Aargau, „angeblich mit der Absicht, sich zu den Partisanen nach Österreich durchzuschlagen“. 102 Wie wir heute wissen, unterblieben im Deutschen Reich, mit Aus‐ nahme Kärntens, größere Partisanenaktivitäten. 103 Auch äußerten weder Erwin noch seine Brüder in ihren späteren Aussagen eine solche Absicht. Erwin selbst gab 1949 nur Folgendes an: „Ende Mai oder Anfang Juni 1944 flüchtete ich neuerlich, wobei mir die Rückkehr nach Vorarlberg über das Schweizertor, die an einem mir nicht mehr erinnerlichen Tag erfolgte, glückte.“ Sein Bruder Fritz äußerte sich ausführlicher: „Vermutlich wegen Heimweh und aus Interesse, wie es zu Hause in Hohenweiler geht (wir hatten von dort keine Post erhalten) flüchtete der Bruder Erwin eines Tages aus dem Lager in Aargau. Er weilte um diese Zeit nicht im Lager selbst, sondern auf Außenkommando bei einem Bauern in der Umgebung beschäftigt […] Ich glaube mich auch zu erinnern, daß mich Erwin anläßlich seiner Flucht sogar kurz besuchte, da ich gleich ihm ebenfalls bei einem Bauern in der Umgebung arbeitete. Hierbei hat er mir wahrscheinlich auch gesagt, daß er den Rückweg ebenfalls wieder über das Schweizertor nehmen werde.“ 104 Auch einem Freund erzählte er nach dem Krieg, „dass es ihm in der Schweiz nicht gut gefiel und dass er Heimweh gehabt habe“. 105 Möglich ist auch, dass Erwin Müller einen weiteren Versuch zur Rettung seines jüngsten Bruders unternehmen wollte. Leider fehlen Details, wie Müller aus dem Aargau bis nach Graubünden an die dortige Grenze gelangt war. Auf den ersten Blick erstaunt die Wahl der Rückkehrroute. Der kürzeste Weg nach Hohenweiler hätte nämlich über Zürich und St. Gallen an den Rhein geführt. Müller war aber offenbar bestrebt, wieder über das Schweizertor nach Vorarlberg zu gelangen. Die Tatsache, dass die drei Brüder dort ihre Handfeuerwaffen versteckt hatten, dürfte mindestens so wichtig gewesen sein wie die vermeintliche Ortskenntnis. In Schiers, dem Ausgangsort für die Bergtour zum Schweizertor, irrte er sich zuerst im Weg. Einem Polizeibericht zufolge fiel den Einheimischen am 6. oder 7. Juni „ein junger Bursche mit österreichischem Dialekt“ auf, der nach dem Weg zum Schweizertor fragte. 106 324 Nikolaus Hagen <?page no="325"?> 107 Romeo/ Steurer, Vom Borbera-Tal, 17. 108 Vgl. Peter Rohrbacher, Pater Wilhelm Schmidt im Schweizer Exil: Ausgewählte Interaktionen mit Wehrmachtsdeserteuren und Nachrichtendiensten 1943-1945, in: Andre Gingrich/ Peter Rohrbacher (Hg.), Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien (1938-1945). Institutionen, Biographien und Praktiken in Netzwerken, Band-1, Wien 2021, 1611-1642, 1626-1636. 109 Ebd., 1628-1629. 110 Mitteilung Susanne Müller, 1.4.2023. 111 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Erwin Müller, Feldkirch 1.12.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. Es scheint klar, dass Erwin Müller auf eigene Faust handelte. Auch wenn er vielleicht selbst das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, dass er sich Partisanen anschließen werde, so gibt es keinen Hinweis darauf, dass seine Rückkehr mit anderen Internierten oder gar Personen im Reich abgesprochen war. Anders war das im Fall des Südtirolers Pircher. Dieser desertierte im Juli 1944 aus einem Lazarett im badischen Müllheim, nördlich von Basel, und kam ebenfalls in ein Lager im Aargau. 107 Dort wurde er im Herbst 1944 von einer Gruppe österreichischer Deserteure um Wilhelm Bruckner (1919-1972), der mit den schweizerischen und britischen Nachrichtendiensten in Verbindung stand, rekrutiert. 108 Dass Müller ebenfalls Kontakt zu dieser Gruppe hatte, ist unwahrscheinlich, da Bruckner zwar ab Mai 1944 erste Vorarbeiten leistete, aber erst im September mit der Rekrutierung von anderen Deserteuren begann. 109 Im Gegensatz zu Müller überquerte Pircher anschlie‐ ßend mit zumindest impliziter Unterstützung der Schweiz die Grenze nach Südtirol. Interessant ist, dass Kurt Müller die Internierung in der Schweiz wohl überwiegend als positiv erfuhr. Vermutlich galt das auch für Fritz Müller. Laut Kurt Müllers Witwe hätten es die Brüder in der Schweiz „recht gehabt“. Man sei ordentlich beherbergt worden, habe genug zu Essen und zudem einen kleinen Verdienst gehabt. 110 V. Erfahrungsraum Grenzgebiet II: Rückkehr und Versteck Am 7. Juni stieg Erwin Müller, unter Umgehung der schweizerischen Grenzposten, bis hinauf zum Schweizertor und holte die drei Armeepistolen aus dem Versteck. 111 Den Grenzübertritt wagte er nach eigenen Angaben erst gegen 23 Uhr im Nebel, weil auf der deutschen Seite Wachen postiert waren. Weiter unten im Tal, beim sogenannten Rellshüsli, stieß er am 8. Juni gegen zwei Uhr früh auf den einheimischen Hilfszöllner Wilhelm Tschabrun. Es kam zu einem Schusswechsel, der mit dem Tod Tschabruns endete. Müller erschoss Tschabrun aus nächster Nähe. Vermutlich noch am selben Tag, gegen 22 Uhr, erreichte er das Haus seiner Freundin Lina Dressel in Nüziders. Diese gab 1949 an: „Müller sah sehr blaß aus und machte sichtlich einen verstörten Eindruck. Auf meine sofortige Frage, woher er komme, antwortete er: ‚Von der Schweiz.‘ […] schon beim Eintreffen sagte [er], er sei deshalb aufgeregt, weil es beim Grenzübergang eine Schießerei gegeben habe.“ Müller verbrachte einige Tage bei der Familie Dressel und erfuhr dort, dass Tschabrun tot aufgefunden worden war. Am Samstag, den 10. Juni, berichtete das „Vorarlberger Tagblatt“: „Mord an einem Grenzaufsichtsbeamten. Am 8. Juni, zwischen 24 und 2 Uhr, wurde der Hilfszollbeamte Wilhelm Tschabrunn [! ] im Gemeindegebiet Vandans in der Nähe der „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 325 <?page no="326"?> 112 Vorarlberger Tagblatt, 10.6.1944, 4. 113 Grenzwachtkorps des III. Schweiz. Zollkreises, Grenzposten Schuders (Zimmermann) an den U.A. Chef 9, Mord des deutschen HZBAs. Tschabrun im Rellstal und Auffinden von 3 deutschen Uniformen der Wehrmacht auf Schweizergebiet, Schuders 1.7.1944. BAR, E4320B#1973/ 171119. 114 Kriminalabteilung für Vorarlberg an die Staatsanwaltschaft in Feldkirch, Hilfszollassistent Wilhelm Tschabrunn, geb. 24.6.01, in der Nacht zum 8.6.1944 im Rellstal/ Montafon ermordet, Feldkirch 9.11.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 115 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Erwin Müller, Feldkirch 1.12.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49; Gendarmerieposten Hörbranz, Vernehmungs‐ niederschrift mit Matthias Fink, Hörbranz 25.11.1949. Ebd. Rellstal-Kapelle während eines Dienstganges erschossen. Ueber den Täter liegen bisher keine Anhaltspunkte vor.“ 112 Die schweizerischen Behörden, die ebenfalls Kenntnis von Tschabruns Tod erhielten, vermuteten offenbar bereits im Juni 1944 in Erwin Müller den Schützen. Bei einer Dienst‐ tour am 13. Juni waren vom Grenzwachtkorps drei Uniformen, die sich den Brüdern Müller zuordnen ließen, gefunden worden, allerdings keine Waffen. Erwin Müller war bereits als abgängig bekannt und seine beiden Brüder verneinten, gegenüber Dritten Angaben zum Versteckort gemacht zu haben. Der Kommandant des Grenzpostens Schuders schloss aus den Umständen: „Der Mörder des am 8.6.44 im Rellstal erschossenen HZBAs. ‚Tschabrun Wilhelm‘ dürfte mit dem Müller Erwin identisch sein, denn aus der Sachlage geht hervor, dass die Zeit des Grenzübertrittes von Müller Erwin mit dem Datum des Mordes Tschabrun übereinstimmen könnte.“ 113 Die deutschen Kriminalbehörden wussten offiziell nicht, wer der Todesschütze war, aber ein Bericht der Kriminalabteilung Feldkirch hielt 1949 fest: „Schon bei den 1944 durchgeführten Ermittlungen nach dem Mörder ergaben sich Anhaltspunkte dafür (auf Grund von Indiskretionen schweiz. Grenzwachbeamter) daß der Fahnenflüchtige Erwin Müller in Betracht kommt.“ 114 Vermutlich brach Müller am Tag der Zeitungsmeldung, dem 10. Juni, zu Fuß von Nüziders Richtung Hohenweiler auf. Nach zwei oder drei Tagen kam er in der Parzelle Kellen am Lochauerberg an, wo er bei einer Familie Felder unterkam. Dort hielt er sich erneut zwei bis drei Tage auf und traf Mutter und Schwester. Anschließend begab er sich nach Hohenweiler, wo er sich im Haus der Mutter bis auf die letzten Wochen und Tage vor Kriegsende versteckte. Insgesamt versteckte sich Erwin Müller also beinahe ein Jahr mitten in seiner Hei‐ matgemeinde. Dabei traf er auch verschiedentlich andere Gemeindebewohner, die ihn nicht verrieten, obwohl er zumindest mit Einzelnen in ernsthaften Konflikt geriet. Das betraf vor allem den örtlichen Forstwart Matthias Fink, mit dem es zur bewaffneten Konfrontation kam, da Müller wiederholt wilderte. Fink gab 1949 an, er habe bei einem Aufeinandertreffen im Oktober 1944 gegenüber Müller folgenden Ausspruch getätigt: „Was du politisch (gemeint die Fahnenflucht) ausgefressen hast, kümmert mich nicht aber das mit der Wilderei muß aufhören. Lasse dies und verschwinde aus der Gegend, sonst kenne ich keine Rücksicht mehr.“ 115 Dass Müller nicht verraten wurde, hatte, so hieß es zumindest im Nachgang, auch damit zu tun, dass er manchen, darunter auch Fink, als gefährlich galt. 326 Nikolaus Hagen <?page no="327"?> 116 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Erwin Müller, Feldkirch 1.12.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 117 Vernehmungsniederschrift mit Theresia Pfeiffer, Hard 29.11.1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 118 Gespräch mit Susanne Müller, 1.4.2023. Über die Zeit im Versteck in seiner Heimat wissen wir ansonsten nur wenig - die Kalendergeschichte von Berkmann enthält abenteuerliche Details, die einer Überprüfung vielfach nicht standhalten. So etwa, dass sein Aussehen komplett verwildert war und er zwei Jahre in diversen Höhlen und Erdlöchern gehaust hätte. Müller selbst gab 1949 an, er habe sich nur im Juli 1944, also kurz nach der Rückkehr, knapp drei Wochen in einer Höhle versteckt, da er befürchtete, er werde bei seiner Mutter gesucht. Anschließend habe er sich überwiegend im Elternhaus aufgehalten. „Die letzten Wochen vor Kriegsende verbrachte ich hauptsächlich in einer Höhle in der Gegend der Rucksteig (zwischen Möggers u. Hohenweiler).“ 116 Auch seine Schwester Theresia bestätigte diese Darstellung. 117 Nach Erinnerung seiner späteren Schwägerin Susanne Müller versteckte er sich auch in der nahegelegenen Rohrachschlucht. 118 VI. Nachkriegszeit und Schlussbemerkungen Abb. 8: Fritz, Kurt und Erwin Müller in fortgeschrittenem Alter bei einem Familientreffen (Familien‐ album Susanne Müller). „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 327 <?page no="328"?> 119 Schlussbericht 1947, 177. 120 Gendarmeriepostenkommando Hörbranz an Kriminalabteilung für Vorarlberg, Müller Erwin aus Hohenweiler, Aufenthaltsermittlung, 15.3.1946. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/ 49. 121 Vgl. die Darstellung in diversen Medienberichten, u. a. Vorarlberger Nachrichten, 6.12.1949, 2; Bludenzer Anzeiger, 10.12.1949, 4. Zu anderen Mordermittlungen gegen Deserteure siehe den Beitrag von Pirker in diesem Buch. 122 Gemeindearchiv Hard, Meldebuch 1953, Nr.-1809. 123 Taufbuch Reuthe, fol. 162. Kurt und Fritz Müller kehrten Anfang Dezember 1945 aus der Schweiz nach Vorarlberg zurück. Dies geschah offenbar im Zuge einer großen Aktion, bei der 469 österreichische Militärinternierte über den Grenzübergang St. Margrethen nach Österreich repatriiert wurden. 119 Beide fassten schnell wieder Fuß. Fritz Müller wurde im Jänner 1946 Bediensteter der Bundesbahn in Bregenz und lebte 1949 in Hard. Später heiratete er. Kurt Müller nahm mit 1. Jänner 1946 seinen Beruf als Friseur wieder auf. Zuerst in Bregenz, dann wechselte er zu einem Friseur nach Heerbrugg in St. Gallen. Auch er heiratete und hatte 1949 bereits zwei Kinder. Erwin Müller stellte ein Aufnahmegesuch beim Gendarmerieposten Hörbranz, dem aber im März 1946 noch nicht entsprochen worden war. 120 Die Kriminalstelle Feldkirch erfuhr um diese Zeit durch die Schweizer Polizeibehörden, dass Müller in Zusammenhang mit dem Tod Tschabruns stehen könnte. Zuvor hatte es bereits Gerüchte über Müller als möglichen Schützen gegeben. Müller war an diesen Gerüchten wohl nicht unschuldig, da er offenbar diversen Personen von seiner Begegnung mit Tschabrun erzählt hatte. Die Ermittlungen wurden damals aus unbekanntem Grund nicht weitergeführt. Im Jahr 1949 wurden sie erneut aufgenommen und führten zur Verhaftung Erwin Müllers, der den Schuss auf Tschabrun sofort gestand. Allerdings behauptete er, als Zweiter geschossen und in Notwehr gehandelt zu haben. 121 Der Fall kam vor Gericht, der entsprechende Akt ist aber nicht mehr vorhanden. Es ist unwahrscheinlich, dass Erwin Müller tatsächlich wegen Mordes verurteilt wurde. Allerdings dürfte er bis März 1953 in Garsten inhaftiert gewesen sein und kehrte dann nach Hard zurück, 122 wo er seit 1949 den Wohnsitz hatte. Im Jahr darauf heiratete er. 123 Die weiteren Lebenswege können an dieser Stelle nicht mehr detailliert ausgeführt werden. Erwin Müller übersiedelte in den 1960er-Jahren in das Burgenland und eröffnete dort später einen Freizeitpark. Kurt Müller, der später eine Stickerei betrieb, verstarb am 25. Mai 2011 in Lustenau und Fritz Müller am 3. Juni 2013 in Hard. Der enge Zusammenhalt in der Familie blieb zeitlebens bestehen. In dieser Fallstudie wurde der Versuch unternommen, jene Erfahrungsräume zu skiz‐ zieren, innerhalb derer sich die gemeinsame Desertion der Brüder Erwin, Fritz und Kurt Müller abspielte. Thesenhaft sollen hier noch einmal einige Schlüsse zusammengefasst werden: • Sozialer Erfahrungsraum: Die Familie war durch einen sozialen Abstieg in der Zwi‐ schenkriegszeit in das Landarbeitermilieu geprägt. Zwei Brüder verdingten sich als Knechte und Hilfsarbeiter; nur einer erlernte einen Beruf. Alle drei hatten eine geringe örtliche Bindung, da sie ledig und kinderlos waren und auch keinen eigenen Betrieb oder Grund- und Hauseigentum besaßen. Das unterschied sie etwa von ihrem älteren Bruder Arnold Berlinger, der ebenfalls Wehrdienst leistete, aber Frau, Kind und ein Unternehmen hatte. Es wäre im Zuge von weiteren Vergleichsstudien noch 328 Nikolaus Hagen <?page no="329"?> 124 Neue Vorarlberger Tageszeitung, 27.9.2020, 22-23. herauszuarbeiten, ob Vorarlberger Soldaten aus dem Land- und Hilfsarbeitermilieu häufiger desertierten als Angehörige anderer sozialer Klassensegmente. • Familiärer Erfahrungsraum: Deutlich wird, wie sehr die Brüder Müller auf ein fami‐ liäres Netzwerk, sowohl bei der Organisation ihrer Desertion als auch später beim erfolgreichen Verstecken Erwin Müllers in der Heimat, zurückgriffen. Zudem befeuerte die soziale Dynamik unter den im Urlaub zusammengetroffenen Brüdern den mögli‐ cherweise schon insgeheim angedachten, aber letztlich wohl sehr kurzfristig gefassten Entschluss zur Desertion. Dafür spricht auch der in letzter Minute getätigte Versuch, einen vierten Bruder, Adalbert, ebenfalls zur „Fahnenflucht“ zu bewegen. Es erscheint mittlerweile als gesichert, dass enge Familienangehörige Bescheid wussten und die Flucht zumindest passiv unterstützten. Allerdings verschleierten sowohl die Brüder als auch deren Angehörige diesen Umstand geschickt. • Militärischer Erfahrungsraum: Die Kriegserlebnisse an der Ostfront gaben wohl den Ausschlag für die Entscheidung zur Flucht. Zwei der Brüder waren selbst verwundet worden, alle drei erlebten Tod oder Verstümmelung von Kameraden. Vermutlich spielte auch die Familienerfahrung des Ersten Weltkriegs eine Rolle. Der Wille zu überleben, das eigene Leben zu retten, war letztlich Hauptmotiv für die Entscheidung, in die Schweiz zu fliehen. • Erfahrungsraum Grenzgebiet: Der Heimaturlaub im alpinen Grenzgebiet war die Voraussetzung sine qua non für die erfolgreiche Desertion. Am Fall Müller zeigt sich deutlich ein von Peter Pirker für Westösterreich bereits konstatiertes Muster „Lazarett-Heimaturlaub-Desertion“. 124 Die Lage gegen die Schweiz bot in Vorarlberg eine einmalige Chance zur Flucht in ein neutrales Land, wie ansonsten nur in Südbaden sowie im Tiroler Oberland und im Vinschgau. • Erfahrungsraum Internierung: Die Situation von Deserteuren in den Internierungsla‐ gern der Schweiz ist eine bislang wenig erforschte Thematik. Der Fall Müller gibt Hinweise darauf, dass das Erlebnis der Lager möglicherweise von der erhofften Freiheit in Frieden abwich. In Erwin Müllers Fall scheint die Angst um das eigene Leben, welche die Desertion angetrieben hatte, rasch von der Monotonie der Zwangsarbeit und der Sehnsucht nach der Heimat überlagert worden zu sein. Die Behauptung, sich nach einer Rückkehr Partisanen anschließen oder einen weiteren Bruder retten zu wollen, mögen auch als Erklärungsversuch für einen nicht leicht zu vermittelnden Umstand gedient haben: Dass nämlich Erwin Müller die Aussicht auf ein Sich-Verstecken unter Todesgefahr in der Heimat möglicherweise als erträglicher empfand als den Verbleib in der Internierung. Seine Brüder Kurt und Fritz dürften die Internierung allerdings als wesentlich positiver erlebt haben. Im Gespräch mit Susanne Müller, der Witwe von Kurt, wurde ein weiterer Aspekt deutlich, der im Rahmen dieser Fallstudie nicht entsprechend berücksichtigt werden konnte, nämlich die Emotionen und die Erfahrungen der Angehörigen und Bekannten. Für die in Vorarlberg Zurückgebliebenen verbanden sich mit der Flucht der drei Brüder höchst ambivalente Gefühle, die dadurch verstärkt wurden, dass Kommunikation kaum möglich war und Briefe „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“ 329 <?page no="330"?> abgefangen wurden: Man wusste bzw. hoffte die Lieben in Sicherheit und am Leben, aber gleichzeitig war man dem Verfolgungsdruck der NS-Behörden, welche die Verwandten unter den Verdacht der Fluchthilfe stellten, und einem sozialen Druck, zumindest von Teilen der Gesellschaft, ausgesetzt. „Es war sehr schwer. Niemand hätte wissen sollen, dass die drei geflohen sind“, erinnerte sich Susanne Müller. Letztlich gelang es den drei Brüdern tatsächlich, ihre „jungen Leben“ zu schützen. Das Schicksal ihrer beiden Brüder, vor allem des jüngsten, Adalbert, verdeutlicht, wie richtig ihre Entscheidung zur Flucht gewesen war. 330 Nikolaus Hagen <?page no="331"?> 1 Wir danken Barbara Grabher, Thomas Gamon, Caroline Gatt, Helga Kreutzer und Hanna Wäger für ihre hilfreichen Rückmeldungen bezüglich früherer Entwürfe dieses Textes. Interview mit Delphina Burtscher, ausgestrahlt vom ORF am 29.7.2006, URL: https: / / tvthek.orf.at/ history/ Geschichte/ 10963486/ Delphina X "Burtscher, Delphina" -Burtscher-Geschichte-voller-Tragi k/ 11447106 (abgerufen 23.6.2023). 2 Ebd. 3 Delphina Burtscher. Meine Lebensgeschichte, Nenzing 2015 [2005], hg. v. Thomas Gamon/ Markus Barnay/ Franz Nachbaur, 4. überarb. und erw. Aufl. Geschichte(n) mit sich tragen und überwinden Ein intergenerationaler Dialog über den Umgang mit Kriegsleid Lydia Maria Arantes / Erika Moser Delphina Burtscher (1926-2008) kannte nichts anderes als harte Arbeit. Von klein auf wurden sie und ihre neun (die Kindheit überlebenden) Geschwister dazu angehalten, auf dem Hof mit zehn Kühen und vorwiegend Selbstversorgung mitzuhelfen. „Vater war so schlau, dass er für alle Kinder Werkzeuge machte. Seien es Rechen, Sensen oder Schaufeln, egal was. Egal wie klein wir waren, wir konnten schon ‚schaffa‘ (arbeiten). Als wir dann erwachsen waren, konnte niemand mehr sagen, ‚wir können das nicht‘.“ 1 „Erwachsen“ meint hier jedoch nach heutigem Maßstab ein jugendliches Alter von 16 Jahren, als Delphina ihre Mutter verlor und vier ihrer Brüder im Kriegseinsatz waren. „Ich musste alles alleine machen. Die ganze Hausarbeit, ich musste mit in den Stall, kochen, waschen … alles alleine.“ 2 Dabei darf man nicht vergessen, dass es dort oben im Küngswald, einer abgelegenen kleinen Siedlung, eine Stunde Fußmarsch von der Gemeinde Sonntag - selbst bereits am Ende des Walsertals - entfernt (genauer gesagt über Sonntag Stein, wohin man ab 1940 mit einer kleinen Transportseilbahn gelangte), weder Strom und noch fließendes Wasser gab. Diese sehr abgelegene Gegend ist auch der Schauplatz manch tragischer Begebenheiten. Dazu gehört auch die sogenannte Fahnenflucht von Delphinas Brüdern Willi und Leonhard sowie ihrem Verlobten Martin Lorenz, die sich monatelang hoch oben in den Bergen versteckt hielten, bis Willi und Martin im Juli 1944 festgenommen und gemeinsam mit Delphina und einigen ihrer Familienmitglieder in Haft kamen. Wenige Monate später wurden Willi und Martin in Graz hingerichtet und Delphina, welche soeben Martins Kind (Maria, geb. 1944) geboren hatte, kam ins Frauengefängnis in München. Jahrzehnte später, Anfang 2000, hat Delphina ihre Lebensgeschichte auf Initiative ihres ältesten Sohnes Xaver und des Nenzinger Gemeindearchivars Thomas Gamon niedergeschrieben und veröffentlicht. 3 Dieses kleine Büchlein ist innerhalb von zehn Jahren bereits in vierter <?page no="332"?> Erst wenige Jahre zuvor hatte sich Delphina (durch Xavers Vermittlung) Thomas Gamon anvertraut und erstmals von der Desertion der Brüder und von Martin erzählt. Dieser wurde hellhörig und engagierte sich in weiterer Folge dafür, dass das Büchlein zum Sterbetag der beiden Männer erscheinen würde - was ihm dann auch gelang! Lydia hatte Erika im Zuge der Buchentstehung geholfen, Delphinas handschriftlich verfasstes Manuskript zu lektorieren. Delphina hatte nur wenig Schulbildung gehabt (brachte uns beiden jedoch das Kurrentschreiben bei, was gerade für Lydia im Zuge ihres Studiums ein großer Vorteil war), was das Lektorieren zu einer emotionalen wie intellektuellen Knochenarbeit machte. 4 Lydia ist Kulturanthropologin und im Zuge von Recherchen für einen wissenschaftlichen Artikel vor Kurzem zufällig wieder auf die leidgeprägte Geschichte unserer (Groß-)Mutter aufmerksam geworden, weshalb wir uns über die letzten Wochen hinweg oft über sie unterhalten haben. Auflage erschienen, was ein großes Interesse an ihrer Geschichte, welche wir für den vorliegenden Beitrag weiterdenken möchten, nahelegt. Abb. 1: Küngswald im hinteren Großen Walsertal. In der Bildmitte das Elternhaus von Delphina Burtscher, ca. 1950 (im Familienbesitz). Delphina ist unsere Mutter (Erika ist eines ihrer acht Kinder) bzw. Großmutter (Lydia ist eine ihrer achtzehn Enkel*innen). Wir haben in den letzten Wochen aus unterschiedlichen Gründen 4 oft über sie und das, was sie in den Jahren des Zweiten Weltkriegs erlebt hat, geredet und uns gleichzeitig auch an ihr liebenswürdiges, freches, humorvolles Wesen, das immer zum Scherzen aufgelegt war, erinnert. 332 Lydia Maria Arantes / Erika Moser <?page no="333"?> 5 An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass Thomas Gamon Maria schon einmal über diese Möglichkeit der Antragstellung informiert hatte, diese jedoch im Sand verlief, da niemandem klar war, wie diese zu bewerkstelligen sei. Abb. 2: Alpe Wang, Sonntag im Großen Walsertal, 1939. Delpina Burtscher ist in der hinteren Reihe als zweite von links abgebildet. Andere Personen vorne von links: Rudolf Rützler (Schwager), Leonhard und Ignaz Burtscher (Brüder), Franz Xaver (Vater), Richard und Resi (Pflegekinder der Familie), Paula (Schwester), hinten von links: Urlaubskind, Delphina Burtscher mit Neffe Rudolf Rützler, Hilda Amann, Paula (Mutter) mit Enkelkind Laura (im Familienbesitz). Kürzlich sind wir vom Mitherausgeber dieses Sammelbands, Peter Pirker, in Kenntnis gesetzt worden, dass Maria - Erikas älteste Schwester und Lydias Patentante - sehr wahrscheinlich anspruchsberechtigt beim Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus ist. Bis dato war uns nicht einmal klar, dass es so etwas gibt. 5 Wir konnten den Antrag mit Hilfe von Peter Pirker jedoch soweit vorbereiten, dass Maria ihn nur noch unterschreiben musste. Im Zuge dessen ließ er uns auch die Urteile gegen Delphina Burtscher, Willi Burtscher und Martin Lorenz zukommen, die dem Antrag beigefügt werden sollten. Es ist überwältigend und aufwühlend, einen direkten Einblick in die Situation zu erlangen, wie sie damals von Seiten der Behörden dargestellt wurde. Wir bemühen uns immer wieder um Fassung. Geschichte(n) mit sich tragen und überwinden 333 <?page no="334"?> Abb. 3: Delphina Burtscher im Alter von zwölf Jahren, 1938 (im Familienbesitz). 334 Lydia Maria Arantes / Erika Moser <?page no="335"?> 6 Feldurteil gegen Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz, 13.10.1944. Militärhistorisches Archiv Prag, RKG (II) 10, Reichskriegsgericht, StPL 4. Sen. 89/ 44, RKA. II 341/ 44. 7 Ebd. 8 Markus Barnay, Ein Urteil mit vielen Fragezeichen, in: Burtscher, Lebensgeschichte, 76-78. Siehe auch Markus Barnay, Wehrmachtsdeserteure und ihr Umfeld im Großen Walsertal. „Ich war weiß Gott keine Verbrecherin“, in: Hanno Platzgummer/ Karin Bitschnau/ Werner Bundschuh (Hg.), „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist…“. Vorarlberger vor den Gerichten der Wehrmacht, Dornbirn 2011, 51-56. 9 Beglaubigte Abschrift des Urteils des Sondergerichts beim Landgericht in Feldkirch, 20.12.1944. VLA, AVLReg IVa-168/ 320. 10 Dem jahrelang als verschollen gegoltenen, unlängst jedoch im Vorarlberger Landesarchiv ausfindig gemachten Akt des Sondergerichts Feldkirch über das Verfahren gegen Angehörige der Familie Burtscher und Benjamin Bischof ist zu entnehmen, dass Delphina den erneuten Haftantritt durch geschickte Manöver noch ein wenig hinauszögern konnte (ein Argument war, dass sie noch stille, ein anderes, dass sie auf dem Hof von Martin Lorenz‘ Mutter gebraucht werde), bis sie schlussendlich am 16.3.1945 abgeführt wurde. Vollstreckungsheft in der Strafsache gegen Delphin[a] Burtscher. VLA, LGF KLs 52/ 44. Martin Lorenz wurde gemeinsam mit Delphinas Bruder Willi Burtscher im Herbst 1944 zum Tode verurteilt, „wegen Fahnenflucht und Kriegsverrat“ 6 , da sie eine „militärisch aufgezogene Gruppe für das ‚Freie Österreich‘“ 7 gebildet hätten. Uns war bekannt, dass die beiden Männer, sowie auch Willis und Delphinas Bruder Leonhard Burtscher (welcher jedoch nicht gefasst werden konnte), desertiert waren und nach Heimaturlauben nicht mehr an die Front zurückgekehrt waren. Es ist aber eines, davon zu wissen, dass sie sich hoch in den Bergen versteckt hielten. Wer will schon in den Krieg? Es ist jedoch ein anderes, die teils sehr detaillierten Urteile vorliegen zu haben, die der NS-Justizapparat produziert hat. Diese sind noch dazu durchzogen von Widersprüchen, wie etwa Markus Barnay 8 in einem ergänzenden Kapitel von Delphinas Buch feststellt. Dies macht es für uns nicht leichter, uns damit auseinanderzusetzen. Was daran ist wahr? Was wurde den Beschuldigten vielleicht lediglich unterstellt? Delphina Burtscher, die „Haustochter“, wurde zu fünf Jahren Jugendgefängnis verurteilt, weil sie „fahnenflüchtigen Soldaten durch Gewährung von Aufenthalt, Verbergung und Verabreichung der Verpflegung hilfreiche Hand geboten und damit die Ausforschung und Wiedereinbringung derselben erschwert“ 9 habe. Sie wurde zunächst in Feldkirch, wenige Monate nach der Geburt von Maria (im September 1944) dann ab März 1945 in Rothenfeld bei München inhaftiert. Lassen wir sie ausführlich zu Wort kommen: „Ende Jänner 1945 10 war es dann soweit, ich musste wieder die Strafe antreten. Zunächst verbrachte ich zwei Tage im Gefängnis in Feldkirch, dann brachte mich ein älterer Polizist nach Rothenfeld bei München in ein großes Frauengefängnis mit vielen Gebäuden. Ich war weiß Gott keine Verbrecherin und wurde ja nur in Sippenhaft genommen. Man führte mich zur Vorsteherin. Es folgte die Körperreinigung, schließlich wurde ich splitternackt dem Arzt vorgeführt. Über alles Mögliche wurde ich ausgefragt: ob ich gesund sei, ob ich Filzläuse hätte, wie lange ich keinen Sex gehabt habe, warum ich zu ihnen gekommen sei, bis aufs Blut fragten sie mich aus, alles wollten sie wissen. Danach musste ich in ein anderes Zimmer zur Arbeitseinteilung. Dort wurde ich gefragt, welche Tätigkeit ich bisher ausgeübt habe. Da ich daheim den Haushalt geführt und für die ganze Familie gesorgt hatte, kam ich in die Küche und wurde gleich ordnungsgemäß eingekleidet. Es war eine Großküche, wobei in der einen Hälfte des Raumes für die Gefangenen gekocht wurde und in Geschichte(n) mit sich tragen und überwinden 335 <?page no="336"?> 11 Burtscher, Lebensgeschichte, 38-39. der anderen für die Beamten. In den ersten drei Tagen war ich dem Gefangenenteil zugeteilt. Mir wurde ausdrücklich gesagt, dass ich niemandem den Grund verraten dürfe, warum ich hier im Gefängnis sei. Erst kam ich in den Vorkeller, wo tonnenweise Kartoffeln lagerten. In einem Raum saßen etwa achtzehn Gefangene, die nur für die Arbeit im Vorkeller bestimmt waren. Sie waren freundlich, aber auch neugierig. Mit einem mickrigen Klappmesser musste ich dann Kartoffeln schälen. Anfangs ging es ganz schlecht, doch bis zum Abend war ich genau so gut wie die anderen. Die Mitgefangenen wollten unbedingt den Grund meiner Gefängnisstrafe wissen, doch ich blieb stumm. Sie forderten drohend, ich solle entweder alles erzählen oder ich würde noch kleiner werden. Als dann alle wie ein Mann aufstanden, wurde mir ganz anders. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als über mein Schicksal und das Geschehene zu berichten, und sie legten den Schwur ab, dass sie nichts davon weitersagen würden. So kam es, dass ich mit den übrigen Häftlingen doch noch Freundschaft schließen konnte. Das Wachpersonal beobachtete uns bei der Arbeit. Man musste große Fässer mit eingelegten Fischen - mit bis zu 5 cm Länge - aufbrechen und den Inhalt mit einem großen Kübel, der an einem Stiel befestigt war, aus den Behältern schöpfen. Vier große Kessel waren vorhanden, zwei für Kartoffeln, zwei für eine große Einbrenn. Die Fische wurden komplett - also samt Augen, Flossen usw. - durch eine Mühle gepresst. Dies ergab dann unsere tägliche Suppe, die uns mit den Kartoffeln als Hauptnahrung diente. Den Aufsehern war aufgefallen, dass ich keine langsame Arbeiterin war und die Arbeit nicht scheute. So kamen sie zu mir und holten mich zum Beamtentisch. An diesem Tisch arbeiteten tatsächlich zwei Linkshänder, die nie fertig wurden. Mir musste man alles nur einmal sagen und es war nicht nötig, mich ständig neu anzulernen. Von da an lief alles besser und ich musste keine Fischsuppe mehr essen. Die Beamten aßen nicht immer alles auf. Den Rest haben dann wir gegessen, denn wir wussten, dass es sauber war, wir hatten es ja selber gekocht. Jeden Tag mussten wir dieselbe Arbeit verrichten, putzen, auch die Kästen auswaschen, später durften wir vom Speiseraum auch Material holen. Wir haben uns nichts Unrechtes erlaubt und waren beliebt. Eine Oberwärterin hat mich sehr ins Herz geschlossen und stand immer zu mir. Eines Abends im Mai musste ich in der Speisekammer noch etwas holen. Ich kehrte allerdings nicht gleich zurück und sie kam, um nachzusehen, wo ich so lange blieb. Ich hatte von irgendwoher eine Kirchenorgel gehört, mir wurde ganz anders und ich weinte. Sie fand mich in diesem Zustand und fragte, was los sei. Ich sagte ihr, dass ich schon lange keine Kirchenorgel mehr gehört und keine Kirche mehr gesehen hätte. Sie antwortete: ‚Ja wenn du willst, kannst du jeden Abend in die Maiandacht.‘ Ich dürfe es nur nicht jedem sagen. Es wird mir vielleicht nicht jeder glauben, wie glücklich mich das machte. Leider hielt dieser Zustand nur bis zur Kirche an. Ich konnte dort nicht singen, weil es so wehtat. Ich hatte ein ganz kleines Foto von meinem Mädchen bei mir und fühlte eine solche Sehnsucht nach dem Kind. Dieses Foto hatte mir Martins Mama geschickt. Es war ein Geschenk aus der Heimat, die ich nie mehr wieder zu sehen glaubte.“ 11 Dass Delphina und Maria gerade in den letzten Jahrzehnten im Alltag ein enges Gespann waren und viele Erledigungen gemeinsam unternahmen, ist vor diesem Hintergrund nur allzu gut verständlich. Aber wo Delphina die Kraft herhatte, nicht nur die anfänglichen Erniedrigungen durch den Gefängnisapparat, die harte Arbeit und vor allem den Verlust des Babys Maria zu ertragen, ist aus unserer Perspektive schwer nachvollziehbar. Auch 336 Lydia Maria Arantes / Erika Moser <?page no="337"?> 12 Ebd., 44. 13 Einigen Zufällen ist zu verdanken, dass Lydia von Peter Pirker dazu eingeladen wurde, eine „kurze Reflexion über die Geschichte der Burtscher-Familie“ (Email von Peter Pirker vom 22.6.2023) zu schreiben. Wir entschieden uns prompt dazu, einen gemeinsamen Versuch zu wagen, da wir ohnehin gerade viel über die Familiengeschichte sprachen. 14 Zwischen spontaner und dankbar angenommener Anfrage und Manuskriptabgabe beim Verlag liegt ein Monat. wenn das seelische Leid direkt spürbar ist, zeugt auch diese Passage - wie so viele andere in ihrem Buch und wie so viele von uns miterlebten Episoden ihres Lebens - von einer großen innerlichen Widerstandskraft, Resilienz würde man heutzutage sagen. Das Über-Delphina-und-ihre-Geschichte-Schreiben bringt sie gerade mitten unter uns. Sie nicht mehr leibhaft unter uns zu haben, stimmt uns einerseits traurig. Andererseits ist die Vergegenwärtigung ihres hartnäckigen und stets nach vorne gerichteten Wesens durch die von ihr erzählte Geschichte immer wieder auch ermächtigend. Delphina und ihre Geschichte machen Mut und geben Kraft: „Das Gute hat man genossen und das Schlechte überwunden. Von der vielen Arbeit wurde überhaupt nicht gesprochen und der Humor ist mir trotzdem geblieben,“ 12 schreibt sie in einer einprägsamen Passage. Unsere unverhoffte Auseinandersetzung mit Delphina - in der Familie liebevoll Omile genannt - für diesen Textbeitrag 13 stellt uns vor emotionale Herausforderungen. Gleich‐ zeitig ist es auf eine bizarre Art und Weise schön, ihrem über die Jahrzehnte hinweg durchs Erzählen und Niederschreiben erinnerten Leiden und insbesondere dessen Überwindung im lebensweltlichen Alltag nachzuspüren. Es is