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Medium Sagazeit

Eine literatursoziologische Annäherung an das ‚postklassische‘ Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter

0408
2024
978-3-3811-0522-9
978-3-3811-0521-2
A. Francke Verlag 
Ellen E. Petershttps://orcid.org/0000-0002-2015-8169
10.24053/9783381105229

Die spätmittelalterlichen sog. ,postklassischen' Íslendingasögur wurden von der Forschung lange vernachlässigt und als wertlose Nachahmungen abgewertet. Die vorliegende Studie, die an die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Sagaforschung anknüpft, entlarvt dies als Mythos in der Wissenschaft. Sie zeigt auf, dass diese Erzählungen in der isländischen Allgemeinheit stets sehr populär waren, wie die klassischen Vertreter als glaubhafte Darstellungen der isländischen Sagazeit gelesen wurden und auch im kulturellen Erinnerungsprozess nicht minder bedeutsam sind. Im Spätmittelalter ist das kulturelle Erinnern jedoch unweit mehr von der sich zunehmend verbreitenden Schrift geprägt. Die Sagazeit ist mit der Gattung Íslendingasaga als isländische Ursprungszeit etabliert und wird von ,postklassischen' Íslendingasögur medial inszeniert, um so bedeutende identitätsstiftende Erinnerungen der Isländer zu vergegenwärtigen. Zahlreiche Textbeispiele aus Bárdar saga Snaefellsáss, Grettis saga, Króka-Refs saga, Viglundar saga und weiteren Sagas veranschaulichen die Entwicklung der Sagazeit zum Medium sowie dessen Funktionsweise.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-10521-2 Die spätmittelalterlichen sog. ‚postklassischen‘ Íslendingasögur wurden von der Forschung lange vernachlässigt und als wertlose Nachahmungen abgewertet. Die vorliegende Studie, die an die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Sagaforschung anknüpft, entlarvt dies als Mythos in der Wissenschaft. Sie zeigt auf, dass diese Erzählungen in der isländischen Allgemeinheit stets sehr populär waren, wie die klassischen Vertreter als glaubhafte Darstellungen der isländischen Sagazeit gelesen wurden und auch im kulturellen Erinnerungsprozess nicht minder bedeutsam sind. Im Spätmittelalter ist das kulturelle Erinnern jedoch unweit mehr von der sich zunehmend verbreitenden Schrift geprägt. Die Sagazeit ist mit der Gattung Íslendingasaga als isländische Ursprungszeit etabliert und wird von ‚postklassischen‘ Íslendingasögur medial inszeniert, um so bedeutende identitätsstiftende Erinnerungen der Isländer zu vergegenwärtigen. Zahlreiche Textbeispiele aus Bárðar saga Snæfellsáss, Grettis saga, Króka-Refs saga, Víglundar saga und weiteren Sagas veranschaulichen die Entwicklung der Sagazeit zum Medium sowie dessen Funktionsweise. Ellen E. Peters war Mitarbeiterin am Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) „Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen. Historische Perspektiven“ (NCCR „Mediality“) an der Universität Zürich und promovierte an der Universität Basel. Ellen E. Peters Medium Sagazeit 73 Medium Sagazeit Eine literatursoziologische Annäherung an das ‚postklassische‘ Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter Ellen E. Peters <?page no="1"?> Medium Sagazeit <?page no="2"?> Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser (Basel/ Zürich), Klaus Müller-Wille (Zürich), Anna Katharina Richter (Zürich), Lena Rohrbach (Basel/ Zürich), Lukas Rösli (Berlin), Thomas Seiler (Bø) Begutachtung: Die Bände der Reihe werden einem (Double blind-)Peer-Review-Verfahren unterzogen. Ausführliche Angaben zu den Mitgliedern der Redaktion sowie zu deren Aufgaben und Funktionen und zur Manuskriptbegutachtung finden sich auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien (http: / / www.sagw.ch/ sgss). Band 73 · 2024 <?page no="3"?> Ellen E. Peters Medium Sagazeit Eine literatursoziologische Annäherung an das ‚ postklassische ‘ Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter <?page no="4"?> Umschlagabbildung: © Manuskript AM 489 I-II 4to, 2v. The Arni Magnusson Institute for Icelandic Studies (https: / / handrit.is/ manuscript/ view/ is/ AM04-0489-I-II/ 11? iabr=on#page/ 2v/ mode/ 2up [zuletzt abgerufen am 28.02.2023]). Bárður Snæfellsás, Monument von Ragnar Kjartansson. Gemeinfreie Abbildung, Urheber TommyBee (https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Category: B%C3%A1r%C3% B0ur_Sn%C3%A6fells%C3%A1s? uselang=de#/ media/ File: Arnastapi2Ice.JPG [zuletzt abgerufen am 08.02.23] Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Ellen E. Peters Universität Basel Seminar für Nordistik Nadelberg 6 CH-4051 Basel https: / / orcid.org/ 0000-0002-2015-8169 Die vorliegende Arbeit wurde von der Historisch-Philosophischen Fakultät der Universität Basel im Herbstsemester 2019 auf Antrag der Promotionskommission, Prof. em. Dr. Jürg Glauser (hauptverantwortlicher Betreuer) und Prof. Dr. Klaus Müller-Wille, als Dissertation angenommen. DOI https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783381105229 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-381-10521-2 (Print) ISBN 978-3-381-10522-9 (ePDF) ISBN 978-3-381-10523-6 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Die Íslendingasögur - bedeutungsvolle Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.2 Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga: Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3 Überlieferung, Datierung und Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.4 Die spätmittelalterlichen Íslendingasögur im oral-written continuum . . . . . . 30 1.5 Die Íslendingasögur als kulturelle Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.6 Zielsetzung und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Teil I: Íslendingasögur und kulturelles Gedächtnis 2 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.1 Die Íslendingasaga als kulturelle Textgattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2 Die Íslendingasögur im Kontext der Sagaliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.3 Die Wahrheit der Íslendingasögur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.4 Die isländische Ursprungszeit im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1 Die spätmittelalterliche Gedächtniszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.2.1 Reformation und Umschlag zu kontrapräsentischer Mythomotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.2.2 Beginn lateinischer Historiographie und Aktualisierung des Ursprungsmythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.2.3 Wahrheit und Identifikation: Interpretation und Fortschreibung der Sagazeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.3.1 Verbreitung der Íslendingasögur in Europa und frühe Sagakritik . . . 98 3.3.2 Die Einheit der Sagazeit im kulturellen Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.3.3 Aufklärung und kulturelles Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3.3.4 Die Íslendingasögur in der Wissenschaft des ausgehenden 18. Jh.s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.3.5 Weiterführung und Kritik im kulturellen Erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . 111 <?page no="6"?> 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption . . . . . . . . . . 113 3.4.1 Sagaforschung im 19. Jh. und die Dichotomie von Historie und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.4.2 Kulturelles Gedächtnis und nationalromantische Erneuerung . . . . . . 124 3.4.3 Mythos in der Wissenschaft: Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga . . . 129 3.4.4 Distanzierung von der Dichotomie von Historie und Fiktion . . . . . . 139 3.4.5 Der cultural turn und die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga . . . . . . . . . . 145 3.5 Zusammenfassung und Implikation der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Teil II: Íslendingasögur und Systemtheorie 4 Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.1 Einführende Zusammenfassung zentraler Elemente der Systemtheorie . . . 155 4.1.1 Systeme, Operationen, Leitprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.1.2 Gesellschaftsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.1.3 Kommunikation und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4.1.4 Schrift und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.1.5 Selbstbeobachtungen und -beschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4.2 Von Aufzeichnung zu Kommunikation: Schrift im mittelalterlichen Island . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.3 Die Medialität der Sagazeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.4 Bedingungen der Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.1.1 Christianisierung in Hávarðar saga und Finnboga saga . . . . . . . . . . . . 179 5.1.2 Christianisierung und vorchristliche Ursprünge in Bárðar saga Snæfellsáss und Kjalnesinga saga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.1.3 Distanzierung vom Heidentum in Flóamanna saga und Harðar saga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.2 System und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 5.2.1 Ab- und Ausgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 5.2.2 Zur Medialität der Grettis saga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.2.2.1 Außenseiter und Grenzgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.2.2.2 Außenseiter und Märtyrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5.3 Textlandschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 5.3.1 Medialität und Aktualität der Víglundar saga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 5.3.1.1 Text und Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 5.3.1.2 Medium und Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 5.3.1.3 Mythos und Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 5.3.1.4 Innovation und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 5.3.2 Die Króka-Refs saga: Medialisierte Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5.3.2.1 Text und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5.3.2.2 Überbietendes Neuerzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 6 Inhalt <?page no="7"?> 5.3.2.3 Isländische Frühzeit und christlicher Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 5.3.2.4 Mediale Wissensvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 6 Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Abstract & Keywords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Namens- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 Inhalt 7 <?page no="9"?> Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Herbstsemester 2019 an der Universität Basel als Dissertation eingereicht. Für den Druck wurde sie teilweise überarbeitet und um weitere Textbeispiele ergänzt. Ich freue mich sehr, sie nun in gedruckter Form vorlegen zu können, nachdem die Fertigstellung aufgrund einer schweren Erkrankung zwischenzeitlich doch immer wieder in Frage stand. Entsprechend spiegelt der veröffentlichte Text auch, dass ich die Arbeit daran verschiedentlich für längere Zeit unterbrechen musste und sich seine Genese über einen deutlich längeren Zeitraum hinzog, als ursprünglich geplant war. Mittlerweile finden die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur deutlich mehr Beachtung als zu Beginn meines Forschungsvorhabens, zudem wurden manche der angerissenen Problematiken nach Fertigstellung der Arbeit ausführlicher von der Sagaforschung behandelt. Da diese jüngsten Veröffentlichungen jedoch keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die wesentlichen Fragestellungen dieser Untersuchung versprachen, wird lediglich in Fußnoten auf diese neuen Entwicklungen der Sagaforschung verwiesen. Stattdessen habe ich mich bei Erstellung der Druckfassung darauf konzentriert, bei Abgabe der Dissertation noch nicht fertiggestellte Textanalysen zu integrieren, die meinen methodischen Zugang weiter erhellen und Neues zum Verständnis der untersuchten Texte beitragen. Auch hinsichtlich seines Umfangs übertrifft das nun vorliegende Buch die anfänglichen Erwartungen. Die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur und damit die spätmittelalterliche Entwicklung der Gattung in den Blick zu nehmen, erwies sich (noch) komplexer als zunächst gedacht und erforderte einen interdisziplinären Zugang, den auszuführen entsprechend Raum einnimmt. Aufgrund der Entscheidung, dabei auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns einzubinden, die - wenngleich m. E. zu Unrecht - den Ruf hat, schwer verständlich zu sein, erschien es mir notwendig, diese zunächst im Hinblick auf mein eigenes theoretisches Modell allgemein einzuführen, um auch ohne systemtheoretische Vorkenntnisse ein umfassendes Verständnis meiner Ausführungen zu erhalten. Vor allem aber war es mir wichtig, die wenig bekannten Primärtexte auch (für sich) selbst sprechen zu lassen, so dass nicht zuletzt zahlreiche längere Sagazitate (samt Übersetzungen) wesentlich zum Umfang der vorliegenden Studie beitragen. Trotz aller Brüche während der Entstehung stellt der finale Text nun hoffentlich ein gut begehbares Gedankengebäude dar, das Zugang zu einer neuen Sichtweise auf die lange zu Unrecht vernachlässigten ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur eröffnet und deren Beitrag zum kulturellen Gedächtnis der Isländer aufzeigt. Den Peer Reviewern danke ich für die positive Begutachtung meiner Arbeit sowie hilfreiche Hinweise, den Herausgebern der Beiträge zur Nordischen Philologie für die Aufnahme in die Reihe und der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien für die großzügige Übernahme der Druckkosten. Gefördert wurde ich während des Doktorats durch Stipendien der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel, der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, der Stiftung Oskar Bandle sowie der Universität Basel, die mir wahrlich eine Alma Mater war <?page no="10"?> und mich auch finanziell durch die Böniger-Ris-Stiftung, den Kranken- und Unfallfonds sowie den von Studierenden gestifteten Solidaritätsfonds unterstützte. Allen, die dies möglich gemacht haben, sei an dieser Stelle ebenso herzlich gedankt wie den Mitgliedern von Sozialberatung und Studiendekanat, die mir mit meinen krankheitsbedingten Einschränkungen stets überaus verständnisvoll und wohlwollend entgegenkamen und mir ermöglichten, meine Promotion trotz aller Widrigkeiten zum Abschluss zu bringen. Zudem haben zahlreiche weitere Menschen dazu beigetragen, dass ich die vorliegende Studie tatsächlich vollenden und veröffentlichen konnte. An erster Stelle zu nennen ist mein Doktorvater Prof. em. Dr. Jürg Glauser, ohne dessen Geduld, Vertrauen und Unterstützung mir dies schwerlich gelungen wäre. Sein anhaltendes Interesse an meiner Arbeit motivierte mich stets, nicht aufzugeben, der Austausch mit ihm half mir, meine Begeisterung für die Texte trotz belastender Umstände aufrechtzuerhalten. Auch die Inspiration zu dieser Arbeit verdanke ich ihm: Er lenkte mein Augenmerk bereits im Studium auf die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur und ermöglichte mir als Projektmitarbeiterin im von ihm geleiteten Teilprojekt des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen an der Universität Zürich eine weitreichende Auseinandersetzung mit Medialität aus einer mittelalterlichen Perspektive, aus deren Zusammenhang der methodische Zugang zu dieser Arbeit erwuchs. Bei der Entwicklung von diesem ließ er mir alle Freiheiten und gab mir zugleich wertvolle Hinweise und Denkanstöße. In den Diskussionen mit ihm habe ich auch über diese Arbeit hinaus viel gelernt. Ich schätze mich glücklich, dass er die Betreuung meiner Dissertation übernahm, und danke ihm von Herzen für seine Begleitung und Förderung. Besonderer Dank gebührt auch Prof. Dr. Klaus Müller-Wille, der nicht nur bereit war, das Zweitgutachten für diese Arbeit zu übernehmen, sondern mir ebenfalls stets mit Rat und Tat zur Seite stand und in entscheidenden Phasen wichtige Impulse für die vorliegende Arbeit gab. Danken möchte ich auch Prof. em. Dr. Heinrich Anz, der mich in der Anfangsphase mit großem Interesse und Verständnis als Zweitbetreuer begleitet und als passionierter Grenzgänger bei meinen Grenzgängen zwischen Freiburg und Basel/ Zürich sowie Mittelalter und Moderne unterstützt und gefördert hat. Nicht vergessen möchte ich in einer Arbeit über Gedächtnis und Erinnerung Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Herbert Pilch, der mir als akademischer Lehrer ein Vorbild an wissenschaftlicher Gründlichkeit, Begeisterung und Neugier war und mich in den Anfängen meines Doktorats sehr unterstützte und ermutigte, neue Wege zu gehen. Leider konnte er die Fertigstellung nicht mehr erleben, weshalb ich ihm an dieser Stelle in memoriam meinen herzlichen Dank ausspreche. Stellvertretend für alle Beteiligten am NFS, mit denen ich spannende Fragen zur Medialität im Allgemeinen und zur mittelalterlichen im Besonderen diskutieren konnte, danke ich Prof. Dr. Kate Heslop für wertvolle Anregungen, Hinweise und Nachfragen. Auch für die Unterstützung bei der Abfassung des Abstracts sei ihr gedankt. Dank gebührt auch Prof. Dr. Urs Stäheli, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort einen Vortrag über Niklas Luhmanns Systemtheorie hielt und bereit war, sich meine anfänglichen Überlegungen zur Anwendbarkeit dieser auf die Íslendingasögur anzuhören und zu diskutieren. Dr. Katharina Seidel danke ich für die Beschaffung von Handschriftenkopien, Dr. Anna Martin für die finale Korrektur des Abstracts. Für Hilfe bei der Beschaffung von teilweise schwer zugänglicher Literatur gilt mein Dank allen hilfsbereiten Angestellten in den verschie- Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 10 Vorwort <?page no="11"?> denen Bibliotheken in Basel, Freiburg und Zürich, und im Besonderen Ulrike Marx, der ich darüber hinaus herzlich dafür danke, dass sie mich in den Phasen meiner Abwesenheit nicht nur bezüglich Neuerscheinungen auf dem Laufenden hielt, mich immer wieder motivierte, mein Projekt nicht aufzugeben und mich dabei in all den Jahren in so vielfältiger Weise unterstützte. Ein herzlicher Dank geht auch an Dr. Julia Meier, die mein Manuskript korrigierte und mir die Schlussetappe von der angenommenen Dissertation zum gedruckten Buch mit nützlichen Hinweisen und stetiger Ermunterung erleichterte. Dr. Anna Katharina Richter danke ich für ihre umfassende Unterstützung bei der Erstellung der Druckfassung, Tilmann Bub, Barbara Landwehr und Sariya Sloan vom Narr Francke Attempto Verlag für ihre freundliche und kompetente Betreuung der Drucklegung. Schließlich danke ich all denen, die mich während des Doktorats auf die eine oder andere Weise unterstützt und mir so die Konzentration auf meine Arbeit ermöglicht haben: Meinen medizinischen Helfern, dank derer mit der Textgenese auch meine Genesung voranschritt, weiteren hilfreichen Wegbegleitern und ganz besonders meinen Freunden, denen auch für ihr anhaltendes Interesse an meiner Forschung und viele anregende Diskussionen ein herzlicher Dank gebührt. Widmen möchte ich sie allen, die infolge von anhaltender Gewalt in Kindheit und Jugend mit schweren Traumafolgestörungen zu kämpfen haben, insbesondere denen, die in der eigenen Familie misshandelt und missbraucht wurden. Ellen E. Peters Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 Vorwort 11 <?page no="12"?> Vorbemerkungen Zu den isländischen Eigennamen Im Altwie auch im Neuisländischen werden Eigennamen flektiert. In der vorliegenden Arbeit wird im deutschen Text einheitlich die Nominativform als Namensform verwendet und gegebenenfalls nach den Regeln der deutschen Sprache genitiviert. Isländischen Gepflogenheiten entsprechend, werden isländische Forschende mit Vornamen zitiert und im Literaturverzeichnis geführt. Zu den Übersetzungen Soweit nicht anders angegeben, stammen sämtliche Übersetzungen von der Verfasserin. Die altnordischen Zitate wurden mit größtmöglicher Nähe zum Original übertragen, so wurde insbesondere der für die Sagaprosa charakteristische Wechsel zwischen Präsens und Präteritum beibehalten. Skaldische Kenningar, die im Argumentationszusammenhang bedeutungslos sind, werden in der Übersetzung jedoch aufgelöst. Gender-Hinweis Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet. Soweit nicht anders kenntlich gemacht, beziehen sich Personenbezeichnungen auf alle Geschlechter. <?page no="13"?> Fólk efast of mikið. Það á að trúa því sem stendur í Íslendingasögunum og í Biblíunni og því sem gamla fólkið segir. (Viktor Arnar Ingólfsson, Flateyjargáta) 1 1 Einleitung 1.1 Die Íslendingasögur - bedeutungsvolle Vergangenheit Die isländische Sagaliteratur ist einzigartig unter der europäischen Literatur des Mittelalters, die Íslendingasögur (Isländersagas) sind es in ganz besonderem Maß: In der für Sagas typischen, teils mit Skaldenstrophen durchsetzten Prosa berichten sie von der Auswanderung aus Norwegen, der Besiedelung Islands, dem Aufbau eines neuen Gemeinwesens und den damit verbundenen Auseinandersetzungen um Ehre, Macht oder Liebe, aber auch von Zauber, Wiedergängern und anderen übernatürlichen Erscheinungen. Ihre nüchterne und realistische Darstellung gemahnt an den historischen Roman (dazu Harris 1986), im Unterschied zu diesem bleibt jedoch manches ungesagt, was die Zusammenhänge erhellen würde, da die Íslendingasögur im Mittelalter vor dem Hintergrund einer lebendigen mündlichen Überlieferung entstehen und rezipiert werden. Dem modernen Leser geben sie Einblick in eine archaische Welt, die vertraut und fremd zugleich erscheint: Eindrückliche Charaktere und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen bebildern die isländische Landschaft und führen dabei menschliche Schicksale vor Augen, in denen sich Universalien menschlichen Verhaltens und Erlebens zeigen, sich aber auch das fremdartige Weltbild einer vormodernen Gesellschaft spiegelt. Ebenfalls einzigartig ist die jahrhundertelange handschriftliche Transmission der Sagaliteratur, die von der Bedeutung dieser Texte auch für die nachmittelalterliche isländische Gesellschaft zeugt (dazu Glauser 2011: 92 - 97). Auch in dieser Hinsicht sind die Íslendingasögur extraordinär, haben sie sich doch ihre Bedeutungsträchtigkeit bis in die Gegenwart bewahrt und nehmen einen ganz besonderen Stellenwert in der isländischen Gesellschaft ein. Nicht nur in Literatur, 2 Theater (Sveinn Yngvi Egilsson 2004: 114 - 116) und Film (Lachmann/ Lange-Fuchs 1993: 102 - 105), 3 sondern auch im isländischen Alltag sind sie sehr präsent: Die Straßennamen 1 Viktor Arnar Ingólfsson (1982: 61; Die Leute zweifeln zu viel. Sie sollten das glauben, was in den Isländersagas und in der Bibel steht und das, was die alten Leute sagen.). 2 Die bekannteste Verarbeitung einer Íslendingasaga ist sicher der 1952 erschienene Roman Gerpla (dt. Die glücklichen Krieger, 1977/ 1991) des isländischen Nobelpreisträgers Halldór Laxness, ein an die Fóstbr œ ðra saga angelehntes Saga-Pastiche und mittlerweile selbst ein Klassiker. Im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jh. knüpfen beispielsweise Einar Kárason (Norðurljós, 1998), Ármann Jakobsson (Glæsir, 2011) oder Kristof Magnússon (in seinem auf Deutsch verfassten Debütroman Zuhause, 2005) mit Figuren und Handlung an die Íslendingasögur an, dazu finden sich kürzere Anspielungen auf diese in zahlreichen weiteren belletristischen Texten. 3 Zu den Kinofilmen, auf die oben verwiesen wird, kommen auch in jüngerer Zeit diverse Fernsehfilme. Aufsehen erregte der provokative Kurzfilm Brennu-Njálssaga, ein Frühwerk (1981) des später international bekannten isländischen Regisseurs Friðrik Þór Friðriksson, in dem er mit der Doppeleines <?page no="14"?> Viertels in Reykjavík sind nach den Hauptfiguren der bekanntesten Íslendingasögur benannt (dazu Jón Karl Helgason 1999: 137 - 139), eine der beiden großen isländischen Brauereien, Ölgerðin Egill Skallagrímsson, trägt den Namen eines der größten Helden der Íslendingasögur und auf Island vertriebene Feuerwerkskörper sind nach aus den Íslendingasögur bekannten Charakteren benannt, um nur ein paar augenfällige Beispiele zu nennen. Überhaupt ist die Erinnerung an die Íslendingasögur und ihre Protagonisten in Form von Skulpturen oder Hinweisen auf geschichtsträchtige Orte geradezu in die isländische Landschaft eingeschrieben. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass sie die isländische Identität maßgeblich prägten und in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Isländer noch immer eine sehr bedeutende Rolle spielen. 4 Lange Zeit als ‚ heilige Schriften ‘ angesehen (vgl. Jónas Kristjánsson 1994: 288) und teilweise gar mit der Bibel gleichgesetzt, waren die Íslendingasögur ein wesentlicher Faktor im Streben um die 1918/ 44 dann errungene nationalstaatliche Unabhängigkeit (Gísli Sigurðsson 1996a: 42 - 46). Auch eine Charakterisierung des modernen Island als Buchnation und „ Kultur des Worts “ (Glauser 2011: 11) ist ohne sie kaum vorstellbar. 5 Mit Beginn des 21. Jh.s ist diese kulturelle Bedeutung der Íslendingasögur immer mehr in den Fokus der Forschung gerückt und führt zunehmend zu einem neuartigen Verständnis, das den sinnstiftenden Charakter der Texte geltend macht, wie die Darstellungen der Gattung in der jüngsten Generation von Literaturgeschichten und -handbüchern zeigen. So betont Vésteinn Ólason (2005: 106), dass die Íslendingasögur weder die Welt repräsentieren, in der die erzählten Ereignisse angesiedelt sind, noch diejenige, in der sie niedergeschrieben wurden, sondern vielmehr Geschichte schaffen und so Teil der Textualisierung der isländischen Geschichte, sowie der Weltgeschichte im weiteren Sinne, sind. Die einzelnen Sagas versteht er dabei als Miniaturausgaben der „ greater history of the nation “ , hinter denen ein zentraler Mythos, „ a master-narrative “ , steht: „ All the sagas are like fragments of one single saga of destiny “ (112). Auch Heiko Uecker (2004: 114) stellt den Aspekt der Konstruktion von Geschichte ins Zentrum seiner Darstellung der Íslendingasögur. Für ihn sind diese „ zwischen Faktizität und Fiktionalität “ anzusiedelnde „ Geschichtsdichtung “ und damit Konstruktion und Deutung der isländischen Geschichte aus der Perspektive des 13. Jh.s: „ [E]s wird ein Erinnerungsraum gezimmert, im Akt des Erzählens wird Geschichte erst geschaffen und Vergangenheit konstruiert. “ Zu einem Schluss, der zwar nicht explizit die Konstruktion von Vergangenheit als Kern der Íslendingasögur deutigkeit des Titels der Saga spielt und das Durchblättern und die anschließende Verbrennung einer Ausgabe der Njáls saga zeigt. 4 Wenig verwunderlich also, dass mit dem Auftritt von Island als Gastland der deutschen Buchmesse 2011 in Frankfurt unter dem Motto „ Sagenhaftes Island “ auch eine mehrbändige Neuübersetzung der Íslendingasögur (Böldl/ Vollmer/ Zernack 2011) veröffentlicht wurde. 5 Wie Glauser (2011: 10 - 11) betont, „ lässt sich Islands Geschichte am besten als eine Geschichte seiner sprachlichen Phänomene verstehen, erschließt sich seine Kultur vorwiegend über die Dichtung. “ Er konstatiert deshalb „ Island kann ohne Übertreibung als eine Kultur des Worts, seine Literaturgeschichte als ein großer Intertext bezeichnet werden, und die isländische Geschichte stellt sich vornehmlich als eine Textgeschichte dar: Wie alle Geschichte besteht auch die Geschichte Islands aus Geschichten, das heißt, sie baut auf Narrativen auf, ist textuell verfasst. Ausgeprägter als in anderen Fällen ist aber diese Geschichte eigentlich kaum anders denn als eine Geschichte seiner Texte, als eine Art Literaturgeschichte, zu lesen. “ Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 14 1 Einleitung <?page no="15"?> ausmacht, aber implizit doch darauf verweist, kommt auch Else Mundal (2004: 292). Sie vermerkt, dass die Íslendingasögur „ gjev seg ut for å fortelje om fortida, men det dei eigentleg gjev, er 1200-talet sitt bilete af fortida “ . 6 Sverrir Tómassons Charakterisierung als fiktionale Erzählungen von Vergangenheit, somit „ interpretations “ (2006: 123), ist dieser Aspekt der Konstruktion ebenfalls inhärent. Am deutlichsten betont ihn Jürg Glauser in seiner dezidiert kulturwissenschaftlich ausgerichteten Darstellung, die die Íslendingasögur in Anlehnung an Jan Assmann als Medien des kulturellen Gedächtnisses versteht. Als ‚ formative ‘ Texte stehen sie in engem Zusammenhang mit der isländischen Ethnogenese und zählen zu den fundierenden Erzählungen der Isländer: In these stories, representing with their particular fictionality new social spaces, there is recorded a self-constructed memory of the emigration, the settlement, the re-building of a society and a religious conversion which are epochmaking events for the Icelanders. (Glauser 2000a: 215) 7 Implizit oder explizit bringen somit sämtliche Darstellungen der Íslendingasögur neueren Datums zum Ausdruck, dass die Konstruktion von Vergangenheit ein wesentliches Charakteristikum der Gattung darstellt. Sagaforschung im 21. Jh. ist speziell im Falle der Íslendingasögur schwer vorstellbar, ohne diesem Aspekt eine zentrale Bedeutung zuzumessen. Die kulturwissenschaftlich orientierte Sichtweise verspricht dabei neue Erkenntnisse hinsichtlich der Gattung als Ganzes, aber auch in Bereichen, die bislang nur wenig Beachtung fanden. Diese Arbeit ist einem dieser bislang eher wenig beachteten Sujets der Sagaforschung gewidmet, den sog. ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur des Spätmittelalters, die ich anknüpfend an Glausers Verständnis der Texte als Träger des kulturellen Gedächtnisses im Sinne Assmanns neu beleuchten möchte. 8 1.2 Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga: Forschungsstand Das Stichwort ‚ Íslendingasaga ‘ ruft zunächst einmal etwa ein knappes Dutzend Werke in das Gedächtnis - Egils saga, Eyrbyggja saga, Gísla saga, Grettis saga, Hrafnkels saga, Laxd œ la saga, Njáls saga, um die berühmtesten unter ihnen zu nennen - , die auch im Zentrum der wissenschaftlichen Diskussion stehen. Insgesamt werden jedoch (je nach Zählweise) 35 - 40 Werke zu den Íslendingasögur gezählt, wobei sich die einzelnen Werke zum Teil beträchtlich in Umfang, Stil, Aufbau und Fokus, der auf einer Person oder Familie, einem Landstrich oder einem bestimmten Ereignis liegen kann, unterscheiden (Heusler 1941: 221 - 222). Häufig werden die Íslendingasögur in frühe, klassische und ‚ postklassische ‘ Werke unterteilt, wobei immer wieder betont wird, dass sich letztere deutlich von den übrigen abheben (siehe z. B. Mundal 2004: 290, Vésteinn Ólason 2005: 114, Sävborg 6 vorgeben, von der Vergangenheit zu erzählen, was sie aber eigentlich wiedergeben, ist das Bild des 13. Jh.s von der Vergangenheit 7 Darauf aufbauend auch die Darstellung der Íslendingasögur in Skandinavische Literaturgeschichte, 2006 erstmalig und 2016 in überarbeiteter Neuauflage erschienen (Glauser 2006, 2016). 8 In Klammern die vollständigen Titel bzw. Alternativbezeichnungen in Handschriften und Forschungsliteratur. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.2 Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga: Forschungsstand 15 <?page no="16"?> 2012a: 53 - 54). Der Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga werden im Allgemeinen die folgenden Sagas zugerechnet: 9 • Bárðar saga (Bárðar saga Snæfellsáss) • Finnboga saga (Finnboga saga ramma) • Fljótsdæla saga (auch Droplaugarsona saga hin meiri) • Flóamanna saga (auch Þorgils saga Örrabeinsfóstra) • Grettis saga auch (Grettis saga Ásmundarsonar ins sterka) • Gunnars saga Keldugnúpsfífls • Harðar saga (Harðar saga Grimkelssonar, auch Harðar saga ok Hólmverja, Hólmverja saga) • Hávarðar saga (Hávarðar saga Ísfirðings) • Kjalnesinga saga (auch Búa saga Andriðasonar oder Búa saga Esjufóstra) • Króka-Refs saga • Svarfd œ la saga • Þórðar saga hreðu • Þorskfirðinga saga (auch Gull-Þóris saga) • [Þorsteins saga Síðu-Hallssonar] 10 • Víglundar saga (Víglundar saga væna, Víglundar saga og Ketilríðar oder auch Þorgríms saga prúða) ‚ Postklassisch ‘ wird zumeist mit einer Entstehungszeit im späten Mittelalter, d. h. ab 1300 gleichgesetzt, allerdings beruht die Untergliederung der Gattung weniger auf einer gesicherten Datierung der Entstehung als vielmehr auf charakteristischen Merkmalen einzelner Sagas. Traditionell werden die als ‚ postklassisch ‘ bezeichneten Íslendingasögur tatsächlich auf das Spätmittelalter datiert, allerdings besteht eine problematische Wechselwirkung zwischen Datierung und Klassifizierung, wie Daniel Sävborg (2012: 31) feststellt: „ Sagorna har i hög grad daterats utifrån de typiska dragens antagna ålder, samtidigt som de typiska dragen i hög grad daterats utifrån sagornas antagna ålder. “ 11 Dem Konzept der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga liegt das traditionell von der Sagaforschung vertretene dreigliedrige Entwicklungsmodell zu Grunde, dem zufolge einer Periode des Aufstiegs eine der Blüte und schließlich eine des Niedergangs folgt (dazu Glauser 2013). Dieses Schema wurde im Laufe der Zeit verschiedentlich modifiziert. So werden mittlerweile die einzelnen Phasen nicht mehr klar voneinander abgegrenzt, sondern überlappen sich deutlich (Vésteinn Ólason 2005: 116), zudem wird das Spätmittelalter nicht mehr als Zeit des Niedergangs, sondern als Umbruchszeit verstanden. Auch die teilweise extreme Abwer- 9 Die genannten Werke werden von Vesteinn Ólason (2005) im Kapitel „ Family sagas “ in A Companion to Old Norse Icelandic Literature and Culture, anknüpfend an seine Darstellung in Íslensk bókmenntasaga (Vésteinn Ólason 1993) der Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga zugeordnet. Dieser Einteilung folgt auch Else Mundal (2004) in Handbok i norrøn filologi, das 2013 neu aufgelegt wurde (Haugen 2013) und 2007 unter dem Titel Altnordische Philologie auch in deutscher Übersetzung erschien (Haugen 2007), womit sie die aktuell am weitesten verbreitete und einflussreichste Darstellung der Gattung darstellt. 10 Die Þorsteins saga Síðu-Hallssonar wird in der Regel sonst nicht zu den ‚ postklassischen ‘ Vertretern gerechnet, woran sich auch diese Untersuchung anschließt (vgl. dazu unten S. 26). 11 Die Sagas wurden weitestgehend auf der Grundlage des angenommenen Alters ihrer typischen Merkmale datiert, während gleichzeitig die typischen Merkmale weitestgehend auf der Grundlage des angenommenen Alters der Sagas datiert wurden. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 16 1 Einleitung <?page no="17"?> tung, die die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur analog zu den Fornaldarsögur und Märchensagas als ‚ Verfallsprodukte ‘ erfuhren (ausführlich dazu Kap. 3.4), ist mittlerweile ad acta gelegt. Allerdings wirkt die Verfallsthese doch deutlich nach, insofern als die ‚ postklassischen ‘ Vertreter mit Ausnahme der Grettis saga, die in verschiedener Hinsicht eine Sonderstellung unter diesen einnimmt, 12 wenig bis keine Aufmerksamkeit erhalten (vgl. Sävborg 2012: 20 - 22). Zwar rückt die sog. ‚ postklassische ‘ Literatur des Spätmittelalters seit einigen Jahrzehnten zunehmend in den Fokus, jedoch fanden bislang vornehmlich die als typisch spätmittelalterlich angesehenen Gattungen intensivere Beachtung, während die spätmittelalterliche Phase der Gattung Íslendingasaga erst allmählich in das Bewusstsein der Forschung dringt. 13 Obwohl die ‚ postklassischen ‘ Vertreter mehr als ein Drittel aller zur Gattung gezählten Werke ausmachen, wird die Gattung mehr oder minder ausschließlich über die frühen/ ‚ präklassischen ‘ und ‚ klassischen ‘ Vertreter definiert, während die Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga als nicht-genuines Anhängsel erscheint oder größtenteils mehr oder minder ignoriert wird (vgl. Sävborg 2012a: 22 - 30). Als charakteristisch für ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga gilt insbesondere ein starkes Interesse an übernatürlichen Wesen und Erscheinungen sowie eine deutliche Neigung zur Übertreibung, was zumeist unter dem Überbegriff des Phantastischen subsumiert wird (dazu Vésteinn Ólason 2007a). 14 Thingprozessen kommt in den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur eine eher marginale Rolle zu, im Gegensatz zu den übrigen Vertretern der Gattung, die auch auf Familien oder die Bewohner bestimmter Landstriche fokussieren, erzählen sie in der Regel biographisch. Neben Übernahmen aus älteren Werken wird zudem ihre im Vergleich mit den klassischen Vertretern in verschiedener Hinsicht stereotype Darstellungsweise betont. So werden Figurengestaltung und Handlungsentwicklung im Allgemeinen als schablonenhaft charakterisiert und auf die in den ‚ postklassischen ‘ Werken deutlicher hervortretenden Gattungsstereotypen verwiesen. Zudem wird den ‚ postklas- 12 Es wird in der literarischen Qualität, im aufgrund zahlreicher Spannungsbögen sehr ausgeprägten Unterhaltungscharakter und nicht zuletzt in der Figur des Protagonisten selbst, die sowohl kollektive als auch individuelle Identifikationsmöglichkeiten anbietet, gründen, dass die Grettis saga trotz aller ‚ postklassischen ‘ Charakteristika nicht das Schicksal der anderen ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur teilt, sondern im Gegensatz zu diesen einen der bekanntesten und beliebtesten Vertreter der Gattung darstellt, dem auch die Forschung durchweg überdurchschnittlich viel Beachtung schenkt. 13 Wie jüngere Veröffentlichungen zeigen, nimmt die Sagaforschung mittlerweile zunehmend auch die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur in den Blick. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere eine Monographie von Rebecca Merkelbach (2019), die sich mit Monstrosität in den Íslendingasögur auseinandersetzt. Die vorliegende Studie war bei Erscheinen dieser und weiterer Analysen, die auch die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur miteinbeziehen, bereits abgeschlossen, weshalb diese leider keine Berücksichtigung finden konnten. Da sie aufgrund eines andersartigen thematischen Fokus nicht in wesentlichem Zusammenhang mit der zentralen Argumenation der vorliegenden Arbeit stehen und es eine weitere Verzögerung der Veröffentlichung bedeutet hätte, sie aufzugreifen, schien ein solches Vorgehen zwar bedauerlich, aber entschuldbar. 14 Vésteinn Ólason (2007a: 9) unterteilt das für die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur charakteristische „ fantastic element “ in „ the supernatural category “ und „ the category of fantastic imagination “ . Die Gleichsetzung von Übernatürlichem und Phantastischem wird in der Sagaforschung allerdings auch problematisiert, so von Mundal (2006: 718 - 726), nach deren Ansicht die Grenzlinie zwischen Übernatürlichem und Phantastischem von Bedeutung ist, da sie jeweils in einem anderen Verhältnis zur Wahrheit stehen. Zugleich ist diese Grenzlinie jedoch auch unscharf, da zahlreiche unterschiedliche Faktoren determinieren, was als Wahrheit angesehen wird. Die Kombination von Realem und Übernatürlichem ist ihrer Ansicht nach eine logische, da das Übernatürliche als Geglaubtes ebenfalls real ist, was auf das Phantastische nicht zutrifft. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.2 Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga: Forschungsstand 17 <?page no="18"?> sischen ‘ Íslendingasögur vor allem in der Motivik eine deutliche Nähe zu anderen Sagagattungen attestiert, weshalb sie auch als ‚ gattungshybrid ‘ bezeichnet werden. 15 Betont werden zumeist insbesondere die Gemeinsamkeiten mit den Fornaldarsögur und die Neigung, Volkssagen zu integrieren, darüber hinaus finden sich jedoch auch Einflüsse von übersetzten und originalen Riddarasögur, hagiographischer Literatur und der Bibel (Vésteinn Ólason 2007b: 45). Ausgehend von diesen Feststellungen wird die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga als ‚ phantastisch ‘ und ‚ unrealistisch ‘ definiert und so von den als realistisch beurteilten übrigen Vertretern der Gattung abgegrenzt. Ein Alleinstellungsmerkmal der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur sind unrealistische und phantastische Elemente jedoch keineswegs. So enthalten auch die meist geschätzten der klassischen Íslendingasögur nicht wenige Szenen mit übernatürlichem oder phantastischem Charakter. 16 Wie Sävborg (2009) zeigt, lässt sich das Übernatürliche in den Íslendingasögur generell unterscheiden in Szenen, in denen Übernatürliches mittels Distanzmarkern als verwunderlich und fremd gekennzeichnet wird, und Szenen, in denen derartige Distanzmarker fehlen. Die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur lassen sich allerdings anhand dieses Merkmals nicht eindeutig von den ‚ klassischen ‘ unterscheiden, wenngleich das Übernatürliche in ihnen in einzelnen Fällen dem in den Fornaldarsögur näher steht. Auch Übertreibung ist nicht unüblich in den frühen und klassischen Íslendingasögur, sondern wie Paul Schach (1981: 404) betont „ ein ebenso wichtiges und wirkungsvolles Stil- und Erzählmittel [ … ] wie die viel besprochene und bewunderte Untertreibung “ , was er anhand zahlreicher Beispiele, darunter etlichen aus frühen oder klassischen Sagas, illustriert. 17 Wie Margaret Clunies Ross (1997) aufzeigt, ist das Nebeneinander von realistischem und phantastischem Erzählen von Anbeginn charakteristisch für die Sagaliteratur. Ein klarer Gegensatz zwischen einer historisch-realistischen Erzählweise und einer unterhaltend-phantastischen Erzählweise gibt sich nicht zu erkennen, vielmehr zeigt sich eine in unterschiedlichem Ausmaß vorhandene Kombination der verschiedenen Erzählmodi in einzelnen Texten und Textgattungen. Im Spätmittelalter kommt dem Phantastischen dann generell eine größere Bedeutung zu. 15 Gelegentlich werden einzelne Werke auch anderen Gattungen zugerechnet. Marina Mundt plädiert dafür, die Finnboga saga zu den Fornaldarsögur zu rechnen (1993: 39, vgl. auch 185 - 190), zu denen auch die Bárðar saga gelegentlich gezählt wird. Die Víglundar saga dagegen wird häufig als romance saga gelesen (Beispiele dafür in Peters 2018: 304 - 305). 16 Man denke an den aus seinem Grabhügel steigenden und eine Strophe sprechenden Gunnarr in der Njáls saga oder die Ereignisse um Þórólfr bægifótr, den bösartigen Wiedergänger in der Eyrbyggja saga, um nur zwei der bekanntesten Beispiele zu nennen. Zahlreiche weitere Beispiele finden sich bei Bayerschmidt (1965). Die von Vésteinn Ólason (2007b: 37) als paradigmatisch für den Realismus der klassischen Íslendingasaga herangezogene Njáls saga wird im Übrigen von Árni Magnússon als Paradebeispiel für die übertriebene Darstellung der Íslendingasögur im Allgemeinen angeführt (Jón Helgason 1980: 49), ausführlicher dazu Kap. 3.1.1). 17 Eines der bekanntesten unter diesen Beispielen ist sicher Skalla-Grímr in der Egils saga (ÍF II: 79), der zunächst alleine mit einem Achtruderer auf See rudert, dort taucht und einen Stein für seine Schmiede hebt, mit dem er dann zurück rudert, wobei die Saga zum Stein anmerkt „ ok munu nú ekki meira hefja fjórir menn “ (und nun können ihn keine vier Männer mehr heben). Von den Übertreibungen in der Finnboga saga, einer in dieser Hinsicht als paradigmatisch für die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur geltenden Saga, unterscheidet sich dieses Beispiel, wie Schach (1981: 401) betont, lediglich stilistisch: „ So nüchtern und geschickt hat Snorri diese übermenschliche Leistung dargestellt, daß sie beinahe glaubhaft wirkt. Diese Leistung bleibt aber trotz ihrer kunstvollen Darstellung nicht weniger übertrieben als die plumpburlesken [sic] Kraft- und Gewalttaten Finnbogis. “ Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 18 1 Einleitung <?page no="19"?> The so-called ‚ post-classical ‘ literature of Iceland, as the rest of late medieval Europe, takes off from the mixed modality of earlier vernacular writing to develop the fantastic dimension of the fictional imagination to a greater degree than its predecessors [ … ]. (Clunies Ross 2002: 453) Für die Íslendingasögur konstatiert Vésteinn Ólason (2007a: 18) eine quantitative, keine qualitative Zunahme der phantastischen Elemente im Laufe der Gattungsentwicklung, 18 die im Allgemeinen als Entfernung vom berühmten ‚ Sagarealismus ‘ beschrieben wird. 19 Mundal betont dabei vor allem die zunehmende Loslösung von mündlicher Überlieferung und Geschichte: Medan islendingesogene på 1200-talet er fast forankra i den islandske historia og realismen, og gjev seg ut for å fortelje om historiske hendingar som fann stad ein gong for lenge sidan, taper dei yngste sogene fotfeste i historia. Nokre av dei unge sogene kan byggje på tradisjon, andre kan vere reine forfattarprodukt. (Mundal 2004: 290) Während die isländischen Sagas im 13. Jh. fest in der isländischen Geschichte und im Realismus verwurzelt sind und den Eindruck erwecken, von historischen Ereignissen zu erzählen, die sich vor langer Zeit zutrugen, verlieren die jüngsten Sagas den Halt in der Geschichte. Manche der jungen Sagas können auf Tradition beruhen, andere sind reine Verfasserprodukte. Die auf dem Gegensatz von ‚ realistisch ‘ und ‚ fiktiv ‘ erfolgende Abgrenzung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur hat eine lange Tradition in der Sagaforschung und spielt vor allem in Fragen der Datierung noch immer eine bedeutende Rolle (Glauser 2013), was aus der Perspektive moderner Literaturtheorie „ rather absurd “ erscheint, wie Glauser (2013: 25) anmerkt. Nicht unproblematisch ist auch die Abgrenzung, die Vésteinn Ólason formuliert, der auf die sich verändernde Rolle der Verfasser und der Texte selber fokussiert: As the Íslendingasögur proliferated and their form established itself, the freedom which authors felt able to exercise in reworking old narrative material must have increased, as must the ability and inclination of authors to make their sagas engage with general ideas [ … ]. More clearly than ever before, the sagas are now [= in the fourteenth century] works of entertainment. (Vésteinn Ólason 2005: 114) Nach Ansicht von Clunies Ross (2002: 446) vermischt er dabei zwei verschiedene Sachverhalte, die Rolle des Autors einerseits und Charakter und Ausmaß literarischer Phantasie in einzelnen Werken andererseits. Clunies Ross (2002: 449) weist zudem darauf hin, dass Phantastik und Realität nicht unbedingt gegensätzlich sind: „ A saga writer who treats a subject in fantastic mode may be as engaged with ‚ reality ‘ as he perceives it, as when he writes objectively and creates an impression of realism. “ Weitere Probleme, die mit der aktuellen Definition der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga auf der Unterscheidung von realistisch/ phantastisch verbunden sind, machen jüngere Auseinandersetzungen mit verschiedenen Aspekten der Subgattung und Detailanalysen einzelner Werke deutlich. So spielt phantastisches Erzählen auch vor dem Spätmittelalter eine weit größere Rolle als die Sagaforschung lange Zeit bereit war einzugestehen (Clunies Ross 1997: 449). Wie Sävborg zeigt, sind etliche als typisch ‚ postklassisch ‘ geltende phantastischen Elemente bereits im 18 Siehe dazu auch Mundal (2006), deren Charakterisierung phantastischer Elemente in Íslendingasögur und Fornaldarsögur verdeutlicht, dass die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur auch in dieser Beziehung an die übrigen Íslendingasögur anknüpfen. 19 Ein mimetisches Verhältnis der Texte zur gelebten Realität ist nach Vesteinn Ólason (2007b) kennzeichnend für diesen Sagarealismus. Zum Sagarealismus siehe auch Mundal (2004: 301 - 302). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.2 Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga: Forschungsstand 19 <?page no="20"?> 13. Jh. nachweislich mit den Protagonisten einzelner ‚ postklassischer ‘ Sagas verknüpft (Sävborg 2012a: 33 - 35). Auch für die Annahme, dass es sich bei diesen Werken um ursprünglich realistische Sagas handelte, die im späten Mittelalter gravierend umgearbeitet wurden und erst dann ihren phantastischen Anstrich erhielten, finden sich keine Belege. Entgegen der verbreiteten Annahme, die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur seien unter dem Einfluss der Fornaldarsögur entstanden oder umgearbeitet worden, legt Sävborg (2012a: 41, 2012b) zudem dar, dass etliche der als typisch ‚ postklassisch ‘ eingestuften Elemente Teil älterer mündlicher Überlieferung sind und dass die ältesten ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur vermutlich vor den ersten Fornaldarsögur entstanden. Er kommt infolgedessen zum Schluss, dass die chronologische Erklärung für die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga versagt und die Gleichsetzung von spätmittelalterlich und ‚ postklassisch ‘ zwar in vielen Fällen, jedoch nicht immer adäquat ist (Sävborg 2012a: 51 - 52). Darüber hinaus weist er darauf hin, dass sich der typische ‚ klassische ‘ Stil der Íslendingasögur erst im 14. Jh. herausbildet, was im Widerspruch zu einem zeitgleichen Niedergang der Gattung steht und den entstehungsgeschichtlichen Kontext der spätmittelalterlichen Werke in einem anderen Licht erscheinen lässt (Sävborg 2012a: 32). So wenig das Phantastische und Unrealistische typisch spätmittelalterlich ist, so wenig ist die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga typisch phantastisch oder unrealistisch. Die Þórðar saga hreðu enthält keinerlei phantastischen Elemente, 20 die Fljótsdæla saga lässt sich abgesehen von einem Märchenmotiv zu Beginn ebenfalls nicht von den als realistisch angesehenen Íslendingasögur unterscheiden und auch die Finnboga saga, die zu Beginn etliche märchenhafte und teils phantastische Motive enthält, ist ansonsten eher mit diesen zu vergleichen (Vésteinn Ólason 2007a: 11). Teilweise kommt die Forschung darüberhinaus zu höchst unterschiedlichen Beurteilungen des phantastischen Gehalts eines einzelnen Werkes. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Þorskfirðinga saga, deren Protagonist Gull-Þórir zu Beginn der Erzählung eine utanferð (Reise von Island weg) unternimmt, auf der er einen Schatz von einem Drachen erbeutet und von dem abschließend berichtet wird, dass er sich nach Meinung der Leute selbst in einen seinen Schatz bewachenden Drachen verwandelt habe. Für Vésteinn Ólason (2007a: 11, vgl. auch 16 - 17) zählt sie zu den Íslendingasögur, in denen dem Übernatürlichen eine wesentliche Bedeutung in der Gesamtstruktur zukommt. Phil Cardew (2004: 22) dagegen kommt zum Schluss, dass die an eine Fornaldarsaga gemahnenden phantastischen Elemente spärlich über die Saga verteilt sind und sich auf die am Anfang der Saga erzählte utanferð und einige wenige Hinweise innerhalb der übrigen Erzählung beschränken, wobei erstere zudem nicht nur phantastisch geprägt ist: „ In fact, if we remove the narrative of the strange events from the beginning of the saga, then its story proceeds in an entirely orthodox manner. “ Zudem wird die Unterscheidung von realistisch und unrealistisch/ phantastisch von einigen Vertretern der Subgattung in verschiedener Hinsicht ad absurdum geführt. Der Króka-Refs saga schreibt Frederic Amory (1988: 22) „ an illusion of realistic sobriety and 20 Vésteinn Ólason (2007a: 11) bezeichnet die Laufbahn des Protagonisten als „ unlikely but hardly fantastic “ , während Jón Torfason (1990: 128) im glücklichen Ausgang der Saga und der fehlenden Tragik sowie der schwachen Charakterzeichnung die wesentlichen Unterschiede zu den klassischen Íslendingasögur erkennt, jedoch auch betont, dass „ [n]ánast hver setning eða atvik í Þórðar sögu gæti forms og framsetningar vegna verið úr einhverri eldri sögu “ (beinahe jeder Satz oder jedes Ereignis in der Þórðar saga könnte der Form und Darstellung nach aus irgendeiner älteren Saga sein). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 20 1 Einleitung <?page no="21"?> verisimilitude “ zu und bezeichnet sie als „ a pearl of plausible fiction “ , Kendra Willson (2006: 1065) charakterisiert sie als „ realistic portrayal of the unrealistic “ . Für die Bárðar saga zeigt Ármann Jakobsson (1998: 56 - 58), dass sie trotz ihres teilweise nicht-menschlichen Protagonisten und all ihrer übernatürlichen Phänomene, die ein moderner Leser als unrealistisch empfindet, zur Zeit ihrer Entstehung durchaus als seriöses Geschichtswerk zu verstehen war, wie insbesondere die zum Großteil der Landnámabók entstammenden umfangreichen historischen Informationen und das Interesse der Saga für Toponyme deutlich machen. Als „ history of the trolls “ ist die Bárðar saga ebenso Bestandteil der isländischen Frühgeschichte wie die für einen modernen Leser realistisch(er) anmutenden älteren Íslendingasögur, wenngleich sie den modernen Anforderungen an ein geschichtliches Werk nicht gerecht wird (Ármann Jakobsson 1998: 53 - 55), und erfüllt als Ursprungsmythos, der die Existenz hilfreicher, in der Natur lebender Wesen erklärt, eine wichtige Funktion in der Definition isländischer Identität (Lindow 2009). Gleiches gilt für die Víglundar saga, die ihren romantischen und exempelhaften Inhalt ebenfalls in einem extrem realistischen Gewand präsentiert und dementsprechend im 17. Jh. auch für Erweiterungen der Landnámabók herangezogen wurde (Peters 2018: 296 - 305). Ein weiterer bislang nicht zufriedenstellend untersuchter Bereich innerhalb des Komplexes ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga eröffnet sich schließlich, wenn man sich der Frage nach einer Erklärung für die Andersartigkeit der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur zuwendet. Sävborg (2012a: 25 - 27) macht diesbezüglich zwei verschiedene Ansätze aus, die literarisch-generische sowie die mentalitätshistorische Erklärung, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Im 20. Jh. wurde mit ersterer vornehmlich der Einfluss von Fornaldarsögur und Märchensagas assoziiert, mit letzterer die durch den Verlust der isländischen Unabhängigkeit 1262/ 64 ausgelösten Veränderungen. Die aktuellen Gesamtdarstellungen der Gattung stellen die Situation etwas differenzierter dar, sofern sie explizit auf die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur eingehen. Als Ursachen für das sich verändernde Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter führen sie das allmähliche Versiegen mündlicher Überlieferungen (realistischer Natur oder ganz allgemein) an, sowie die sich verändernden Bedingungen der Sagaschreibung infolge der Etablierung der Íslendingasögur und anderer sich verbreitender Sagagattungen. Eine bedeutende Rolle wird auch der zunehmenden Distanz zur in den Íslendingasögur dargestellten Gesellschaft zugeschrieben, da sich die Erlebniswelt der spätmittelalterlichen Isländer aufgrund der sich mehr und mehr durchsetzenden christlichen Ideale gravierend von der frühen isländischen Gesellschaft unterscheidet (Vésteinn Ólason 2007a: 19 - 20). Eingehender und unter Bezugnahme auf verschiedene Werke hat sich mit der Frage nach den Hintergründen der Entstehung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur bislang nur eine einzige Studie auseinandergesetzt, The post-classical Icelandic family saga von Martin Arnold. Arnold (2003: 49 - 106) legt die nationalromantischen Hintergründe, die zur Kanonisierung der klassischen Íslendingasögur geführt haben, ausführlich dar, seine Ausführungen geben jedoch zu erkennen, dass er selbst noch deutlich der nationalromantischen Sichtweise verhaftet ist, wenngleich die Verfallsthese in seinen Ausführungen etwas moderater gewandet ist. So geht er von einem umfassenden gesellschaftlichen Verfall als Folge des Verlusts der Unabhängigkeit aus, der das späte Mittelalter prägt und schließlich im 17. und 18. Jh. seinen Tiefpunkt erreicht (59). Den politischen Wandel durch die Eingliederung in das norwegische Reich sieht er als Bruch mit weitreichenden Folgen für Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.2 Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga: Forschungsstand 21 <?page no="22"?> die traditionelle isländische Bauerngesellschaft, der in den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur literarisch zum Ausdruck gebracht wird (55). Die drohende Integration Islands in den norwegischen Machtbereich schärfte das Bewusstsein der Isländer für die eigene Identität, woraus die Entstehung der klassischen Íslendingasögur resultiert. Diese definieren dementsprechend mittelalterliche „ Icelandicness “ und bringen „ a consciousness akin to National Romanticism “ zum Ausdruck (47). 21 Während die klassische Saga versuche, Lösungen „ for Icelandic problems in Icelandic terms “ zu finden, ist nach Arnold (231) charakteristisch für die ‚ postklassische ‘ Saga, dass sie die Möglichkeit solcher Lösungen verneine und stattdessen „ a principle of threat that tends toward the destabilisation of the hero and of the community “ etabliere. Das Postulat einer gesellschaftlichen Destabilisierung infolge des Verlusts der Unabhängigkeit steht jedoch nicht in Einklang mit jüngeren Ergebnissen der Geschichtswissenschaften, nach denen dieser politische Wandel nicht, wie lange angenommen, gravierende soziale Veränderungen mit sich brachte, sondern die gesellschaftlichen Strukturen nur geringfügig veränderte (dazu Glauser 1983: 5 - 7, 36 - 60). 22 Die jüngere Sagaforschung versteht die Auswirkungen des Verlusts der isländischen Unabhängigkeit auf die Sagaliteratur zudem weniger destruktiv, als vielmehr konstruktiv. So betont Glauser (2000: 211 - 212), dass sich die Íslendingasögur erst infolge des mit dem Verlust der isländischen Unabhängigkeit einhergehenden Bruchs als Medien des kulturellen Gedächtnisses etablieren, um eben diesen Bruch zu überwinden. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass eine Destabilisierung von Held und Gesellschaft und die Negierung einer möglichen Lösung gesellschaftlicher Probleme keineswegs in sämtlichen ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur erkennbar ist, so dass die Subgattung damit mitnichten zufriedenstellend charakterisiert ist. Mit seiner Feststellung, die von ihm untersuchten Texte „ offer hyperbole, parody, unresolved tensions and the divided worlds of the human and the non-human, the inner community and the outer community “ , zeigt Arnold (2003: 230) einen bedeutenden Aspekt im ‚ postklassischen ‘ Erzählen der Íslendingasaga auf. Dieses ist jedoch weit vielschichtiger als in den von ihm behandelten Texten zum Ausdruck kommt, wobei einige der üblicherweise als ‚ postklassisch ‘ bezeichneten Werke auch in deutlichem Kontrast zu Arnolds Variante der Verfallsthese stehen. 23 Die Víglundar saga beispielsweise schildert zwar durchaus eine Bedrohung des Helden (und seines zentralen Anliegens, der Liebe zu seiner Auserwählten), doch gerade die Überwindung dieser steht im Zentrum der Erzählung. Die Saga führt konkrete Lösungen für die dargestellten Schwierigkeiten vor, hat eine positive Grundstimmung und einen glücklichen Ausgang, wobei der Protagonist deutlichen Vorbildcharakter hat (Peters 2018: 305 - 316). Búi, der Protagonist der Kjalnesinga saga, ist zwar ein gesellschaftlicher 21 Auf den Zirkelschluss dieser Argumentation weist Shawn F. D. Hughes (2005b: 147) in seiner Rezension von The post-classical Icelandic family saga mit Recht hin. 22 Für die Mehrheit der Isländer bedeutete die Eingliederung in das norwegische Reich schlicht Frieden und Versorgungssicherheit mit wichtigen Handelsgütern, lediglich für die Herrschenden der Oberklasse, die zuvor autonomen Häuptlinge, stellte der Verlust der Unabhängigkeit „ a historic rupture “ dar, die ein neues Selbstverständnis nach sich zog (Meulengracht Sørensen 2001: 26). 23 Arnold (2003: Note, ohne Seitenangabe) erwähnt lediglich eingangs, dass das Hauptaugenmerk seiner Untersuchung auf „ sagas dating from the late thirteenth century onwards “ liegt, nennt jedoch nirgends sämtliche zur Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga gerechneten Werke. Zudem konzentriert er sich auf wenige Werke, die sich darüber hinaus thematisch ähneln, insofern der Protagonist jeweils ein Geächteter oder anderweitig ein Außenseiter ist. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 22 1 Einleitung <?page no="23"?> Außenseiter, den auch eine deutliche Nähe zum Übernatürlichen charakterisiert, doch obwohl er zum Schluss von seinem eigenen Sohn, den er mit einer nicht-menschlichen Frau gezeugt hat, getötet wird, ist er mitnichten Auslöser oder Element gesellschaftlicher Destabilisierung: Wie Robert Cook (1994) überzeugend darlegt, symbolisiert er vielmehr die Integration des irischen Elements in die isländische Gesellschaft. Auch eine „ skemmtisaga “ (Unterhaltungsgeschichte) wie die Þórðar saga hreðu (Jón Torfason 1990: 128), deren Protagonist integriertes und anerkanntes Mitglied der Gesellschaft ist, bis er im hohen Alter stirbt, passt nicht in Arnolds Bild. 24 Schließlich ist die von Arnold für die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga postulierte gesellschaftliche Destabilisierung und Anderweltlichkeit des Protagonisten auch in den von ihm ausführlich behandelten Werken keineswegs so eindeutig wie seine Darstellung nahelegt. So erringt der Protagonist der Króka- Refs saga seine Erfolge durchaus „ extra-societally through ruthlessness and ingenuity “ (Willson 2006: 1069), dennoch endet er als anerkanntes und geachtetes Gesellschaftsmitglied, das in einem Mönchskloster begraben wird und sich durch angesehene Nachkommen, darunter ein Bischof, auszeichnet. Dass Króka-Refr (Listen-Fuchs) schlussendlich vom König den Namen Sigtryggr (Siegessicherer) verliehen bekommt, markiert, wie Willson mutmaßt, „ Refr ’ s transition from extra-societal fox to member of human society. “ Dass die spätmittelalterlichen Íslendingasögur ein deutliches Interesse an Außenseitern zeigen, wurde auch anderorts verschiedentlich festgestellt. 25 Es ist Arnolds Verdienst, Aspekte dieses Außenseitertums aufzuzeigen und herauszuarbeiten, im Kontext anderer Lesarten sowie anderer ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur, die er außer Betracht lässt, wirkt seine Schlussfolgerung, dass die Íslendingasögur im Spätmittelalter einen gesellschaftlichen Verfall widerspiegeln, jedoch nicht überzeugend. Auch in modifizierter Form liefert die Verfallstheorie kein schlüssiges Deutungsmuster, in das sämtliche zur Subgattung gezählten Werke passen, nicht zuletzt, da sie einen weiteren zentralen Aspekt der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur außer Acht lässt: Diese zeigen eine klare Tendenz, die 24 In diesem Zusammenhang zeigt sich allerdings eine weitere Problematik von Arnolds Untersuchung. So rechnet er die gemeinhin auf Anfang/ Mitte des 13. Jh.s datierte Þórðar saga hreðu - sowie die ebenfalls spätestens Anfang des 13. Jh.s entstandene Finnboga saga - nicht wie ansonsten praktiziert zu den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur, da er den Beginn des Spätmittelalters nicht wie für Island üblich auf 1300 ansetzt, sondern (wie für Dänemark üblich) auf 1350. Was seine These stützt, trägt wenig dazu bei, Klarheit über die Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga zu schaffen, sondern verwässert ein ohnehin diffuses Bild weiter. Arnold scheint sich bezüglich der Datierung der Sagas auf Íslenzk fornrit zu stützen, geht allerdings nirgends auf die mit einer Datierung verbundenen Schwierigkeiten ein und orientiert sich klar am triadischen Modell. Fragwürdig ist die Ausgrenzung der genannten Sagas im Rahmen von Arnolds Argumentation auch deshalb, weil die allgemein verbreitetete Datierung auch ihre Entstehung ein bis zwei Generationen nach dem Verlust der isländischen Unabhängigkeit ansiedelt und sie somit gemäß Arnold in Zeiten des gesellschaftlichen Verfalls entstanden. Zu Arnolds Umgang mit der Þórðar saga hreðu konstatiert Elisabeth I. Ward (2012: 20): „ Had Arnold included Þórðar saga hreðu amongst the post-classical sagas, his thesis would have been grossly undermined, for Þórður is indeed the kind of hero a person does look up to and seeks to emulate. “ 25 So weist Vésteinn Ólason (1998: 186) darauf hin, dass die Helden der im Spätmittelalter entstandenen Íslendingasögur an die Grenzen der Gesellschaft und manchmal auch darüber hinaus gehen und setzt diese Distanz zur Gesellschaft in Beziehung zur Sichtweise dieser Werke auf die von ihnen dargestellte Vergangenheit: „ In these works the old commonwealth is viewed from a distance [ … .]. “ Glauser (2000b: 139 - 140) greift diese Beobachtung auf und konstatiert im Hinblick auf die Ränder spätmittelalterlicher Sagahandschriften: „ Den Rändern geographischer und mentaler Räume entsprechen in gewisser Weise die Marginalien des materiellen Textraums in den mittelalterlichen Handschriften. “ Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.2 Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga: Forschungsstand 23 <?page no="24"?> isländischen Ursprünge zu ‚ christianisieren ‘ (vgl. z. B. Cook 2004, Grønlie 2017, Peters 2018), was schwerlich mit der Verfallslogik in Einklang zu bringen ist und unbedingt hinreichend Beachtung finden muss, will man das Erzählen der Íslendingasaga umfassender begreifen. Eine zufriedenstellende Erklärung für die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga steht somit noch immer aus (vgl. Sävborg 2012a: 53 - 54). Dass die Klassifizierung als ‚ postklassisch ‘ nicht zwangsläufig mit im Spätmittelalter entstanden gleichzusetzen ist und die Subgattung sich wie dargelegt nicht als spätmittelalterliche phantastische, unrealistische Abweichung einer zuvor etablierten realistischen Gattung verstehen lässt, deutet darauf hin, dass mit der Verfallsthese auch das eng mit dieser verknüpfte triadische Modell zu verabschieden ist. Aktuell erscheint die Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga mehr als eine Art Sammelbecken für diejenigen Werke, die nicht der allgemein verbreiteten Vorstellung von einer Íslendingasaga entsprechen, denn als brauchbare Deutung der spätmittelalterlichen Entwicklung der Gattung. Die Unterscheidung von realistisch und unrealistisch/ phantastisch ist bei genauerer Betrachtung eine Gegenüberstellung von höchst unterschiedlichen Aspekten, die angeblich eindeutige Andersartigkeit der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur hält einer kritischen Auseinandersetzung nicht stand, sondern entpuppt sich als uneindeutig und schwer greifbar. Viele diesbezügliche Einschätzungen sind äußerst subjektiv und in Ermangelung einer klaren Argumentation schwer nachvollziehbar (vgl. Sävborg 2012a: 36 - 37), zum Teil widersprechen sich die Zuschreibungen deutlich. 26 Die Feststellung, „ we tend to make a distinction between narratives characterized by fantasy and those supposed to be a ‚ true ‘ imitation of the ‚ real ‘ world “ , die den Ausgangspunkt von Vésteinn Ólasons Auseinandersetzung mit den spätmittelalterlichen Íslendingasögur markiert (2007a: 7), mutet zugleich an wie eine pointierte Zusammenfassung der Diskussion um die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga generell. Es scheint an der Zeit, das Konzept der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga und damit zwangsläufig auch das Konzept der gesamten Gattung kritisch zu hinterfragen und das Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen der Sagaforschung neu zu beleuchten. Materielle Philologie und das Konzept des ‚ unfesten ‘ Textes und die mit dem Fokus auf die tatsächliche Überlieferung verbundene neue Sichtweise auf Fragen der Datierung und somit auch Klassifizierung, die jüngere Oralitätsforschung sowie nicht zuletzt kulturwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen in anderen Bereichen der Sagaliteratur haben die Sagaforschung in den vergangenen Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht vorangebracht, wurden bislang jedoch kaum explizit in Zusammenhang mit dem Phänomen der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga gebracht. 26 So zeigt sich immer wieder, wie subjektiv die Beurteilungen einzelner Sagas sind. Die Bárðar saga beispielsweise wird von Barraclough (2008: 16) als „ a conscious parody “ gelesen, Vésteinn Ólason (2007a: 17) dagegen erkennt „ no signs of being a parody or tongue-in-cheek comedy “ . Die Hávarðar saga wird von Durrenburger/ Durrenburger (1996: 31) als „ a critique of rapacious chieftains “ verstanden, nach Vésteinn Ólason (2007a: 12 - 13) aber ist sie „ created to evoke laughter “ , und „ not unlikely [ … ] intended as a parody or at least tongue-in-cheek comedy “ . Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 24 1 Einleitung <?page no="25"?> 1.3 Überlieferung, Datierung und Klassifizierung Während die Handlungszeit der Íslendingasögur relativ eindeutig festzumachen ist (grundlegend dazu Guðbrandur Vigfússon 1856), ist die genaue Entstehungszeit der Gattung sowie einzelner Werke vielfach debattiert. Bekanntlich sind die Íslendingasögur nur in Abschriften bewahrt, unter denen die jüngeren Papierhandschriften (17. - 19. Jh.) gegenüber den mittelalterlichen Pergamenten bei weitem in der Überzahl sind. Ausgehend von der Überlieferung müsste, wie Örnólfur Thorsson schon 1990 (36) betonte, das Spätmittelalter als die eigentliche Blütezeit der Íslendingasögur gelten: So existieren aus dem 13. Jh., das gemeinhin als die Hochzeit der Gattung gilt, lediglich mehr oder minder umfangreiche Bruchstücke von sechs Íslendingasögur, während vollständige Werke erst aus dem 14. Jh. und 15. Jh. überliefert sind. Etliche der Íslendingasögur sind gar erst in nachmittelalterlichen Handschriften vollständig bewahrt, von einigen existiert nicht einmal mehr ein mittelalterliches Fragment. 27 Zudem unterliegen die Texte im Laufe ihrer Transmission deutlichen Veränderungen, so dass die überlieferten Textträger allenfalls mehr oder minder spekulative Rückschlüsse auf die Gestalt ihrer Vorläufer erlauben. In ihrem Bestreben, Entstehung und Entwicklung der Gattung Íslendingasaga nachvollziehen zu können, umschiffte die Sagaforschung diese Problemlage, indem sie andere Datierungskriterien in den Vordergrund rückte, mit Hilfe derer das Gerüst einiger weniger mit relativer Sicherheit zu bestimmenden Werke aufgefüllt wurde. 28 Abhängigkeiten von anderen Werken, Virtuosität und Stil wurden so zentral für die Altersbestimmung einer Saga, während die handschriftliche Überlieferung im 19. und überwiegend auch im 20. Jh. keine oder nur eine unwesentliche Rolle spielt, wie Glauser (2013) anhand der Datierung der Íslendingasögur in den relevanten Literaturgeschichten der letzten 200 Jahre aufzeigt. Erst seit dem ausgehenden 20. Jh. gerät die tatsächliche Überlieferung allmählich mehr in den Fokus (Glauser 2013: 24). Traditionell ist die Datierung der Íslendingasögur in erster Linie geprägt von der Vorstellung, wie die Gattung entstand und sich entwickelte: „ In short, the concept of literature defines its dating “ (25). Von zentraler Bedeutung ist dabei sowohl im 19. als auch im 20. Jh. das im vorigen Kapitel angesprochene triadische Modell (dazu Glauser 2013: 13 - 28). Insbesondere die in verschiedenen Varianten überlieferten Sagas machen deutlich, dass den auf der Basis von derartigen Überlegungen gewonnenen Datierungen ein hohes Maß an Subjektivität innewohnt. 29 Bei zahlreichen ‚ postklassi- 27 Siehe dazu die Übersicht von Örnólfur Thorsson (1990: 39). Eine Übersicht des jeweils ältesten Manuskripts oder Fragments der einzelnen Íslendingasögur findet sich bei Vésteinn Ólason (2005: 114 - 115). 28 Grundlegend für die Sagadatierung ist noch immer Einar Ól. Sveinssons Dating the Icelandic sagas aus dem Jahr 1958 (dazu auch Torfi H. Tulinius 2013: 117 - 125), das jedoch in erster Linie die mit dieser verbundenen Schwierigkeiten aufzeigt, wie Mundal (2004: 290) treffend anmerkt. Zu aktuellen Auseinandersetzungen mit verschiedenen Aspekten und Problemen der Sagadatierung siehe Mundal (2013a). 29 So unterscheiden sich beispielsweise die Forschungsmeinungen bezüglich der in drei recht unterschiedlichen mittelalterlichen Varianten überlieferten Fóstbr œ ðra saga deutlich. Bislang konnte keine Einigkeit darüber erzielt werden, ob es sich bei ihr um eine frühe oder späte Saga handelt. Für eine frühe Entstehung sprechen sich Klaus von See (1976), Preben Meulengracht Sørensen (1999) und recht aktuell Theodore M. Andersson (2013) aus. Nach Meinung von Jónas Kristjánsson (1972) ist sie dagegen erst Ende des 13. Jh.s entstanden. Dieser Spätdatierung folgt auch Arnold (2003: 141 - 176) und führt aus, dass die Fóstbr œ ðra saga eine Entwicklung „ towards post-classicism “ zeige. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.3 Überlieferung, Datierung und Klassifizierung 25 <?page no="26"?> schen ‘ Vertretern kommt erschwerend hinzu, dass sie keiner intensiveren Betrachtung für wert erachtet wurden und dementsprechend die Datierung auch nicht auf einer eingehenden Analyse von Text und Überlieferung beruht (vgl. Jónas Kristjánsson 1994: 224). Auch in jüngerer Zeit finden sich noch erschreckend substanzlose Aussagen zur Altersbestimmung einzelner Werke, die lediglich im Hinblick auf die Persistenz der Verfallsthese und der damit verbundenen negativen Konnotation der spätmittelalterlichen Literatur aufschlussreich sind. 30 Wie problematisch eine auf der Basis subjektiver Überlegungen gewonnene Datierung einer Saga sein kann, wenn sie die tatsächliche Überlieferung außer Acht lässt, wird am Beispiel der nur in einer Handschrift aus dem 17. Jh. sowie in auf diese zurückgehenden Abschriften überlieferten Fljótsdæla saga besonders deutlich. Mit Kristian Kålund kam die Meinung auf, es handle sich bei ihr um ein Mitte des 16. Jh.s mit deutlichem Abstand zu den übrigen Vertretern der Gattung entstandenes Imitat, das aus antiquarischem Interesse angefertigt wurde oder den Versuch einer Wiederbelebung der Gattung darstellt (dazu Jón Jóhannesson 1950: XCII - C). Diese Datierung prägte das Verständnis der modernen Sagaforschung von der Fljótsdæla saga und erweist sich als recht zählebig, obwohl Stefán Karlsson bereits 1994 nach einer detaillierten codikologischen, paläographischen und linguistischen Analyse des einzigen Überlieferungsträgers zum Schluss kam, dass der auf uns gekommene Text auf eine Vorlage zurück gehen muss, die auf das 14. Jh. zu datieren ist: Einen vermeintlichen Anachronismus, der als schlagendes Argument für die Spätdatierung galt, entlarvt er als Fehldeutung, und zuvor besonders jung eingestufte Wortformen sind tatsächlich bereits im 14. Jh. belegt. 31 Da die Fljótsdæla saga keine unrealistische Saga ist, die die postulierten spätmittelalterlichen Verfallserscheinungen zu erkennen gibt, zugleich aufgrund fehlender Hinweise auf ein hohes Alter jedoch auch nicht auf das 13. Jh. datiert werden kann, ist die Kålundsche Schlussfolgerung vor dem Hintergrund des triadischen Modells nachvollziehbar, zeigt darüber hinaus jedoch vor allem auch, wie konstruiert dieses ist. 30 So klingt es wenig überzeugend, wenn Vésteinn Ólason (1993: 111) die fragmentarische Þorsteins saga Síðu-Hallssonar in wenigen Zeilen abhandelt und allein die als wenig kunstvoll beurteilte Komposition als Argument für eine wahrscheinliche Entstehung im Spätmittelalter heranzieht: „ Þorsteins saga hefur ekki verið neitt listaverk, og líklegt að hun hafi fremur verið samin á 14. en 13. öld. “ (Die Þorsteins saga war kein Kunstwerk, und wahrscheinlich wurde sie eher im 14. als im 13. Jh. geschrieben.) Tatsächlich ist die Þorsteins saga Síðu-Hallssonar nur in jungen Papierhandschriften überliefert, die ältesten zwei darunter sind in der 2. Hälfte des 17. Jh.s von Ásgeir Jónsson angefertigte Abschriften eines stark beschädigten und unvollständigen Pergamentcodex, der seit dem späten 18. Jh. verschollen ist. Der überlieferte Text weist, wie Einar Ól. Sveinsson (1958: 29, 100) bemerkt, allerdings einige üblicherweise als archaisch angesehene Merkmale auf, insbesondere die Häufigkeit des vor allem in den ältesten Handschriften verbreiteten Partikels of. Die Saga, die ein ziemliches Schattendasein fristet und vielfach keine Erwähnung in Gattungsdarstellungen findet, wird deshalb ansonsten eher zu den älteren gerechnet. Die Einstufung der Þorsteins saga Síðu-Hallssonar als spätmittelalterlich und somit ‚ postklassisch ‘ hat sich nicht durchgesetzt, auch Vésteinn Ólason nimmt in einer späteren Veröffentlichung, die sich den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur widmet (2007a), wieder Abstand davon. 31 Das Missverständnis, dem die Forschung dabei lange unterlag, reflektiert im Übrigen ebenfalls die anders gearteten medialen Gegebenheiten der Vormoderne und die Notwendigkeit, sich diese bei der Auseinandersetzung mit vormoderner Literatur bewusst zu machen: Während die moderne Perspektive den - stets im Plural verwendeten - Terminus fornsögur (s. v. „ fornsaga “ in ONP; alte Geschichten) bei Erwähnung der materiellen Existenz solcher zuvorderst mit schriftlich fixierten Erzählungen verbindet, bezeichnet er in der Sagaliteratur (neben mündlichen Erzählungen) in Holz geschnitzte Abbildungen denkwürdiger Ereignisse der Vorzeit (Stefán Karlsson 1994: 748). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 26 1 Einleitung <?page no="27"?> Auch im Falle der Grettis saga hat die intensivere Auseinandersetzung mit der handschriftlichen Überlieferung dazu geführt, dass die lange Zeit nicht hinterfragte Datierung auf 1310/ 20 revidiert wurde. Wie Örnólfur Thorsson (1994: 918 - 919) sowie Hubert Seelow (2005: 202 - 206) jeweils überzeugend argumentieren, ist eine spätere Entstehung weitaus wahrscheinlicher. Dafür sprechen nicht nur die überlieferten Textträger, sondern auch Verbindungen zu anderen literarischen Werken und außertextuelle Merkmale wie beispielsweise die enorme Zunahme der Verbreitung des Namens Grettir, die um 1500 zu beobachten ist. Als eine der fünf großen, d. h. umfangreichsten und durch die Jahrhunderte beliebtesten Íslendingasögur stellt die Grettis saga unzweifelhaft einen Höhepunkt der Gattung dar, weshalb mit ihrer Spätdatierung auch das Spätmittelalter in der Gattungsentwicklung ungleich mehr Gewicht erhält. Die Grettis saga, die man wohl treffend als ‚ postklassischen Klassiker ‘ bezeichnen kann, macht damit endgültig deutlich, dass die Gattung nicht nur als Phänomen des 13. und allenfalls beginnenden 14. Jh.s angesehen werden kann, sondern bis Anfang oder gar Mitte des 15. Jh.s höchst produktiv war. Auch ist es durchaus möglich, dass als früh oder klassisch klassifizierte Íslendingasögur erst im 14. Jh. entstanden sind. Zwar betont Einar Ól. Sveinsson in Dating the Icelandic sagas (1958: 127), dass die Grundlage jeder Datierung die handschriftliche Überlieferung sein müsse. In der Praxis wurde und wird diese allerdings nicht selten den sekundären Datierungskriterien untergeordnet, wobei ein positives Werturteil zumeist mit einer Zuordnung in das ‚ klassische ‘ 13. Jh., ein negatives mit einer Datierung nach 1300 korreliert. Wird die handschriftliche Überlieferung stärker gewichtet als subjektive Überlegungen, erscheint manche traditionelle Datierung nicht überzeugend. 32 Die zuneh- 32 So wird die Vatnsd œ la saga in der aktuell allgemein verbreiteten Klassifizierung der Íslendingasögur, die auch den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit markiert, den frühen Sagas zugerechnet, die auf die Zeit von 1200 - 1280 datiert werden. Zwar betont Vésteinn Ólason, dass seine Einteilung mehr auf tatsächlichen Merkmalen einzelner Sagas denn auf ihrer Datierung gründet, bei genauerer Betrachtung scheint aber doch die traditionelle Datierung den Ausschlag für diese Klassifizierung zu geben. Neben einem Blatt aus einer auf 1390 - 1425 datierten Handschrift (AM 445 b 4to) ist die Vatnsd œ la saga nur in jungen Papierhandschriften überliefert, die sämtlich auf den vom Fragment abweichenden Text der 1728 beim Brand in Kopenhagen zerstörte Vatnshyrna aus dem 14. Jh. zurückzuführen sind. Der überlieferte Text weist keinerlei Merkmale auf, die ein hohes Alter erkennen lassen, dagegen etliche, die für eine spätere Entstehung sprechen, darunter neben Gemeinsamkeiten mit den Fornaldarsögur vor allem Stil und Wortschatz (Einar Ól. Sveinsson 1939: LIII). Entsprechend stellt Einar Ól. Sveinsson fest, dass nicht entschieden werden kann, ob der Text um 1270 oder erst um oder nach 1300 entstanden ist. Ausgehend von der Annahme, dass es sich bei der überlieferten Vatnsd œ la saga um die überarbeitete Fassung eines älteren Werks handelt, entscheidet er sich auf der Grundlage der von ihm dargelegten Beziehungen des überlieferten Textes sowie der ihm mutmaßlich vorausgehenden Fassungen zu anderen Werken und deren Vorstufen für ersteres. Der handschriftlichen Überlieferung bei der Datierung den Vorzug vor rekonstruierten Fassungen zu geben, verortet die Vatnsd œ la saga damit eher im Spätmittelalter. Wie Ármann Jakobsson (1999: 58 - 59) betont, zeigt die Vatnsd œ la saga allein, dass sie nach dem Verlust der isländischen Unabhängigkeit entstanden ist, da das Geschlecht der Vatnsdælir als großes isländisches Geschlecht in enger Beziehung zum norwegischen König porträtiert wird, „ noble, but not royal “ . Auch er kommt zum Schluss, dass die Vatnsd œ la saga durchaus erst nach 1300 entstanden sein kann. Von der jüngeren Forschung wird die Vatnsd œ la saga gelegentlich auch als späte Saga bezeichnet (siehe z. B. Rankovi ć 2013b: 190). Auch die Datierung der Hrafnkels saga auf das 13. Jh. stützt sich weniger auf ihre Tradierung als vielmehr auf die gängige Vorstellung vom klassischen 13. Jh., während sich die Überlieferung lediglich bis maximal in das 14. Jh. zurückführen lässt (Stefán Kárlsson 1994) und die Saga abgesehen von einem Blatt eines auf ca. 1500 datierten Handschriftenfragments keinerlei mittelalterliche Spuren hinterlassen hat. Die ‚ postklassische ‘ Gunnars saga Keldugnúpsfífls dagegen wird ohne eine intensive Auseinandersetzung mit der Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.3 Überlieferung, Datierung und Klassifizierung 27 <?page no="28"?> mende Hinwendung zu den handschriftlichen Überlieferungen zeigt somit die problematischen Zusammenhänge zwischen Überlieferung und traditioneller Datierung auf, vor allem aber hat sie in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, eingefahrene Wege zu hinterfragen und auch zu verlassen. Während die Sagaforschung in der Überlieferungslage ihres Untersuchungsgegenstandes lange vornehmlich ein Hindernis bei der Rekonstruktion der verlorenen Originale sah (Örnólfur Thorsson 1990), 33 erscheint sie aus der Perspektive der New Philology in einem neuen Licht. Dieser zufolge ist die Varianz, die in der Sagaüberlieferung zum Ausdruck kommt, ein wesentliches Charakteristikum vormoderner Texte. 34 Im Gegensatz zu modernen Texten, die geschlossen, fest und stabil sind, also in einer verbindlichen (gedruckten) Form vorliegen, zeichnet sich die handschriftliche Überlieferung des Mittelalters durch ihre Offenheit aus. 35 Mittelalterliche Texte sind demnach unfeste und variable Texte, Veränderung ist für sie keine Störung, sondern liegt in ihrer Natur. Die Überlieferung einer Saga ist, wie Glauser (2013: 28) betont, dementsprechend als ein „ fluid continuum “ zu begreifen, ein einzelner Textträger stellt dabei lediglich eine Art Standbild in der fließenden Transmissionsgeschichte eines Textes dar. Mit Sicherheit datiert werden kann somit allenfalls die einzelne, in ihrem ganz spezifischen Kontext entstandene Ausprägung eines Textes. Sorgfältige Untersuchungen wie von Stefán Karlsson (1994) am Beispiel der Fljótsdæla saga exerziert, können darüber hinaus Aufschluss über ein mögliches Alter einer eventuellen Vorlage geben, sind jedoch nur sehr eingeschränkt aussagekräftig im Bezug auf deren tatsächliche Gestalt. Das triadische Modell und damit auch die Dreiteilung der Gattung in frühe, klassische und postklassische Werke scheint zu unflexibel und statisch, um diesem dynamischen Textverständnis gerecht zu werden (Glauser 2013: 27 - 28). Das darauf beruhende Konzept der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga ist nicht nur, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt, in sich nicht stimmig und aus diversen Gründen nicht haltbar, sondern findet darüber hinaus auch keinen Halt in der tatsächlichen Überlieferung der Texte. Diese zeigt keinerlei Hinweis darauf, dass die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur von den übrigen Vertretern unterschieden wurden. So ist die handschriftlichen Überlieferung zumeist auf das 15. oder gar 16. Jh. datiert, obwohl ein Dutzend Handschriften aus dem 17. Jh., in denen die Saga in zwei deutlich verschiedenen Versionen überliefert ist, sowie die Tatsache, dass im 17. Jh. auch Spuren mittelalterlicher Gunnars rímur Keldugnúpsfífls überliefert wurden, durchaus ein höheres Alter möglich erscheinen lassen. Guðni Jónssons Datierung auf ca. 1400 in der Íslendingasagnaútgáfan (ÍS GJ X) trägt diesen Umständen Rechnung, wie auch die entsprechende Verwendung in Icelandic Parsed Historical Corpus (IcePaHC), in der Regel wird die Gunnars saga Keldugnúpsfífls jedoch möglichst fern vom Corpus der ‚ echten ‘ Íslendingasögur gehalten. Da sie nicht in mittelalterlichen Handschriften überliefert ist, findet sie auch in dieser Untersuchung nur am Rande Erwähnung. Eine eingehendere Beschäftigung mit der Saga und ihren Handschriften bleibt jedoch ein Desiderat der Sagaforschung. 33 Vgl. auch Glauser (1998), der eine Furcht vor der Textveränderung konstatiert, die er am Beispiel der Riddarasögur aufzeigt. 34 Zur Unfestigkeit der Sagaliteratur siehe Glauser (1998: 17 - 23), Würth (1999: 6 - 7), Driscoll (2010), vgl. auch Ebel (1989: 110 - 134). Die Nordistik beruft sich vornehmlich auf die Debatte im anglo-amerikanischen Sprachraum, Einflüsse finden sich jedoch auch aus der germanistischen Mediävistik, die ab den ausgehenden 1970er Jahren ein ähnliches Verständnis von den spezifischen Eigenarten mittelalterlicher Texte entwickelte (dazu Sabel/ Glauser 2004). 35 Ein frühes Beispiel für die Analyse der Veränderbarkeit einer Íslendingasaga in unterschiedlichen Überlieferungskontexten stellt Sverrir Tómassons Auseinandersetzung mit der Bandamanna saga dar (Sverrir Tómasson 1977). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 28 1 Einleitung <?page no="29"?> Finnboga saga in der aus der Mitte des 14. Jh.s stammenden Möðruvallabók im Kontext von ansonsten ‚ realistischen ‘ Íslendingasögur überliefert, wobei die Anordnung der einzelnen Sagas genealogisch und geographisch motiviert ist (Müller 2001). Auch zwei weitere bekannte spätmittelalterliche Codices, die beim Brand in Kopenhagen zerstörte Vatnshyrna (zu dieser Stefán Karlsson 1970) sowie die nur in Fragmenten erhaltene sog. Pseudo- Vatnshyrna (zu dieser McKinnell 1970), enthielten ebenfalls klassische und ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur nebeneinander. 36 Während ein dem modernen Gattungsverständnis ähnliches Bewusstsein über eine Zusammengehörigkeit der Texte also im Laufe ihres Transmissionsprozesses durchaus zum Ausdruck kommt, spiegelt die handschriftliche Überlieferung keine eindeutige Andersartigkeit der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur im Spätmittelalter wider. Vielmehr handelt es sich bei der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga um ein editorisches Konstrukt: In der Reihe Íslenzk fornrit wird der Großteil der aktuell derart klassifizierten Werke in zwei Bänden versammelt, 37 die im Gegensatz zu den übrigen Bänden nicht nach geographischen Kriterien zusammengestellt sind und überdies anstatt des in der ansonsten verwendeten normalisierten altisländischen Schreibung üblichen ǫ bzw. œ ö bzw. æ verwenden wie im Neuisländischen. 38 Als forschungsgeschichtliches Konstrukt ist die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga somit klar zu unterscheiden vom Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter und wie dargelegt auch kaum mit den handschriftlichen Realitäten in Einklang zu bringen. Die Klassifizierung der Íslendingasögur ist weniger das Resultat ihrer Datierung als vielmehr die Basis dieser, Datierung und Überlieferung stehen nur in Einzelfällen in engerer Beziehung zueinander, zwischen Überlieferung und Klassifizierung besteht de facto kein erkennbarer Zusammenhang. Ein Blick auf die handschriftliche Überlieferung und die Zusammenhänge zwischen Überlieferung und Datierung entlarvt die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga somit endgültig als höchst problematisches Konstrukt der Forschung, das den Blick auf die Gattung Íslendingasaga im Allgemeinen sowie ihre spätmittelalterliche Entwicklung eher verstellt, denn erhellt. Zwar sind die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur überwiegend tatsächlich im 14. Jh. entstanden, weisen sie doch die typischen sprachlichen Merkmale des Spätmittelalters auf und ermangeln zudem andere Hinweise auf ein höheres Alter. Das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga umfasst jedoch mehr als als nur die Entstehung dieser Werke, wie nicht zuletzt die Ausbildung des ‚ klassischen ‘ Sagastils im 14. Jh. zeigt. 36 Nicht immer sind die Inhalte von Sammelhandschriften derart kongruent mit dem modernen Gattungsverständnis wie in diesen und anderen Fällen (z. B. auch AM 445 b 4to, AM 551 a 4to, beide 15. Jh.). So finden sich durchaus auch Handschriften aus dem 15. Jh., in denen Íslendingasögur gemeinsam mit Fornaldarsögur oder Riddarasögur gruppiert werden, doch beschränkt sich dies nicht auf die als ‚ postklassisch ‘ klassifizierten Vertreter (z. B. AM 556 a 4to, AM 162 C fol., ebenfalls beide 15. Jh.). 37 In anderen Bänden der Reihe zu finden sind lediglich Grettis saga, Hávarðar saga und Svarfd œ la saga, die als umgearbeitete Werke älterer Sagas gelten, sowie die Fljótsdæla saga, die offenkundig in kein Schema passen wollte. Da andere Werke ebenfalls als aus älteren Versionen umgearbeitet gelten - gemäß Schier (1970: 56 - 57) auch Harðar saga, Flóamanna saga sowie Þorskfirðinga saga - kommt man nicht umhin, eine gewisse Inkonsequenz festzustellen. 38 Die Fljótsdæla saga ist zwar mit den anderen Austfirðinga sögur in einem Band versammelt, in der Verwendung von ö bzw æ statt ǫ bzw. œ jedoch den übrigen ‚ postklassischen ‘ Vertretern gleichgestellt (vgl. auch Sävborg 2012a: 27 - 28). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.3 Überlieferung, Datierung und Klassifizierung 29 <?page no="30"?> 1.4 Die spätmittelalterlichen Íslendingasögur im oral-written continuum Die Debatte, ob es sich bei den Íslendingasögur um Freiprosa, also ursprünglich mündliche Überlieferung, oder um Buchprosa, d. h. in der Schriftlichkeit entstandene Werke, handelt, und mit ihr die extreme Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Sagaforschung ist mittlerweile Geschichte. 39 Längst wird der Übergang von Oralität zu Literalität als ein komplexer Prozess begriffen, der nicht auf entweder/ oder reduziert werden kann. So wird das skandinavische Mittelalter als „ a culture between the oral and the written “ (Mundal 2010: 181) verstanden und in Anlehnung an Ruth Finnigan auch als „ oral-written continuum “ bezeichnet (Rankovi ć 2010). Charakteristisch für dieses ist, dass die Schriftkultur die mündliche Kultur nicht ablöst, sondern erweitert und die orale Inszenierung von Texten ebenso wesentlich ist wie die Bedeutung des Körpers als Trägermedium (dazu Glauser 2010). Texte entstehen und verbreiten sich entsprechend „ zwischen Körper und Schrift “ , um eine treffende Formulierung für vormoderne Texte von Christian Kiening (2003) aufzugreifen. Auf Island bringt die sich im Zuge der Christianisierung etablierende Schrift aufgrund einer starken mündlichen Erzähltradition eine spezifische Textkultur hervor, die auf den Voraussetzungen für mündliches Erzählen basiert und mündliche Traditionen integriert. 40 Die von der Schriftkultur aufgenommenen mündlichen Traditionen erlangen so eine zentrale Bedeutung für das kulturelle und soziale Leben und entwickelten sich im Medium der Schrift weiter (Hermann 2000: 103). The stimuli of these two phenomena, the meeting of orality with literacy and the meeting of indigenous Icelandic with foreign textual traditions, go some way to explaining the incredible richness and diversity of Icelandic literature produced between about 1190 and 1350[,] wie Clunies Ross (1998: 55) feststellt. Schriftlichkeit ist dabei ein wesentlicher Faktor, denn erst die Schrift ermöglicht derart umfassende und umfangreiche Vergangenheitskonstruktionen, wie sie die Sagaliteratur hervorbringt, und die für die Íslendingasögur und angrenzende Gattungen spezifische Poetik der Intertextualität (Glauser 2000a: 213). Eingebunden in einen Geschichtsverlauf konstruieren die Íslendingasögur mit literarischen Mitteln eine historische Frühzeit der Isländer, wobei sie immer auch ein von Slavica Rankovi ć (2013a) als „ traditional referentiality “ bezeichnetes semantisches Feld aufrufen, das in der Mündlichkeit mit bestimmten Namen oder Begriffen verknüpft ist. Wenngleich die Íslendingasögur im späten Mittelalter fest als schriftliche Textgattung etabliert sind, nimmt mündliche Überlieferung weiter eine bedeutende Rolle ein, nicht nur in Form von Volkssagen, die vor allem die Grettis saga oder die Bárðar saga in großer Zahl aufgenommen haben (zu diesen Guðni Jónsson 1936: XLII - LX bzw. Þórhallur Vilmundarson 1991: LXXIX - XCVIII). So lässt die in einer Version der Þórðar saga hreðu enthaltene Genealogie sehr wahrscheinlich erscheinen, dass genealogisches Wissen des 10. Jh.s im 39 Zu einer recht aktuellen Stellungnahme zur Debatte um Freiprosa oder Buchprosa siehe Clunies Ross (2010: 39 - 41). Eine umfangreiche Überblicksdarstellung älteren Datums findet sich in Andersson (1964: 65 - 81), siehe auch s. v. „ Bookprose/ Freeprose Theory “ in: Pulsiano (1993). 40 Pernille Hermann (2000) zeigt anhand der Positionen im Oddaverja þáttr die Hintergründe und Zusammenhänge der Entstehung dieser spezifisch isländischen Textkultur auf, die sich etwa zweihundert Jahre nach der Übernahme der christlichen Textkultur entwickelte. Zu den Entstehungsbedingungen der isländischen Textkultur siehe Schier (1975) sowie Schier (1991). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 30 1 Einleitung <?page no="31"?> späten 14. Jh. noch kursierte und auch für authentisch angesehen wurde (Gísli Sigurðsson 2004: 165 - 166). Die unterschiedliche Darstellung derselben Ereignisse in Vatnsd œ la saga und Finnboga saga zeigt, wie Gísli Sigurðsson (1994) ausführt, alle Merkmale einer lebendigen oralen Überlieferung. In seiner richtungsweisenden Studie The medieval Icelandic saga and oral tradition legt er dar, dass in zahlreichen Íslendingasögur eine reichhaltige mündliche Überlieferung, die hinter den Texten steht, weit wahrscheinlicher ist als die literarischen Abhängigkeiten, welche die in der Tradition der Buchprosa stehende Forschung, wie sie insbesondere in den Vorworten der Íslenzk fornrit-Ausgaben zum Ausdruck kommt, über zahlreiche postulierte Vorformen konstruiert (Gísli Sigurðsson 2004: 185 - 190, 201 - 245). So beruht auch die Fljótsdæla saga, wie er überzeugend argumentiert, in weiten Teilen eher auf mündlicher Überlieferung als auf schriftlichen Quellen. Sie wirkt wohl auch deshalb so modern, da sie allem Anschein nach für ein Publikum konzipiert wurde, das mit der dahinterliegenden regionalen mündlichen Überlieferung unvertraut war, weshalb wesentlich mehr Zusammenhänge erläutert und Hintergrundinformationen gegeben werden (249). Auch die genealogischen Angaben in der oft als rein fiktiv bezeichneten Króka-Refs saga zeigen im Vergleich mit denen des in Landnámabók und Harðar saga erwähnten Refr inn gamli Gemeinsamkeiten und Unterschiede, wie sie nach Gísli Sigurðsson charakteristisch für eine lebendige mündliche Überlieferung sind (Pálmi Pálmason 1883: XXXII, siehe dazu auch Kap. 5.3). So wenig wie sich die Íslendingasögur in frühe realistische und späte phantastische Werke unterscheiden lassen, ist somit eine klare Abgrenzung der ‚ postklassischen ‘ Vertreter als schriftliche Werke von älteren, der mündlichen Überlieferung nahestehenden möglich. Im oral-written continuum bilden sämtliche Íslendingasögur eine Einheit, insofern als sie in besonderem intertextuellen Bezug zueinander sowie zur Landnámabók stehen und mit den isländischen Ursprüngen dasselbe semantische Feld in der Mündlichkeit aufrufen. Vom frühen 13. Jh., als die ersten Íslendingasögur entstehen, bis in das 14. und 15. Jh., das die ‚ postklassischen ‘ Vertreter hervorbringt, wandelt sich das oral-written continuum allerdings deutlich: Die Textualisierung der isländischen Gesellschaft schreitet weiter voran und dem geschriebenen Wort kommt eine wachsende gesellschaftliche Bedeutung zu (dazu Bruhn 1999: 153 - 223, insbesondere 202 - 205 sowie Melve 2010). Die Sturlunga saga und andere zeitgenössische Quellen des ausgehenden 13. Jh.s reflektieren den Medienwandel infolge zunehmender Schriftlichkeit und den damit verbundenen Mentalitätswandel in verschiedenen Zusammenhängen (Rohrbach 2018). Die Zeit um 1300 markiert in verschiedener Hinsicht einen erkennbaren Umbruch: Mit der Einführung der Járnsíða, des ersten Gesetzesbuchs nach Eingliederung in das norwegische Reich, wird 1271 auch das Amt des Gesetzessprechers niedergelegt, was die Schrift zum zentralen Medium des Rechts macht (dazu Ebel 1989: 77 - 97), zudem etabliert sich die Schrift als Medium volkssprachlicher Prosaerzählungen, was zu einer quantitativen und qualitativen Expansion von Schriftwerken führt. 41 Eine enorme Zunahme von Handschriften generell lässt sich ebenso beobachten wie eine immer größere Vielfalt an Schriftwerken: Die im 13. Jh. aufkommenden Fornaldarsögur erleben ihre Hochzeit im 14. Jh., in dem sich auf Island mit den ab dem 13. Jh. aus Norwegen importierten und als Riddarasögur (Ritter- 41 Zur quantitativen Zunahme von Schriftwerken siehe z. B. die von Ólafur Halldórsson (1966: 41 - 42) aufgezeigte Bestandszunahme im Kloster Helgafell vom ausgehenden 12. bis zum ausgehenden 14. Jh. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.4 Die spätmittelalterlichen Íslendingasögur im oral-written continuum 31 <?page no="32"?> sagas) in Sagaform transformierten höfischen Erzählungen sowie den durch diese inspirierten isländischen Neuschöpfungen, die als originale Riddarasögur oder Märchensagas bezeichnet werden, auch neue Sagagattungen etablieren. In ihren Prologen zeigen diese deutlich ein zuvor so nicht zu beobachtendes Schriftbewusstsein (Glauser 2010). Die einheimischen Gattungen Konungasaga (Königssaga), Samtíðarsaga (Gegenwartssaga) und Biskupasaga (Bischofssaga) sind nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt produktiv, gehen jedoch erkennbar in eine Phase der Bearbeitung und damit verbunden auch Kommentierung der vorliegenden Werke in neuen schriftlichen Zusammenhängen über. Mit den rímur, umfangreichen Erzählungen in Reimform, ähnlich den hoch- und spätmittelalterlichen kontinentaleuropäischen Versromanzen, entsteht im Spätmittelalter zudem eine neue Erzählgattung, die Stoffe der Sagas aufgreift und sich zunehmender Popularität erfreut (zu diesen Vesteinn Ólason 2006: 55 - 59). Die rímur werden vornehmlich mündlich weitergegeben, machen als auf schriftlichen Vorlagen beruhende und erkennbar schriftlich komponierte Werke jedoch ebenfalls die Bedeutungszunahme von Schriftlichkeit im oral-written continuum des Spätmittelalters deutlich. Ein wesentliches Charakteristikum des Textualisierungsprozesses einer Gesellschaft ist die nachhaltige Veränderung ihres Erinnerungsverhaltens (Fried 2004: 313 - 329). Auch mündliche Gesellschaften verfügen über Erinnerungen an eine Ursprungszeit sowie die jüngere, drei bis vier Generationen zurückreichende Vergangenheit, also ein kulturelles und ein kommunikatives Gedächtnis (dazu Assmann 1992: 48 - 66), die Entstehung von Geschichtsschreibung jedoch markiert einen entscheidenden Fortschritt der Erinnerungskultur in einer durch Schrift ausgelösten gesellschaftlichen Evolution (Fried 2004: 316). Menschliche Erinnerung ist aufgrund ihrer neurologischen Gegebenheiten und ihrer Funktion in ständigem Fluss. Sie ist kein Speicher, der einfach abgerufen wird, vielmehr wird Gespeichertes mit jeder Erinnerung neu kontextualisiert und damit aktualisiert und moduliert, wobei diese Prozesse größtenteils unbewusst ablaufen (123 - 146). Auch das auf individuellen Gedächtnissen beruhende kollektive Gedächtnis einer Gruppe, das ihren Zusammenhalt definiert und sichert, ist den Verformungskräften menschlichen Erinnerns ausgeliefert und bedarf deshalb einer Stabilisierung, um im Fluss der Erinnerung kulturelle Kontinuität zu ermöglichen (dazu 83 - 86, 227 - 232). Mündliche Gesellschaften stabilisieren ihr kollektives Gedächtnis rituell im Modus der Wiederholung. Mit der Einführung von Schrift beginnt die Überführung der kollektiven Erinnerung in die Schrift und damit ein allmählicher Übergang von ritueller zu textueller Kohärenz. 42 In frühen Schriftkulturen entsteht zunächst ein Traditionsstrom, „ ein Vorrat von Texten normativen und formativen Anspruchs, die nicht als Vertextung mündlicher Überlieferung, sondern aus dem Geist der Schrift heraus entstehen “ (Assmann 1992: 92). Diesen Traditionsstrom, der die zum Wiedergebrauch bestimmten Texte überliefert, charakterisiert Assmann als „ lebendigen Fluss “ : „ Texte geraten in Vergessenheit, andere kommen hinzu, sie werden erweitert, abgekürzt, umgeschrieben, anthologisiert in wechselnden Zusammenstellungen. “ Dabei bilden sich Klassiker aus, die für die nachfolgenden Texte zum Vorbild werden. Der endgültige Umschlag von ritueller zu textueller Kohärenz erfolgt nach Assmann (93) jedoch nicht durch die Verwendung von Schrift, sondern erst mit der kanonisierenden 42 Zu ritueller und textueller Kohärenz siehe Assmann (1992: 87 - 102), vgl. dazu auch Fried (2004: 218 - 222, 376 - 377). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 32 1 Einleitung <?page no="33"?> Stillegung des Traditionsstroms, nach der die Texte nicht mehr fortgeschrieben, sondern ausgelegt werden. Die isländische Situation unterscheidet sich von den von Assmann behandelten frühen Hochkulturen insofern, als mit den Runen in Nordeuropa bereits Schriftlichkeit verbreitet ist, wenngleich die frühen Runeninschriften bis in das 9. Jh. im Wesentlichen als Produkte einer mündlichen Kultur zu verstehen sind (dazu Brink 2005). Vor allem aber wird mit der Christianisierung wie angesprochen eine ausgebildete Schriftkultur importiert, die im Zusammenspiel mit der einheimischen mündlichen Tradition zur Etablierung einer eigenen Textkultur führt. Der Entstehung volkssprachlicher Texte geht so eine Schulung an klassischen als auch mittelalterlichen lateinischen Texten voraus. Dementsprechend zeigt auch die volkssprachliche Überlieferung Islands von Anbeginn ein Bewusstsein darüber, dass Wahrheit immer nur annäherungsweise zu haben ist, was nach Assmann (1992: 280 - 292) charakteristisch für den hypoleptischen Diskurs der okzidentalen Schriftkultur ist. Aris Anmerkung „ En hvatki es missagt es í fr œ ðum þessum, þá es skylt at hafa þat heldr, er sannara reynisk “ 43 im Prolog der Íslendingabók (ÍF I: 3) bringt dies klar zum Ausdruck. Elaboriert wird dieser Diskurs ab 1200 insbesondere in den Konungasögur und herausragend von Snorri Sturluson (dazu Beck 1999, Starý 2013) geführt. Im 14. Jh. entstehen keine neuen Konungasögur mehr, stattdessen werden die älteren Werke gedeutet und in neue Zusammenhänge gebracht, womit die Sagaliteratur nun eindeutige Anzeichen textueller Kohärenz zeigt. Für 1300 deshalb einen Umbruch von ritueller zu textueller Kohärenz anzusetzen, wird den isländischen Gegebenheiten jedoch nicht gerecht, da bereits die ältesten isländischen Werke kulturelle Kontinuität mittels einer Bezugnahme auf Texte der Vergangenheit in Form einer kontrollierten Variation herstellen. Dabei werden zunächst zu diesem Zweck verschriftlichte mündliche Überlieferungen als Vorgängertexte behandelt, ab dem 13. Jh. dann zunehmend auch Schriftwerke. Auch der Gattung Íslendingasaga ist von Anbeginn an die Anknüpfung an ältere Überlieferung und deren Auslegung inhärent, wie das für die Form der Saga charakteristische Prosimetrum zeigt (dazu Harris 1997) und insbesondere die dabei teilweise zu beobachtenden Diskrepanzen zwischen den Inhalten der von einer Saga zitierten vísa (Strophe) und ihrer Deutung im Rahmen der Prosaerzählung verdeutlichen (dazu s. v. „ lausavísur “ in RGA 18: 142). Während die Konungasaga um 1300 offenkundig in eine neuartige Phase der Auslegung übergeht, geben die Íslendingasögur einen anhaltenden Strom der Tradition zu erkennen: Es entstehen neue Texte, während ältere vergessen bzw. umgeschrieben, gekürzt oder erweitert werden. Im lebendigen Fluss des Traditionsstroms werden die im 13. Jh. entstandenen Íslendingasögur dabei im Sinne Assmanns zu Klassikern, da sie zu Vorbildern werden und die nachfolgenden an sie anknüpfen und sie imitieren, sie sind jedoch nicht kanonisch, d. h. unveränderbar und lediglich kommentierbar. Zugleich zeigen die anknüpfenden Íslendingasögur des Spätmittelalters Merkmale eines impliziten hypoleptischen Diskurses, wenn sie der Heroik älterer Werke eine anti-heroische Haltung gegenüberstellen (zu dieser O ’ Connor 2000: 72 - 74). Auf die Íslendingasögur im Spätmittelalter trifft zu, was nach Fried (2004: 277 - 278) charakteristisch für die Überlieferung des europäischen Mittelalters generell ist: Sie 43 Aber wenn immer etwas falsch berichtet ist in diesem Werk, dann ist es erforderlich, sich an das zu halten, was sich als wahrer erweist. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.4 Die spätmittelalterlichen Íslendingasögur im oral-written continuum 33 <?page no="34"?> befinden sich in einem endlosen Fließen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wobei auch Neuschöpfungen entstehen, „ ohne einen Hauch alter Erinnerung, aber artikuliert nach traditionellen Deutungs- und Erzählmustern “ , die weder hinsichtlich ihrer Erzählweise noch ihrer Vergangenheitskonzeption als ‚ unecht ‘ von ‚ echten ‘ Überlieferungen zu unterscheiden sind. Das Beispiel der Króka-Refs saga zeigt, dass zumindest ein Hauch alter Erinnerung auch unter den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur verbreiteter sein kann, als in der Regel angenommen wird. Zugleich ist ‚ unechte ‘ Überlieferung nicht auf die ‚ postklassischen ‘ Vertreter beschränkt, wie das Beispiel der den Klassikern zugerechneten Bandamanna saga verdeutlicht (zu dieser Gropper 2000). Im Übrigen zeigen bereits die zahlreichen Skaldenstrophen, die aufgrund sprachlicher Merkmale kaum älter als die sie beinhaltenden Sagas sein können, diese Gleichstellung von ‚ echter ‘ Überlieferung, die der Sagaliteratur voraus geht, und ‚ unechter ‘ , die im Zusammenhang mit dieser erst neu geschaffen wird. 44 Fried (2004: 237) erklärt diese spezifische Überlieferungssituation des Mittelalters damit, dass „ Gesellschaften im Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit [ … ] die Attitüden der Mündlichkeit und mit ihnen das Ausgeliefertsein an die Modulationswillkür des Gedächtnisses nicht plötzlich ab[legen], sondern [ … ] sie trotz Schriftkenntnis noch lange [bewahren] “ . Schrift fungiert so als „ modulationsbereiter Stabilisator der Erinnerung “ , der der Variation Vorschub leistet (313). Die Unfestigkeit der Texte ist entsprechend zugleich ein Reflex fließender Erinnerung. Auf Island kursieren im 14. Jh. weiter lebendige mündliche Erinnerungen an die isländischen Ursprünge. Mit Beginn der Verschriftlichung ist jedoch immer auch mit einer Entschriftung und damit Reoralisierung der verschrifteten Sagastoffe zu rechnen, die spätestens im 17. Jh. belegt ist (dazu Glauser 1996), was früh zu einem Wechselspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit führt. Nach der Entstehung einer volkssprachlichen Geschichtsschreibung im frühen 12. Jh. kommt es um 1300 dann zum nächsten schriftbedingten Fortschritt der Erinnerungskultur. 45 Wie die Íslendingasögur zu erkennen geben, geht mit dem 13. Jh. auch die Tradition prominenter Gewährspersonen, die der Überlieferung von Landnahme und Besiedelung Autorität verleihen, 46 zu Ende: Mit Aris Ziehvater Teitr Ísleifsson beginnt eine nahtlose Reihe namentlich genannter leibhaftiger Autoritäten für die isländischen Ursprünge, die im ausgehenden 13. Jh. mit Sturla Þórðarson und anderen Persönlichkeiten des 13. Jh.s endet. 47 Damit ist Schrift nicht mehr wie zuvor abhängig von der sozialen Autorität, die dahintersteht (Bruhn 1999: 159), 44 Zu den Skaldenstrophen als Grundlage für Komposition und Interpretation der Íslendingasögur siehe Torfi H. Tulinius (2000). 45 Zu Schrift als Fortschritt der Erinnerungskultur siehe Fried (2004: 313 - 317), vgl. auch Assmann (1992: 93). 46 Wie die Skaldendichter werden im Mittelalter auch namentlich bekannte Verfasser wie Ari inn fróði Þorgilsson als „ authorities in society “ angesehen (Mundal 2012a: 216 - 217). 47 Die Íslendingasögur nennen neben den zwei Hauptautoritäten für die Überlieferung der isländischen Frühzeit, Sæmundr inn fróði Sigfússon (1056 - 1133) und Ari inn fróði Þorgilsson (1067 - 1148), auch Runólfr Dálksson (genaue Lebensdaten unbekannt, 1143 - 1174 erwähnt (DI I: 191) (Bjarnar saga Hítd œ lakappa), Styrmir Kárason (1170 - 1245) (Harðar saga), Sturla Þórðarson (1214 - 1284) (Grettis saga) und Bischof Árni Þorláksson (1237 - 1298) (Kjalnesinga saga). Der Þorvalds þáttr víðf ǫ rla I (siehe dazu auch Kap. 2.1) führt sich selbst zum Teil auf Gunnlaugr Leifsson zurück und nennt dessen Quellen, wobei zudem die Zuverlässigkeit von Gunnlaugrs direktem Gewährsmann betont wird: „ Þenna atburð segir Gunnlaugr munkr at hann heyrði segja sannorðan mann, Glúm Þorgilsson, en Glúmr hafði numit at þeim manni er hét Arnórr og var kallaðr Arndísarson. “ (ÍF XV 2: 72; Gunnlaugr Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 34 1 Einleitung <?page no="35"?> sondern bürgt fortan allein für den Wahrheitsgehalt der Ursprungserinnerungen. Zudem weist die neuartige Formel intratextueller Bezüge sem fyrr segir (wie [es] vorher sagt], die sich ab dem 14. Jh. in den Íslendingasögur und anderen Sagagattungen verbreitet und älteres sem fyrr var ritat (wie zuvor geschrieben wurde), sem fyrr var sagt (wie zuvor gesagt wurde) o. ä. ergänzt und teilweise ersetzt, der Schrift eine eigenständig kommunikative Funktion und damit eine aktive Rolle im Überlieferungsprozess zu, was so zuvor in der isländischen Überlieferung nicht zu erkennen ist (Peters 2017). Die Schrift dominiert das kulturelle Erinnern damit endgültig, die erinnerte Vergangenheit bleibt jedoch weiter im Fluss zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und verändert sich dementsprechend. Obgleich gerade die Analyse derartiger Umbrüche neue Erkenntnisse verspricht, hat die Sagaforschung diesen Wandel, den die Íslendingasögur damit zu erkennen geben, aufgrund der lange aufrecht erhaltenen Ablehnung und Abwertung dieses Zeitraums und der ihm zugerechneten Werke bisher noch nicht in den Blick genommen. Der Fokus auf das als klassisches Zeitalter der Íslendingasaga geltende 13. Jh. brachte mit sich, dass auch die spät- und nachmittelalterliche Überlieferung vornehmlich im Hinblick darauf gedeutet wurde. Wenngleich die Íslendingasögur mittlerweile wie eingangs dargestellt als konstruierte Vergangenheit, Abbilder eines Erinnerungsraums und Fragmente eines großen Mythos gelesen werden, wurde der Beitrag, den die als ‚ postklassisch ‘ eingestuften Vertreter dazu leisten sowie ihr kultureller Stellenwert im Mittelalter wie angesprochen bislang allerdings lediglich in Einzelfällen analysiert. 1.5 Die Íslendingasögur als kulturelle Texte Die dem isländischen Traditionsstrom entspringenden Íslendingasögur, klassische als auch ‚ postklassische ‘ , sind unverkennbar kulturelle Texte. 48 Sie stellen fundierende Erzählungen dar, die für die mittelalterlichen Isländer in besonderem Maß normativ und formativ verbindlich sind (Glauser 2000a). 49 Wie auch die Bezeichnung saga zum Ausdruck bringt, sind die Íslendingasögur Geschichte im doppelten Wortsinn, „ nicht nur ‚ Erzählung ‘ (im Sinne von ‚ sprachliches Kunstwerk ‘ ), sondern auch ‚ Geschichte ‘ im Sinne von ‚ diese Ereignisse, von denen dann erzählt wurde ‘“ (Weber 1972: 197). Sie konstruieren mit literarischen Mitteln eine historische Vergangenheit, sind dabei aber weder Fiktion noch Historiographie im modernen Sinn, 50 sondern vielmehr untrennbar Mythos und Geschichsagt, dass er dieses Ereignis von einem glaubwürdigen Mann, Glúmr Þorgilsson, berichten hörte, und Glúmr hatte es von dem Mann, der Arnórr hieß und der Sohn von Arndís war, erfahren.) 48 Kulturelle Texte formulieren das Selbstbild einer Gesellschaft, ihr identitätsstiftendes sowie identitätssicherndes Wissen und kodifizieren Normen sozialen Verhaltens, die den Gruppenzusammenhalt sichern. Dementsprechend beanspruchen sie eine gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit und bestimmen die Identität und Kohärenz der Gesellschaft, die sie hervorbringt. Zur vorbehaltlosen Identifikation bestimmt, steht hinter ihnen der Anspruch, eine verbindliche, unhintergehbare und zeitlose Wahrheit zu transportieren (nach J. Assmann 1995). 49 Neben Glauser (2000a) behandeln auch Uecker (2005), Hermann (2010), Hermann (2013) und Glauser (2016) die Íslendingasögur in Anlehnung an Jan Assmann (1992) als Medien des kulturellen Gedächtnisses der Isländer. Vgl. zudem die Ausführungen von Gerd Wolfgang Weber (1981, 1986) zum Mythencharakter der altisländischen Literatur. 50 Dass die Kategorien ‚ Historie ‘ und ‚ Fiktion ‘ , die im Zusammenhang mit der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga wie gezeigt noch immer direkt oder zumindest indirekt eine wesentliche Rolle spielen, Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.5 Die Íslendingasögur als kulturelle Texte 35 <?page no="36"?> te (Glauser 2000a: 214). 51 Im Prozess des kulturellen Erinnerns wird „ [a]uf die Frage der isländischen Gesellschaft nach ihrer Herkunft, Identität und Zukunft [ … ] als Antwort die isländische Geschichte selbst zum Gegenstand des Mythos “ (Weber 1981: 498). Die Unterscheidung von Fakt und Fiktion ist dabei unerheblich, da das mittelalterliche Geschichtsverständnis nicht wie das moderne auf Tatsachenwissen ausgerichtet ist (dazu Fried 2004: 321 - 329). Mittelalterliche Geschichtsschreibung stellt die Vergangenheit im Licht der Gegenwart dar und orientiert sich dabei an der Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum. Nicht die Historizität, sondern die Funktion der erinnerten Vergangenheit ist im kulturellen Erinnerungsprozess entscheidend (Glauser 2000a: 213 - 214). 52 In den Íslendingasögur erinnert die sich mit der Besiedelung Islands neu entstandene Gesellschaft ihrer Anfänge und schafft sich damit eine kollektive, spezifisch isländische Vergangenheit. Aus der Perspektive ihrer Entstehungszeit im hohen und späten Mittelalter, der sog. ritöld (Schreibzeit), konstruieren die Texte mit der heute im Allgemeinen als söguöld (Sagazeit) bezeichneten Epoche eine spezifische Ursprungszeit für die Isländer. Als Ursprungszeit stellt die Sagazeit Anfänge und Grundlage der isländischen Gesellschaft dar, auf die das isländische Selbstbild gründet. Die grundlegenden formativen Elemente isländischer Identität sind dabei die Erinnerungsfiguren Auswanderung, Besiedelung und Christianisierung. Diese Erinnerungsfiguren bleiben in allen Íslendingasögur stabil, abgesehen davon zeigt die Entwicklung der Gattung im Spätmittelalter das typische Verhalten des Erinnerungsflusses, der, wie Fried (2004: 383) betont, „ vielfach nur ‚ den harten Kern ‘ eines Geschehens, das ‚ Daß ‘ unberührt [lässt], während das ‚ Wie ‘ und alle näheren Umstände ins Schwimmen geraten “ . Die durch die genannten Erinnerungsfiguren abgesteckte und von den Íslendingasögur geformte Sagazeit wird wesentlich durch das Fehdewesen der frühen isländischen Gesellschaft geprägt, was auch den normativen Charakter der Erzählungen verdeutlicht: Als zentrale gesellschaftliche Institution zur Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Gleichgewichts steht die Fehde im Zentrum der ungeeignet für die Analyse der Sagaliteratur im Allgemeinen und der Íslendingasögur im Speziellen sind, betonen in jüngerer Zeit beispielsweise Alois Wolf (2002: 89), der das „ sagahafte Erzählen “ als „ eigenständige Größe “ , versteht, Ralph O ’ Connor (2005: 168), der der isländischen Saga ebenfalls einen „ special generic status “ zuspricht, oder Paul Bibire (2007: 16), der betont, es sei „ anachronistically inappropriate to ask whether a saga is a literary or a historical work “ und darauf verweist, dass eine Annäherung an die Sagas über die Bedeutung erfolgen muss, die sie für ihr Publikum hatten. 51 Die mittelalterliche isländische Sagaliteratur wird generell als Historie gestaltet und entsprechend rezipiert. Sowohl die einheimischen als auch die auf übersetzte höfische Romane zurückgehenden Sagas „ operate within a purportedly historical mode “ , wie O ʼ Connor (2005: 125) anmerkt. Wenngleich ein Unterschied im Umgang mit verschiedenen Stoffen zu erkennen ist, ist die von der Forschung lange vertretene Theorie einer erkennbaren Unterscheidung von Historie und Fiktion hinsichtlich einzelner Sagagattungen nicht haltbar (dazu O ’ Connor 2005). Wohl legen diese unterschiedliche Weisen der Annäherung an die Wahrheit des Dargestellten oder auch der der Distanzierung davon an den Tag: Während Snorris Vorgehen einer modernen Quellenkritik nicht unähnlich ist (Beck 1999), thematisieren die Fornaldarsögur und Märchensagas Zweifel an der Wahrheit ihrer Inhalte, verteidigen diese jedoch zugleich (dazu O ’ Connor 2005: 125 - 167). Auch für übersetzte Werke und die in Anlehnung an sie entstandenen isländischen Neuschöpfungen gilt zudem, dass sie sich selbst im Rezeptionsrahmen kultureller Texte ansiedeln: Auch sie platzieren sich in einer Traditionslinie, die auf von Autoritäten beglaubigte Überlieferung zurückzuführen ist. Anzeichen bewusst intendierter Fiktion lassen sich, wie O ’ Connor (2012) darlegt, in der isländischen Sagaliteratur erst sehr spät im Mittelalter ausmachen (vgl. dazu auch Mundal 2012b). 52 Zu den unterschiedlichen Aspekten der in der isländischen Sagaliteratur konstruierten „ useful past “ siehe Whaley (2000: 174 - 193). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 36 1 Einleitung <?page no="37"?> erinnerten Vergangenheit. Entsprechend ist Ehre die zentrale ethische Norm der Íslendingasögur, die untrennbar mit ihrer Struktur verbunden ist (dazu Meulengracht Sørensen 1993). Der normative Charakter berühmter im 13. Jh. entstandener Vertreter wird insbesondere im Vergleich mit der Sturlunga saga deutlich, die überwiegend Ereignisse des 13. Jh.s darstellt. Im Gegensatz zu den Íslendingasögur, in denen den Fehden eine gesellschaftsstabilisierende Funktion zukommt, schildert sie Fehden, die destabilisierend wirken und bürgerkriegsartige Zustände mit sich bringen. Die Íslendingasögur, insbesondere die frühen und klassischen Vertreter, stehen der Heldendichtung nahe, im Gegensatz zu dieser betonen sie jedoch das Element der Mäßigung besonders und entwerfen ein sich vom heroischen Ideal unterscheidendes Ideal, das auf den Erhalt der sozialen Ordnung abzielt (Andersson 1989, Meulengracht Sørensen 1993: 203 - 206). Nachdem die Fehde mit dem Verlust der isländischen Unabhängigkeit und der Eingliederung in das norwegische Reich ihre zentrale gesellschaftliche Funktion verliert, nimmt sie dementsprechend in den deutlich später entstandenen Werken auch keine prominente Rolle mehr ein oder wird neu kontextualisiert (Helgi Þorláksson 2005: 151 - 152). Mit einer anti-heroischen Haltung zeigen etliche ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur eine weitere Distanz zur Heldensage, deren Ideal in der im Spätmittelalter nun noch deutlicher christlich geprägten isländischen Gesellschaft auch in modifizierter Form keine normative Verbindlichkeit mehr hat und zunehmend problematisiert oder durch ein christliches Ideal ersetzt wird. Während sich die von den Íslendingasögur vermittelten Normen ändern, bleibt ihre normative Verbindlichkeit bestehen. Als kulturelle Texte richten sich die Íslendingasögur an die Rezipienten als Repräsentanten eines Kollektivs, die sich mit den von ihnen dargestellten Inhalten identifizieren. Den Status der Íslendingasögur als kulturelle Texte unterstreicht auch ihre anonyme Überlieferung, die die jeweiligen Verfasser nicht als Individuen, sondern ebenfalls als Repräsentanten eines Kollektivs versteht. Die Vorstellung zum Entstehungsprozess einzelner Íslendingasögur, die sich in der Sagaliteratur zeigt, macht deutlich, dass die Saga als etwas begriffen wird, das sich selbst weiterträgt, wie Weber (1981: 198) betont. Der Erzähler nimmt dabei nur eine Vermittlerrolle ein. Seine Erzählhaltung als objektiver, sich auf das Wissen der Allgemeinheit berufender Berichterstatter reflektiert ebenfalls den kollektiven Charakter der Sagaüberlieferung. Als kulturellen Texten kommt den Íslendingasögur neben ihrer wissenvermittelnden Funktion zugleich auch ein ausgeprägter Unterhaltungscharakter zu, wie auch die mittelalterliche Bezeichnung sagnaskemmtun (Sagaunterhaltung, dazu Hermann Pálsson 1962) zum Ausdruck bringt. 53 Dem kollektiven Charakter der Sagaüberlieferung entspricht dabei die kollektive Rezeption. Diese erfolgt im Spätmittelalter nicht mehr vornehmlich in Form des mündlichen Sagavortrags, von dem die Sagas selbst berichten, sondern in erster Linie durch lautes Vorlesen oder auch den textgestützten mündlichen Vortrag, bleibt jedoch eine zwischenmenschliche Angelegenheit. Die Doppelfunktion der Übermittlung von Wissen sowie der Unterhaltung geben die Íslendingasögur auch formal zu erkennen: Sie integrieren in Form von Genealogien und Skaldenstrophen eine ausgeprägt textstabile Überlieferung, mittels derer mündliche Gesellschaften ihr identitätsstiftendes Wissen sichern, bei gleichzeitiger von den Ver- 53 Hermann Pálssons frühe Datierung der Praxis des Vorlesens aus Handschriften auf das 12. Jh., die nicht belegt ist, wird von der jüngeren Sagaforschung mittlerweile in Frage gestellt, für das Spätmittelalter ist die Sagalesung für Publikum jedoch in jedem Fall anzunehmen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.5 Die Íslendingasögur als kulturelle Texte 37 <?page no="38"?> fassern praktizierter textvariabler Gestaltung, mittels der auch in mündlichen Gesellschaften die Erzähler, nicht minder Experten in ihrem Metier als die für Stabilität zuständigen Gedächtnisspezialisten, ihre Geschichten den jeweiligen Umständen, Hintergründen und Bedürfnissen ihres Publikums anpassen. 54 Im Rahmen der Rezeption als kulturelle Texte werden die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur mitnichten von den übrigen Vertretern abgegrenzt, sondern bilden mit diesen eine Einheit: Sie entspringen wie ihre Vorgänger dem Traditionsstrom, folgen derselben Erzählkonvention und unterscheiden sich auch in ihrer mittelalterlichen handschriftlichen Überlieferung nicht von den älteren Werken. Im Gegensatz zu dieser zeitgenössischen Rezeption als kulturelle Texte wird die - wie dargestellt in verschiedener Hinsicht höchst problematische - Abgrenzung der Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga an den Rezeptionsrahmen literarischer Texte geknüpft. Bei der Unterscheidung von kulturellen und literarischen Texten handelt es sich, Aleida Assmann (1995) folgend, aus moderner Perspektive um zwei verschiedene Rezeptionsweisen von möglicherweise identischen Texten. Aus einer historischen Perspektive geht die Rezeption von literarischen Werken als kulturelle Texte einer Rezeption als literarische Texte jedoch klar voraus: Letztere entwickelt sich erst im Zuge der Autonomie der Literatur um 1800 (A. Assmann 1995: 234) und damit etwa zur gleichen Zeit, als sich auch der historische Diskurs verändert und sich mit der Unterscheidung von Historie und Fiktion endgültig faktische Wahrheit als Maßstab für Historiographie etabliert (White 1986: 146 - 149). Anders als kulturelle Texte werden literarische Texte in der Regel allein lesend und mit ästhetischer Distanz von einem autonomen Individuum rezipiert. 55 Auf diesen Rezeptionsrahmen rekurriert Vésteinn Ólason (2000: 40) mit der Betonung, dass die von ihm vorgelegte Untergliederung in frühe, klassische und ‚ postklassische ‘ Vertreter „ on the basis of modern aesthetics or ideas “ erfolge, recht eindeutig. Auch die subjektive Beurteilung einzelner Íslendingasögur durch die aktuelle und die sich seit Beginn des 19. Jh.s etablierende moderne Sagaforschung generell sowie die nicht selten zu beobachtende Ablehnung der ‚ postklassischen ‘ Vertreter aus ästhetischen Gründen verweisen deutlich auf eine Rezeption als literarische Texte und damit auf eine grundlegende Veränderung in der Rezeptionsgeschichte der Íslendingasögur. Die Íslendingasögur entstehen als kulturelle Texte und werden bis in die Gegenwart auch als kulturelle Texte rezipiert, wie die einleitenden Beispiele deutlich machen. Damit ging lange Zeit auch eine Rezeption als historische Werke einher: Mit Ausnahme eines Teils der ‚ postklassischen ‘ Vertreter wurden sie in wissenschaftlichen Kreisen noch im 19. Jh. als glaubwürdige Geschichtsquellen gelesen (Glauser 2000a: 204, ausführlicher dazu nachfolgend Kap. 3). Die Rezeption als literarische Werke ist die Folge eines Wandels in der sich an die Schreibzeit anschließenden Gedächtniszeit, in der die Íslendingasögur weiter handschriftlich im oral-written continuum überliefert und zugleich zum Gegenstand 54 Zu textstabiler und textvariabler Überlieferung siehe Fried (2004: 298 - 300). 55 Weitere Unterscheidungskriterien sind der Innovationsdruck, unter dem literarische Texte stehen, während für kulturelle Texte die Kanonisierung charakteristisch ist. Literarische Texte stehen „ im offenen Horizont der Geschichte, kulturelle Texte dagegen im geschlossenen Horiziont der Tradition “ (A. Assmann 1995: 242 - 243), und erheben entsprechend „ Anspruch auf eine unerschöpfliche, nie veraltende Aktualität “ (243). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 38 1 Einleitung <?page no="39"?> wissenschaftlicher Analyse werden. 56 Anders als die oben zitierte Anmerkung Vésteinn Ólasons nahelegt, werden die Íslendingasögur im wissenschaftlichen Kontext jedoch nicht konsequent als literarische Texte rezipiert. Vielmehr zeigt die wissenschaftliche Rezeption der Íslendingasögur als literarische Texte zugleich auch eindeutige Merkmale, die auf den Rezeptionsrahmen kultureller Texte verweisen. Mit dem Postulat des Verfalls eines Goldenen Zeitalters liegt der Untergliederung der Gattung Íslendingasögur im Allgemeinen und dem Konzept der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga im Speziellen unverkennbar ein mythologisches Denkmuster zugrunde. 57 Mit seinen Inkonsistenzen, der Hartnäckigkeit, mit der es sich trotz aller widersprechenden Erkenntnisse durchzusetzen und zu halten vermochte, und nicht zuletzt durch die immer wieder zu beobachtende Indifferenz der Forschung gegenüber der Unterscheidung von Fakt und Fiktion bei der Argumentation für die Andersartigkeit der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga steht es dem Mythos näher als einem wissenschaftlichen Ideal. 58 Versteht man die Íslendingasögur als kulturelle Texte und (re-)konstruierte Vergangenheit, rückt entsprechend auch der Konstruktcharakter des Konzepts der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga selbst in den Blick, das damit vom Instrument der Analyse zu ihrem Gegenstand wird. Es kann so nutzbar gemacht werden, um auf einer übergeordneten Ebene neue Erkenntnisse zu den Íslendingasögur, nicht zuletzt den lange vernachlässigten ‚ postklassischen ‘ Vertretern, zu gewinnen. Die Íslendingasögur als kulturelle Texte zu lesen, heißt vor allem aber auch die als ‚ postklassisch ‘ abgewerteten und abgelehnten Werke als valide Vergangenheitskonstruktionen anzuerkennen und ernst zu nehmen, dass 56 Die Bezeichnung ‚ Gedächtniszeit ‘ ( „ era of memory “ ) geht auf Glauser (2000a: 204) zurück, der auf die Notwendigkeit verweist, die Handlungszeit der Texte, die Zeit ihrer Entstehung und die Phase ihrer Transmission zu unterscheiden. Als Besonderheit des Spätmittelalters überlappen hier Schreibzeit und Gedächtniszeit. 57 Entsprechend spricht O ’ Connor (2000: 66 - 69) auch vom Mythos der klassischen Íslendingasaga. 58 Zu nennen sind neben der Bevorzugung bloß erschlossener Textformen zuungunsten der tatsächlich überlieferten (dazu oben S. 28) auch Argumente, die sich auf bei genauerer Betrachtung nicht haltbare Annahmen zur mittelalterlichen Überlieferung stützen (vgl. Peters 2018: 304). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Zahl 36, mit der die Anzahl der Íslendingasögur von der Sagaforschung des 20. Jh.s immer wieder beziffert wird. Sie scheint selbst mythischen Charakter zu haben - so kann sie nur erreicht werden kann, wenn auch ein Großteil der ‚ postklassischen ‘ Vertreter zur Gattung gerechnet wird, was bei Darstellungen der Gattung allerdings teilweise völlig außer Acht gelassen wird. Obwohl Andreas Heusler (1941: 231) etwa etliche ‚ postklassische ‘ Vertreter als „ Isländerfabeln “ nicht zur Gattung zählt (siehe dazu Kap. 3.4.3), verweist er (217) auf 36 Íslendingasögur (die er allerdings nicht sämtlich nennt, was die Problematik verschleiert). Auch Weber (1978: 491) unterliegt diesem Fehlschluss, wenn er konstatiert, dass „ Antrieb und Reservoir dieser Geschichte sein wollenden Gattung ‚ Saga ‘ mit den 36 bekannten ‚ Isländersagas ‘ ausgeschöpft und die mit ihr geschaffene geschichtliche Identität Islands nach dem Ende des Freistaats (1264) zur literarischen Reminiszenz geworden “ waren. Die Zahl 36 wird auch in anderen Zusammenhängen immer wieder genannt, wobei die jeweils genannten Werke sich auf unterschiedliche Weise aus den von Vésteinn Ólason 2005 angegebenen zusammensetzen (in der Regel ohne Berücksichtigung der gemeinhin den þættir zugerechneten Ǫ lkofra saga sowie der nur sehr lose über die Person von Hákon Jarl Sigurðarson an die übrigen Íslendingasögur angebundenen Gunnars saga Keldugnúpsfífls). Die Zahl 36 ist aller Wahrscheinlichkeit nach auf die um die Jahrhundertwende bei Sigurður Kristjánsson veröffentlichte Ausgabe mit Íslendingasögur zurückzuführen, die neben Íslendingabók und Landnámabók 36 Sagas enthielt. Mit ihr erschien zum ersten Mal eine Art Gesamtausgabe, die an die isländische Allgemeinheit gerichtet war und die Íslendingasögur auch der jüngeren Generation nahebringen sollte (Ármann Jakobsson 2013: 260), was eine enorme kulturelle Bedeutung hatte und ebenfalls zum Ende der handschriftlichen Überlieferung der Íslendingasögur beitrug. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.5 Die Íslendingasögur als kulturelle Texte 39 <?page no="40"?> auch sie mit der söguöld die Ursprungszeit der isländischen Gesellschaft darstellen und keinerlei Hinweise darauf geben, dass sie von ihren Vorbildern unterschieden werden wollen, sondern sich im Gegenteil als Ergänzung und Fortsetzung dieser begreifen und dementsprechend präsentieren. Sie stellen damit für die spätmittelalterlichen Isländer nicht minder fundierende Texte dar als die frühen und klassischen Vertreter der Gattung. Von einem kulturwissenschaftlichen Standpunkt sind diese lange vernachlässigten oder gar abgelehnten, als typisch spätmittelalterlich geltenden Ausprägungen der Íslendingasaga, ob Bearbeitungen älterer Werke oder Neuschöpfungen, weniger das Anhängsel einer hochmittelalterlichen Literatur als vielmehr die Aktualisierung hochmittelalterlicher fundierender Erinnerung. Die zugrundeliegenden Mechanismen gilt es zu erforschen, um das überkommene Konzept der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga durch ein dem aktuellen Forschungsstand genügendes Verständnis des Erzählens der Íslendingasaga im Spätmittelalter zu ersetzen. 1.6 Zielsetzung und Methodik Die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur teilen in verschiedener Hinsicht das Schicksal der Fornaldarsögur, die lange ebenfalls als ‚ postklassisch ‘ abgewertet wurden und dementsprechend wenig Beachtung fanden. Im Falle der Fornaldarsögur gelangte die jüngere Sagaforschung mittlerweile zu einer umfassenden Neubewertung der Texte, indem sie diese nicht länger als bloße Unterhaltungsliteratur, sondern als Ausdruck der mittelalterlichen Erinnerungskultur und Medien des kulturellen Gedächtnisses der mittelalterlichen Isländer versteht und dementsprechend in ihren Analysen auf Erinnerung, Überlieferung und Identität fokussiert. 59 Versteht man die Íslendingasögur als kulturelle Texte, was ungeachtet unterschiedlicher Herangehensweisen an die Thematik den Kern der aktuellen Forschung zu den Íslendingasögur darstellt, erscheinen auch die ‚ postklassischen ‘ Werke in einem ganz neuen Licht. Wie die Fornaldarsögur müssen auch sie vor dem Hintergrund ihrer Funktion für die spätmittelalterliche isländische Gesellschaft gelesen und als zeitgenössische Vergangenheitskonstruktionen ernst genommen werden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist dementsprechend, ein stimmiges Erklärungsmodell für das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga zu entwickeln, das insbesondere diejenigen Íslendingasögur einschließt, die lange als ‚ postklassisch ‘ marginalisiert und deutlich von den übrigen Vertretern abgesondert wurden, und damit auch zu einer Gattungskonzeption zu gelangen, die die ‚ postklassischen ‘ Werke als Facetten im Spätmittelalter konstruierter isländischer Vergangenheit angemessen berücksichtigt. Dieses Modell muss zudem anschlussfähig an das Konzept der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga sein und schlüssig verdeutlichen, inwiefern die mittelalterliche Entwicklung die spätere Ausbildung der Subgattung ermöglicht. Meine These ist, dass die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur eine Folge des sich mit der voranschreitenden Textualisierung verändernden Erinnerungsverhaltens der isländischen Gesellschaft sind. Aufgrund der zunehmenden Dominanz der Schrift im kulturellen 59 Zuvorderst zu nennen sind hier die Sammelbände von Ney/ Lassen/ Ármann Jakobsson (2008) sowie Lassen/ Ney/ Ármann Jakobsson (2012). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 40 1 Einleitung <?page no="41"?> Gedächtnis bringt dieses im Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit neuartige Formen hervor, die sich bereits existierende Íslendingasögur zum Vorbild nehmen und im Strom der Tradition an diese anknüpfen, zugleich aber auch die durch die Schrift ausgelöste gesellschaftliche Evolution reflektieren. Wie zu zeigen sein wird, stehen auch ihre spätere Abgrenzung und Abwertung im Zusammenhang mit dem Textualisierungsprozess. Zugleich sind diese jedoch das Resultat eines mythomotorischen Wandels der isländischen Erinnerungen an die eigenen Ursprünge, die im Laufe der Gedächtniszeit beständig aktualisiert werden, um ihre identitätsstiftende Funktion vor dem Hintergrund einer sich verändernden Gegenwart aufrechtzuerhalten und dieser weiter zur Orientierung zu dienen. Analytisch sind somit zwei Ebenen zu unterscheiden: Der progressive Prozess der durch Schrift angestoßenen gesellschaftlichen Entwicklung einerseits sowie die im Laufe des Transmissionsprozesses jeweils neu im Kontext der Gegenwart aktualisierte Mythomotorik der Íslendingasögur andererseits. 60 In der Praxis gehen diese miteinander einher und beeinflussen sich gegenseitig. Die vorliegende Arbeit ist in zwei Teile geteilt, die sich jeweils beiden Ebenen widmen, dabei aber unterschiedlich fokussieren. Teil I - Íslendingasögur und kulturelles Gedächtnis - konzentriert sich auf die Rezeption der Íslendingasaga, den mythomotorischen Wandel, dem die Texte im Laufe ihrer Transmission unterliegen, und entsprechend auf die Entstehung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga (als analytische Kategorie). Teil II - Íslendingasögur und Systemtheorie - widmet sich vornehmlich der mittelalterlichen Entstehungszeit der Saga, der Textualisierung der isländischen Gesellschaft im Mittelalter und entsprechend der Entstehung der spätmittelalterlichen Íslendingasögur (als Texte). Teil I knüpft an die bereits dargelegten theoretischen Positionen an und zeigt abschließend die Notwendigkeit einer Erweiterung des methodischen Zugangs auf. Entsprechend erfolgt im Zuge der Zusammenfassung der in Teil I gewonnenen Ergebnisse die Implikation eines zusätzlichen theoretischen Ansatzes, der zu Beginn von Teil II ausgeführt wird. Die Íslendingasögur als abgrenzbare und eigenständige Textgattung zu behandeln, erfordert zunächst einmal eine exakte Definition dieser, die als Einstieg in die Thematik vorgelegt werden soll. In Anlehnung an Jan Assmanns Definition des kulturellen Gedächtnisses zeige ich in Teil I auf, inwiefern die keine eigenständige literarische Gattung konstituierenden Íslendingasögur als klar abzugrenzende Gattung kultureller Texte definiert und in das in der Sagaforschung verwendete Gattungssystem eingeordnet werden können. Im Anschluss daran gehe ich zunächst auf den Wahrheitsanspruch ein, den die Íslendingasögur als kulturelle Texte geltend machen, und analysiere dann, wie sich die in den Íslendingasögur dargestellte isländische Ursprungszeit etabliert und entwickelt, wobei mein besonderes Augenmerk den ‚ postklassischen ‘ Vergangenheitskonstruktionen und der spätmittelalterlichen Entwicklung gilt. Richard Humphreys Feststellung (2005: 76) folgend, dass „ [k]eine Beschäftigung mit Gattung und Gedächtnis [ … ] gelingen [kann], die nicht der doppelten Konstrukthaftigkeit - des Erinnerns wie der Gattungskonstitution - gerecht wird “ , soll im Anschluss daran die Rezeption der Íslendingasögur in der Gedächtniszeit untersucht werden. Dabei zeige ich auf, dass das Verständnis von einer engen Zusammengehörigkeit sämtlicher, auch der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur ihre Wahr- 60 Mythomotorik bezeichnet Assmann (1992: 78 - 83, 142) folgend die von formativen Texten ausgehenden Impulse, ihre selbstbildformende und handlungsleitende Kraft für eine Erinnerungsgemeinschaft. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.6 Zielsetzung und Methodik 41 <?page no="42"?> nehmung lange prägt, während das Aufkommen einer Abgrenzung und Ablehnung einzelner Vertreter und schließlich der Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Vertreter ein recht junges Phänomen ist. Ausgehend von der Hauptthese der Arbeit, dass die voranschreitende Textualisierung der isländischen Gesellschaft einen wesentlichen Faktor sowohl für die Entstehung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur als auch für ihre spätere Abgrenzung als andersartig darstellt, gehe ich in diesem Zusammenhang zugleich auf erkennbare Umbrüche im oral-written continuum ein. Auch der Wandel der Mythomotorik der Íslendingasögur im Verlauf der Jahrhunderte wird in diesem Zusammenhang thematisiert werden. Für das in Teil II der Arbeit entwickelte Modell, das die Entstehung als ‚ postklassisch ‘ diskreditierter Vergangenheitskonstruktionen bei gleichzeitiger Weiterführung hochmittelalterlicher Strukturen des kulturellen Gedächtnisses zu greifen sucht, bediene ich mich Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, von nun an kurz als Systemtheorie bezeichnet. Obgleich zuvorderst eine „ theoretisch fundierte Beschreibung der modernen Gesellschaft “ (Luhmann 1997: 22), hat die Systemtheorie „ eine erhebliche geschichtliche, evolutionäre Offenheit “ , kann „ verschiedene geschichtliche Zustände [ … ] beschreiben “ (Luhmann 2004: 26 - 27) und verfügt aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrads und ihrer historischen Begründung über die Terminologie, auch die Funktionsweise vormoderner Gesellschaften zielgenau in den Blick zu nehmen (vgl. dazu Stöckmann 2001). Da Schrift in Luhmanns Theorie den zentralen Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung Alteuropas darstellt, liegt die Bezugnahme auf die Systemtheorie bereits vor dem Hintergrund der Ausgangshypothese, dass Entstehung und Rezeption der Íslendingasögur nur vor dem Hintergrund der fortschreitenden Textualisierung der isländischen Gesellschaft adäquat zu verstehen sind, nahe. Die im ersten Teil erfolgende Analyse der Rezeption der Íslendingasögur im Wandel der Zeit wird die Passgenauigkeit der Systemtheorie für die vorliegende Fragestellung weiter verdeutlichen. Die Vereinbarkeit von Untersuchungen zum kulturellen Gedächtnis und seiner Systemtheorie bringt Luhmann (1999: 47) selbst zum Ausdruck, der Kultur als „ das Gedächtnis sozialer Systeme “ versteht und in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann verweist. 61 Für die vielfältigen Kontroversen um die Luhmannsche ‚ Supertheorie ‘ ist in der vorliegenden Arbeit kein Raum. Vielmehr nutze ich die Systemtheorie, wie vom Historiker Frank Becker (2004: 8) vorgeschlagen, als einen Steinbruch, „ aus dem nur diejenigen Elemente geschlagen werden, die sich auf den jeweiligen Forschungsgegenstand beziehen “ , um auf diese Weise vorhandene Forschung zu den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur zu koordinieren und einen theoretischen Hintergrund für die praktische Arbeit an den im Zentrum dieser Untersuchung stehenden Texte zu entwerfen. Indem ich die Íslendingasögur als Kommunikation eines sozialen Systems verstehe, lassen sie sich anhand der Unterscheidung von Medium und Form behandeln, an der sich in der Systemtheorie die Behandlung von Kommunikation orientiert, und mittels der damit verbundenen „ eigenwillige[n], rein funktionale[n] Neufassung des Medienbegriffs “ (Luhmann 1984: 220) analysieren. Nachdem ich so ein theoretisches Modell zur Analyse des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga entwickle, das auf der Unterscheidung von Medium und Form 61 Vgl. auch Buskotte (2004: 89), der vermerkt, dass sich „ Assmanns Studien als historisch-empirische Folie zu Luhmanns Theorie lesen “ lassen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 42 1 Einleitung <?page no="43"?> fußt, soll dessen Funktionsweise schließlich konkret anhand verschiedener Beispiele vorgeführt werden. Dabei stelle ich nicht nur neue Lesarten einzelner Sagas oder Aspekte vor, sondern beleuchte auch bekannte Lesarten vor dem Hintergrund der dargestellten Anwendung der Unterscheidung von Medium und Form auf die Íslendingasögur neu, um so die Besonderheiten des Erzählens der Íslendingasögur im Spätmittelalter aufzuzeigen. Das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasögur umfasst gemäß den in den bisherigen Ausführungen dargestellten Implikationen sämtliche spätmittelalterlich im Strom der Tradition lebendigen Texte, also auch als früh oder klassisch klassifizierte Werke, die in zeitgenössischen Handschriften erhalten sind. Im Zentrum meiner Untersuchung stehen insbesondere die noch immer als ‚ postklassisch ‘ marginalisierten Íslendingasögur mit ihren ungewöhnlichen und zum Teil neuartigen Vergangenheitskonstruktionen, die ich als durch die voranschreitende Textualisierung ermöglichte innovative Aktualisierung der isländischen Ursprungszeit verstehe. 62 Dabei fokussiere ich auf diejenigen der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur, die sich in der vorangehenden Analyse der Entstehung dieser Subkategorie im Laufe der Forschungsgeschichte als paradigmatisch für den postulierten Niedergang der Íslendingasaga im Spätmittelalter erweisen, und ziehe aufgrund der Unfestigkeit der Texte und der damit verbundenen Problematik vornehmlich diejenigen Werke heran, die tatsächlich auch in spätmittelalterlichen Pergamenten handschriftlich belegt sind. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist nicht, eine neue klar abgrenzbare Kategorie der spätmittelalterlichen Íslendingasaga zu etablieren, sondern vielmehr ein die Spezifika einzelner Werke subsumierendes Standbild der spätmittelalterlichen Entwicklung der Gattung zu zeichnen. 62 Aufgrund des pejorativen Beiklangs verwende ich die Bezeichnung ‚ postklassisch ‘ in Anführungszeichen, wie es in jüngerer Zeit zunehmend Usus wurde. Die Bezeichnung ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga rekurriert auf die eingangs dargestellte Klassifizierung, während ich mich mit der Bezeichnung ‚ spätmittelalterlich ‘ auf diejenigen Werke beziehe, deren Entstehung im Spätmittelalter aufgrund paläographischer und linguistischer Indizien als gesichert gelten kann. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 1.6 Zielsetzung und Methodik 43 <?page no="45"?> Teil I: Íslendingasögur und kulturelles Gedächtnis 2 Theoretische Grundlagen 2.1 Die Íslendingasaga als kulturelle Textgattung So allgegenwärtig die traditionelle Gattungseinteilung im Zusammenhang mit der isländischen Sagaliteratur ist, so rege wird sie seit einigen Jahrzehnten auch diskutiert. 1 Im Falle der Íslendingasögur krankt die bisherige Gattungsdefinition wie dargestellt nicht zuletzt auch daran, dass sie die ‚ postklassischen ‘ Werke nicht integriert, sondern separiert und sie nicht als vollwertige Mitglieder der Gattung anerkennt. Als distinktive literarische Gattung lassen sich die Íslendingasögur wie auch die anderen Textgruppen der Sagaliteratur zudem nicht exakt definieren, sondern lediglich als Subgattung der Gattung Saga. 2 Ausgehend von der Feststellung, dass es sich bei den Íslendingasögur um kulturelle Texte handelt, ist, wie einleitend bereits skizziert, eine Gattungsdefinition möglich, die diesen Status der Texte zur Grundlage einer Textsortenbildung macht und damit auch dem Eindruck eines „ tacit agreement among saga writers that their literary technique was applicable only to the period 950 - 1050 in Iceland “ (Andersson 1964: 113) Rechnung trägt. 3 Sie fokussiert nicht auf die literarische Gestalt der Texte, sondern auf ihre kulturellen Entstehungshintergründe und zieht textexterne Merkmale zu ihrer Beschreibung heran, indem sie Kommunikationssituation und -zweck miteinbezieht und ausgehend vom Interpretationsrahmen der Gattung ihre Abgeschlossenheit definiert. 4 Die Einheit, die sämtliche Íslendingasögur bilden, ist dementsprechend keine eigenständige literarische Gattung, wohl aber eine 1 Vgl. dazu aktuell A Critical Companion to Old Norse Literary Genre (Bampi/ Larrington/ / Sif Rikhardsdottir 2020), auf das aufgrund des Erscheinens nach Fertigstellung der vorliegenden Arbeit nachfolgend leider nur am Rande verwiesen werden kann. 2 Wie Clunies Ross (1998: 97 - 98) darlegt, ist die mittelalterliche isländische Saga „ certainly a distinctive literary genre “ , die einzelnen Sagaklassen können jedoch nicht als eigenständige literarische Gattungen mit jeweils charakteristischen Merkmalen definiert werden. Sie sind vielmehr Subgattungen der Gattung Saga, die jeweils unterschiedliche Epochen der Weltgeschichte repräsentieren, wobei bei der Darstellung unterschiedlicher Epochen jeweils andere der vier Haupterzählmodi der Gattung Saga (realistisch/ historisch, genealogisch/ biographisch, phantastisch/ übernatürlich und prosimetrisch) dominieren. Die jüngere Sagaforschung diskutiert die Gattungsproblematik weiter ausführlich, legt dabei jedoch weiter vornehmlich ein Verständnis der Sagas als literarische Texte zugrunde, das vor allem die Probleme der etablierten Gattungen herausstellt (vgl. dazu insbesondere Bampi/ Larrington/ Sif Rikhardsdottir 2020). Im Hinblick auf eine exakte Gattungsdefinition, die meines Erachtens unerlässlich für eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit den Texten im Zusammenhang konkreter Fragestellungen ist, sind diese Diskussionen jedoch wenig zielführend. 3 Zu Gattungen als Textsortenbildung siehe Raible (1980). 4 Wie Raible (1980: 335) betont, determinieren Kommunikationssituation und -zweck Texte entscheidend, weshalb zur Beschreibung von Texten neben textinternen Merkmalen immer auch textexterne Merkmale nötig sind. Während Aspekte der Kommunikationssituation für die gesamte Sagaliteratur im Mittelalter teilweise nur erschlossen werden können und diesbezüglich mögliche Differenzen zwischen den Gattungen offen bleiben müssen, ist der Kommunikationszweck der Íslendingasögur, die Fundierung einer isländischen Identität vermittels Darstellung der Anfänge, durchaus eindeutig, wie nachfolgend ausführlicher diskutiert wird. <?page no="46"?> distinktive kulturelle Textgattung, die durch für sie charakteristische Erinnerungsfiguren bestimmt werden kann. Erinnerungsfiguren sind, wie Jan Assmann (1992: 37 - 40) aufzeigt, raum-, zeit- und identitätskonkret, d. h. gebunden an einen bestimmten Raum, eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Gruppengedächtnis. Allen Íslendingasögur ist gemeinsam, dass sie auf Island (sowie zusätzlich in Norwegen und weiteren mit Island zur Wikingerzeit in Kontakt stehenden Ländern) im Zeitraum vom ausgehenden 9. Jh. bis in die Mitte des 11. Jh.s - der sog. söguöld - angesiedelt sind und auf die sich mit der Besiedelung Islands dort neu formierende Gemeinschaft und ihre frühe Entwicklung fokussieren. Sie verbinden die drei für die sich etablierende Gesellschaft zentralen Erinnerungsfiguren Auswanderung, Besiedelung und Christianisierung und erinnern zusammen mit Íslendingabók und Landnámabók die Ursprungszeit der Isländer. Die Erinnerung an eine Ursprungszeit teilen wie angesprochen alle Erinnerungsgemeinschaften. In rein mündlichen Gesellschaften nimmt sie die Form einer absoluten Vergangenheit an und bringt ein zyklisches Zeitverständnis zum Ausdruck, während sich in Gesellschaften, die über Schrift verfügen, allmählich ein lineares Zeitverständnis und damit eine historische Vergangenheit etabliert (dazu Fried 2004: 218 - 222, Assmann 1992: 75 - 78). Die Íslendingasögur stellen dementsprechend eine spezifisch isländische historische Ursprungszeit dar. Ihr gemeinsamer Raum-, Zeit- und Gruppenbezug macht sie zu einer eigenständigen Gattung kultureller Texte. Nicht aufgrund formaler oder inhaltlicher Kriterien sind die Texte als Einheit zu verstehen, die sich eindeutig von anderen Textgruppen unterscheiden lässt, sondern aufgrund ihrer spezifischen Funktion im kollektiven Gedächtnis, die sich anhand von Universalien kulturellen Erinnerns bestimmen lässt. Die handschriftliche Überlieferung reflektiert diese Einheit wie eingangs angesprochen in Form von Sammelhandschriften wie Möðruvallabók und Vatnshyrna, die ausschließlich Íslendingasögur, klassische als auch ‚ postklassische ‘ , beinhalten (vgl. Clunies Ross 1998: 103 - 113). Eine spezifische Bezeichnung für die Íslendingasögur findet sich gleichwohl nur einmal in einem mittelalterlichen Pergament, und zwar in der ältesten Handschrift der Gunnlaugs saga, der (für den entsprechenden Teil) auf die erste Hälfte des 14. Jh.s datierten Holm. Perg. 18 4to. In dieser wird die Saga in der Überschrift auf Ari inn fróði zurückgeführt und so indirekt zu den landnámssögur (Landnahmesagas) gerechnet: „ Saga þeira Hrafns ok Gunnlaugs ormstungu, eptir því sem sagt hefir Ari prestr inn fróði Þorgilsson, er mestr fræðimaðr hefir verit á Íslandi á landnámss ǫ gur ok forna fræði “ (ÍF III: 51). 5 Die Landnahme selbst wird in der Gunnlaugs saga allerdings nicht behandelt. Im Gegensatz zu den Íslendingasögur mit norwegischer Vorgeschichte setzt die Saga deutlich nach der in der Íslendingabók genannten Landnahmeperiode ein und ist in der Zeit um die Christianisierung angesiedelt. Die Bezeichnung landnámssögur scheint hier in einem umfassenderen kulturellen Sinn gebraucht und auch die Aneignung des Landes durch eine Semiotisierung der Landschaft, wie sie die Íslendingasögur vornehmen, miteinzubeziehen. 6 5 Saga von Hrafn und Gunnlaugr ormstunga nach dem, was der Priester Ari inn fróði Þorgilsson, der der größte Gelehrte in Landnahmegeschichten und altem Wissen auf Island war, berichtet hat. 6 Landnám stellt, wie Bruhn (1999: 160 - 161) darlegt, im mittelalterlichen Island einen Bedeutungskomplex dar, dessen unterschiedliche Aspekte in unterschiedlichen Zusammenhängen bedeutsam sind, wobei die anderen Aspekte jeweils mitgedacht werden. Als Startpunkt von zentraler Bedeutung für die sich neu etablierende Erinnerungsgemeinschaft entwickelt sich das Verständnis davon historisch und unterliegt historischen Veränderungen. Im 13. und frühen 14. Jh. ist der an die Landnahme geknüpfte Stoff nach Bruhn (1999: 167) als „ en art social institution, som man forholdt sig Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 46 2 Theoretische Grundlagen <?page no="47"?> Als zeitgenössischer Überbegriff für sämtliche narrativen Texte, die im Sinne einer kulturellen Textgattung die isländische Ursprungszeit thematisieren, erscheint landnámssögur sehr wahrscheinlich, wiewohl offen bleiben muss, wie verbreitet er tatsächlich war. 7 Dementsprechend ist die Íslendingasaga (mit der hier vorgeschlagenen Erweiterung um Íslendingabók, Landnámabók sowie die Íslendingaþættir) als moderne analytische Kategorie durchaus kongruent mit der ethnischen Kategorie, die von der Angehörigen der mittelalterlichen isländischen Kultur wahrgenommen wurde. 8 Während die aktuelle Forschung zwischen der landnámsöld (Landnahmezeit) und der gemeinhin als söguöld (Sagazeit) bezeichneten Haupthandlungszeit der Íslendingasögur unterscheidet, 9 umfasst die Ursprungszeit im kulturellen Gedächtnis des Mittelalters landnámsöld und söguöld, wie sowohl die Landnámabók als auch die Íslendingasögur zum Ausdruck bringen: Die Landnámabók verweist nicht selten auf die Zeit nach Gründung des Althing, insbesondere auf die Christianisierung, zudem berichten zahlreiche Íslendingasögur auch explizit von der Landnahme. Elaborierte narrative Vergangenheitskonstruktionen in Form der Íslendingasögur konzentrieren sich auf die zweite Phase der Ursprungszeit, in ihrem Raum-, Zeit- und Gruppenbezug unterscheiden sie sich jedoch nicht von der Landnámabók und auch der Íslendingabók. Definiert man die Íslendingasögur als kulturelle Textgattung, deren Einheit auf der Konstruktion einer spezifischen Identität gründet, sind entsprechend auch Landnámabók und Íslendingabók einzuschließen. Auch diese Werke, die in Abgrenzung zu den Íslendingasögur oftmals als ‚ historisch ‘ bezeichnet werden, konstruieren spezifisch isländische Ursprünge und fundieren damit die sich mit der Besiedelung neu etablierende Gemeinschaft (Hermann 2010). 10 In dieser Funktion gehen sie den Íslendingasögur voran und begründen so das fiktionale Universum, das diese ausgestalten. Sowohl die Íslendingabók als auch die mutmaßliche erste Fassung der Landnámabók entstehen im ersten Viertel des 11. Jh.s und damit zu der Zeit, in der auch die Christianisierung nicht mehr in den Zeitrahmen des kommunikativen Gedächtnisses fällt. Mit ihnen etabliert sich eine neue Form des kulturellen Erinnerns in Form von Geschichtsschreibung. Der allmähliche Übergang von Erinnerungen an denkwürdige til og bearbejdede “ (eine Art soziale Einrichtung, zu der man in Beziehung stand und die man verarbeitete) zu verstehen. Landnám scheint entsprechend auch die zeitgenössische Begrifflichkeit für das semantische Feld der Ursprungserinnerungen zu sein, die sich mit den Íslendingasögur zur Sagazeit als isländische Ursprungszeit auskristallisieren. 7 Die Bezeichnung Landnámabók ist, wie Bruhn (1999: 160) vermerkt, ab dem 14. Jh. belegt, kann aber durchaus auch älter sein. 8 Die Unterscheidung zwischen analytischer Kategorie und ethnischer Kategorie wurde von Harris (1975) in die Sagaforschung eingebracht, um der Problematik einer Inkongruenz zwischen mittelalterlicher und moderner Wahrnehmung im Bezug auf die Kategorisierung der Sagas (vgl. auch Lönnroth 1975) zu begegnen. Diese wird auch aktuell vor dem Hintergrund der Entwicklungen der Sagaforschung in den letzten Jahrzehnten wieder diskutiert, so von Lukas Rösli (2020), der eine stärkere Einbeziehung der tatsächlichen Überlieferung der Texte in diesem Zusammenhang fordert (55 - 59). Seine Feststellung, dass es sich bei der Gattungsterminologie um „ an arbitrary social or scholarly convention “ handelt (54), führt bei einem Verständnis der Íslendingasögur als (re-)konstruierte Vergangenheit unweigerlich zur einleitend angesprochenen Notwendigkeit, auch diese Konvention als Konstrukt in den Blick zu nehmen. 9 Als Beginn der söguöld gilt die Gründung des Althing im Jahr 930, das Ende wird auf 1030 oder in jüngerer Zeit häufiger auf 1050 datiert, da der Haupthandlungsspielraum etlicher Íslendingasögur über 1030 hinausreicht. Ausführlicher zur söguöld siehe Kap. 3.4.1. 10 Zum fundierenden Charakter der isländischen Sagaliteratur siehe Hermann (2010). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.1 Die Íslendingasaga als kulturelle Textgattung 47 <?page no="48"?> Ereignisse für die sich auf Island etablierende Gemeinschaft vom kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis beginnt jedoch schon vor Annahme der lateinischen Schrift, wie Formen spezialisierter Tradition wie die hochgradig geformten Skaldenstrophen mit ihren symbolisch codierten Kenningar verdeutlichen. 11 Erst im Medium der Schrift wird diese Ursprungszeit jedoch zu einer klar strukturierten Einheit im kulturellen Gedächtnis. Íslendingabók und Landnámabók gründen auf mündlichen Traditionen, sind jedoch selbst nicht fixierte mündliche Überlieferung, sondern eindeutig Schriftwerke (Glauser 2010: 313 - 314). Insbesondere die Íslendingabók als erster in der Volkssprache verfasster Text, der eine zusammenhängende historische Vergangenheit für die Isländer konstruiert, macht deutlich, dass das sich entwickelnde isländische Selbstbewusstsein nicht nur in der mündlichen Überlieferung gründet, sondern von Anfang an von literarischen Modellen beeinflusst war (dazu Hermann 2005: 78 - 82). Die Landnámabók nimmt ihren Anfang ebenfalls als gelehrtes Projekt, das mündliche Überlieferung integriert (Adolf Friðriksson/ Orri Vésteinsson 2003: 54), gibt sich jedoch offenkundiger als die Íslendingabók als kultureller Text zu erkennen, indem sie am Fließen der Erinnerung im mittelalterlichen oral-written continuum partizipiert und in diesem beständig aktualisiert wird. 12 Doch auch die Íslendingabók ist nicht der historiographische Text, als der sie lange angesehen wurde. Auch sie vereint Mythos und Geschichte zu einem sinnstiftenden Ganzen (Hermann 2007: 17 - 19), 13 wobei die nordische Herkunft der Siedler, das gemeinsame Gesetz, dem sie unterstehen, sowie der gemeinsam vollzogene Glaubenswechsel einheits- und identitätsstiftend sind (dazu Wamhoff 2016: 79 - 142). Die gesellschaftliche Rolle der isländischen Bischöfe wird von Ari dabei idealisiert (Mundal 2011) und auch außertextuelle Belege der Archäologie und Genetik zeigen, dass seine Ausführungen zwar auf einer historischen Realität gründen, diese jedoch nicht abbilden, sondern auf ihrer Basis eine Vergangenheit (re-)konstruieren, um Identität zu schaffen. 14 Nach Pernille Hermann (2005: 86 - 87) ist die Íslendingabók aller Wahrscheinlichkeit nach als „ a tool for defining an Icelandic selfconsciousness “ zu verstehen: Ihre Perspektive ist nicht nur eine nationale, sondern darüber hinaus eine internationale, die Island räumlich und zeitlich in die christliche Welt 11 Zu den Besonderheiten der Überlieferung im kulturellen Gedächtnis und ihrer Geformtheit im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis siehe Assmann (1992: 48 - 56). Zur skaldischen Dichtung als Träger von Erinnerungen siehe Goeres (2015). 12 Wie Adolf Friðriksson/ Orri Vésteinsson (2003) aufzeigen, stellt die Landnámabók sowohl in ihrer Grundanlage als auch im Detail ein Konstrukt dar, das weit mehr von gelehrter Methodik als von mündlicher Überlieferung geprägt ist: „ Although local traditions were clearly employed, they were forced into a pre-determined mould - a model of how the settlement of Iceland happened. “ (154) Wie die Íslendingabók dient auch die Landnámabók sozialen und kulturellen Zwecken der isländischen Oberschicht und ist mutmaßlich „ the product of a need to provide the Icelandic landscape with a history. “ Dieses Motiv war in vielen Fällen in Einklang mit der Aufzeichnung der Herkunftsmythen mächtiger Familien, führte aber auch zur Erfindung von Geschichte, die auf wenig oder keinem historischen Material beruht (146). 13 Zu den mythischen Aspekten der Íslendingabók siehe Lindow (1997). 14 In der Íslendingabók (ÍF I: 9) heißt es, dass die Besiedelung um 930 abgeschlossen war: „ Svá hafa ok spakir menn sagt, at á sex tegum vetra yrði Ísland albyggt, svá at eigi væri meirr síðan. “ (So haben es auch weise Männer gesagt, dass Island nach sechzig Jahren ganz besiedelt war, so dass danach keine Besiedelung mehr stattfand.) Demgegenüber zeigen archäologische Untersuchungen, dass die Besiedelung auch im 10. Jh. anhielt (Orri Vésteinsson/ Hildur Gestsdóttir 2015). Aris rekonstruierter rein nordischer Herkunft der Isländer stehen genetische Untersuchungen entgegen, die einen beträchtlichen keltischen Anteil belegen (Agnar Helgason u. a. 2000). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 48 2 Theoretische Grundlagen <?page no="49"?> einbindet, was nahelegt, dass sie im Mittelalter ein Werk von Gelehrten für Gelehrte ohne praktische Relevanz für die Mehrheit der Isländer war. In die fließende Überlieferung des Mittelalters ist die Íslendingabók nicht eingegangen, ihre Vergangenheitskonstruktion jedoch bildet die Grundlage der Ausbildung einer fundierenden historischen Vergangenheit der Isländer. Ari greift sowohl auf Inhalte des kulturellen als auch des kommunikativen Gedächtnisses zurück und verbindet die beiden Erinnerungsrahmen mittels chronologischer Darstellung zu einer Einheit. Ohne zwischen beiden zu unterscheiden, verweist er dabei jeweils auf Zeugen, insbesondere seinen Ziehvater Teitr, der zur Zeit der Christianisierung im Kleinkindalter war und das hohe Alter von 98 Jahren erreichte, und verbindet Vergangenheit und Gegenwart so personal, über direkte Beziehungen oder Ketten von Gewährspersonen, die in der Regel bis zu einem Augenzeugen zurückführen. 15 Dennoch ist klar erkennbar, welche Zeitspanne die isländische Ursprungszeit zur Entstehungszeit der Íslendingabók umfasst, da deren Gesamtkomposition ungeachtet der Anlage als Schriftwerk auch die Erinnerungsstruktur einer mündlichen Gesellschaft abbildet: Nachdem Ari die Ursprünge der Isländer von der Landnahme und Besiedelung bis zur Christianisierung ausführlich berichtet, folgt in Kap. 8 eine äußerst knappe Darstellung einer Zeitspanne von knapp fünfzig Jahren, bevor sich die nun wieder ausführlichen Erinnerungen des kommunikativen Gedächtnisses von der Einsetzung des ersten isländischen Bischofs im Jahr 1056 bis in Aris Gegenwart anschließen. Die Íslendingabók fixiert so einen floating gap, die in der Überlieferung mündlicher Gesellschaften mitwandernde Zeitspanne zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis, aus der nichts oder wenig überliefert wird und die in der mündlichen Überlieferung durch einen nahtlosen Anschluss vom kommunikativen an das kulturelle Gedächtnis überbrückt wird (dazu Assmann 1992: 48 - 50). Weder Íslendingabók noch Landnámabók sind historiographische Werke im modernen Sinn, vielmehr konstruieren sie ebenfalls eine Vergangenheit für die Isländer, die Identität stiftet. Die Íslendingasögur als kulturelle Texte zu verstehen, heißt somit auch, Íslendingabók und Landnámabók nicht distinktiv, sondern integrativ zu behandeln. Ihre Abgrenzung als ‚ historiographisch ‘ ist anachronistisch und kulturellen Texten nicht angemessen (vgl. Hermann 2005: 82 - 84). Die Ausbildung isländischer Identität und ihre literarischen Entwicklungen lassen sich nur adäquat nachvollziehen, wenn Íslendingabók und Landnámabók gemeinsam mit den Íslendingasögur als eine kulturelle Textgattung konstituierend verstanden werden. Dabei zeigt sich auch, dass die Formation der isländischen Ursprungszeit mit Aris Pionierwerk nicht abgeschlossen ist, sondern ebenfalls einen Prozess darstellt. So umfasst die Ursprungszeit im Zuge der zunehmenden Textualisierung schließlich auch die Jahrzehnte nach der Christianisierung, womit die Íslendingasögur den floating gap, den ältere Texte noch zu erkennen geben, schließen. Auch im Bezug auf die Zugehörigkeit weiterer Werke unterscheidet sich diese kulturelle Textgattung vom aktuellen, einzig die eigentlichen Íslendingasögur umfassenden Gattungsverständnis. Dass die Færeyinga saga, die gelegentlich als Verlegenheitslösung zur Gattung geschlagen wird (siehe z. B. Vésteinn Ólason 1998: 82), nicht dazu gehört, versteht sich von selbst. In jedem Fall zur Gattung zu rechnen ist dagegen die Kristni saga, oder 15 Zur Verbindung der beiden Erinnerungsrahmen bei Ari und dem hypoleptischen Diskurs in der Íslendingabók siehe Wamhoff (2016: 179 - 185). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.1 Die Íslendingasaga als kulturelle Textgattung 49 <?page no="50"?> vielmehr deren erster Teil, der von der Christianisierung Islands berichtet. Wie viele Íslendingasögur enthält dieser Teil der Kristni saga Skaldenstrophen sowie Dialoge und unterscheidet sich deutlich vom zweiten Teil, der vom Leben der beiden ersten isländischen Bischöfe Ísleifr Gizzurarson (1006 - 1080) und Gizzurr Ísleifsson (1042 - 1118) sowie einer Fehde berichtet. Zwischen beiden Teilen liegt eine Zeitspanne von fünfzig Jahren, über die kaum etwas berichtet wird. Die Anfang oder Mitte des 13. Jh.s entstandene Kristni saga erweist sich so als hybrider Text, der Erinnerungen des kulturellen sowie des kommunikativen Gedächtnisses aus einer spezifisch christlichen Perspektive zusammenführt. Im Gegensatz zur Íslendingabók fixiert die Kristni saga allerdings einen absoluten floating gap und schließt Erinnerungen der fundierenden sowie der jüngeren Vergangenheit nahtlos aneinander. 16 Nicht zuletzt unterscheidet ein derartiges Verständnis der Íslendingasögur als kulturelle Textgattung nicht zwischen sögur und þættir (vgl. Glauser 2000a). 17 Þættir sind ebenfalls zur Gattung zu zählen, wenn sie die isländische Ursprungszeit abbilden und den entsprechenden Raum-, Gruppen- und Identitätsbezug herstellen. Neben den Íslendinga þættir, der größten Gruppe der þættir, die die Reise eines Isländers an den Königshof und seine Auseinandersetzung mit dem König thematisieren, erinnern auch etliche andere þættir die isländische Ursprungszeit, insbesondere die feud þættir ( „ small-scale family sagas “ (Ashman Rowe/ Harris 2005: 463)), aber auch skald þættir und dream þættir sowie weitere þættir, die keiner dieser Gruppen zugeordnet werden können. 18 Wie Rodney A. Maack (1987) zeigt, schließt eine Gruppe von þættir besonders eng an die Íslendingasögur an. Sie haben mehr Gemeinsamkeiten mit den Íslendingasögur oder Episoden aus diesen als mit allen anderen þættir, sie ähneln den Íslendingasögur stilistisch, thematisch und in der Erzählweise, weshalb Maack sie unter Verwendung einer auch in der handschriftlichen Transmission verschiedentlich verwendeten Bezeichnung söguþættir nennt. 19 Von den Íslendingasögur unterscheiden sie sich in erster Linie durch ihren Fokus: 16 Der Übergang von Kap. 13 zu Kap. 14 der Kristni saga markiert den Bruch zwischen den beiden Erinnerungsrahmen. Wie Irene Kupferschmied (2009: 127 - 128) feststellt, werden die beiden Sagateile über diese Lücke in der Chronologie hinweg jedoch durch die Person Gizzurr hvíti zusammengefügt, der anfangs unter den wichtigsten Häuptlingen genannt wird, eine zentrale Rolle bei der Christianisierung einnimmt und auch zu Anfang des 14. Kapitels als Vater des ersten isländischen Bischofs im Fokus steht. Wie auch in Aris Íslendingabók werden kulturelles und kommunikatives Gedächtnis also durch die Lebensspanne eines Individuums verbunden, was auf die Bedeutung personaler Erinnerung in dieser frühschriftlichen Phase verweist. 17 Mit þættir (Pl. þættir) bezeichnet die Sagaforschung zum einen Abschnitte einer umfangreichen Saga, zum anderen kürzere Texte in Abgrenzung von den längeren Sagas. Während þættir in der ältesten Überlieferung immer in einen Kontext eingebettet sind, kam die Bezeichnung erst im Laufe des 15. Jh.s auch für kürzere Erzählungen, die ohne den Kontext einer umfangreicheren Saga überliefert sind, in Gebrauch (Würth 1991: 19). Eindeutig zwischen Saga und þáttr unterschieden wird im Mittelalter und auch der Neuzeit jedoch nicht, etliche Werke werden im Laufe ihrer Transmission sowohl als saga als auch als þáttr bezeichnet. Ein eindrückliches Beispiel für die Austauschbarkeit der Bezeichnungen stellt die Handschrift AM 504 4to dar, die im Bezug auf Kjalnesinga saga und Jökuls þáttr Búasonar die in der Sagforschung üblichen Klassifizierungen konträr verwendet: „ Saga af Jökli Búasyni á að fylgja Kjalnesinga þætti um Búa “ (Saga von Jökull Búason muss Kjalnesinga þáttr über Búi folgen) (https: / / handrit.is/ manuscript/ view/ is/ AM04-0504 [zuletzt abgerufen am 28.02.2023]). 18 Zu den þættir und ihrer Klassifizierung anhand inhaltlicher Merkmale siehe Ashman Rowe/ Harris (2005: 463 - 464). 19 Zu diesen rechnet Maack auch þættir, die Bestandteil von Íslendingasögur sind, wie den Spesar þáttr der Grettis saga (vgl. dazu Ashman Rowe 2017: 155). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 50 2 Theoretische Grundlagen <?page no="51"?> The söguþættir illuminate one event of overriding importance in a man ’ s life, telescoping what comes before and what comes after. The longer sagas, on the other hand, make an attempt to present a fuller picture of the lives of the protagonists. (Maack 1987: 61) Aus derselben Erzähltradition entstanden, sind sowohl söguþættir als auch Íslendingasögur Träger des kulturellen Gedächtnisses der Isländer und bilden dementsprechend eine gemeinsame kulturelle Textgattung, was nicht zuletzt diejenigen söguþættir verdeutlichen, die Fortsetzungen einzelner Sagas darstellen wie z. B. der Bolla þáttr zur Laxd œ la saga, der Jökuls þáttr Búasonar zur Kjalnesinga saga, oder Vorgeschichten wie der Brandkrossa þáttr zur Droplaugarsona saga. 20 Die Klassifizierung der þættir anhand von Struktur und Inhalt, die ihren Gegenstand ebenfalls als literarische Texte versteht, ist lediglich nachrangig von Bedeutung, wenn sie als kulturelle Texte gelesen werden. So sind auch Texte wie die in der Regel mit den Biskupasögur klassifizierten Þorvalds þáttr víðf ǫ rla I und II sinnvoller als Íslendinga þættir zu lesen: Sie sind in der Zeit vor der Christianisierung und damit zentral in der Sagazeit angesiedelt und stellen keinen Teil der Geschichte isländischer Bischofe dar, sondern mit frühen Missionierungsbemühungen den Weg zur isländischen Christianisierung. 21 Wie die ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur sind auch die þættir ein editorisches Konstrukt, das seine Wurzeln im 19. Jh. hat und deutlich vom isländischen Nationalismus beeinflusst ist, das jedoch nicht in Einklang mit der mittelalterlichen Überlieferung der Texte zu bringen ist (Ármann Jakobsson 2013). Während die Forschung des 19. und 20. Jh.s die þættir als short stories und solchermaßen als eine Art „ sister genre “ zur Íslendingasaga konstruierte (Ármann Jakobsson 2013: 279), sind sie in den mittelalterlichen Handschriften in den Kontext von Konungasögur eingebunden. Die ältesten sechs þættir sind in der im 13. Jh. entstandenen Konungasaga-Sammlung Morkinskinna überliefert und waren bereits in der um 1220 entstandenen Handschrift, auf die diese zurückgeht, enthalten (Ashman Rowe/ Harris 2005: 466 - 467). Damit sind die þættir nicht nur in älterer Überlieferung erhalten als die Íslendingasögur, sondern allem Anschein nach auch vor diesen entstanden. Bei der Überführung des kulturellen Gedächtnisses in die Schriftlichkeit wird isländische Identität also zunächst im Rahmen der Konungasögur und damit wie auch auf der narrativen Ebene in enger Abhängigkeit vom norwegischen Mutterland konturiert. Mit der Etablierung der Íslendingasaga entstehen zudem im direkten Anschluss an diese auch kürzere Texte, die die isländische Ursprungszeit ausgestalten. Diese Befunde machen deutlich, dass die Íslendingasögur als kulturelle Texte nur im Rahmen eines weiter gefassten 20 Die Laxd œ la saga erwähnt im letzten Kapitel „ Bolli ok Þordís tóku við búi í Tungu, sem Snorri hafði mælt “ (ÍF V: 226; Bolli und Þorðis nahmen Wohnstatt in Tunga, wie Snorri festgesetzt hatte), der jüngere Anschluss beginnt dann mit den Worten „ Í þann tíma, er Bolli Bollason bjó í Tungu “ (ÍF V: 230; In der Zeit, in der Bolli Bollason in Tunga wohnte “ ). Der Brandkrossa þáttr (ÍF XI: 183) nimmt als Vorgeschichte Bezug auf die Droplaugarsona saga „ Þar hefjum vér upp Helganna s ǫ gu, er Ketill þrymr er “ (Wir beginnen die Saga von den Helgis mit Ketill þrymr). Kjalnesinga saga und Jökuls þáttr Búasonar sind ein eindrückliches Beispiel für die Vielstimmigkeit der mittelalterlichen isländischen Literatur samt damit verbundener Widersprüche. So findet sich im letzten Kapitel der Kjalnesinga saga die - in den verschiedenen Handschriften unterschiedlich formulierte - Anmerkung, dass von Jökull nichts weiter berichtet wird (ÍF XIV: 43, siehe dazu Kap. 5.2.2.2), dennoch schließt sich in fast allen Handschriften der Jökuls þáttr Búasonar an. 21 Entsprechend verweist auch die Grettis saga auf in Þorvalds þáttr víðf ǫ rla I und II dargestellte Ereignisse (siehe dazu Kap. 5.2.2.2). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.1 Die Íslendingasaga als kulturelle Textgattung 51 <?page no="52"?> kulturellen Textgattungsverständnis sowie im Kontext der gesamten Sagaliteratur adäquat zu verstehen sind (vgl. auch Sigurður Nordal 1920: 131, ausführlicher dazu nachfolgend). 2.2 Die Íslendingasögur im Kontext der Sagaliteratur Nicht nur die Íslendingasögur, auch andere Gattungen der Sagaliteratur lassen sich als sinnvolle analytische Größen aufrechterhalten, versteht man sie als kulturelle Texte und analysiert sie als Repräsentanten des kollektiven Gedächtnisses im isländischen Mittelalter. Die von Sigurður Nordal (1953: 180 - 182) formulierte alternative Einteilung der Sagaliteratur in „ samtidssagaer “ (Gegenwartssagas), „ oldtidssagaer “ (Vergangenheitssagas) und „ fortidssagaer “ (Vorzeitsagas), die auf der Handlungszeit der Texte basiert, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls bedeutsam für ein Verständnis der Texte (vgl. Lindow 1973: 10 - 11). Die samtidssagaer charakterisiert, dass ihren Verfassern zeitgenössische Berichte oder zumindest auf Zeitgenossen zurückgehende schriftliche Quellen aus der Zeit, die sie darstellen, zur Verfügung standen. Dies trifft auf die Sagas zu, die Ereignisse darstellen, die sich in der Zeit ab etwa 1100 zugetragen haben. Oldtidssagaer und fortidssagaer dagegen handeln in der Zeit vor 1100, wobei letztere in der Zeit vor der Besiedelung Islands angesiedelt sind, erstere danach, weshalb Sigurður Nordal als Trennungslinie etwa 850 festsetzt. Der Terminus samtidssagaer, der nach seiner Definition auch einige Konungasögur und die Biskupasögur umfasst, wurde schließlich in der isländischen Übersetzung Samtíðarsögur in die traditionelle Gattungseinteilung übernommen, wo er die zuvor meist als Sturlunga saga oder auch Sturlunga sögur bezeichneten weltlichen Sagas, die die jüngere Vergangenheit behandeln und größtenteils in der Sturlunga saga überliefert sind, bezeichnet (vgl. Schier 1970: 60). Mit der Feststellung, dass es sich bei ihnen um zeitgenössische Berichte handelt, markiert Sigurður ihre charakteristische Funktion im kollektiven Gedächtnis: Die Samtíðarsögur stellen die jüngere, drei bis vier Generationen umfassende Vergangenheit dar und entstehen im Gegensatz zu den Íslendingasögur in engem Zusammenhang mit dem kommunikativen Gedächtnis. Während es Kulturen gibt, die klar zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis unterscheiden, wird ein skalierendes Modell, das nicht von zwei verschiedenen Unterarten des Gedächtnisses ausgeht, sondern diese als Extrempole versteht (Raible 1988: 9 - 10, vgl. Assmann 1992: 55 - 56), den isländischen Verhältnissen gerechter. Die Íslendingasögur überführen mündliches kulturelles Gedächtnis in schriftliches, die Samtíðarsögur dagegen tragen mit ihrer Entstehung zur Festigung von Inhalten des kommunikativen im kulturellen Gedächtnis bei und sind somit näher am kommunikativen Gedächtnis zu verorten. 22 Während die Íslendingasögur die Ursprungszeit der Isländer darstellen, gebieten die Samtíðarsögur dem floating gap der mündlichen Überlieferung Einhalt. Ihre Überlieferung in der Kompilation der Sturlunga saga verweist zudem auf das in den Íslendingasögur überlieferte kulturelle Gedächtnis: Der die Sturlunga saga einleitende Geirmundar þáttr heljarskins stellt die isländische Ursprungszeit dar und bindet diese an die Gegenwart an, wobei sich wieder ein fixierter floating gap zeigt. Indem der þáttr die Sturlungenzeit 22 Als reine Überführung von kommunikativem in kulturelles Gedächtnis sind sie jedoch nicht zu verstehen, da die enthaltenen Strophen bereits in hohem Maße geformte Erinnerungen darstellen, wie sie typisch für das kulturelle Gedächtnis sind. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 52 2 Theoretische Grundlagen <?page no="53"?> zyklisch mit den Anfängen der Isländer verbindet, wird die Kontinuität der isländischen Geschichte betont (Krömmelbein 1994: 48). Zugleich symbolisiert seine Spitzenstellung in der Kompilation den fundierenden Charakter der Ursprungszeit für die Gegenwart zur Entstehungszeit der Handschrift. Bringt man die von den beiden Gattungen dargestellten Zeiträume in Zusammenhang, wird deutlich, dass der floating gap wie auch in der Íslendingabók und der Kristni saga etwa fünfzig Jahre umfasst. Nach der Verlängerung der Ursprungszeit durch die Íslendingasögur schließt diese zwar nahtlos an die ältesten Biskupasögur an, zur umfangreichen Überlieferung weltlicher Erinnerung bleibt allerdings eine erkennbare Lücke in Form einer Zeitspanne, über die kaum berichtet wird, bestehen. Auch dies ist ein Beleg dafür, wie stark die isländische Sagaliteratur von ihren mündlichen Ursprüngen geprägt ist, und verdeutlicht, dass sie nur auf der Basis dieser verstanden werden kann. 23 Auch mit der Unterscheidung der Zeit vor und nach der Besiedelung Islands markiert Sigurður Nordal einen bedeutenden Einschnitt für das Verständnis der Sagaliteratur als kulturelle Texte: Die Besiedelung ist die Grundlage für die Ausbildung des kollektiven Gedächtnisses der Isländer und damit auch die Entstehung der Íslendingasaga. Das mit der Etablierung des Althing im Jahr 930 entstehende gemeinsame Gesetz für sämtliche Inselbewohner ist jedoch nicht mit der Ausbildung einer gemeinsamen kulturellen Identität gleichzusetzen. Diese beginnt sich erst nach der ersten Aufzeichnung der Gesetze im frühen 11. Jh. mit Íslendingabók und Landnámabók zu entwickeln und ist, wie Kirsten Hastrup (1984: 236 - 238) anhand der Gesetze darlegt, eine von mehr oder minder inklusiven ethnologischen Kategorien, die ein ‚ wir ‘ im Unterschied zu ‚ den anderen ‘ definieren. Als Sprecher der dönsk tunga (dänischen Sprache) sind die Isländer Teil der Gemeinschaft der Nordleute, der norrænir menn, die offenkundig als „ forming some kind of unity vis-àvis the larger world “ angesehen wurde (237). Innerhalb dieser bilden Isländer und Norweger eine gemeinsame westnordische Einheit, während die Isländer unter Bezug auf ihre geographische Herkunft und ihr anders geartetes Verhältnis zum König weiter abgegrenzt werden (239). Dementsprechend existieren für die Isländer im Mittelalter unterschiedliche, wenngleich eng miteinander verbundene ethnische Gruppenzugehörigkeiten, die in verschiedenen Zusammenhängen valide sind. Fornaldarsögur und Konungasögur können in einem Gattungssystem, das die Sagaliteratur auf der Basis von Erinnerung und Identität klassifiziert, als Entitäten bestimmt werden, die sich an anderen Aspekten dieser nordisch-isländischen Identität ausrichten. Die im Norden vor der Besiedelung Islands angesiedelten Fornaldarsögur sind so als auf der gemeinnordischen Identität basierende Gattung zu verstehen (vgl. dazu Sverrir Jakobsson 2011). Wie die Íslendingasögur sind sie raum-, zeit- und identitätskonkret: Sie stellen die Ursprünge der Nordleute dar, die von C. C. Rafn im Zusammenhang mit der ersten 23 Um eine absolute Lücke handelt es sich bei diesem fixierten floating gap allerdings nicht, da einige þættir diesen Zeitraum abdecken. Die þættir, deren Hauptpersonen Könige, Bischöfe oder weltliche Persönlichkeiten sind und die in der Vorzeit oder den anschließenden Jahrhunderten angesiedelt sind, lassen sich mit den verschiedenen Sagagattungen verbinden (Mundal 2004: 294 - 295), scheinen sie sich in ihrer Funktion für das kollektive Gedächtnis jedoch insofern zu unterscheiden, als sie neue schriftliche Erinnerungsräume erschließen (vgl. dazu das oben erwähnte höhere Alter der Íslendingaþættir). Ein fixierter floating gap ist wahrscheinlich auch die Ursache für die Lücke in der Genealogie der Droplaugarsona saga, mit der „ Þorvaldr, er sagði s ǫ gu þessa “ (ÍF XI: 180; Þorvaldr, der diese Saga erzählte), an die Protagonisten der Erzählung angebunden wird. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.2 Die Íslendingasögur im Kontext der Sagaliteratur 53 <?page no="54"?> umfassenden Edition dieser Texte 1829 - 1830 eingeführte Bezeichnung Fornaldarsögur Norðrlanda erscheint so höchst treffend gewählt. Die nordischen Länder mit Ausnahme Islands sind für die Erinnerungsgemeinschaft der konkrete räumliche Bezugspunkt dieser gesamtnordischen Ursprungszeit, die darüber hinaus auch kontinental- und außereuropäische sowie mythische Räume erschließt. Im historischen Kontinuum geht sie der Besiedelung Islands und damit der isländischen Ursprungszeit voraus, zugleich knüpft sie an eine mythische Ursprungszeit an, die auch in der eddischen Dichtung zum Ausdruck kommt, und ist dementsprechend weit weniger historische, sondern vielmehr absolute Vergangenheit. Auch die Fornaldarsögur enthalten Relikte älterer mündlicher Überlieferung, die auf eine oder auch verschiedene frühere Ursprungszeiten verweisen, analog zu den Íslendingasögur konstruieren sie jedoch erst in schriftlicher Form eine abgrenzbare Epoche, die in ein geschichtliches Kontinuum eingebunden ist. Den Kern, um den sich die Gattung formiert, stellen sehr alte Überlieferungen dar, wie insbesondere die eingefügten Strophen im eddischen Versmaß verdeutlichen. Wann und wie sich diese gemeinnordische Ursprungszeit genau ausbildet, ist jedoch nicht geklärt. 24 Die Konungasögur dagegen knüpfen an den westnordischen Aspekt der isländischen Identität an: Sie stellen eine auf Norwegen fokussierende Ursprungszeit dar, in deren Zentrum die Reichseinigung und Christianisierung Norwegens steht. 25 Diese westnordische Identität umfasst die isländische einerseits und dient ihr andererseits als Kontrast (Mundal 1997). 26 Sie wird im Wesentlichen durch das Königtum begründet, wobei Óláfr Tryggvason als Bekehrerkönig der Isländer und sein die Christianisierung in Norwegen vollendender Nachfolger Óláfr inn helgi Haraldsson eine zentrale Rolle einnehmen. 27 Das Königtum ist ein wesentlicher Aspekt der westnordischen Identität der Isländer, wenngleich die narrativen Ausgestaltungen dieser Ursprungszeit nicht immer auf eine Königsfigur fokussieren, wie weitere im Norden nach der Besiedelung angesiedelten Texte verdeutlichen. Dazu sind insbesondere die in der Regel auch den Konungasögur zugerechneten, früh im 13. Jh. entstandenen Færeyinga saga, Jómsvíkinga saga und Orkneyinga saga zu zählen, die eine dezidiert kolonialistische Perspektive einnehmen (zu diesen Berman 1985) , aber auch ein Text wie der Gr œ nlendinga þáttr, ungeachtet dessen, ob er mit einer Entstehungszeit um 1200 auf Augenzeugenberichten beruht und somit als Samtíðarsaga im kommunikativen Gedächtnis gründet, oder wie Else Ebel (1999) nahelegt, erst mit einigem 24 Die Anfänge der Fornaldarsaga liegen nach mehrheitlicher aktueller Forschungsmeinung im ausgehenden 13. Jh. (ausführlich dazu Torfi H. Tulinius 2002: 44 - 69). Diskutiert werden auch ältere lateinische Ursprünge der Gattung, für die gelehrte Werke in lateinischer Sprache in jedem Fall eine wichtige Vorbedingung darstellten, wenn nicht gar die ältesten Fornaldarsögur auf Latein verfasst wurden (Gottskálk Jensson (2009), siehe dazu auch Lassen (2012)). 25 Nur folgerichtig ist entsprechend die Rezeption von Snorris Heimskringla als kultureller Text im heutigen Norwegen (s. v. „ Heimskringla “ in Pulsiano 1993). 26 Ob sich die Isländer vor Ausbildung der isländischen Identität als Norweger fühlten oder ob lediglich ihre norwegische regionale Identität von Bedeutung für sie war, ist viel diskutiert (dazu Mundal 1997: 10 - 15). Nach der Eingliederung in das norwegische Reich 1262/ 64 werden die Isländer dann de facto Untertanen des norwegischen Königs, bleiben als solche jedoch Angehörige eines separaten Rechtsbezirks, den Island innerhalb des norwegischen Reiches darstellt (Gunnar Karlsson 2000: 91). 27 Zur frühen Repräsentation der beiden Könige in der isländischen Literatur, die deren spätere Darstellungen wesentlich prägt, siehe Zernack (1998). Zur Bedeutung der beiden Könige im Zusammenhang von Entstehung und Entwicklung der Gattung Konungasaga siehe auch Andersson (2016). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 54 2 Theoretische Grundlagen <?page no="55"?> Abstand in der Mitte des 13. Jh.s als Aktualisierung der mündlichen Überlieferung mit zeitgenössischem Interesse entstanden ist. Inhaltlich ist der Gr œ nlendinga þáttr eher den Biskupasögur gleichzustellen, mit seinem Schlussteil trägt er jedoch auch zur Definition einer Königsideologie bei. Den engen Zusammenhang zwischen gemeinnordischer und spezifisch westnordischer Identität verdeutlichen nicht nur hybride Formen, die sowohl Konungasaga als auch Fornaldarsaga sind, wie Ynglinga saga (siehe unten S. 168) oder die (nur in lateinischer Übersetzung erhaltene) Skjöldunga saga, sondern auch spätmittelalterliche Texte wie Yngvars saga víðförla, Þorsteins þáttr bæjarmagns oder Hemings þáttr Áslákssonar. Aufgrund ihrer mythischen Elemente und ihrer unrealistischen Inhalte werden diese gewöhnlich den Fornaldarsögur zugerechnet, mit denen sie zwar den Raumsowie den Gruppenbezug teilen, nicht jedoch den Zeitbezug. Diesen teilen sie mit den Konungasögur, im Raum- und Gruppenbezug nehmen sie eine Zwischenposition zwischen beiden Gattungen ein: Nicht nur explizit westnordisch, sondern umfassender ausgerichtet, konstruieren sie eine christlich geprägte fundierende Geschichte des Nordens, die eng an die vorchristliche der Fornaldarsögur anknüpft. 28 Als einzige unter den Sagagattungen überbrückt die Konungasaga sämtliche drei Epochen, die sich nach Sigurður Nordals Gliederung ergeben. Sie hat einen fundamentalen Charakter und gibt so den Rahmen für den durch die Sagaliteratur begründeten historischen Verlauf vor, der zugleich die Bedeutung Norwegens für die Formierung der isländischen Identität reflektiert. Während sich die Konungasögur aufgrund ihres Gruppenbezugs von den Íslendingasögur unterscheiden, teilen sie mit diesen in einem gewissen Maße sowohl Raumals auch Zeitbezug, was die Überschneidung der beiden Gruppendefinitionen und zugleich den umfassenderen Charakter der westnordischen Identität zum Ausdruck bringt. Während die Íslendingasögur im Hinblick auf den Norden mit Fokus auf Island raumkonkret sind, fokussiert der Raumbezug der Konungasaga auf Norwegen und das nordatlantische Imperium des norwegischen Königs. Eine gemeinsame Schnittmenge bei gleichzeitig unterschiedlichem Fokus haben die beiden Gattungen auch hinsichtlich des Zeitbezugs: Ein Fixpunkt und damit eine zentrale Erinnerungsfigur ist jeweils die Christianisierung. Während sich die isländische Ursprungszeit auf die Zeit vor der Christianisierung konzentriert und die Zeit danach in vielen Sagas mehr als eine Art Nachspiel erscheint, steht die Christianisierung klar im Zentrum der die westnordische Identität fundierenden Konungasögur, deren zentrale Figuren die beiden Bekehrerkönige Óláfr Tryggvason und Óláfr inn helgi Haraldsson sind. Die vorchristliche Epoche erscheint in diesem Zusammenhang dagegen mehr als eine Art Vorgeschichte. Es lässt sich also eine Überschneidung sowie eine jeweilige Kernzeit im Zeitbezug der beiden Identitätskonstruktionen ausmachen. Schiers Unterscheidung (1970: 2 - 5) von Sagaliteratur im engeren und im weiteren Sinn folgend mit dem Unterschied, dass Íslendingabók und Landnámabók nicht in engerem Zusammenhang mit den Konungasögur, sondern mit den Íslendingasögur zu verstehen sind, 28 Ausgehend von diesen Texten stellt sich die Frage, ob im Zusammenhang mit den Konungasögur tatsächlich ein Abbruch des Traditionsstroms um 1300 anzunehmen ist: Es entstehen zwar keine neue Konungasögur, wohl jedoch Texte, die an den diesen zugrundeliegenden Raum-, Zeit- und Gruppenbezug anschließen. Für diese scheinen die älteren Fornaldarsögur eine ähnlich klassische Funktion zu haben wie die frühen Íslendingasögur für die späteren. Um diesbezüglich konkrete Aussagen zu treffen, ist jedoch eine eingehendere Betrachtung der einzelnen Texte und ihrer Zusammenhänge vonnöten. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.2 Die Íslendingasögur im Kontext der Sagaliteratur 55 <?page no="56"?> sind schließlich auch die Biskupasögur Teil dieses durch Erinnerung identitätsstiftenden und -formenden Gattungssystems. Die Unterscheidung der überlieferten Biskupasögur, die nach Sigurður Nordals Definition sämtlich samtidssagaer und wie die weltlichen Samtíðarsögur zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis angesiedelt sind, in vorwiegend hagiographische sowie vorwiegend historische Sagas ist nicht mehr aktuell. Nach Mundal (2013b: 2) sind diejenigen Sagas über die heiligen Bischöfe zum europäischen Genre der Legenden zu rechnen, während andere sich die Legende zwar ebenfalls zum Vorbild nehmen, aber eine größere Ähnlichkeit mit den (weltlichen) Samtíðarsögur aufweisen, mit denen sie auch die Nähe zum kommunikativen Gedächtnis teilen. Die drei Heiligen unter den isländischen Bischöfen nahmen sicher eine Sonderstellung im kulturellen Gedächtnis der mittelalterlichen Isländer ein, so dass davon auszugehen ist, dass ihre Sagas auch in besonderem Maße mit mündlicher Überlieferung verbunden wurden und eine Oralisierung erfuhren. Generell zeigen auch die teilweise in zahlreichen Versionen überlieferten Biskupasögur die spezifischen Charakteristika unfester Texte und erweisen sich als ein Teil des isländischen Traditionsstroms (dazu Cormack 2005). Dabei werden sie im Laufe ihrer Transmission auch mit der Übernahme von Annalen in einen historischen Rahmen eingebunden, mit dem Ergebnis „ to situate the Icelandic bishops with respect to the ‚ universal ‘ world of Christian history and geography “ Cormack 2005: 37). Das hier vorgeschlagene Verständnis der einheimische Stoffe behandelnden Gattungen integriert die beiden vorherrschenden Möglichkeiten der Klassifizierung der Sagaliteratur vor dem Hintergrund jüngerer kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse und zeigt so, dass die traditionellen Gattungen mit einigen kleineren Modifikationen eine sinnvolle Ausgangsbasis für eine Behandlung der Sagas als kulturelle Texte darstellen. Die Gattung Saga kann so als Einheit verstanden werden, deren Subgattungen eine jeweils spezifische Funktion im kulturellen Gedächtnis der mittelalterlichen Isländer einnehmen. 29 Fundierend sind dabei insbesondere Konungasögur, Íslendingasögur und Fornaldarsögur, die auf jeweils unterschiedliche Ursprungszeiten gründen und aufgrund ihres spezifischen Raum-, Zeit- und Gruppenbezugs voneinander abgegrenzt werden können, wobei letzterer nur im Kontext der gesamten Sagaliteratur sowie nicht-narrativer kultureller Texte vollständig deutlich wird. Diese Untergliederung der Sagaliteratur auf der Basis der ihnen zugrundeliegenden Raum-, Zeit- und Gruppenbezüge wird den Sagas als kulturelle Texte gerecht und findet zudem eine Analogie in der epochalen Gliederung der isländischen Geschichtsschreibung durch Snorri Sturluson, die sich, wie Heinrich Beck (1999) zeigt, aus seiner auf dem Kriterium ‚ Zeugenschaft ‘ beruhenden zeitlichen Einordnung der ihm verfügbaren Quellen zur eigenen Geschichte ergibt. Im Gegensatz zu Sigurður Nordal, der die mittelalterliche Gegenwart als von Zeitzeugen unter Hinzuziehung schriftlicher Quellen erinnerten Zeitraum abgrenzt, bezieht der im oral-written continuum verwurzelte Snorri die in den ältesten schriftlichen Überlieferungen als vertrauenswürdige Zeitzeugen genannten Personen in die Gegenwart mit ein: Für ihn reicht die lebendige Gegenwart, die er als Epoche der Zeitzeugenschaft versteht, bis zur Christianisierung zurück, da Ari in seiner Íslendingabók glaubwürdige Zeitzeugen dafür nennt. Die dieser vorausgehende Vergangenheit untergliedert auch Snorri anhand der Besiedelung Islands: Mit ihr mündet die in söguljoð (epischen Gedichten) und fornkvæði (alten Liedern) - darunter genealogische Gedichte von 29 Zur sozialen Funktion der Fornaldarsögur siehe Sverrir Jakobsson (2003). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 56 2 Theoretische Grundlagen <?page no="57"?> bekannten Dichtern, die als „ gamlir fr œ ðimen “ (alte Gelehrte) für deren Wahrheit bürgen - bezeugte Frühzeit in eine Epoche der erinnerten Vergangenheit (Beck 1999: 9). Deren Darstellung kann nach Snorri einen höheren Wahrheitsgehalt beanspruchen, da die Isländer die tíðendi, die Nachrichten über die norwegischen Könige, pflegten, und deshalb Erb- und Preisgedichte der Skalden sowie frásagnir (Erzählungen) aus dieser Epoche zur Verfügung stehen. Snorri betont jedoch, dass die letztere die Wahrheit wegen ihrer ungebundenen Form weit weniger zuverlässig weitergeben als die Dichtung (6). 30 Versteht man die isländische Sagaliteratur als kulturelle Texte, können die von Beck als Quellenkritik gedeuteten Anmerkungen Snorris zum Wahrheitsgehalt der ihm zur Verfügung stehenden Überlieferung auch als medien- und erinnerungstheoretische Ausführungen gelesen werden. Mit seiner Beurteilung gliedert Snorri die ihm zur Verfügung stehenden kulturellen Texte in drei durch die Art der Überlieferung verschiedene Erinnerungsphasen mit unterschiedlicher kultureller Bedeutsamkeit, die jeweils durch einen zentralen Fixpunkt des isländischen kulturellen Gedächtnisses, Besiedelung bzw. Christianisierung, voneinander getrennt sind. Im weiteren Verlauf des Mittelalters werden diese drei Phasen zu umfassenden narrativen Erinnerungsräumen, die jeweils einen anderen Aspekt der isländischen Identität im Mittelalter zum Ausdruck bringen. Zu verstehen ist die Konstruktion dieser fundierenden Vergangenheit nur in einem weiteren Kontext unter Einschluss der Sagaliteratur im weiteren Sinn, zu der nach der hier vorgeschlagenen Sichtweise auch die norwegischen Königschroniken als nicht-isländische Werke zu rechnen sind, wenngleich diese im isländischen Mittelalter anders rezipiert werden als isländische Werke (dazu Wamhoff 2016: 211 - 216). Die übersetzten Werke (in den Anfängen vor allem hagiographische, im weiteren Verlauf zunehmend auch höfische Literatur) beeinflussen Entstehung und Entwicklung der einheimische Stoffe behandelnden Sagas maßgeblich. Die Sagaliteratur im engeren Sinne grenzt sich selbst allerdings klar als einheimisch von den ‚ fremden ‘ Sagas ab: Die vollständige Akkulturierung von Übernahmen aus übersetzten Werken und die damit verbundene Verschleierung der Intertextualität ist ein wesentlicher Aspekt der isländischen Konstruktion von Identität. 31 Der Historisierungsprozess, den die Sagaliteratur im engeren Sinne zu erkennen gibt (Glauser 2000a: 214), prägt jedoch auch die Sagaliteratur im weiteren Sinne: Auch heute als Pseudohistoriographie bezeichnete Werke (Würth 2005a: 156), originale und übersetzte Riddarasögur (O ’ Connor 2005: 162 - 169) präsentieren sich als Geschichte und werden dementsprechend rezipiert. Die spezifisch nordische Vergangenheit erscheint so als Bestandteil einer umfassenderen Darstellung der Weltgeschichte, wobei die einzelnen Epochen vor allem genealogisch miteinander verbunden werden (Clunies Ross 1993: 372 - 373). 32 Wenngleich die Texte mit nicht-nordischen Inhalten nicht zur Fundierung der isländischen Identität beitragen, indem sie eine eigene Vergangenheit für die Erinnerungs- 30 Zur Sichtweise Snorris auf die frásagnir und deren Verhältnis zur Dichtung siehe auch Weber (1993: 201 - 207). 31 Unter Akkulturierung ist nach Heizmann (1999) die Adaption und Camouflage fremder Texte in der Sagaliteratur zu verstehen, die er auch als „ verleugnete Intertextualität “ bezeichnet. 32 Genealogische Verbindungen in diversen Íslendingasögur verbinden diese mit den Fornaldarsögur, insbesondere den sog. Hrafnistumannasögur unter diesen, wie z. B. die Egils saga, die einleitend die Verwandtschaft von Kveld-Úlfr, dem Großvater des Protagonisten Egill, mit Ketill h œ ngr anführt. Die Hálfdanar saga Eysteinsfóstra, eine Fornaldarsaga, nennt mit Gull-Þórir den Protagonisten einer Íslendingasaga und verweist auf die Landnámabók. Ähnlich binden sich teilweise auch originale und Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.2 Die Íslendingasögur im Kontext der Sagaliteratur 57 <?page no="58"?> gemeinschaft schaffen, sind auch sie Medien des kollektiven Gedächtnisses der Isländer im Mittelalter. Sie bieten die Möglichkeit, tabuisierte und damit vom eigenen Selbstverständnis abgespaltene Bereiche der isländischen Gesellschaft zu behandeln, wie Glauser (1983: 161 - 233) für die Märchensagas zeigt. 2.3 Die Wahrheit der Íslendingasögur Der Wahrheitsgehalt des Dargestellten wird in der Sagaliteratur in den unterschiedlichsten Werken wie einleitend angesprochen auf verschiedene Weise thematisiert. 33 Insgesamt erscheint Wahrheit dabei als etwas, das gesucht werden muss und in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Gestalt zutage tritt (vgl. auch unten S. 33). Ihr Gegenpol, der Irrtum, wird im Altnordischen mit lygi (Lüge) bezeichnet, was allerdings nicht unbedingt eine pejorative Konnotation hat, sondern auch wertfrei eine Unwahrheit oder Erdichtung bezeichnen kann. Mit historischer Wahrheit im modernen Verständnis ist die Wahrheit, die die Sagas als mittelalterliche Geschichtsdarstellungen vermitteln, nicht gleichzusetzen, vielmehr umfasst sie auch mythische und heilsgeschichtliche Wahrheit und ist in den Worten von Hayden White (1988: 147) eine „ Kombination von Tatsache und der begrifflichen Matrix, innerhalb derer diese in den Diskurs angemessen eingeordnet wurde “ . Dementsprechend zieht auch die mittelalterliche Unterscheidung von Wahrheit und Lüge/ Irrtum andere Grenzen als die moderne Unterscheidung von Historie und Fiktion (vgl. Steblin-Kamenskij 1966: 28 - 29, Bruhn 1999: 115). Für die mittelalterliche Geschichtsschreibung als literarische Kunst sind fiktionale Darstellungsverfahren selbstverständlich (White 1988: 146 - 147). In den Sagas wird Fiktionalität, wie Ralph O ’ Connor (2005: 138) feststellt, nicht als Qualität, die einem Text oder einer Erzählung inhärent ist, präsentiert, sondern existierte nur „ insofar as the individual listener perceived it and expressed that perception “ (vgl. dazu auch Steblin-Kamenskij 1967, Weber 1972: 197 - 200). Mit der Formulierung von Wahrheitsansprüchen, die sich durch die unterschiedlichsten Gattungen ziehen, verortet sich die Sagaliteratur selbst im Rezeptionsrahmen kultureller Texte. Wahrheit ist in den Texten ein zentrales Beurteilungskriterium des Dargestellten, ob sie nun mit einer moderner Quellenkritik nicht unähnlichen Beurteilung mündlicher und schriftlicher Zeugen belegt wird, wie in der Íslendingabók und bei Snorri, oder mit Verweis auf sie verneinende Ansichten zur Debatte gestellt, dabei jedoch in der Regel auch bekräftigt wird, wie in den Prologen von Fornaldarsögur und Märchensagas, die immer auch auf die Möglichkeit, das Erzählte für wahr zu halten, eingehen (vgl. S. 36). So phantastisch und unrealistisch das teilweise auch anmutet, was als mögliche Wahrheit präsentiert wird, werden Sagas, die die nordisch-isländische Vorzeit darstellen, doch niemals mit dem in der altisländischen Literatur des öfteren belegten Terminus skröksaga übersetzte Riddarasögur durch Genealogien an das nordische Textuniversum an, so die Bósa saga oder die längere Fassung der Mágus saga (O ’ Connor 2005: 131, 148). 33 Starý (2013) unterscheidet diesbezüglich zwischen naiver, und kritischer Geschichtsschreibung. Während erstere die Absenz von Reflexion und einer klaren Abgrenzung zwischen Verfasser und Werk kennzeichnet, ist der Verfasser in letzterer im Text präsent und als Historiker auf der Suche nach der historischen Wahrheit erkennbar. Die Íslendingasögur, die sich als Abbilder mündlicher Überlieferung präsentieren, sind demgemäß als naive Geschichtsschreibung zu verstehen, während Ari und Snorri Vertreter der kritischen Geschichtsschreibung darstellen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 58 2 Theoretische Grundlagen <?page no="59"?> belegt, der eine erdichtete Erzählung bezeichnet und zumeist als Übersetzung von lateinisch fabula erscheint (Spurkland 2012: 175 - 177). Die Bezeichnung lygisaga (Lügengeschichte), die in der Þorgils saga ok Hafliða im Zusammenhang mit der Erzählung von der Hochzeit in Reykjahólar erscheint und sich in diesem Fall auf eine nach heutigem Verständnis als Fornaldarsaga zu klassifizierende Erzählung bezieht, ist auch andernorts belegt, bezeichnet dort jedoch schlicht einen nicht wahrheitsgemäßen Bericht (173 - 174). Ihre Deutung als zeitgenössische Bezeichnung für fiktionale Texte wird mittlerweile in Frage gestellt (O ’ Connor 2005: 136 - 139, vgl. auch O ’ Connor 2012). In den im Vergleich mit den Fornaldarsögur ungleich realistischer anmutenden Íslendingasögur finden sich keine Prologe, in denen das Dargestellte beurteilt und sein Wahrheitsgehalt thematisiert wird. Stattdessen erwecken die Íslendingasögur in verschiedener Hinsicht den Eindruck, schlicht zu berichten, was sich tatsächlich zugetragen hat. Auf der Ebene von Handlungszeit und -raum verorten genealogische Aufzählungen, die über eine Fülle von Einzelpersonen Vergangenheit und Gegenwart verbinden (dazu Clunies Ross 1993), sowie die konkrete isländische Landschaft, in die die Erzählungen eingebettet sind, die Íslendingasögur in der Lebenswelt und damit der Realität der mittelalterlichen Isländer. Wie Rankovi ć (2012: 212) darlegt, sind die Einbindung in Chronologien und Genealogien sowie die Bezugnahme auf historische Ereignisse wesentliche Authentifizierungsstrategien der Íslendingasögur. Auch die Anknüpfung an „ material evidence “ in Form von Objekten oder der Landschaft dienen dazu, das Erzählte zu beglaubigen (214). Auf der Erzählebene wird der von diesem räumlichen und zeitlichen Rahmen vorgegebene Realismus mit verschiedenen Mitteln in Szene gesetzt. So tritt der Erzähler weitestgehend in den Hintergrund und erweckt den Eindruck, schlicht zu berichten, was er gehört hatte. Die Sagaverfasser identifizieren sich mit dem Erzähler, der entsprechend im geschriebenen Text als objektiver Vermittler von Tradition erscheint (Meulengracht Sørensen 1999: 151), wenngleich die Reaktion des Publikums durchaus in eine bestimmte Richtung gelenkt wird (dazu Lönnroth 1970). Details, die für den Handlungszusammenhang unerheblich sind, verleihen dem Berichteten dabei „ an aura of objectivity “ (Rankovi ć 2012: 213). Indem die Sagaverfasser mit Wendungen wie segja menn (die Leute sagen), svá er sagt (so wird gesagt) u. ä. auf mündliche Überlieferung verweisen, präsentieren sie sich als Vertreter eines Kollektivs und dessen Berichterstatter, was durch die anonyme Überlieferung der Sagas unterstrichen wird. Derartige Quellenangaben haben generell die Funktion, die Wahrheit der Erzählung glaubhaft zu machen (Manhire 1974: 170). Als „ negative authentification “ bezeichnet Rankovi ć (2012: 220) in diesem Zusammenhang die Wiedergabe von verschiedenen oder gar widersprüchlichen Aussagen in Bezug auf ein Ereignis oder einen Sachverhalt. Mit derartigen Erwähnungen divergierender Aussagen festigt der Erzähler, wie Weber (1981: 194) betont, seinen Standpunkt des objektiven glaubhaften Berichterstatters. Verweise auf anerkannte Autoritäten der isländischen Geschichtsschreibung, wie sie beispielsweise in der Landnámabók zu finden sind, sind in den Íslendingasögur insgesamt wenig zahlreich, dienen jedoch wie die Verweise auf weitere autoritative Personen ebenfalls als Mittel zur Authentifizierung des Erzählten (Rankovi ć 2012: 213). 34 34 Während im 13. Jh. die Autorität anerkannter isländischer Gelehrter vornehmlich dazu zu dienen scheint, die Überlieferung verwandtschaftlicher Beziehungen zu verifizieren oder zentrale Ereignisse der Frühzeit, die jedoch im Sagaverlauf keine Rolle spielen, zu bestätigen, zeigt das Spätmittelalter eine Zunahme der Bedeutung persönlicher Autorität für die Vermittlung des Wahrheitsgehalts einer Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.3 Die Wahrheit der Íslendingasögur 59 <?page no="60"?> Zusätzlich zu diesen dient den Íslendingasögur die kollektive Meinung zur Bekräftigung der Wahrheit des Erzählten: Implizit, wenn Formulierungen wie allra/ margra manna mál (alle/ viele Leute sagen) oder segja menn (die Leute sagen) einen Sachverhalt als allgemein anerkannt präsentieren oder auch explizit, wenn insbesondere im Zusammenhang mit Gerüchten oder übernatürlichen Erscheinungen, formelhafte Wendungen wie hafa/ höfðu menn/ flestir þat fyrir satt (die Menschen/ die meisten halten/ hielten das für wahr) darauf verweisen, dass das Erzählte für wahr angesehen wurde oder wird. 35 Wahrheit steht in engem Zusammenhang mit mündlicher Überlieferung, wird jedoch nicht mit dieser gleichgesetzt. Zwar gibt die Gísla saga ein Beispiel dafür, dass die einhellige kollektive Meinung den Wahrheitsgehalt dessen, was berichtet wird, garantieren kann, wie im Zusammenhang mit Gíslis Tod deutlich wird: „ Ok er þat alsagt, at engi hafi hér frægari v ǫ rn veitt verit af einum manni, svá at menn viti með sannendum. “ (ÍF VI: 116) 36 Die Þórðar saga hreðu jedoch bringt abschließend zum Ausdruck, dass die Wahrheitsfindung auf der Ebene der schriftlichen Saga erfolgt, indem sie sich von weiteren mündlichen Überlieferungen abgrenzt: „ Höfum vér ekki fleira heyrt með sannleik af honum sagt. “ (ÍF XIV: 226) 37 In Zusammenhang mit der in dieser Anmerkung des Erzählers angedeuteten zweifelhaften Überlieferung bringen sich die Íslendingasögur und verwandte Texte jedoch nicht, sieht man vom Brandkrossa þáttr ab, der einleitend zu seinem zweiten, deutlich phantastisch geprägten Teil klare Zweifel am Wahrheitsgehalt des Präsentierten äußert: „ Þessa r œ ðu segja sumir menn til ættar Droplaugarsona, þeirar er ókunnari er. En þótt sumum m ǫ nnum þykki hón efanlig, þá er þó gaman at heyra hana. “ (ÍF XI: 186) 38 Bei allem Íslendingasaga, insofern als nun die gesamte Erzählung oder ihre wesentlichen Aspekte autorisiert werden, indem auf die Aussage eines anerkannten Gelehrten verwiesen wird. Die Laxd œ la saga bestätigt mit dem Verweis auf Ari inn fróði den Tod des Sohnes von Unnr djúpúðga (ÍF V: 8) sowie den Tod des Goden Snorri (ÍF V: 226), während Njáls saga (ÍF XII: 286) und Eyrbyggja saga (ÍF IV: 12) auf diese Weise auf eine alternative Darstellung von verwandtschaftlichen Verhältnisse verweisen. Weit umfassender sind dagegen die bestätigenden Aussagen, die Ari und anderen Autoritäten in etlichen ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur sowie in der spätmittelalterlichen Überlieferung einer klassischen Saga zugeschrieben werden: Die klassische Gunnlaugs saga schreibt in einem spätmittelalterlichen Manuskript Ari gleich ihre ganze Erzählung zu (vgl. dazu Kap. 2.1), Sturla Þórðarson und Styrmir Kárason werden in Grettis saga (ÍF VII: 289 - 290) bzw. Harðar saga (ÍF XIII: 97) herangezogen, um die gesamte Erzählung und vor allem die Exzellenz der Protagonisten zu verifizieren. Bischof Árni Þorláksson dient in der Kjalnesinga saga ebenfalls dazu, den Wahrheitsgehalt der Saga zu bestätigen, indem mit der Kirchenglocke eine materielle Verbindung zwischen ihm und dem Protagonisten hergestellt wird (ÍF XIV: 43 - 44). 35 Sehr zahlreich sind diese Verweise insgesamt nicht. Legt man das Korpus von Íslenzk fornrit zugrunde, fällt auf, dass sie vor allem in Egils saga und Laxd œ la saga einerseits sowie in diversen ‚ postklassischen ‘ Vertretern, insbesondere Víglundar saga und Bárðar saga, gehäuft Verwendung finden. Aus einer Untersuchung der handschriftlichen Überlieferung mit Fokus auf dieses und ähnliche Details könnten möglicherweise weitere Rückschlüsse auf die Ausbildung des sog. klassischen Sagastils gezogen werden. Zwar handelt es sich bei diesen Verweisen um kein obligatorisches Merkmal, wie das Beispiel der Króka-Refs saga zeigt, die völlig darauf verzichtet, allem Anschein nach aber um ein Element, das im spätmittelalterlichen Erzählen der Íslendingasaga vermehrt in Erscheinung tritt, um einen Beitrag zur Verifizierung des Erzählten zu leisten, insbesondere wenn das Berichtete im Zusammenhang mit paganen Glaubensvorstellungen steht. 36 Und es wird von allen gesagt, dass hier von keinem Mann eine berühmtere Verteidigung geleistet wurde, so dass es die Menschen sicher wissen. 37 Mehr haben wir nicht mit Wahrheit von ihm sagen gehört. 38 Das Folgende sagen manche Leute über das Geschlecht der Droplaugssöhne, über das man nicht so viel weiß. Und obwohl es manchen Leuten zweifelhaft erscheint, ist es doch unterhaltsam anzuhören. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 60 2 Theoretische Grundlagen <?page no="61"?> Zweifel wird jedoch auch hier das Erzählte nicht eindeutig als Lüge klassifiziert und seine Glaubhaftigkeit nicht grundsätzlich in Frage gestellt, da die Zweifel abschließend doch nur manchen Rezipienten zugeordnet werden. Durch die fehlenden Bedenken gegenüber dem Wahrheitsgehalt des Dargestellten sowie die gelegentlich zumeist beiläufig geäußerten Bekräftigungen von diesem wird auf inhaltlicher Ebene bestätigt, was formal für die Íslendingasögur konstitutiv ist: Als fundierende Vergangenheit und damit Mythos ist der Wahrheitsanspruch den Íslendingasögur kraft ihrer Funktion für die erinnernde Gemeinschaft eigen, bestätigt wird er durch ihre Form (Weber 1981: 497 - 498). Die mündliche Rhetorik der Íslendingasögur als künstliche Nachahmung mündlichen Erzählens überträgt die Glaubwürdigkeit des Erzählers, der in mündlicher Überlieferung die Glaubhaftigkeit seiner Erzählung garantiert, auf die schriftliche Form (Meulengracht Sørensen 1999: 150 - 152). Der mit der Tradition verschmolzene und als ihr neutraler Vermittler auftretende Erzähler der Íslendingasögur wird somit per se zum Garanten für Glaubwürdigkeit. Unterstützt wird diese Funktion durch das für die Íslendingasögur wie andere genuin nordischen Sagagattungen charakteristische Prosimetrum. Die in die Íslendingasögur integrierten Skaldenstrophen fungieren dabei nicht nur im Einzelfall als Zeugnisse der Vergangenheit, sondern erscheinen generell als deren genuine Ausdrucksform „ as the past ’ s own voice “ , wie es Preben Meulengracht Sørensen (2000a) formuliert. 39 Sie tragen so in nicht geringem Maß zur Beglaubigung des in den Íslendingasögur Dargestellten bei, ungeachtet dessen, ob eine Strophe tatsächlich zu der Zeit entstanden ist, die sie vorgibt, oder ob sie zur Entstehungszeit der Íslendingasögur komponiert wurde (Meulengracht Sørensen 2000a: 182). Auch die Skaldenstrophen sind insbesondere kraft ihrer Form wahr: Unmittelbar und unverändert, wie sie in den Íslendingasögur erscheinen, werden sie zu den authentischsten Monumenten der Vergangenheit, die von den Erzählungen konstruiert wird (Meulengracht Sørensen 2000a: 189). Wenngleich die Verifizierung eines Ereignisses mittels einer Strophe in den Íslendingasögur eher selten ist (Vésteinn Ólason 1998: 125), fungieren die Skalden so - wie auch bei Snorri - als Gewährsmänner für die Vergangenheit. 40 Das Selbstverständnis, das die Íslendingasögur zum Ausdruck bringen, bezeichnet Meulengracht Sørensen (1999) als traditionalistisch und setzt es in Kontrast zu einem modernen, Schriftlichkeit reflektierenden und den Überlieferungen aus früheren Zeiten nicht unkritisch gegenüberstehendem Textverständnis, das die isländische Sagaliteratur andernorts zeigt. Während das gelehrte Milieu auf Island zu Beginn des 13. Jh.s ein klares Verständnis seiner neuen Literarität zeigt und dabei eine Distanz zur mündlichen Erzähltradition zu erkennen gibt, entwickelt sich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts mit dem Traditionalismus der Íslendingasögur eine Strömung, die Tradition und Moderne verbindet (vgl. Hermann 2000). Sie führt mit den Mitteln der Schrift Traditionelles weiter, markiert ihre Verschiedenartigkeit zur Tradition jedoch nicht und präsentiert sich so als Weiterführung dieser. In den Íslendingasögur setzt sich dieser Traditionalismus gegen den mit der 39 Zu den unterschiedlichen Funktionen der Strophen siehe Guðrún Nordal (2007), die darlegt, dass sich die Íslendingasögur hinsichtlich der Art und Weise, wie sie skaldische Dichtung einsetzen, in sechs Gruppen unterteilen lassen. Die Authentizität der Strophen war bei ihrer mittelalterlichen Verwendung nur von untergeordneter Bedeutung, wie sie betont (2007: 237). 40 Auf die Funktion einer Strophe, Erinnerungen zu bewahren, wird, wie Weber (1972: 190) aufzeigt, in der Bandamanna saga auch explizit hingewiesen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.3 Die Wahrheit der Íslendingasögur 61 <?page no="62"?> Schrift aufkommenden Modernismus durch, der sich von der mündlichen Überlieferung distanziert und durch eine kritische Haltung der Tradition gegenüber gekennzeichnet ist (Meulengracht Sørensen 1999). Die Íslendingasögur zeigen im Laufe ihrer mittelalterlichen Entwicklung eine zunehmende Distanzierung von der ihnen eigenen Schriftlichkeit, durch die Entwicklung und Verfeinerung des klassischen Sagastils als Abbild mündlichen Erzählens wie auch im Detail. Die ältesten Handschriften sowie etliche hochmittelalterlichen Vertreter der Gattung verweisen mit dem Hinweis der Formulierung sem fyrr var ritat (wie zuvor geschrieben wurde) auf bereits erwähnte Inhalte und betonen damit klar ihre schriftliche Form. Sowohl in späteren Abschriften nachweislich früh überlieferter Texte wie Egils saga, Eyrbyggja saga und Laxd œ la saga als auch in jüngeren Vertretern der Gattung wird dieser Hinweis zunehmend ersetzt durch ein gesprochene Sprache abbildendes sem fyrr var frá sagt (wie zuvor erzählt wurde), sem fyrr var sagt (wie zuvor gesagt wurde) o. ä. 41 Die ab 1350 zu beobachtende Neuerung sem fyrr segir (wie [es] zuvor sagt), die lediglich implizit auf eine schriftliche Grundlage verweist und das Geschriebene selbst zum Sprecher macht, ist zwar ohne Schrift undenkbar, vermittelt formal aber ebenfalls Mündlichkeit und Gegenwärtigkeit (Peters 2017: 139). Wie das Beispiel der Fóstbr œ ðra saga mit ihrer klar erkennbaren und sich vom Erzählten in nicht unerheblichem Maß distanzierenden Erzählerfigur zeigt, existiert im Laufe des 13. Jh.s auch eine distanziertere und kritische Haltung der isländischen Ursprungszeit gegenüber, die sich nicht, wie sonst in den Íslendingasögur üblich, mit dem aus der Sagazeit Berichteten identifiziert. Meulengracht Sørensen (1999) versteht sie als vorklassische Saga und ihre Erzählhaltung entsprechend als modernistisch, womit sie eine Sonderstellung unter den Íslendingasögur einnimmt. Ob die im Brandkrossa þáttr geäußerten Zweifel das Relikt einer modernen, im Laufe der Gattungsentwicklung zunehmend getilgten skeptischen Haltung der Sagazeit gegenüber oder eine spätmittelalterliche Ergänzung sind, muss jedoch offen bleiben: Der als ‚ postklassisch ‘ klassifizierte þáttr wird gemeinhin auf das 13. Jh. datiert, ist allerdings erst in einer Handschrift des 17. Jh.s überliefert. Typisch für die als ‚ postklassisch ‘ bezeichnete Subgattung der Íslendingasögur ist diese Haltung jedoch mitnichten, im Gegenteil betonen gerade etliche ihrer Vertreter ihren mündlichen Überlieferungshintergrund, sei er nun real oder nur vorgegeben. Während die Fornaldarsögur mit der Äußerung von Skepsis gegenüber den eigenen Inhalten bei gleichzeitiger Bekräftigung ihrer Glaubwürdigkeit sowohl Modernisten, die die Erzählungen in erster Linie als Unterhaltung sehen, als auch Traditionalisten, die an die Wahrheit des Erzählten glauben, ihre jeweilige Rezeptionsweise ermöglicht, ohne jedoch den Rezeptionsrahmen kultureller Texte zu verlassen, wird die Wahrheit der Íslendingasögur zur Konvention. Im 14. Jh. ist sie dermaßen anerkannt, dass ein Text wie die Víglundar saga, deren Protagonist keine historische Persönlichkeit ist, sondern eine zur Demonstration beispielhaften Verhaltens entworfene Figur, mit Entstehung der Saga zu Geschichte wird (Peters 2018: 305). Die Ausbildung der heute als ‚ klassischer ‘ Sagastil bezeichneten Erzählweise der Íslendingasaga vollzieht sich, wie einleitend angesprochen, erst im späten Mittelalter und verweist auf Bestrebungen, die Bedeutung der Schrift für die Überlieferung der Íslendingasögur zu 41 Wie Mundal (2012a: 218 - 219) vermerkt, wird im 12. Jh. Geschriebenes nicht als saga bezeichnet, sondern als -bók oder skrá, was die Schriftlichkeit der Texte unterstreicht. Mit der ab dem 13. Jh. üblichen Bezeichnung „ saga “ erfolgt somit ebenfalls eine Distanzierung von der schriftlichen Form der Texte und es wird eine kontinuierliche mündliche Überlieferung impliziert. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 62 2 Theoretische Grundlagen <?page no="63"?> minimieren. Sie verdeutlicht zugleich den stetigen Wandel, dem die isländischen Ursprungserinnerungen im Mittelalter unterworfen sind. 2.4 Die isländische Ursprungszeit im Wandel Die isländische Ursprungszeit bildet sich im Anschluss an die Besiedelung aus, um den mit der Auswanderung verbundenen Bruch zu überwinden, und verändert sich im Fluss der Erinnerung beständig. Mit ersten Ansätzen einer Ausformung ist bereits im 10. Jh. in mündlicher Überlieferung zu rechnen (Bandle 1969: 221 - 222). Erst die Überführung in das Medium Schrift ermöglicht jedoch die Ausbildung einer historischen Vergangenheit, wie sie Anfang des 12. Jh.s zunächst in Aris Íslendingabók und im weiteren Verlauf auch in den Íslendingasögur zum Ausdruck kommt. Erinnerungen an eine isländische Ursprungszeit existieren im 12. Jh. allerdings auch außerhalb der Schriftlichkeit: Die in einer Handschrift aus der Zeit um 1300 überlieferte Íslendingadrápa, die in den erhaltenen 26,5 Strophen diverse isländische Helden der Sagazeit aufzählt, von denen die meisten als Protagonisten oder Nebenfiguren aus Íslendingasögur bekannt sind, ist eine Art sagazeitlicher Heldenkatalog, der wie Jónas Kristjánsson (1975: 83 - 91) überzeugend ausführt, bereits im 12. Jh. vor Entstehung der ersten Íslendingasögur verfasst wurde. Die Íslendingadrápa gründet auf der mündlichen Überlieferung von Ursprungserinnerungen, die später auch die Íslendingasögur prägen, und ist auf eine ähnliche Weise raum-, zeit- und identitätskonkret wie diese. Die aus sämtlichen Landesteilen stammenden Helden, die überwiegend dem 10. Jh. zuzurechnen sind, repräsentieren eine kollektive heroische Ursprungszeit der Isländer, wie die in der Handschrift des 13. Jh.s zu findende Bezeichnung Íslendingadrápa deutlich zum Ausdruck bringt. Einen Refrain, wie er für drápur üblich ist, enthält die Íslendingadrápa nicht, wohl aber ist sie ein Preislied, das die heldenhaften Ursprünge der Isländer durch ausgewählte Repräsentanten glorifiziert. Ihre Nähe sowohl zur germanischen Heldendichtung als auch zur frühmittelalterlichen nordischen Preisdichtung ist offenkundig (vgl. Frank 1985: 180). Damit repräsentiert sie eine frühere Ausprägung der isländischen Ursprungszeit als die Íslendingasögur und bringt ungeachtet ihrer christlichen Perspektive klar ein ungebrochen heroisches Ideal zum Ausdruck. Die aufgezählten Helden - darunter zwei ansonsten unbekannte (Jónas Kristjánsson 1975: 86) - werden vornehmlich für erfolgreiche Rache und Bewährung im Kampf, d. h. das Erschlagen von vielen oder herausragenden Gegnern, gerühmt, was teilweise sehr allgemein gehalten ist, teilweise mit Bezug und Details, zumeist zu bestimmten Fehden oder Schlachten (80 - 81). 42 Die Überführung in die ab dem 9. Jh. aktuelle skaldische Form, einem zentralen Medium der Stabilisierung von Überlieferung in der vorwiegend mündlich geprägten frühmittelalterlichen isländischen Gesellschaft, zeigt die Bedeutsamkeit der mit den Íslendingasögur 42 Wie Sävborg (2012a: 33 - 34) vermerkt, finden sich unter den in der Íslendingadrápa genannten Helden mit Finnbogi inn rammi, Grettir Ásmundarson und Ormr Stórólfsson auch Protagonisten ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur und þættir. Sie begründet damit die auf Island über Jahrhunderte populäre Tradition der kappakvæði (Heldengedichte), die spezifisch isländische Helden der Sagazeit preisen und dabei keinen Unterschied zwischen klassischen und ‚ postklassischen ‘ Sagas machen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.4 Die isländische Ursprungszeit im Wandel 63 <?page no="64"?> zur Sagazeit gestalteten Epoche auch außerhalb der Schriftlichkeit. 43 So steht neben der in Íslendingabók und Landnámabók zum ersten Mal schriftlich konstruierten isländischen Ursprungszeit im 12. Jh. eine im noch vorwiegend mündlich organisierten kulturellen Gedächtnis etablierte Ursprungszeit, die mit ihrer schriftlichen Ausprägung die wesentlichen Grundzüge teilt, aber deutlich ihre mediale Gebundenheit reflektiert. Die Íslendingadrápa konstruiert nicht wie die schriftlichen Werke einen geschichtlichen Verlauf, sondern ein heroisches Zeitalter und bedarf aufgrund des der skaldischen Dichtung eigenen unepischen Charakters weiterer Formen der Überlieferung, um in der kollektiven Erinnerung einer vorwiegend mündlich geprägten Gesellschaft lebendig zu bleiben. Auf Island gewährleisten dies im 12. Jh. die frásagnir, die wohl auch die lausavísur bereits vor ihrer Verschriftlichung begleiten. 44 Überlieferungen, die schon vor der Entstehung der ersten Íslendingasögur durch Spezialisten in Form von vísur oder umfangreicherer Dichtung stabilisiert wurden, die frühe isländische Verschriftung, darunter insbesondere Genealogien und Gesetze, sowie mündliche frásagnir, die sämtlich identitätsstiftendes Wissen für die Isländer verwahren, bilden so in Kombination mit importierten schriftlichen Modellen im 13. Jh. den Nährboden für die Wandlung der isländischen Ursprungszeit zur Sagazeit der Íslendingasögur. Zwischen der ersten Formierung einer spezifisch isländischen Ursprungszeit und ihrer frühesten schriftlichen Ausprägung liegt somit eine Zeitspanne von mehr als hundert Jahren. Die umfangreiche Gestaltung der Ursprünge in Form der Íslendingasögur beginnt im 13. Jh. gar erst mehr als zwei Jahrhunderte später. Die in den Íslendingasögur konstruierte Sagazeit ist dementsprechend das Resultat eines längeren Prozesses, in dem die Erinnerungen an die eigenen Ursprünge beständig aktualisiert werden, um ihren sinnstiftenden Charakter für die Gegenwart aufrechtzuerhalten. Während Auswanderung und Besiedelung die einschneidenden Ereignisse darstellen, die zur Entstehung einer neuen Ursprungszeit führen, ist der Glaubenswechsel dasjenige, das ihre Ausbildung als Sagazeit maßgeblich beeinflusst, zum einen durch die im Zuge der Christianisierung angenommene Schrift und die von ihr in Gang gesetzten gesellschaftlichen Veränderungen, zum anderen durch die daraus resultierende Herausforderung, vorchristliche Ursprünge mit einem christlichen Selbstverständnis zu verbinden, um kulturelle Kontinuität zu gewährleisten. Die mit der Überführung in die Schriftlichkeit von literarischen Modellen des europäischen Mittelalters überformten Ursprungserinnerungen verwahren dabei auch vorchristliche Mythen, in die Íslendingasögur ist jedoch immer auch die Sichtweise ihrer Entstehungszeit eingeschrieben. 45 So ist, wie Glauser (2000a: 208) betont, der Prozess von Verschriftung, Kodifizierung und Theologisierung der alten Erzählungen auch die Unterwerfung einer 43 Die von Roberta Frank (1985: 180) Haukr Valdísarson, dem ansonsten unbekannten Dichter der Íslendingadrápa, persönlich zugeschriebene „ passion for the past “ , die ihn zur Abfassung seiner Strophen antrieb, reflektiert dementsprechend eine gesellschaftliche Haltung. 44 Zur Theorie einer Begleitprosa altisländischer Dichtung siehe RGA 18 (s. v. „ lausavísur “ ), vgl. dazu auch Weber (1993: 204 - 206). 45 Vorchristlichen Mythen kam im alltäglichen Leben und der Gedankenwelt der mittelalterlichen Isländer eine derartige Bedeutung zu, dass eine schlichte Verteufelung nicht möglich war, wie Clunies Ross (1998: 191) betont. Zur Erneuerung paganer Mythen im Kontext des mittelalterlichen Island siehe Clunies Ross (1994), zu ihrer Rezeption in den Íslendingasögur siehe Clunies Ross (1998). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 64 2 Theoretische Grundlagen <?page no="65"?> ganzen Kultur mit den Merkmalen ‚ weiblich/ matriarchalisch ‘ , ‚ heidnisch ‘ , ‚ mündlich ‘ durch die Kultur des ‚ patriarchalischen ‘ , ‚ christlichen ‘ , ‚ schriftlichen ‘ Prinzips. 46 Mit der Verschriftlichung gliedert sich die isländische Ursprungszeit in die europäische Geschichtsschreibung des Mittelalters und damit die zeitgenössische Weltgeschichte ein, wenngleich in einer einzigartigen Form. Die Ausbildung dieser in Form der Íslendingasögur und anderer Sagagattungen ist das Resultat eines Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren: Zu einer reichhaltigen mündlichen Erzähltradition gesellt sich ein aus der kolonialistischen Situation Islands resultierendes ausgeprägtes Bewusstsein über die eigenen Anfänge (dazu Schier 1975). Einen wesentlichen Anteil daran hat auch die Art und Weise der Christianisierung, insbesondere die Tatsache, dass auf Island anfänglich vornehmlich Benediktinerklöster gegründet wurden, die anstelle des Lateinischen die Volkssprache verwendeten und deren Interessen Wissenschaft und Geschichte galten (dazu Schier 1991). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch die relativ kurze Zeitspanne zwischen der mit der Besiedelung beginnenden gesellschaftlichen Neuformierung und der im Zuge der Christianisierung erfolgten Annahme der lateinischen Schrift sowie der damit verbundenen Möglichkeit der Verschriftung mündlicher Erzählinhalte einerseits sowie der Konstruktion einer textuellen Wirklichkeit andererseits. Nachdem sich die Schriftkultur unter diesen Bedingungen im 12. Jh. etabliert, beginnt im 13. Jh. die dargestellte Produktion von umfangreichen volkssprachlichen Texten, die sich der eigenen Vergangenheit widmen, und damit auch die Gestaltung der isländischen Ursprünge in Form der Íslendingasögur. Die Anfänge der Gattung liegen zu Beginn der Sturlungenzeit, in der das Machtgleichgewicht auf Island infolge der Konzentration der Godengewalt in den Händen weniger Familien zunehmend aus den Fugen gerät, was schließlich mit dem Verlust der isländischen Unabhängigkeit endet. Zentral für ihre Etablierung sind nach jüngerer Forschungsmeinung die folgenden drei Jahrzehnte (Vésteinn Ólason 1998: 35): Die Eingliederung in das norwegische Reich verstärkt offenkundig die Bemühungen, eine eigenständige isländische Identität zu definieren und aufrechtzuerhalten, und dementsprechend auch das Bewusstsein über die eigenen Ursprünge. Mit den Íslendingasögur wird die isländische Ursprungszeit zur söguöld im doppelten Wortsinn, d. h. zur durch sögur repräsentierten Geschichte. Als erinnerte Geschichte ist sie ungeachtet der Fixierung durch Schrift jedoch nicht statisch, sondern bleibt auch im 14. und 15. Jh. vor dem Hintergrund anhaltender lebendiger mündlicher Überlieferung weiter im Fluss und verändert sich im Laufe der produktiven Phase der Gattung, um auch in einer sich verändernden Gegenwart Orientierung zu bieten. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Entstehung von Íslendingasögur ändern sich während der produktiven Phase der Gattung kaum: Die Produktion von Sagaliteratur und der Besitz von Handschriften sind im Spätmittelalter nicht anders als im Hochmittelalter der Elite vorbehalten, dementsprechend sind die Íslendingasögur durch das Mittelalter hindurch ein Oberklassenphänomen und Ausdruck einer repräsentativen Elite. Die Zeit um 1300 markiert jedoch eine Zäsur für die isländische Gesellschaft und damit auch für die Entstehung der Íslendingasaga. Sie gründet zum einen in der einleitend dargestellten voranschreitenden Textualisierung, zum anderen in den infolge der Eingliederung in das norwegische Reich eintretenden gesellschaftlichen Veränderungen, deren wesentliche 46 Zur Unterordnung des Weiblichen im Zuge des aufsteigenden Patriarchats siehe Helga Kress (2002). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.4 Die isländische Ursprungszeit im Wandel 65 <?page no="66"?> Merkmale der daraus resultierende Umbau zu einer Feudalgesellschaft darstellen, der die erste Hälfte des 14. Jh.s prägt und etwa um die Mitte des Jahrhunderts abgeschlossen ist, sowie die im Zusammenhang mit der königlichen Zentralgewalt zunehmende Macht der Kirche. Neben der wachsenden chronologischen Distanz zur erinnerten Vergangenheit wächst aufgrund dieser Veränderungen auch die Distanz zwischen der in den Íslendingasögur dargestellten Ursprungszeit und der lebensweltlichen Realität der spätmittelalterlichen Erinnerungsgemeinschaft. Beides wirkt auf das Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter und die von diesen konstruierte Ursprungszeit, ohne dass jedoch, wie gezeigt, eine klare Unterscheidung zwischen im Hoch- und im Spätmittelalter entstandenen Íslendingasögur getroffen werden kann, weder hinsichtlich der Gestalt letzterer noch ihrer zeitgenössischen Rezeption. Vielmehr wird die mittelalterliche Ursprungszeit in einem Kontinuum konstruiert, in dem sie sich fließend weiterentwickelt. Eine eindeutige Klassifizierung aller Íslendingasögur ist so zwar nicht möglich, wohl aber ist es möglich, Entwicklungen der Ursprungszeit anhand einzelner Standbilder zu erschließen. Grundlegende formative Elemente der isländischen Ursprungszeit sind von Anbeginn ihrer Verschriftung die zentralen Erinnerungsfiguren Auswanderung, Besiedelung und Christianisierung, die die Gattung Íslendingasaga zu einer Einheit kulturellen Sinns machen. Diese drei Erinnerungsfiguren sind die Grundpfeiler der mit der Schrift konstruierten isländischen Identität, sie werden allerdings im Laufe der Gattungsentwicklung im Fluss der Erinnerung jeweils neu kontextualisiert. Zunächst stehen Landnahme und Besiedelung deutlich im Zentrum der isländischen Ursprungszeit, wie die Landnámabók verdeutlicht. Mit den Íslendingasögur erfolgt eine Verschiebung, indem verstärkt auch auf die anschließende Etablierung eines Gemeinwesens fokussiert wird. Im Zusammenhang mit der Ausformung der isländischen Ursprungszeit als Sagazeit entwickelt sich im 13. Jh. der für die Íslendingasögur so wesentliche Freiheitsmythos (zu diesem Weber 1981: 497 - 505). Sowohl in den Íslendingasögur als auch in den diesen vorausgehenden þættir der Morkinskinna von um 1220 und der Landnámabók, die bekanntlich nur in Bearbeitungen des 13. und 14. Jh.s oder auf diese zurückgehenden Versionen erhalten ist und sich deutlich als unfester Text erweist, wird isländische Identität in Abgrenzung von Norwegen definiert. Diese distinktive Definition der eigenen Identität ist eines der Kernmerkmale der Íslendingasögur, das zweite ist eine integrative Identitätsdefinition, die den geteilten geographischen Raum, der als Insel sehr klar abgegrenzt werden kann, sowie das gemeinsame Recht zur Grundlage des Kollektivs macht. Wesentlich für die Gestalt der isländischen Ursprungszeit in Form der Sagazeit sind dementsprechend auch die Strukturen der frühen isländischen Gesellschaft, deren Institutionen abgesehen von der Religion vom 10. Jh. bis in das 13. Jh. Bestand haben (dazu Meulengracht Sørensen 2000b). 47 Neben den einleitend angesprochenen normativen Veränderungen geben die Darstellungen der Ursprungszeit auch in formativer Hinsicht einen Wandel vom hohen zum späten Mittelalter zu erkennen: Wie schon in Íslendingabók und Landnámabók erscheint die kollektive Identität der Isländer auch in den Íslendingasögur als Summe familiärer Identitäten: Berühmte Familien und einzelne Persönlichkeiten repräsentieren die isländische Gesellschaft. Als Ausdruck einer repräsentativen Elite wirken die Íslendingasögur so gesamtgesellschaftlich einheitsstiftend und fundieren eine kollektive Identität. Diese ist 47 Zu den sozialen Institutionen der isländischen Freistaatszeit siehe auch Gunnar Karlsson (2005). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 66 2 Theoretische Grundlagen <?page no="67"?> bereits im frühen 13. Jh. stark ausgeprägt, wie auch der erstaunlich lange anhaltende Widerstand gegen die Eingliederung in das norwegische Reich zum Ausdruck bringt (dazu Gunnar Karlsson 2000: 61 - 65), und verbreitet sich allmählich auch unter den nicht der Oberschicht angehörigen Isländern. Mit Beginn des Spätmittelalters ist sie Bestandteil der allgemeinen Mentalität zumindest der wohlhabenderen Bauern, wenn nicht der Bevölkerung generell (Sverrir Jakobsson 1999). In der frühen Phase der Íslendingasögur wird diese kollektive Identität mittels der Abgrenzung herausragender Einzelpersonen, zumeist in der Gestalt von Skalden, vom norwegischen König definiert, wie die mutmaßlich zu den ältesten unter den Íslendingasögur zählenden Skaldenbiographien wie auch die aller Wahrscheinlichkeit älteren þættir verdeutlichen, sowie in wesentlichem Zusammenhang mit der Fundierung familiärer Identität, wie umfangreiche Genealogien nahelegen. Die Richtung, die die Sagaschreibung in der ersten Hälfte des 13. Jh.s einschlägt, ist, wie Torfi H. Tulinius (2014: 184) nahelegt, weitestgehend zu erklären „ by the Icelandic chieftain class ʼ s struggle to define social reality in the chieftains own interest “ . Seine Auseinandersetzung mit der Egils saga verdeutlicht, wie diese den Status der Familie der Mýramenn in ihrem Autoritätsbezirk definiert und dementsprechend als zeitgenössischer Ausdruck von Macht- und Herrschaftslegitimation gelesen werden kann. Auch im Spätmittelalter entstehen weiter Íslendingasögur, mittels derer mächtige und einflussreiche isländische Familien ihren Führungsanspruch legitimieren und ihre familiäre Identität fundieren, in ‚ klassischer ‘ Form wie die Vatnsd œ la saga, aber auch in ‚ postklassischer ‘ wie Flóamanna saga und Þórðar saga hreðu, die in hochmittelalterlicher Tradition erinnerte Vergangenheit und erinnernde Gegenwart mittels Genealogien verbinden. Daneben entstehen im Spätmittelalter jedoch zunehmend auch Íslendingasögur, mit deren Entstehung keine familiären Interessen verbunden sind, wie Bárðar saga, Víglundar saga oder Kjalnesinga saga. Stattdessen definieren diese eindeutig eine kollektive Identität, die keiner Verbindung zu konkreter familiärer Identität bedarf, sondern durch die Anbindung an die Landnahmezeit einerseits und die konkrete isländische Landschaft andererseits definiert wird. Auch macht sich in den ‚ postklassischen ‘ Vertretern ganz offensichtlich der im 14. Jh. deutlich gestärkte gesellschaftliche Einfluss der Kirche bemerkbar: So erscheint die Sagazeit in diesen verstärkt auch als Ursprungszeit des isländischen Christentums, wie ganz besonders die Flóamanna saga deutlich macht, in der Bischof Þorlákr, der erste und bis heute einzige von der katholischen Kirche anerkannte Heilige Islands, explizit an die Sagazeit angebunden wird. Ein Traum des Protagonisten Þorgils von seinem Knie entsprießenden hálmlaukar wird innerhalb der Sagahandlung selbst als Ankündung seiner Nachkommen gedeutet, unter denen ein besonders herausragender Mann zu finden sein wird. 48 Anschließend merkt die Saga an: „ Ok þat gekk eptir síðan, því at frá Þorgilsi er kominn Þorlákr byskup inn helgi. “ (ÍF XIII: 295) 49 Daneben thematisiert die Flóamanna saga wie auch Finnboga saga, Bárðar saga, Víglundar saga, Kjalnesinga saga, Hávarðar saga und Harðar saga die Christianisierung bzw. andere Aspekte eines christlichen Selbstverständnisses. 50 Wie wesentlich die Christianisierung der isländischen Ursprungserinnerungen für 48 Bei hálmlaukr (auch hjálmlaukr) handelt es sich um ein Hapax legomenon, das eine Art Gewächs bezeichnet, wörtlich zu übersetzen als ‚ Halmlauch ‘ (bzw. ‚ Helmlauch ‘ ). 49 Und das bewahrheitete sich, dass von Þorgils der Bischof Þorlákr der Heilige abstammt. 50 Gemeinsam ist den beiden letztgenannten Texten, dass die christlichen Elemente bzw. die Gegenüberstellung heidnischer und christlicher Elemente nicht wie in den zuvor angeführten die gesamte Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.4 Die isländische Ursprungszeit im Wandel 67 <?page no="68"?> das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga ist, soll in Teil II der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, in dem auch deutlich werden wird, dass der Fokus auf die Christianisierung in Grettis saga und Króka-Refs saga ebenfalls ausgeprägter ist, als bislang von der Forschung bemerkt. Diese betont christliche Ausrichtung der spätmittelalterlichen Darstellungen der Sagazeit zeigt, dass mit der zunehmenden Abgrenzung des höheren isländischen Klerus von der Laienaristokratie, zu der er von den Anfängen des Christentums auf Island an gehörte, und seiner Etablierung einer eigenen Identität im letzten Drittel des 13. Jh.s (dazu Orri Vésteinsson 2000: 209 - 237) sowie der Machtzunahme der Kirche im 14. Jh. (dazu Gunnar Karlsson 2000: 96 - 99) auch der kirchliche Einfluss auf die Gestaltung der kollektiven isländischen Identität steigt. Diese gesteigerte kirchliche Einflussnahme prägt die Íslendingasögur inhaltlich weit stärker als der Verlust der isländischen Unabhängigkeit. Dieser verschärft die Bemühungen, eine eigenständige Identität zu definieren, bringt jedoch keinen nachhaltigen Umschlag der fundierenden Mythomotorik des isländischen Ursprungsmythos, der Auswanderung, Besiedelung und anschließende Christianisierung als sinnvolle, gottgewollte, notwendige und unabänderliche Entwicklung darstellt, in eine überwiegend kontrapräsentische mit sich, die diesen gesellschaftlichen Bruch betont. 51 Vielmehr überwinden die Íslendingasögur den Bruch, indem sie wie Hermann (2010: 77) bemerkt, eine Situation „ characterized by unchangeability and cultural stability “ konstruieren. Dazu tragen insbesondere Vergleiche zwischen erzählter Vergangenheit und erzählerischer Gegenwart bei, die sowohl Kontinuität als auch Wandel der isländischen Gesellschaft von ihren Anfängen bis zur erinnernden Gegenwart aufzeigen, indem Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zwischen þá (damals) und nú (jetzt) betont werden (76 - 81). Insgesamt stellt die von den Íslendingasögur konstruierte söguöld weniger ein verlorenes Zeitalter, als vielmehr das Fundament der isländischen Gesellschaft im Mittelalter dar. Zum Teil trägt diese Ursprungszeit zwar durchaus kontrapräsentische Züge, die der fundierenden Vergangenheit Charakteristika eines heroischen Zeitalters verleihen und sie so größer und schöner als die Gegenwart zeichnen, 52 ein Goldenes Zeitalter, d. h. einen vergangenen Idealzustand, den es wiederherzustellen oder zumindest Erzählung durchziehen, sondern lediglich an Schlüsselstellen erscheinen und nicht durch die übrige Erzählung motiviert sind, was die These stützt, dass es sich bei ihnen um die Bearbeitungen älterer Werke handelt. So schließt sich dem Traum von Hörðrs Mutter, der das Schicksal ihres Sohnes ankündigt, ein weiterer an, der von der Geburt einer Tochter kündet, deren Nachfahren nach einem Glaubenswechsel den dann verbreiteten besseren Glauben haben. Diese Tochter tritt in der Saga selbst jedoch vor allem als diejenige in Erscheinung, auf deren Betreiben Hörðr gerächt wird, während von ihren christlichen Nachfahren keine Rede mehr ist. In der bereits in der Sturlubók erwähnten Harðar saga scheinen die betont christlichen Elemente Verformungen der Saga im Laufe ihrer Transmission zu sein, was auch für die in der Sturlubók zitierte Hávarðar saga anzunehmen ist, in der die Bezugnahme auf die Christianisierung Islands ebenfalls Schlüsselstellen besetzt, ohne dass das Thema die Saga im Ganzen prägt. Im Unterschied zur Harðar saga thematisiert die Hávarðar saga jedoch nur den neuen, nicht den alten Glauben. 51 Die Unterscheidung zwischen fundierender und kontrapräsentischer Mythomotorik geht zurück auf Assmann (1992: 78 - 80) und bezeichnet die jeweils gegenteiligen Funktionen, die ein Mythos einnehmen kann. Anders als fundierende Mythen, die die Gegenwart begründen, machen kontrapräsentische die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart sichtbar, die Gegenwart wird „ weniger fundiert als vielmehr im Gegenteil aus den Angeln gehoben oder zumindest gegenüber einer größeren und schöneren Vergangenheit relativiert “ (79). 52 Dazu Vésteinn Ólason (1998), der die Íslendingasögur, vornehmlich die klassischen, als „ dialogues about loss “ (1998: 9) liest. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 68 2 Theoretische Grundlagen <?page no="69"?> anzustreben gilt, stellt die in den Íslendingasögur dargestellte Ursprungszeit jedoch nicht dar. Abgesehen davon, dass eine überwiegend heidnische Zeit nur schwerlich als Imagination eines anzustrebenden Ideals im christlichen Mittelalter vorstellbar ist, 53 betrachten die Íslendingasögur selbst die Besiedelung sowie die sagazeitlichen Helden, die nicht selten dunkle, problematische Charaktere darstellen, durchaus auch kritisch (dazu Rankovi ć 2006). Neben Lobpreisungen von Island finden sich auch wenig freundliche Charakterisierungen des Landes. Insgesamt ist die von den Íslendingasögur konstruierte Vergangenheit „ an intricate blend of glory and misery, a fusion of the seeds of prosperity and destruction “ (Rankovi ć 2006: 40). Auffällig an den spätmittelalterlichen Íslendingasögur ist, dass sie wieder vermehrt norwegische Vorgeschichten enthalten (Kreutzer 1994: 458), was darauf schließen lässt, dass im Zuge der Eingliederung in das norwegische Reich und der daraus resultierenden Neuordnung der isländischen Gesellschaft die norwegischen Wurzeln für das isländische Selbstverständnis wieder bedeutsamer werden. Ethnische Identität ist im Mittelalter auch in Island nicht an politische Zugehörigkeit gekoppelt (Gunnar Karlsson 2000: 65). Dementsprechend scheint das kulturelle Gedächtnis der Isländer im Spätmittelalter mit einigem Abstand weniger auf den Verlust der politischen Unabhängigkeit als vielmehr auf die neue Situation der Zugehörigkeit zum norwegischen Reich zu reagieren (siehe auch Sverrir Jakobsson 2010), mit der sich die Isländer nach einigen Zugeständnissen und vor allem dem Tod von Hákon inn gamli (1204 - 1263) und der Ablösung durch seinen Sohn Magnús lagab œ tir (1238 - 1280) recht schnell arrangieren, wie das Fragment der Magnúss saga lagab œ tis berichtet (ÍF XXXII/ 2: 273 - 274). Veränderungen der Mythomotorik der Íslendingasögur im Laufe des Mittelalters sind aufgrund der Überlieferungslage und der Unfestigkeit der Texte sowie der daraus resultierenden Datierungsschwierigkeiten schwer fassbar, zeichnen sich aber doch ab: Nach vorwiegend fundierenden Ursprüngen in der ersten Hälfte des 13. Jh.s ist die Erinnerung an die Ursprungszeit im Zuge des Verlusts der isländischen Unabhängigkeit in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s verstärkt kontrapräsentisch motiviert und noch deutlich mit diesem Verlust beschäftigt, wie insbesondere die Njáls saga verdeutlicht, deren Datierung auf 1275 - 1285 auf einem festen Fundament steht. 54 Als heroisches Zeitalter, 53 Unmissverständlich bringen dies z. B Finnboga saga (siehe S. 183) oder Gunnlaugs saga mit ihrer Formulierung im Hinblick auf die Christianisierung zum Ausdruck: „ [..] þau tiðendi er bezt hafa ordit hér á Íslandi, at landit varð allt kristit, ok allt fólk hafnaði fornum átrúnaði. “ (ÍF III: 62; dieses Ereignis, das am besten war hier auf Island, dass das Land ganz christlich wurde und alle Menschen den alten Aberglauben ablegten.) 54 Zur Njáls saga und dem von ihr repräsentierten Verhältnis zur dargestellten Vergangenheit siehe Vésteinn Ólason (1998: 197 - 205), der „ a mood of resignation about what has taken place “ im Schlusskapitel und den tragischen Charakter der Saga betont. Die Njáls saga kann entsprechend als Darstellung des unvermeidlichen Untergangs der ‚ alten Welt ‘ nach der Annahme des Christentums sowie der damit verbundenen Gefühlswelten Beteiligter, die sowohl die ‚ alte ‘ als auch die ‚ neue ‘ Zeit erlebten, gelesen werden. Neben Trauer über den damit verbundenen Verlust führt die Saga dabei auch vor Augen „ that life in the old society had a grandeur and validity which vanished when that society perished. “ (Vésteinn Ólason 1998: 204 - 205) Eine derart kontrapräsentische Sichtweise auf die eigenen Ursprünge bringt auch die um 1300 kompilierte Sturlunga saga teilweise explizit zum Ausdruck, wenn sie eine Strophe über Snorri Sturluson zitiert, die davon handelt, dass dieser seinem Vorfahren Egill nicht das Wasser reichen kann (Torfi H. Tulinius 2014: 260). Auch die Kompilation selbst lässt sich als Ausdruck einer kontrapräsentischen Perspektive auf die Vergangenheit deuten: Der mutmaßlich vom Kompilator verfasste Geirmundar þáttr heljarskins (Úlfar Bragason 2005: 431) repräsentiert durch seine Spitzenstellung die Ursprungszeit der Isländer, die im Kontrast zu den in den nachfolgenden Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.4 Die isländische Ursprungszeit im Wandel 69 <?page no="70"?> das Helden hervorbringt, deren Fähigkeiten in späteren Zeiten unerreicht bleiben, weist die Sagazeit wie angesprochen immer auch kontrapräsentische Züge auf. Mit dem fortschreitenden Umbau zu einer Feudalgesellschaft und der wiedererlangten gesellschaftlichen Stabilität tritt jedoch allem Anschein nach erneut eine fundierende Mythomotorik in den Vordergrund. So stellen die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur die Sagazeit weniger als einen verlorenen Zustand dar, dem nachgetrauert wird, sondern vielmehr als Fundament der zeitgenössischen isländischen Gesellschaft, das die Gegenwart begründet. Ein weiteres wesentliches Merkmal des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga ist das ins Auge fallende Faible für das Abseitige und Randständige. Während die im 13. Jh. konstruierte Ursprungszeit auf die Mitte der Gesellschaft in Gestalt mächtiger Familien oder die kraft ihrer Dichtung als anerkannte Autoritäten auf dem Gebiet der Vergangenheitskunde geltenden Skalden fokussiert, zeigen zahlreiche ‚ postklassische ‘ Vertreter wie bereits einleitend angesprochen ein starkes Interesse an den Rändern der Gesellschaft. Außenseiter verschiedenster Couleur sind unter den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur auffällig häufig vertreten. Sie erscheinen als gesellschaftliche Außenseiter, in Gestalt von Geächteten, die ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristen, aber auch anderer Einzelgänger oder Sonderlinge, die nicht in die Gesellschaft integriert sind, vornehmlich der im Spätmittelalter höchst populären kólbítar sowie Grenzgänger zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Welt, oder auch in Kombination von beidem, wie herausragend von Grettir verkörpert 55 . Auf ein besonderes spätmittelalterliches Interesse an jenseits der gesellschaftlichen Norm angesiedelten Ereignissen und Entwicklungen deuten auch die Aktualisierungen nachweislich älterer Überlieferungen in Form von Gísla saga, Harðar saga und Hávarðar saga, deren Protagonisten sämtlich gesellschaftliche Außenseiter sind, sowie auch der Svarfd œ la saga, in der verschiedene Außenseiterfiguren zentrale Rollen besetzen. Einhergehend mit häufiger Thematisierung von Rand- und Grenzbereichen stehen auch das Ziehen und das Überschreiten von Grenzen in besonderem Maße im Fokus der spätmittelalterlichen Darstellungen der Ursprungszeit. Die Zusammenhänge zwischen diesem spätmittelalterlichen Fokus und einem aufgrund der fortschreitenden Textualisierung der isländischen Gesellschaft veränderten Erinnerungsverhalten sowie einem daraus resultierenden veränderten Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter werden noch zu zeigen sein. In jedem Fall macht eine eingehende Betrachtung typisch spätmittelalterlicher Charakteristika der isländischen Ursprungszeit deutlich, wie sehr sich diese trotz Stabilisierung ihrer im 13. Jh. geformten Ausprägung in der Schriftlichkeit vor einer sich verändernden Gegenwart im Spätmittelalter weiter wandelt. Eine lebendige mündliche Überlieferung von Erinnerungen an die eigenen Ursprünge existiert derweil weiterhin, wie das Beispiel der Grettisfærsla verdeutlicht. Das in der Grettis saga erwähnte, jedoch nur in einer mittelalterlichen Handschrift überlieferte, ursprünglich etwa 400-zeilige Gedicht ist erst seit Mitte des 20. Jh.s dank moderner Untersuchungsmethoden zu etwas mehr als der Hälfte lesbar, da es, wohl im 16. Jh., säuberlich vom Pergament gekratzt wurde - vermutlich aus Gründen der Zensur der Texten geschilderten problematischen Zuständen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit als ein Goldenes Zeitalter erscheint. 55 Kólbítr (Pl. kólbítar), wörtlich ‚ Kohlenbeißer ‘ , bezeichnet einen jungen Mann, der ständig faul am Herd liegt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 70 2 Theoretische Grundlagen <?page no="71"?> obszönen Darstellung (Heslop 2006: 69 - 70). Die Saga selbst (ÍF VII: 168) bezeichnet die Grettisfærsla als „ fr œ ði “ (geschichtliches Wissen) und verortet so auch sie in der Nachfolge Aris, verweist mit der Bezeichnung der Urheber als „ kátir menn “ (fröhliche Leute) und dem Hinweis auf Erweiterungen mit „ kátligum ordum til gamans “ (heiteren Worten zur Vergnügung) aber auch auf ihren unterhaltenden Charakter sowie ihren expliziten Gehalt (65 - 67). Kate Heslop (2010) legt dar, dass die Grettisfærsla als eine Art spätmittelalterliches Narrenspiel verstanden werden kann, das die Rolle Grettirs in der ihm zugeeigneten Saga „ in grossly bodily, parodic and excessive terms “ (234) wiederholt und so karnevalesk die bestehende Ordnung affirmiert. Ungeachtet aller Unterschiede zwischen der Grettisfærsla und den Íslendingasögur liegt also jeweils eine fundierende Mythomotorik von Erinnerungen an die isländische Ursprungszeit zugrunde. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Grettisfærsla ähnliche Darstellungen der isländischen Ursprungszeit im Spätmittelalter weiter verbreitet waren, aber gar nicht erst zu Pergament gelangten oder von nachfolgenden Generationen nicht goutiert und dementsprechend zensiert wurden. In jedem Fall waren die isländischen Ursprungserinnerungen im 14. Jh. facettenreicher, als die durch die Íslendingasögur in Form der söguöld gebrachten vermitteln. Aufzeichnungen aus dem 17. Jh. zeigen, dass an die Ursprungszeit geknüpfte Stoffe auch über das Mittelalter hinaus zumindest in geringem Umfang weiter rein mündlich kursieren (ausführlicher dazu nachfolgend Kap. 3.2). Eine umfangreichere lebendige mündliche Überlieferung isländischer Ursprungserinnerungen, die unabhängig von der schriftlichen existiert, ist allem Anschein nach jedoch nur bis Anfang, spätestens Mitte des 15. Jh.s gegeben. Im Laufe der produktiven Phase der Gattung vom frühen 13. bis in das frühe 15. Jh. verändert sich das Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit mit der voranschreitenden Textualisierung zudem nachhaltig. Das Ende der Ära anerkannter Gewährspersonen für die mündlichen isländischen Ursprungserinnerungen im ausgehenden 13. Jh. markiert dabei einen ersten Einschnitt. Die Schrift übernimmt fortan die Vorherrschaft im kulturellen Gedächtnis, mündliche Überlieferung wird nicht mehr offiziell verwaltet. Den Bruch, den diese Lösung von der Tradition für die Erinnerungsgemeinschaft darstellt, überwindet die traditionalistische Erzählweise der Íslendingasögur, die diese als unmittelbare mündliche Überlieferung präsentiert. Die mündliche Rhetorik der Íslendingasaga ist dementsprechend eine Folge ihrer Schriftlichkeit, die dazu beiträgt, trotz wesentlicher Veränderungen Kontinuität im kulturellen Erinnerungsprozess herzustellen. So wird die Ausbildung des klassischen Sagastils sowie die dezidierte Betonung der mündlichen Ursprünge der Íslendingasaga im Spätmittelalter im Wesentlichen als Antwort auf das Ende der in der Mündlichkeit gründenden Tradition leibhaftiger Autorität für die eigenen Ursprünge zu verstehen sein. Das Ende einer offiziellen mündlichen Tradition ist allerdings nicht gleichzusetzen mit dem Ende mündlicher Überlieferung von Ursprungserinnerungen. Ohne die institutionelle Stabilisierung durch autorisierte Überlieferungsträger scheint diese jedoch verstärkt den Verformungskräften des Gedächtnisses ausgesetzt zu sein, wie das Beispiel der Króka-Refs saga vermuten lässt, deren Protagonist als wahrscheinliche spätmittelalterliche Vergegenwärtigung des sagazeitlichen Isländers Refr inn gamli úr Brynjudal nur noch wenige Verbindungen zu den älteren Überlieferungen aufweist (Pálmi Pálmason 1883: XXXII). Der von der Saga genannte Heimathof des Protagonisten, Kvennabrekka im Breiðafjörður, weicht von der in der Landnámabók verzeichneten Verortung des Refr inn gamli ab, die Gemeinsamkeiten sowie teilweise Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 2.4 Die isländische Ursprungszeit im Wandel 71 <?page no="72"?> nur geringfügige Unterschiede in den jeweiligen Genealogien deuten allerdings darauf hin, dass es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt, die im Fluss der Erinnerung unterschiedlich vergegenwärtigt wird. Refr inn gamli war offenkundig eine der sagazeitlichen Persönlichkeiten, über die eine umfangreiche mündliche Überlieferung kursierte, wie auch die Harðar saga nahelegt, in der Refr sowohl mit dem auch der Landnámabók zu entnehmenden Beinamen als auch mit Wohnsitz im Brynjudalur erscheint. 56 Varianz ist also erkennbar bereits ein Charakteristikum der ältesten Überlieferungen, verstärkt sich mit zunehmender zeitlicher Distanz und dem Ende von offiziellen gesellschaftlichen Strukturen, die die mündliche Überlieferung stützen und den Verformungskräften zumindest in einem gewissen Maß Einhalt gebieten, jedoch weiter. Den zweiten Einschnitt im Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit markiert das Ende der Íslendingasaga, das einen weiteren Bedeutungsverlust der mündlichen Überlieferung bedeutet, die fortan nicht mehr in das offizielle kulturelle Gedächtnis überführt wird. Interessanterweise kommt die Gattung Íslendingasaga etwa dann zum Stillstand, als mutmaßlich die letzten persönlichen Verbindungen zu den Ursprüngen abreißen: In der ersten Hälfte des 14. Jh.s leben noch etliche Isländer, die über persönliche Erinnerungen an genuin mündliche Traditionen und die Autoritäten mündlicher Überlieferung des 13. Jh.s verfügen. Geht man davon aus, das die Erinnerungen an die Existenz personaler Autoritäten dann noch etwa den Zeitraum in der Mündlichkeit lebendig bleiben, den das kommunikative Gedächtnis - das im isländischen Mittelalter wie angesprochen nicht eindeutig vom kulturellen abzugrenzen ist - in mündlichen Gesellschaften in der Regel umfasst, ist die Gattung entsprechend in etwa so lange produktiv, bis diese Erinnerungen nicht mehr in den Zeitrahmen des kommunikativen Gedächtnisses und damit dem Vergessen anheim fallen. Die mittelalterliche Gattung der Íslendingasaga scheint dementsprechend in ganz besonderem Maß zwischen Körper und Schrift zu entstehen und sich nur zu erneuern, solange sie Impulse sowohl aus der Mündlichkeit als auch der Schriftlichkeit erhält. Neben der sich vergrößernden zeitlichen Distanz zu den Ursprüngen scheint die durch die Gattung selbst vorangetriebene Textualisierung der isländischen Gesellschaft ihr allmählich auch den Boden zu entziehen. Wenngleich nicht alle Íslendingasögur unmittelbar mündliche Überlieferung in sich aufgenommen haben, ist die Produktivität der Gattung mutmaßlich an einen Hintergrund lebendiger mündlich überlieferter Erinnerungen an die isländische Ursprungszeit gebunden. In jedem Fall ist mit dem Ende der Gattung Íslendingasaga die Konstruktion der eigenen Ursprünge aus mittelalterlicher Sicht abgeschlossen. In der anschließenden Gedächtniszeit bleibt die Íslendingasaga jedoch weiter zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit lebendig. 56 Letzterer wird als Stykkisvellir genauer bezeichnet (ÍF XIII: 63), während die Landnámabók diesen entweder nicht erwähnt oder in der Þórðarbók als Múli bezeichnet (ÍF I: 59). Auch hinsichtlich des Bruders von Refr weichen Harðar saga und Landnámabók voneinander ab, erstere nennt ihn Kjartan (ÍF XIII: 63), letztere in der Version der Hauksbók Þórðr (ÍF I: 174). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 72 2 Theoretische Grundlagen <?page no="73"?> 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte Die sich der produktiven Phase der Íslendingasaga anschließende Gedächtniszeit lässt sich grob in drei Phasen der Rezeption unterteilen: In der ersten Phase vom 15. bis zum Ende des 16. Jh.s handelt es sich bei der isländischen Sagaliteratur um eine vornehmlich isländische Angelegenheit (Jón Karl Helgason 1999: 19). In der zweiten Phase, die das 17. bis 18. Jh. umfasst, findet die isländische Sagaliteratur zunehmend Verbreitung in Skandinavien und weiteren europäischen Ländern. Die dritte Phase schließlich beginnt mit der sich im 19. Jh. entwickelnden modernen Sagaforschung. 1 Im Zentrum der folgenden Ausführungen, die versuchen, anhand ausgewählter Beispiele die Überlieferung und Rezeption der Íslendingasögur und damit die Sichtweise(n) auf die Texte im Wandel der Zeit nachzuzeichnen, steht vor allem die Frage, wann und wie sich die Abgrenzung einer Gruppe von Werken und schließlich die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga manifestiert. Des Weiteren soll das Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei der Aufrechterhaltung und Aktualisierung der Erinnerungen an die eigenen Ursprünge sowie deren Mythomotorik im Wandel der Zeit angesprochen werden. Da, wie zu zeigen sein wird, die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga eine rein wissenschaftliche Angelegenheit ist, konzentriere ich mich für die Zeit ab 1800 aufgrund der zum größten Teil mangelnden Verfügbarkeit der Dichtung, die Stoffe der Íslendingasögur verarbeitet, und nicht zuletzt auch des Umfangs vornehmlich auf ausgewählte Forschungsliteratur, insbesondere auf Literaturgeschichten und Gesamtdarstellungen der Gattung sowie Ausführungen, die in Zusammenhang mit dem Themenkomplex der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga stehen. 3.1 Die spätmittelalterliche Gedächtniszeit Das Ende der produktiven Phase der Íslendingasaga im 15. Jh. wird oft in Zusammenhang mit den Ausbrüchen der Pest im 14. Jh.s gebracht, in jedem Fall kommt die Produktivität der Gattung erst dann zum Stillstand, als sich ein neues distinktives und identitätsstiftendes Merkmal ausgebildet hat, auf dem die kollektive Identität der Isländer gründen kann: Die isländische Sprache stellt im Spätmittelalter nicht mehr wie in früheren Zeiten einen Dialekt der gemeinsamen dönsk tunga dar, sondern beginnt sich ab Mitte des 14. Jh.s zunehmend von den festlandskandinavischen Sprachen zu unterscheiden (Gunnar Karlsson 2000: 104 - 105). Infolgedessen kommt im ausgehenden 14. Jh. auch der Export von Handschriften nach Norwegen zum Erliegen und wie die Produktion von Sagaliteratur wird nun auch ihre Rezeption zu einer vornehmlich isländischen Angelegenheit (Ashman Rowe 2005: 25). Die Frage, inwiefern die Íslendingasögur vor 1600 tatsächlich auch außerhalb Islands bekannt waren, ist noch wenig untersucht. Anzunehmen ist nach Árni 1 Zu einer detaillierteren Untergliederung dieses Zeitraums am Beispiel der Transmissions- und Editionshistorie der Njáls saga siehe Jón Karl Helgason (1999). <?page no="74"?> Daniel Júliusson (2002: 4), dass auf Island auch Nichtisländer in Kontakt mit ihnen kamen, mittelalterliche Belege für ihre Verbreitung im außerisländischen Kontext existieren allerdings nicht. Die ab dem 18., vor allem dann im 19. Jh. aufgezeichneten färöischen Tanzballaden, die in weiten Teilen auf mittelalterliche Überlieferung zurückgehen, verweisen jedoch deutlich auf eine Bekanntschaft der Íslendingasögur auch außerhalb Islands (dazu auch nachfolgend). 2 Weniger die Inhalte, aber doch das Wissen um die Existenz der Sagas verbreitete sich dann mit der 1555 in Rom erschienenen Historia de gentibus septentrionalibus des schwedischen Erzbischofs Olaus Magnus (1490 - 1557), die in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt wurde, in ganz Europa. Durch die christliche Religion haben die Isländer nach Olaus Magnus „ propriam scripturam, historiamque rerum magnifice gestarum “ (Magnus 1555: 39; eigene Schriften und eine Geschichtsschreibung ihrer großartigen Taten). Auch dass sie diese in Lieder und Reime umsetzen, weiß er zu berichten, darüber hinaus würden sie diese in die Felsen einmeißeln. Die Historia ist als umfangreiche Kommentierung von Olaus Magnus ’ bereits 1539 erschienener Carta Marina konzipiert, erreichte jedoch bei weitem nicht den Verbreitungsgrad dieser (Miekkavaara 2008: 8). Bekannt wird vor allem der Mythos von den in Stein verewigten Heldentaten, den die Carta Marina bildlich darstellt. Das Bild, das die Carta Marina sowie die dazu gehörige kurze Beschreibung Opera breve (auf italienisch) bzw. Ain kurze Auslegung und Verklerung der neuuen Mappen von den alten G œ ttenreich und andern Nordlenden sampt mit den uunderlichen dingen in land und uasser darinnen begriffen biss her also klerlich nieintuuelt geschriben zeichnet, ist nicht nur deutlich weniger positiv, sondern erwähnt auch die isländische Geschichtsschreibung nicht. 3 Auch wenn vor allem die auf der Karte verzeichneten Steintafeln bekannt werden, zeugt Olaus Magnus ’ Schrift von der Bekanntheit der isländischen Sagaschreibung und speziell der Íslendingasögur sowie der Umsetzung dieser in rímur im 16. Jh. in Skandinavien und zumindest im Gefolge seiner Historia auch im übrigen Europa. Die Isländer werden so nicht mehr wie bei Saxo, auf den sich Olaus Magnus neben Adam von Bremen ebenfalls bezieht, als bloße Erinnerungsträger der nordischen Geschichte gesehen, sondern auch als Chronisten ihrer eigenen Vergangenheit. 4 Während Olaus Magnus noch im Präsens von der isländischen Geschichtsschreibung berichtet, geht auf Island mit dem Ende der produktiven Phase der Íslendingasögur die Schreibzeit endgültig in die Gedächtniszeit über. Die Vergangenheitskonstruktion der Isländer ist insofern abgeschlossen, als keine gänzlich neuen Werke mehr entstehen und die Íslendingasögur - und damit auch die Erinnerung an die isländischen Ursprünge - nun vornehmlich in Form von neuen Abschriften aktualisiert werden. Auch nachdem die Produktivität der Gattung Íslendingasaga zum Ende kommt, sind Produktion und Besitz von Sagahandschriften weiter der Oberschicht vorbehalten: Führende Familien setzen die 2 Eine Unterscheidung zwischen klassischen und ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur geben im Übrigen auch die färöischen Tanzballaden nicht zu erkennen (siehe dazu Olrik 1890: 251 - 254, vgl. auch Chesnut 1992: 53 - 55). 3 Magnus (1539b). Ain kurze Auslegung und Verklerung der neuuen Mappen von den alten G œ ttenreich und andern Nordlenden [ … ] enthält keine Seitenzahlen, die Beschreibung Islands findet sich unter A. 4 Dass die Isländer eine eigene Schrift hätten, wie in späteren Bezugnahmen auf die Historia zu lesen ist, scheint auf die deutsche Übersetzung zurückzugehen, in der bei der Wiedergabe von oben zitierter Stelle - „ writings “ in der englischen Übersetzung (Magnus 1658: 16) - anstelle eines zu erwartenden Plurals der Singular „ Schrifft “ verwendet wird (Magnus 1567: XLV). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 74 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="75"?> mittelalterliche Tradition der Sagaschreibung im 15. und 16. Jh. fort und beschäftigen zu diesem Zweck auch Gelehrte in auf Pachtfarmen eingerichteten Schreibschulen (Árni Daniel Júliusson 2002: 6). AM 152 fol., einer der imposantesten isländischen Sagacodices des Mittelalters, der in den ersten Jahrzehnten des 16. Jh.s von Mitgliedern der zu dieser Zeit mächtigen Dynastie der Skarðverjar angefertigt wurde, zeigt, wie mächtige und einflussreiche Familien auch im ausgehenden Mittelalter ihr Selbstverständnis weiter an die Sagazeit knüpfen und ihre Identität mittels Íslendingasögur definieren (dazu Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2014). Im Unterschied zu den großen Sammelhandschriften des 14. Jh.s geschieht dies nun aber im Kontext von Fornaldarsögur sowie übersetzten und originalen Riddarasögur, die der Familie des Auftraggebers ebenfalls zur Identifikation dienen. In Ansätzen geht die Íslendingasaga im 15. und 16. Jh. nun auch in die Phase der Auslegung über, wie Ergänzungen in den Handschriften in Form von Marginalien zeigen, die das Erzählte kommentieren. Diese Kommentare zeigen zugleich ein hohes Maß an Identifikation mit den Texten und ihren Helden, indem sie für die Guten Partei nehmen und die Schurken verachten (siehe dazu Viðar Hreinsson 2017: 218, Hastrup 1990: 159). Die Sagazeit wird dabei weiter als heroische Vorzeit rezipiert, wobei weiter gerade ambivalentes Heldentum zu faszinieren scheint, wie das Beispiel der besonders beliebten Grettis saga deutlich macht, deren Protagonist vor allem durch seine Angst vor der Dunkelheit wahrlich nicht das Paradebeispiel eines Helden darstellt. 5 Aktualisiert werden die isländischen Ursprungserinnerungen im Spätmittelalter, beginnend wohl noch in der späten produktiven Phase der Íslendingasaga, auch in Form von rímur, die in Anlehnung an die Íslendingasögur am treffendsten als Íslendingarímur zu bezeichnen sind. Sie setzen Íslendingasögur ganz oder teilweise in Verse um, wobei sie ihren schriftlichen Prosavorlagen zumeist recht getreu folgen. Vollständig bewahrt sind mit Grettisrímur, Króka-Refs rímur und Skáldhelgarímur lediglich drei rímur-Zyklen (zu diesen Björn K. Þórólfsson 1934: 341 - 342, 351 - 353, 413 - 414), in letzterem Fall ist allerdings keine zugrunde liegende Saga überliefert. Über eine mittelalterliche Skáld-Helga saga kann entsprechend nur spekuliert werden, die Skáldhelgarímur kennzeichnet jedoch die für die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur typische, betont christliche Darstellung des Protagonisten. 6 Einige weitere rímur- Bearbeitungen von Íslendingasögur sind nicht erhalten, aber durch die Überlieferung einzelner Strophen sowie andere Hinweise belegt oder aufgrund anderer Überlieferung erschlossen. 7 Mit großer Mehrheit widmen sich die überlieferten mittelalterlichen rímur allerdings Fornaldarsögur und Riddarasögur (RT II: 189 - 190). Auffällig ist, dass es sich bei den erhaltenen rímur-Zyklen oder Fragmenten, die auf Íslendingasögur beruhen, ausnahmslos um Bearbeitungen ‚ postklassischer ‘ Vertreter handelt. Die Tatsache, dass diese in Verse umgesetzt wurden, legt nahe, dass sie im Spätmittelalter unter den einheimischen Stoffen neben den ebenfalls spätmittelalterlich in rímur umgesetzten Ólafs saga Tryggvasonar sowie Ólafs saga helga besonders beliebt waren. 5 Zur Beliebtheit der Grettis saga ab dem späten Mittelalter siehe Hastrup (1990: 168 - 169). 6 Teilweise wird die Existenz einer mittelalterlichen Skáld-Helga saga, für die es keinerlei Belege gibt, auch angezweifelt. Sollte sie existiert haben, hat sie das Mittelalter wohl nicht überdauert: Bereits Arngrímur Jónsson griff auf die rímur zurück (Jakob Benediktsson 1957: 103). Die überlieferte Skáld- Helga saga ist deutlich jüngeren Datums und beruht auf den rímur. 7 Von mittelalterlichen Gunnars rímur Keldugnúpsfífls wird eine Strophe in der sog. Laufás Edda, einer Version der Edda Snorri Sturlusons aus dem 17. Jh., überliefert (Faulkes 1979: 339). Zur Existenz von nicht erhaltenen mittelalterlichen Finnboga rímur siehe Ólafur Halldórsson (1975). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.1 Die spätmittelalterliche Gedächtniszeit 75 <?page no="76"?> Mit den Íslendingarímur tritt die Erinnerung an die isländischen Ursprünge in ein neues Stadium, das verstärkt schriftgeprägt ist: Die rímur werden nach schriftlicher Vorlage gedichtet und zeigen sämtlich klare Anzeichen schriftlicher Komposition (Vésteinn Ólason 2006: 58 - 59), zudem wird dies von den rímur-Dichtern selbst zum Ausdruck gebracht. Während die Íslendingasögur die mündliche Überlieferung ihrer Inhalte betonen, kennzeichnen die rímur-Dichter ihre Vorlagen klar als schriftlich, indem sie sie jeweils als „ bók “ (Buch; Grettisrímur: 45, Skáldhelgarímur: 152) oder „ rit “ (Schrift) bezeichen (Króka-Refs rímur: 62). Die Überlieferung ist dennoch weiter fest im oral-written continuum verankert: Die leichter zu memorierenden Verse werden wohl vornehmlich mündlich weitergegeben und tragen in einer Zeit, in der Bücher teuer und der Oberschicht vorbehalten sind, dazu bei, die Erinnerung an die isländischen Ursprünge im kollektiven Gedächtnis lebendig zu halten. Dass die Handlung der rímur in der isländischen Vergangenheit angesiedelt ist, ist den Dichtern der drei erhaltenen rímur-Zyklen allerdings keine besondere Aufmerksamkeit wert. Sie erwähnen es eher beiläufig, vor allem in den narrativen Abschnitten, womit sie sich von den sich betont als Ursprungserzählungen der Isländer präsentierenden Íslendingasögur abheben. Eine besondere Wertschätzung der Handlungszeit als einen für die Isländer bedeutenden Zeitraum ist in den rímur nicht zu erkennen: Die eine ríma jeweils einleitenden mansöngvar, in denen das Publikum direkt adressiert wird, entsprechen der Konvention der mittelalterlichen rímur und behandeln Frauenpreis und Klagen über fehlende weibliche Zuwendung. Gedichtet wurden sie jedoch im Auftrag eines Mannes (Grettisrímur) (Björn K. Þórólfsson 1934: 342) bzw. für ein Ehepaar (Króka-Refs rímur) (Pálmi Pálmason 1883: XXVIII) und auch der mutmaßlich geistliche Verfasser der Skáldhelgarímur (Finnur Jónsson 1902: 42) wird diese wohl eher nicht für eine Frau verfasst haben. Der Entstehungshintergrund dieser mittelalterlichen Íslendingarímur ist allerdings unbekannt, wie die Íslendingasögur sind sie im Gegensatz zu zahlreichen anderen mittelalterlichen rímur-Zyklen jedoch anonym überliefert. Wie die spätmittelalterlichen Handschriften mit Íslendingasögur zeigen auch sie eine teilweise ausgeprägte subjektive Kommentierung des Erzählten und damit Auslegung und zugleich Identifikation. Vor allem der Dichter der Króka-Refs rímur kommentiert ausführlich die handelnden Personen, beschimpft diejenigen, von denen er nichts hält, und lobt seine Lieblinge (Pálmi Pálmason 1883: XXV). Auch hier wird deutlich, dass den sagazeitlichen Helden ein ausgeprägter Vorbildcharakter zukommt und die Íslendingasögur weiter als normative Texte gelesen werden. Der Sagahandlung folgt der Dichter teilweise sehr bruchstückhaft, was zu Schwierigkeiten führt, das Erzählte ohne Hintergrundwissen zu verstehen (Pálmi Pálmason 1883: XXV), und nahelegt, dass die Króka-Refs saga dem zeitgenössischen Publikum des Dichters sehr gut bekannt war. Wie bei den rímur generell, steht auch bei den mittelalterlichen Íslendingarímur der Unterhaltungszweck deutlich im Vordergrund. Ob die Tatsache, dass es sich bei diesen um Bearbeitungen ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur handelt, auf einen diesen möglicherweise zugeschriebenen größeren Unterhaltungswert zurückzuführen ist, ob sie als aktuellere Darstellungen der isländischen Ursprungszeit verstanden wurden oder ob sie im Spätmittelalter gar verbreiteter waren als die älteren Vertreter, ist jedoch reine Spekulation. Die gleichzeitige Popularität von Ólafs saga helga und Ólafs saga Tryggvasonar im neuen Medium der rímur, von der ein bzw. zwei erhaltene mittelalterliche rímur-Zyklen zeugen, spricht jedoch deutlich gegen die Annahme, dass im späten Mittelalter zwischen ‚ echten ‘ Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 76 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="77"?> historischen und bloßen Unterhaltungszwecken dienenden Íslendingasögur unterschieden wurde und nur letztere in rímur überführt wurden. Wenngleich die mittelalterlichen Íslendingarímur nicht explizit bemüht sind, die isländische Ursprungszeit abzubilden, handelt es sich bei ihnen um eine - vornehmlich formale - Aktualisierung dieser, die die Erinnerung an die isländischen Ursprünge im kollektiven Gedächtnis lebendig hält. Auch für die Vermittlung auf die Färöer scheinen die rímur eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. So berichtet die färöische Volksüberlieferung von einem ledergebundenen Buch, das von Island auf die Inseln kam und u. a. Tanzballaden enthielt (Lindkvist 2018: 158). 8 Für die färöische Finnboga ríma zeigt Ólafur Halldórsson (1975), dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht direkt auf den entsprechenden Kap. 12 - 17 der Finnboga saga fußt, sondern auf einer nicht erhaltenen isländischen rímur-Bearbeitung dieser. Die färöische Finnboga ríma ist auch deshalb so interessant, weil sie deutlich auf den Rezeptionsrahmen kultureller Texte verweist und zeigt, wie sich die färöische Überlieferung einen Text mit einem ursprünglich spezifisch isländischen Identifikationspotential gewissermaßen einverleibt, indem sie Finnbogi zum Färinger macht: „ Efni er staðfært með þeim ágætum, að allir mundu hiklaust telja rímuna orta eftir færeyskri sögn, sem meira að segja fengi stuðning af vitnisburði fornminja, ef sagan væri ekki til. “ (Ólafur Halldórsson 1975: 182) 9 Auf Island bleibt die Erinnerung an die eigene Ursprungszeit auch über das 15. Jh. hinaus weiter im oral-written continuum lebendig, wie Aufzeichnungen mündlicher Überlieferungen, die im 17. Jh. angefertigt wurden, sowie die Dichtung des 16. und 17. Jh.s schließen lassen. So wird in einigen kappakvæði aus dem 16. und 17. Jh., die ansonsten nur bekannte Íslendingasaga-Helden auflisten, auch Þorsteinn Geirnefjufóstri genannt, eine schriftliche Þorsteins saga Geirnefjufóstra scheint jedoch vor der von Gísli Konráðsson im 18. Jh. verfassten nicht existiert zu haben. Erwähnte, aber nicht erhaltene rímur von Þorsteinn Geirnefjufóstri sind ebenfalls jünger (RT I: 530), die Erinnerung an den betreffenden Þorsteinn scheint dementsprechend lediglich mündlich in Form von frásagnir kursiert zu haben. In anderen Fällen wurden diese an die isländische Ursprungszeit geknüpften Stoffe nachweislich in gebundene Form gebracht: Die im 17. Jh. nach mündlichem Vortrag aufgezeichneten Þorgeirs rímur, die von einem Isländer namens Þorgeir und dessen glíma (Ringkampf) mit einem blámaður Hákon Jarls erzählen (Bjarni Einarsson 1955: 49 - 57), werden heute in der Regel als den rímur nahestehende Ballade klassifiziert (siehe dazu Vésteinn Ólason 1982: 378 - 382, Bjarni Einarsson 1955: CXIX - CXXIV). Sie sind möglicherweise bereits im 15. Jh. entstanden, ihre genaue Entstehungszeit kann aufgrund der Überlieferungslage jedoch nicht bestimmt werden. Inhaltlich stehen die Þorgeirs rímur den Íslendingasögur und þættir, vor allem ‚ postklassischen ‘ , nahe. Als Darstellung der isländischen Ursprungszeit sind sie einzigartig unter den überlieferten Balladen aus der Zeit vor 1600, ob sie nach einer schriftlichen Vorlage gedichtet wurden, ist ungeklärt. In jedem Fall mündlich gedichtet ist das in über 80 Handschriften bewahrte sagnakvæði Kötludraumur, 8 Einleitend nehmen einige der färöischen Balladen auch Bezug darauf, so z. B. das Grettis kvæði: „ Ein er søgan av Íslandi komin, skrivað í bók so víða “ (CCF 222; eine Saga ist von Island gekommen, geschrieben in einem großen Buch). 9 Der Stoff ist so vortrefflich lokalisiert, dass jeder bedenkenlos glauben würde, dass die ríma auf einer färöischen Sage basiert, was sogar durch ein archäologisches Zeugnis gestützt wird, wenn die Saga nicht existierte. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.1 Die spätmittelalterliche Gedächtniszeit 77 <?page no="78"?> dessen Protagonisten aus der Landnámabók bekannte Personen sind. 10 Seine Entstehungszeit kann nur vage bestimmt werden, möglicherweise ist es bereits im 14. Jh., sicher jedoch nicht später als im 16. Jh. entstanden (Aðalheiður Guðmundsdóttir 2012: 271). Es stellt das intime Verhältnis zwischen einer Frau und einem übernatürlichen Wesen dar, was ein bekanntes Motiv ist, so dass es nicht möglich ist, das Alter der Erzählung davon ausgehend zu bestimmen, wie Gísli Sigurðsson vermerkt. Mit unehelicher Schwangerschaft thematisiert sie jedoch eine zeitgenössische Problematik, die im Zuge des Stóridómur 1564 mit weitaus härteren Strafen belegt wird als zuvor (Gísli Sigurðsson 1996b: 211 - 215). Diese Darstellung der Ursprungszeit in Form eines sagnakvæði im 16. Jh. stellt allerdings einen Einzelfall der Überlieferung dar, zudem handelt es sich nicht um eine explizite Darstellung der Ursprungszeit: Das sagnakvæði selbst verortet die Handlung in einer nicht näher bestimmten Vergangenheit, die dementsprechend auch nicht als besondere Zeit präsentiert wird und lediglich mittels der Landnámabók, in der die Protagonisten verzeichnet sind, näher bestimmt werden kann. Diese indifferente Art, die isländische Ursprungszeit darzustellen, teilt Kötludraumur mit den mittelalterlichen Íslendingarímur und auch den um 1700 aus der Mündlichkeit aufgezeichneten fornmannasögur, die zwar im Zeitraum der Sagazeit angesiedelt sind, der in diesen jedoch nicht wie in den Íslendingasögur als Epoche besonderer Bedeutsamkeit darstellt wird. In der Zeit um 1000 angesiedelt, haben die fornmannasögur sowohl norwegische als auch isländische Protagonisten und zeigen deutliche Einflüsse schriftlicher Sagas, letztere insbesondere der Íslendingasögur, sie sind „ ekki þjóðsögur í venjulegum skilningi, heldur endurminningar og tilbúningur eftir sögum sem menn höfðu lesið eða heyrt lesnar, eða rímum “ (Bjarni Einarsson 1955: CXLIV). 11 Eine Entschriftlichung der durch Vorlesen vermittelten Sagastoffe und die mit dieser verbundene Fragmentierung (dazu Glauser 1996) bringt so neue Erzählungen hervor, die in der Ursprungszeit angesiedelt sind. Wie in den Íslendingarímur (inklusive der Þorgeirs rímur) zeigt sich auch hier eine auffällige Beliebtheit als typisch ‚ postklassisch ‘ geltender Motive phantastischer Natur, was sicher nicht zuletzt deren Unterhaltungswert zuzuschreiben ist. Auch dass diese Texte die Erinnerungen an die isländischen Ursprünge zwar aufgreifen und erneuern, sie jedoch nicht mehr dezidiert als Ursprungserzählungen aktualisieren, deutet darauf hin, dass der Aspekt der Unterhaltung im ausgehenden Mittelalter in den Vordergrund rückt, wenn Stoffe der Íslendingasögur aufgegriffen werden. So bleiben die isländischen Ursprungserinnerungen weiter im oral-written continuum lebendig, sind nun aber wesentlich von der schriftlichen Ausgestaltung in Form der Íslendingasögur bestimmt. Wie es um die Bekanntheit und Popularität der Íslendingasögur im ausgehenden Mittelalter tatsächlich bestellt war, ist nur schwer zu rekonstruieren. Die Tatsachen, dass im 16. Jh. nur wenige Handschriften mit Íslendingasögur angefertigt werden, sowie dass sich die immer beliebteren und dementsprechend in immer größerer Zahl entstehenden rímur mehrheitlich anderen Stoffen widmen, deuten auf einen Bedeutungs- und Popularitätsverlust im Vergleich zu den früheren Jahrhunderten. Es ist jedoch auch bekannt, dass 10 Die spätmittelalterlichen sagnakvæði (dazu Aðalheiður Guðmundsdóttir 2013), erzählende Dichtung im eddischen Versmaß fornyrðislag, greifen ansonsten Volkssagen und Märchenstoffe oder für die Fornaldarsögur typische Stoffe auf. 11 keine Volkssagen im herkömmlichen Sinne, sondern Erinnerungen und entstanden nach Sagas oder rímur, die Menschen gelesen oder vorgelesen gehört hatten. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 78 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="79"?> Handschriften mit Íslendingasögur zu dieser Zeit streng gehütet und teilweise im Geheimen aufbewahrt wurden (Jakob Benediktsson 1981: 161, Árni Daniel Júliusson 2002: 6). Zudem waren die heute defekten älteren Handschriften noch vollständig, was die Zahl der im 16. Jh. existenten Manuskripte mit Íslendingasögur relativiert (Jakob Benediktsson 1981: 163). Die Schwierigkeiten Arngrímur Jónssons bei der Beschaffung von Handschriften im Zusammenhang mit der Abfassung seiner Crymogæa Ende des 16. Jh.s - er hatte weder Zugang zu sämtlichen heute bekannten Íslendingasögur noch zu einigen der bedeutendsten Handschriften wie der Möðruvallabók (Jakob Benediktsson 1981: 162) - deuten gleichwohl darauf, dass diese nicht oder nur wenig in Umlauf waren. So lässt sich spekulieren, inwiefern sich die isländische Oberschicht möglicherweise verstärkt als exklusive Elite definierte, zumal ihr mit der sich mit dem ausgehenden Mittelalter auch im Bauernstand zunehmend verbreitenden Schriftlichkeit ein wesentliches Distinktionsmerkmal abhanden kam. In jedem Fall etabliert sich im Zuge dieser (durch die Reformation dann noch einmal verstärkten) Verbreitung von Schriftkenntnissen in der isländischen Allgemeinheit die kulturelle Praxis des Vorlesens aus Sagahandschriften, die im Laufe des Mittelalters in Form zunächst schriftgestützter Sagavorträge die rein mündlichen Darbietungen, von denen die Sagas selbst berichten, ablöst. 12 Die Ende des 16. Jh.s verfasste, erst Anfang des 20. Jh.s wiederentdeckte Schrift Qualiscunque descriptio Islandiae, die Oddur Einarsson (1559 - 1630), ab 1589 Bischof von Skálholt, zugeschrieben wird, berichtet davon, dass auf isländischen Bauernhöfen stundenlang einheimische Erzählungen „ uariorum hominum gesta et alia antiquitatis monimenta “ (QDI: 66; der Taten verschiedener Männer und anderer historischer Andenken) laut vorgelesen werden. Wenngleich keine Beispiele genannt werden, ist anzunehmen, dass damit nicht zuletzt auch Íslendingasögur gemeint sind. In jedem Fall machen diese Lesungen deutlich, dass die Sagaliteratur weiter zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit lebendig bleibt und die menschliche Stimme sowie ein kollektiver, performativer Akt des Erzählens ihre Rezeption auch weiterhin bestimmen. Die Sagarezeption in der Dichtung des frühen 16. Jh.s deutet allerdings ebenfalls darauf hin, dass die Íslendingasögur und mit ihnen die Erinnerungen an die Sagazeit im 16. Jh. allmählich aus dem Bewusstsein schwinden und an Bedeutung verlieren. Das einzig in einer Handschrift des 16. Jh.s überlieferte Allra kappa kvæði (Cederschiöld 1883) - entstanden möglicherweise bereits um 1500, in jedem Fall noch vor der Reformation - nennt insgesamt 79 Helden aus verschiedenen Sagas, dem Titel nach zu urteilen sämtliche Helden, an die sich der anonyme Verfasser des Gedichts erinnerte. Zahlreich unter den Genannten sind vor allem Helden aus den Riddarasögur und dem Sagenkreis um Karl den Großen, sagazeitliche Isländer sind dagegen nur spärlich vertreten. Mit Skáld-Helgi, Finnbogi und [Króka-]Refur handelt es sich bei letzteren zudem ausschließlich um Protagonisten ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur, von denen zwei nachweislich im Spätmittelalter auch in rímur-Form gebracht wurden, die dritte wie angesprochen allem Anschein nach ebenfalls. Auch im Bergsteinn blindi Þorvaldsson (1550 - 1635) zugeschriebenen Visnaflokkur (Jón Þorkelsson 1886), der im Gegensatz zu dem in einem den rímur nahestehenden Versmaß des Allra kappa kvæði - vom Dichter als „ vestfirðskt “ (AKK: 67; 12 Uneingeschränkt positiv ist der Einfluss der Reformation in dieser Hinsicht jedoch nicht zu bewerten. Wie Vilborg Auður Ísleifsdóttir-Bickel (1996: 355) betont, verschlechterte die Reformation die Bildungschancen vor allem für Frauen eher, da die im Wesentlichen dafür zuständigen beiden Frauenklöster geschlossen wurden. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.1 Die spätmittelalterliche Gedächtniszeit 79 <?page no="80"?> westfjordisch) bezeichnet - im dróttkvætt verfasst wurde, sind Helden der Íslendingasögur nur am Rande vertreten. Die einzige Íslendingasaga, von deren Kenntnis diese Strophen zeugen, ist die Njáls saga: Neben zahlreichen Helden aus importierten Sagas sowie Fornaldarsögur werden auch Kári und Skarphéðinn gepriesen. Der Visnaflokkur ist erst in einer Handschrift aus dem 17. Jh. erhalten, wird jedoch in der Regel auf Anfang/ Mitte des 16. Jh.s datiert. Gemeinsam ist diesen beiden Gedichten nicht nur, dass sie in erster Linie fremde Helden preisen, sondern auch die unterschiedslose Behandlung dieser und der sagazeitlichen Helden. Wie die spätmittelalterlichen rímur geben auch diese beiden frühen kappakvæði keine herausragende Stellung der isländischen Ursprungszeit und ihrer Repräsentanten im Bewusstsein ihrer Dichter zu erkennen. Das durchaus vorhandene Interesse an den Íslendingasögur, die jedoch deutlich unterrepräsentiert sind, stützt die Vermutung, dass diese zur Entstehungszeit der beiden Gedichte nicht mehr so bekannt waren wie in früheren Zeiten. Darauf deuten auch verschiedene, die mittelalterlichen rímur einleitenden mansöngvar, in denen die Dichter nicht selten mit ihrer Belesenheit glänzen und zahlreiche andere Sagaprotagonisten anführen. Auch in diesen zeigt sich die Gleichsetzung von fremden und einheimischen Helden, wobei letztere eher unterrepräsentiert sind. Króka-Refr wird in den gleichnamigen rímur mit einer Reihe nichtisländischer Sagaprotagonisten verglichen (Króka-Refs rímur: 97 - 98), Gunnlaugr ormstunga und Hrafn sowie Skáld-Helgi bzw. Gunnlaugr (und Helga) sowie Skáld-Helgi erscheinen in den Hemings rímur bzw. den Griplur im Kreise weiterer Helden aus Riddarasögur und Fornaldarsögur (Kölbing 1876: 152, RS I: 352). 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 3.2.1 Reformation und Umschlag zu kontrapräsentischer Mythomotorik In der Zeit nach 1600 kommt es dann allem Anschein nach zu einem Aufleben der Erinnerung an die Ursprungszeit in der Dichtung, das sich wesentlich auf die Íslendingasögur sowie die auf diesen beruhenden rímur stützt. Zwei weitere Zeugnisse der frühen nachmittelalterlichen Rezeption der Íslendingasögur in der Dichtung unterscheiden sich deutlich von den eben genannten beiden kappakvæði, da sie im Gegensatz zu diesen auf eine umfangreiche Kenntnis der Íslendingasögur verweisen. Es handelt sich dabei um die satirische Fjósaríma (Jón Þorkelsson 1888a) einerseits sowie um eine als Strjúgsflokkur bezeichnete Strophensammlung im dróttkvætt (Jón Þorkelsson 1888b) andererseits, die beide Þórður Magnússon á Strjúgi zugeschrieben und zumeist auf das ausgehende 16. Jh. datiert werden, möglicherweise aber auch erst um oder nach 1600 entstanden sind. 13 Die Strophen 21 - 32 des Strjúgsflokkur werden teilweise auch als spätere Ergänzung angesehen und Þórðurs Sohn Oddur oder auch Jón Guðmundsson lærði zugeschrieben (Jón Þorkelsson 1888b: 370). Vor allem der Strjúgsflokkur gemahnt aufgrund von Versmaß und Vorgehensweise deutlich an die Íslendingadrápa, mit dem Unterschied, dass er wie auch alle späteren 13 Über Þórður ist wenig Konkretes bekannt, die Volkssagen des 17. Jh.s über ihn bezeugen in erster Linie wachsenden Aberglauben sowie Furcht vor Hexerei und zeigen, dass er im ausgehenden 16. Jh. gelebt haben muss, da ein Dichterwettstreit mit dem bekannten rímur-Dichter Hallur Magnússon (um 1530 - 1601) überliefert ist (Böðvar Guðmundsson 1993: 449). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 80 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="81"?> kappatöl (Heldenvorträge, Sg. kappatal) dieser Art eine große Nähe zu den schriftlichen Íslendingasögur zeigt (Jónas Kristjánsson 1975: 87). Auch ohne Berücksichtigung seiner abschließenden Verse ist der Unterschied zwischen Fjósaríma sowie Strjúgsflokkur einerseits und Allra kappa kvæði sowie Visnaflokkur andererseits frappierend: Anders als seine Vorgänger gibt der Verfasser ersterer nicht nur vereinzelte Kenntnisse von Íslendingasögur zu erkennen, sondern war offenkundig mit zahlreichen Vertretern sowie auf diesen beruhenden rímur vertraut und präsentiert eine Fülle von als erinnernswert eingestuften sagazeitlichen Helden: Die Fjósaríma (Jón Þorkelsson 1888a: 267 - 276) zeugt von der (direkten oder indirekten) Kenntnis von zehn Íslendingasögur, die sämtlich auch Eingang in den Strjúgsflokkur gefunden haben. Der Strjúgsflokkur (Jón Þorkelsson 1888b: 370 - 379) verweist zudem auf zwölf weitere Íslendingasögur, sechs davon ab Strophe 21, daneben widmet er wie auch die Fjósaríma eine Strophe Þorsteinn Geirnefjufóstri. Darüber hinaus heben sich Fjósaríma und Strjúgsflokkur dadurch ab, dass in ihnen die isländische Ursprungszeit als klar konturierte und bedeutsame Einheit hervortritt. Der Strjúgsflokkur nennt ausnahmslos Isländer der Sagazeit und preist diese wie die Íslendingadrápa für ihre Heldentaten. Eine Unterscheidung zwischen klassischen und ‚ postklassischen ‘ Sagaprotagonisten zeigt sich dagegen nicht, vielmehr nennt der Dichter ‚ postklassische ‘ Helden wie Víglundr und Króka-Refr inmitten von Egill Skalla-Grímsson, Gunnarr Hámundarson oder Gísli Súrsson. In der Fjósaríma nennt er auch fremde Helden, unterscheidet diese jedoch klar von den isländischen: In Strophe 39 - 53 werden zunächst Protagonisten der Íslendingasögur aufgezählt, bevor in Strophe 54 - 65 aus der Karlamagnússaga bekannte Helden folgen. Auch hier findet keine Unterscheidung zwischen Protagonisten klassischer und ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur statt, so wird der ‚ postklassische ‘ Víglundr beispielsweise flankiert von Hallfreðr vandræðaskáld und Kjartan Ólafsson. Während die ältere Sagaforschung sie in der Tradition der kappakvæði sieht (Jón Þorkelsson (1888c: 348), betont die jüngere Forschung den satirischen Charakter der Fjósaríma ( ‚ Kuhstall-Ríma ‘ ) (Schottmann 1973: 485, Margrét Eggertsdóttir 2006: 223 - 224), in der der Dichter in den Strophen 5 - 36 zunächst einen Kampf zweier Zeitgenossen im Kuhstall schildert, bevor er zum eigentlichen kappatal übergeht. Die isländische Ursprungszeit steht jedoch nicht im Fokus des satirischen Spotts. Sie wird als heroisches Zeitalter rezipiert und erscheint im Gegenteil durch die Gleichsetzung der isländischen Helden mit Repräsentanten einer höfischen Welt, die auf die Isländer eine besondere Faszination auszuüben schien, in einem strahlenden Licht. Neu an der Fjósaríma ist vielmehr, dass die isländische Ursprungszeit explizit kontrapräsentisch kontextualisiert wird, wie besonders Strophe 37, die die Schilderung des Kuhstallkampfes beschließt und zum kappatal überleitet, verdeutlicht: Hef eg aldrei heyrt það sagt, hólmgöngurnar snarpar fyrir sig hafi í fjósi lagt forðum hreystigarpar. (Jón Þorkelsson 1888b: 271) Ich habe es nie sagen gehört, dass sich die tapferen Helden den schonungslosen Kämpfen einst im Kuhstall gewidmet hätten. Anschließend werden zahlreiche sagazeitliche Isländer genannt und jeweils kurz durch Heldenhaftigkeit charakterisiert, bevor abschließend vermerkt wird, dass der betreffende Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 81 <?page no="82"?> Held nie im Kuhstall kämpfte. Gleiches gilt für die im zweiten Teil folgenden ausländischen Helden, wodurch die Isländer der Sagazeit mit den Kämpen um Karl den Großen gleichgesetzt werden. Der heroischen Vorzeit der Isländer wird so eine im Kuhstall angesiedelte Gegenwart gegenübergestellt, was den Zeitgenossen des Dichters einen Spiegel vorhält und demonstriert, wie sehr sie sich mit ihren Kämpfen im Kuhstall von den eigenen heroischen Ursprüngen entfernt haben. Unterstrichen wird dies nicht zuletzt auch dadurch, dass es schließlich eine stattliche, starke Frau ist, die den Kampf beendet, nachdem sie von einem beobachtenden Jungen zu Hilfe geholt wird. Inwieweit in dem, was den sagazeitlichen Helden zugeschrieben wird, Kritik zum Ausdruck kommt, liegt wohl auch im Auge des Betrachters und erscheint bei einer Rezeption der Sagazeit als heroisches Zeitalter meines Erachtens eher unwahrscheinlich. Unzweifelhaft aber werden die Anklänge an die Íslendingasögur in der Fjósaríma genutzt, um zu zeigen, dass keiner dieser Helden so tief sank, um wie die beiden Zeitgenossen des Dichters im Kuhstall zu kämpfen (vgl. auch Guðvarður Már Gunnlaugsson 2000: 54). Damit kommt auch dieser Interpretation der Íslendingasögur eine normative Funktion zu. Eine derartige Relativierung der Gegenwart durch die Gegenüberstellung einer besseren Vergangenheit ist charakteristisch für eine kontrapräsentische Mythomotorik: Die Sagazeit wird so nicht mehr vornehmlich als Fundament der Gegenwart, sondern nun auch eindeutig kontrastiv zu ihr erinnert und erscheint entsprechend als verlorenes Goldenes Zeitalter. Diese kontrapräsentische Sichtweise auf die isländische Vorzeit aus der Sicht einer bäuerlichen Gegenwart zeigt sich auch in einer ebenfalls Þórður zugeschriebenen Spottstrophe (Jón Þorkelsson 1888a: 264) auf einen Zeitgenossen, in der er diesen, der sich mit einem Bündel Heu abmüht, mit dem für seine körperlichen Kräfte berühmten Ormr Stórólfsson vergleicht. Verglichen mit Allra kappa kvæði und Visnaflokkur, fällt in den Þórður zugeschriebenen kappakvæði wie angesprochen die Fülle der genannten Helden ins Auge (vgl. Jón Þorkelsson 1888b: 383 - 385). Über die tatsächlichen Sagakenntnisse der jeweiligen Dichter kann nur spekuliert werden - regionale Unterschiede in der Bekanntheit verschiedener Íslendingasögur sind dabei ebenso anzunehmen wie im persönlichen Umfeld gründende. Vor allem aber sollte ein Aspekt nicht außer Acht gelassen werden, vergleicht man diese frühen Zeugnisse der Rezeption von Íslendingasögur in der nachmittelalterlichen Gedächtniszeit: Fjósaríma und Strjúgsflokkur sind mit Sicherheit der Zeit nach der Reformation zuzuordnen, womit sich ihr Entstehungshintergrund deutlich von dem der beiden zuvor genannten Dichtungen unterscheidet. Die Reformation war auf Island mit enormen gesellschaftlichen Umbrüchen und damit auch Unsicherheiten verbunden, was das ausgehende 16. und frühe 17. Jh. zu einer Zeit macht, in der von einem verstärkten Bedürfnis nach Orientierung auszugehen ist, da die Frage „ Wer sind wir? “ in unsicheren Zeiten an Bedeutung gewinnt. 14 Gesellschaftliche Brüche organisieren das kulturelle Gedächtnis, das bestrebt ist, über einen Bruch hinweg Kontinuität herzustellen und so die kollektive Identität aufrechtzuerhalten (Assmann 1992: 293 - 294). Dementsprechend besinnt sich auch die frühneuzeitliche isländische Gesellschaft infolge der durch die Reformation ausgelösten Veränderungen, die vor allem die Macht der dänischen Krone im Land mehrte und in weiterer Folge die Situation Islands gravierend zum Negativen veränderte (Vilborg 14 Zur Einführung der Reformation in Island als „ Revolution von oben “ siehe Vilborg Auður Ísleifsdóttir- Bickel (1996). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 82 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="83"?> Auður Ísleifsdóttir-Bickel 1996: 349 - 356), wieder verstärkt auf ihre Wurzeln, um einem drohenden Identitätsverlust zu begegnen. Die mittelalterliche isländische Literatur spielt bei dieser Rückbesinnung eine zentrale Rolle, wenngleich zunächst keine besondere Präferenz der Íslendingasögur gegenüber anderen die Vorzeit behandelnden Texten zu erkennen ist. Die in den Íslendingasögur dargestellte Ursprungszeit erfährt dabei jedoch eine Aktualisierung, die auch mit einer Veränderung ihrer mythomotorischen Funktion einhergeht. Die Sagazeit bildet nun nicht mehr nur vornehmlich das - durchaus glorifizierte - Fundament der kollektiven Identität, sondern wird der Erinnerungsgemeinschaft zunehmend zum Goldenen Zeitalter, das in Anbetracht einer als defizitär empfundenen Gegenwart Hoffnung gibt. Was die Fjósaríma in der Dichtung zum Ausdruck bringt, findet seine Entsprechung in den historiographischen Werken der frühen Neuzeit, vornehmlich in den Schriften Arngrímur Jónssons, mit dem die Rezeption der Íslendingasögur im ausgehenden 16. Jh. in ein neues Stadium tritt. 3.2.2 Beginn lateinischer Historiographie und Aktualisierung des Ursprungsmythos Arngrímur Jónsson (1568 - 1648), genannt inn lærði (der Gelehrte), Sohn eines Großbauern und u. a. Vikar, bischöflicher Vertreter in Hólar und Pfarrer in Melstaður, gilt als der erste im europäischen Kontext agierende Gelehrte, dessen Werk auch außerhalb Islands rezipiert wird. 15 Aufenthalte an der Universität Kopenhagen bringen ihn in Kontakt mit humanistischen Strömungen, was einen tiefgreifenden Einfluss auf sein Schaffen hat, zugleich weckt er dabei das neuzeitliche Interesse an der isländischen Sagaliteratur in anderen skandinavischen Ländern und macht die isländischen Sagas auch Gelehrten außerhalb Islands zugänglich. Sein umfangreiches literarisches Werk in lateinischer und isländischer Sprache umfasst u. a. polemische, historiographische sowie religiöse Schriften, Übersetzungen und Dichtung. Zentrale Anliegen waren ihm, die in Europa kursierenden Vorurteile über Island richtigzustellen sowie die Geschichte Islands analog zur europäischen darzustellen. Die Darstellung der isländischen Geschichte in seinem Hauptwerk ist dabei, wie Jakob Benediktsson (1957: 79) bemerkt, deutlich von den von ihm selbst erlebten gesellschaftlichen Veränderungen und problematischen Verhältnissen infolge der Reformation geprägt. Nach Arngrímur ist Island von der Gründung des Althing an ein Staat, zu dessen finalem Niedergang der Verlust der Unabhängigkeit durch die Unterordnung unter die norwegische Krone führt. Als Zeit des Niedergangs versteht er vor allem die Sturlungenzeit, deren von den Isländern selbst verschuldete Schwierigkeiten schließlich der Lösung durch die Königsmacht bedurften. Sagazeit und die mittelalterliche Gegenwart der Sagaverfasser bilden aus dieser Perspektive eine gemeinsame Ursprungszeit, von der sich erstere aber deutlich abhebt, da sie als Goldenes Zeitalter verklärt wird (Svavar Hrafn Svavarsson 2003: 553). Arngrímur formuliert diese Darstellung der isländischen Ursprünge zuerst in Brevis commentarius de Islandia (dazu Jakob Benediktsson 1957: 32 - 39), einer kürzeren polemischen Schrift von 1593, mit der er auf die teilweise haarsträubenden Behauptungen, die in der zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Literatur über Island 15 Zu Arngrímur Jónssons biographischen Hintergründen siehe Jakob Benediktsson (1957: 1 - 31), zu seinen Werken (1957: 39 - 45), zu seinem Geschichtsverständnis und seiner Methode (1957: 45 - 61). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 83 <?page no="84"?> verbreitet werden, reagiert. Ausführlich stellt er sie dann in seinem 1593 - 1603 verfassten bekanntesten Werk, der Crymogæa sive rerum Islandicarum, einer dreibändigen Geschichte Islands, dar. Die Crymogæa prägt damit die neue Sichtweise auf die isländische Ursprungszeit, die im ausgehenden 16. Jh. nun unverkennbar kontrapräsentisch erinnert wird, wesentlich. Der der Interpretation der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur als Verfallsprodukte zugrundeliegende Mythos vom isländischen Freistaat und seinem Untergang ist auf Arngrímur zurückzuführen (Jakob Benediktsson 1981: 163), wenngleich er nicht der erste ist, dessen Schriften eine kontrapräsentische Mythomotorik der isländischen Ursprungserinnerungen zu erkennen geben. Bereits in Qualiscunque descriptio Islandiae erscheint die Sagazeit als ein Goldenes Zeitalter der Freiheit, das in starken Kontrast zur Gegenwart des Verfassers gestellt wird, die Spannung zwischen den beiden Zuständen bleibt jedoch ungelöst, „ if indeed it is evident to the author “ (Svavar Hrafn Svavarsson 2003: 553). Arngrímur Jónsson bringt größtenteils die gleichen Sichtweisen zum Ausdruck, allerdings deutlicher geprägt von humanistischer Gelehrsamkeit, mittels derer er den Konflikt zwischen Islands gegenwärtigem Status und seiner glorreichen Vergangenheit zu lösen versucht (557 - 559). Arngrímurs sich auf Bodin stützende Argumentation erlaubt es ihm dabei, zugleich Befürworter der isländischen Eigenständigkeit als auch treuer Anhänger des Königs zu sein, die alte Freistaatszeit sieht er in diesem Zusammenhang als unwiderruflich vergangen (Gunnar Karlsson 2008: 33). Von einer revolutionären Mythomotorik, die auf einen Umsturz der aktuellen Gegebenheiten abzielt, ist seine kontrapräsentische Sichtweise auf die isländischen Ursprünge somit weit entfernt. Auch abgesehen vom mythomotorischen Wandel der isländischen Ursprungserinnerungen verändert sich das isländische Selbstbild und Selbstverständnis zur Zeit Arngrímurs. Neben der erinnerten Vergangenheit erscheinen im frühneuzeitlichen isländischen Identitätsdiskurs neue identitätsstiftende Merkmale. Nicht mehr nur die Anbindung an das Land und die Vergangenheit als solche, sondern die kulturellen Errungenschaften in Form der Sagaliteratur, die die Frühgeschichte darstellt, und vor allem die isländische Sprache, deren Alter und Reinheit betont wird, charakterisieren die Isländer von nun an als Gemeinschaft, wie sowohl Arngrímurs Werke als auch Qualiscunque descriptio Islandiae zum Ausdruck bringen (Svavar Hrafn Svavarsson 2003: 556 - 559). 16 Arngrímur zieht für seine eigenen Werke zahlreiche Sagas heran, neben Konungasögur, Biskupasögur sowie Samtíðarsögur auch Fornaldarsögur und vor allem Íslendingasögur. 17 Eine Unterscheidung zwischen den Íslendingasögur, die der modernen Forschung als ‚ postklassisch ‘ gelten, und den übrigen trifft er dabei wie auch die Dichter der frühen Neuzeit jedoch nicht. Sowohl Crymogæa als auch Gronlandia, eine Geschichte Grönlands, für die er auch auf die zum Teil auf Grönland angesiedelten Íslendingasögur zurückgreift, bringen dies klar zum Ausdruck. 18 In beiden Werken zeigt sich eindeutig, dass Arngrímur 16 Zur Entdeckung des Isländischen als ‚ Latein des Nordens ‘ in der Crymogæa siehe Gottskálk Jensson (2008). 17 Eine Auflistung der von der Forschung identifizierten Texte und Handschriften, die Arngrímur verwendete, findet sich bei Jakob Benediktsson (1957: 82 - 106, speziell der Íslendingasögur 92 - 97). 18 Nachdem er 1595 mit den Vorarbeiten begann, schrieb Arngrímur die beiden Werke mehr oder minder gemeinsam. Der erste Druck der 1602 vollendeten Crymogæa erfolgte 1609, Gronlandia wurde im lateinischen Original erst 1951 von Jakob Benediktsson herausgegeben, erschien aber 1688 in isländischer Übersetzung sowie 1732 in einer auf dieser beruhenden dänischen Übersetzung (ausführlicher dazu Kap. 3.2.3). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 84 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="85"?> sämtliche ihm bekannte Íslendingasögur als historische Werke versteht. Wie Egils saga, Eyrbyggja saga, Gísla saga und Njáls saga verwendet er auch Bárðar saga, Flóamanna saga, Kjalnesinga saga und Króka-Refs saga als aussagekräftige Quellen für die frühe Geschichte Islands bzw. Grönlands. Im Zusammenhang mit letzterer wird bei ihm zugleich jedoch zum ersten Mal Kritik an einer Íslendingasaga laut, wenn er sie als wenig relevant und edel charakteristiert: libet hic alium actum res gronlandicas non nihil concernentem annectere, quamvis hæc vix digna qvæ legantur; quae nos tamen quorundum scriptorum etiam magni nominis exemplo in argumentis seu materiis non multo nobilioribus occupatorum facile, si quis urgeat, excusabimus. (Arngrímur Jónsson 1951: 252) Ich möchte hier grönländische Geschichte darstellen, die nichts mit der Besiedelung zu tun hat, obwohl diese kaum lesenswert ist; was wir uns jedoch leicht mit dem Beispiel einiger Verfasser, selbst von großem Namen, die sich mit nicht viel edleren Themen oder Angelegenheiten beschäftigen, entschuldigen wollen, wenn jemand darauf besteht. Innerhalb seiner Nacherzählung der Króka-Refs saga hält er sich allerdings zurück mit der Formulierung seines Missfallens, das vor allem Übertreibung und unglaubliche Darstellung betrifft. Kritik an der fehlenden Historizität der Saga gibt er dabei zudem nicht zu erkennen. Vielmehr zeigt eine Anmerkung wie das nach Nennung des Ortes Hlid in Klammern ergänzte „ fortasse Brattahlyd “ (Arngrímur Jónsson 1951: 253; möglicherweise Brattahlíð) - sprich das aus Eiríks saga rauða und Gr œ nlendinga saga bekannte Gehöft von Eiríkr inn rauði und seiner Familie - , dass Arngrímur die Saga nicht von den übrigen Íslendingasögur abgrenzt und sie wie diese konkret in der historischen Wirklichkeit verortet. Die von modernen Kritikern bemängelte fehlerhafte Chronologie der Saga, die Refrs Geburt in die Zeit von König Hákon inn góði Aðalsteinsfóstri (935 - 961) verlegt, seine Taten als Erwachsener dann aber in die Zeit von König Haraldr inn harðráði (1047 - 1066), findet sich bei Arngrímur zudem nicht, vielmehr ist der von ihm Ruffus genannte Refr laut Angabe in Gronlandia (253) „ non procul ab Anno C. 1015 “ (ungefähr im Jahr 1015) geboren. Da die von Arngrímur verwendete Vatnshyrna nicht mehr erhalten ist und im Falle der Króka-Refs saga auch keine Abschrift von Árni Magnússon oder einem der für ihn tätigen Schreiber angefertigt wurde, kann über die genauen Inhalte der Vorlage Arngrímurs nur spekuliert werden. Vorstellbarer als die Annahme, dass die fehlerhafte Chronologie der Króka-Refs saga eine Folge ihres Transmissionsprozesses darstellt, ist meines Erachtens eine stillschweigende Korrektur durch Arngrímur im Sinne von Aris Aussage in der Íslendingabók, die seine Nachfolger anhält, Fehlerhaftes zu berichtigen (siehe oben S. 33). In mittelalterlicher Tradition rezipiert Arngrímur die Íslendingasögur als kulturelle Texte, wie auch sein Verweis auf die Autorität älterer Schriftsteller zum Ausdruck bringt. Von ihrer grundlegenden Wahrheit ist er überzeugt (Jakob Benediktsson 1957: 52), während er sich kritisch gegenüber nicht-isländischen Verfassern wie Adam von Bremen und Saxo äußert, die seiner Meinung nach immer falsch liegen, wenn sie vom isländischen Material abweichen (Jakob Benediktsson 1957: 58). Dieses auf Identifikation gründende Verständnis betrifft auch die Króka-Refs saga, die Arngrímur trotz seiner negativen Beurteilung umfangreich wie andere Íslendingasögur wiedergibt und auch sonst in keiner Hinsicht vom Korpus der übrigen absondert. Dieser erste Ansatz einer kritischen, distanzierteren Haltung steht somit noch ganz in der mittelalterlichen Tradition der Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum. Auch die Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 85 <?page no="86"?> Króka-Refs saga wird von Arngrímur bei aller Kritik nicht als Geschichtswerk in Frage gestellt. Seine Zweifel sind jedoch der Anfang einer zunehmend kritischen Haltung den Íslendingasögur gegenüber, die sich in Gelehrtenkreisen entwickelt, und damit zugleich der Beginn eines allmählichen Auseinanderdriftens der Sichtweise auf die Íslendingasögur im europäisch-wissenschaftlichen Kontext einerseits und im isländisch-kulturellen Kontext andererseits. Bei Arngrímur selbst ist die Identifikation mit den Íslendingasögur als kulturelle Texte jedoch noch weit ausgeprägter als eine kritisch distanzierte Haltung. Während sein gelehrtes Umfeld in Dänemark weniger an seinen Schriften als vielmehr an den isländischen Originaltexten - und unter diesen vornehmlich an den die eigene Frühzeit darstellenden - interessiert ist, haben seine Werke und seine Auslegung der isländischen Geschichte entsprechend auf Island nicht nur in gelehrten Kreisen eine beträchtliche Wirkung, sondern auch unter Laien. Die Crymogæa wird bereits früh in isländischer Übersetzung handschriftlich verbreitet und seine Auslegung der Sagas findet auch Eingang in die zeitgenössische Dichtung (Jakob Benediktsson 1981: 163). Peter Springborg (1977: 55, 61) sieht in Arngrímur Jónssons Werken und seinem in- und ausländischen Ansehen die treibende Kraft hinter der sog. Renaissance der Handschriftenproduktion im 17. Jh., dem verstärkten Kopieren alter Handschriften im Zuge des humanistischen Interesses an nationaler Geschichte ab etwa 1630. 3.2.3 Wahrheit und Identifikation: Interpretation und Fortschreibung der Sagazeit Der Anstoß zu dieser Erneuerung der mittelalterlichen Literatur (dazu Springborg 1977) ist wie schon ihre Entstehung eine Angelegenheit der Elite und die beteiligten Personen sind fast ausnahmslos Mitglieder mächtiger Familien mit gelehrter Tradition. Zentrale Figuren in diesem Zusammenhang sind die beiden Bischöfe Brynjólfur Sveinsson (1605 - 1675) und Þorlákur Skúlason (1597 - 1656), unter deren Ägide eine intensive Kopistentätigkeit ihren Anfang nimmt und das historische Schrifttum des Mittelalters fortgesetzt wird, wobei zunehmend auch Schreiber ohne gelehrten Hintergrund eingebunden werden (Springborg 1977: 63). Auf Betreiben und mit Unterstützung von Bischof Þorlákur nimmt der Bauer und lögréttumaður Björn á Skarðsá (1574 - 1655) die 1430 zu Ende gegangene Annalenschreibung wieder auf und verfasst eine neue Version der Landnámabók, die sog. Skarðsárbók. „ [The] main purpose in making his composite version was to produce the fullest possible text “ , wie Jakob Benediktsson (1958: LII) feststellt. Björns Autograph ist nicht erhalten, jedoch eine Abschrift, die zeigt, dass er offensichtlich auch die ‚ postklassische ‘ Bárðar saga verwendete (89), heute als phantastisch und unrealistisch geltende Sagas also nicht ausschließt. Auch die ebenfalls ihm zugeschriebenen kappavísur, siebzehn Strophen im dróttkvætt, die Helden aus den Íslendingasögur preisen (in Jón Þorkelsson 1887: 62 - 63), machen deutlich, dass Björn keine Unterscheidung im Sinne des Konzepts der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga trifft, sondern vielmehr sämtliche Vertreter als zusammengehörig versteht: Inmitten der Protagonisten bekannter früher und klassischer Sagas wie Gunnlaugr ormstunga, Víga-Glúmr, Björn Hítd œ lakappi u. a. erscheinen auch Búi Andríðsson, der Protagonist der ‚ postklassischen ‘ Kjalnesinga saga, und Gunnar Keldugnúpsfífl, dessen ‚ postklassische ‘ Saga zwar erst nachmittelalterlich überliefert, aller Wahrscheinlichkeit nach aber ebenfalls im Spätmittelalter entstanden ist. In diesem Sinne führt Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 86 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="87"?> auch der Priester Þórður Jónsson í Hítardal (um 1609 - 1670) das historische Schrifttum mit seiner Mitte des 17. Jh.s entstandenen Kompilation von Skarðsárbók und der mittelalterlichen Melabók - der sog. Þórðarbók (zu dieser Jón Jóhannesson 1941: 19 - 36) - fort, die weitere Informationen aus den Íslendingasögur ergänzt. Aus einer modernen Perspektive fällt insbesondere die Verwendung der Víglundar saga auf (Jakob Benediktsson 1958: 41), deren Protagonisten Víglundr und Ketilríðr damit historischen Persönlichkeiten gleichgestellt werden. So zeigt sich im 17. Jh. wie schon im Mittelalter die enge Zusammengehörigkeit von Landnámabók und Íslendingasögur und ihr wechselseitiges Befruchten. Nachdem im hohen Mittelalter Material aus den Íslendingasögur in die Landnámabók integriert wird und Inhalte der Landnámabók im späten Mittelalter in etliche Íslendingasögur aufgenommen werden, 19 gehen nun deren Fortschreibungen der Ursprungserinnerungen wiederum in die nachmittelalterlichen Bearbeitungen der Landnámabók ein. Nicht anders als die klassischen werden auch die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur als Geschichtswerke behandelt und geglaubt, zudem geben sie ebenfalls klar eine auf Identifikation beruhende Rezeption zu erkennen. So bringen beispielsweise die Schriften von Bischof Brynjólfur Sveinsson deutlich ein Verständnis der Íslendingasögur als glaubwürdige Geschichtswerke zum Ausdruck, das sich nicht auf die klassischen Vertreter beschränkt. Der schon im späten Mittelalter besonders beliebte Króka-Refr erfährt auch von Brynjólfur besondere Beachtung, wobei die Identifikation mit ihm nicht zuletzt auf der von der Saga berichteten Abstammung des dänischen Bischofs Absalon von einem seiner Söhne gründet. Diese Verbindung zu Absalon, dem Initiator von Saxos Gesta Danorum, veranlasst Brynjólfur, die Saga in seinen Conjectanea in Saxonem umfangreich wiederzugeben (Jakob Benediktsson 1943: XXI). Deutlich wird die kollektive, auf Identifikation beruhende Rezeption der Saga im Besonderen an einer von Brynjólfur verfertigten Auflistung von Männern der Vorzeit aus verschiedenen Fornaldarsögur und Íslendingasögur, die wie Amlethus in ihrer Jugend kolbítar waren, und in der Refr als „ noster Refus “ (Bjarni Einarsson 1955: CXXXI; unser Refr) erscheint. Als glaubwürdige Geschichtswerke werden die Íslendingasögur in Island im 17. Jh. generell verstanden. Ein von Identifikation geprägtes Rezeptionsverhalten, das klar ein Selbstverständnis des Rezipienten als Repräsentant eines Kollektivs zum Ausdruck bringt, zeigt sich deutlich auch in den Werken von Jón Guðmundsson (1574 - 1658), ebenfalls inn lærði genannt. Der aus dem einfachen Volk stammende Autodidakt Jón, aufgrund der Verwicklung in einen Hexereiprozess zeitgenössisch schlecht beleumundet, gilt als einer der bemerkenswertesten Männer seiner Zeit, jedoch auch als leichtgläubig und unkritisch (Halldór Hermannsson 1924). Mit der mittelalterlichen isländischen Literatur bekannt wie kaum einer seiner Zeitgenossen, verfasste er selber zahlreiche Werke unterschiedlichster Couleur, die vielfach auch seine Kenntnis und sein Verständnis der Íslendingasögur widerspiegeln. In Um Íslands adskilianlegar náttúrur, der ersten in isländischer Sprache erhaltenen Naturgeschichte, nimmt er einleitend Bezug auf Inhalte „ [j] vorum gömlum Islands landnámsbókum “ (in unseren alten isländischen Landnahmebüchern), die er auch als „ þær gömlu jslenzku historiur “ (die alten isländischen Geschichtswerke) bezeichnet (Jón Guðmundsson 1924: 1). Eine Unterscheidung zwischen realistisch und unrealistisch/ phan- 19 Zu den Verbindungen zwischen der Landnámabók und den Íslendingasögur siehe Andersson (1964: 83 - 95). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 87 <?page no="88"?> tastisch macht er dabei nicht, vielmehr rezipiert er sie sämtlich als geschichtliche Darstellungen der Vergangenheit und verweist in seiner Naturgeschichte auch auf aus den Íslendingasögur bekannte nicht-menschliche Wesen in der Natur. Aufgrund seines besonderen Interesses an diesen ist gerade die ‚ postklassische ‘ Bárðar saga als eine von „ Islandz gamlar historiur “ von besonderem Interesse für ihn, wie sein umfangreicher Kommentar zu den Liedern der Edda zu erkennen gibt (Jón Guðmundsson 1998: 56). Mit der Króka-Refs saga verwendet er eine weitere ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga als Quelle für seinen Grænlands annáll (entstanden ca. 1623), in denen er Refrs Grönlandfahrt als historisches Ereignis aufführt (Arnold 2003: 184). Jóns Bezeichnung der Íslendingasögur und der ihnen nahestehenden Texte als „ vorar gömlu Islands landnámsbækur “ (vgl. auch Jón Guðmundsson 1998: 58) reflektiert ihre Stellung als kulturelle Texte und knüpft an die mittelalterliche Wahrnehmung der Landnahmezeit als fundierende Vergangenheit an. Zugleich setzt sie sich jedoch auch von den mittelalterlichen Darstellungen der Ursprungszeit in den Sagas ab, indem sie die Erinnerung an diese eindeutig schriftlich konnotiert und durch den Verweis auf das Alter der Überlieferungen Distanz impliziert. Die isländische Ursprungszeit erscheint nicht mehr wie in den Íslendingasögur selbst als lebendige mündliche Erinnerung und somit nahtlos mit der Gegenwart verbunden, sondern durch Schrift vermittelt und gerade dadurch bedeutsam, wie Jón auch in seinen Ármanns rímur von 1637 deutlich macht. Die Existenz zahlreicher Bücher, die von der isländischen Ursprungszeit erzählen, zeugt von der Bedeutsamkeit dieser glorreichen Vergangenheit, die auch bei Jón explizit in einen kontrapräsentischen Zusammenhang gestellt wird, wie beispielsweise die 10. Strophe der ersten ríma zu erkennen gibt: Numið var land af norskum lýð sem nóglega bækur inna; þá var hugur og hreystitíð; hvar má nú það finna? (Jón Guðmundsson 1924: 2) Besiedelt wurde das Land von norwegischen Leuten, wie zahlreiche Bücher erinnern; damals war eine Zeit von Mut und Tapferkeit; wo kann man das nun finden? Indem Jón eine der mündlich sehr verbreiteten ätiologischen Sagen, die Ortsnamen mit übernatürlichen Wesen verbinden, 20 aufgreift und wie in Grettis saga und Bárðar saga explizit als Bestandteil der isländischen Ursprungszeit gestaltet, schreibt er mit den Ármanns rímur die isländische Ursprungszeit im oral-written continuum fort. Wie schon in der Bárðar saga erscheint diese so nicht nur als Zeit der menschlichen, sondern auch der nicht-menschlichen Besiedelung Islands. Während der Glaube, dass im auch in anderen Íslendingasögur genannten Ármannsfell ein übernatürliches Wesen namens Ármaðr/ Ármann haust, sicher älter ist als die rímur (Jón Helgason 1948: VII), wird die ausdrückliche Anbindung der Ármanns rímur an die Landnahmezeit und die mittelalterliche Sagaüberlieferung eher der Entstehungszeit im 17. Jh. zuzurechnen sein denn im ausgehenden Mittelalter mündlich kursierenden Erzählungen, die in sie eingegangen sind. Die Ármanns 20 Wie Briefen von Árni Magnússon zu entnehmen ist, waren Volkssagen, die sich um nicht-menschliche Felsen- oder Höhlenbewohner ranken, im 17. Jh. sehr beliebt und wurden von der isländischen Allgemeinheit auch geglaubt. Aufgezeichnet wurden sie jedoch nur selten (Bjarni Einarsson 1955: VII - VIII). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 88 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="89"?> rímur unterscheiden sich in dieser Beziehung doch deutlich von der indifferenten Art, in der die Handlungszeit in den oben thematisierten spätmittelalterlichen Werken dargestellt wird. Über die Gestalt der von Jón aufgegriffenen Überlieferungen kann allerdings nur spekuliert werden, er selbst erwähnt sowohl schriftliche Vorlagen als auch Lieder. Die Existenz einer schriftlichen Ármanns saga oder eines Ármanns þáttrs wird jedoch angezweifelt, allenfalls die eines sagnakvæði für möglich gehalten (Jón Helgason 1948: XXII). 21 Möglicherweise sind diese Anmerkungen aber auch Ausdruck davon, dass Jón bemüht war, den Inhalt seiner rímur an die mittelalterliche Sagaüberlieferung anzubinden und ihr den Charakter einer alten Überlieferung zu verleihen. Eine derartige Anbindung erfährt auch Kötludraumur in den zusätzlichen Strophen der einige Jahrzehnte nach der kürzeren Fassung aufgezeichneten längeren Version, die mit ziemlicher Sicherheit dem 17. Jh. zuzurechnen sind. Während sich in einigen Handschriften der kürzeren Fassung eine Strophe mit Verweis auf eine von einem Snæbjörn auf Ari Másson gedichtete drápa bzw. ein kvæði findet (Kötludraumur: 14), heißt es in der längeren Version bezugnehmend auf Ari „ herma það fornar fræðibækur “ (Kötludraumur: 28; das berichten alte, gelehrte Bücher). Während die Bezugnahme auf eine drápa bzw. ein kvæði die mittelalterliche Tradition reflektiert, die in den fornkvæði aus der Vergangenheit stammende Zeugen dieser sieht, symbolisiert der im 15. Jh. mit den rímur beginnende, im 17. Jh. im Zusammenhang mit den Íslendingasögur häufigere Verweis auf bækur den Siegeszug der Schrift, die im kulturellen Gedächtnis die zentrale Speicherfunktion übernommen hat. Der Bruch, den die Reformation für die isländische Gesellschaft mit sich bringt, sowie dessen Überwindung mittels des Rückgriffs auf die mittelalterlichen fundierenden Texte tritt darüber hinaus zutage, wenn die Sagahandschriften im 17. Jh. nun explizit als gamall (alt) oder forn bezeichnet werden. 22 Während die mittelalterlichen Íslendingasögur vornehmlich heidnische oder heidnisch konnotierte Aspekte der Sagazeit als forn klassifizieren und mit forn in der Regel die Zeit vor der Besiedelung Islands bezeichnen, 23 wird die Bezeichnung nachreformatorisch umfassender im Zusammenhang mit der Ursprungszeit und den schriftlichen Überlieferungen dieser verwendet. Im Gegensatz zur betont christlichen Darstellung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur wird die Sagazeit nun verstärkt als heidnische Zeit definiert. Das betont positive und harmonische Bild des Heidentums, das die Ármanns rímur zeichnen, ist allerdings doch eine Ausnahme, wie sich die Ármanns rímur auch sonst von den die Sagazeit behandelnden rímur des 17. Jh.s abheben, da es sich bei diesen wie bei den mittelalterlichen rímur um Versbearbeitungen handelt, denen eine Saga ganz oder teilweise zugrunde liegt. Dem gesteigerten Interesse an der eigenen Vergangenheit entsprechend, entstehen im 17. Jh. nun auch verstärkt rímur-Bearbeitungen von Íslendingasögur. Dreizehn derartiger 21 Die überlieferte Ármanns saga (auch Ármanns saga/ þáttr og Þorsteins gála genannt) wurde auf Basis der rímur von dem Priester Jón Þorláksson (um 1643 - 1712) verfasst. 22 Wie in der jüngeren Variante von Kötludraumur oder bei Jón Guðmundsson finden sich auch in den rímur des 17. Jh.s Verweise auf alte Bücher, so nennt Kolbeinn Jöklaraskáld in seinen Rímur af Gunnari Hámundarsyni (RT I: 182) „ gamlar sagnabækur “ (alte Sagabücher), die den Stoff seiner rímur enthalten. 23 Man vergleiche dazu Formulierungen wie í/ at fornum sið (in heidnischer Zeit/ nach heidnischem Brauch) und Termini wie beispielsweise fornkvæði (vgl. oben Kap. 2.2), forneskja (vgl. unten S. 242) oder fornkonungr (Vorzeitkönig), in der Vatnsd œ la saga zur Bezeichnung von Haraldr inn hárfagri verwendet (ÍF VIII: 32), siehe auch Peters (2018: 311). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 89 <?page no="90"?> rímur-Zyklen sind erhalten, weitere werden erwähnt, sind jedoch nicht oder nur bruchstückhaft überliefert (Jakob Benediktsson 1981: 169). Die bereits mittelalterlich in rímur- Form gebrachten ‚ postklassischen ‘ Vertreter Grettis saga und Króka-Refs saga werden auch im 17. Jh. in rímur umgesetzt, weitere rímur-Zyklen gründen sowohl auf klassischen als auch ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur. Die Rezeption der Íslendingasögur in der Dichtung der frühen Neuzeit macht also ebenfalls keinen Unterschied zwischen diesen. So sind Njáls saga, Egils saga, Finnboga saga, Bandamanna saga, Víglundar saga, Kjalnesinga saga, Jökuls þáttr Búasonar, Bárðar saga, Ǫ lkofra saga und Flóamanna saga in frühen nachmittelalterlichen rímur-Bearbeitungen erhalten (Jakob Benediktsson 1981: 169). Auf der Njáls saga gründet zudem die im 17. Jh. entstandene Ballade Kvæði af Gunnari á Hliðarenda, die von Gunnarrs Tod erzählt (Vésteinn Ólason 1982: 291 - 292). Sie stellt allerdings ebenfalls eine Ausnahme dar, da ansonsten keine Balladenbearbeitungen sagazeitlicher Inhalte überliefert sind. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Balladentradition auf Island vornehmlich von Frauen gepflegt wurde, 24 die Íslendingasögur dagegen männlich konnotierte Stoffe darstellen. Auch die frühneuzeitlichen Íslendingarímur folgen ihren Vorlagen recht getreu und aktualisieren die Erinnerungen an die eigenen Ursprünge formal, ohne die in den Íslendingasögur konstruierte Vergangenheit zu verändern oder zu erweitern. Anders als ihre mittelalterlichen Vorgänger präsentieren sie ihrem Publikum in ihren einleitenden mansöngvar jedoch auch eine Deutung dieser. Zum einen wird die isländische Abstammung der sagazeitlichen Helden im Gegensatz zu den mittelalterlichen rímur besonders hervorgehoben, wenn beispielsweise Hallgrímur Pétursson (1614 - 1674) die Króka-Refs rímur als „ Frá íslenzkum manni “ (Hallgrímur Pétursson 1956: 81; von einem isländischen Mann) präsentiert oder Kolbeinn Jöklaraskáld (1600 - 1683) eine ríma seiner Rímur af Gunnari Hámundarsyni mit „ Íslending um einhvern þann “ (RT I: 180 - 181; über diesen einen Isländer) einleitet. Zum anderen wird, ebenfalls im Kontrast zu den mittelalterlichen Versbearbeitungen, betont, dass es sich bei der Handlungszeit der Erzählung um einen bedeutungsträchtigen Zeitraum handelt, wobei sich auch hier wie in den Ármanns rímur eine klar kontrapräsentische Sichtweise zeigt. So dichtet Hallgrímur in Str. 13 der ersten ríma: Á þeim dögum Íslands þjóð orku treysti megni, breiðan skjöld og bríma glóð báru hjörs í regni. (Hallgrímur Pétursson 1956: 5) In diesen Tagen konnte das isländische Volk seiner Stärke vertrauen, breiten Schild und der Schwerter Glut trugen sie im Kampf. 24 Die Balladen wurden vornehmlich von Frauen (aller Gesellschaftsschichten) gesungen und überliefert. Als die zuvor nur mündlich überlieferten Texte im 19. Jh. systematisch aufgezeichnet wurden, wurde dies zwar von Männern besorgt, deren Informanten stellten jedoch in der Regel Frauen dar, die wenigen Männer darunter hatten die Balladen von Frauen gelernt. Es kann jedoch nur vermutet werden, dass Frauen entsprechend auch eine wesentliche Rolle beim Dichten der Balladen spielten (dazu Vésteinn Ólason (1982: 23 - 25)). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 90 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="91"?> Auch dass die Íslendingasögur und ihre Inhalte zwischenzeitlich tatsächlich aus der Mode gekommen waren und die Zunahme von über Íslendingasögur verfassten rímur auch eine Erneuerung der Erinnerung an die isländischen Ursprünge signalisiert, lässt sich der frühen rímur-Dichtung des 17. Jh.s entnehmen. So konstatieren die beiden genannten Dichter in ihren jeweils vor 1650 entstandenen rímur explizit, dass die Íslendingasögur zwischenzeitlich wie dargelegt an Popularität verloren. Kolbeinn dichtet in der 4. Strophe der ersten ríma seiner Rímur af Gretti Ásmundarsyni: Áður skáldin innan lands útlendinga sögur færðu uppá kvæðakrans, kveiktist skemmtan fögur. (Kolbeinn Jöklaraskáld 1658) 25 Früher setzten die Dichter im Land einen Kranz aus Gedichten auf die Geschichten von Ausländern, es entzündete sich schöne Unterhaltung. In diesem Sinne äußert sich auch Hallgrímur Pétursson in Str. 4 der zweiten ríma seiner Króka-Refs rímur, bevor er in der anschließenden fünften Strophe darüber hinaus betont, dass es klüger sei, über einheimische Helden zu dichten: Færi vel, þó vitug skáld í versa smíðum virðing sýndi vöskum lýðum, sem voru hér á fyrri tíðum. (Hallgrímur Pétursson 1956: 14) Es wäre gut, wenn kluge Dichter beim Schmieden der Verse den tapferen Leuten Wertschätzung zeigen würden, die hier in früheren Zeiten lebten. Wie Arngrímur Jónsson in seinen Geschichtswerken betonen auch die Dichter in ihren rímur, dass die Isländer über eine glorreiche Vergangenheit verfügen, die derjenigen anderer Länder in nichts nachsteht. So dichtet Kolbeinn im Anschluss an seine Feststellung der Popularität ausländischer Helden in Str. 5 weiter: Öngvu síður orku nægð Íslendingar báru, hugarprýði og hreystifrægð hildartjöldin skáru. (Kolbeinn Jöklaraskáld 1658) Die Isländer hatten nicht weniger Fülle an Kraft, mit edlem Sinn und Ruhm der Tapferkeit zerschnitten sie die Schilde. 25 Die bislang ungedruckten Rímur af Gretti Ásmundarsyni von Kolbeinn Jöklaraskáld werden hier und nachfolgend zitiert nach der von Eva María Jónsdóttir angefertigten Transkription der Handschrift AM 611 d 4to, online zu finden unter http: / / bragi.arnastofnun.is/ balkur.php? b=51. Die Handschrift enthält gemäß ihrem Eintrag auf www.handrit.is den Vermerk „ Ortar 1658 á Dagverðará, Snæfellsnesi “ (https: / / handrit.is/ manuscript/ view/ is/ AM04-0611d) [jeweils zuletzt abgerufen am 28.02.2023]. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 91 <?page no="92"?> Auch Hallgrímur zieht in Str. 6 einen expliziten Vergleich, um die isländische Vergangenheit in ein strahlendes Licht zu rücken: Bragnar þessir beita kunnu brandi rjóðum öngu síður öðrum þjóðum, ætið héldu sigri góðum. (Hallgrímur Pétursson 1956: 14) Diese Helden konnten ihr gerötetes Schwert nicht weniger als andere Völker anwenden, sie behielten immer einen guten Sieg. Nachdem das Mittelalter die Zeit der grundlegenden textuellen Konstruktion der isländischen Ursprünge ist, beginnt frühneuzeitlich nach ersten Ansätzen im Spätmittelalter die Phase der Auslegung der Texte, wie nicht nur die historiographischen Schriften, sondern auch diese rímur verdeutlichen. Wie angesprochen geht diese Wiederaufnahme der Íslendingasögur zudem mit einer erkennbaren Veränderung der mythomotorischen Funktion der Ursprungszeit einher, die nun explizit in ein kontrapräsentisches Licht gerückt wird. Unantastbar und damit kanonisch im engeren Sinne sind die Íslendingasögur im 17. Jh. jedoch nicht. Die handschriftliche Überlieferung zeigt ein beträchtliches Maß an Varianz und bringt beispielsweise auch eine Version der Egils saga hervor, die sich zum Teil inhaltlich deutlich von der bekannten unterscheidet und sich darüber hinaus vom klassischen Sagastil abhebt (Sverrir Tómasson 2004: 76 - 78). Dabei setzt nicht nur die Überlieferung der Íslendingasögur im Medium der Handschrift die mittelalterliche Tradition fort, auch der Umgang mit ihren Inhalten zeigt weiterhin ein mittelalterliches Wahrheitsverständnis: Wie Arngrímur in seiner Gronlandia allem Anschein nach fehlerhafte Zusammenhänge stillschweigend korrigiert, zeigen auch Handschriften des 17. Jh.s zum Teil einen dementsprechenden Umgang mit den Texten: So weicht der Text der Hávarðar saga in AM 552 o 4to deutlich von anderen Fassungen ab und zeigt, dass „ [a]n attempt was apparently made to correct what were considered to be discrepancies in the text, and make it conform to what was felt to be the truest version “ (Sverrir Tómasson 2004: 76). Im eigentlichen Sinn als aus der Mündlichkeit erwachsend, kommt der isländische Strom der Tradition mit dem Mittelalter zu Ende, schriftgestützt hält er jedoch auch im 17. Jh. an. 26 Dabei bleiben nicht nur die Sagas selbst als unfeste Texte im Fluss, sondern auch die Erinnerungen an die Ursprünge im oral-written continuum lebendig, wie die infolge von Reoralisierung entstandenen oben angeführten fornmannasögur oder andere Fortschreibungen der Ursprungszeit auf der Basis von rímur oder mündlichen Volkssagen verdeutlichen. So verfasst Jón Þorláksson um 1700 nicht nur den auf den Ármanns rímur beruhenden Ármanns þáttur og Þorsteins gala, zumeist Ármanns saga genannt, sondern auch den Þóris þáttur hasts, der ebenfalls in der Sagazeit angesiedelt ist. In wissen- 26 Die nachmittelalterlichen Fortschreibungen der Ursprungserinnerungen gemahnen an den Traditionsstrom der mittelalterlichen Literatur, sind von diesem jedoch durch das Fehlen der personalen Anbindung an die Ursprünge sowie einer unabhängigen lebendigen Überlieferung in der Mündlichkeit zu unterscheiden. Die nachmittelalterliche Produktion von sagazeitlichen Erzählungen teilt allerdings wesentliche Merkmale mit der mittelalterlichen. Die Unfestigkeit der Sagazeit, auch der sog. ‚ klassischen ‘ Darstellungen, bleibt erhalten und die isländischen Ursprungserinnerungen erneuern sich weiter im Fluß des oral-written continuums, so dass es sinnvoll erscheint, von einem ‚ sekundären Traditionsstrom ‘ auszugehen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 92 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="93"?> schaftlichen Kreisen stoßen diese zwar auf deutliche Ablehnung, auf Island aber sind sie durchaus populär und werden, wie die handschriftliche Überlieferung zeigt, im weiteren Verlauf ihrer Transmission in den Kreis der Íslendingasögur aufgenommen. Während die Initialzündung für die Renaissance der Handschriftenproduktion von klerikalen Kreisen ausgeht, sind die beteiligten Schreiber vielfach keine Angehörigen des Klerus, und das Kopieren von Sagas verbreitet sich schnell auch unter den einfachen Leuten, wo die Sagaabschriften zumeist von den Haushaltsvorständen angefertigt und für das abendliche Vorlesen während der kvöldvaka (Abendwache) genutzt werden (Driscoll 2013: 53 - 54). Bei einem Teil der Abschriften mit Íslendingasögur handelt es sich zudem um Auftragsarbeiten europäischer Sammler, die nach Fertigstellung das Land verlassen (Springborg 1977: 62). In den auf Island verbleibenden sögubækur (Sagabüchern), die Íslendingasögur enthalten, ist eine Bevorzugung der heute besonders geschätzten Vertreter dabei nicht zu erkennen, im Gegenteil zählen Víglundar saga und Króka-Refs saga neben Eyrbyggja saga, Njáls saga und Laxd œ la saga zu den am häufigsten in Handschriften des 17. Jh.s enthaltenen Werken. Jeweils um die zwanzig in den bedeutendsten Katalogen verzeichnete Handschriften lassen zudem vermuten, dass diese und beispielsweise auch die in einer ähnlichen Anzahl frühneuzeitlichen Handschriften aus der Zeit vor 1700 erhaltene Gunnars saga Keldugnúpsfífls gar beliebter waren als in späteren Zeiten präferierte Werke, wie die lediglich in einem Dutzend oder etwas mehr Handschriften aus dieser Zeit verzeichneten H œ nsna-Þóris saga und Gunnlaugs saga oder auch die etwas häufiger als diese kopierte Hrafnkels saga. 27 Klassifiziert werden die Íslendingasögur auch in etlichen Handschriften des 17. Jh.s, sowohl in für den isländischen als auch den ausländischen Markt produzierten, im Sinne einer unter 2.1 dargelegten kulturellen Textgattung, teilweise ergänzt um weitere spezifisch isländische Stoffe in Form von Samtíðarsögur oder Biskupasögur. Mit im 20. Jh. als historisch geltenden Werken werden nicht nur nach heutigem Maß realistische, sondern auch typisch ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur gruppiert, wie sich auch erstere in Handschriften mit Fornaldarsögur und übersetzten sowie originalen Riddarasögur wiederfinden. 28 Wie in den nachmittelalterlichen Íslendingarímur zeigt sich auch in der handschriftlichen Überlieferung der Íslendingasögur im 17. Jh. ein besonderer Fokus auf die isländische Abstammung der Protagonisten, die nicht selten im Titel ausdrücklich hervorgehoben wird. So titelt beispielsweise AM 126 fol. „ Þessi saga kallast Laxdæla af gömlum Íslendingum “ sowie „ Saga af nokkrum Íslendingum og er kölluð Eyrbyggja “ , 29 letzteres findet sich auch in AM 130 fol. Auch diverse andere Handschriften nehmen die Nationalität der Helden in die Bezeichnungen von Íslendingasögur auf: „ Saga af Gunnlauge orms tungu og skälld|hrafne Islendingum “ (AM 426 fol.), „ Hér byrjar söguna af Búa Íslendingi hinum einráða “ (AM 114 8vo), „ Sagan af Króka-Refi Íslendingi “ (AM 554 h α 4to), „ Þessi saga kallast Vatnsdæla. Af Íslendingum “ (AM 163 a fol.) oder „ Hér byrjast Bandamanna saga og 27 Diese Angaben gründen auf einer Durchsicht der zentralen Kataloge Kålund (1888 - 1894), Gödel (1892), Kålund (1900) sowie Páll Eggert Ólason u. a. (1918 - 1996). In geringer Anzahl finden sich Handschriften mit Íslendingasögur auch in weiteren Sammlungen. 28 Derartige buntgemischte Handschriften neuzeitlicher Provenienz sind z. B. AM 568 I - II 4to (1. Hälfte 17. Jh.), Gks 1002 - 3 fol. (17. Jh.) oder Kall 612 4to (18. Jh.). 29 diese Saga nennt sich Laxdæla von alten Isländern/ Saga von einigen Isländern und wird Eyrbyggja genannt Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 93 <?page no="94"?> segir af nokkrum Íslendingum “ (AM 165 l fol.). 30 Zum ersten Mal werden Íslendingasögur nun auch dezidiert als Íslendinga sögur bezeichnet, insbesondere für Eyrbyggja saga und Njáls saga finden sich zahlreiche Belege. Ein umfassenderes als nur auf diese beiden umfangreichen Werke bezogenes Verständnis macht AM 555 c 4to deutlich, die letztere als „ Njáls sögubók. Sem er einn partur af Íslendinga sögum “ betitelt. 31 Der Wandel der Bezeichnung der Texte vom mittelalterlichen landnámssögur zum bis heute gebräuchlichen Íslendingasögur gibt eine Veränderung im kulturellen Erinnern in der frühen Neuzeit zu erkennen: Während die Íslendingasögur im Mittelalter mit der Gestaltung der isländischen Ursprungszeit dazu beitragen, eine kollektive Identität zu formen, die die Isländer als eigenständige Ethnie auf der Basis eines geographischen Raums definiert, erfolgt ihre frühneuzeitliche Wiederaufnahme vor dem Hintergrund einer über einen längeren Zeitraum gefestigten kollektiven Identität, die sich aufgrund weiterer Distinktionsmerkmale nun als Kulturnation definieren kann. Im Mittelalter gründet die Eigenständigkeit der Isländer auf den drei Fixpunkten ihres kulturellen Gedächtnisses Landnahme, Besiedelung und Christianisierung und ist an ein gemeinsames Territorium sowie ein gemeinsames Gesetz gebunden. Die auf dieser Basis konstruierte Geschichte und nicht zuletzt die konkrete Anbindung an die Landschaft bestimmen auch das nachmittelalterliche isländische Selbstverständnis weiterhin wesentlich, sie werden jedoch, wie oben angesprochen, durch zwei weitere zentrale Identifikationsmerkmale ergänzt, die im weiteren Verlauf der isländischen Kulturgeschichte zunehmend an Bedeutung gewinnen. Neben der auf den Fixpunkten des kulturellen Gedächtnisses gründenden Erinnerung an die eigenen Ursprünge werden die kulturellen Errungenschaften des Mittelalters in Form von Sagaliteratur und Dichtung, die diese verwahren, und nicht zuletzt die isländische Sprache selbst mit Beginn der frühen Neuzeit zu maßgebenden Attributen des isländischen Selbstverständnisses, was die zentrale Position der Sagazeit zunehmend relativiert. Die im Mittelalter zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis angesiedelten Samtíðarsögur werden in diesem Zusammenhang endgültig zu Medien des kulturellen Gedächtnisses. Die Ursprungszeit umfasst nun, wie oben dargestellt, die Zeit von der Besiedelung bis zum Verlust der Unabhängigkeit. Gemäß diesem Fokus werden in den Handschriften von nun an wieder verstärkt Íslendingasögur und verwandte þættir gemeinsam in Handschriften versammelt, nicht selten in Kombination mit der Landnámabók und Samtíðarsögur. 32 Die Rezeption der Íslendingasögur in der Dichtung des 17. und frühen 18. Jh.s gibt ebenso wenig eine Unterscheidung zwischen frühen und klassischen Íslendingasögur einerseits und ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur andererseits zu erkennen wie die handschriftliche Überlieferung der Texte. Nach den oben genannten entstehen auch im weiteren Verlauf des 17. Jh.s und darüber hinaus weitere kappakvæði, die isländische Helden der Sagazeit 30 Saga von den Isländern Gunnlaugr ormstunga und Skáld-Hrafn/ Hier beginnt die Saga von Buí, dem eigensinnigen Isländer/ die Saga vom Isländer Króka-Refr/ Diese Saga nennt sich Vatnsdæla. Von Isländern/ Hier beginnt die Bandamanna saga und erzählt von einigen Isländern 31 Njáls saga-Buch. Das ein Teil von Sagas der Isländer ist. 32 Beispiele für derart islandzentrierte Sammelhandschriften sind AM 158 fol. (1650), AM 455 4to (1660), AM 160 fol. (17. Jh.), AM 426 fol. (2. Hälfte 17. Jh.), Thott 976 - 977 fol. (Ende 17. Jh.), AM 928 4to (18. Jh.), Thott 984 I - III fol. (18. Jh.), Nks 1714 4to (ca. 1715), Kall 239 fol. (2. Hälfte 18. Jh.) und AM 932 4to (1821). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 94 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="95"?> aufzählen und damit Erinnerungen an die isländischen Ursprünge thematisieren. 33 Neu an den ab dem 17. Jh. entstehenden kappatöl ist, dass diese nun auch in der im 17. und 18. Jh. sehr beliebten Form der vikivakakvæði (dazu Hughes 2005a: 214 - 216), zu denen im Ring getanzt wird, gedichtet werden. In männlicher Dichtung wird die Ursprungszeit in der Regel als heroische Vorzeit rezipiert, der zumindest für die männlichen Isländer weiter eine normative Funktion zukommt, die in den sagazeitlichen Helden Vorbilder für Mannhaftigkeit sehen (Jón Karl Helgason 2005: 66 - 67). Mit Steinunn Finnsdóttir (1640/ 41 - 1710) ist in der frühen Neuzeit zudem zum ersten Mal namentlich eine Frau bekannt, die sich der isländischen Ursprungszeit dichterisch widmet. 34 Zwei vikivakakvæði sind von ihr überliefert, deren Besonderheit eine weibliche Sicht auf die Sagazeit darstellt und die sich dadurch von älteren oder zeitgenössischen kappakvæði, die von Männern gedichtet wurden, unterscheiden (Bergljót Soffía Kristjánsdóttir 1998). Das bekanntere der beiden wird in moderner Edition (Steinunn Finnsdóttir 1965) mit Kappakvæði betitelt, das zweite von Bergljót Soffía Kristjánsdóttir (1998: 61) treffend als „ kappaástakvæði “ (Heldenliebesgedicht) bezeichnet, was ich ihr folgend als Titel übernehme. Í kappaástakvæðinu velur hún [Steinunn] að yrkisefni söguhetjur sem sumar koma illa fram við konur - t. d. Ketil raum sem er tilbúinn til að ganga að eiga konu nauðuga - og teflir friði samtíma síns gegn ófriði sagnanna. (Bergljót Soffía Kristjánsdóttir 1998: 61 - 62) In Kappaástakvæði wählt Steinunn als Stoff Sagahelden, von denen manche Frauen schlecht behandeln - z. B. Ketill raumr, der bereit ist, eine Frau gewaltsam zur Ehe zu nehmen - und stellt den Frieden ihrer Zeit dem Unfrieden der Sagas gegenüber. Anders als die bisher thematisierten kappatöl fokussiert Kappaástakvæði auch auf sagazeitliche Frauen und rückt dabei in den Sagas marginale Erzählstränge ins Zentrum, wie beispielsweise in Strophe 3 eine Werbung um Ketilríðr, die in der Víglundar saga in wenigen Sätzen abgehandelt wird (Steinunn Finnsdóttir 1894: 208). Kappakvæði ist traditioneller im Fokus auf männliche Helden, jedoch ebenfalls erkennbar weiblich geprägt: Hið háa - „ forfeðurnir “ , karlhetjur Íslendinga sagna og „ hreystiverk “ þeirra - er dregið niður á svið hins lága, þ.e. daglegs bjásturs kvenna við kjöt, reyk og óhreinindi, til að vekja hlátur og aftigna. (Bergljót Soffía Kristjánsdóttir 1998: 70) Das Hohe - die „ Vorväter “ , männliche Helden der Íslendingasögur und ihre „ Tapferkeiten “ - wird auf das Niveau des Niederen reduziert, d. h. die täglichen Tätigkeiten von Frauen mit Fleisch, Rauch und Dreck, um Gelächter und Spott zu provozieren. 33 Nicht alle dieser kappakvæði liegen bislang ediert vor, auf zwei weitere in handschriftlicher Überlieferung weist Jón Helgason (1981: 119) hin. Das erste der beiden, als dessen Verfasser Þorvaldur Magnússon (1670 - 1740) angegeben wird, ist in mehreren Manuskripten erhalten, wo es einmal auch als Kappatal Íslendinga bezeichnet wird. Dieses ist insofern bemerkenwert, als es neben klassischen und ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga-Helden auch aus den Samtíðarsögur bekannte mittelalterliche Isländer aufzählt (JS 588 4to: 189v - 191v). Das zweite ist nur in einer einzigen Handschrift überliefert und war mir leider nicht zugänglich. 34 Zu Steinunn Finnsdóttir, der ersten namentlich bekannten isländischen Dichterin, siehe Böðvar Guðmundsson (1993: 473 - 476) sowie Helga Kress (2006: 11 - 13). Spezifisch zu Steinunn als rímur- Dichterin, die mit ihrem weiblichen Fokus die traditionell männliche Dichtung erneuert, siehe Bergljót Soffía Kristjánsdóttir (1996). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 95 <?page no="96"?> Wie ihre männlichen Kollegen, die sagazeitliche Isländer in ihren kappakvæði aufzählen, macht jedoch auch Steinunn keinen Unterschied zwischen klassischen und ‚ postklassischen ‘ Sagahelden. In den 21 Strophen ihres Kappakvæði bezieht sie sich nicht nur auf klassische und ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur, sondern gibt zudem zu erkennen, dass letztere - zumindest ihr persönlich - deutlich bekannter sind. Nachdem sie neben einigen anderen Helden der Sagazeit die Protagonisten beinahe sämtlicher ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur benennt, dichtet sie in der abschließenden Strophe „ Mér nú virðar gefi grið; / ég get ei minnzt á fleiri “ (Steinunn Finnsdóttir 1965: 131). 35 Im Gegensatz zu ihren Dichterkollegen äußert Steinunn allerdings zum ersten Mal auch Kritik an den Helden der Vorzeit, wobei ihre Kritik nicht den sagazeitlichen Helden oder der Ursprungszeit generell gilt, sondern wie Bergljót Soffía Kristjánsdóttir aufzeigt, vielmehr bestimmten Verhaltensweisen und Zuständen, insbesondere gewaltsamem und misogynem Verhalten. Während manche Sagahelden uneingeschränkt gerühmt werden, lobt Steinunn andere gerade nicht für die üblicherweise mit ihnen verknüpften kriegerischen Fähigkeiten, sondern im Gegenteil für friedliche Fertigkeiten und Verhaltensweisen, während sie die gewalttätigen ironisch und doppeldeutig oder auch erkennbar kritisch zur Sprache bringt (Bergljót Soffía Kristjánsdóttir 1998: 65 - 70). Trifft es jedoch Bösewichter und Unruhestifter, menschliche oder nicht-menschliche, goutiert sie kämpferisches Verhalten allerdings durchaus (70 - 71). Wenngleich sich Steinunns Blick auf die isländischen Ursprünge von dem ihrer männlichen Dichterkollegen abhebt, zeigen ihre Bemühungen, die männlich konnotierte Sagazeit, deren Konstruktion den Siegeszug über das Weibliche von Anfang an beinhaltet, aus einer weiblichen Perspektive zu erinnern, doch zugleich deren Tragweite für das isländische Selbstverständnis. Auch für Steinunn verkörpern die sagazeitlichen Helden bedeutsame Vergangenheit der Isländer, wie die einleitenden Zeilen von Kappakvæði umgehend deutlich machen: Mun ei gagn að minnast á mæta kappa fræga sem áður létu brandinn blá bíta sér lítt þæga, af listum vildu lofið fá landið þar með prýða? (Steinunn Finnsdóttir 1965: 115) Wird es nicht nützlich sein, an treffliche, berühmte Helden zu erinnern, die früher das schwarze Schwert wenig brav beißen ließen - wegen der [Kriegs-]Künste Lob erhalten wollten - um das Land damit zu schmücken? Der männlich geprägten Konstruktion und Deutung der Sagazeit stellt sie jedoch eine weiblich geprägte Interpretation der Íslendingasögur gegenüber. Diese verklärt die Vergangenheit nicht kontrapräsentisch als Goldenes Zeitalter, sondern rückt auch ihre negativen Seiten in den Blick. In der abschließenden Strophe ihres Kappaástakvæði klingt entsprechend auch eher ein progressiver Geschichtsverlauf an, wenn die Gegenwart mit den Zeilen „ Bæði nú í friði felst / faldagrund og sveigir brands “ (Steinunn Finnsdóttir 35 Die Leute mögen mir Gnade gewähren, ich erinnere mich nicht an sonstige. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 96 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="97"?> 1894: 209) 36 positiv bewertet wird (vgl. Bergljót Soffía Kristjánsdóttir 1998: 62). Wenngleich Steinunn ein anderes Verständnis davon zeigt, was dem Land zur Ehre gereicht, rezipiert sie die Íslendingasögur ebenfalls als kulturelle Texte mit Wahrheitsanspruch, wie besonders in der Strophe über Grettir deutlich wird, in der sie im Zusammenhang mit dessen Kämpfen gegen übernatürliche Wesen betont „ Sagan Grettis sjálf það tér / sannleiks vitni þar um ber “ (Steinunn Finnsdóttir 1965: 124 - 125). 37 Steinunns weiblich geprägte Deutung der fundierenden Vergangenheit der Isländer und ihr innovativer Umgang mit dieser heben sich von der traditionellen Interpretation der Sagazeit ab, gründen jedoch wie diese auf einem Verständnis sämtlicher Íslendingasögur als Abbilder der isländischen Ursprungszeit, die dementsprechend auch von den Protagonisten ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur verkörpert wird. Unter diesen zeichnen sich Grettir und Króka-Refr wie schon im Spätmittelalter durch eine besondere Beliebtheit aus. Wie nicht zuletzt auch daran deutlich wird, dass der als größter Hymnendichter Islands geltende Hallgrímur Pétursson die Króka-Refs saga wie angesprochen in rímur überträgt und sich in späteren Werken wiederholt dieser rühmt (Margrét Eggertsdóttir 2014: 221 - 222), gelten die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur im nachreformatorischen Island mitnichten als minderwertig. Das kulturelle Verständnis der Isländer teilt entsprechend die von Arngrímur Jónsson vorgebrachte Kritik an der Króka-Refs saga nicht, wie auch die 1688 in Skálholt mit dem Titel Arngrimi Jonæ Gronlandia. Edur Grænlands saga gedruckte, von sýslumaður Einar Eyjólfsson (um 1641 - 1695) angefertigte isländische Übersetzung der erst im 20. Jh. im lateinischen Original herausgegebenen Gronlandia zeigt. Wenngleich auch Arngrímur die Íslendingasögur als kulturelle Texte begreift, zeigt sich hier im Ansatz das Auseinanderdriften der Sichtweise auf die Íslendingasögur im mehr europäischwissenschaftlich orientierten Kontext einerseits und im vornehmlich isländisch-kulturell ausgerichteten Kontext andererseits. Der Übersetzer verzichtet nicht nur auf die Anmerkung Arngrímurs, die Saga sei wenig relevant, sondern macht zudem aus dessen Zweifeln an ihrer Qualität eine Bekräftigung der Historizität der Saga. Während Arngrímur auf nicht namentlich genannte berühmte Verfasser verweist, die nicht minder übertriebene Stoffe darstellen, um seine Verwendung der Króka-Refs saga zu rechtfertigen, konstatiert der Übersetzer, dass der Inhalt der Saga zwar wenig mit der Besiedelung Grönlands zu tun habe, aber dem Beispiel anderer Sagaschreiber folgend nicht übergangen werden solle. Zweifel an der Darstellung der Króka-Refs saga äußert er dabei nicht, sondern betont im Gegenteil, dass es sich um tatsächliche Ereignisse handelt: Þo þette sem her skrifast / synest litit þessu efne um Grænlands bygging vidkoma / þa af þvi at her talar um nockrer þa Atburde er skedo a Grænla[n]de vil ek at dæmum an[n]ara sagnaritara þetta sem nu fylger ei undanfella. (Arngrímur Jónsson 1688: 26) 38 Auch wenn das, was hier geschrieben wird, diesen Stoff von der Besiedelung Grönlands wenig zu betreffen scheint, dann weil hier von einigen Ereignissen, die auf Grönland geschahen, berichtet wird, will ich das, was nun folgt, dem Beispiel anderer Geschichtsschreiber folgend, nicht ausschließen. 36 Beide können sich nun in Frieden aufhalten, Frauen und Männer 37 Grettirs eigene Saga sagt es, legt wahres Zeugnis davon ab 38 Diese von Arngrímurs ursprünglicher Aussage abweichende Darstellung verbreitet sich mit der 1732 auf Basis der isländischen Übersetzung entstandenen dänischen Ausgabe weiter (Arngrímur Jónsson 1732: 33). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.2 Die Frühneuzeit: Aufleben der Erinnerung an die Sagazeit und neues Selbstverständnis 97 <?page no="98"?> Neben Gronlandia erscheinen in Skálholt nach den bereits Ende des 16. Jh.s in Hólar gedruckten (und bis Anfang des 18. Jh.s dreifach neu aufgelegten) Gesetzestexten der Jónsbók von 1281 in den Jahren 1688 - 1691 Landnámabók (unter dem Titel Landnámssaga), Íslendingabók, Kristni saga und Ólafs saga Tryggvasonar, nachdem Þórður Þorláksson (1637 - 1697), Bischof in Skálholt, mit königlichem Erlass vom 7. April 1688 die Erlaubnis erhält, Sagas zu drucken (Halldór Hermansson 1933: 2). Seinem Vorgänger, dem wie dargestellt sehr fornsöguraffinen Brynjólfur Sveinsson, der sich ebenfalls um eine Druckereierlaubnis für Skálholt bemüht hatte, auch um alte Schriften und Sagas zu drucken, war diese noch verwehrt worden (Jón Helgason 1958: 84, Böðvar Kvaran 1995: 72). Abgesehen von den genannten, Ende des 17. Jh.s veröffentlichten Schriften ist der Druck auf Island zunächst theologischen und übersetzten Büchern vorbehalten, während die Íslendingasögur quasi-mittelalterlich weiter in Handschriften kursieren. 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung 3.3.1 Verbreitung der Íslendingasögur in Europa und frühe Sagakritik Wenngleich in Skandinavien im 17. Jh. insbesondere Interesse an den die eigene Frühgeschichte darstellenden Werken besteht, werden auch die Íslendingasögur zu dieser Zeit in Europa zunehmend bekannter. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, einen Verleger zu finden, erscheint Arngrímur Jónssons Crymogæa ab 1609 in Hamburg in rascher Folge in mehrfacher Auflage und verbreitet Wissen über Island und die Íslendingasögur. Wesentlich mehr zu deren Verbreitung in Europa trägt allerdings Thomas Bartholins (1659 -⁶ 90) 1689 erschienenes monumentales Werk Antiquitatum danicarum de causis contemptæ a Danis adhuc gentilibus mortis bei, das so viele Exzerpte bis dahin nicht veröffentlichten Materials enthält, „ that it effectively amounted to an anthology of ancient texts, printed in the original and with parallel Latin translations “ , und das enorm populär war (Fjågesund 2014: 115). Der dänische Antiquar Bartholin, bekannt auch als Besitzer der Möðruvallabók im 17. Jh., profitierte bei der Abfassung dieses Werkes in hohem Maß von seinem Assistenten, dem Isländer Árni Magnússon (1663 - 1730), der die Übersetzung der isländischen Texte besorgte (Sverrir Tómasson 2004: 89). Bartholins Schwerpunkt liegt seinem Fokus gemäß nicht auf den Íslendingasögur, von denen er dennoch zahlreiche heranzieht. 27 Íslendingasögur und þættir finden sich insgesamt im Verzeichnis, darunter auch die typisch ‚ postklassischen ‘ Vertreter Bárðar saga, Finnboga saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls, Króka-Refs saga und Víglundar saga. Die Þórðar saga hreðu ist nicht verzeichnet, wird jedoch im Text zitiert. Bartholins Ausführungen (1689: 199) machen deutlich, dass er die Trennung von „ veræ historiæ à falsis “ (wahrer Geschichte von falscher) bei der Behandlung der Sagaliteratur für wesentlich hält, wobei er sich der Problematik einer Umsetzung dessen bewusst ist. Eine an dieser Unterscheidung ausgerichtete Abgrenzung einzelner Íslendingasögur lässt er bei seinen Sagaexzerpten jedoch nicht erkennen. Ganz besonders deutlich wird dies in Kap. IX, in dem er u. a. auch Runenstäbe in den Íslendingasögur erwähnt und dabei keinerlei Abgrenzung oder Abwertung einer ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga, die später als freie Erfindung gilt, vornimmt: Zuerst zitiert er aus der Egils saga die Aufforderung Þorgerðrs, Egill solle ein Gedicht über den Tod seines Sohnes Böðvarr Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 98 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="99"?> dichten, das sie dann auf einen Stab ritzen wolle, und im direkten Anschluss daran aus der Víglundar saga den Bericht vom Runenstab, der eine Botschaft von Ketilríðr an ihren Geliebten Víglundr übermittelt (151). Mit der wachsenden Bekanntheit der isländischen Sagas in europäischen Gelehrtenkreisen werden in diesen zugleich kritische Stimmen laut. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) beispielsweise zweifelt sehr an ihrer historischen Glaubwürdigkeit und erklärt, er bevorzuge Adam von Bremen allen Sagas (Davillé 1909: 528 - 529). Auch im Norden tritt die Sagakritik um 1700 in ein neues Stadium, ist dort jedoch ungleich verhaltener als die von Leibniz geäußerte generelle Skepsis der Sagaliteratur gegenüber. 39 Konkreter als Bartholin allerdings diskutiert Þormóður Torfason, latinisiert Thormodus Torfæus (1636 - 1719), im ersten Kapitel seiner 1702 nach umfangreicher Überarbeitung erschienenen Series dynastarum et regum Daniæ - nach Ellen Jørgensen (1931: 143) „ en lille Skrift, der blev af betydelig Virkning “ 40 - unter dem Titel „ De Antiqvitatum Documentorumqve, qvæ Conditores Historiarum Septentrionalium secuti sunt, auctoritate et fide “ 41 die Unterschiede hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der verschiedenen Sagas als historische Werke. Nachdem er zunächst sämtliche Sagas inklusive zahlreicher þættir, einiger rímur und weiterer Werke wie z. B. Kötludraumur, alphabetisch auflistet, unterscheidet er vier Gattungen, für die er jeweils Beispiele anführt (vgl. Jørgensen 2006: 259). Während die der ersten Gattung zugerechneten Texte keine Geschichtswerke darstellen, aber in unterschiedlichem Maße Informationen über alte Riten und die alte Religion enthalten, sind die der zweiten Gattung zugerechneten Werke von keinerlei Wert für den Historiker: „ [ … ] Secundum genus confictas tantum narrationes continet, sine ullo recondito sensu. Estque artificiosum, vel rude & insulsum “ (Torfæus 1702: 12). 42 Zu diesen rechnet Torfæus mit Bárðar saga, Króka-Refs saga und Kjalnesinga saga auch drei ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur, als eine Art Subgattung unterschieden von ebenfalls zu dieser Gattung gerechneten weiteren Werken, insbesondere Märchensagas und jüngeren Fornaldarsögur. Die beiden weiteren Gattungen sind drittens Geschichtswerke, die fabelhafte Züge angenommen haben, aber dennoch wahr sind, sowie viertens die „ historiæ authenticæ “ . Für letztere führt er u. a. Heimskringla, Íslendingabók und zeitgenössische Konungasögur, aber auch die (heute verlorene) Skjöldunga saga als Beispiele an, für die mit Fabeln vermischten Geschichtswerke verschiedene Fornaldarsögur, u. a. die Þorsteins saga Víkingssonar und die Örvar-Odds saga, dazu aber auch Teile der Ólafs saga Tryggvasonar. Íslendingasögur finden sich in dieser Klassifizierung mit Ausnahme der drei genannten nicht, in seinen weiteren Ausführungen (48) wird jedoch deutlich, dass die Íslendingasögur, klassische als auch ‚ postklassische ‘ , für Torfæus größtenteils zur dritten Gattung zählen und ursprünglich authentische Geschichtswerke darstellen, wenngleich sie auch Fabeln in sich aufgenommen haben. Diese Unterscheidung zwischen mehr oder minder fabelhaften Werken ist charakteristisch für Torfæus ’ weitere Schriften. Für seine 1705 und 1706 veröffentlichten Darstellungen der Geschichte Amerikas zur Zeit der Entdeckung durch 39 Zur wachsenden Sagakritik vom Humanismus bis zur Aufklärung siehe auch Andersson (1964: 1 - 21). 40 Ein kleines Werk, das eine beträchtliche Wirkung erzielte 41 Von der Autorität und Glaubwürdigkeit der Ereignisse des Altertums und der Dokumente, denen die Verfasser der Geschichtsschreibung des Nordens folgten. 42 [ … ] Die zweite Gattung enthält nur erdichtete Erzählungen ohne versteckten Sinn. Und sie ist künstlich bzw. grob und geistlos. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung 99 <?page no="100"?> die Wikinger Historia Vinlandiæ antiquæ und der Geschichte Grönlands Gronlandia antiqua seu veteris Gronlandiæ descriptio sowie der 1711 erstmalig erschienenen vierbändigen norwegischen Geschichte Historia rerum Norvegicarum zieht er ebenfalls Íslendingasögur heran und macht dabei deutlich, dass er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Arngrímur Jónsson konkretere Zweifel an der von diesen dargestellten Vergangenheit hegt. So verwendet er in Gronlandia antiqua zwar durchaus auch ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur wie beispielsweise Flóamanna saga oder Bárðar saga, den aus letzterer entnommenen Bericht über die Entführung von Bárðrs Tochter Helga kennzeichnet er jedoch klar als Fabel (Torfæus 1715: 107). Die Króka-Refs saga schließlich behandelt er nicht wie noch Arngrímur Jónsson als Geschichtswerk, sondern gibt dessen Zusammenfassung der Saga komplett wieder, um anschließend darzulegen, dass „ hanc Refi vitam ad genuinas historias referri non posse “ (212). 43 Quellen im modernen Sinn sind die Sagas für Torfæus jedoch nicht, zu dessen Zeit „ the crucial metaphor of ‚ source ‘ was not yet operative for historians “ , wie Lars Boje Mortensen (2008: 9) feststellt, der ihr Aufkommen auf Mitte des 18. Jh.s datiert. Stattdessen versteht Torfæus die Sagas, wie Mortensen (10) ausführt, zeittypisch als „ monumenta “ , d. h. Denkmäler der Vergangenheit, die vom Historiker wiederaufgebaut und deutlicher sichtbar gemacht werden. 44 Es mutet ironisch an, dass Torfæus, in dessen Veröffentlichungen die historische Zuverlässigkeit einzelner Sagas zum ersten Mal strikt zurückgewiesen wird, heute in erster Linie mit historischer Naivität und völliger Kritiklosigkeit gegenüber den überlieferten Sagainhalten assoziiert wird. Jenseits seiner veröffentlichten Schriften legt Torfæus allerdings eine deutlich unkritischere Haltung an den Tag, wie sein Briefwechsel mit Árni Magnússon sowie dessen Anmerkungen zeigen. Bekannt ist, dass Árni Magnússon Torfæus ʼ Series Dynastarum et Regum Daniæ vor der Veröffentlichung teilweise streng überarbeitete (Ólafur Halldórsson 1992: 16 - 19, Schnall 2010: 2152), was die Vermutung nahelegt, dass die kritischen Passagen nicht unwesentlich von ihm inspiriert sind. So enthielt Torfæus ʼ erste Fassung der Series u. a. eine Passage über die Ármanns saga, die auf Árnis Betreiben gestrichen wurde. Wie stark die isländischen Ursprungserinnerungen auch zu Beginn des 18. Jh.s noch im oral-written continuum verhaftet sind, wird daran ebenfalls deutlich: Torfæus hatte offenkundig nie eine schriftliche Fassung der Ármanns saga vorgelegen, vielmehr griff er auf Erinnerungen an einen mündlichen Sagavortrag zurück (Guðbrandur Vigfússon 1859: 133 - 134). 45 Wie naiv auch immer Torfæus ʼ Auseinandersetzung mit den Sagas aus heutiger Sicht erscheint, in jedem Fall werden mit seinen Werken die erste deutlich kritische Beurteilung der Íslendingasögur als historische Werke generell sowie die Charakterisierung einzelner Vertreter als ‚ erdichtet ‘ verbreitet. 46 43 sich dieses Leben Refurs nicht mit echten Geschichtswerken in Verbindung bringen lässt 44 Die Art und Weise von Torfæus ʼ Umgang mit den von ihm verwendeten Texten wird von Mortensen (2008: 5 - 7) am Beispiel der Egils saga demonstriert. 45 Zum Verhältnis von Torfæus und Árni Magnússon und ihrem jeweiligen Umgang mit der altisländischen Literatur siehe auch Andersson (1964: 5 - 9). 46 Zu Torfæus ʼ Umgang mit dem Phantastischen siehe auch Jørgensen (2006: 462), der betont, dass Torfæus in dieser Hinsicht zu Unrecht als besonders naiv und unkritisch gilt, sondern zeittypisch ist und er als Wissenschaftler zwar nicht seiner Zeit voraus, aber doch „ stor i sin tid “ (groß zu seiner Zeit) war. Die Übernahme unrealistischer Inhalte aus den Fornaldarsögur in seine Historia rerum Norvegicarum hatte nach Jørgensen nicht zuletzt auch pragmatische Gründe und war politisch motiviert: Auch Norwegen sollte eine Legitimation durch eine möglichst weit zurückreichende Dokumentation Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 100 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="101"?> Dementsprechend gilt er im 18. Jh. als Speerspitze der Sagakritik: Der deutsche Historiker August Ludwig von Schlözer (1735 - 1809) bezeichnet ihn höchst anerkennend als den „ gelerteste[n] Kritiker aller Isländer “ (1773: 11) und erkennt „ bei diesem vernünftigen Kritiker eine ganz andere Denkungsart als bei allen seinen Nachfolgern “ (1773: 178). 47 Nicht in das Bewusstsein von Schlözers tritt allerdings Árni Magnússon, da dieser selbst kaum etwas veröffentlicht und nicht am europäischen Wissenschaftsdiskurs über die Íslendingasögur teilhat (Schnall 2010: 2152). Die handschriftliche Abhandlung De historiâ sowie seine Anmerkungen zur Sagaliteratur in der Handschrift Nks 1836 4to machen jedoch unzweifelhaft deutlich, dass er die Íslendingasögur gemäß seinen eigenen Anforderungen an Geschichtsschreibung nicht als solche versteht, sondern ihnen den Status von glaubwürdigen Geschichtswerken weitreichend abspricht. 48 In der mutmaßlich in der Zeit von 1713 - 1720 entstandenen Schrift De historiâ kommt eine deutlich kritische theoretische Position zum Ausdruck, die Íslendingasögur kritisiert er entsprechend in seinen Anmerkungen zur Sagaliteratur mit deutlichen Worten als „ skrifadar af hominibus historices penitus ignaris et chronologiæ imperitis “ und folglich „ í mesta part scitu indigna, amplificerud med ærnum ordafi ỏ lda, item res confusissime tracterader, og mart aukid og ósatt “ , was er mit ihrer späten Entstehungszeit in Verbindung bringt, aufgrund derer „ authores kunnu ei vel vita veritatem gestorum “ (Jón Helgason 1980: 63). 49 Auf geschichtlichen Tatsachen oder älteren Geschichtswerken beruhend, aber stark erweitert und ergänzt, stehen sie in seinen Augen der Dichtung näher als der Geschichtsschreibung, wie die Grettis saga, über die er vermerkt „ gengur nær Fabulæ enn Historiæ, [ … ] interpolerud úr einhv ỏ riu opere Sturla Þórdarsonar “ (49). 50 Einzelne Werke versteht er als rein erdichtet, wie beispielsweise die Bandamanna saga, die ihm „ sýnist at vera fabula, dictud ad imitationem et methodum Aulkofraþátts “ (48). 51 Während Árni - anders als Torfæus - deutlich zwischen historia und fabula unterscheidet (vgl. Andersson 1964: 8), trifft er keine Unterscheidung zwischen realistischen und unrealistischen Vertretern, wie sie der aktuellen Definition der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga zugrunde liegt. Im Gegenteil charakterisiert er auch heute als klassisch und realistisch geltende Werke als übertrieben und phantastisch, wie seine Kritik am Verfasser der Njáls saga deutlich macht: der eigenen Geschichte erhalten. Torfæus geht kritisch und methodisch vor, rezipiert die Sagas jedoch klar als kulturelle Texte. 47 Letzteres Zitat ist im Speziellen gemünzt auf Torfæus ’ Beschäftigung mit der Edda. In diesem Zusammenhang stellt von Schlözer (1773: 184) auch einen deutlichen Unterschied zwischen Torfæus ’ frühen Ansichten und seinen späten fest: „ Der alte Torfæus ward endlich, nicht nur des Untersuchens, sondern auch des Zweifelns müde und - glaubte. “ Der Gesinnungswandel von Torfæus, den von Schlözer konstatiert, könnte jedoch auch auf einen fehlenden korrektiven Eingriff Árni Magnússons zurückzuführen sein: Wie Ólafur Halldórsson (1992: 18) vermerkt, ist Series das letzte Werk von Torfæus, an dem Árni Anteil hat. 48 Die Anmerkungen in Nks 1836 4to wurden herausgegeben von Jón Helgason (1980). Die seinerzeit unveröffentlichte Abhandlung De historiâ liegt nun mit Vorwort und isländischer Übersetzung herausgegeben von Már Jónsson vor (Árni Magnússon 1998). 49 geschrieben von geschichtlich völlig unkundigen und in Chronologie unerfahrenen Menschen/ größtenteils nicht wert, studiert zu werden, erweitert mit einer reichlichen Menge an Worten, ebenfalls sind die behandelten Ereignisse vermischt und vieles ergänzt und unwahr/ die Verfasser die Wahrheit der Geschehnisse nicht gut kennen konnten 50 kommt der Fabel näher als der Geschichte, interpoliert aus irgend einem Werk Sturla Þórðarsons 51 eine Fabel zu sein scheint, gedichtet in Imitation und Art und Weise des Ǫ lkofra þáttrs Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung 101 <?page no="102"?> I Islendskum s ỏ gum eveherast stulte Islandi, og þeirra meriter, eins og þeir væri ỏ llum Nationibus fremur. framar | ỏ drum hefur Niálss ỏ gu Author verid bligdunarlaus þar í, í m ỏ rgum st ỏ dum, og er þad eitt Argument til ad Sæmundr Fródi se ei hennar Author, því af honum er ad vænta meire greindar (Jón Helgason 1980: 63 - 64). In isländischen Sagas heben die Isländer sich und ihre Verdienste töricht empor, als ob sie allen Nationen voraus wären. Vor anderen war der Verfasser der Njáls saga schamlos darin, an vielen Stellen, und das ist ein Argument dafür, dass Sæmundr fróði nicht ihr Verfasser ist, denn von ihm ist mehr Verstand zu erwarten. Die Anmerkung zu Sæmundr inn fróði gibt jedoch klar zu erkennen, dass Árni deutlich zwischen respektabler Geschichtsschreibung einerseits, hier repräsentiert von Sæmundr, und den Íslendingasögur andererseits unterscheidet. Mit der von den Sagas dargestellten Vergangenheit kann sich Árni als Historiker auf der Höhe seiner Zeit offenkundig nicht identifizieren. Seine Identifikation mit den Textträgern, vornehmlich den ältesten unter ihnen, und seine daraus resultierende Sammeltätigkeit jedoch bildet die Grundlage der modernen Sagaforschung, auch wenn diese in ihren Anfängen wenig auf Árnis kritische Sichtweise gibt. 3.3.2 Die Einheit der Sagazeit im kulturellen Gedächtnis Deutlich beeinflusst hat die dargestellte Haltung Árni Magnússons allerdings seinen Sekretär Jón Ólafsson frá Grunnavík (1705 - 1779), 52 der die Grettis saga als leere Dichtung und die Njáls saga als unwahrscheinlich und übertrieben beurteilt (Jón Helgason 1926: 247). Auch Jón hält wenig vom Inhalt der Íslendingasögur, formuliert aber klar ihre kulturelle Bedeutsamkeit: „ Þá lesnar eru sumar (já flestar) vorar sögur, verður conclusionen: Bændur flugust á. En patriotinn svarar: Hvað kunni að vera meira söguefni á slíku landi? “ (Sverrir Tómasson 2003: 326) 53 Dementsprechend erklärt er sich auch bereit, Bischof Halldór Brynjólfsson (1692 - 1752) in Hólar, dem vom dänischen König 1748 die erweiterte Erlaubnis erteilt worden war, auf Island isländische Sagawerke zu drucken, bei dessen Vorhaben zu unterstützen, Íslendingasögur samt Übersetzung in Druck zu geben. In seinen 1750 dazu angefertigten Ausführungen notiert er, 54 dass nur Sagas, die „ þarfar, gagnligar og uppbyggiligar öllum mönnum “ (Jón Helgason 1926: 246; allen Menschen nützlich, dienlich und erbaulich) seien, gedruckt werden sollen, außerdem betont er, dass der Preis der Bücher nicht zu hoch sein dürfe. Von Nutzen sind die Íslendingasögur seiner Ansicht nach sowohl für Gebildete, die in ihnen die Fürsorge Gottes und den regulären Gang menschlicher Angelegenheiten erkennen, als auch für einfache Menschen, die sich in erster Linie von ihnen unterhalten lassen. Lehrreich sind sie dabei in verschiedener 52 Zu Jón Ólafsson frá Grunnavík siehe Jón Helgason (1926). Dessen Darstellung beeinflusste Halldór Laxness wesentlich, dem Jón Ólafsson als Vorbild für die Figur des Jón Grindvicensis, Assistent von Arnas Arnæus, in Íslandsklukkan (dt. Islandglocke, 1951) diente, die Figur des Arnas Arnæaus wiederum beruht im Wesentlichen auf der von Jón Ólafsson verfassten Biographie Árni Magnússons (Guðrún Ása Grímsdóttir 2001). 53 Wenn einige (ja die meisten) unserer Sagas gelesen werden, lautet die Schlussfolgerung: Bauern rauften sich. Aber der Patriot antwortet: „ Was könnte in einem solchen Land mehr Stoff für Geschichte sein? “ 54 Das Schriftstück vom 15. Juli 1750 wird in der Bodleian Library in Oxford verwahrt und im Folgenden zitiert nach Jón Helgason (1926: 245 - 248) sowie Ólafur Pálmason (1967: XI). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 102 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="103"?> Hinsicht, wie Jón hervorhebt: Wenn nicht immer inhaltlich, dann aufgrund der Redewendungen und Archaismen wie Sprichwörter sowie den Informationen zu Gesetzen, Wirtschaft, Regierung und vielem anderen, die sie enthalten. Auch ihren normativen Charakter betont Jón, wenn er konstatiert „ En oftast fá dyggðirnar góða endalykt og góð laun, en vond verk ill afdrif “ (Ólafur Pálmason 1967: XI). 55 Die zunächst von ihm ausgewählten sieben Sagas sind mit Ausnahme der Þórðar saga hreðu klassische Vertreter. Eine Übersetzung hält er dabei jedoch nicht immer für angemessen, so im Falle der Egils saga „ sökum þursaskapar og ágirndar Egils “ oder der Vatnsd œ la saga „ vegna tröllskapar Hrolleifs og Ljótar “ (Jón Helgason 1926: 248). 56 In diesen Beurteilungen klingt an, was die königlich erlassene Richtlinie über den Hausfrieden aus dem Jahr 1746 thematisiert, in der neben anderen Dingen auch vor „ hégómlegum historíum eða so kölluðum sögum [ … ] sem kristnum sómir ekki um hönd að hafa og heilagur andi angrast við “ (Ólafur Pálmason 1967: X) gewarnt wird. 57 In dieselbe Richtung gehen auch die kurz zuvor erlassenenen Anweisungen für priesterliche Hausbesuche, wonach die Priester die Hausbewohner dazu anhalten sollen „ að vakta sig fyrir ónytsamlegum sögum og ólíklegum æventýrum og uppdiktum, sem í landinu hafa verið brúkanlegar “ (Ólafur Pálmason 1967: X). 58 Dass Jón, anders als von Bischof Halldór ursprünglich intendiert, auf Übersetzungen verzichten will, deutet darauf, dass ihm durchaus bewusst war, dass die Íslendingasögur zumindest in Teilen nicht mit diesen Verordnungen in Einklang zu bringen sind. Er selbst ist jedoch nicht der Ansicht, dass eine Lektüre der Íslendingasögur schädlich sein könnte, wie er in seinen Überlegungen zum angestrebten Druck klar zum Ausdruck bringt: „ [V]arla eður eigi hygg eg dæmi séu til, að þær komi mönnum til vondra verka, sem í þeim um getur, sem vera kunna svik, morð, lauslæti, gjörningar og þess háttar. “ 59 (Ólafur Pálmason 1967: XI) Das Vorhaben, Íslendingasögur zu drucken, wird jedoch zunächst nicht umgesetzt, da Bischof Halldór 1752 stirbt. Seinem Nachfolger Gísli Magnússon (1712 - 1779) stellt Jón Ólafsson seine Ausführungen zum Druckvorhaben aus der Erinnerung erneut zusammen. Die Sagas, die er nun favorisiert, unterscheiden sich allerdings deutlich von den früheren, mit Grettis saga, Kjalnesinga saga und Flóamanna saga handelt es sich bei der Hälfte der genannten Werke um ‚ postklassische ‘ (Ólafur Pálmason 1967: XII), die von Jón also weder von den übrigen Íslendingasögur abgegrenzt noch gegenüber diesen abgewertet werden. In der Zwischenzeit hatte allerdings der Bezirksrichter Björn Markússon die Druckpresse übernommen und verfügte bis 1765 über sie. Er besorgte schließlich die Herausgabe zweier Bände mit Íslendingasögur, die kurz nach dem Amtsantritt Gísli Magnússons 1756 mit einem Vorwort des Bischofs auch erschienen: Nockrer marg-frooder søgu-þætter Islendinga und Agiæter Fornmaña Søgur, bei denen es sich um die ersten eigenständig gedruckten Íslendingasögur überhaupt handelt. Die beiden Sammelbände beinhalten aus- 55 Aber zumeist führen Tugenden zu einem guten Abschluss und gutem Lohn, aber schlechte Taten zu einem üblen Schicksal. 56 aufgrund der heidnischen Gesinnung und Habsucht Egills/ wegen der Zauberei Hrolleifurs und Ljóturs 57 eitlen Historien oder sogenannten Sagas [ … ], die zur Hand zu haben sich für Christen nicht ziemt und die den Heiligen Geist verärgern 58 sich vorsehen vor Sagas, die keinen Nutzen bringen, und unwahrscheinlichen Abenteuern und Erdichtungen, die im Lande in Gebrauch sind 59 Ich glaube kaum oder nicht, dass es Beispiele gibt, dass sie Menschen zu bösen Taten gebracht haben, von denen in ihnen berichtet wird wie Betrug, Mord, Promiskuität, Zauber und Derartigem. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung 103 <?page no="104"?> schließlich Íslendingasögur und sind nicht an ein wissenschaftliches Publikum, sondern an die isländische Allgemeinheit gerichtet, der sie in den Vorworten (jeweils ohne Seitenzahlen) als erlaubter Zeitvertreib präsentiert werden, möglicherweise in Abgrenzung zu den sehr populären und weitaus phantastischeren Fornaldarsögur und Märchensagas. Bezeichnet werden die abgedruckten Texte als „ Íslendinga sögur “ , womit diese bereits in den Handschriften des 17. Jh.s für einzelne Vertreter der heutigen Gattung Íslendingasaga etablierte Bezeichnung also im 18. Jh. auch deren Druckgeschichte einleitet. Anhand der beiden Editionen ist allerdings nicht zu klären, inwieweit sie zeitgenössisch auch tatsächlich ausschließlich Íslendingasögur im heutigen Sinn bezeichnet, wie die Auswahl der Texte suggeriert. Der Druck erfolgt laut Vorwort des ersten Bandes „ eptir margra Osk og Beidne “ (NmsI; nach vielen Wünschen und Bitten), die dort bei Erfolg angekündigte Veröffentlichung eines weiteren Bandes lässt in Anbetracht des tatsächlichen Erscheinens des zweiten den Schluss zu, dass das Unterfangen, Íslendingasögur zu drucken, durchaus auf positive Resonanz stieß. Dem steht allerdings die Tatsache entgegen, dass sich die Bände nicht besonders gut verkauften (Ólafur Pálmason 1967: XIV). Finnbogi Guðmundsson (1982: 75) schreibt ihnen im Gegensatz zu den Ende des 17. Jh.s in Skálholt gedruckten Ausgaben mittelalterlicher Literatur dennoch eine große Beliebtheit in der isländischen Allgemeinheit zu, worauf auch handschriftliche Kopien der Drucke deuten. 60 Weniger positiv beurteilt Glauser (2011: 108) den Erfolg dieser ersten Ausgaben mit Íslendingasögur, da er die handschriftliche Transmission der Íslendingasögur und das Vorlesen aus Handschriften als wesentlich für deren frühneuzeitliche Rezeption erachtet, was durch die beiden Bände keine nachhaltige Veränderung erfährt. Auch nachdem nun eine größere Anzahl Íslendingasögur gedruckt vorliegt, bleibt die handschriftliche Überlieferung Hauptverbreitungsweg der Sagaliteratur auf Island. So sind auch diese ersten Druckausgaben Aktualisierungen der Erinnerungen an die isländischen Ursprünge im oral-written continuum. Die Unfestigkeit der Texte nehmen sie durchaus zur Kenntnis, problematisieren diese jedoch nicht, sondern akzeptieren sie als gegeben. 61 Weitere Erneuerungen der isländischen Ursprungserinnerungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit scheinen diese ersten Editionen von Íslendingasaga zudem in Form von neuen rímur-Zyklen motiviert zu haben (Sverrir Tómasson 2004: 60). Die von den abgedruckten Werken repräsentierte Sagazeit wird in den Vorworten explizit als bedeutungsvolle Vergangenheit der Isländer dargestellt, was neben dem Zweck der Bücher „ Til Leifelegrar Skemtunar Og Dægra-Stittingar Þessa Lands Iñbyggiurum “ (Untertitel NmsI) 62 ein wesentlicher Grund für die Veröffentlichung ist, wie vor allem das Vorwort des zweiten Bandes Agiæter Fornmanna Søgur in besonderem Maße betont. Der Druck der Íslendingasögur soll den Vorvätern, die ehrenvolle Taten vollbrachten, ebenso zur Ehre gereichen wie jenen, die das Lob dieser Taten den Nachfahren nahebringen, also neben den Sagaverfassern auch den Herausgebern. Den Zeitgenossen soll er „ til Nytsemdar og Froodleiks “ dienen und „ þeim 60 Sehr interessant ist beispielsweise JS 409 8vo, eine wenige Jahre nach Erscheinen von Agiæter Fornmaña Søgur gefertigte Kopie, die das Buch detailgetreu imitiert und lediglich die Preisangabe im Druck durch einen Vermerk, dass es sich um eine Abschrift handelt, sowie Datum und Namen des Kopisten ersetzt: https: / / handrit.is/ manuscript/ view/ is/ JS08-0409/ 3? iabr=on#page/ Fremra+saurbla% C3%B0+1v/ mode/ 2up [zuletzt abgerufen am 28.02.2023]. 61 So wird im Anhang auf eine andere Handschrift der Víglundar saga verwiesen, deren Strophen dann abgedruckt werden. 62 zur erlaubten Unterhaltung und zum Zeitvertreib der Einwohner dieses Landes Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 104 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="105"?> ruinerada Biskups-Stool her ꜳ Hoolum og hans Majest-H ꜳ a Interesse til møgulegrar Conservation “ . 63 An den ausgewählten Sagas fällt auf, dass mit Víglundar saga, Ǫ lkofra saga, Hávarðar saga, Þórðar saga hreðu, Grettis saga, Bárðar saga und Jökuls þáttr Búasonar im ersten Band sowie Kjalnesinga saga, Króka-Refs saga, Harðar saga, Gísla saga und Víga- Glúms saga im zweiten die ‚ postklassischen ‘ Vertreter bei weitem in der Überzahl sind, und dass auch diese oder gerade diese als gelehrte Schriften präsentiert werden, wie die von zeitgenössischen Gelehrten als fabula ‚ entlarvte ‘ Króka-Refs saga, die im Titel explizit als „ Samañsett af Froodum Fræde-Møñum “ (AFS: 35; verfasst von belesenen Gelehrten) präsentiert wird. Der Herausgeber Björn Markússon lässt im Vorwort einer ebenfalls 1756 in Hólar gedruckten Robinsonade erkennen, dass ihm die Unterscheidung zwischen erdichteten und wahren Erzählungen sehr wohl geläufig ist, erklärt sich jedoch für derartige Fragen nicht zuständig (Hughes 2016: 20 - 21). Die Vorworte der von ihm herausgegebenen Sammelbände mit Íslendingasögur machen deutlich, dass diese Frage für die kulturelle Sichtweise auf diese schlicht bedeutungslos ist. Als von den Taten der Vorväter kündend, werden offenkundig sämtliche Sagas verstanden, die wie dargestellt Raum-, Zeit- und Gruppenbezug teilen. Wie unerheblich eine Unterscheidung im Sinne des Konzepts der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga in diesem Zusammenhang ist, macht insbesondere ein den Sagas in Agiæter Fornmaña Søgur (ohne Seitenzahlen) vorangestelltes kappakvæði in skaldischem Versmaß deutlich, das vermutlich explizit für diesen Anlass komponiert wurde. Unter der Überschrift „ Nockur Lioodmæle, sem skulu siina Gøfugleik Ættar vorrar Islendinga, hvern Forn-Alldar Maña Æfi og Atgeørfiss Søgur oss fyri Siooner leida: Hvar til þær eru l ꜳ tnar ꜳ Prent uutg ꜳ nga “ , 64 wird die Vorzeit in den einleitenden Strophen zunächst als Goldenes Zeitalter der Helden und der Freiheit glorifiziert. So heißt es in Strophe 2: Reifda Frægd Hølda hafde Hrimland ꜳ fyrre Tiimum, Og Lysta-Meñi mestu Marger sem gløddu Varga: Den Ruhm freier Bauern hatte Island in früheren Zeiten und mit besonders herausragenden Männern viele, die die Wölfe erfreuten. Das anschließende aus zehn Strophen bestehende kappatal präsentiert verschiedene aus den Íslendingasögur bekannte Helden und mit ihnen verbundene Taten oder Fähigkeiten. Die abschließenden vier Strophen betonen die Notwendigkeit und Bedeutung dessen, dass die Sagas nun gedruckt werden, und stilisieren die sagazeitlichen Isländer sowohl als Vorväter als auch als Vorbilder, verstehen die Íslendingasögur also klar als kulturelle Texte mit formativer und normativer Verbindlichkeit. Auffällig ist, dass nicht alle Protagonisten der ausgewählten Werke Erwähnung finden, im Gegenzug aber auch einige Strophen auf Sagas verweisen, die nicht unter den abgedruckten zu finden sind, namentlich Njáls saga 63 zu Nutzen und Wissen/ dem ruinierten Bischofssitz hier in Hólar und seiner hohen Majestät Interesse zur möglichen Konservation 64 Einige Gedichte, die das Ansehen unseres isländischen Geschlechts zeigen sollen, das uns die Leben der Männer in früherer Zeit und die Geschichten ihrer Fähigkeiten vor Augen führen: Weshalb sie im Druck herausgegeben werden Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung 105 <?page no="106"?> und Droplaugarsona saga bzw. Fljótsdæla saga. Dabei deutet das kappatal auf eine besondere Beliebtheit der Njáls saga, sind ihr doch insgesamt vier, darunter Gunnarr als einzigem der genannten kappar zwei Strophen gewidmet. Zur Seite gestellt werden ihr jedoch auch ‚ postklassische ‘ Sagas wie Kjalnesinga saga (Text und Strophe 11), Þórðar saga hreðu (Text und Strophe 9), Víglundar saga (Text) oder Bárðar saga (Text). Die Zeilen „ Añ ꜳ lir elldstu af Møñum / Endtust ad g ꜳ nga ꜳ Prentid “ 65 in Strophe 15 beziehen sich eindeutig auch auf sie. Auch dies zeigt deutlich, dass sämtliche Íslendingasögur als zusammengehörig verstanden werden und die Sagazeit das einigende Moment ist, ungeachtet, ob sie durch frühe, klassische oder ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur repräsentiert wird. Das Selbstverständnis dieser ersten Editionen von Íslendingasögur ist klar, alte Traditionen im nun auch auf Island nicht mehr ganz so neuen Medium des Drucks fortzuführen, wie nicht nur die skaldische Form der den Sagas im zweiten Band vorausgehenden Dichtung und die Deutung der Íslendingasögur in den Einleitungs- und Schlussstrophen dieser verdeutlicht, sondern auch im Detail erkennbar ist. Mit „ Lundur St ꜳ ls Heims “ wird abschließend in Strophe 16 auch der Drucker mit einer Kenning in der ältesten Symbolsprache des isländischen kulturellen Gedächtnisses codiert. 66 Nach einer Lobpreisung der Vorzüge der Drucklegung schließt die Strophensammlung mit den Worten „ Hlackande Island þacki “ (AFS: Island danke jubelnd). Die von Bischof Gísli Magnússon in einem Brief an den Priester Þorsteinn Pétursson á Staðarbakka geäußerte Hoffnung, die gedruckten Sagas „ finni bifald helzt hjá orbe literato, hvörjum især er af hans majestatæ injungerað studium historiæ patriæ “ , 67 geht jedoch nicht in Erfüllung, wie verschiedene kritische Stimmen deutlich machen. So kritisiert Björn Halldórsson, Priester in Sauðlauksdalur, in einem Brief, dass in Hólar alte Sagas herausgegeben würden, „ á meðal þeirra nokkrar hneykslislegar ljótar lygaog trollasögur “ . 68 Eine ähnliche Sichtweise offenbart sein Amtsbruder Hjörleifur Þórðarson á Valþjófsstöðum, der in einem Epigramm mit „ lygar, skandskriftir, last og níð “ heftige Worte der Ablehnung für die Druckwerke aus Hólar findet (alle Zitate nach Ólafur Pálmason 1967: XV). 69 3.3.3 Aufklärung und kulturelles Gedächtnis Diese ersten Editionen sind klar Ausdruck der isländisch-kulturellen Sicht auf die Íslendingasögur, wenig später hält jedoch im Zuge der Aufklärung auch die europäisch-wissenschaftliche Sichtweise zumindest in Ansätzen Eingang in die Erinnerungskultur der Isländer. Nicht die kritische Haltung Árni Magnússons, wohl aber die mit Arngrímur Jónsson beginnende moderate Kritik, die die Íslendingasögur vornehmlich als Geschichtswerke versteht, verbreitet sich nun auch im isländisch-kulturellen Zusammenhang. 70 In 65 die ältesten Annalen der Menschen glückten in Druck zu gehen 66 Er ist entsprechend der ‚ Baum ‘ , was eine häufige Bezeichnung für ‚ Mann ‘ in einer Kenning ist, ‚ der Welt des Stahls ‘ . 67 mögen besonders im Kreis der Gebildeten, dem von seiner Majestät im Besonderen das Studium der Geschichte des Vaterlands aufgetragen ist, Beifall finden 68 unter ihnen einige anstößige häßliche Lügen- und Trollsagas 69 Lügen, Schandschriften, Laster und Schmähungen 70 Bedeutsam ist dabei nicht zuletzt das spezifische Geschichtsverständnis der Isländer, auch der Gebildeteren, die in Kontakt mit der europäisch-wissenschaftlichen Rezeption der Sagaliteratur standen. So konstatiert Hughes (2016: 10), dass im 18. Jh. anders als in England, „ there can hardly be Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 106 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="107"?> seinem 1772 postum erschienenen Reisebericht Reise igiennem Island bezeichnet Eggert Ólafsson (1772: 258) mit der Bárðar saga zum ersten Mal in einem auf Island bezogenen, volkssprachlichen (allerdings in dänischer Sprache verfassten) Werk eine Íslendingasaga in Abgrenzung von den übrigen als „ opdigted “ (erdichtet). 71 Diesbezüglich grenzt er sich deutlich von Arngrímur Jónsson ab, den er ansonsten als Autorität behandelt (Schaer 2007: 174). Der Anlage seines Werks entsprechend klassifiziert er die Íslendingasögur nicht, sondern bezieht sich auf sie, wo sie in den Kontext seiner Landesbeschreibung passen. Dementsprechend werden auch nicht alle Íslendingasögur erwähnt. Unter den erwähnten ist die Bárðar saga jedoch die einzige, die er als erdichtet bezeichnet. Die Gründe dafür sind für ihn ihre Widersprüche zum rational Möglichen in Kombination mit der fehlenden Erwähnung der genannten Personen in als glaubwürdig eingestuften Sagas sowie Widersprüchen zu diesen (Eggert Ólafsson 1772: 76, 258). Etliche heute als ‚ postklassisch ‘ klassifizierten Vertreter versteht er jedoch durchaus als glaubwürdige Geschichtswerke, die allenfalls fabelartige Züge tragen. So nimmt er unterschiedslos zu heute als früh oder klassisch klassifizierten Íslendingasögur auch Bezug auf beispielsweise Finnboga saga und Harðar saga, betont allerdings auch die besondere Glaubwürdigkeit von Laxd œ la saga, Eyrbyggja saga, Bjarnar saga Hítd œ lakappa und Egils saga, die er diesbezüglich wie die Landnámabók einstuft (223). Im Falle von Bjarnar saga Hítd œ lakappa und Egils saga macht er zudem deutlich, dass die Existenz von alten handschriftlichen Überlieferungen ein wichtiges Kriterium für diese Beurteilung darstellt (89, 236). Die Zusammengehörigkeit von Landnámabók und den Íslendingasögur im Sinne einer kulturellen Textgattung wird bei Eggert zudem nicht zuletzt dadurch deutlich, dass erstere dem Titel des ersten Drucks von 1688 folgend als Landnámasaga im Text erscheint. Überhaupt zeigt sich die Autorität der Íslendingasögur als kulturelle Texte in Eggerts Reise igiennem Island eindeutig, was ihn jedoch nicht davon abhält, sie differenziert und kritisch zu betrachten (dazu Schaer 2007: 173 - 175). So gibt er beispielsweise den Bericht in der Egils saga, dass Skalla-Grímr den noch heute zu besichtigenden Stein der Schmiede alleine schwimmend gehoben haben soll, ausführlich wieder, bezeichnet ihn jedoch als „ utroeligt “ (Eggert Ólafsson 1772: 254; unglaubhaft). Das konkrete Landschaftsmerkmal, auf dem wie in so vielen anderen Fällen die in den Íslendingasögur konstruierte Vergangenheit und die damit verbundene isländische Identität gründet, erfährt bei ihm eine Umdeutung: „ Nicht der Stein als solcher ist wichtig, sondern die Schmiede, die er kennzeichnet und die ihrerseits die direkte Verbindung in die Vergangenheit darstellt. “ (Schaer 2007: 172) Im Falle des in der Grettis saga zu findenden Mythos vom Þórisdalur verzichtet er auf die Widerlegung, da es seine Beweislage nicht zulässt (Schaer 2007: 130 - 131). Die übertriebene Darstellung der Íslendingasögur generell erklärt er damit, dass man auf Island wie anderorts „ har havt Lyst til at indbilde Eftertiiden, at de Mennesker, der levede i gamle Dage, havde været langt større og stærkere end nu omstunder “ (Eggert Ólafsson 1772: 616). 72 said to have been a great deal of reflection in Icelandic intellectual circles at the time over what ‚ history ‘ actually was. “ 71 Eine ausführliche Analyse des Islandbildes in Eggert Ólafssons Reise igiennem Island und seiner Bedeutung für die Konstruktion isländischer Identität legte Karin Schaer (2007) vor, deren Ausführungen dem Folgenden zugrundeliegen. 72 geneigt war, der Nachwelt vorzumachen, dass die Menschen, die in den früheren Zeiten lebten, viel größer und stärker waren als heute Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung 107 <?page no="108"?> Den Íslendingasögur kommt so auch bei Eggert Ólafsson klar eine bedeutende identitätsstiftende Wirkung zu. Der von der mittelalterlichen Sagaliteratur konstruierte fundierende Mythos der Isländer ist auch in seiner Islanddarstellung Grundlage der isländischen Identität, die in dieser zudem wie in den Íslendingasögur eng mit der isländischen Landschaft verbunden wird. 73 Wie ab dem ausgehenden 16. Jh. generell, gründet sie zudem auf der isländischen Kultur und ihren Traditionen sowie der Sprache (Schaer 2007: 184 - 187). Seine Reise igiennem Island zeigt keine Glorifizierung der Landnahme- und Sagazeit, aber doch eine kontrapräsentische Sichtweise, die die Vergangenheit als eindeutig bessere Zeit versteht (174) und die isländische Identität aufgrund des zunehmenden dänischen Einflusses, gerade auch auf die Sprache, und den immer weniger gepflegten Traditionen wie dem Sagavortrag, als bedroht erachtet. Mit seinem bald nach Erscheinen auch in das Deutsche, Englische und Französische übersetzten Reisebericht erneuert Eggert nicht nur die traditionelle Verbindung von isländischer Landschaft und Íslendingasögur, sondern vermittelt die Bedeutung und Autorität letzterer auch einem nichtisländischen Publikum, nicht zuletzt indem er außerhalb Islands kursierende Islandmythen mit Verweis auf diese entkräftet (151). Mit der erstmals in dieser Deutlichkeit vorgenommenen Unterscheidung der Íslendingasögur als „ troeværdig “ (glaubwürdig) einerseits und „ opdigted “ (erdichtet) andererseits, die als Unterscheidungskriterien zum einen rational Mögliches, zum anderen den Vergleich mit als glaubwürdig eingestuften Sagas heranzieht, formuliert er zugleich eine die Sagaforschung im Verlaufe des 19. Jh.s wesentlich prägende Unterscheidung. 74 In den auf Latein veröffentlichten Werken isländischer Gelehrter des ausgehenden 18. Jh.s schlägt sich diese kritische Sichtweise auf die Íslendingasögur jedoch nicht nieder. Jón Eiríksson (1728 - 1787) beruft sich in seiner langen Abhandlung „ De Berserkis et fuore berserkico “ , die 1773 als Anhang zu der in Kopenhagen erschienenen Ausgabe der Kristni saga von Bischof Hannes Finnsson (1739 - 1796) erscheint, neben den von zeitgenössischen Kritikern als glaubwürdig eingestuften Íslendingasögur wie Egils saga und Eyrbyggja saga auch auf die Kjalnesinga saga (Roling 2015: 228), die bereits Torfæus als erdichtet bezeichnet. Der isländische Bischof Finnur Jónsson (1704 - 1789) verwendet in seiner vierbändigen, auf Latein verfassten Kirchengeschichte Islands Historia ecclesiastica Islandiæ (1772 - 1778) auch die Íslendingasögur als Quellen und schließt dabei auch diejenigen nicht aus, die zeitgenössisch in aufklärerischen Kreisen als erdichtet angesehen werden. In der præfatio in Band IV (1778: ohne Seitenzahlen) listet er seine Quellen für die einzelnen behandelten Zeitabschnitte auf und verweist für die älteste Periode insbesondere auf 73 Den Eindruck einer Gesamtdarstellung Islands vermittelt der Reisebericht nicht zuletzt dadurch, dass er mehrere Reisen bündelt und daraus eine Reise konstruiert, die als Reise durch die isländische Geographie, Geschichte und Kultur den Eindruck eines physisch und ideell bereisten großen Ganzen vermittelt. 74 Schaer (2007: 131) bezeichnet diese Kategorisierung als „ eine rein subjektive, die sich auf keine nachvollziehbaren, objektiven Merkmale stützt. “ Wenngleich der Beurteilung von Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit unvermeidbar immer auch Subjektivität innewohnt, erweist sich Eggert bei der Anwendung dieser Kriterien jedoch durchaus als Wissenschaftler auf der Höhe seiner Zeit: Seiner Beurteilung der Quellen liegen mit der Hinwendung zum Rationalen und den Naturwissenschaften die wesentlichen Elemente der Aufklärung zugrunde, mit der Anwendung der Unterscheidung von Historie und Fiktion bezieht er sich zudem auf die zu seiner Zeit bahnbrechende Neuerung im historischen Diskurs. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 108 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="109"?> Landnámabók, Kristni saga, Íslendingabók, Ólafs saga Tryggvasonar, die isländische Übersetzung der Gronlandia von Arngrímur Jónsson sowie Inhalte „ [e]x reliqvis Islandorum historiis antiqvis “ . 75 Unter den letzteren finden sich auch die Sagas von „ Buii Esiæ alumni “ (Kjalnesinga saga), „ Bardi Snæfellensium deastri “ (Bárðar saga), „ Refi versuti “ (Króka-Refs saga) sowie „ Finnbogii robusti “ (Finnboga saga). Auch Hálfdan Einarsson (1732 - 1785), Rektor in Hólar, behandelt in sectio III seiner 1777 in Kopenhagen erschienenen und 1786 neu aufgelegten Sciagraphia historiæ literariæ Islandicæ sämtliche Sagas als geschichtliche Werke, unterschieden in fremde (Riddarasögur) und einheimische Stoffe und klassifiziert sie folglich nach Handlungsorten. Während er ersteren mit Verweis auf Torfæus zugesteht, auch Fabeln in sich aufgenommen zu haben - „ partim, & qvidem plurimæ “ (Hálfdan Einarsson 1777: 100; zum Teil und zwar die meisten) - behandelt er die Skandinavien betreffenden Werke ohne Einschränkung als Geschichtswerke. Dementsprechend gruppiert er in § 4 Historias Skandinaviæ, Abschnitt IV Islandiam & Gronlandiam nach den allgemeinen Werken Íslendingabók, Landnámabók und Kristni saga unter α , unter β unterschiedslos sämtliche Íslendingasögur zusammen mit Biskupasögur, Samtíðarsögur und einigen þættir (119 - 123). Die unterschiedslose Behandlung aller Íslendingasögur, die in diesen gelehrten Werken begegnet, ist auch in der Rezeption der Íslendingasögur in der Dichtung weiter zu beobachten. Die rímur-Dichter des 18. Jh.s machen ebenfalls keinen Unterschied zwischen als erdichtet geltenden Sagas und den übrigen, wie Eggert Ólafsson (1772: 351) in seiner Reise igiennem Island bemängelt: „ Skade kun, at disse Folk tage i Flæng, og oversætte liges ꜳ gjærne opdigtede og forargelige Historier, som de sande og ægte “ . 76 Wird die isländische Frühzeit poetisch in den Fokus genommen, nehmen die ‚ erdichteten ‘ Sagaprotagonisten wie in der Textsammlung der beiden Editionen von 1756 und dem dazugehörigen kappakvæði weiter ihren angestammten Platz neben den historischen ein. Wie diese zeigt die Rezeption der Íslendingasögur in der Dichtung andernorts auch ohne diesen Fokus auf männliches Heldentum ein Verständnis dieser als Ursprungserzählungen, das nicht zwischen historischen und erdichteten Werken unterscheidet, wie beispielsweise in dem im späten 18. Jh. entstandenen vikivakakvæði Sprundahrós, das sowohl Jón Jónsson Kvíabekkur (1739 - 1785) als auch Ingjaldur Jónsson á Múla (1739 - 1832) zugeschrieben wird. Sprundahrós preist, wie der Titel zum Ausdruck bringt, Frauen und führt in drei Abschnitten zahlreiche Beispiele für besonders herausragende weibliche Persönlichkeiten an. 77 Nach einer Aufzählung biblischer Frauen folgen im zweiten Abschnitt Monarchinnen und im dritten schließlich Frauen aus der Sagazeit, darunter neben Personal der klassischen Íslendingasögur wie Auðr djúpúðga und Guðrún Ósvífrsdóttir die ‚ erdichtete ‘ Ketilríðr, Protagonistin der ‚ postklassischen ‘ Víglundar saga (van Deusen 2017: 201). 75 aus den übrigen alten Geschichtswerken Islands 76 Es ist nur schade, dass diese Leute wahllos ebenso gern fiktive und haarsträubende Geschichten übersetzen wie die wahren und echten 77 Natalie M. van Deusen (2017: 210), die das in nur drei Handschriften überlieferte Gedicht erstmalig edierte, verweist auf die Nähe von Sprundahrós zu den kappakvæði, wobei im Unterschied zu diesen nicht Männer für Tapferkeit und heldenhafte Taten gerühmt werden, sondern Frauen für christliches Verhalten entsprechend den Idealen in Luthers kleinem Katechismus, „ which states that wives should be obedient and submissive, and widows pious “ . Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung 109 <?page no="110"?> 3.3.4 Die Íslendingasögur in der Wissenschaft des ausgehenden 18. Jh.s Anders als die deutlich in der Tradition der isländisch-kulturellen Sichtweise stehenden Beurteilungen sämtlicher Íslendingasögur als Geschichtswerke verbreitet sich im europäisch-wissenschaftlichen Diskurs zeitgenössisch auch die von Árni Magnússon vertretene kritische Haltung, da er diese nicht veröffentlichte, jedoch ohne Anknüpfung an ihn. So kommt der deutsche Historiker August Ludwig von Schlözer (1773: 14) hinsichtlich der Sagaliteratur zum Schluss, dass „ die ganze Isländische Litteratur einer scharfen Revision zu bedürfen “ scheint. Ausgehend von Torfæus ’ kritischem Umgang mit einzelnen Íslendingasögur, den er wie oben angesprochen als führend auf dem Gebiet der Sagaforschung ansieht, formuliert er in seinem 1773 in Isländische Litteratur und Geschichte gedruckten „ Vorbericht von der isländischen Litteratur überhaupt “ eine weit tiefergehende Kritik an der Behandlung der Sagas als historische Überlieferungen. Unverständlich ist ihm, dass einige der Íslendingasögur von Isländern als wahr angesehen wurden: Arngrim hielt die Bardar Saga, einen bloßen Roman, für eine wahre Geschichte (Torfæus, p. 22 [= Series Dynastarum et Regum Daniæ]). Eben so gieng es dem Magnus Olai mit der Kroka refs S. (id. p. 25). Björn von Skardza setzte den Stiornu-Odde, einen armen Tagelöner, dem einst wunderliches Zeug träumte, und dessen Traum ein andrer niederschrieb, unter die Isländischen Annalisten (id. p. 48) u. s. w. (von Schlözer 1773: 13) Im Zuge der sich um 1800 vollziehenden Umstellung des historischen Diskurses, der nun nicht mehr wie im Mittelalter und der frühen Neuzeit zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheidet, sondern zwischen Historie und Fiktion (dazu White 1986: 146 - 149), will von Schlözer die Íslendingasögur als literarische, nicht als historische Werke verstanden wissen. Die isländische Sagaliteratur charakterisiert er als „ neue Geburt “ , die aus einer Vermischung der alten norwegischen mit der deutschen, französischen und englischen Literatur entstand, welche Isländer auf ihren Reisen kennenlernten (von Schlözer 1773: 6). Diese neue Literatur zeichnet sich vor allem durch die Vorliebe für Geschichte aus „ nicht blos vaterländische und Skandinavische, sondern auch von andern Ländern, alte und neue, wahre und fabelhafte, heilige und Profan-Historie “ (7). Zu dieser ‚ neuen Literatur ‘ scheint von Schlözer die gesamte Sagaliteratur, auch die Samtíðarsögur, zu zählen und diese von einer älteren Geschichtsschreibung sowie der Annalenschreibung abzugrenzen, wie seine Feststellung nahelegt, die Isländer seien ein halbes Jahrhundert nach der Annahme des Christentums Gelehrte geworden und seit 1117 - also dem Jahr, in dem die Darstellung der der eigentlichen Sturlunga saga vorausgehenden Þorgils saga ok Hafliða einsetzt - Schriftsteller (3). In jedem Fall beinhaltet von Schlözers Beurteilung der Íslendingasögur keine Unterscheidung dieser in mehr oder minder zuverlässig, sondern verweist sie sämtlich in das Reich der Fiktion. Die bereits von Árni Magnússon zum Ausdruck gebrachte Meinung, dass es sich bei den Íslendingasögur generell nicht um Geschichtswerke handelt, wird damit nun auch im europäischen wissenschaftlichen Diskurs ausführlich dargelegt. Neuartig an von Schlözers Darstellung ist, dass er sie nicht als fabulae, sondern als Literatur bezeichnet. Seine kritische Beurteilung der Íslendingasögur, die diesen den Status von Geschichtswerken ausnahmslos abspricht, ist zeitgenössisch die extremste in wissenschaftlichen Veröffentlichungen vertretene Position. Paradigmatisch für das andere Extrem, das wie schon in den von Isländern verfassten lateinischsprachigen Werken des ausgehenden 18. Jh.s sämtliche Íslendingasögur als geschichtlich behandelt Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 110 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="111"?> und allenfalls ungeschichtliche fabelhafte Züge einzelner Werke konstatiert, ist die Beurteilung der Íslendingasögur durch Peter Frederik Suhm (1728 - 1798) im 1781 erschienenen vierten Band seiner Critisk Historie af Danmark (Suhm 1781: XXXVII - XXXVIII). Für Suhm ist die Bárðar saga „ for det meste Fabel og Eventyr “ (hauptsächlich Fabel und Abenteuer), lediglich der Jökuls þáttr Búasonar ist „ rent Fabel “ (reine Fabel), die übrigen Íslendingasögur, darunter auch die in Torfæus ‘ Series als erdichtet bezeichneten, versteht er jedoch durchaus als Geschichtsquellen. Die Króka-Refs saga versieht er zwar mit der Einschränkung, sie sei „ temmelig fabelagtig “ (ziemlich fabelartig), insgesamt hält er sie jedoch für „ ikke ubrugelig til den danske og norske Historie i 10 og 11 Sæculo “ . 78 Die Kjalnesinga saga ist seiner Ansicht nach „ ikke at foragte, og brugelig til Islands og Irlands Historie i 9, 10 og 11 Sæculo, hvorvel ingen Vers forekommer i den “ und die Víglundar saga „ vigtig til Sæderne, fuld af vers, og ikke unyttig til den norske Historie af det 9 og 10 Sæculo “ . 79 Wenngleich die Verbreitung von Suhms unkritischer Haltung durch die Bekanntheit und Beliebtheit seiner Critisk Historie af Danmark zeitgenössisch nicht zu unterschätzen ist (siehe dazu s. v. „ Suhm, Peter Frederik “ in DBL 12: 565), handelt es sich dabei allerdings um ein Auslaufmodell der Wissenschaft. 3.3.5 Weiterführung und Kritik im kulturellen Erinnern Wie die europäisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Íslendingasögur zeigt auch die isländisch-kulturelle Wahrnehmung im 18. Jh. höchst unterschiedliche Positionen. Einerseits entstehen weiter neue Íslendingasögur, andererseits tritt die Phase der Auslegung in ein neues Stadium, das durch eine kritische Sichtweise auf die Íslendingasögur als Darstellungen der isländischen Ursprünge geprägt ist. Die durch Eggert Ólafssons Reise igiennem Island verbreitete Abgrenzung einzelner Vertreter als erdichtet gewinnt Ende des 18. Jh.s zunehmend an Bedeutung und hält auch Eingang in die handschriftliche Sagaüberlieferung. So widmet sich sýslumaður Halldór Jakobsson (1734 - 1810) im formáli einer Handschrift aus dem Jahr 1789 mit sieben Fornaldarsögur der Frage, inwieweit die gesammelten Sagas als verlässliche Geschichtsquellen zu sehen sind, und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die Íslendingasögur zu sprechen. Drei Arten von Sagas sind nach Halldór zu unterscheiden: erdichtete Sagas, so sehr mit Fabeln vermischte Sagas, dass nicht zwischen wahr und unwahr unterschieden werden kann, und schließlich die zum Großteil wahren Sagas (Hughes 2016: 28 - 29). Diese Dreiteilung führt er zurück auf „ [v]orir Ellstu og bestu sògu skrifarar “ (28; unsere ältesten und besten Geschichtsschreiber) und erweckt dadurch den Eindruck einer alten Tradition, die so wie gezeigt zu seiner Zeit nicht existiert, sondern sich weniger als ein Jahrhundert zuvor erstmals in Ansätzen zu erkennen gibt. Halldór (30) verleiht mit dieser Anknüpfung seinen Ausführungen in der Tradition seiner Vorgänger Autorität, nennt aber wohlweislich anders als im weiteren Verlauf, wo der „ [s]ä ha ̋ lærdi Sagna skrifari Thormodur Torfason “ (der so hochgebildete Geschichtsschreiber Þormóður Torfason) erwähnt sowie auf „ þann Margfroda Profess ő r Arna saluga Magnusson “ (den hochgelehrten Professor Árni Magnússon selig) verwiesen wird, keine 78 nicht unbrauchbar für die dänische und norwegische Geschichte im 10. und 11. Jh. 79 nicht zu verachten und brauchbar für Islands und Irlands Geschichte im 9., 10. und 11. Jh., auch wenn sie keine Verse enthält/ wichtig für die Sitten, voller Verse und nicht unnütz für die norwegische Geschichte des 9. und 10. Jh.s Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.3 Die späte Frühneuzeit: Die Íslendingasögur zwischen Tradition und Neubewertung 111 <?page no="112"?> Namen. Tatsächlich ist Halldórs Gliederung der Sagaliteratur eine Modifikation der von Torfæus vorgenommenen Einteilung, die sich deutlich von Árnis kritischer Haltung abhebt. Aus den vier Kategorien von Sagas, die in Series diskutiert werden, werden bei Halldór drei, nach den erdichteten Sagas in der ersten Gattung folgen in der zweiten diejenigen Sagas, die eine Mischung von Dichtung und Wahrheit darstellen. Die dritte schließlich umfasst die geschichtlichen Sagas, in ihr verschmelzen Torfæus ’ historiæ authenticæ mit den von diesem als historiæ mit fabelhaftem Einschlag klassifizierten Werken zu einer Subgattung von Sagas, die von Halldór sämtlich als Geschichtswerke eingestuft werden. Als Beispiele nennt Halldór (31) neben Sturlunga saga sowie Heimskringla u. a. Landnámabók, Njáls saga, Vatnsd œ la saga, Laxd œ la saga, Svarfd œ la saga, Ljósvetninga saga und Eyrbyggja saga - „ allar synastt þær truannligar þo ad i þeim finast hier og hvar þreifannligar ijkiur, ï sumum meiri, sumum minne “ . 80 Deutlich von diesen grenzt Halldór (Hughes 2016: 28) jedoch diejenigen Sagas ab, die er als Fiktion versteht, „ einunges til gamans og skemtunar [ … ] of lærdum og skarpvitrumm monnum til Dæg[ra] stittïngar uppdictadar “ . 81 In diese Kategorie fallen neben aus anderen Sprachen übersetzten Werken auch einige Íslendingasögur, spät- und nachmittelalterliche, „ of einhvòriumm hugvitzsòmum Islendïng uppdiktud eins og Ärmanns, Bärdar Snæfells äss, Viglundar og fleiri soddann “ . 82 Erstgenannte ist zu Halldórs Zeit in zwei deutlich verschiedenen Versionen bekannt - neben der erwähnten Version von Jón Þorláksson ist auch eine Ármanns saga yngri oder Ármanns saga og Dalmanns überliefert, eine wohl von Halldór persönlich verfasste Neufassung. Möglicherweise schwingt neben dem impliziten Eigenlob auch Belustigung darüber mit, dass diese Werke tatsächlich geglaubt wurden, wie es die Mehrheit der Isländer weiter tat, die Distanz Halldórs geht jedoch nicht so weit, die Verfasserschaft dieser Ármanns saga für sich zu reklamieren. Da Halldór klar auf den fiktiven Charakter dieser Erzählungen verweist, unterscheiden sich die hinter der jüngeren Ármanns saga stehenden Interessen auch von denen des Produzenten einer weiteren Íslendingasaga, der Þjóstólfs saga hamramma, wenngleich die Vorgehensweisen bei der Produktion der Texte nicht wesentlich differieren. Wie Peter A. Jorgensen (1979), der den Spuren dieses in Guðni Jónssons Edition in Íslendingasagnaútgáfan enthaltenen, jedoch wenig bekannten Werks nachging, zeigen kann, handelt es sich dabei um eine gezielte Fälschung des isländischen Studenten Þorleifur Arason Adeldahl (um 1749 - ? ) in Kopenhagen, der damit den dänischen Historiker und Bibliothekar Bernhard Møllmann (1702 - 1778) hereinlegen wollte. Aus der traditionellen isländisch-kulturellen Perspektive sind die nachmittelalterlich entstandenen Íslendingasögur dagegen weniger Fälschungen als vielmehr Fortschreibungen der Ursprungserinnerungen, die diese im oral-written continuum auf der Basis von Reoralisierungen der Íslendingasögur, an die isländische Landschaft oder bekannte Sagapersönlichkeiten geknüpften mündlich überlieferten Volkssagen und auch rímur aktualisieren. Auch wenn die nachmittelalterlichen Íslendingasögur nicht wie ihre mittelalterlichen Vorgänger zur allgemein anerkannten historischen Ver- 80 sie alle scheinen glaubwürdig, auch wenn sich in ihnen hier und da greifbare Übertreibungen finden, in manchen mehr, in manchen weniger 81 einzig zum Vergnügen und zur Unterhaltung von gelehrten und klugen Menschen zum Zeitvertreib erdichtet 82 von einem erfinderischen Isländer erdichtet wie Ármanns saga, Bárðar saga, Víglundar saga und weitere solche Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 112 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="113"?> gangenheit werden, tragen sie zur Formulierung des isländischen Selbstbildes bei, indem sie die heroischen Ursprünge der Isländer erneuern, die isländische Landschaft mit Bedeutung aufladen und teilweise mit der Darstellung von in der Natur angesiedelten nicht-menschlichen Lebewesen einen für dieses bis heute wesentlichen Aspekt gestalten. Dementsprechend gleicht ihre Überlieferung und Rezeption im isländisch-kulturellen Kontext auch der ihrer mittelalterlichen Vorbilder: Trotz der teilweise zu findenden Zuschreibungen werden auch sie in der Regel anonym überliefert, nicht selten in handschriftlichen Kontexten mit mittelalterlichen Íslendingasögur. Die jüngere Ármanns saga ist gar zusammen mit der Egils saga die einzige 1772 in Hrappsey gedruckte Íslendingasaga. So unterschiedlich die beiden Rezeptionsweisen der isländischen Ursprünge mit Weiterführung der Ursprungszeit einerseits und kritischer Betrachtung von Darstellungen der Ursprungszeit andererseits auch sind, die in der Person Halldórs zusammenkommen, sind sie doch beide im Rezeptionsrahmen kultureller Texte zu verorten. Das Aufkommen der Unterscheidung von Historie und Fiktion und das damit verbundene Verständnis von Texten der Vergangenheit als geschichtliche Quellen dringt in die Rezeption der Íslendingasögur als kulturelle Texte ein, evoziert damit jedoch nicht deren Rezeption als literarische Texte. Nicht ästhetische Distanz motiviert bei Eggert Ólafsson wie auch Halldór Jakobsson die Abgrenzung der als fiktiv bezeichneten Íslendingasögur, sondern vielmehr eine durch die Aufklärung inspirierte Neubewertung des Wahrheitsanspruchs. Dieser wird nicht mehr allein durch die Form der Íslendingasögur und ihre Anbindung an die isländische Landschaft bestätigt, sondern muss nun auch durch eine Bewertung der Texte affirmiert werden, die Alter und Überlieferung berücksichtigt und zudem eine Übereinstimmung der von ihnen berichteten Informationen untereinander sowie die Absenz von offenkundig im Widerspruch zu rationalem Denken stehenden Inhalten erfordert. Etliche ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur, die heute als phantastisch gelten, erfüllen diesen Wahrheitsanspruch durchaus und werden dementsprechend als Geschichtswerke rezipiert. Andere dagegen werden anhand dieser Kriterien in das Reich der Phantasie verwiesen. Während diese moderat kritische Haltung den Íslendingasögur gegenüber im europäisch-wissenschaftlichen Diskurs richtungsweisend wird, beeinflusst sie die isländisch-kulturelle Sichtweise auf die Íslendingasögur wenig. Diese Differenz zwischen den beiden unterschiedlichen Rezeptionsweisen der Íslendingasaga zeigt sich auch im weiteren Verlauf der Gedächtniszeit deutlich. 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 3.4.1 Sagaforschung im 19. Jh. und die Dichotomie von Historie und Fiktion Mit Beginn des 19. Jh.s tritt die Auseinandersetzung mit den Íslendingasögur dann in ein neues Stadium und die moderne Sagaforschung nimmt ihren Anfang. Als ihr Startschuss darf die in den Jahren 1817 - 1820 in Kopenhagen erschienene dreibändige Sagabibliothek med Anmærkninger og indledende Afhandlinger des dänischen Historikers und späteren Bischofs von Seeland Peter Erasmus Müller (1776 - 1834) gesehen werden. Mit ihr wird zum ersten Mal eine Gesamtdarstellung sämtlicher Sagas vorgelegt, in der die einzelnen Werke inhaltlich zusammengefasst, datiert und kommentiert werden, was bereits von Zeitgenossen wie Wilhelm Grimm (1786 - 1859) (1820: 7) als Beginn einer neuen Epoche wahr- Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 113 <?page no="114"?> genommen wurde. Mit Band 1 der Sagabibliothek - in dem Müller heute den Gattungen Íslendingasögur, Samtíðarsögur und Biskupasögur zugerechnete Sagas, etliche þættir sowie Íslendingabók, Landnámabók und die Sagas mit kolonialistischer Perspektive behandelt - gewinnt die konservative, von der isländisch-kulturellen Perspektive beeinflusste Behandlung der Íslendingasögur endgültig die Oberhand im wissenschaftlichen Umfeld gegenüber der von Árni Magnússon und von Schlözer vertretenen kritischen. Müller (1817: V - VIII) versteht die genannten Sagas und verwandte Texte zum größten Teil als Geschichtswerke, die dementsprechend auch nicht in unterschiedliche Gattungen eingeteilt werden, sondern als Darstellungen isländischer Geschichte eine Einheit bilden. Einige spätmittelalterliche Íslendingasögur schließt er jedoch kategorisch als „ opdigtede sager “ (VIII; erdichtete Sagas) aus und etabliert damit die in der zweiten Hälfte des 18. Jhs aufkommende Unterscheidung von historischen und erdichteten Sagas endgültig. Die erdichteten Werke sind nach Müller eine Folge des im Vorwort angerissenen sowie bereits 1813 in der programmatischen Schrift Ueber den Ursprung und Verfall der isländischen Historiographie dargelegten Niedergangs der isländischen Geschichtsschreibung infolge der gesellschaftlichen Veränderungen auf Island in den Jahrhunderten nach der Besiedelung. 83 Müller ist damit der erste, der eine Theorie zum Ursprung der Sagaliteratur entwickelt (Andersson 1964: 28). Er greift Ideen seiner Vorgänger auf, geht jedoch wie Andersson (29) betont, über eine reine Synthese hinaus und ist „ the first to view the sagas not only as history but in history, not as a record of events but as a cultural manifestation “ . Müller skizziert eine Entwicklung des deutlich durch die Bekanntschaft mit der Literatur anderer Länder beeinflussten isländischen Schrifttums, das nach trockenem und annalistischem Beginn durch Vereinigung mit dem mündlichen Sagavortrag die Íslendingasögur hervorbringt. Mit den sich verändernden politischen Gegebenheiten im 13. Jh., vor allem der Machtkonzentration auf einige wenige Familien und der daraus resultierenden Unterordnung Islands unter die Herrschaft des norwegischen Königs, kommt es zum allmählichen Verfall dieser Geschichtsschreibung. Zudem beendet die Eingliederung in das norwegische Reich zwar die Streitereien im Land, führt nach Müller (1813: 88) aber auch dazu, dass keine Taten mehr vollbracht wurden, „ die des Griffels der Saga würdig gewesen “ wären. Als Folge dieses Verfalls wird im ausgehenden 13. Jh. begonnen, historische Sagas umzuarbeiten bzw. gänzlich erdichtete Sagas zu verfassen, was, wie Müller in der Sagabibliothek (15 - 33) ausführt, charakteristisch für die spätmittelalterliche Entwicklung der isländischen Literatur ist. Der mit dem Verlust der isländischen Unabhängigkeit seit dem ausgehenden 16. Jh. assoziierte Mythos vom Verfall wird damit neu interpretiert und impliziert nun nicht mehr nur einen allgemeinen gesellschaftlichen Niedergang, sondern wird explizit auf die Geschichtsschreibung bezogen und damit auch konkret mit der Entstehung einzelner Íslendingasögur verknüpft. Müller versteht den Großteil der heute als früh und klassisch klassifizierten Íslendingasögur als im 12. Jh. entstandene Geschichtswerke, ebenso die heute als ‚ postklassisch ‘ geltende Gull-Þóris saga (Þorskfirðinga saga). 84 Den Geschichtswerken des 13. Jh.s ordnet er neben der Sturlunga saga sowie den Biskupasögur und einigen þættir auch Reykd œ la saga, Grettis saga und Kristni saga sowie als Bearbeitungen älterer Werke Hávarðar saga, Þórðar 83 Die zunächst auf Deutsch veröffentliche Abhandlung erschien 1832 auch auf Dänisch (Müller 1832). 84 Zu Müllers Vorgehen bei der Datierung der Íslendingasögur, die ein knappes Jahrhundert bestimmend für die Sagaforschung bleibt, siehe Andersson (1964: 27 - 28) sowie Glauser (2013: 10 - 12). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 114 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="115"?> saga hreðu, Harðar saga und Finnboga saga zu. Damit etabliert er neben den erdichteten Sagas eine weitere die Sagaforschung prägende Kategorie, die aus älteren Werken umgearbeiteten Sagas, die ein Zugeständnis an die erkennbare Unfestigkeit der Texte darstellt, jedoch nicht als Norm, sondern als Abweichung von dieser konzipiert ist. Die derart klassifizierten Werke nehmen somit eine Zwischenstellung zwischen Geschichtsschreibung und Verfall ein und sind dementsprechend auch für den Historiker von Interesse. Dem 14. Jh. zugerechnet zählt Müller auch Eiríks saga rauða und Bandamanna saga sowie die heute als ‚ postklassisch ‘ angesehenen Svarfd œ la saga und Flóamanna saga zu dieser Kategorie. Den endgültigen Verfall der Geschichtsschreibung markieren dagegen die erdichteten Werke, von denen Müller Víglundar saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls und Kjalnesinga saga dem 14., sowie Króka-Refs saga, die bei ihm in „ Bard Dumbssons saga “ und „ Saga om Gest Bards Son “ unterschiedene Bárðar saga Snæfellsáss und schließlich die mit dieser intertextuell verbundene jüngere Ármanns saga dem 15. Jh. zurechnet. Nicht die als typisch spätmittelalterlich angesehenen Werke generell, sondern speziell die als erdichtet beurteilten geraten damit erstmals erkennbar ins Abseits - sie werden gewissermaßen aus dem Zuständigkeitsbereich des Historikers verwiesen. Eine Abwertung ist mit dieser Abgrenzung jedoch nicht unmittelbar verbunden, so vermerkt Müller (1817: 350) etwa zur Víglundar saga „ man læser den med Behag “ (man liest sie mit Gefallen). Mit der Unterscheidung zwischen historischen und erdichteten Sagas liegt Müller im Trend der Zeit, in der sich um 1800 im historischen Diskurs die Unterscheidung zwischen Historie und Fiktion gegenüber der von Wahrheit und Irrtum durchsetzt. Der Maßstab, mit dem Müller Historiographie misst, ist allerdings dem mittelalterlichen Verständnis von historischer Wahrheit noch deutlich näher als der modernen Gleichsetzung von historischer Wirklichkeit mit faktischer Wahrheit: Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit, also das Streben nach Wahrheit, sind die wesentlichen Kriterien, die eine Erzählung, die die isländischen Ursprünge thematisiert, zum anerkannten Geschichtswerk über die Frühzeit Islands machen. 85 Der Einfluss, den Müllers Sagabibliothek auf die Sagaforschung ausübte, ist nicht zu unterschätzen. So erschien Band 1, noch bevor er im dänischen Original gedruckt wurde, 1816 in einer von Karl Lachmann nach Müllers Manuskript besorgten deutschen Übersetzung. Als erste Gesamtdarstellung aller Íslendingasögur war die Sagabibliothek ein wichtiges Standardwerk der Forschung zu den Íslendingasögur im 19. und frühen 20. Jh., wie z. B. Andreas Heuslers Altgermanische Dichtung zu erkennen gibt. Zudem wird die von Müller in den drei Bänden vorgenommene Dreigliederung der Sagaliteratur in historisch, mythisch und erdichtet prägend für die frühe Sagaforschung. Während Müller für die Verbreitung der traditionellen historischen Sicht auf die Íslendingasögur sorgt, wird im frühen 19. Jh. erneut auch Kritik an dieser Sichtweise laut. Der Historiker Friedrich Rühs (1781 - 1820), ein Schüler August von Schlözers, weist in dem 1812 (277 - 288) zu seinen Schriften über die Edda veröffentlichten Anhang „ Ueber die historische Literatur der Isländer “ die Sichtweise, dass es sich bei den Íslendingasögur um zuverlässige historische Werke handelt, nicht minder entschieden zurück als sein Lehrer. Auch Rühs, der seine Begründung im Übrigen ebenfalls an den „ vortreffliche[n] Torfaeus “ anknüpft (1812: 280, vgl. auch 273), sieht den Anfang des isländischen Schrifttums in der 85 Zu Müllers Gründen für die Unterscheidung zwischen alten und jungen Sagas siehe Andersson (1964: 27 - 28). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 115 <?page no="116"?> Historiographie, betont aber, dass die Art und Weise der Überlieferung mit sich bringt, dass diese nicht mehr durchweg als glaubhaft anzusehen ist, weil sie „ von spätern Copisten mit grundlosen und fabelhaften Zusätzen erweitert “ wurde (278). So unterscheidet auch er zwischen historischer Wahrheit und Fiktion, wobei er eine Verschiebung von Geschichtsschreibung zur Dichtung verzeichnet. Im Gegensatz zur von Müller vorgegebenen Hauptströmung der Sagaforschung des 19. Jh.s verortet er die Íslendingasögur in der Nachfolge seines Lehrers von Schlözer und damit indirekt auch Árni Magnússons jedoch in der Sphäre letzterer. Nicht nur die auch von der konservativen Sagaforschung als erdichtet abgegrenzten Íslendingasögur, sondern zudem die nach heutiger Klassifizierung frühen und klassischen Vertreter setzt er unter der Bezeichnung ‚ Roman ‘ dezidiert mit (teilweise erst im 17. Jh. entstandenen) Fornaldarsögur gleich: Die Spuren der Erdichtung sind bei andern Stücken wie z. B. in Egilssaga, in Niala u. A. vielleicht weniger auffallend, aber man lese diese Geschichten, und man wird überzeugt seyn, dass sie ebenso gut Romane sind als die Sagen von Amleth, von Herraud und Bosi, und unzählige andere. (Rühs 1812: 287) Auf einzelne Werke im Allgemeinen und Íslendingasögur im Speziellen geht Rühs in seinen knappen Ausführungen nicht weiter ein, allerdings wird deutlich, dass er ‚ Roman ‘ nicht mit ‚ frei erfunden ‘ gleichgesetzt, sondern durchaus von einer historischen Grundlage der Íslendingasögur ausgeht. So ist sein Anliegen auch nicht, „ den Werth der isländischen Geschichtsschreiber geradezu zu verwerfen, sondern nur ihre eigenthümliche Beschaffenheit und die daraus folgende Vorsicht bei ihrem Gebrauch hervorzuheben “ (288). 86 Die von Rühs zum Ausdruck gebrachte kritische Beurteilung der Íslendingasögur als Romane mit geschichtlichen Grundlagen bleibt jedoch eine Minderheitsmeinung und setzt sich nicht weiter durch, vielmehr wird der Großteil der Íslendingasögur im wissenschaftlichen Kontext in der Regel in Nachfolge Müllers als glaubwürdige Geschichtswerke verstanden, während die von ihm genannten ‚ postklassischen ‘ Vertreter als erdichtet abgegrenzt werden. Mit dieser Abgrenzung geht nicht unmittelbar eine Ablehnung und Missachtung einher, wie beispielsweise Grønlands historiske Mindesmærker, herausgegeben von Finnur Magnússon und C. C. Rafn, deutlich macht: In Band 3 (1845) werden neben Fornaldarsögur und Märchensagas auch Bárðar saga, Króka-Refs saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls und der die Kjalnesinga saga fortsetzende Jökuls þáttr Búasonar behandelt. Sie werden so zwar als erdichtete, aber ebenfalls Grönland betreffende Werke als eine Art Anhang zu den eigentlichen historischen Werken besprochen und im Sinne der bei Torfæus zu beobachtenden Haltung ebenfalls als Monumente der Vergangenheit verstanden. Teilweise wird die Unterscheidung zwischen Historie und Fiktion von wissenschaftlich tätigen Isländern auch lediglich zur Kenntnis genommen, ohne dass ihr größere Bedeutung beigemessen wird, wie eine der ersten Editionen von Íslendingasögur zu erkennen gibt, die der insbesondere für seine führende Rolle im Kampf um die isländische Unabhängigkeit bekannte Jón Sigurðsson (1811 - 1879) besorgte. 87 Er zeichnet für die ersten beiden Bände der durch Det kongelige nordiske Oldskriftselskab herausgegebenen 86 Trotz der Fiktionalisierung, die er für die Íslendingasögur konstatiert, sind diese für Rühs geschichtliche Werke. Als Historiker zielt er entsprechend auf die Berichtigung von „ Widersprüchen und Irrthümern “ (Rühs 1812: 286), um so die tatsächliche Geschichte herauszuarbeiten. 87 Zu Jón Sigurðsson und den isländischen Unabhängigkeitsbestrebungen siehe Gunnar Karlsson (1980: 81 - 84). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 116 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="117"?> Íslendinga sögur (1843 - 1847) verantwortlich, die nach Landnámabók und Íslendingabók in Band 1 mit Harðar saga, H œ nsna-Þóris saga, Gunnlaugs saga, Heiðarvíga saga, Kjalnesinga saga und Jökuls þáttr Búasonar in Band 2 fünf Íslendingasögur sowie einen þáttr enthalten. Bereits die Auswahl zeigt weder eine Präferenz der heute als ‚ klassisch ‘ eingestuften Werke noch eine klare Abgrenzung oder gar Abwertung heute als ‚ postklassisch ‘ geltender Íslendingasögur. 88 Während die Harðar saga zeitgenössisch in der Regel als Geschichtswerk gelesen wird, enthält der Band mit Kjalnesinga saga auch eine Íslendingasaga, die bereits Torfæus als erdichtet klassifiziert, sowie deren Fortsetzung, den deutlich fabelartigen Jökuls þáttr Búasonar. Jón Sigurðsson (1847: XLVI) konstatiert dazu lediglich lakonisch, dass die Kjalnesinga saga „ har ikke kunnet hævde sig nogen Plads blandt de historiske Sagaer “ , 89 geht jedoch weder näher darauf noch auf Unterscheidung von historisch und erdichtet generell ein. Grundsätzlich werden die Íslendingasögur im akademischen Umfeld von der sich zunehmend etablierenden Sagaforschung mit Ausnahme der als erdichtet klassifizierten in der Mitte des 19. Jh.s als Geschichtswerke verstanden. Ihr Status als solche wird jedoch höchst unterschiedlich definiert. Die Beurteilungen reichen von einer konservativen Charakterisierung „ als in Prosa geschriebne Erzählungen wirklicher Begebenheiten “ , wie sie Theodor Möbius (1821 - 1890) in seiner Habilitationsschrift Über die ältere isländische Saga von 1852 (3) formuliert, 90 bis zu einem 1855 von Carsten Hauch (1790 - 1872) in seiner „ Indledning til Forelæsninger over Njalssaga og flere med den beslægtede Sagaer “ zum Ausdruck gebrachten innovativen Verständnis der Texte als „ paa Historien grundede Poesie “ (414; auf Geschichte gründende Poesie), die nur auf den ersten Blick wie streng historische Darstellungen anmuten, jedoch von den „ strengere historiske Arbeider ” (422; strengeren historischen Arbeiten), zu denen Hauch z. B. die Heimskringla zählt, zu unterscheiden sind. „ Den sande Historie og den paa Historien grundede Poesie er overhovedet ikke saa fremmede for hinanden, som man sædvanlig troer “ , 91 betont Hauch (414) dabei jedoch und stellt darüber hinaus fest, dass sich die historischen Sagas deutlich durch „ en langt inholdsrigere og betydningsfuldere Poesie “ (423; eine weit inhaltsreichere und bedeutungsvollere Poesie), die fest in der Wirklichkeit verankert ist, von „ de vidunderlige og fortryllende Romancer, der fulgte derpaa “ (467; den wunderlichen und bezaubernden Romanzen, die danach folgten) unterscheiden. Obgleich noch als vornehmlich historisch gedeutet, klingt hier bereits der Sagarealismus als wesentliches Charakteristikum eines Gattungsverständnisses an. Auf die von Müller als erdichtet klassifizierten Werke kommt Hauch allerdings nicht zu sprechen, so dass offenbleibt, welchen genauen Stellenwert er diesen zuschreibt. In der Regel werden sie zeitgenössisch als romantisch klassifiziert, Bárðar saga, Kjalnesinga saga und Ármanns saga gelegentlich auch als (land-)vættasögur (Schutzgeistsagas) zu den mythischen Sagas gerechnet. So unterscheidet Rudolf Keyser (1803 - 1864) in seinen Vorlesungen Nordmændenes Videns- 88 Die insgesamt vierbändige Reihe wird komplettiert durch die Njáls saga, die anschließend in zwei Bänden veröffentlicht wurde (ÍS OS 3 - 4). 89 keinen Platz unter den historischen Sagas behaupten konnte 90 Müller folgend zählt Möbius neben der Íslendingabók diverse Íslendingasögur zu den ältesten isländischen Sagas und konzentriert sich in seiner Untersuchung entsprechend auf Heiðarvíga saga, Njáls saga, Gunnlaugs saga, Víga-Glúms saga und H œ nsna-Þóris saga. 91 die wahre Geschichte und die auf der Geschichte gründende Poesie sind überhaupt nicht so verschieden voneinander, wie man gewöhnlich glaubt Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 117 <?page no="118"?> kabelighed og Literatur i Middelalderen aus dem Jahre 1847 „ mythisk-heroiske sagaer “ (mythisch-heroische Sagas), „ historiske sagaer “ (historische Sagas) und „ romantiske sagaer “ (romantische Sagas). Die Island betreffenden Werke - d. h. die meisten Íslendingasögur sowie ohne strikte Trennung von diesen Kristni saga und Hungrvaka, Íslendingabók, Landnámabók sowie die Sagas, die den Zeitraum ab 1200 abdecken, also weltliche und geistliche Samtíðarsögur - bezeichnet er in Anlehnung an Müller als „ islandske sagaer “ (isländische Sagas) und versteht sie als historisch (485 - 498). Diverse heute als ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur bezeichnete Werke zählt er jedoch neben Heiligensagas und übersetzten Sagas als „ æventyrsagaer “ (Abenteuersagas) - zu welchen er auch diejenigen Fornaldarsögur rechnet, die er nicht als mythisch-heroische Sagas versteht - zu den romantischen Sagas (507 - 526). Die isländische Herkunft ersterer ist für ihn eindeutig, da sie einen deutlich „ forskjellige Charakter “ (525; andersartigen Charakter) als die übrigen haben. Da Keyser von einem norwegischen Ursprung der Sagaliteratur ausgeht und als Historiker den Fokus auf die norwegische Geschichte legt, interessieren ihn diese eindeutig isländischen Werke weniger, was mit sich bringt, dass etliche der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur bei ihm keine Erwähnung finden. Als die wichtigsten zählt er Bárðar saga, Króka-Refs saga, Kjalnesinga saga und Víglundar saga auf (525 - 526), wobei ebenfalls keine Abwertung zu erkennen ist. Im Gegenteil werden sie auch von Keyser wie schon von Müller zum Teil als sehr ansprechend charakterisiert. Etwas andere Grenzen als Keyser zieht N. M. Petersen (1791 - 1862) in seinem 1861 zum ersten Mal gedruckten Bidrag til den oldnordiske Literaturs Historie, in dem er zwischen historischen und mythischen Sagas unterscheidet. Er bespricht die Íslendingasögur unter der Bezeichnung „ slægtsagaer “ (Geschlechtersagas), auch mit dem isländischen Begriff „ ættasögur “ bezeichnet, nach Landesvierteln sortiert, wobei er insgesamt 30 Sagas sowie zwei þættir anführt, also auch etliche heute als ‚ postklassisch ‘ bezeichneten Sagas einschließt (Petersen 1861: 207 - 222). Eine kleine Untergruppe der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga, namentlich Kjalnesinga saga sowie deren Fortsetzung Jökuls þáttr Búasonar, Bárðar saga sowie die erst in nachmittelalterlicher Zeit entstandene Ármanns saga zählt Petersen als „ vættesagaer “ zu den mythischen Sagas (278). Die anderen zu dieser Zeit nicht zu den Íslendingasögur gezählten Werke Fljótsdæla saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls, Króka-Refs saga und Víglundar saga finden dagegen keinen Platz in seiner Darstellung. Die Bezeichnung Íslendingasögur, die im isländisch-kulturellen Kontext bereits seit dem 17. Jh. zunehmend verwendet wird, jedoch auch andere von Isländern handelnde Sagas bezeichnen kann, findet im Laufe des 19. Jh.s Eingang in den europäischen wissenschaftlichen Kontext, mutmaßlich insbesondere durch die von Isländern besorgten ersten Íslendingasaga-Editionen des frühen 19. Jh.s, die häufig unter diesem Überbegriff erscheinen. In Anknüpfung an Müller wird sie zunächst jedoch nicht nur für die Íslendingasögur, sondern für sämtliche von Isländern handelnden Werke verwendet, wie Theodor Möbius ʼ Habilitationsschrift Über die ältere isländische Saga aus dem Jahr 1852 (3) zeigt, der älteste Beleg in einem nicht-isländischen Zusammenhang, auf den ich gestoßen bin. Mit dem in Oxford tätigen Isländer Guðbrandur Vigfússon (1827 - 1889), der in vielfacher Weise Meilensteine der Sagaforschung setzt, beginnt sie sich allmählich im Sinne der heutigen Gattungsbezeichnung zu etablieren. Seine erste Veröffentlichung, der weitverbreitete und häufig zitierte Aufsatz „ Um tímatal í Íslendinga sögum í fornöld “ (Über die Zeitrechnung in isländischen Sagas in der Frühzeit) aus dem Jahr 1856 formuliert eine Chronologie der Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 118 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="119"?> Íslendingasögur und enthält eine genauere Definition der Bezeichnung „ Íslendínga sögur “ (192), 92 die er zunächst „ Íslendínga sögur hinar eldri “ (die älteren Sagas von Isländern) nennt und ergänzt „ svo köllum vèr þær til aðgreiníngar frá hinum ýngri, eðr sögur um Sturlungaöld “ . 93 Inwiefern die Bezeichnung ‚ ältere Sagas von Isländern ‘ tatsächlich verbreitet war oder ob sie lediglich dem Wunsch des Wissenschaftlers nach einer eindeutigen und korrekten Terminologie entspringt, wo doch auch die Sagas über die Sturlungenzeit von Isländern handeln, ist anhand von Guðbrandur Vigfússons Ausführungen nicht zu klären. Andere Belege für die Unterscheidung zwischen älteren und jüngeren Íslendinga sögur habe ich nicht gefunden und auch bei Guðbrandur findet sie sich nur einmal an dieser Stelle, ansonsten verwendet er die Bezeichnung analog zum heutigen Gebrauch, wenn er beispielsweise vermerkt, dass sich alle Íslendinga sögur im Zeitraum 930 - 1030 abspielen (187) oder konstatiert, dass das Schreiben von Íslendinga sögur mit dem Beginn der Sturlungenzeit zu Ende ging (192). In späteren Veröffentlichungen verwendet Guðbrandur dann das Kompositum Íslendingasögur und bezeichnet damit stets die Íslendingasögur im heutigen Sinne, so in „ Um nokkrar Íslendingasögur “ (1861) oder in den Prolegomena zu seiner Edition der Sturlunga saga (1878). Nicht zu den Íslendingasögur zählt er allerdings die Werke, die Müller als spät entstanden und erdichtet einstuft: Víglundar saga, Kjalnesinga saga, Króka-Refs saga, Bárðar saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls und Fljótsdæla saga fehlen in seiner Auflistung in „ Um tímatal í Íslendinga sögum í fornöld “ , die dafür die Kristni saga, die Ólafs saga helga und weitere Königssagas sowie mit dem Þorleifs þáttr jarlaskálds neben Ǫ lkofra saga/ þáttr auch zwei þættir enthält. 94 Der mit Guðbrandur Vigfússon eng befreundete deutsche Rechtshistoriker Konrad Maurer (1823 - 1902) verwendet für die zeitgenössisch als ungeschichtlich angesehenen Íslendingasögur in seiner Darstellung der isländischen Sagas die mittelalterliche Bezeichnung lygisögur (Lügensagas), die erst neuzeitlich auch für Íslendingasögur verwendet wird. Dass auch die als geschichtlich bewerteten Íslendingasögur keine genauen Abbilder der Zeit sind, die sie darstellen, zeigt er 1871 in seiner Abhandlung „ Über die H œ nsa-Þóris saga “ , deren Inhalt teilweise auch von Ari in der Íslendingabók wiedergegeben wird. Entgegen der zu dieser Zeit vorherrschenden Meinung plädiert Maurer dafür, Ari mehr Glauben zu schenken, was die historische Zuverlässigkeit angeht, nicht zuletzt weil er sich entschieden gegen die frühe Datierung der Íslendingasögur nach Müller ausspricht. Wie er 1867 in seiner Abhandlung „ Über die Ausdrücke: altnordische, altnorwegische & isländische Sprache “ zum Ausdruck bringt, versteht er sämtliche Island betreffenden historischen Sagas weltlicher Natur als Íslendingasögur, also auch die Sturlunga saga. Die übrigen unterteilt er (1867: 498 - 499) als ungeschichtliche Sagas in „ Fornsögur “ (alte Sagas), „ d. h. 92 Wie häufig auch in (mittelalterlichen und neuzeitlichen) Sammelhandschriften zu beobachten, orientiert sich Guðbrandur bei der Anordnung der einzelnen Saga geographisch und etabliert damit ein kulturelles Ordnungsschema im wissenschaftlichen Diskurs. Es begegnet nicht selten in Darstellungen der Gattung im 19. und 20. Jh., wobei die Forschung anders als das kulturelle Gedächtnis allerdings nicht nur die nachmittelalterlichen Íslendingasögur, sondern auch einen - jeweils unterschiedlich zusammengesetzten - Teil der ‚ postklassischen ‘ Vertreter exkludiert. 93 so nennen wir sie in Abgrenzung von den jüngeren, oder Sagas über die Sturlungenzeit 94 Nicht einzeln aufgeführt sind dabei die als Interpolationen in den Königssagas überlieferten Hallfreðar saga, Fóstbr œ ðra saga, Eiríks saga rauða und Gr œ nlendinga saga. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 119 <?page no="120"?> diejenigen, welche ihrem Inhalt nach der Göttersage oder Heldensage angehören “ und lygisögur, „ d. h. die mehr oder minder frei erdichteten Sagen “ . Unter letztere ordnet Maurer zahlreiche Fornaldarsögur ein, jedoch auch einige der spätmittelalterlichen Íslendingasögur. Eine weitere Untergruppe der lygisaga sind auch bei Maurer (500) die seiner Ansicht nach von den fornsögur nicht immer klar zu unterscheidenden landvættasögur, d. h. „ die Sagen, welche von den einzelnen Schutzgeistern des Landes handeln “ , für die er Bárðar saga und Kjalnesinga saga als Beispiele anführt. Auch wenn Maurer nicht sämtliche lygisögur mit isländischen Protagonisten auflistet, wird anhand seiner Ausführungen doch deutlich, dass er eine weit kritischere Haltung an den Tag legt als seine Zeitgenossen, nennt er als Beispiele doch auch Finnboga saga, Þórðar saga hreðu und Grettis saga. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Erwähnung letzterer, wird sie doch trotz all ihrer Gemeinsamkeiten mit den anderen spätmittelalterlichen Íslendingasögur noch lange nach Maurer allgemein zu den historischen Werken gerechnet. Eine noch kritischere Stimme wird 1872 mit E. Jessen (1833 - 1921) laut, der in seinem Aufsatz „ Glaubwürdigkeit der Egilssaga und anderer Isländersagas “ (39) die Überzeugung zum Ausdruck bringt, „ daß man für die ältere Zeit (bis gegen 1030 hin) die Unterscheidung zwischen ‚ historischen Sagas ‘ und ‚ Lügensagas ‘ (Märchen und Romanen) aufgeben muß “ . Auch Jessen (28) versteht unter Íslendingasögur noch sämtliche „ Berichte über Isländer “ , neben der Íslendingabók auch die geistlichen Sagas, die Sturlunga saga sowie die Landnámabók, merkt aber an, dass man doch oft eigentlich nur an diejenigen Werke denkt, die eine „ entlegnere Zeit [behandeln.] “ Deren historische Zuverlässigkeit zweifelt Jessen an und versteht sie vielmehr als „ historische Romane “ , die „ nicht mit Zutrauen, sondern mit dem vorsichtigsten Misstrauen [ … ] für die Geschichte zu verwenden [sind] “ (29). Am Beispiel der Egils saga zeigt er auf, dass diese zwar auf historischen Begebenheiten beruht, die wenigen bewahrten Nachrichten jedoch im 13. Jh. „ historisierend und chronologisierend verarbeitet “ wurden (28). Neben der Egils saga kommt Jessen auch noch kurz auf einige andere, vor allem frühe und klassische Íslendingasögur zu sprechen, in denen er das Verhältnis von geschichtlichen Tatsachen und phantasievoller Dichtung ähnlich beurteilt wie im Falle der Egils saga. Die Grettis saga ist für ihn in Anlehnung an Maurer „ ganz offenbar eine Räubergeschichte, [ … ] von derselben Art, wie man in anderen Literaturen so viele hat “ (12). Andere ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur erwähnt Jessen nicht, doch seine Forderung, bei Darstellungen der Sagazeit nicht zwischen historischen Sagas und lygisögur zu unterscheiden, entzieht deren Abgrenzung die Grundlage. Die von Jessen geäußerten Zweifel an der Historizität der Íslendingasögur sind zeitgenössisch erwartungsgemäß wenig populär. Der Aufsatz des Dänen erscheint in deutscher Sprache und seine Argumentation, dass die Sagas über die isländische Frühzeit nicht in historische und erdichtete unterschieden werden können und sämtlich der Dichtung näherstehen als der Historiographie, bleibt eine Einzelmeinung. Die Unterscheidung von historisch und fiktiv bestimmt die Darstellung der Íslendingasögur weiter, wobei die Grettis saga anders als bei Maurer allgemein zu ersteren gerechnet wird und lediglich fiktive Erweiterungen (wie insbesondere der Spesar þáttr) konstatiert werden. Auch Guðbrandur Vigfússon stellt die Grettis saga in seinen Prolegomena zu seiner Ausgabe der Sturlunga saga von 1878 klar in den Kreis der ‚ richtigen ‘ Íslendingasögur, indem er ihr als eine der „ five major sagas “ neben Egils saga, Eyrbyggja saga, Laxd œ la saga und Njáls saga einen besonderen Stellenwert zuspricht (1878: XLII - L). Die Gattung Íslendingasaga umfasst in Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 120 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="121"?> seiner Darstellung weiter die geographisch angeordneten „ minor sagas “ (L - LXII), unter denen sich mit Harðar saga, Þorskfirðinga saga, Hávarðar saga, Svarfd œ la saga und Flóamanna saga auch einige ‚ postklassische ‘ Vertreter finden. Die in „ Um tímatal í Íslendinga sögum í fornöld “ ausgeschlossenen Sagas sowie einige der dort noch inkludierten, von Maurer aber bereits zu den lygisögur gerechneten, zählt er jedoch nicht zur Gattung. Zusammen mit einigen þættir sowie nachmittelalterlichen Sagas mit isländischen Protagonisten, gruppiert er sie unter der Bezeichnung „ spurious Icelandic sagas (skröksögur) “ (XII - LXIV) und belegt damit einen Großteil der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur ebenfalls mit einer mittelalterlichen Bezeichnung, die im Mittelalter nicht für selbige verwendet wurde. Kjalnesinga saga, Bárðar saga, Króka-Refs saga, Þórðar saga hreðu, Finnboga saga, Víglundar saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls und Fljótsdæla saga werden damit klar von den übrigen Íslendingasögur abgegrenzt. Geknüpft ist diese Abgrenzung eines Teils der Íslendingasögur als „ skröksögur “ nicht nur an die Unterscheidung von Historie und Fiktion, sondern an einen weiteren zentralen Begriff der modernen Sagaforschung, der ebenfalls von Guðbrandur Vigfússon im wissenschaftlichen Diskurs etabliert wird: Die Bezeichnung söguöld, die den Zeitraum benennt, in dem die Íslendingasögur angesiedelt sind. Während Guðbrandurs isländische Veröffentlichungen ein Verständnis dieses Terminus voraussetzen, erklärt er ihn in den Prolegomena für ein nichtisländisches Publikum ausführlicher: „ [ … ] we first have to distinguish the Heroic Age or Sögu-öld of Iceland (890[sic] - 1030) covering first the sixty years of the Settlement, then the stirring and important epoch centring around the lives of the two great Olaves, the age when events recorded in the Sagas took place. The last act of this age ends somewhat abruptly at the year 1030, marked by the death of St. Olaf in Norway, and Skapti (the Lawman) and Snorri (the Chief) in Iceland. (1878: XXVII) 95 Diese Definition der Sagazeit als heroisches Zeitalter ist zentral für seine Unterscheidung von Íslendingasögur und skröksögur: Erstere sind im Anschluss an dieses heroische Zeitalter der Isländer erzählte Geschichte, die ganz den Geist des „ great Age “ atmen (XXVI), letztere dagegen zeigen, „ that all Tradition of the old Heroic Age was dead by the end of the thirteenth century, and that Taste was already declining “ (LXII). Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die etliche der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur zwar als ungeschicht- 95 Es bleibt unklar, wieso Guðbrandur an dieser Stelle, anders als in seinen isländischen Veröffentlichungen, die Landnahmezeit zur Sagazeit rechnet. In „ Um tímatal í Íslendingasögum “ (1856: 185) unterscheidet er beide Perioden eindeutig und erweckt dabei zudem den Anschein, dass söguöld die gängige Bezeichnung für die Handlungszeit der Íslendingasögur darstellt. Im Zusammenhang mit dem Aufbau seines Aufsatzes erläutert er die Bezeichnung der ersten Phase der isländischen Geschichte näher: „ Þessa öld kalla menn landnámsöld Íslands, þvi á þessum 60 árum (870 - 930) varð land allt alnumið, og albyggt að mestu. “ (Dieser Zeitraum wird die Landnahmezeit Islands genannt, weil in diesen 60 Jahren (870 - 930) das ganze Land erschlossen und größtenteils bebaut wurde.) Die Bezeichnung söguöld dagegen verwendet er ohne weitere Erklärung und im Unterschied zu den Prolegomena vor allem auch ausschließlich für den Zeitraum 930 - 1030 - „ hin mikla söguöld Íslands “ (187; die große Sagazeit Islands) - wobei die Errichtung des Althing den Anfangspunkt der Haupthandlungszeit der Íslendingasögur markiert. Mittlerweile wird die söguöld in der Regel mit 930 - 1050 - gelegentlich auch 950 - 1050 - beziffert, da die Handlungszeit etlicher Íslendingasögur über die von Guðbrandur genannten Tode als Endpunkt hinausreicht. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 121 <?page no="122"?> lich abgrenzen, ihnen aber durchaus auch gewisse Qualitäten zugestehen, kann Guðbrandur Vigfússon ihnen nichts abgewinnen. Vielmehr stellt er sie als ein minderwertiges Anhängsel der eigentlichen Íslendingasögur dar, in dem sich klar der gesellschaftliche Verfall zu erkennen gibt, und urteilt sie entsprechend uneingeschränkt negativ ab: „ A poverty of diction and most plentiful lack of true fancy or imagination, with few traces of the fresh vigour which the poorest genuine Sagas possess, mark the whole tribe “ (LXIII). Auch damit prägt er die weitere Sagaforschung sowie deren Sichtweise auf die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur, die im 19. Jh. immer öfter rigoros abgewertet und zum Teil schlicht nicht zur sich allmählich etablierenden Gattung gezählt werden. So umfasst das Korpus von Richard Heinzel (1838 - 1905) in Beschreibung der isländischen Saga aus dem Jahr 1881, der unter „ isländischen Sagas “ ebenfalls heute als Íslendingasögur bezeichnete Werke versteht, dreiunddreißig Sagas, darunter zwei þættir, den Gunnars þáttr Þiðrandabana unter der Bezeichnung Njarðvíkinga saga sowie den Þorvalds þáttr víðf ǫ rla. Im Unterschied zum einleitend dargestellten aktuellen Korpus fehlen neben Ǫ lkofra saga und der nur in jungen Papierhandschriften überlieferten und bis heute kaum beachteten Þorsteins saga hvíta auch Bárðar saga, Fljótsdæla saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls, Kjalnesinga saga, Króka-Refs saga, Víglundar saga und Þórðar saga hreðu. Die übrigen beschreibt Heinzel (1881: 3) als historische[] Romane der altisländischen Litteratur, [ … ] kunstmässige[] Darstellungen des Lebens und der Schicksale von Isländern des zehnten und der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts, welche im dreizehnten Jahrhundert jedenfalls viel gelesen wurden, wenn auch die Entstehungszeit einiger früher fallen mag. Abgegrenzt von den þættir einerseits sowie von anderen Kunstformen andererseits, namentlich den Erzählungen rein historischen oder mythologischen Inhalts und „ jene[n], welche ihre Stoffe zwar dem menschlichen Privatleben, aber nicht dem isländischen entnehmen “ (3), finden die zeitgenössisch als erdichtet eingestuften Íslendingasögur keine Erwähnung. In Anbetracht der Bedeutung von Heinzels Beschreibung für die Sagaforschung, auf die noch im ausgehenden 20. Jh. als wesentliche Darstellung der Íslendingasaga und ihrer Erzählweise verwiesen wird (Meulengracht-Sørensen 1992: 27), ist davon auszugehen, dass auch sie nicht unwesentlich dazu beitrug, die ‚ postklassischen ‘ Vertreter vom Korpus der Íslendingasögur fernzuhalten. Weiter sehr präsent ist im ausgehenden 19. Jh. die Darstellung Müllers und seine Sichtweise auf die Íslendingasögur, die nun in verschiedenen europäischen Sprachen verbreitet wird. Im deutschsprachigen Raum erscheint 1885 mit der von Ph. Schweitzer (1846 - 1890) verfassten Geschichte der altskandinavischen Litteratur von den ältesten Zeiten bis zur Reformation, dem 8. Band der Geschichte der Weltliteratur in Einzeldarstellungen, eine knappe an Müllers Ausführungen in der Sagabibliothek angelehnte Darstellung, für welche die Unterscheidung zwischen historischen und erdichteten Werken wesentlich ist, die letztere jedoch nicht ausschließt. Die gemäß Müller aus älteren Sagas umgearbeiteten Werke behandelt Schweitzer allerdings nicht, so dass insgesamt nur vierundzwanzig der heutigen Íslendingasögur Eingang in seine Abhandlung finden. Diese stellt er größtenteils als historische, d. h. frühmittelalterlich entstandene, glaubwürdige, auf geschichtlichen Begebenheiten beruhende Werke unter „ Sögur, welche Ereignisse auf Island behandeln “ (Schweitzer 1885: 86 - 92) dar. Vier ‚ postklassische ‘ Vertreter finden sich im Kreise diverser Fornaldarsögur, Riddarasögur und weiterer Werke unter den nach 1120 entstandenen, vom Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 122 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="123"?> „ ausländische[n] Ritterroman “ beeinflussten lygisögur (140 - 144). 96 Als freie Erfindung bezeichnet er die lygisögur „ isländisch-norwegischen Ursprungs “ allerdings nicht, vielmehr als „ alte Erzählungen “ , die „ mehr oder weniger mit fremden abenteuerlichen und märchenhaften Zügen ausgestattet wurden, welche allmählich den Kern der alten Saga überwucherten und verdunkelten “ , was seiner Ansicht nach auch für Werke wie die Víglundar saga gilt (140 - 141). Aus heutiger Sicht besonders bemerkenswert sind die lobenden Worte, die auch Schweitzer für die meisten der genannten lygisögur findet. 97 Die Darstellung der isländischen Sagaliteratur von W. P. Ker (1855 - 1923) in seinem monumentalen Werk Epic and romance aus dem Jahre 1896 ist ebenfalls deutlich geprägt von der Unterscheidung zwischen historischen und romantischen Sagas, generell und bezüglich der Werke, die die Sagazeit darstellen. Als originale isländische Sagas versteht er dabei einerseits die klassischen Íslendingasögur, die er als dem Epos nahestehende heroische Sagas charakterisiert, und andererseits die Samtíðarsögur, „ the later more authentic histories “ (Ker 1896: 273). Erstere sind für ihn mündlich überlieferte Geschichten aus der Sagazeit, die er wie Guðbrandur Vigfússon als heroic age der Isländer versteht. Sie wurden bald danach aufgezeichnet und stellen demgemäß „ the inheritors of the older heroic poetry “ dar (229). Nach ihrer Niederschrift entwickelten sich dann zwei Wege der Sagaschreibung: „ History “ auf der einen Seite und „ romance “ auf der anderen Seite, wobei letztere den Verfall der Heldendichtung zum Ausdruck bringt. Die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur stellen in Kers Darstellung keine eigenständige Subgattung dar, vielmehr konstituieren sie neben den als mythisch klassifizierten Fornaldarsögur die zweite Unterkategorie der erdichteten „ Northern prose romances “ , in die auch die übrigen Fornaldarsögur fallen. Als Beispiele für „ all the fictitious stories which copy the style of the proper Icelandic sagas “ führt Ker (320 - 321) dabei Friðþjófs saga und Víglundar saga an. 1894 - 1902 erscheint dann mit Den oldnorske og oldislandske Litteraturs Historie von Finnur Jónsson (1858 - 1934) eine neue Gesamtdarstellung der altnordischen Literatur, die systematisch sämtliche Sagas abhandelt. Das Korpus, das heute die Gattung Íslendingasögur umfasst, ist darin chronologisch nach der Entstehungszeit der Texte in drei Kategorien unterteilt, wovon nur die der ersten zugerechneten Werke auch tatsächlich als Íslendingasögur bezeichnet werden. Zweiundzwanzig Sagas, dazu beinahe ebenso viele „ þættir fra den ældre periode “ (þættir aus der älteren Periode) klassifiziert Finnur Jónsson (1901: 405 - 546) als „ gamle slægtsagaer (Íslendingasögur) “ (alte Geschlechtersagas) und präsentiert diese geordnet nach den Landesvierteln, in denen sie angesiedelt sind. Weitere Íslendingasögur finden sich im Abschnitt, der die Sagaliteratur nach Snorri Sturluson und Sturla Þórðarson in der Zeit bis 1300 behandelt (737 - 764), unter der Bezeichnung „ Sagaer om isl. Personer “ (Sagas über isländische Personen), im Unterkapitel „ om ældre tider “ (über ältere Zeiten), wobei es sich um sechs Sagas und etliche þættir handelt, zumeist, aber nicht ausschließlich ‚ postklassische ‘ Werke. Die dritte Kategorie schließlich (76 - 85) - „ Opdigtede sagaer om fortids-Islændere og andre dermed beslægtede sagaer og þættir “ , die 96 Eine Ausnahme stellt in Schweitzers Darstellung die Kjalnesinga saga dar, die er zwar wie die anderen besprochenen späten Íslendingasögur als lygisaga klassifiziert, allerdings nicht in der Nachfolge der historischen, sondern der mythisch-heroischen Sagas stehend. 97 Anerkennende Worte machen zudem deutlich, dass Torfæus im ausgehenden 19. Jh. noch immer sehr gut beleumundet ist. Erst im 20. Jh. wird zunehmend an seinem gutem Ruf gekratzt (Jørgensen 2006: 456). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 123 <?page no="124"?> ihrerseits unterteilt ist in „ sagaer, der handler om virkelige islandske personer, men som dog for störste delen er ganske opdigtede “ , sowie in solche „ uden noget som helst historisk grundlag “ 98 - umfasst Harðar saga, Finnboga saga, Kjalnesinga saga, Víglundar saga, Bárðar saga, Króka-Refs saga und Þórðar saga hreðu, daneben den Jökuls þáttr Búasonar sowie den die Grettis saga beschließenden Spesar þáttr als eigenständiges Werk. Mit seiner Literaturgeschichte legt Finnur Jónsson zum Abschluss des Jahrhunderts eine Darstellung der Íslendingasögur vor, die ebenfalls deutlich auf dem dreistufigen Modell einer Entwicklung der Gattung vom Aufstieg über die Blüte zum Verfall gründet (Glauser 2013: 12 - 14). Zudem lässt sie keinen Zweifel an der Dichotomie von Historie und Fiktion, die ihr wesentlich zugrundeliegt. Wie in seinem Festhalten an der Datierung der Íslendingasögur auf das 12. Jh. erweist sich Finnur auch in dieser Hinsicht als letzter großer Vertreter eines Auslaufmodells, das jedoch mit der 1920 - 1924 erschienenen zweiten Auflage von Den oldnorske og oldislandske Litteraturs Historie noch einmal bestärkt wird. 3.4.2 Kulturelles Gedächtnis und nationalromantische Erneuerung Während die europäisch-wissenschaftliche Behandlung der Íslendingasögur im 19. Jh. deutlich von der Unterscheidung von Historie und Fiktion geprägt ist, spielt diese in der isländisch-kulturellen Sichtweise auf die Íslendingasögur weiter keine Rolle. Rímur werden nun auch vermehrt auf der Basis von þættir und weiterhin von sämtlichen Íslendingasögur verfasst, wobei sich auch etliche ‚ postklassische ‘ Vertreter großer Beliebtheit erfreuen, wie die Anzahl überlieferter Íslendingarímur verdeutlicht. Zudem wird die Sagazeit auch in Form von neuen rímur fortgeschrieben, die sich ebenfalls an die vorhandene Überlieferung anbinden, aber neue Inhalte kreieren (RT I: 276, 552). Im Zuge der sog. isländischen Renaissance ab 1830 wird die nachmittelalterlich zunehmend kontrapräsentische Mythomotorik der isländischen Ursprungserinnerungen nun revolutionär, insofern als politische Bestrebungen auf die Wiederherstellung der in den Íslendingasögur dargestellten staatlichen Unabhängigkeit dringen. 99 Zugleich intensiviert sich die Fortschreibung der isländischen Ursprungserinnerungen auf der Basis der Íslendingasögur erneut. Jónas Hallgrímsson (1807 - 1845) macht mit seinem Gedicht Gunnarshólmi, das auf Gunnarrs beim Anblick seines Hofes getroffener Entscheidung, trotz des drohenden Todes das Land nicht zu verlassen, gründet, Gunnarr in besonderem Maße zum isländischen Nationalhelden (dazu Glauser 2011: 54 - 62, Halink 2014: 210 - 214). Gunnarshólmi, die in der Njáls saga nicht erwähnte kleine Insel im Markarfljót, etabliert sich damit als neuer Erinnerungsort, der die Verbindung von isländischer Landschaft und isländischer Identität im kulturellen Gedächtnis aktualisiert, wobei wieder mündliche und schriftlich überlieferte Ursprungserinnerungen zusammenspielen. So griff Jónas Hallgrímsson für Gunnarshólmi, das „ als eine Art nationales Programmgedicht aufgefaßt werden [kann] “ (Bandle 1989: 562), nicht nur auf die Njáls saga zurück, sondern auch auf lokale mündliche Überlieferung, die die Szene aus der Njáls saga eindeutiger verortet als die Saga selbst 98 erdichtete Sagas von Vorzeitisländern und andere damit verwandte Sagas und þættir/ Sagas, die von realen isländischen Personen handeln, aber doch größtenteils erdichtet sind/ ohne jegliche historische Grundlage 99 Zum isländischen Nationalismus im 19. Jh. siehe Gunnar Karlsson (1995, 1980). Zu den Sagas in diesem Zusammenhang siehe Byock (1990, 1992). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 124 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="125"?> (Glauser 2011: 57 - 58). Dass die Ursprungszeit in der kollektiven Erinnerung weiter zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit lebendig bleibt, zeigt auch die Entstehung neuer Íslendingasögur, die ebenfalls auf mündlichen Erzählungen gründen. Zu nennen ist hier insbesondere Gísli Konráðsson (1787 - 1877), der Sagas auf der Grundlage von mündlich verbreiteten Ursprungserinnerungen verfasst und dabei versucht, mittelalterliche Íslendingasögur so genau wie möglich zu imitieren (Sverrir Tómasson 2004: 78 - 79). Der von ihm verfassten Þorsteins saga Geirnefjufóstra liegen wie erwähnt mündliche Überlieferungen zugrunde, die bereits seit beträchtlicher Zeit kursieren. Konrad Maurer und Guðbrandur Vigfússon vorzumachen, dass es sich bei seinem Werk um eine alte Saga handelt, gelingt ihm dann aber doch nicht (Maurer 2017: 461 - 462). Im kulturellen Gedächtnis verbinden sich diese nachmittelalterlichen Íslendingasögur mit ihren mittelalterlichen Vorbildern und ergänzen und erweitern die Darstellung der isländischen Ursprungszeit, wie die häufige gemeinsame Gruppierung in Handschriften zeigt. Der isländische Bauer Magnús í Tjaldanesi (1835 - 1922), von dessen Hand die Abschriften von fast zweihundert Sagas erhalten sind, 100 schrieb neben Fornaldarsögur, die den Großteil der von ihm erhaltenen Kopien darstellen, auch Íslendingasögur ab, wie Lbs 1511 4to, eine Sammelhandschrift aus dem Jahr 1888, zeigt (Driscoll 2012: 260). Sie versammelt klassische, ‚ postklassische ‘ und nachmittelalterliche Íslendingasögur und ist mit Band 3 bezeichnet, was nahelegt, dass zumindest Band 1 und 2 existierten, wenn Magnús nicht analog zu seinen Sammelhandschriften mit Fornaldarsögur sämtliche ihm bekannten im Island der Sagazeit angesiedelten Sagas in einer noch umfangreicheren Reihe kopierte (Driscoll 2012: 261). Alleine die Auswahl in Band 3 zeigt jedoch die Bedeutungslosigkeit der Unterscheidung von Fakt und Fiktion sowie der darauf beruhenden, im zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs so wesentlichen Abgrenzung einer Reihe von Íslendingasögur für das kulturelle Erinnern. 101 Auch in anderen Zusammenhängen kommt im 19. Jh. weiter klar zum Ausdruck, dass aus der isländisch-kulturellen Perspektive sämtliche Darstellungen der Sagazeit als zusammengehörig verstanden werden. Dies betrifft die gelehrte Rezeption auf Island ebenso wie die Rezeption in der Dichtung. Ein Beispiel für erstere stellt der Aufsatz „ Um nokkra búnaðarhætti Islendinga í fornöld “ des Priesters Þorkell Bjarnason (1839 - 1902) aus dem Jahr 1885 dar, in dem (z. B. 19, 22, 28, 37, 42) auch ‚ postklassische ‘ Werke wie Kjalnesinga saga, Bárðar saga und Finnboga saga für die Darstellung isländischer Wirtschaftsweisen herangezogen werden. Paradigmatisch für die Dichtung ist das Mitte des 19. Jh.s entstandene und in der Regel Hjálmar Jónsson (1796 - 1875), genannt Bólu-Hjálmar, zugeschriebene Kappatal Íslendinga. Kappatal Íslendinga glorifiziert in der Tradition der oben thematisierten kappakvæði die isländische Ursprungszeit als heroische Vergangenheit, wie die einleitenden Strophen umgehend deutlich machen: 100 Zu Magnús í Tjaldanesi und seinem bemerkenswerten Schreibeifer siehe Driscoll (2012). 101 Die in Lbs 1511 4to vertretene Auswahl bringt insbesondere auch die Bedeutung der nachmittelalterlichen Íslendingasögur im kulturellen Erinnern zum Ausdruck: Neben den klassischen Vertretern Gunnlaugs saga und Bandamanna saga, den ‚ postklassischen ‘ Finnboga saga und Fljótsdæla saga sowie einem þáttr enthält sie vier nachmittelalterliche Werke, darunter die Skáld-Helga saga, die Prosafassung der mittelalterlichen Skáldhelgarímur. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 125 <?page no="126"?> Fyrr á tíðum frægir lýðir víða hér á landi háðu grönd, hristu brand, þar gljáði rönd. Dyggðugir váru, drengskap kláran báru og traustið mest til happa hér hraustir beztu kapparnir. (Hjálmar Jónsson frá Bólu 1965: 23) In früheren Zeiten trugen berühmte Leute weit hier im Land Streitigkeiten aus, sie schwangen die Klinge, da glänzte der Schild. Tugendhaft waren sie, kluge Männlichkeit trugen sie und das größte Vertrauen auf ihren Vorteil, die starken besten Kämpfer. Wie seine Vorgänger, ob sie die Vorzeit nun heroisieren oder wie etwa Steinunn Finnsdóttir auch kritisch darstellen, unterscheidet Bólu-Hjálmar nicht zwischen klassischen und ‚ postklassischen ‘ Protagonisten, so folgt beispielweise Finnbogi inn rammi auf Egill Skalla-Grímsson und an Króka-Refr schließt sich Gísli Súrsson an. Lediglich zwei ‚ postklassische ‘ Protagonisten fehlen: Bárðr Snæfellsáss und Víglundr, die sich jedoch beide weniger im Sinne des in Kappatal Íslendinga beschworenen Heldentums hervorheben und vermutlich deshalb außen vor bleiben. Die Bedeutungslosigkeit der Unterscheidung von Fakt und Fiktion und dementsprechend eine Rezeption, die nicht durch die Abgrenzung einer Gruppe von Íslendingasögur von den übrigen gekennzeichnet ist, ist für die isländisch-kulturelle Wahrnehmung der Texte auch im 19. Jh. charakteristisch. Darüber hinaus ist die isländisch-kulturelle Rezeption wie schon in den Jahrhunderten zuvor jedoch nicht nur einstimmig. Die bei Bólu-Hjálmar zu beobachtende Glorifizierung der isländischen Ursprungszeit ist offenkundig sehr verbreitet, ruft jedoch auch kritische Stimmen auf den Plan, wie die von Matthías Jochumsson (1835 - 1920), der die Verherrlichung der Sagazeit, die er als halbbarbarisch einstuft, entschieden ablehnt. Er vertritt ein klar progressives Geschichtsbild und verbunden mit diesem die Ansicht, dass die exzessive Glorifizierung der Vergangenheit einen Aspekt der Rückständigkeit der isländischen Gesellschaft darstellt (Gylfi Gunnlaugsson 2008: 197 - 198). Als fundierende Erzählungen begreift jedoch auch er die Íslendingasögur und trägt in Form der auf der Grettis saga gründenden Grettisljóð selbst zur Aktualisierung der isländischen Ursprungserinnerungen im ausgehenden 19. Jh. bei. In Grettisljóð personifiziert Grettir das isländische Volk, Glámr dagegen, wie Gylfi Gunnlaugsson (191 - 198, vgl. auch Hastrup 1990: 171) überzeugend argumentiert, die Überreste des Barbarismus, die abzuschütteln dem isländischen Volk noch nicht gelungen ist. Auf Hinweise, die auf eine Geringschätzung oder gar Abwertung einzelner oder mehrerer ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur im isländisch-kulturellen Kontext deuten, bin ich nicht gestoßen, während es neben der anhaltenden handschriftlichen Überlieferung und insbesondere der rímur-Bearbeitungen weitere Indizien für ihre Wertschätzung gibt. Dass Jónas Hallgrímsson auch mit einer ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga wie der Víglundar saga gut bekannt war und ihr keineswegs abschätzig gegenüberstand, lässt sich aus seinem Rückgriff auf Strophen dieser im Gedicht Grátittlingurinn schließen (dazu Heimir Pálsson 2012: 100 - 101). Und auch die Tatsache, dass die Króka-Refs saga nach der Ausgabe von Hólar 1756 bis in das Jahr 1900 noch vier Drucke erfuhr und damit eine der in diesem Zeitraum meist gedruckten Íslendingasögur darstellt, zeugt weniger von Ablehnung und Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 126 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="127"?> Abwertung als vielmehr von Bekanntheit und Popularität. Diese inkludierende und wertschätzende Haltung gegenüber den in europäisch-wissenschaftlichen Kreisen ausgegrenzten und zunehmend auch abgelehnten Vertretern der Íslendingasögur prägt die isländisch-kulturelle Sichtweise generell. Auch im 20. Jh. zieht sie keine erkennbare Trennlinie durch den Erinnerungsraum Sagazeit. Anders als die europäisch-wissenschaftliche Sichtweise kanonisiert die isländisch-kulturelle Rezeption die mittelalterlichen Íslendingasögur generell im Sinne einer kulturellen Gattung. So wird in den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende bei Sigurður Kristjánsson in Reykjavík von Valdimar Ásmundarson die für die isländische Allgemeinheit bestimmte Reihe Íslendinga sögur herausgegeben, der das dargestellte Verständnis einer kulturellen Textgattung zugrunde liegt. Nach Band 1 - 2, der die Íslendingabók und die Landnámabók enthält - „ af því Íslendingabók og Landnáma eru upphöf að hinum fornu islensku sögum, þótti best fara á þvi að láta þessi rit fara á undan “ , 102 wie die Herausgeber anmerken (ÍS SK 1 - 2: III) - erscheinen 36 Bände mit Íslendingasögur. 103 Die Tatsache, dass die im 19. Jh. als erdichtet eingestuften ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur erst in den letzten Bänden erscheinen, kann zwar durchaus als Werturteil gelesen werden, in jedem Fall aber werden die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur im 20. Jh. auf Island weiter inkludiert, nicht separiert. 104 Auch das Beispiel des bekanntesten und einflussreichsten isländischen Historikers Jón Jónsson Aðils (1869 - 1920), ab 1911 Professor für Geschichte am neugegründeten Háskóli Íslands in Reykjavík, macht dies deutlich. In Gullöld Íslendinga. Menning og lífshættir feðra vorra á söguöldinni, einer Druckfassung seiner öffentlichen Vorlesungen zur frühen isländischen Geschichte, stellt er die isländische Freistaatszeit von der Gründung des Althing im Jahr 930 bis zu ihrem Ende im 13. Jh. als Goldenes Zeitalter der Isländer dar. 105 Dabei greift er nicht nur auf Njáls saga, Egils saga, Laxd œ la saga und andere klassische Vertreter zurück, sondern entnimmt, wenngleich in deutlich eingeschränkterem Maß, auch Víglundar saga, Flóamanna saga, Finnboga saga und anderen ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur Informationen über Gebräuche und Verhalten der Isländer zur Sagazeit. 106 Auch erfolgreiche Grabungen auf der Grundlage einer Íslendingasaga, die in universitären Kreisen als frei 102 weil Íslendingabók und Landnámabók die Anfänge der alten isländischen Sagas sind, schien es am besten so vorzugehen, diese Schriften vorangehen zu lassen 103 Dabei handelt es sich um die von Vésteinn Ólason genannten mit vier Ausnahmen: Droplaugarsona saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls, Króka-Refs saga und Ǫ lkofra saga. Die Ǫ lkofra saga, für die noch immer häufiger die Bezeichnung Ǫ lkofra þáttr verwendet wird, erscheint 1904 in Fjörutíu Íslendingaþættir ebenfalls bei Sigurður Kristjánsson. Im Falle der Droplaugarsona saga ist das Ende sowie einige Ausschnitte im Anschluss an die den gleichen Stoff behandelnde, aber deutlich umfangreichere und in Teilen abweichende Fljótsdæla saga in Band 13 abgedruckt. Auch hier zeigt sich, dass das kulturelle Gedächtnis andere Präferenzen als die Wissenschaft hat. Dass die Króka-Refs saga fehlt, erstaunt in Anbetracht ihrer Beliebtheit, erklärt sich aber möglicherweise aus den hauptsächlich nicht-isländischen Schauplätzen der Saga. Das Fehlen der ausgehend von ihrer handschriftlichen Überlieferung ebenfalls ziemlich beliebten Gunnars saga Keldugnúpsfífls mag mit ihrer fehlenden intertextuellen Anbindung an andere Íslendingasögur zusammenhängen. Ich konnte dazu jedoch nichts in Erfahrung bringen. 104 Die Harðar saga als eine ebenfalls ‚ postklassische ‘ und von der Sagaforschung eher wenig beachtete und wertgeschätzte Íslendingasaga erschien allerdings bereits als Band 3. 105 Dazu und im Speziellen zur von Jón Jónsson Aðils konstruierten heidnischen Vergangenheit siehe Halink (2017). 106 Wie die umfangreichen Verweise im Anhang deutlich machen, stützt sich Jón Aðils (1906: z. B. 256 - 264) in so unterschiedlichen Bereichen wie heidnische Religion, Aberglauben, Hexerei und Magie, Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 127 <?page no="128"?> erfunden gilt, wie im Falle der Víglundar saga unterstreichen ebenfalls, dass in der isländisch-kulturellen Wahrnehmung zu Beginn des 20. Jh.s auch der Wahrheitsanspruch ‚ postklassischer ‘ Vertreter klar affirmiert wird (Peters 2018: 305). Weniger dem Zufall als vielmehr dem Identifikationspotential der Víglundar saga als Íslendingasaga wird geschuldet sein, dass ausgerechnet an deren ostisländischem Handlungsschauplatz im frühen 20. Jh. ein Isländer namens Víglundur Þorgrímsson den gleichen Vor- und Vatersnamen wie der Protagonist der Víglundar saga trägt und (zumindest anteilig) ein Motorboot mit dem Namen Trausti besitzt, 107 was in der betreffenden Saga der Name des Bruders und treuen Gefährten von Víglundr ist. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jh.s werden weiter Íslendingarímur verfasst, auf der Basis klassischer sowie ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur, þættir und über sagazeitliche Persönlichkeiten wie Ingólfr Árnason, den laut Íslendingabók ersten Siedler. Rímnatal (II: 210 - 212) verzeichnet quantitativ allerdings deutlich weniger Werke als noch im 19. Jh. Nicht zuletzt infolge der bei Sigurður Kristjánsson erschienenen Reihe mit Íslendingasögur verändert sich auch die bis dato quasi-mittelalterliche Überlieferung der Texte durch handschriftliches Kopieren, so dass in den einschlägigen Katalogen kaum noch neue Abschriften gelistet werden. Einen weiteren bedeutenden Einschnitt stellt in diesem Zusammenhang die Verbreitung des Rundfunks dar, mit dem die kulturelle Praxis der kvöldvaka, des gemeinsamen abendlichen Sagalesens, zu Ende geht (dazu Glauser 2016: 50 - 51). Die Íslendingasögur bleiben dennoch weiter bedeutsame kulturelle Texte, deren isländisch-kulturelle Rezeption im 20. Jh. sich vielfältig gestaltet, worauf im Rahmen dieser Untersuchung jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Hinsichtlich der zentralen Fragestellung bleibt allerdings festzuhalten, dass die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur kulturell weiter nicht ausgegrenzt werden und ebenfalls dazu beitragen, die Erinnerung an die isländische Ursprungszeit zu erhalten und zu erneuern: Als Beispiele hierfür seien an dieser Stelle lediglich die von Guðni Jónsson 1949 - 1957 besorgte populäre Leseausgabe Íslendingasögur der Íslendingasagnaútgáfan genannt, die sämtliche Íslendingasögur (auch die nachmittelalterlichen) enthält und mehrfach neu aufgelegt wurde, sowie Íslendingasögur við þjóðveginn von Jón R. Hjálmarsson (1997), das der Ringstraße folgend denkwürdige Örtlichkeiten aus den Íslendingasögur, klassischen wie ‚ postklassischen ‘ , vorstellt. Mit dem 1985 errichteten, von Ragnar Kjartansson entworfenen Monument von Bárðr Snæfellsáss (neuisl. Bárður Snæfellsás) in Arnastapi auf Snæfellsnes (Coverabbildung) geht im Übrigen eines der eindrücklichsten Denkmäler für die Sagazeit, das in der isländischen Landschaft zu finden ist, auf eine ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga zurück. 108 Wirtschaftszweige, Handel und Schiffsverkehr, Kleidung und Waffen sowie Wohnen auch auf ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur. 107 Zu entnehmen ist dies einem Gerichtsurteil aus dem Jahr 1918 (LHIM: 383), wobei anzumerken ist, dass Víglundur laut Statistik ein sehr selten vergebener Vorname ist (siehe https: / / is.wikipedia.org/ wiki/ V% C3%Adglundur [zuletzt abgerufen am 28.02.2023]). Guðvarður Már Gunnlaugsson (2000: 46) erwähnt die Taufe eines Isländers auf den Namen Grettir Ásmundsson im Jahr 1919, was die spannende Frage aufwirft, ob es sich bei der gezielten Benennung nach Protagonisten der Íslendingasögur möglicherweise um eine Modeerscheinung handelt. 108 Auch die Rezeption im nationalsozialistischen Deutschland macht bei der kulturellen Aneignung der Íslendingasögur im Übrigen keinen Unterschied zwischen klassischen und ‚ postklassischen ‘ Werken. Mit der Króka-Refs saga nimmt Will Vesper eine von der Forschung früh als unhistorisch und fabelhaft angesehene ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga als Vorlage für seinen Roman Das harte Geschlecht, der, wie Tobias Schneider (2004: 88) bemerkt, die Protagonisten als echte Germanen stilisiert und an einem Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 128 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="129"?> 3.4.3 Mythos in der Wissenschaft: Die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga In der Sagaforschung des 20. Jh.s spielt die Ab- und Ausgrenzung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur anders als in der isländisch-kulturellen Wahrnehmung eine zentrale Rolle, wesentliche Umbrüche prägen jedoch auch die europäisch-wissenschaftliche Wahrnehmung. Zum einen wandelt sich die Sichtweise auf die Entstehungszeit im Laufe der ersten Phase der modernen Sagaforschung dahingehend, dass die von Müller auf der Grundlage des Prologs der Sturlunga saga postulierte Entstehung der Íslendingasögur im 12. Jh. zunehmend in Frage gestellt wird (dazu Meulengracht Sørensen 2001). Gegen Ende des 19. Jh.s datiert lediglich Finnur Jónsson die Íslendingasögur noch auf das 12. Jh., während in der Regel die Ansicht vertreten wird, dass die Íslendingasögur im 13. Jh. niedergeschrieben wurden. Spätestens mit Björn M. Ólsens Abhandlung „ Om den såkaldte Sturlunga-prolog og dens formodede vidnesbyrd om de islandske slægtsagaers alder “ , 1910 erschienen, ist die Annahme von der Entstehung der Íslendingasögur im 13. Jh. dann Allgemeingut. Auch die Frage nach dem Wesen der Íslendingasaga wird im 20. Jh. anders beantwortet als noch im 19. Jh. Die Texte werden nun nicht mehr vornehmlich als geschichtliche, sondern vielmehr als literarische Werke, die Geschichte verarbeiten, gedeutet. Dabei werden auch Stimmen laut, die die Kritik an der Unterscheidung von Historie und Fiktion erneuern, so 1909 von Alexander Bugge, der die Entstehung der Íslendingasögur wesentlich durch die keltische erzählende Prosa beeinflusst sieht: „ die Sagas sind aber weder Romane noch Geschichte, sondern, wie es der Name sagt, s ǫ gur: „ Erzählungen “ , eine künstlerische Wiedergabe der Tradition. Historisches und Unhistorisches sind darin unlösbar vermischt “ (Bugge 1909: 77). Wie die zeitgenössisch in der Wissenschaft als gänzlich unhistorisch eingestuften späten Íslendingasögur zu beurteilen sind, thematisiert Bugge jedoch nicht. In der Tradition des 19. Jh.s erscheinen auch im frühen 20. Jh. weiter Darstellungen der Íslendingasögur, die die Unterscheidung von historisch und fiktiv zum Maßstab dafür machen, welche in der Sagazeit angesiedelten Sagas sich überhaupt als Íslendingasögur qualifizieren, und die ‚ fiktiven ‘ in Zusammenhang mit den Fornaldarsögur und Riddarasögur behandeln. So verfährt auch Eugen Mogk in der zweiten erweiterten Auflage seiner Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur von 1904, der die Bezeichnung Íslendingasögur denjenigen in der Sagazeit angesiedelten Werken vorbehält, die er als historisch einstuft. Für diejenigen unter den Íslendingasögur, die er als romantisch, nicht-historisch im Anschluss an die eigentlichen Íslendingasögur im Zusammenhang mit den mythischen Sagas behandelt, verwendet er die Bezeichnung „ Isländerromane “ bzw. „ Isländermärchen “ für diejenigen mit „ ganz märchenhaftem Anstrich “ wie beispielsweise die Bárðar saga. „ Einige dieser literarischen Erzeugnisse machen einen durchaus historischen Eindruck; erst die genauere Prüfung der historischen Ereignisse lässt die freie Dichtung erkennen. “ (Mogk 1904: 852) Auch William A. Craigies The Icelandic sagas von 1913 atmet noch ganz deutschen Ursprungsmythos schreibt: „ Das Blut strömt, ein unversiegbarer Strom, von den ältesten Zeiten zu uns her. Und so leben in den fernsten Geschlechtern der Väter auch schon wir [ … ]. “ Es mutet ironisch an, dass Vesper ausgerechnet eine Íslendingasaga, die heute nicht selten als Übertreibung oder gar Parodie angesehen wird, zum Vorbild für seine Darstellung von vorbildhaftem Germanen- und Heldentum nimmt, den Geschmack des zeitgenössischen Publikums trifft er jedenfalls. Das harte Geschlecht wird nach seinem Erscheinen 1931 zu einem Bestseller im nationalsozialistischen Deutschland (Schneider 2004: 83). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 129 <?page no="130"?> den Geist des 19. Jh.s. Sämtliche als historisch beurteilte, Isländer betreffende Sagas führt Craigie unter der Bezeichnung „ Sagas of Icelanders “ , von denen er zum einen die Norwegen und die anderen skandinavischen Länder betreffenden historischen Sagas und zum anderen die mythischen und romantischen Sagas abgrenzt. Zu letzteren zählen neben Fornaldarsögur und Riddarasögur auch bei ihm etliche ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur, die entweder eine reale Persönlichkeit der Sagazeit „ in an imaginative fashion “ behandeln oder seiner Ansicht nach gänzlich erfunden sind. „ In comparison with the immense body of fictitious literature relating to other countries, that which is directly connected with Iceland is small and unimportant “ vermerkt er dazu jedoch und sieht als Grund dafür Schwierigkeiten, „ to find a place for what was obviously invented “ , da die Geschichte so gut bekannt war (Craigie 1913: 102). Mit dem Wandel der Sichtweise auf die Íslendingasögur als auf geschichtlichen Begebenheiten beruhende literarische Texte verliert die Dichotomie von Historie und Fiktion im frühen 20. Jh. dann aber zunehmend die zentrale Rolle, die ihr die Forschung des 19. Jh.s im Zusammenhang mit der Abgrenzung einzelner Íslendingasögur zuweist. Auf die Íslendingasögur als literarische Texte etablieren sich dabei zwei konträre Sichtweisen, die die Sagas entweder als primär mündlich oder als primär schriftlich entstandene Werke verstehen, von Andreas Heusler, selbst Anhänger der mündlichen Saga, mit dem griffigen Gegensatz von ‚ Freiprosa ‘ und ‚ Buchprosa ‘ bezeichnet. So zentral diese Debatte für die Sagaforschung des 20. Jh.s ist, so gut ist sie auch aufgearbeitet, weshalb an dieser Stelle lediglich auf die einleitend (S. 30) genannten Darstellungen verwiesen sei. Nimmt man den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit in den Fokus, wird deutlich, dass Frei- und Buchprosaisten diesbezüglich Wesentliches gemeinsam haben und die Geringschätzung der als typisch spätmittelalterlich angesehenen Werke teilen, wie die Ausführungen von Andreas Heusler einerseits sowie Sigurður Nordal andererseits verdeutlichen, die jeweils eine Führungsrolle als Vertreter der Freiprosabzw. Buchprosatheorie einnehmen. Während Heusler in seiner frühen Abhandlung Die Anfänge der isländischen Saga von 1914 seinem Anliegen entsprechend nicht auf das Spätmittelalter eingeht, kommt er in Die Altgermanische Dichtung (1923 erstmalig sowie in zweiter Auflage und um ein längeres Kapitel über die Íslendingasögur ergänzt posthum 1941 erschienen) kurz auf die späten Íslendingasögur zu sprechen, erklärt diese jedoch für nicht weiter von Interesse. Er legt dar, dass sich die Saga von der Chronik zum Roman hin bewegt, es sich bei den Íslendingasögur jedoch noch nicht um Romane handelt. Diese Bezeichnung triff nach Heusler (1941: 213) erst für die Gruppe von Werken zu, die er als „ Isländerfabeln “ bezeichnet und als geschichtliche Romane versteht: „ Sie legen eine freigeschaffene Fabel in einen geschichtstreuen Rahmen “ , wohingegen die richtigen Íslendingasögur „ den ‚ geschichtlichen ‘ Bestand überziehen mit einer Decke von Erfindung. “ Im Gegensatz zu diesem „ kleine[n] Anbau am Gebäude der Íslendinga saga “ sind andere ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur seiner Ansicht nach lediglich „ auf der Linie Chronik → Roman weit vorgerückt “ (231). Die „ Isländerfabeln “ erwähnt er nur am Rande, spricht von vier Werken sowie einigen þættir und zeigt sein fehlendes Interesse nicht zuletzt auch dadurch, dass er keines namentlich nennt. Es handelt sich bei ihnen aus seiner Perspektive lediglich um einen „ späte[n] Seitenschoß “ der Íslendingasaga, „ eine Kreuzung mit dem Vorzeitsroman “ , die seiner Ansicht nicht geglaubt werden wollte und nicht geglaubt wurde. Damit liegt er jedoch nicht richtig, wie die vorangegangene Analyse der traditionellen isländischen Sichtweise auf die Íslendingasögur Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 130 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="131"?> verdeutlicht: Auf Island werden diese „ Isländerfabeln “ selbst von gebildeteren Zeitgenossen Heuslers noch geglaubt. Anders als Heusler vertritt Sigurður Nordal als führender Vertreter der Buchprosatheorie ein Gattungsverständnis, das sich weniger von der isländisch-kulturellen Sichtweise auf die Íslendingasögur abhebt und wie diese inkludierend ist. In seiner 1920 erschienenen Abhandlung Snorri Sturluson bringt er zum Ausdruck, dass die gesamte Sagaliteratur als Einheit zu verstehen ist (129 - 160). Die von ihm formulierte Position gemahnt an die oben in Kap. 2.1 dargestellte kulturelle Textgattung, wenn er konstatiert, „ [ … ] að öll þau verk, sem liggja á milli Íslendingabókar og Víglundar sögu, að þeim báðum meðtöldum, sé rétt að heimfæra undir sagnaritun “ (131). 109 Obwohl Aris Schrift zwar durchaus trocken geschrieben ist, beinhaltet sie auch erzählerische Elemente, die Víglundar saga dagegen ist eine Erzählung, die nicht nur leere Erfindung darstellt, sondern ebenso historische Elemente enthält, weshalb Sigurður Nordal sie als „ söguleg skáldsaga “ (130; historischen Roman) bezeichnet. Anhand dieser beiden Werke skizziert er eine Entwicklung, an deren Beginn das historisch-wissenschaftliche Schrifttum steht und die mit der Entstehung von Romanen endet (129 - 131). Auf der Basis der sich im Rahmen der Gelehrsamkeit des Mittelalters etablierenden isländischen Geschichtsschreibung, deren große Besonderheit das Schreiben in der Volkssprache darstellt, entwickeln sich inspiriert durch die lebendige mündliche Unterhaltung zwei Hauptrichtungen der Sagaschreibung. Diese bezeichnet Sigurður, wenngleich etwas unzufrieden mit der Terminologie, mit „ vísindi og skemtan “ (132; Wissenschaft und Unterhaltung), wodurch die Unterscheidung von Historie und Fiktion indirekt weiter bedeutsam bleibt. Als sich diese beiden Richtungen im Gleichgewicht befinden, erreicht die isländische Sagaschreibung nach Sigurður ihre Blütezeit und als sich das Verhältnis verschiebt und die Unterhaltung die Oberhand gewinnt, verfällt sie schließlich. Sie gerät aus dem Gleichgewicht, weil der ungeschriebene Sagastoff immer weniger wird, aber auch als Folge des Verlusts der isländischen Unabhängigkeit: „ [S]mekk og dómgreind hnignar með hnignun þeirra höfðingjaætta, sem skapað höfðu sagnaritunina og leitt fram til þroska “ (157). 110 Auch Sigurður Nordal greift so auf das bereits für Müllers Darstellung wesentliche romantische Deutungsmuster von Entstehung, Blüte und Verfall zurück. Da er die Íslendingasögur als literarische Werke, nicht wie Müller als historische versteht, verfällt in seinen Augen jedoch nicht die Geschichtsschreibung, sondern die Literatur. Indem er die Entwicklung der mittelalterlichen isländischen Literatur als Ausdruck eines generellen gesellschaftlichen Niedergangs deutet, erneuert er den nachmittelalterlichen Mythos vom Niedergang der isländischen Gesellschaft und den Stellenwert der mittelalterlichen Literatur für die isländische Selbstdefinition. Seine Ausführungen sind eine klare Aktualisierung der isländischen Ursprungserinnerungen vor dem Hintergrund der aktuellen Situation Islands, das 1918 zwar formal die Unabhängigkeit als Königreich Island erlangt, jedoch noch immer in Realunion mit Dänemark verbunden ist und weiter nach der Umsetzung staatlicher Unabhängigkeit 109 dass alle Werke, die zwischen Íslendingabók und Víglundar saga liegen, einschließlich beider, als Geschichtsschreibung eingestuft werden sollten 110 Geschmack und Urteilsvermögen sinken mit dem Niedergang der Häuptlingsgeschlechter, die die Geschichtsschreibung geschaffen und zur Reife gebracht hatten Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 131 <?page no="132"?> strebt. 111 Im Mittelalter werden mit Landnahme- und Sagazeit als isländische Ursprungszeit und der Sturlungenzeit als an die Gegenwart angebundene rezente Vergangenheit kulturelles und kommunikatives Gedächtnis verschriftet und mit der sich etablierenden Geschichtsschreibung zunehmend verbunden. Nachmittelalterlich werden die beiden Epochen mit Arngrímur Jónsson zu einer Vergangenheit, in der die glorreiche Ursprungszeit des frühen Freistaats in das Zeitalter des Niedergangs der Sturlungenzeit führt. Diese Sichtweise wandelt sich mit der Theorie der isländischen Schule erneut. Nicht mehr Landnahme- und Sagazeit stellen das Goldene Zeitalter der Isländer dar, sondern die Schreibzeit der Íslendingasögur, also die von Arngrímur Jónsson noch als Zeit des Niedergangs gedeutete Sturlungenzeit. Die Mythomotorik der isländischen Ursprungserinnerungen ist nun wieder verstärkt fundierend, insofern als nicht mehr der zu betrauernde Verlust einer glorreichen, unabhängigen Vergangenheit im Zentrum dieser Aktualisierung der Ursprungserinnerungen steht, sondern im Gegenteil die Kontinuität und die Gemeinsamkeiten zwischen Vergangenheit und Gegenwart. 112 Ein Aspekt dieses mythomotorischen Wandels ist die neue Sichtweise auf die Íslendingasögur, in der O ’ Connor (2000: 66 - 69) mit Recht einen sich neu etablierenden eigenen Mythos von der Entstehung der klassischen Saga erkennt. Dieser konnotiert isländische Unabhängigkeit mit kulturellen Höchstleistungen und einzigartigen Beiträgen der Isländer zur Weltliteratur, während Fremdeinfluss mit Verfall und dem Verlust dieser Einzigartigkeit in Zusammenhang gebracht wird. Die im europäischen Umfeld angesiedelte, von Isländern vertretene Wissenschaft tritt dabei als Elite auf den Plan treten, die die isländischen Ursprungserinnerungen vor dem Hintergrund der neuartigen politischen Situation, aber auch der eigenen Stellung in einem urbanen Kontext (dazu Byock 1994), neu bewertet und damit das Fundament der isländischen Gesellschaft neu definiert. Die mit dieser Aktualisierung verbundene Abwertung und Ablehnung der als „ greinileg dæmi hnignunar “ (Sigurður Nordal 1920: 132; deutliche Verfallsbeispiele) angesehenen späten Íslendingasögur ist ein weiterer Schritt zur ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga und wird ebenso wegweisend für die Sagaforschung wie Sigurður Nordals inkludierendes Verständnis der Gattung Íslendingasaga. Im weiteren Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jh.s zeigt sich zunächst vor allem die Abgrenzung der als erdichtet geltenden Werke, die weiter zementiert wird. In Gesamtdarstellungen der Gattung werden diese ignoriert oder allenfalls am Rande erwähnt und in der Forschungsdebatte über die Íslendingasögur spielen sie keine Rolle. So werden sie in Bertha S. Phillpotts ʼ Edda and Saga aus dem Jahre 1931 (188 - 214), das „ the Sagas of Icelanders “ von den historischen Sagas, d. h. Íslendingabók, Landnámabók, Sturlunga saga sowie Konungasögur unterscheidet, anders als die am Rande erwähnten Fornaldarsögur ( „ legendary sagas “ ) und die übersetzten Riddarasögur nicht genannt. Ebenso verhält es sich mit Fredrik Paasches Norges og Islands Litteratur, obgleich als Literaturgeschichte „ indtil 111 Zur Rolle Sigurður Nordals bei der Konstruktion einer ‚ isländischen Literatur ‘ und damit der Konstruktion der modernen isländischen Nation im Zuge des Unabhängigkeitsprozesses siehe Neijmann (2006: 47 - 53). 112 Nicht ohne Pathos konstatiert Einar Ól. Sveinsson (1957 - 1961: 2), neben Sigurður Nordal führender Vertreter der isländischen Schule, entsprechend zum Wert der klassischen Sagaliteratur für die Isländer, dass sie „ the corner-stone of the Icelandic people ’ s existence and the inspiration of all their achievements in modern times “ darstellt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 132 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="133"?> utgangen af middelalderen “ (bis zum Ende des Mittelalters) konzipiert. Das in erster Auflage 1924 erschienene Werk geht bei der Darstellung der „ ættesagaer “ (Geschlechtersagas) auf die meisten Íslendingasögur ein, behandelt dann im Zusammenhang mit der Sturlungenzeit eine weitere Reihe von Texten als späte Íslendingasögur, darunter neben der noch heute als eindeutig spät entstanden angesehenen Grettis saga auch Vatnsd œ la saga und Njáls saga. Die im 19. Jh. als erfunden eingestuften Íslendingasögur jedoch werden nicht thematisiert (Paasche 1924: 325 - 344). Im Kapitel über das Spätmittelalter geht Paasche (1924: 496, 500) nicht weiter auf die Íslendingasögur ein und erwähnt lediglich die als „ eventyrsagaen om Bård Snæfells-ås “ (die Märchensaga von Bárðr Snæfellsáss) bezeichnete Bárðar saga im Zusammenhang mit Landschaftsdarstellung sowie die Víglundar saga aufgrund einiger ihrer Strophen, die er als „ den ekteste mans ǫ ngr “ (den echtesten mansöngr) bezeichnet. Noch in der 1957 von Anne Holtsmark mit nachgestellten Ergänzungen zu den jeweiligen Kapiteln herausgegebenen zweiten Auflage finden die im späten Mittelalter entstandenen Íslendingasögur keine Beachtung. Kurz erwähnt werden sie dagegen von Jón Helgason in seiner 1934 erschienenen Norrøn Litteraturhistorie, in der er die Íslendingasögur zusammen mit den Konungasögur als die mehr historischen Sagas den Fornaldarsögur als den sagenartigen gegenüber stellt. Er macht seine Geringschätzung jedoch nicht nur durch die Charakterisierung als „ middelmaadige romaner, der i alle henseender staar tilbage for det 13. Jaarhs. sagaer “ 113 deutlich, sondern auch dadurch, dass er mit Víglundar saga, Finnboga saga und Þórðar saga hreðu lediglich drei Vertreter überhaupt namentlich erwähnt (Jón Helgason 1934: 217 - 218). Diese „ islændingeromaner “ (Isländerromane) stellen seiner Ansicht nach nicht menschliche Schicksale und das wirkliche Leben dar wie die früheren Íslendingasögur, sondern gewaltige Kraftproben und Heldentaten oder Liebe, was die später als ‚ Sagarealismus ‘ bezeichnete realistische Darstellung zu einem wesentlichen Abgrenzungskriterium der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur in Jón Helgasons Darstellung macht. Mit der Bezeichnung ‚ Romane ‘ bringt er zugleich zum Ausdruck, dass es sich bei ihnen seiner Ansicht nach um deutlich von den älteren Íslendingasögur zu unterscheidende Werke handelt. Jenseits von literaturgeschichtlichen Darstellungen finden die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur in der ersten Hälfte des 20. Jh.s keine Erwähnung in Auseinandersetzungen mit der Gattung, in deren Fokus vornehmlich die Entstehung der Íslendingasögur steht. Für die Freiprosaisten ist dabei, wie von Andreas Heusler formuliert, die Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wesentlich für den Ausschluss der als spätmittelalterlich eingestuften Íslendingasögur. Diese werden als reine Schriftwerke angesehen und dementsprechend nicht als Sagas, für welche die Mündlichkeit charakteristisch ist, verstanden. Die Buchprosaisten dagegen orientieren sich an der Unterscheidung von Historie und Fiktion, wenngleich diese Terminologie zum Teil umgangen wird. Die beiden Gegensatzpaare werden dabei jeweils als zwei entgegengesetzte Pole einer Achse angesehen, auf der es im Laufe des Mittelalters zu einer Verschiebung von ersterem zu letzterem kommt. Unterschiedliche Positionen der Buchprosatheorie verorten die Íslendingasögur dabei unterschiedlich zwischen den beiden Polen Historie und Fiktion. So unterscheidet Halvdan Koht 1931 (in Baetke 1974: 179) zwei Arten von populären Geschichten „ reine Fiktion und historische Romane “ , und ordnet die „ sog. Familiensagas “ letzteren zu. Die im 19. Jh. als 113 mittelmäßige Romane, die in jeder Hinsicht hinter den Sagas des 13. Jh.s zurückstehen Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 133 <?page no="134"?> erdichtet eingestuften Íslendingasögur finden in seiner Darstellung jedoch keine Erwähnung, so dass es Spekulation bleibt, ob auch er diese in der Tradition des 19. Jh.s nicht den Íslendingasögur, sondern der reinen Fiktion zurechnet. Als solche versteht Paul Rubow 1936 (Baetke 1974: 190) die Íslendingasögur als unter dem Einfluss der höfischen Romane entstandene Prosadichtungen generell. „ Es war nicht Historie, was gute Sagaerzähler schreiben wollten, sondern es waren Romane, kaum sogar historische Romane wie die Ingemanns. “ Auch er erwähnt die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur nicht, die Charakterisierung der Íslendingasögur als „ realistisch gefärbte Volksprosa “ (195) gemahnt jedoch an die eingangs dargestellte aktuelle Unterscheidung von realistisch und unrealistisch, mit der die Abgrenzung der ‚ postklassischen ‘ Vertreter begründet wird. Explizit als Abgrenzungskriterium der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur formuliert wird die Unterscheidung von Historie und Fiktion um die Mitte des 20. Jh.s nicht mehr, dennoch stellt die Dichotomie weiter einen zentralen Bezugspunkt der Sagaforschung dar. Jan de Vries ’ Altnordische Literaturgeschichte in erster Auflage aus dem Jahr 1942, die als Gesamtdarstellung auch die späten Íslendingasögur thematisiert, steht ganz im Zeichen des von Sigurður Nordal ausgeführten romantischen Entwicklungsmodells von Blüte und Verfall, was bereits am Inhaltsverzeichnis deutlich wird. 114 Während de Vries einen Teil der heute als ‚ postklassisch ‘ eingestuften Íslendingasögur zusammen mit etlichen klassischen Vertretern im Kapitel „ Verfall der alten Kunstformen “ abhandelt, werden die übrigen, die „ Gattung des unhistorischen Isländerromans “ , knapp im Kapitel „ Spätmittelalter “ thematisiert. Diese „ zeigt den Stil einer schnell herabsinkenden Epigonenzeit “ , die spätmittelalterlichen Werke sind „ ganz dem Stil der fornaldarsaga verfallen “ (de Vries 1942: 492). Trotz dieser dargelegten Verfallserscheinungen gesteht de Vries (494) jedoch zumindest im Detail auch einzelnen späten Íslendingasögur eine gewisse Qualität zu, wenn er z. B. die Strophen der Víglundar saga als „ nicht übel gelungen “ charakterisiert oder die Króka-Refs saga als „ eine hübsche Geschichte “ bezeichnet und auf eine „ [e]rgötzlich[e] “ Szene verweist. Auch bei de Vries ist die Unterscheidung zwischen historischen und unhistorischen Íslendingasögur so noch ein wesentliches Kriterium der Abgrenzung der spätmittelalterlichen Werke. Hermann Schneider betont in seiner kleinen 1948 erschienenen Geschichte der norwegischen und isländischen Literatur ebenfalls die Geschichtlichkeit der Íslendingasaga als zentrales Merkmal: „ [D]ie Saga ist geschichtlich eingestellt, es geht ihr um die mehr oder minder wahrheitsgetreue Darstellung der Vergangenheit “ (Schneider 1948: 29). Diese Geschichtsschreibung ist nach Schneider jedoch „ romanhaft “ , weshalb er den Terminus „ Íslendingssaga “ [sic] auch mit „ Isländerroman “ übersetzt. Diesen grenzt er jedoch von der lygisaga, der „ reine[n] Erfindung “ (29), ab, wenngleich manche Vertreter auch „ der Gefahr des Fabulierens “ verfallen “ (37). Die Angabe, dass „ stark zwei Dutzend Isländersagas “ bekannt sind (35), gibt zu erkennen, dass Schneiders Darstellung noch deutlich auf die Standardmeinungen des 19. Jh.s aufbaut und die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur ausklammert. Weiter ausgeführt wird dies jedoch nicht, so dass „ jüngere isländische Stoffe von immer zunehmender Abenteuerlichkeit “ (38) lediglich am Rande Erwähnung finden. Das von Schneider vertretene exkludierende Gattungsverständnis ist um die Mitte des 20. Jh.s allerdings erkennbar ein Auslaufmodell. Stattdessen setzt sich die 114 Die Kapitel in Band 2, der sich der Sagaliteratur widmet, tragen die Überschriften „ Übergang und Vorbereitung (1100 - 1150) “ , „ Aufstieg und Wiederbelebung (1150 - 1200) “ , „ die Zeit der Vollendung (1200 - 1250) “ „ der Verfall der alten Kunstformen (1250 - 1300) “ sowie „ das Spätmittelalter “ . Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 134 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="135"?> inkludierende Sichtweise, wie von Sigurður Nordal zum Ausdruck gebracht, in der ersten Hälfte des 20. Jh.s zunehmend durch und die Íslendingasögur etablieren sich als eigenständige Gattung, die auch namentlich klar gekennzeichnet ist. Als Übersetzung von Íslendingasögur etabliert sich „ Sagas of (the) Icelanders “ als eine der im englischsprachigen Raum gebräuchlichen Bezeichnungen für die Gattung, vor allem die amerikanische Sagaforschung bevorzugt jedoch „ family sagas “ (dazu Andersson 2000). Im deutschsprachigen Raum verbreitet sich „ Isländersagas “ recht schnell, nur vereinzelt finden zu Beginn des 20. Jh.s Bezeichnungen wie „ Familiengeschichten “ , „ Isländerromane “ u. ä. Verwendung. Die skandinavische Forschung verwendet zunächst meist slægtssagaer/ ættesagaer/ ättesagor, im Laufe der weiteren Entwicklung dann auch zunehmend islændingesagaer/ islendingesager/ islänningasagor (siehe Halldór Hermannsson 1908, 1935, Jóhann S. Hannesson 1957). Mit seiner 1953 erschienen Litteraturhistorie (A: Norge og Island) etabliert Sigurður Nordal das inkludierende Verständnis der Gattung Íslendingasaga endgültig in der Sagaforschung und erneuert und verbreitet damit auch den bereits 1920 in Snorri Sturluson entwickelten Entstehungsmythos der klassischen Íslendingasaga. Nicht mehr Wissenschaft und Unterhaltung, sondern Wissenschaft und Kunst sind nun die beiden Pole, anhand derer er die Entwicklung der isländischen Sagaliteratur beschreibt. Er stellt sie als auf der Grundlage mündlicher Traditionen in enger Anlehnung an die Konungasögur entstandene Geschichtsschreibung dar, die dann einem Wandel unterliegt, was zunächst zum realistischen Roman führt, der sich von den Konungasögur löst und freier entfaltet, und schließlich zum unrealistischen Roman, der stark von erdichteten Fornaldarsögur und Riddarasögur beeinflusst ist (Sigurður Nordal 1953: 180 - 273). Nachdem sich die Íslendingasögur als eigene literarische Gattung etablieren, entstehen auf dem Höhepunkt der freien Sagadichtung die klassischen Íslendingasögur, Werke individueller Autoren, nicht schriftliches Abbild einer breiten Traditionsgrundlage (232 - 235). Diese spezifisch isländische Kunst schließlich verfällt aufgrund der Fremdbeeinflussung, die der Verlust der Unabhängigkeit und die Eingliederung in das norwegische Königtum mit sich bringen. Einher mit dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Verfall geht nach Sigurður Nordals Ansicht, der klassischen Meinung der isländischen Schule, 115 ein literarischer Verfall, den die Íslendingasögur wenige Jahrzehnte nach dem für die Isländer fundamentalen Ereignis zum Ausdruck bringen. Die späten Íslendingasögur sind folglich ‚ postklassisch ‘ , also epigonale Werke, die an ihre herausragenden Vorgänger anknüpfen, jedoch nicht deren Qualität erreichen. Diese Darstellung wird ebenso richtungsweisend für die Sagaforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s wie die in diesem Zusammenhang aufgestellte Sagachronologie, die die Íslendingasögur nach ihrer mutmaßlichen Entstehungszeit in fünf Gruppen einteilt. Gruppe vier umfasst dabei die um 1300 aus älteren Sagas umgearbeiteten Werke (Harðar saga, Hávarðar saga, Þorskfirðinga saga, Svarfd œ la saga und Grettis saga sowie die auf nicht älter als 1500 datierte, als Nachdichtung des ersten Teils der 115 Die Etablierung von Charakteristika kulturellen Erinnerns in der akademischen Forschung zu den Íslendingasögur im 20. Jh. erfolgt im Wesentlichen durch die „ isländische Schule “ (íslenski skólinn), die isländische Ausprägung der Buchprosalehre (dazu Jón Hnefill Aðalsteinsson 1991), nicht zuletzt durch ihre federführende Rolle bei der Herausgabe der Reihe Íslenzk fornrit. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 135 <?page no="136"?> Droplaugarsona saga verstandene Fljótsdæla saga), 116 Gruppe fünf die im 14. Jh. entstandenen (Þórðar saga hreðu, Kjalnesinga saga, Bárðar saga, Víglundar saga und Króka-Refs saga). 117 Diese beiden Gruppen stellen die ‚ postklassische ‘ Entwicklungsstufe der Sagaliteratur innerhalb der Gattung Íslendingasaga dar, die folgendermaßen charakterisiert wird: „ Isl. s. forsatte videre som romandigtning, men saaledes at de efterhaanden blev mindre realistiske, stærkere paavirket af de flittigt dyrkede oldtidssagaers smag. “ 118 (261) Sigurður Nordals Darstellung zeichnet aus, dass er trotz seiner Interpretation der spätmittelalterlichen Entwicklung als Verfall auch den ‚ postklassischen ‘ Werken durchaus ihre Qualitäten zugesteht und beispielsweise zur Króka-Refs saga (269) vermerkt, sie sei „ meget morsomt og godt fortalt “ (sehr unterhaltend und gut erzählt). Diese und andere positive Beurteilungen ‚ postklassischer ‘ Vertreter verbreiten sich jedoch anders als seine Gesamtdarstellung der Gattung kaum. So ist die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga mit der Darstellung in Sigurður Nordals Litteraturhistorie endgültig als Subgattung der Gattung Íslendingasaga in der Sagaforschung etabliert, durch die These vom Verfall zugleich jedoch auch abgestempelt. Sie erhält weiter nur wenig Aufmerksamkeit, wobei den umgearbeiteten Sagas mit ihrem ‚ klassischen Kern ‘ etwas mehr Beachtung geschenkt wird als den als durchweg spät angesehenen. Nicht nur das von Nordal vertretene Gattungsverständnis, auch das von ihm propagierte Verfallsmodell verbreitet sich im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zunehmend weiter, ruft jedoch auch kritische Reaktionen hervor. So bemängelt Walter Baetke in seiner Abhandlung „ Über die Entstehung der Isländersaga “ von 1956 Sigurður Nordals Darstellung der Entwicklung der Sagaliteratur anhand der beiden Pole Wissenschaft und Kunst: Indem Nordal die ganze isländische Literaturgeschichte unter dem Gesichtspunkt vísindi og list betrachtet, erscheinen ihm Werke wie die Víglundar saga und die Fornaldarsagas gleichsam als Verfallserscheinungen, weil sie am weitesten von der wissenschaftlichen Haltung entfernt sind. Aber das führt zu einer ungerechten Beurteilung; diese Werke dürfen allein unter künstlerischen Gesichtspunkten betrachtet werden. (Baetke 1956: 53) Wenngleich Baetke die Íslendingasögur sämtlich in der Sphäre der Fiktion verortet, spielt die Unterscheidung von Historie und Fiktion auch in seiner Darstellung weiter eine Rolle: Zusammen mit den Fornaldarsögur stellt er sie als ungeschichtliche Sagas den geschichtlichen Sagas, zu denen er Konungasögur sowie die Sturlunga saga rechnet, gegenüber. Über „ Werke wie die Víglundar saga “ , sprich die späten Íslendingasögur, äußert sich jedoch auch Baetke nicht weiter, was in Anbetracht der „ konsequenten Buchprosatheorie “ (81), die er vertritt, sehr schade ist, kommt er doch zu folgendem Schluss: 116 Auch auf die Umarbeitungen der Gísla saga sowie die (mutmaßlich auf Grundlage der ersten Kapitel der Vápnfirðinga saga gedichtete) Þorsteins saga hvíta sowie die Gruppe fünf zugeordnete Þórðar saga hreðu wird in diesem Zusammenhang verwiesen. 117 Der Jökuls þáttr Búasonar als nochmals jüngere Fortsetzung der Kjalnesinga saga wird ebenfalls erwähnt, zudem versteht Sigurður Nordal den zweiten Teil der Bárðar saga, der von Gestr Bárðarson handelt, gleichfalls als jüngere Fortsetzung. 118 Die Íslendingasögur werden als Romandichtung fortgesetzt, aber in einer Weise, dass sie allmählich weniger realistisch und stärker vom Geschmack der fleißig gepflegten Fornaldarsögur beeinflusst wurden. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 136 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="137"?> Für die Isländersagas, die Kunsterzählungen sind, ist die Frage der Tradition im Grunde irrelevant. Ob die Verfasser die Handung erdichteten oder ob sie für sie Anekdoten, Sagen, Familienüberlieferungen u. a. benutzen, ist von nebensächlicher Bedeutung. Die Frage der Überlieferung in den Isländersagas ist eine bloß stoffgeschichtliche Frage. Der Wert dieser Sagas beruht wie der jeder Dichtung allein auf der künstlerischen Behandlung ihres - gegebenen oder erfundenen - Stoffes (53 - 54). 119 Tatsächlich beurteilt die Sagaforschung die literarische Qualität der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur, zumindest derjenigen, die im 19. Jh. als erdichtet eingestuft werden, in der Regel nicht losgelöst von ihrer literaturgeschichtlichen Einordnung. Werden sie in engen Zusammenhang mit den übrigen Íslendingasögur gestellt und bilden als deren Anhängsel eine eigenständige Subgattung, werden sie zumeist als schlechte Erzählungen angesehen, während sie bei einer Klassifizierung als romantische Sagas durchaus gelobt werden, wie das Beispiel der Víglundar saga deutlich macht. Guðbrandur Vigfússon (1878: LXIII), der sie unter die skröksögur als Anhang zu den eigentlichen Íslendingasögur einordnet, hält sie für „ feebly told “ , während Craigie (1913: 103), der sie als fiktives Werk im Kreise anderer als fiktiv eingestufter Sagas behandelt, sie als „ attractively told “ charakterisiert und in ihr „ obviously the work of a man of some taste and reading “ erkennt. Baetke äußert sich allerdings nicht dazu, wie er die Víglundar saga - oder andere ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur - unter rein künstlerischen Gesichtspunkten beurteilt. Seine Feststellung (Baetke 1956: 82), dass die Íslendingasögur als literarische Schöpfungen des 13. Jhs „ nicht aus den Zuständen und Vorgängen der ‚ Sagazeit ‘ [ … ], sondern [ … ] aus ihrer eigenen Zeit “ begriffen werden müssen, verweist allerdings darauf, dass auch die erst im 14. oder 15. Jh. entstandenen Íslendingasögur nur vor ihrem zeitspezifischen Entstehungshintergrund zu verstehen sind. Während Baetkes fehlendes Interesse an den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur typisch für seine Zeit ist, formuliert er im Hinblick auf die generelle Entstehung der Íslendingasögur sehr moderne Ansichten, wenn er auf ihre „ retrospektive Haltung “ verweist und sie als in der Erinnerung zum Goldenen Zeitalter verklärte frühe Geschichte charakterisiert (83). 120 Generell bürgert sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s ein, die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur als spätmittelalterliches Phänomen am Rande zu erwähnen. Als charakteristisch wird dabei vor allem ihre Nähe zu den Fornaldarsögur und Riddarasögur herausgestrichen und ihre Abhängigkeit von diesen betont. Stefán Einarsson, der in seiner History of Icelandic literature aus dem Jahr 1957 (neu aufgelegt 1959, 1961 auch auf Isländisch erschienen), die klassische Phase dezidiert in frühklassisch und spätklassisch unterscheidet - wohl nicht zuletzt um am klassischen Status einiger später Werke, vor 119 Die konsequente Buchprosatheorie leugnet, wie Baetke (1956: 81) weiter ausführt, keineswegs, dass die Íslendingasögur Beziehungen zur Tradition haben. Die hinter den Sagas stehenden Überlieferungen versteht sie jedoch schlicht als „ Rohstoff “ , aus dem Sagaverfasser „ unter künstlerischen Gesichtspunkten etwas Eigenes und Neues, eben die Sagas, geschaffen haben “ . 120 Anders als die aktuelle Forschung zu den Íslendingasögur sieht er jedoch nicht ein infolge des Verlusts der Unabhängigkeit in Frage gestelltes Selbstverständnis als zentral für die Entwicklung der Gattung an, sondern die Bedrohung der isländischen Freiheit und Selbstständigkeit der Isländer durch das Machtstreben des norwegischen Königs und ein dadurch gesteigertes Nationalbewusstsein: „ Angesichts des drohenden Untergangs wollte man die Werte der isländischen Freistaatszeit retten, indem man sie in der Dichtung aufhob “ (Baetke 1956: 84). Die Funktion dieses Erinnerns scheint für Baetke mit dem Selbstzweck der Íslendingasögur als literarische Texte beantwortet. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 137 <?page no="138"?> allem der Grettis saga, festhalten zu können - formuliert dies folgendermaßen: „ In the postclassical sagas [ … ] the door was flung open to influence and borrowing from fornaldar sögur and the romances of chivalry. “ (Stefán Einarsson 1957: 150) Auch er betont die zwei Arten ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur, die neuentstandenen Werke „ written in this spirit “ einerseits und die umgearbeiteten Sagas andererseits. Seine von Sigurður Nordal geprägte Darstellung schreibt mit am Mythos der klassischen Íslendingasaga und präsentiert - als erste isländische Literaturgeschichte, die die isländische Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart behandelt - die altisländische Literatur als den Standard, an dem die übrige Literatur gemessen wird (Neijmann 2006: 62 - 70). Die Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga erscheint bei Stefán Einarsson (1957: 150) dabei als eine Art Potpourri, bestehend aus Werken wie „ the adventurous Finnboga saga ramma and Þórðar saga hreðu, the antiquarian Kjalnesinga saga, the folkloristic Bárðar saga Snæfellsáss, the humorous Króka-Refs saga, and the romantic love story Víglundar saga “ , die wesentlich mit aus den Fornaldarsögur und Riddarasögur entlehnten Ereignissen und Motiven ausgeschmückt sind. Wenngleich die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur nun anders als im 19. Jh. im Allgemeinen zur Gattung Íslendingasaga gezählt und als deren spätmittelalterliche Entwicklung angesehen werden, wird dennoch gelegentlich die Frage aufgeworfen, inwiefern es gerechtfertigt ist, die gänzlich spät entstandenen Vertreter im Gegensatz zu den umgearbeiteten Werken tatsächlich in Zusammenhang mit den älteren Íslendingasögur zu stellen. So bestehen für Ole Widding, der im Kapitel „ Islændingesagaer “ in Norrøn Fortællekunst von 1965 Sigurður Nordals Darstellung folgt und die Gattung anhand einzelner Werke bespricht, Zweifel, „ hvorvidt de med nogen ret kan nævnes i flugt med egentlige sagaværker “ (Widding 1965: 89). 121 Er sieht sie deutlich von den Fornaldarsögur beeinflusst, die er als „ fantaserende sagaer “ (91; phantasierende Sagas) von den realistischen, historischen Stoff behandelnden Íslendingasögur abgrenzt. Offen bleibt die Frage, inwieweit die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur tatsächlich zu den Íslendingasögur zu rechnen sind, auch in der zweiten Auflage von Jan de Vries ’ Altnordische Literaturgeschichte, die 1964 - 1967 erscheint. In der Kapiteleinteilung orientiert sich de Vries nicht mehr am Modell von Blüte und Verfall wie noch in der ersten Auflage, sondern an der Einteilung in Gattungen. Das ausführliche Kapitel über die Íslendingasögur (de Vries 1967: 529 - 530) bespricht diese nach geographischer Einteilung. Die spätmittelalterlichen Vertreter, in der ersten Auflage noch „ die letzten Isländersagas “ genannt, bezeichnet er im Kapitel über das Spätmittelalter nun allerdings lediglich als „ neu geschriebene Sagas “ , die „ besonders stark den Einfluß der zur Vorherrschaft gelangten Fornaldarsaga “ (529) zeigen, wobei er einzelne Vertreter als „ Erfindung “ oder „ reine Phantasie “ kennzeichnet (529 - 533). Obgleich sie sich teilweise „ gewissenhaft der Tradition der Isländersaga “ (532) anschließen, sind sie seiner Ansicht nach doch in erster Linie von Fornaldarsögur und Riddarasögur beeinflusst. Wie Widdings Behandlung der Íslendingasögur bringt auch de Vries ’ Darstellung klar zum Ausdruck, dass die späten Íslendingasögur nicht als vollwertige Mitglieder der Gattung angesehen werden. Zudem zeigen sowohl Widdings Bezeichnung als „ fantaserende sagaer “ als auch Vries ’ Einstufung als „ reine Phantasie “ , dass die Dichotomie von Historie und Fiktion, wenngleich nicht mehr in der Deutlichkeit wie im 19. Jh. 121 ob sie mit Recht im Zusammenhang mit den eigentlichen Sagawerken genannt werden können Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 138 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="139"?> formuliert, die Beurteilung der Íslendingasögur auch zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jh.s noch immer prägt. Anstatt von Historie und Fiktion ist nun in der Regel von Fakt und Fiktion die Rede, die zu unterscheiden als eine Aufgabe der Sagaforschung angesehen wird. 122 Die knappe Darstellung der Íslendingasögur in Schiers einflussreichem Überblick Sagaliteratur von 1970 kommt ohne einen Hinweis auf diese Unterscheidung aus, konzentriert sich jedoch auf die klassischen Íslendingasögur und das 13. Jh. und thematisiert das Spätmittelalter und die ‚ postklassischen ‘ Vertreter nicht (Schier 1970: 34 - 59). Die abschließende Auflistung der Íslendingasögur, die diese Sigurður Nordal folgend chronologisch in fünf Gruppen präsentiert, zementiert jedoch die Stellung der späten Werke, vor allem der letzten Gruppe, welche die im 19. Jh. als erdichtet eingestuften Íslendingasögur umfasst, als Anhängsel von geringer Bedeutsamkeit. Anders als Sigurður Nordal, der sein skalierendes Modell nicht unmittelbar auf der Unterscheidung von Historie und Fiktion aufbaut und sämtlichen Íslendingasögur ein (allerdings ziemlich vage bleibendes) „ historical element “ zuschreibt (dazu Sigurður Nordal 1957), rekurriert Einar Ól. Sveinsson klar auf diese. In seinem 1970 gehaltenen Vortrag „ Fact and fiction in the sagas “ stellt er die Entwicklung der Gattung Íslendingasaga als Verschiebung von ersterem zu letzerem dar, was schlussendlich zu den ‚ postklassischen ‘ Werken führt, in which verses were invented and no further obligation was felt towards historical truth. Sometimes traditions were used, but these were usually dim ones whose contents were for the greater past [sic] pure fiction. (Einar Ól. Sveinsson 1971: 306) Am Ende der Gattungsentwicklung steht gemäß seiner Sichtweise die reine Fiktion, das Verhältnis von Fakt und Fiktion in den klassischen Sagas bleibt dabei jedoch vage: „ where the attitude of their authors towards fact and fiction is concerned, there are all kinds and nuances of light and shade “ (306). 3.4.4 Distanzierung von der Dichotomie von Historie und Fiktion Wie sehr die Debatte um die Íslendingasögur in dieser Zeit noch immer von der Dichotomie von Historie und Fiktion geprägt ist, macht Fritz Pauls Aufsatz „ Bestandsaufnahme zur Poetik der Isländersagas “ deutlich. Zwar stuft Paul (1971: 173) den von ihm ausgemachten Gegensatz „ zwischen mittelalterlichem Geschichtsbewußtsein und totaler ‚ Fabulierfreude ‘ in der Isländersaga “ als modern ein, versucht ihn aber dennoch als bedeutsam bei der Entstehung der Texte zu affirmieren, was jedoch nicht überzeugt. Entsprechend nimmt Gerd Wolfgang Weber (1972: 189 - 196) Pauls Ausführungen zum Ausgangspunkt, die Unterscheidung von fact und fiction in der Sagaforschung zu evaluieren und ihren Stellenwert zu problematisieren. Wie er bereits im Titel seines Aufsatzes zum Ausdruckt bringt, versteht er „‚ Fact ‘ und ‚ fiction ‘ als Maßstäbe literarischer Wertung in der Saga “ und betont, dass der Faktizitätsanspruch ein unabdingbares Kriterium der Erzählsituation der Íslendingasaga darstellt und die Historizität der Saga ein wesentlicher Bestandteil des Erwartungshorizontes der Zuhörerschaft ist. Im Gegensatz zum Romanautor, „ der eine fiktive Wirklichkeit erzeugt “ , stellten die Íslendingasögur für die Zuhörer im Mittelalter „ geglaubte Wirklichkeit “ dar (194) und wurden danach beurteilt, „ ob das Erzählte ‚ stimmte ‘ 122 Beispielsweise im Zusammenhang mit dem als typisch für die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur angesehenen übernatürlichen Element formuliert von Bayerschmidt (1965: 43). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 139 <?page no="140"?> - ob es glaubbar war “ (197). Webers Ausführungen, die wesentliche Züge der Funktionsweise der Sagas als kulturelle Texte thematisieren, weisen in Richtung der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Sagaforschung, indem sie die Rolle der Sagas für das mittelalterliche Publikum in den Fokus rücken. Dabei betont er, dass der Gegensatz von Fakt und Fiktion für Sagaerzähler und ihr Publikum durchaus eine Rolle gespielt hat (197 - 199), lässt jedoch offen, wie sich dies konkret im Falle der Íslendingasögur manifestiert. Damit bleibt auch die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur und seiner Akzeptanz im Mittelalter unbeantwortet. Bedeutende spätere Veröffentlichungen Webers zum Mythencharakter der isländischen Literatur (Weber 1981, 1986) geben dagegen deutlich zu erkennen, dass er auch ‚ postklassische ‘ Íslendingasögur klar als geschichtsmythische Darstellungen versteht: Die Finnboga saga ist ein zentrales Beispiel für seine geschichtsdeterministische Deutung der Sagaliteratur. Die Frage, inwiefern der Gegensatz von Historie/ Fakt und Fiktion für Produktion und Rezeption der Íslendingasögur tatsächlich von Bedeutung war, bleibt allerdings auch in diesem Zusammenhang offen. Als Mythos sind die Íslendingasögur qua Form und qua Funktion wahr, wie Weber betont und in seiner Analyse entsprechend auch ohne Bezugnahme auf Fiktionalität und Fiktion auskommt. In der älteren Veröffentlichung allerdings klingt an, dass dem Gegensatzpaar von Fakt und Fiktion - von Weber wohlweislich in englischer Sprache und Anführungszeichen verwendet - als Wertungsmaßstäben im Mittelalter ein anders geartetes Fiktionalitätsverständnis zugrundeliegt (Weber 1972: 197 - 199). An diesem Punkt setzt der russische Skandinavist M. I. Steblin-Kamenskij an, der in verschiedenen Veröffentlichungen (1966, 1967, 1973) betont, dass die Sagas vom mittelalterlichen Publikum nicht als Fiktion, sondern als wahr rezipiert wurden. Er ist der erste, der darauf fokussiert, dass dem mittelalterlichen Verständnis der Íslendingasögur mit Wahrheit und Lüge eine andersgeartete Grundunterscheidung zugrundliegt als ihrer modernen Rezeption und sie entsprechend im Mittelalter sowohl Fiktion als auch Historie darstellen: „ The realism of Islendingas ǫ gur is thus a very peculiar realism, since it is fiction that was considered to be ‚ truth ‘ . “ (1966: 30) Die Fiktion in den Íslendingasögur (und auch der Sturlunga saga), die nicht als solche wahrgenommen wurde, nennt er „ latent “ (1967: 81) und grenzt sie von eindeutiger Fiktion ab, die er in den Fornaldarsögur erkennt und als „‚ patent ‘ , non-verisimilar fiction “ bezeichnet (83). 123 Ausführlicher widmet er sich dieser Thematik dann in seinem 1973 in englischer Übersetzung erschienenen Werk The saga mind, das in Kreisen der Sagaforschung kontrovers diskutiert wurde. 124 In diesem unterscheidet er zwischen „ historical truth “ und „ artistic truth “ , wobei ersterer die 123 Nach Steblin-Kamenskij (1967: 83) wurde diese „‚ patent ‘ fiction “ im Altisländischen als lygi (Lüge) bezeichnet. Ausgehend von der Feststellung, dass sich sämtliche altisländische Literatur mit der Vergangenheit beschäftigt, kommt er zum Schluss, dass der Anteil der Fiktion in den Sagas direkt proportional zur Distanz zwischen den Ereignissen und ihrer Aufzeichnung ist. Er schreibt der mündlichen Überlieferung entsprechend eine bedeutende Rolle zu und sieht die Ursache für diese Zunahme an Fiktion, die er im Falle der Íslendingasögur und Sturlunga saga als quantitativ bezeichnet, darin, dass mit zunehmender Distanz zu den geschilderten Ereignissen die Wahrscheinlichkeit, dass Fiktion nicht als Fiktion erkannt wird, steigt und die Möglichkeit, Fiktion als solche zu erkennen, abnimmt. 124 Zu dieser Kontroverse siehe insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Peter Hallberg und Steblin-Kamenskij, die in einer Reihe von Beiträgen in Mediaeval Scandinavica 7 - 9 (1974 - 1976) geführt wurde. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 140 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="141"?> wissenschaftliche Untersuchung entspricht, letzterer die Fiktion, d. h. der Roman. Diese Unterscheidung apostrophiert er als Folge eines Bewusstseinswandels des modernen Menschen, die somit in der frühen isländischen Gesellschaft nicht existent war. Wie andere Bewusstseinsbereiche des modernen Menschen sind auch seine Konzepte von Wahrheit von „ duality, division, absence of unity “ gekennzeichnet (Steblin-Kamenskij 1973: 22). Die frühe isländische Gesellschaft dagegen kennt diese Unterscheidung nicht, sondern verfügt nur über eine Art Wahrheit, die Steblin-Kamenskij als „ syncretic truth “ bezeichnet. Whoever reported syncretic truth about the past strove simultaneously for accuracy and for reproduction of reality in all its living fullness. But then this was not only truth in the proper sense of the word but also art, or an organic combination of what in the consciousness of modern man is incapable of combination. Syncretic truth is something lost forever. (24) Die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur erwähnt Steblin-Kamenskij lediglich abschließend kurz im Rahmen grundlegender Informationen zur Gattung, wo er Kjalnesinga saga, Víglundar saga, Bárðar saga, Króka-Refs saga und Finnboga saga als „ latest family sagas “ und „ less original than the rest “ bezeichnet. Zu diesen konstatiert er, „ in them there is much stereotyped and fantastic or romantic, and they are therefore usually not considered genuin family sagas “ (155). Aus seinen zuvor dargelegten Ausführungen lässt sich schließen, dass sie aufgrund ihrer phantastischen und märchenhaften Elemente wie auch die Fornaldarsögur „ dissolution of syncretic truth and an incipient form of artistic truth “ zeigen und und entsprechend als „ obvious fiction “ (41) einzustufen sind. Steblin-Kamenskij formuliert wesentliche Aspekte der Íslendingasögur als kulturelle Texte, wenn er betont, dass sie als Wahrheit rezipiert wurden und nicht als Fiktion intendiert waren, und auf die dem mittelalterlichen Literaturverständnis eigene Grundunterscheidung von Wahrheit und Lüge/ Irrtum verweist. Die Abgrenzung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur als fiktionale Texte bleibt jedoch auch bei ihm bestehen. Während die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur bei der zunehmenden Problematisierung der Unterscheidung von Fakt und Fiktion im Hinblick auf die Sagaliteratur keine Rolle spielen, wird die Sichtweise auf die Subgattung im weiteren Verlauf jedoch offenkundig durchaus von dieser Debatte beeinflusst. In der nächsten Generation von Literaturgeschichten und Gesamtdarstellungen werden die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur nicht mehr vornehmlich als rein fiktiv, sondern zunehmend als unrealistisch charakterisiert, wie beispielsweise Peter Hallbergs Darstellung im ersten Band der 1972 erschienenen Literaturgeschichte Nordens Litteratur, einem gesamtskandinavischen Projekt - in deutscher Übersetzung 1982 erschienen (Brøndsted 1982) - , verdeutlicht (Hallberg 1972: 72 - 83). Weiterhin findet die spätmittelalterliche Phase der Íslendingasögur jedoch wenig Aufmerksamkeit, wenngleich die Zugehörigkeit der ‚ postklassischen ‘ Vertreter zur Gattung nun als selbstverständlich angesehen wird. So zeigt Hallberg die Entwicklung der Íslendingasögur anhand einzelner Sagas auf, wobei er sich ebenfalls auf das 13. Jh. konzentriert und wenig Interesse am Spätmittelalter erkennen lässt. Lediglich in einigen Sätzen am Ende des Kapitels über die Íslendingasögur kommt er auf die Werke des 14. Jh.s zu sprechen und vermerkt dazu, dass diese zunehmend andersartig geprägt sind und sich durch fehlenden Realismus von den älteren Vertretern der Gattung abheben. Dabei verweist er (83) auf die immer unglaublicher werdenden Abenteuer und die volksmärchenartigen Züge, wofür ihm Kjalnesinga saga als Beispiel dient, sowie den Einfluss der kontinentalen höfischen Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 141 <?page no="142"?> Dichtung, der sich an der Víglundar saga zeigt. „ Samtidigt förflackas människoskildringen; personerna tecknas mest i svart och vitt. Dikten förlorar mycket av sitt säkra fäste i verkligheten. “ 125 Abschließend konstatiert auch er, dass sich diese Werke somit dem Typ Sagaliteratur, den die Fornaldarsögur darstellen, annähern. Ähnlich präsentiert Régis Boyer die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur in seiner Darstellung der Sagaliteratur in Les sagas islandaises aus dem Jahr 1978, neu aufgelegt 1992. Auch für ihn steht die Zugehörigkeit der ‚ postklassischen ‘ Werke zur Gattung außer Frage. Er nennt jedoch abschließend lediglich in Kürze einige Beispiele für diese - neben der auch von ihm genannten Kjalnesinga saga außerdem Finnboga saga, Flóamanna saga und Harðar saga - und betont das Unrealistische, den Verlust der scheinbaren Objektivität in der Darstellung sowie das Interesse am Sonderbaren und Abnormalen als besondere Charakteristika. Das zunehmende Absinken „ dans le réalisme vulgaire ou dans un romantisme facile “ (in vulgären Realismus und eine einfache Romantik) und den Verlust der alten Ethik, auf der die Originalität des Weltbildes der Íslendingasögur gründet, bezeichnet er anders als Hallberg jedoch explizit als Verfall der Gattung. Die fehlende Historizität als Grund, die ‚ postklassischen ‘ Vertreter abzugrenzen, klingt bei ihm noch durch, wenn er die Kjalnesinga saga anspricht, „ dont il suffira de dire que, selon toute vraisemblance, le héros, Búi Andriðsson [sic], n ’ a jamais existé “ (Boyer 1978: 94). 126 Paul Schach dagegen bedient sich in Icelandic sagas, 1984 erschienen, nicht der Verfallsterminologie und spricht entsprechend auch nicht von ‚ postklassischen ‘ , sondern von späten Íslendingasögur. Im Unterschied zu anderen Darstellungen widmet er sich auch diesen eingehend und bespricht fast alle heute als ‚ postklassisch ‘ klassifizierten Werke, unterteilt in originale und überarbeitete Sagas, wobei die Bárðar saga von ihm ausnahmsweise zu letzteren gezählt wird (Schach 1984: 155 - 171). Die Zuordnung der Grettis saga zu dieser Kategorie umgeht er, da er nach den frühen Sagas den überwiegenden Teil der Íslendingasögur wie Guðbrandur Vigfússon in „ major sagas “ und „ minor sagas “ unterteilt. In Anknüpfung an Schiers Aufsatz über die Entstehung der isländischen Literatur sieht er „ an awareness of creating a new nation “ als wesentlichen Impuls für die Entstehung der Sagaschreibung an (176). Während dieses Bewusstsein in der Íslendingabók, der Egils saga und zahlreichen anderen Sagas zum Ausdruck kommt, sind die späten Íslendingasögur wie auch die Fornaldarsögur und Märchensagas, mit welchen sie in engem Zusammenhang stehen, für Schach im Großen und Ganzen „ a form of escape literature “ (170). 127 Er äußert sich jedoch durchaus auch positiv, wenn er anmerkt „ several of them rank stylistically among the best of the Íslendingasögur “ (155). Ihre Zugehörigkeit zur Gattung stellt er ebenfalls nicht in Frage, vermerkt aber, dass sie mehr mit den frühen Konungasögur und den „ transitional sagas “ , d. h. den frühen Íslendingasögur, die sich nach den frühesten historischen Schriften und den ersten Biographien entwickelten, gemeinsam haben als mit den übrigen Íslendingasögur (171). 125 Gleichzeitig verflacht die Menschenschilderung; die Personen werden zumeist in Schwarz-Weiß gezeichnet. Die Dichtung verliert viel von ihrem sicheren Halt in der Realität. 126 von der es genügt zu sagen, dass der Held, Búi Andríðsson, aller Wahrscheinlichkeit nach niemals existiert hat 127 Indirekt erscheint die Verfallstheorie somit auch bei Schach, der mit der Charakterisierung als „ escape literature “ an ältere Darstellungen anknüpft, in denen vor allem die Märchensagas als Reaktion auf gesellschaftliche Zustände, die Möglichkeiten zur Alltagsflucht erfordern, gesehen werden. Zu einer kritischen Evaluierung dieser These siehe Glauser (1983: 1 - 10). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 142 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="143"?> Die relativ intensive Auseinandersetzung Schachs mit den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur stellt zeitgenössisch eine Ausnahme dar, wie Carol J. Clovers Forschungsüberblick von 1985 deutlich macht, in dem die Íslendingasögur als ein reines Phänomen des 13. Jh.s erscheinen. Die drei unterschiedlichen methodischen Zugänge, die Clover (1985: 240) für die Forschung über die Íslendingasaga in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s ausmacht, Quellenanalyse, literarische Anthropologie und Formalismus, haben eines gemeinsam: Die Gattung wird über die im 13. Jh. entstandenen Werke definiert, so dass die spätmittelalterlichen Sagas außen vor bleiben oder weiterhin als weniger wertvolles Anhängsel erscheinen. 128 Als letzteres erscheinen sie im ausgehenden 20. Jh. allgemein, wenngleich ihre Zugehörigkeit zur Gattung nur noch selten und in Einzelfällen angezweifelt wird. Die Verfallsthese wird nicht mehr explizit geäußert wie in der ersten Hälfte des 20. Jh.s, stattdessen gründet die Abgrenzung der ‚ postklassischen ‘ Werke auf einer Kombination der traditionellen Unterscheidung von Historie und Fiktion und der diese zum Teil ablösenden, zum Teil ergänzenden Distinktion von realistisch und unrealistisch. Auch für Jónas Kristjánsson (1994: 209) steht außer Frage, dass die späten Íslendingasögur zur Gattung zu zählen sind, ist doch die Darstellung der Sagazeit aus seiner Sicht das wesentliche Charakteristikum dieser Texte. Bereits durch seine Darstellungsweise in Eddas und Sagas (1988 auf Englisch, 1994 auf Deutsch erschienen) grenzt er sie jedoch von den übrigen ab. Während er den Großteil der Íslendingasögur in traditioneller Manier geographisch nach ihrem Handlungsschauplatz sortiert abhandelt, erhalten das 14. und 15. Jh. als „ die letzte Epoche, in der Íslendinga sögur verfaßt wurden “ , einen eigenen Abschnitt (1994: 296 - 300). Die Gründe für die Abgrenzung sind auch für Jónas zum einen mangelnder Realismus: „ Die lebensnahen Themen und die Darstellungsweise sind Merkmale früher Zeit. Elemente der Phantasie und der Übertreibung werden im Laufe der Zeit auffälliger. “ (226) Zum anderen spielt jedoch auch in seiner Darstellung die Historizität der einzelnen Sagas eine Rolle für die Einordnung der späten Werke, wenn er auf die aufgrund des zunehmenden Abstands zur Sagazeit abnehmende „ historische Präzision “ (304) verweist oder betont, dass die jüngsten Íslendingasögur „ ohne geschichtlichen Wert “ seien und sie als „ Geschichten, die eigentlich nur Romane sind, obwohl sie im Sagazeitalter spielen, “ bezeichnet (296). Zwar knüpfen sie an die älteren Íslendingasögur an, zeigen aber zugleich deutlich fremden Einfluss und sind somit ein „ Mosaik von Themen nationaler und fremder Herkunft “ (296). Die Sichtweise Jónas Kristjánssons auf die späten Íslendingasögur ist paradigmatisch für die Art der Wahrnehmung und Darstellung des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga im letzten Drittel des 20. Jh.s: Die ‚ postklassischen ‘ Vertreter werden mittlerweile zwar zur Gattung gezählt, aber eben doch nicht als vollwertige Vertreter angesehen. Sie sind ‚ nur Romane ‘ , keine richtigen Íslendingasögur und als 128 Keine Beachtung finden die ‚ postklassischen ‘ Vertreter mit Ausnahme der Grettis saga in zwei der für die Sagaforschung bedeutendsten Monographien zu den Íslendingasögur. Meulengracht Sørensen (1993) als eine der einflussreichsten Untersuchungen der literarischen Anthropologie geht ebensowenig wie Andersson (1967) als richtungsweisendes Werk des Formalismus auf sie ein. Die Vorworte der Íslenzk fornrit-Ausgaben, die Clover als charakteristisch für die Quellenanalyse anführt, dagegen veranschaulichen den Stellenwert der ‚ postklassischen ‘ Werke als Anhängsel: Sie behandeln die späten Werke weit weniger ausführlich als die frühen sowie klassischen Vertreter und präsentieren sie in erster Linie als Sammelsurien aus Themen und Motiven, die den klassischen Íslendingasögur, vor allem aber den Fornaldarsögur und Riddarasögur, übersetzten und originalen, entstammen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 143 <?page no="144"?> Subgattung ein Sammelsurium höchst unterschiedlicher Themen und Motive. Wenngleich nun häufig auf Phantastik und Übertreibung der ‚ postklassischen ‘ Sagas verwiesen wird, spielt die Dichotomie von Historie und Fiktion sowohl in Gesamtdarstellungen als auch in Literaturlexika im ausgehenden 20. Jh. noch immer eine nicht unbedeutende Rolle bei der Abgrenzung der Subgattung als Ganzes sowie der Charakterisierung einzelner ‚ postklassischer ‘ Íslendingasögur. 129 Auch die letzte große Gesamtdarstellung der Íslendingasögur im vergangenen Jahrhundert, das von Vésteinn Ólason verfasste Kapitel im 1993 erschienenen zweiten Band der Íslensk bókmenntasaga (Vésteinn Ólason 1993: 23 - 163) - der ersten mehrbändigen isländischen Literaturgeschichte überhaupt - vertritt diesen Tenor. Die Entwicklung der Gattung, die Vésteinn hier darlegt, ist die Grundlage der eingangs referierten Darstellung und enthält wie diese eine Auflistung, die sämtliche Íslendingasögur in „ fornlegar “ (älter), „ sígildar “ (klassisch) und „ unglegar “ (jünger) unterscheidet (42). Im Text jedoch präsentiert Vésteinn eine Untergliederung in Untergruppen, die in erster Linie auf literarischen Merkmalen beruht, wenngleich das Alter einzelner Werke und die skizzierte Entwicklung der Gattung ebenfalls einfließen. Die Íslendingasögur (sowie einige þættir) sind dementsprechend in „ skáldasögur “ (Skaldensagas), „ fornlegar ættadeilusögur “ (ältere Familienfehdensagas), „ sígildar deilusögur “ (klassische Fehdensagas), „ harmsögur “ (tragische Sagas) und „ sögur af köppum og kynjum “ (Sagas von Helden und Zauber) unterteilt (80 - 82). Mit Ausnahme von Fljótsdæla saga und Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, die als „ fornlegar deilusögur “ (ältere Fehdensagas) klassifiziert werden (110 - 111), umfasst letztere Kategorie (143 - 160) sämtliche als „ unglegar “ eingestuften Werke. Wie Vésteinn selbst anmerkt (82), sind für etliche Vertreter auch andersartige Klassifizierungen möglich: Grettis saga und Harðar saga sind als „ útlagasögur “ (Geächtetensagas) Biographien wie die Skaldensagas, die Svarfd œ la saga erzählt von Helden und Wundern und ist zugleich eine „ deilusaga “ , Bárðar saga, Króka-Refs saga und Víglundar saga heben sich als „ vættasaga “ (Schutzgeistsaga), „ skemmtisaga “ (Unterhaltungssaga) und „ ástarsaga “ (Liebessaga) zudem deutlich von den übrigen Sagas „ af köppum og kynjum “ ab. Ergänzend sei angemerkt, dass sich letztere sowie Hávarðar saga sowie Þórðar saga hreðu durchaus auch als Skaldensagas verstehen lassen. Die Probleme einer Definition der späten Vertreter als unrealistisch und phantastisch wurden eingangs aufgezeigt. Klar in Frage zu stellen ist auch Vésteinns Feststellung, „ höfundarnir láta sig litlu varða hvort lesendur muni telja sögur þeirra sannar “ (143). 130 Die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur wenden wie gezeigt die gleichen Strategien wie ihre Vorgänger an, um eine Vergangenheit mit Wahrheitsanspruch zu konstruieren. Erste vorsichtige Zweifel an diesem kommen wie dargestellt nachmittelalterlich in wissenschaftlichen Kreisen auf und werden erst im Laufe des 18. Jh.s konkreter, während die isländische Allgemeinheit auch danach weiter von der Wahrheit der Íslendingasögur überzeugt ist. Außer der eigenen Einschätzung der späten Íslendingasögur als unrealistisch und phantastisch führt Vésteinn auch keine Argumente an, die seine 129 Die von Jónas Kristjánsson (1994: 300) als „ reine Fiktion “ bezeichnete Króka-Refs saga wird beispielsweise auch von Simek/ Pálsson noch in der vermehrten und überarbeiteten zweiten Auflage von 2007 (s. v. „ Króka-Refs saga “ ) vornehmlich als „ eine völlig fiktive [ … ] Isländersaga “ charakterisiert, was wenig Fortschritt seit Müllers Sagabibliothek zu erkennen gibt. 130 die Verfasser kümmern sich wenig darum, ob die Leser ihre Geschichten für wahr ansehen Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 144 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="145"?> Annahme stützen. 131 Gleiches gilt für die weiter geäußerte Vermutung, dass „ hluti af skemmtuninni geti verið samkomulag sögumanns og lesanda um að láta sem það sé satt sem báðir vita að er logið “ (143). 132 Da diese Feststellung ausschließlich auf die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur bezogen ist, dient sie nicht zuletzt dazu, deren Andersartigkeit zu betonen sowie den Mythos der klassischen Íslendingasaga zu aktualisieren und damit implizit auch die Höherwertigkeit der klassischen Werke gegenüber den späteren zu unterstreichen. Die Dichotomie von Historie und Fiktion schimmert auch in dieser letzten großen literaturgeschichtlichen Darstellung der Íslendingasögur im 20. Jh. durch, wenn die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur näher bei letzterer und beim modernen Roman verortet werden als die älteren Vertreter der Gattung. Sie erscheinen jedoch weniger als eine prämoderne Entwicklung, sondern dem Mythos der klassischen Íslendingasaga entsprechend als minder wertvolles Anhängsel der Gattung und insgesamt als eine Art literarisches Kuriositätenkabinett. 3.4.5 Der cultural turn und die ‚ postklassische ‘ Íslendingasaga Seit den 1990er Jahren verändert die verstärkte Hinwendung zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen die Sichtweise auf die altisländische Literatur gravierend. Nachdem seit den 1970er Jahren Aspekte kultureller Texte in der Auseinandersetzung mit den Íslendingasögur und anderen Sagagattungen zunehmend in den Fokus rücken, 133 vollzieht auch die Sagaforschung einen cultural turn, 134 infolge dessen sie die Orientierung an der Unterscheidung von Historie und Fiktion, die Fritz Paul in seinem 1982 erschienenen Aufsatz „ Das Fiktionalitätsproblem in der altnordischen Prosaliteratur “ noch so vehement verteidigt, als Auslaufmodell versteht. Während Paul (1982: 57) aufgrund seines Ausgangspunkts lediglich Historizität, Scheinhistorizität oder Fiktionalität als mögliche Alternativen, die Íslendingasögur zu deuten, auszumachen vermag, zeigen sich infolge eines kulturwissenschaftlich ausgerichteten Verständnisses der Sagaliteratur auch neue Wege zum Verständnis der Íslendingasaga (vgl. dazu auch Würth 1999). Meulengracht Sørensens Aufsatz „ Some methodological considerations in connection with the study of the sagas “ von 1992, in dem er für die Kombination von Textkritik und historischer Anthropologie als Erneuerung der „ old, happy marriage between philology and history “ 131 Eine Übertragung der modernen Rezeption auf die mittelalterlichen Verhältnisse klingt hier sowie im folgenden Zitat auch in Vésteinns Bezugnahme auf die Leser an, stellt doch in mittelalterlichen Zusammenhängen das Zuhören die mit Sicherheit weit häufigere Rezeptionsweise der Sagaliteratur dar. 132 ein Teil des Vergnügens könnte eine Übereinkunft zwischen Sagamann und Leser gewesen sein, dass das wahr ist, von dem beide wissen, dass es gelogen ist 133 Bedeutende Veröffentlichungen, die den Weg bereiten, sind insbesondere Schier (1975) sowie Weber (1972, 1981, 1986). Schier begreift die altisländische Literatur als Darstellung der eigenen Ursprünge und verweist auf Parallelen zur klassischen sowie hebräischen Literatur, Weber (1972) hebt den Anspruch der Íslendingasaga, wahre Geschichte darzustellen, hervor und rückt ihren spezifischen Rezeptionsrahmen in den Fokus, Weber (1981, 1986) thematisiert den Mythencharakter der altisländischen Literatur. Die Ausführungen von Steblin-Kamenskij (1966, 1967, 1973) zur Sagaliteratur als Wahrheit und Fiktion zugleich und entsprechend synkretische Wahrheit scheinen nicht für weitergehende Analysen aufgegriffen worden zu sein. 134 Zur Debatte um kulturwissenschaftliche Ansätzen in der Mediävistik im frühen 21. Jh. siehe Würth (2005b). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.4 Die Íslendingasögur in der Moderne: Zwei Wege der Rezeption 145 <?page no="146"?> (1992: 27) plädiert, da rein historische bzw. rein literarische Zugänge zu den Sagas für sich allein gesehen den Texten nicht gerecht werden, weist die weitere Richtung der Forschung. Meulengracht Sørensen (29) konstatiert, dass die Sagas „ meaningful images of the past “ präsentieren und ihre „ intrinsic truth “ somit das wichtigste Moment in der Betrachtung ist (34). Er versteht die Íslendingasögur dementsprechend als ethnographische Literatur und grenzt sie als solche von fiktionaler Literatur ab: „ They create their own reality; but they create it as history, not as fiction. “ (36). Auch Dialogues with the viking age von Vésteinn Ólason, 1998 als letzte große Monographie über die Íslendingasögur im 20. Jh. auf Isländisch und in englischer Übersetzung erschienen, betont die „ mythical significance “ der Íslendingasögur und versteht sie als idealisierte Vergangenheit und zugleich Ausdruck zeitgenössischer Ängste in Anbetracht einer unsicheren Zukunft (Vesteinn Ólason 1998: 21 - 22). Zugleich aktualisiert Vésteinn mit seinen Ausführungen jedoch indirekt auch den Mythos von der klassischen Íslendingasaga und setzt das Schattendasein sowie die Abwertung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur fort, indem er die Gattung weiter ausschließlich über die älteren Vertreter definiert, während die ‚ postklassischen ‘ Werke mit Ausnahme der Grettis saga allenfalls nebenbei erwähnt werden. Diese Erneuerung der Sagaforschung durch eine kulturwissenschaftliche Orientierung in Kombination mit der traditionellen Missachtung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur führt zur einleitend dargestellten Problematik: Die Íslendingasögur werden als eine kulturell bedeutsame Gattung verstanden, die ‚ postklassischen ‘ Vertreter zwar in Einzeldarstellungen ebenfalls zunehmend als konstruierte Vergangenheit begriffen, in Gesamtdarstellungen der Gattung jedoch noch immer ausgeklammert oder auf der Basis der Unterscheidung von Historie und Fiktion bzw. in modifizierter Form dieser als Gegensatz von Realismus und Phantastik nicht als die ernstzunehmenden Vergangenheitskonstruktionen wahrgenommen, als die sie im Mittelalter wie gezeigt rezipiert wurden. 135 Diverse Einzelanalysen einzelner Sagas sind in dieser Hinsicht wie angesprochen einen Schritt weiter, ebenso machen jüngere Auseinandersetzungen mit der Dichotomie von Historie und Fiktion deutlich, dass diese endgültig als Maßstab der Beurteilung der Íslendingasögur ausgedient hat. 3.5 Zusammenfassung und Implikation der Systemtheorie Bei den Íslendingasögur handelt es sich wie dargelegt um eine eigenständige Gattung kultureller Texte, die die isländische Ursprungszeit erinnert und als Sagazeit ausgestaltet. Die Íslendingasögur haben so eine wichtige identitätsstiftende und -erhaltende Funktion und tragen wesentlich zur Fundierung einer kollektiven isländischen Identität im Mittelalter sowie zu deren Verbreitung in der Gesamtbevölkerung bei. Als Produkte des oralwritten continuums entspringen sie dem Traditionsstrom, den die mittelalterliche isländische Gesellschaft nach Annahme der lateinischen Schrift und Ausbildung einer eigenen Geschichtsschreibung hervorbringt. Sie konstruieren eine historische Vergangenheit, sind 135 Zur Zeit der Drucklegung dieser Arbeit ist erfreulicherweise festzustellen, dass die Sagafoschung mittlerweile eine größere Selbstverständlichkeit zeigt, auch die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur als vollwertige Vertreter der Gattung anzuerkennen und sie dementsprechend in Auseinandersetzungen mit Aspekten konstruierter Vergangenheit im Mittelalter einzubeziehen (siehe z. B. Merkelbach 2019). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 146 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="147"?> als kulturelle Texte jedoch untrennbar Mythos und Geschichte und dementsprechend nicht an der Vergangenheit als solcher interessiert, sondern erinnern sie im Licht der Gegenwart. Die Sagazeit trägt dabei auch Züge eines heroischen Zeitalters und hat entsprechend neben einer ausgeprägt fundierenden auch eine kontrapräsentische Mythomotorik. Bereits im späten Mittelalter geben die gemeinsame Erzählkonvention und die handschriftliche Überlieferung ein Verständnis von einer Zusammengehörigkeit sämtlicher die Sagazeit darstellenden Texte zu erkennen. Mit landnámssögur ist auch eine klar distinktive Bezeichnung für diese überliefert. Als Abbilder fließender Ursprungserinnerungen sind sowohl die Íslendingasögur selbst als auch die von ihnen dargestellte Ursprungszeit während des Mittelalters in beständigem Fluss: Die unfesten Texte verändern sich im Laufe ihrer Überlieferung ebenso wie sich die konstruierte Vergangenheit jenseits der drei zentralen Erinnerungsfiguren Auswanderung, Besiedelung und Christianisierung im Laufe der produktiven Phase der Íslendingasaga verändert. Diese Veränderungen gründen in den Bedingungen des oral-written continuums selbst, in dem die Ursprungserinnerungen beständig zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit fließen und aus der Sicht einer fortlaufenden Gegenwart aktualisiert werden. Impulse erhält die Gattung Íslendingasaga dabei sowohl aus der bis in das ausgehende 14. Jh. lebendigen mündlichen Überlieferung als auch aus der Schriftlichkeit, wobei Verformungsfaktoren, die im menschlichen Erinnerungsapparat gründen, ebenso auf die Ursprungserinnerungen wirken wie gesellschaftliche Faktoren. Die im 13. Jh. entstandenen Íslendingasögur werden dabei zu Klassikern und damit zu Vorbildern für die Entstehung neuer Werke, die an ihre Vorgänger anknüpfen und die von diesen dargestellte Vergangenheit weiter ausgestalten. Die isländischen Ursprungserinnerungen werden auf diese Weise erneuert, um so kulturelle Kontinuität zu sichern, und zugleich aktualisiert, um auch in einer sich verändernden Gegenwart weiter Orientierung zu bieten. Diese Aktualisierung vollzieht sich aufgrund der fortschreitenden Textualisierung der isländischen Gesellschaft in einem deutlicher schriftgeprägten Umfeld als noch im 13. Jh., in dem die Gattung entsteht und sich etabliert. Die Íslendingasaga gibt diese zunehmende Schriftlichkeit jedoch nicht etwa explizit zu erkennen, sondern reagiert im Gegenteil mit der Verfestigung ihrer Form als vermeintliches Abbild objektiver mündlicher Tatsachenüberlieferung. Damit überwindet der sich im 14. Jh. etablierende klassische Sagastil den Bruch, den die Lösung von mündlichen Traditionen für die Erinnerungsgemeinschaft bedeutet. Indem die Form der Íslendingasaga für ihren Wahrheitsgehalt bürgt, übernimmt Schrift im Spätmittelalter endgültig die Vorherrschaft im kulturellen Erinnern. Konkret zeigt das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga im Unterschied zum vorangegangenen Jahrhundert, dass die Oberschicht, die als repräsentative Elite für die Entstehung der Íslendingasögur verantwortlich zeichnet, zunehmend christlich geprägt ist. Zudem bringen die Veränderungen der Ursprungserinnerungen im späten Mittelalter den Wandel von einer Fehdegesellschaft zu einer Feudalgesellschaft zum Ausdruck und machen die zunehmende Differenz der erinnernden Gegenwart zur erinnerten Vergangenheit deutlich. Mit dem Ende der produktiven Phase der Íslendingasaga ist die Konstruktion der isländischen Ursprünge aus mittelalterlicher Sicht abgeschlossen, wenngleich die isländischen Ursprungserinnerungen weiter im oral-written continuum lebendig bleiben. Maßgeblich für die Darstellung der isländischen Ursprungszeit sind nun jedoch die Íslending- Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.5 Zusammenfassung und Implikation der Systemtheorie 147 <?page no="148"?> asögur. Bereits im Mittelalter zur Fundierung einer kollektiven isländischen Identität beitragend, werden sie in dieser Funktion nach der Reformation wieder aufgegriffen, womit ein klar erkennbarer Wandel in der Rezeption der isländischen Ursprungszeit einhergeht, die nun explizit kontrapräsentisch erinnert wird. Neben der sich im Laufe des Mittelalters zunehmend als eigenständig etablierenden isländischen Sprache bilden die Íslendingasögur nebst anderen Sagagattungen dabei die Grundlage für eine isländische Selbstwahrnehmung als Kulturnation. Während vor dem Hintergrund der für den mittelalterlichen historischen Diskurs wesentlichen Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum/ Lüge die Wahrheit der Íslendingasögur von den Verfassern formal bekräftigt und vom Publikum akzeptiert wird, kommt es nachmittelalterlich zu ersten Zweifeln an der Zuverlässigkeit einzelner Íslendingasögur als geschichtliche Darstellungen. Mit diesen Zweifeln beginnt sich die Rezeption der Íslendingasögur allmählich zu unterscheiden in eine isländisch-kulturelle Wahrnehmung, die am Wahrheitsanspruch der Íslendingasögur festhält, und eine europäisch-wissenschaftliche, die diesem kritisch gegenübersteht. Arngrímur Jónsson als erstem im europäischen Kontext tätigen Isländer, der die Íslendingasögur außerhalb Islands bekannt macht und in den wissenschaftlichen Diskurs einbringt, kommt das Verdienst zu, den Wert einer Íslendingasaga, der Króka-Refs saga, als historisches Werk erstmals anzuzweifeln. Er stellt sie jedoch nicht als historisches Werk generell in Frage, sondern lediglich ihre Qualität als ein solches und zeigt mit den an ihr vorgenommenen Korrekturen ein Geschichtsverständnis, das sich nicht von dem Aris in der Íslendingabók unterscheidet. Wesentlicher als seine in diesem Rahmen vertretene moderate Kritik an den Íslendingasögur wird für die künftige Sagaforschung die durch seine Schriften erfolgende mythomotorische Aktualisierung der isländischen Ursprungserinnerungen, die nun erkennbar kontrapräsentisch kontextualisiert werden und neu einen Mythos vom Verfall der isländischen Gesellschaft im Mittelalter konstruieren. Diese kontrapräsentische Sichtweise prägt auch die isländisch-kulturelle Wahrnehmung ab dem 17. Jh., welche die isländischen Ursprungserinnerungen in Form von Abschriften und Interpretationen der Íslendingasögur sowie mittels rímur und anderer Dichtung aktualisiert. Im weiteren Verlauf beginnen sich die isländisch-kulturelle und die europäisch-wissenschaftliche Rezeption der Íslendingasögur jedoch zunehmend deutlicher voneinander zu unterscheiden. Während die isländisch-kulturelle Sichtweise bis heute daran festhält, dass sämtliche Íslendingasögur gleichermaßen die Sagazeit darstellen, kommt es im Zuge der Aufklärung und des für diese so wesentlichen rationalen Denkens im europäisch-wissenschaftlichen Diskurs mit den Veröffentlichungen von Torfæus zu einer Verschärfung der Kritik an einzelnen Sagas. Mit dieser verbunden ist die Abspaltung der kritisierten Werke als fabelhaft vom Korpus der als historisch verstandenen übrigen Werke. Durch fehlende interne Stimmigkeit, Abweichungen von anderen, als glaubwürdiger eingestuften Darstellungen sowie Unvereinbarkeit mit der physikalischen Realität und dem objektiv Wahrnehmbaren disqualifizieren sich vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung manche der mittelalterlich als Geschichtswerke entstandenen und entsprechend rezipierten Íslendingasögur aus der modernen wissenschaftlichen Perspektive als unhistorisch. Erstmals werden auch Stimmen laut, die die Íslendingasögur als historische Werke generell in Frage stellen, die sich jedoch nicht durchsetzen. Stattdessen bringt die Umstellung des historischen Diskurses von der Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum auf die Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 148 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="149"?> Unterscheidung von Historie und Fiktion mit sich, dass auch die Íslendingasögur anhand dieser beurteilt werden und eine Gruppe von Werken als erdichtet klar von den übrigen Íslendingasögur abgegrenzt wird. Der Mythos vom Verfall wird in diesem Zusammenhang ebenfalls aktualisiert und wird nun nicht mehr wie zuvor auf die Sturlungenzeit, sondern auf das Spätmittelalter bezogen und als Verfall der Geschichtsschreibung akzentuiert. Eine Zwischenstellung nehmen gemäß dieser Sichtweise diejenigen Íslendingasögur ein, die als nach 1300 entstandene Bearbeitungen älterer Werke gelten. Auf der Basis der Unterscheidung von Historie und Fiktion wird damit zunächst lediglich ein Teil der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur deutlich abgegrenzt, die als ungeschichtlich nicht zur historisch verstandenen Gattung gezählt werden. Vornehmlich betrifft dies Bárðar saga, Kjalnesinga saga, Króka-Refs saga und Víglundar saga, auch die Gunnars saga Keldugnúpsfífls wird in diesem Zusammenhang noch häufiger genannt, bevor sie im 20. Jh. ganz aus der Sphäre der Íslendingasögur verbannt wird. Mit der zunehmenden Verschärfung des modernen Geschichtsverständnisses, das nicht mehr nur Glaubwürdigkeit, sondern Faktizität fordert, und der Etablierung der Sagaforschung als kritische Disziplin der modernen Wissenschaft verlieren die Íslendingasögur im 20. Jh. ihren Status als Geschichtswerke und werden nun gänzlich als literarische Werke verstanden. Die Abgrenzung der als spät angesehenen Íslendingasögur wird dabei nicht etwa aufgegeben, sondern im Rahmen einer weiteren Aktualisierung des Verfallsmythos neu ausgelegt, wobei die Dichotomie von Historie und Fiktion weiter eine nicht unwesentliche Rolle spielt, wenngleich sie nicht mehr explizit formuliert wird. Abgegrenzt und abgewertet wird nun die Subgattung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga, die sowohl spätmittelalterliche Umarbeitungen als auch Neuschöpfungen umfasst und als Ausdruck eines aus dem Verlust der isländischen Unabhängigkeit resultierenden gesellschaftlichen und literarischen Niedergangs infolge der Fremdbeeinflussung verstanden wird. Als ‚ postklassische ‘ Neuschöpfungen gelten neben den zuvor als erdichtet klassifizierten nun auch Finnboga saga und Þórðar saga hreðu, während die übrigen Werke, die der Subgattung zugerechnet werden, als ‚ postklassische ‘ Umarbeitungen angesehen werden. Als charakteristisch ‚ postklassisch ‘ wird eine zunehmende Loslösung von der historischen Realität gesehen, was als Entwicklung in Richtung des Romans und Hinwendung zur bloßen Unterhaltung interpretiert wird. Die zunehmende Problematisierung des Gegensatzes von faktisch und fiktiv in der mittelalterlichen Wahrnehmung der Íslendingasögur bringt im weiteren Verlauf dann eine weitere Modifikation der Abgrenzung der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur mit sich. Als Basis ihrer Diskriminierung dient fortan die Unterscheidung von realistisch und unrealistisch/ phantastisch, wobei die Entstehung der als unrealistisch oder phantastisch eingestuften Werke allerdings ebenfalls als Entwicklung zu Fiktion und Unterhaltung gedeutet wird. Als klar umrissene Subgattung der Gattung Íslendingasaga lassen sich die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur jedoch wie gezeigt auch auf dieser Basis nicht definieren. Vielmehr erweist sich die Abgrenzung selbst aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive als Ausdruck eines kulturellen Deutungsmusters, das auf die isländischen Ursprungserinnerungen angewendet wird. Mit dem aktuellen Verständnis der Íslendingasögur als kulturelle Texte ist das Konzept der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga nicht in Einklang zu bringen: Im kulturellen Erinnerungsprozess ist die Unterscheidung von Fakt und Fiktion unerheblich, wie auch die Rezeption der Íslendingasögur im Mittelalter und darüber hinaus klar zum Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.5 Zusammenfassung und Implikation der Systemtheorie 149 <?page no="150"?> Ausdruck bringt. Zudem ist die mit diesem Konzept verbundene Dreigliederung der Gattung zu statisch, um den Íslendingasögur als unfeste Texte im mittelalterlichen oralwritten continuum gerecht zu werden. In diesem umfasst das Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter nicht nur die Entstehung der ‚ postklassischen ‘ Werke, sondern auch die Wiederaufnahme älterer Werke sowie deren mehr oder minder umfangreiche Bearbeitung. Das Spätmittelalter ist sowohl Schreibzeit, in der die Sagazeit fortgeschrieben wird, als auch Gedächtniszeit, in der die zuvor konstruierte Sagazeit erinnert wird. Die herausstechendste Neuerung dieser späten Phase des Traditionsstroms ist die Entstehung von neuartigen Vergangenheitskonstruktionen, die im Mittelalter wie ihre Vorgänger als verbindliche Darstellungen der isländischen Ursprungszeit rezipiert werden, im Laufe der nachmittelalterlichen Rezeption im wissenschaftlichen Kontext jedoch früh nicht mehr als ernstzunehmende Abbilder der Sagazeit angesehen werden: Bárðar saga, Kjalnesinga saga, Króka-Refs saga und Víglundar saga. Zwei wesentliche Innovationen im Prozess der Entstehung und Rezeption der Íslendingasögur treten damit an Epochenschwellen der gesellschaftlichen Evolution in Niklas Luhmanns Systemtheorie zu Tage: Die beginnende Abgrenzung der genannten Werke im 18. Jh. und die anschließende Etablierung der Subgattung auf der Basis der Unterscheidung von Historie und Fiktion geht mit einer gravierenden Änderung der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung einher. Die zuvor primär stratifikatorisch gegliederte Gesellschaft wird um 1800 von der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft abgelöst, die durch gleichwertige, nebeneinander bestehende Funktionssysteme charakterisiert ist. Angestoßen wird diese Entwicklung durch die Schrift, mit der sich die gesellschaftliche Kommunikation tiefgreifend verändert, da sie allmählich Beobachtungsweisen höherer Ordnung auslöst (dazu Luhmann 1993b sowie Luhmann 1997: 249 - 290). Auf der gesellschaftlichen Ebene wird die von der Schrift angestoßene Veränderung der Beobachtungsweise vom Buchdruck vollendet, infolge dessen der Umschlag auf eine funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft erfolgt. Diese ist durch die Ausbildung von Funktionssystemen gekennzeichnet, die ihre eigene Autopoeisis ganz auf Beobachtungen zweiter Ordnung umstellen (dazu Luhmann 1997: 595 - 776). Die einzelnen Systeme übernehmen für die Gesellschaft jeweils eine bestimmte Funktion und kommunizieren mittels systemspezifischer Medien, der binär codierten symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (dazu Luhmann 1997: 312 - 396). Nachdem sich im Laufe des 17. Jh.s allmählich ein auf Tatsachenwissen beschränkter Wahrheitsbegriff durchzusetzen beginnt, der die Bindung von Wahrheit an Deutung löst (Luhmann 1995a: 409 - 411), 136 etabliert sich die Wissenschaft um 1800 als eigenständiges Kommunikationssystem. Wahrheit wird in diesem Zusammenhang zum symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium mit der binären Codierung wahr/ unwahr, das die Annahme wissenschaftlicher Kommunikation sichert und die Verbreitung neuen Wissens ermöglicht (Luhmann 1990a: 169 - 170, siehe dazu auch Luhmann 1990a: 191 - 209). Auch die Autonomie der Literatur etabliert sich um 1800 infolge der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Sie bringt die Konstruktion einer Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität mit sich, die es möglich macht, von der einen Seite aus die 136 Zuvor ist Wahrheit „ gebunden an die Erwartung einer richtigen Deutung der Welt “ , was nicht nur Tatsachenerklärungen, sondern auch fiktive Darstellungen und normative Geltungsbehauptungen umfasst (Luhmann 1995a: 409), vgl. dazu Kap. 2.3. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 150 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="151"?> andere zu beobachten (Luhmann 1995a: 229). 137 Damit einhergehend verliert in der Gesellschaft wie in der Kunst „ die Berufung auf Herkommen ihre legitimierende Kraft “ (Luhmann 1995a: 443). Zugleich etablieren sich unterschiedliche Perspektiven, da die jeweiligen Teilsysteme das Gesamtsystem jeweils anders beobachten und dabei auch gesellschaftliche Vorgänge jeweils unterschiedlich bewerten und bearbeiten können. Erst im Zuge dieser gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Umstellung auf Beobachtung zweiter Ordnung erfolgt im Wissenschaftssystem die Abgrenzung eines Teils der Íslendingasögur auf der Basis der Unterscheidung von historisch und fiktiv. 138 Das Konzept der ‚ postklassischen ‘ Íslendingasaga ist eine Weiterentwicklung dieser ursprünglichen Unterscheidung, das wie gezeigt als Wissenschaft im Dienste des Mythos zu verstehen ist. Der für die vorliegende Arbeit wesentliche Punkt ist, dass erst mit dem Aufkommen einer Beobachtungsweise höherer Ordnung eine Unterscheidung durch den Erinnerungsraum, den die Sagazeit darstellt, gezogen wird. Im Beobachtungsmodus erster Ordnung, wie er zur Entstehungszeit der Íslendingasögur und ihrer frühen nachmittelalterlichen Rezeption vorherrscht, werden dagegen sämtliche Darstellungen der isländischen Ursprungszeit unterschiedslos behandelt. Im Beobachtungsmodus erster Ordnung entstehen entsprechend auch sämtliche Íslendingasögur als Beobachtungen erster Ordnung. Der Prozess der allmählichen Ausbildung von Beobachtungsweisen höherer Ordnung ist jedoch in der zweiten Hälfte der produktiven Phase der Gattung im Spätmittelalter ungleich weiter fortgeschritten. Die von der Sagaforschung ausgemachte Zeitenwende um 1300, an der eine klar erkennbare Verschiebung im Verhältnis von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit zugunsten letzterer eintritt, markiert auch aus systemtheoretischer Perspektive eine entscheidende Epochenschwelle: Der Wandel von Schrift vom Aufzeichnungszum Kommunikationsmedium, der nach Luhmann (2005: 144) in einer neu über Schrift verfügenden Gesellschaft etwa drei bis vier Jahrhunderte in Anspruch nimmt, wird mit dem Übergang vom Hochzum Spätmittelalter vollendet. Die Überlieferung im isländischen Spätmittelalter bringt diesen Wandel konkret zum Ausdruck, indem sie auf Geschriebenes nicht mehr nur mit Schriftlichkeit oder Mündlichkeit abbildenden Formulierungen rekurriert, sondern mit sem fyrr segir neu auch eine präsentische Variante verwendet, die der (Hand-)Schrift die semantische Rolle des Agens zuweist 137 Literatur ist als „ Textkunst “ als Teil des Kunstsystems zu verstehen. Zum Sozialmedium wird Kunst dadurch, dass „ man (wer immer) erkennt, daß ein Arrangement vorliegt, das so, wie es vorliegt, für einen Beobachter produziert ist “ (Luhmann 1995a: 188). An Luhmann anknüpfend behandelt Werber (1992) die Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation und Literatur als eigenes System. 138 Das kulturelle Gedächtnis dagegen operiert zunächst weiter im Modus der Beobachtung erster Ordnung und gibt erst im Laufe des 20. Jh.s eine Umstellung auf Beobachtung höherer Ordnung zu erkennen. Während zu Beginn des 20. Jh.s die Wahrheit der Íslendingasögur als kulturelle Texte ontisch begriffen wird, zeigt sich im weiteren Verlauf immer deutlicher ein fiktionales Verständnis, das die Wahrheit der Íslendingasögur weniger an die Texte als Abbilder der dargestellten Vergangenheit als vielmehr an die Existenz der Texte als mittelalterliche Überlieferungen knüpft und damit auch eine metafiktionale Rezeption. Eine eigenständige Untersuchung wäre nötig, um die Hintergründe und Zusammenhänge dieser Entwicklung zu analysieren, an dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass auch diese Umstellung mit einem zentralen Einschnitt im oral-written continuum einher geht: Die handschriftliche Überlieferung und damit die Unfestigkeit der Íslendingasögur geht im frühen 20. Jh. ebenso zu Ende wie die Tradition der kvöldvaka, des gemeinschaftlichen Lesens von Sagaliteratur am Abend. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.5 Zusammenfassung und Implikation der Systemtheorie 151 <?page no="152"?> und sie so als eigenständig kommunizierend versteht (Peters 2017: 139). 139 Auf eine Selbstverständlichkeit schriftlicher Abbildungen von Erinnernswertem im Spätmittelalter verweist zudem ein häufig bemängelter Anachronismus in der Króka-Refs saga. Als sich der Protagonist nach einem Totschlag zur Reise nach Grönland rüstet, wird er von seinem Onkel Gestr aufgefordert, einen Bericht über seine Reise schreiben zu lassen, falls es ihm nicht möglich sei, zurückzukehren: [ … ] at skilnaði mælti Gestr við Ref: „ Ef þér verðr eigi útkvámu auðit, þá vil ek, at þú látir skrifa frásögn um ferð þína, því at hún mun nökkurum merkilig þykkja, því at ek hygg, at þú sér annarr spekingr mestr í várri ætt. “ (ÍF XIV: 131) [ … ] beim Abschied sprach Gestr zu Refr: „ Wenn dir keine Rückkehr nach Island vergönnt ist, dann will ich, dass du einen Bericht über deine Fahrt schreiben lässt, denn sie wird einigen denkwürdig erscheinen, weil ich glaube, dass du ein weiterer sehr weiser Mann in unserem Geschlecht bist. “ Schrift erscheint hier als Begründung der Existenz und Garant des Wahrheitsgehalts der sich anschließenden Erzählung, nicht zuletzt durch die Bezeichnung „ annarr spekingr mestr “ , mit der Gestr, dem in den Íslendingasögur verschiedentlich besondere Weisheit zugeschrieben wird (vgl. unten S. 311), Refr seiner eigenen Person gleichstellt. Eine derartige Bezugname auf Schriftlichkeit ist einzigartig in den Íslendingasögur. Diese kennen Schrift sonst nur als geritzte Runenschrift, mit der Botschaften übermittelt, Zauber durchgeführt oder Dichtungen fixiert werden. Vor allem aber wird Schrift hier als die wesentliche Vermittlerin isländischer Ursprungserinnerungen präsentiert, die sie im Spätmittelalter tatsächlich ist: Die Verfasser der spätmittelalterlichen Íslendingasögur sind bereits geschult an älteren Darstellungen der Ursprungszeit, die sie somit anders als ihre Vorgänger im 13. Jh., die die Sagazeit als schriftliche Repräsentation dieser erst etablieren, bereits verstärkt als Beobachtung zweiter Ordnung rezipieren. Anders als im Hochmittelalter, als auf der Basis mündlicher Erzählungen und weniger knapper schriftlicher Werke mit der Sagazeit eine neue Realität erst geschaffen wird, kann sich die spätmittelalterliche Íslendingasaga auf diese neu geschaffene Realitätsebene beziehen. Charakteristische Elemente der Íslendingasögur werden damit zu literarischen Motiven, was jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Wandel zur literarischen Fiktion ist, vielmehr verändert sich das kulturelle Erinnern unter dem Einfluss von Schriftlichkeit. Die hinter dieser Arbeit stehende Idee ist, dass die Íslendingasaga im Spätmittelalter einen frühen Entwicklungsschritt in der Evolution von Beobachtungsweisen höherer Ordnung zu erkennen gibt, der erst durch eine Beobachtung zweiter Ordnung fassbar wird. Da Schrift sich zu dieser Zeit als Kommunikationsmedium etabliert hat, kann das Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter entsprechend als Kommunikation im systemtheoretischen Verständnis begriffen und mit den Mitteln der Systemtheorie näher analysiert werden. Auf diese Weise möchte ich im Folgenden versuchen, mich den Besonderheiten des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga über diejenigen Íslendingasögur analytisch zu nähern, die von der Sagaforschung von ihren Anfängen im 19. Jh. bis zu den eingangs erwähnten Darstellungen im frühen 21. Jh. als dem modernen Roman näher als ihre Vorgänger wahrgenommen werden, deren Entstehung jedoch weder als quantitative 139 Man vergleiche dazu auch die Feststellung von Luhmann (1997: 889): „ Im Mittelalter kommuniziert der Text “ . Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 152 3 Rezeptions- und Forschungsgeschichte: Die Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte <?page no="153"?> Zunahme fiktionaler Elemente, die irgendwann in ‚ reine Fiktion ‘ umschlägt, zufriedenstellend zu beschreiben ist, noch als Wandel von realistischen, ernstzunehmenden Vergangenheitskonstruktionen zu unrealistischer, bloßen Unterhaltungszwecken dienender Literatur. Um auch den mit der Systemtheorie unvertrauten Leserinnen und Lesern ein umfassendes Verständnis meiner Ausführungen zu ermöglichen, stelle ich diesen eine kurze Einführung voran, welche die wichtigsten Bausteine des ‚ Steinbruchs ‘ Systemtheorie, derer ich mich bediene, zusammenfasst. 140 140 Auch diese kurze Einführung ist zwangsläufig mit „ dem unlösbaren Problem “ konfrontiert, „ einen Zugang zu einem Theoriegebäude zu finden, das sich dem Außenstehenden als in sich geschlossen präsentiert und einer Rezeption damit hohe Hürden voranstellt “ (so Buskotte 2004: 76). Es mag entsprechend als ein gewagtes Unterfangen erscheinen, eine auf vielen tausend Seiten entworfene Theorie auf wenigen Seiten zusammenfassend darzustellen. Dennoch erschien dies sinnvoll, um die systemtheoretische Terminologie einzuführen und das auf ihrer Basis entwickelte theoretische Modell, das die Besonderheiten des Erzählens der Íslendingasaga im späten Mittelalter zu erklären sucht, entsprechend zu untermauern. Der Fokus dieser Arbeit liegt jedoch klar auf den Íslendingasögur, vornehmlich den sog. ‚ postklassischen ‘ , die als kulturelle Texte mittels des systemtheoretischen Zugangs als ein literarisches Phänomen des Mittelalters beleuchtet werden sollen. Die Systemtheorie dient entsprechend - wie von Frank Buskotte (103) hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit in historischen Zusammenhängen vorgeschlagen - zur Rekonstruktion von gesellschaftlichem Wandel in der Vergangenheit, der sich im vorliegenden Fall im kulturellen Erinnern, d. h. sowohl in der Entstehung kultureller Texte als auch ihrer Rezeption, widerspiegelt. Darauf ist auch die einleitende Zusammenfassung zugeschnitten, die nicht den Anspruch erhebt, die Theorie umfassend darzustellen - was, wie Frank Becker (2004: 8) anmerkt, weder möglich ist, noch nötig, „ wenn nur ein bestimmter Begriff oder eine bestimmte Denkfigur aufgegriffen werden soll, die einen ausgewählten Problemzusammenhang erhellt “ . Um sowohl einen angemessenen Eindruck der Systemtheorie und ihrer für diese Arbeit wesentlichen Bausteine zu vermitteln, als auch mögliche Missverständnisse durch Paraphrasierung zu vermeiden, wird Luhmann selbst dabei ausführlicher zu Wort kommen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 3.5 Zusammenfassung und Implikation der Systemtheorie 153 <?page no="155"?> Teil II: Íslendingasögur und Systemtheorie 4 Theoretischer Hintergrund 4.1 Einführende Zusammenfassung zentraler Elemente der Systemtheorie 4.1.1 Systeme, Operationen, Leitprinzipien Systeme sind nach Niklas Luhmann „ organisierte Komplexität “ (Luhmann 1984: 46), sie sind dynamisch und bestehen aus Operationen (grundlegend dazu Luhmann 1984: 30 - 92). 1 Eine Operation ist die Aktionsart, „ mit der das System sich selbst produziert und reproduziert “ , also die Aktivität, die für ein System konstitutiv ist. „ Nur ein System kann operieren, und nur Operationen können ein System produzieren. “ (Luhmann 1995d: 27) Zu unterscheiden sind verschiedene Systemarten, die jeweils durch die ihnen eigene Operationsweise gekennzeichnet sind: Biologische Systeme operieren durch Leben, psychische Systeme durch Wahrnehmung sowie Bewusstsein und soziale Systeme durch Kommunikation. So verschieden die Systemarten und ihre Operationsformen sind, folgen sie doch alle den Leitprinzipien „ System/ Umwelt-Differenz “ und „ Autopoiesis “ . Die System/ Umwelt-Differenz stellt die Leitdifferenz der Systemtheorie dar (dazu Luhmann 1984: 22 - 27 sowie Luhmann 1997: 242 - 282). Sie besagt, dass Systeme im Operieren eine Differenz von System und Umwelt erzeugen. Man kann „ nicht von einer vorhandenen Welt ausgehen, die aus Dingen, Substanzen, Ideen besteht “ , vielmehr ist davon auszugehen, dass die Welt immer nur als Umwelt aus der Sicht eines Systems wahrgenommen werden kann (Luhmann 1997: 46). „ Physische, chemische, organische, psychische Realitäten “ existieren und sind die Grundvoraussetzung jeglicher Systembildung (Luhmann 1984: 245), beobachtete Realität ist jedoch nie abgebildete Realität, sondern immer konstruierte. 2 Durch seine Operationen produziert ein System sich selbst in Differenz zu seiner Umwelt. Diese Produktion und Reproduktion eines Systems durch sich selbst auf der Basis seiner eigenen Elemente bezeichnet Luhmann als „ Autopoiesis “ (dazu Luhmann 1984: 1 Die folgende zusammenfassende Einführung stützt sich im Wesentlichen auf die beiden grundlegenden Hauptwerke Luhmanns, Soziale Systeme (Luhmann 1984) sowie Die Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1997). Ebenfalls Verwendung fanden die von Dirk Baeker posthum herausgegebenen Vorlesungen Luhmanns Einführung in die Systemtheorie (Luhmann 2004) und Einführung in die Theorie der Gesellschaft (Luhmann 2005). Des weiteren wurden verschiedene Monographien und Aufsätze Luhmanns herangezogen, unter denen „ Die Form der Schrift “ (Luhmann 1993b) besonders hervorzuheben ist. Ebenfalls verwendet wurden als allgemeine Einführung Berghaus (2004), der es durch ihre unkonventionelle Herangehensweise gelingt, Begrifflichkeiten und Zusammenhänge der Systemtheorie prägnant zu veranschaulichen, sowie speziell als Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften konzipiert Becker/ Reinhardt-Becker (2001). 2 Konstruktivismus ist ein wesentlicher Bestandteil der Systemtheorie, die die Realität „ de-ontologisiert “ , d. h. die „ erkenntnistheoretische Relevanz einer ontologischen Darstellung der Realität “ bestreitet (Luhmann 1990c: 35 - 36). Da jegliche Realität aus der Perspektive eines jeweiligen Systems konstruiert wird, kommt dem Bebachter eine zentrale Rolle in der Systemtheorie zu (dazu nachfolgend). Zur konstruktivistischen Erkenntnistheorie Luhmann (1990c), siehe auch Berghaus (2004: 26 - 29). <?page no="156"?> 60 - 64, Luhmann 1997: 65 - 68). System und Umwelt beeinflussen einander und können aufeinander einwirken, so kann ein System Irritationen durch die Umwelt Informationswert zuschreiben und sich davon beeinflussen lassen. Es ist folglich „ umweltoffen “ , zugleich ist es „ operativ geschlossen “ , da es nur auf der Basis seiner bisherigen Operationen operieren kann, „ das heißt: rekursive Ermöglichung eigener Operationen durch die Resultate eigener Operationen “ (Luhmann 1997: 94). 3 Da Systeme existieren, indem sie operieren, operieren sie so, dass sich weitere Operationen anschließen können, was Luhmann als ‚ Anschlussfähigkeit ‘ bezeichnet. Diese stellt „ einen eigenartigen Zwang zur Autonomie “ dar, der sich daraus ergibt, daß das System in jeder, also in noch so günstiger Umwelt schlicht aufhören würde zu existieren, wenn es die momenthaften Elemente, aus denen es besteht, nicht mit Anschlußfähigkeit, also mit Sinn, ausstatten und reproduzieren würde. (Luhmann 1984: 28) Soziale Systeme operieren in Form von Kommunikation, folglich ist ein soziales System ein Kommunikationssystem. Eine notwendige Voraussetzung dafür sind (durch Wahrnehmung mit biologischen Systemen gekoppelte) Bewusstseinssysteme, die über Sprache mit Kommunikationssystemen gekoppelt sind (Luhmann 1997: 113). Entsprechend können sich soziale Systeme nur unter der Voraussetzung „ Autopoiesis qua Leben und qua Bewußtsein “ bilden (Luhmann 1984: 297). Sobald „ Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen werden und dadurch in ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nicht dazugehörigen Umwelt “ kann von einem sozialen System gesprochen werden (Luhmann 1975b: 10). Drei Formen sozialer Systeme werden von Luhmann (1975b: 9 - 24, 1997: 812 - 847) unterschieden: Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften. Jeglicher soziale Kontakt stellt eine Interaktion dar, die entsprechend „ ein Universalphänomen jeder Gesellschaft “ ist, während es sich bei Organisationen um eine „ evolutionäre Errungenschaft “ handelt, „ die ein relativ hohes Entwicklungsniveau voraussetzt “ (Luhmann 1997: 827). Die Gesellschaft „ als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte “ (Luhmann 1984: 33) schließlich ist das umfassende soziale System, das alle Kommunikation einschließt. Soziale Kontakte unter Anwesenden sind nach Luhmann also Interaktionssysteme, aus denen sich ein Gesellschaftssystem konstituiert. „ Sie sind, da sie Kommunikation benutzen, immer Vollzug von Gesellschaft in der Gesellschaft. “ (Luhmann 1997: 814) Das Operieren von Systemen ist nicht zu trennen von einer weiteren Aktivität, dem Beobachten: Die Differenz von System und Umwelt wird vom System nicht nur erzeugt, sondern auch beobachtet. Entsprechend benutzt die Systemtheorie „ die Unterscheidung System und Umwelt als Form ihrer Beobachtungen und Beschreibungen “ (Luhmann 1997: 64). Da Realität immer abgebildete Realität ist, ist der Gedanke an einen Beobachter 3 Systeme sind wechselseitig Umwelt füreinander. Die Umwelt kann ein autopoietisches System mit seinen eigenen Operationen nicht erreichen, da diese stets auf der Innenseite des Systems bleiben. Es kann nicht in seiner Umwelt operieren, sich aber auf „ das Resultat einer Co-evolution von System und Umwelt stützen “ . Für diese Coevolution von Systemen und Umwelten sorgen ‚ strukturelle Kopplungen ‘ , d.h kausale Interdependenzen, die ein System mit seiner Umwelt verbinden (Luhmann 1995c: 16 - 17). So sind beispielsweise Bewusstseinssysteme, d. h. personale/ psychische Systeme, strukturell mit Kommunikationssystemen, d. h. sozialen Systemen, gekoppelt (dazu sowie zu struktureller Kopplung generell siehe Luhmann 1997: 92 - 120 sowie Luhmann 1995c, Luhmann 1995d, siehe auch Becker/ Reinhardt-Becker 2001: 65 - 67). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 156 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="157"?> immer mitzuführen, man „ muss also immer einen Beobachter beobachten, einen Beobachter benennen, eine Systemreferenz bezeichnen, wenn man Aussagen über die Welt macht “ (Luhmann 2002: 138 - 139). Zu unterscheiden sind dabei Beobachtungen erster und zweiter bzw. höherer Ordnung, sprich das Beobachten von Beobachtern (dazu Luhmann 1990b). Da es kein „ extramundanes Subjekt “ gibt, das die Welt von außen beobachten kann (Luhmann 1995a: 95), führt jede Beobachtung zwangsläufig einen „ blinden Fleck “ mit sich (Luhmann 1990b: 16 - 17, Luhmann 1997: 538 - 539, 882): Ein Beobachter der Welt sieht nur den Gegenstand, den er unterscheidet. Eine Beobachtung zweiter Ordnung, die den Beobachter beobachtet, sieht das, was dieser sieht und das, was er nicht sieht und kann entsprechend den blinden Fleck überblicken. Sie erzeugt ihrerseits jedoch auch wieder einen blinden Fleck, der wiederum nur von einer dritten Position beobachtet werden kann (dazu 1997: 1117 - 1123). 4.1.2 Gesellschaftsformen Luhmann bezeichnet in seiner Darstellung der Evolution von Gesellschaft drei verschiedene Gesellschaftsformen (dazu 1997: 634 - 776). Er ist sich der Vielfältigkeit historischer Entwicklung und der Problematik postulierter Übergänge von einer Gesellschaftsform zu einer anderen durchaus bewusst, betont aber auch, dass „ es unbestreitbar so etwas wie Typenunterschiede und ganz ohne Zweifel Entwicklungssequenzen, die auf vorherigen Errungenschaften aufbauen “ gibt (609). 4 Bei den drei unterschiedenen Gesellschaftsformen handelt es sich um die segmentäre, die stratifizierte und die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft. Segmentäre Differenzierung entsteht dadurch, daß die Gesellschaft in prinzipiell gleiche Teilsysteme gegliedert wird, die wechselseitig füreinander Umwelten bilden. [ … ] (634). Die Differenzierungsform der segmentären Gesellschaft ist die Familie. Stratifizierte Differenzierung dagegen baut auf die Differenz „ von Adel und gemeinem Volk “ (701), was bedeutet, dass „ Teilsysteme der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt einer Rangdifferenz im Verhältnis zu anderen Systemen ihrer gesellschaftsinternen Umwelt “ ausdifferenziert sind (685). Luhmann betont, dass alle hochkulturellen, über Schrift verfügenden Gesellschaften [ … ] Adelsgesellschaften gewesen [sind]. Wie verschieden auch immer die ökonomische Grundlage der Distinktion einer Oberschicht gewesen sein mag: daß es eine Oberschicht gegeben hat und daß ihre Existenz und Auszeichnung in der Kommunikation honoriert wurden, kann schwerlich bestritten werden. (Luhmann 1997: 678) Die moderne Gesellschaft schließlich ist durch die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen charakterisiert, die gleichwertig in der Gesellschaft existieren, d. h. die einzelnen Teilbereiche der Gesellschaft wie Politik, Recht, Religion, Wirtschaft etc. stützen sich weder auf segmentäre noch auf stratifikatorische Differenzierung (dazu 707 - 776). 4 Das Problem der Epochenbildung im Kontext der Evolutionstheorie wird von Luhmann (1985) ausführlicher behandelt. Die vorliegende Untersuchung hat hinsichtlich der Rezeption der Íslendingasögur im Wandel der Jahrhunderte deutlich gemacht, wie Änderungen in der Sichtweise auf die Texte zunächst in Einzelbeobachtungen zutage treten und schließlich zu einem gravierenden Wechsel der Perspektive ihrer allgemeinen Beurteilung führen, ohne dass dieser exakt datiert werden kann. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.1 Einführende Zusammenfassung zentraler Elemente der Systemtheorie 157 <?page no="158"?> Zur Ausdifferenzierung einzelner Funktionssysteme kann es nur in hinreichend komplexen Gesellschaften kommen. Diese setzen „ für das Ingangkommen ihrer Ausdifferenzierung Schrift und für ihre Vollentwicklung [ … ] auch den Buchdruck “ voraus (322). Um 1800 ist die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft vollzogen, nachdem das spätmittelalterlich-frühmoderne Europa noch eine Gesellschaft „ mit einem besonders deutlichen Primat von Stratifikation als Form gesellschaftlicher Systemdifferenzierung “ darstellt (682). Zu bemerken ist dabei, dass Stratifikation auf akzeptierten Reichtumsunterschieden beruht und sich die Oberschicht behaupten kann, obwohl sie relativ klein ist (680). Als zentrale Einheiten stratifizierter Gesellschaften fungieren Haushalte, die als „‚ ökonomische ‘ Einheit “ die Form darstellen, die „ Abhängigkeit kanalisiert und mit Unabhängigkeiten kompatibel macht “ (695). In der stratifizierten mittelalterlichen Gesellschaft in Europa kommt dem Recht „ eine im weltweiten Vergleich ganz ungewöhnliche Bedeutung für die Regulierung sozialer Verhältnisse “ zu (974), was eine Einheit von Recht und Politik unmöglich macht (Luhmann 1993a: 408). Politik und Religion dagegen stehen in symbiotischer Beziehung zueinander, wie die Sakralisierung von Herrschaft zum Ausdruck bringt. 5 Religion nimmt so eine besondere Funktion in der mittelalterlichen Gesellschaft ein, 6 zudem kommt ihr eine besondere Rolle für die im Spätmittelalter anlaufende funktionale Ausdifferenzierung der Gesamtgesellschaft zu (Luhmann 1989: 270, weiterführend 1989 sowie 2000b: 250 - 277). Während Luhmann die moderne ausdifferenzierte Gesellschaft als Weltgesellschaft charakterisiert, welche nicht mehr in einzelne Gesellschaften untergliedert werden kann, da die Grenzen einer Gesellschaft die Grenzen ihrer Kommunikation sind, ist in segmentären und in stratifizierten Gesellschaften die Möglichkeit zur Bildung von Regionalgesellschaften gegeben (dazu Luhmann 1997: 145 - 171). In diesem Fall ist die Einheit des Gesellschaftssystems durch territoriale Grenzen definierbar. Zudem ist es in den vormodernen Gesellschaften noch möglich, die Einheit eines Gesellschaftssystems durch Mitglieder im Unterschied zu Nichtmitgliedern zu definieren (149). 4.1.3 Kommunikation und Medien Als „ ein genuin soziales Ereignis “ (Luhmann 1993b: 351) ist Kommunikation eine Synthese aus drei Selektionen, die aus Information, Mitteilung und Verstehen besteht. (Luhmann 1997: 190, grundlegend dazu Luhmann 1984: 191 - 240). 7 Sie läuft dergestalt ab, dass 5 ‚ Herrschaft ‘ als Bezeichnung für das Resultat der Erstphase politischer Evolution insinuiert, wie Luhmann betont, Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Stratifikation, in der politische Errungenschaften noch weitgehend gesamtgesellschaftlich eingebettet sind. Sie hebt sich deutlich ab von dem, „ was später ‚ Staat ‘ heißen wird “ (Luhmann 2000a: 416, Kursivierung im Original gesperrt) und kann politische Autorität sakral begründen (dazu Luhmann 2000a: 193 - 194). 6 Wie Becker/ Reinhardt-Becker (2001: 83) vermerken, dient eine Verdopplung der religiösen Symbolik der stratifizierten Gesellschaft zur Stabilisierung ihrer hierarchischen Ordnung: Die von der Religion vorgegebenen Normen gelten für alle, womit der Religion eine integrative Funktion zukommt, die alles dem Willen Gottes unterwirft und gesellschaftlichen Zusammenhalt garantiert. Zugleich dient ein hierarchisches religiöses Weltbild dazu, jedem und allem seinen Platz gemäß dem Willen Gottes zuzuweisen, was die gesellschaftliche Schichtung stabilisiert. 7 Der soziale Charakter von Kommunikation gründet darin, dass sie mindestens zweier Subjekte bedarf und sich nicht als etwas ‚ zwischen ‘ diesen beiden definieren lässt (Luhmann 1993b: 351 - 352). Nicht der einzelne Mensch kommuniziert, sondern die Kommunikation, weshalb Luhmann bezüglich seines Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 158 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="159"?> zunächst ein Beobachter (von Luhmann als „ Alter “ bezeichnet) eine Unterscheidung trifft, zwischen dem, was er als Information ansieht, und allem anderen, dann auswählt, wie er diese Information mitteilt, und der Empfänger ( „ Ego “ genannt) schließlich versteht, dass es sich um eine Mitteilung handelt. 8 Selektionen sind „ kontingent “ , das heißt beliebig, da jedes Lebewesen für sich sichtet und bearbeitet, was es wahrnimmt und Abstimmung im Hinblick auf Sachverhalte der Welt, die jeweils auch anders möglich sind, gesucht und gefunden werden muss (Luhmann 1984: 217). 9 Da an Kommunikation immer mindestens zwei Instanzen - „ zwei informationsverarbeitende Prozessoren “ (191) - beteiligt sind, die ihre Selektionen jeweils auf Selektionen der anderen Seite abstellen, ist dabei von „ doppelter Kontingenz “ zu sprechen (grundlegend dazu Luhmann 1984: 148 - 190), welche Kontingenz überwindet und so „ zwangsläufig zur Bildung von sozialen Systemen “ (177) führt. 10 Damit ein soziales System weiterbesteht, muss Anschlusskommunikation erfolgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche stattfindet, wird von Medien gesteigert, die gemäß Luhmanns eigener, einleitend bereits angesprochener, rein funktionaler Neufassung des Medienbegriffs evolutionäre Errungenschaften darstellen, die Kommunikation möglich machen. 11 Medien sind nicht einfach existent, sondern stellen eine Eigenleistung von Systemen zu eben diesem Zweck dar (220). Als „ Ordnung von Möglichkeiten “ sind Medien immer als Unterscheidung von Medium und Form zu verstehen, was die zweite Leitdifferenz der Systemtheorie darstellt. „ Ein Medium besteht in lose gekoppelten Elementen, eine Form fügt dieselben Elemente dagegen zu strikter Kopplung zusammen. “ (Luhmann 1997: 198) 12 Während Formen „ realisierte Verbindungen “ sind, die variabel und sichtbar sind, handelt es sich beim Medium, auch „ mediales Substrat “ genannt, um mögliche Verbindungen, die invariant, unsichtbar und stabiler sind als Formen, welche ihrerseits temporär, wechselnd und leichter vergänglich sind. Ein Medium ermöglicht Formbildung, indem es den Selektionsspielraum eingrenzt, was die Wahrscheinlichkeit theoretischen Ansatzes auch konstatiert „ Das Individuum ist nicht mehr das Subjekt, es wird zum Opfer seiner Kommunikation. “ (Luhmann 1993b: 366) 8 Die „ Spezialterminologie “ ‚ Alter ‘ und ‚ Ego ‘ wird von Luhmann benutzt, da sie sowohl für psychische Systeme (Personen) als auch soziale Systeme verwendet werden kann und zugleich offenhält, ob „ diese Systeme einem bestimmten Prozessieren von Sinn zustimmen oder nicht “ (Luhmann 1984: 152). 9 Entsprechend bezeichnet Luhmann (1984: 212) Kommunikation auch als „ koordinierte Selektivität “ . 10 Die Überwindung von Kontingenz durch doppelte Kontingenz erläutert Luhmann (1984: 165) folgendermaßen: „ Wenn jeder kontingent handelt, also jeder auch anders handeln kann und jeder dies von sich selbst und den anderen weiß und in Rechnung stellt, ist es zunächst unwahrscheinlich, daß eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte (und damit: Sinngebung) im Handeln anderer findet; denn die Selbstfestlegung würde voraussetzen, daß andere sich festlegen und umgekehrt. Zugleich mit der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung erklärt dieses Konzept aber auch die Normalität sozialer Ordnung: denn unter dieser Bedingung wird jede Selbstfestlegung, wie immer zufällig entstanden und wie immer kalkuliert, Informations- und Anschlußwert für anderes Handeln gewinnen. Gerade weil ein solches System geschlossen-selbstreferentiell gebildet wird, als A durch B bestimmt wird und B durch A, wird jeder Zufall, jeder Anstoß, jeder Irrtum produktiv. “ 11 In ihrer allgemeinsten Definition stellen Medien Errungenschaften dar, die Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches transformieren (Luhmann 1984: 220). Als solche ermöglichen sie Kommunikation, die nach Luhmann prinzipiell „ unwahrscheinlich “ ist (zur Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation siehe Luhmann 1981). 12 Die für die Behandlung von Kommunikation zentrale systemtheoretische Unterscheidung von Medium und Form wird von Luhmann in verschiedenen Zusammenhängen erläutert. Mit Fokus auf gesellschaftliche Kommunikation siehe Luhmann (1997: 190 - 202), im Zusammenhang mit Sprache und Schrift siehe Luhmann (1993b). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.1 Einführende Zusammenfassung zentraler Elemente der Systemtheorie 159 <?page no="160"?> erhöht, dass Selektionen passen (Berghaus 2004: 110 - 111). Durch Formbildung wiederum erneuert sich das Medium. Beobachtbar sind lediglich die vom Medium hervorgebrachten Formen, das Medium selbst ist unbeobachtbar, wie am Beispiel des Mediums Sprache schnell deutlich wird. Die Sprache selbst ist nur anhand von Formen wie Wörtern oder Sätzen zu beobachten und wird durch diese Formbildung beständig erneuert (vgl. Berghaus 2004: 113). Neben dem allgemeinen Medium Sinn, auch Universalmedium genannt, 13 sind drei verschiedene Arten von Medien zu unterscheiden: das Kommunikationsmedium Sprache, die Verbreitungsmedien Schrift und Buchdruck sowie die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien oder Erfolgsmedien, die sich in der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft ausgebildet haben und die auf bestimmte Felder und Spezialprobleme spezialisiert sind. Wichtige Beispiele sind: Wahrheit, Liebe, Eigentum/ Geld, Macht/ Recht; in Ansätzen auch religiöser Glaube, Kunst und heute vielleicht zivilisatorisch standardisierte „ Grundwerte “ . [ … ] [I]n all diesen Fällen [geht es] darum, die Selektion der Kommunikation so zu konditionieren, daß sie zugleich als Motivationsmittel wirken, also die Befolgung des Selektionsvorschlages hinreichend sicherstellen kann. (Luhmann 1984: 222) Oder wie es Luhmann (2002: 308) in einer Vorlesung zur Systemtheorie etwas direkter ausdrückt, „ um etwas zu kriegen, das man andernfalls nicht bekommen würde. “ Sämtliche Kommunikationsmedien sind binär codiert (dazu Luhmann 1997: 359 - 378), d. h. Operationen finden auf der Basis einer Unterscheidung zwischen einem positiven und einem negativen Wert statt. Der Code des Wissenschaftssystems ist wie angesprochen wahr/ unwahr, entsprechend liegt auch dem Operieren anderer Funktionssysteme eine zweiwertige Unterscheidung zugrunde. Die Leitdifferenz der Religion beispielsweise ist Transzendenz/ Immanenz, die des Rechts Recht/ Unrecht, die der Politik Macht/ keine Macht. Auch die Kommunikation überhaupt erst ermöglichende Sprache ist binär codiert (dazu 221 - 225): Sie stellt für alles, was gesagt wird, „ eine positive und eine negative Fassung zur Verfügung “ (221) und ermöglicht entsprechend, über Abwesendes zu kommunizieren. Indem sie eine eigene sprachliche Realität schafft, wird durch Kommunikation mittels Sprache die Realität dupliziert, womit sich Kommunikation von Raum und Zeit zu lösen beginnt. Dieser Prozess wird durch die Schrift fortgesetzt, mit der sich die Kommunikation weiter ausdifferenziert und eine Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung entwickelt wird. 4.1.4 Schrift und Gedächtnis Schrift wird nicht zum Zweck der Kommunikation erfunden, entwickelt sich jedoch vom Aufzeichnungszum Kommunikationsmedium, wobei der Übergang eine komplexe Angelegenheit darstellt (dazu Luhmann 1997: 240 - 290 sowie 1993b) und wie oben angesprochen etwa dreibis vierhundert Jahre in Anspruch nimmt. Zunächst behält mündliche Kommunikation die Vorherrschaft und Texte werden schon deshalb oral rezitiert, weil die Lesefähigkeiten des Publikums eingeschränkt sind. Allerdings bereichern 13 Sinn stellt das Universalmedium dar, da keine gesellschaftliche Operation anlaufen kann, ohne von Sinn Gebrauch zu machen (Luhmann 1997: 44): Es handelt sich dabei um eine „ nichtnegierbare Kategorie “ , wie Luhmann (2002: 233) in einer Vorlesung formuliert, „ denn [ … ] wir kommen nicht aus dem Medium heraus “ : Auch die Negation von Sinnhaftigkeit generiert einen Sinn. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 160 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="161"?> schriftlich abgefasste Texte die Kommunikation, da diese sich auf sie beziehen kann, auch ohne dass dafür die Anwesenheit der Texte erforderlich ist. Interaktion ist jedoch auch nach dem Aufkommen von schriftlicher Kommunikation weiter wesentlich: Bis in die Neuzeit hinein wird Schrift „ primär als Gedächtnisstütze und als Transportmittel aufgefaßt, [ … ] die Gesellschaft ganz von der Interaktion her begriffen “ (Luhmann 1997: 823). Mit zunehmender Textualisierung wird jedoch die Beobachtung zweiter Ordnung alltäglich, zudem macht die Produktion von Texten den Beobachter sichtbar. 14 Die auf den ersten Blick zu erkennenden Vorteile schriftlicher Kommunikation sind die Unabhängigkeit von Raum und Zeit sowie von Rezeptionsbedingungen. Darüber hinaus führt Schrift „ zu einer tiefgreifenden Transformation der Kommunikationsmöglichkeiten und damit zu einer grundlegenden Neustrukturierung des Gesellschaftssystems “ , die in die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft mündet (264). Wesentlich für diese ist die Umstellung des Operationsmodus von Kommunikationssystemen auf Beobachtungen höherer Ordnung, was seinen Anfang in der Genese der Schrift zum Medium der Kommunikation nimmt. Die in drei Schritten erfolgende Kommunikation wird in schriftlicher Form erst eindeutig, da diese die Differenz zwischen Information und Mitteilung beim Empfänger verschärft: „ Erst die Schrift erzwingt eine eindeutige Differenz von Mitteilung und Information “ (Luhmann 1984: 223). Dies verschärft auch die Grenze zwischen System und Umwelt, denn wenn man noch annehmen konnte, daß außermenschliche Mächte miteinander kommunizieren und den Menschen ansprechen: daß sie Bücher verfassen oder Zettel hinterlassen, ist denn doch sehr unwahrscheinlich. (Luhmann 1997: 283) Durch die Schrift erfolgt „ eine Schwerpunktverschiebung der Kommunikation in Richtung auf Information “ (Luhmann 1997: 275) und es kommt zur „ Intensivierung des Informierens “ (276), was „‚ katastrophale ‘ Auswirkungen “ auf die Evolution der Gesellschaft hat (515): Es gibt, ungeachtet aller Systemdifferenzierung, nicht etwa eine Welt, die man psychisch wahrnimmt, und eine andere als Korrelat der Worte und eine weitere als Korrelat von Schrift. Vielmehr findet die Evolution neuartiger autopoietischer Operations- und Betrachtungsweisen in ein und derselben Welt statt. Die neuen Errungenschaften werden nicht als Multiplikation der Objekte registriert, sondern als Differenzierung und Raffinierung des Beobachtens: Deshalb löst die Evolution der Schrift allmählich die Evolution von Beobachtungsweisen höherer Ordnung aus [ … ]. (278) Durch die Benutzung von abstrahierten Zeichen ermöglicht Schrift die Anwendung von Zeichen auf Zeichen, also eine besondere Art von doppelter (operativer und reflexiver) Schließung der Kommunikation (dazu und zum Folgenden 289 - 290). 15 Dadurch dass sie Abwesendes symbolisiert, wird dieses wie Anwesendes für Kommunikation zugänglich, 14 Vormodern wird die Freiheit des Beobachtens ontologisch als Möglichkeit korrigierbaren Irrens definiert (Luhmann 1997: 903). Es entwickelt sich entsprechend „ noch eine Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, auf der man Wahrheitsansprüche prüfen kann, also beobachtet, wie jemand beobachtet, der ‚ Ist-Behauptungen ‘ mit Wahrheits- oder Unwahrheitsindex versieht. “ (904) 15 Zur Schrift als „ Verdopplung der Sprache in zwei Wahrnehmungsformen “ , der damit verbundenen Verschiebung der Wahrnehmung von der Akustik zur Optik und den sich aus der Verbindung der Flüchtigkeit des akustischen Mediums mit der relativen Dauer des optischen Mediums ergebenden Folgen für die Kommunikation siehe Luhmann (1993b: 356 - 366). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.1 Einführende Zusammenfassung zentraler Elemente der Systemtheorie 161 <?page no="162"?> worauf Beobachtungen zweiter Ordnung bauen. Auch das Realitätsverständnis verändert sich durch Schrift. Nachdem mündliche Kommunikation die Realität dupliziert, da mittels Sprache auch über Abwesendes kommuniziert werden kann, fügt die Schrift ein „ Vielleicht “ hinzu (Berghaus 2004: 156). Die Semantik wird insgesamt „ modalisiert “ und die Realität „ auf der Basis ihrer Möglichkeiten gesehen “ (Luhmann 1997: 277). Da schriftliche Kommunikation nicht mehr gleichzeitig verläuft, löst sich die Kommunikation mit der Schrift von der erlebten Realität und es kommt zu einer Objektivierung der Zeitdimension, Versachlichung der Kommunikationsthemen unabhängig davon, von wem und wann darüber gesprochen wird und zur Absonderung einer Sozialdimension, in der die Ansichten und Stellungnahmen der Beteiligten in einem Kommunikationsprozess reflektiert werden können (290). Die für die Wiedererkennbarkeit von Sinn nötigen Redundanzen werden in schriftlicher Kommunikation nicht wie in der mündlichen aus der personalen Identität von Sprecher und Hörer bezogen, sondern müssen ebenfalls von dieser selbst bereit gestellt werden. Fehlende interaktionelle Kontrollen steigern in schriftlicher Kommunikation das Risiko der Selbst- und Fremdtäuschung sowie der Ablehnung von Kommunikation. Die Gesellschaft kann darauf jedoch reagieren, indem sie eigene Einrichtungen schafft, die dem entgegenwirken. Als Grundvoraussetzung, um den Fortgang der gesellschaftlichen Kommunikation zu sichern, benötigt jede Gesellschaft ein eigenes, selbstproduziertes Gedächtnis, das bewahrt, was den Beteiligten vertraut und bekannt ist (dazu 576 - 594). Nur so kann ein System überhaupt „ historische Ursachen für seinen gegenwärtigen Zustand feststellen oder sich im Unterschied zu früheren Zuständen als verschieden [ … ] charakterisieren “ (578). Gedächtnis ist dabei eine Eigenleistung kommunikativer Operationen, die durch die Aktualisierung von Sinn in der Kommunikation hervorgebracht wird, und dient der laufenden Anpassung des Systems an sich selber (Luhmann 1995b: 46). Es ist weder im Sinne einer möglichen Rückkehr in die Vergangenheit noch als Speicher von Daten oder Informationen, auf die bei Bedarf zurückgegriffen werden kann, zu verstehen. „ Vielmehr geht es um eine stets, aber nur gegenwärtig benutzte Funktion, die alle anlaufenden Operationen testet im Hinblick auf Konsistenz mit dem, was das System als Realität konstruiert. “ (Luhmann 1997: 578 - 579) Das Gedächtnis sozialer Systeme, vor allem des Gesellschaftssystems, ist Kultur. Kultur ist entsprechend „ die Sinnform der Rekursivität sozialer Kommunikation “ (Luhmann 1995b: 47). 16 Auch schriftlose Gesellschaften verfügen über ein soziales Gedächtnis, das in erster Linie ein topographisches Gedächtnis ist und sich an Objekte oder „ Quasi-Objekte “ wie Riten oder Feste hält (Luhmann 1997: 586). 17 16 Einen Begriff für Kultur und damit die Möglichkeit der reflektierenden Beschreibung von Kultur entwickelt erst die moderne Gesellschaft. Die Selbstbeschreibungen einfacherer Sozialsysteme dagegen behelfen sich mit naheliegenden Unterscheidungen wie ‚ Schein ‘ und ‚ Sein ‘ oder ‚ Wahrheit ‘ und ‚ Irrtum ‘ bzw. ‚ Täuschung ‘ , die allerdings durch ihre starke Seite, das Sein oder die Wahrheit, die als Führgröße für die Unterscheidung dienen, hierarchisch konzipiert sind (Luhmann 1995b: 48). Luhmann verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, vermerkt allerdings, dass diese das Erinnern stärker gewichten als das Vergessen (Luhmann 1995b: 47). Zu einer Engführung von Luhmanns Systemtheorie und Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses siehe Holl (2003). 17 Für das soziale Gedächtnis in vorschriftlichen Zeiten ist der bekannte Raum zentral, es orientiert sich zunächst topographisch und entwickelt erst später symbolische Formen. Zudem ist es in sozialen Funktionen verankert, die der ständigen Wiederholung bedürfen. Dabei dienen Mythen, Legenden, Genealogien und Abenteuer der Vorzeit, die zu besonderen Gelegenheiten vorgetragen werden, dazu, Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 162 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="163"?> Anders als in vorschriftlichen Kulturen muss das Gedächtnis einer Gesellschaft, die über Schrift verfügt, nicht mehr an Objekten und an Inszenierungen, also Quasi-Objekten aller Art, fixiert werden, um sich von den absterbenden individuellen Gedächtnissen unabhängig zu machen. Zugleich wird durch den Gebrauch von Schrift die Unterscheidung von Erinnern und Vergessen zu einer bewussten Entscheidung. „ Aufschreiben ist immer auch Nichtaufschreiben von Anderem. Schrift ist selbstgemachtes Gedächtnis. “ (271) Dieses selbstgemachte Gedächtnis erfordert Kriterien und Kontrollen, die als Grundlage für die Entscheidungen, was erinnert und vergessen wird, dienen. Nicht die Bewahrung von Vergangenem ist dabei die Funktion des Gedächtnisses, sondern vielmehr die „ Regulierung des Verhältnisses von Erinnern und Vergessen “ , was Luhmann (270) auch als „ ständige[] selektive[] Re-Imprägnierung der eigenen Zustände “ bezeichnet. In Alteuropa formiert sich mit der Umstellung auf Schrift „ [d]ie sakrale Qualität des Gedächtnisses [ … ] neu als Andenken an eine gründende Vergangenheit “ (272). Die Vergangenheit erhält so „ als aufgeschriebene Geschichte, aber auch als vorhandener Text, eine zuvor unbekannte Macht über die Gegenwart “ (273). Indem Schrift das Abwesende symbolisiert, ermöglicht sie die Gegenwart des Vergangenen sowie die Aktualität des Ursprungs, der dadurch seine legitimierende Kraft erhält. Die Vergangenheit dient so zur Orientierung in der Gegenwart und macht zugleich aufmerksam auf die Unterschiede zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Indem sie Antworten auf die Frage nach der Identität der erinnernden Gemeinschaft gibt, qualifiziert sich die Darstellung der Vergangenheit entsprechend auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung. 4.1.5 Selbstbeobachtungen und -beschreibungen Wie bereits angerissen, produziert ein System durch seine Operationen Differenzen, die beobachtet werden können. Bei ausreichender Kapazität beobachten sinnhaft operierende Systeme auch sich selbst, wobei die durch das System produzierte System-Umwelt- Differenz die Grundlage der Beobachtung darstellt. Entsprechend konstatiert Luhmann (1997: 45): „ Die System/ Umwelt-Differenz kommt zwei Mal vor, als durch das System produzierter Unterschied und als im System beobachteter Unterschied. “ Beim Beobachten kopieren Systeme ihre eigenen Außengrenze in sich hinein und nutzen diese Abgrenzung für sämtliche weiteren Unterscheidungen, sie „ reproduzieren sich in laufendem Vollzug der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz “ (77). Diesen Wiedereintritt der System-Umwelt-Differenz bezeichnet Luhmann (45, 98 - 99) nach Georg Spencer Brown als „ re-entry “ . Eine Selbstbeobachtung anhand der Unterscheidung von System und Umwelt ist nach Luhmann entsprechend die Kondensierung und Verdichtung einer laufenden Beobachtung anhand der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Bekanntes und Vertrautes zu erinnern und zu konfirmieren (Luhmann 1997: 643 - 644). Luhmann (1980: 19) spricht im Falle der Vertextung von „ ernste[r], bewahrtenswerte[r] Kommunikation “ auch von „ gepflegter Semantik “ . Real ist diese nur im Erleben und Handeln, das sie aktualisiert, weshalb es „ besonderer Vorkehrungen durch Ausdifferenzierung von dafür bestimmten Situationen, Rollen, Teilsystemen “ bedarf - frühe Beispiele sind Anlässe zu rituellem Handeln oder zur Mythenerzählung (20). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.1 Einführende Zusammenfassung zentraler Elemente der Systemtheorie 163 <?page no="164"?> Das ermöglicht eine Selbstbeobachtung neuen Stils, nämlich die Zurechnung von Themen auf das System selbst im Unterschied zu seiner Umwelt. Das System reflektiert seine eigene Einheit als Bezugspunkt für Beobachtungen, als Ordnungsgesichtspunkt für sein laufendes Referieren. (Luhmann 1997: 880) Indem Texte angefertigt werden, kann eine Vielzahl von Selbstbeobachtungen, die zunächst ereignishaft und situationsgebunden sind, koordiniert werden. Zunächst gibt sich das System einen Namen und damit eine unveränderbare Bezeichnung, die wiederholt und situationsunabhängig verwendet werden kann. Gestützt auf diesen Eigennamen kann sich das System dann kontrastierend einem anderen gegenüberstellen, um sich im Kontrast zu identifizieren. Dieser Kontrast kann dann allmählich mit Strukturbeschreibungen aufgefüllt werden und Texte, mit denen sich das System selbst bezeichnet, können angefertigt und inhaltlich angereichert werden. Luhmann bezeichnet derartige Texte als Selbstbeschreibungen (dazu auch Luhmann 1975b: 89 - 127). Auch mündliche Gesellschaften fertigen Selbstbeschreibungen an, „ so können auch Mythen über das Menschengeschlecht, den Stamm, den ersten Ahnen usw. fixiert werden, in denen die Gesellschaft in der Gesellschaft repräsentiert wird “ (Luhmann 1997: 883). Luhmann behält die Bezeichnung allerdings Texten vor, denn „ [e]rst mit der Schrift entsteht ein Bedarf für begrifflich elaborierte Selbstbeschreibungen, die zu fixieren versuchen, worüber kommuniziert wird, wenn in der Gesellschaft über die Gesellschaft kommuniziert wird. “ (883 - 884) Während Selbstthematisierungen vorschriftlicher Gesellschaften „ die Erinnerung an das Vertrautsein mit dem Unvertrauten “ darstellen (648 - 649), 18 ist literarische Überlieferung „ ein Reflex der Reflexionsgeschichte “ eines Gesellschaftssystems (Luhmann 1975a: 94). Derartige Selbstbeschreibungen definiert Luhmann (866 - 867) als „ imaginäre Konstruktionen der Einheit des Systems, die ermöglichen, in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über die Gesellschaft zu kommunizieren. “ Aufgrund der kommunikativen Unerreichbarkeit der Gesellschaft benötigt ein System dazu imaginäre Zahlen oder Räume. Selbstbeobachtungen und -beschreibungen existieren nur im Ereigniszusammenhang eines Systems. Es handelt sich bei ihnen nie um konstitutive, sondern immer um nachträgliche Operationen, die auf einem Gedächtnis gründen, das sich bereits hochselektiv formiert hat. Luhmann (883) betont, dass dies auch für die Anfertigung und Benutzung von Texten gilt und vermerkt dazu: „ Das System kann seiner eigenen Geschichtlichkeit nicht entrinnen, es muß immer von dem Zustand ausgehen, in den es sich selbst gebracht hat. “ Selbstbeschreibungen in stratifizierten Gesellschaften sind nach David Roberts (1996: 293) Beobachtungen erster Ordnung, deren Zweck es ist, die 18 Mythen ersetzen und erübrigen, wie Luhmann (1997: 648) betont, die Selbstbeschreibung als Kommunikationsform, indem sie mit dem Befremdlichen, nie Erlebten etwas anderes erzählen, „ das gleichsam die andere Seite der vertrauten Formen darstellt und sie in diesem Sinne komplettiert. “ Es handelt sich bei ihnen nicht um Kommunikation, die Informationen vermittelt und Unbekanntes bekannt macht, sondern um Kommunikation, die an „ das Vertrautsein mit dem Unvertrauten “ erinnert, „ also eine wiederholende Erneuerung des Erstaunens “ darstellt (648). Die Frage, ob die Information stimmt oder nicht, kommt in diesem Zusammenhang gar nicht auf. Entsprechend ist auch das Verhältnis der in den Mythen dargestellten Urzeit und der erinnernden Gegenwart zu verstehen: „ [D]iese Urzeit ist eine andere Zeit als die Zeit der Gegenwart und sieht kein Verhältnis historischer Kontinuität und in diesem Sinne keine Geschichte vor. Ebensowenig stellt sie eine andere Zukunft in Aussicht. Eher geht es um eine Absicherung des Nahen im Fernen und um Bestätigung dafür, daß die Verhältnisse so sind, wie sie sind. “ (649) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 164 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="165"?> bestehende Ordnung zu affirmieren. Zuständig dafür ist die Oberschicht, verbindlich sind die von ihr angefertigten Selbstbeschreibungen für die gesamte Gesellschaft. Charakteristisch für unter den Bedingungen von Stratifikation angefertigte Selbstbeschreibungen ist ihr Anspruch auf Vollständigkeit. „ Sie übergreifen Ungleichheiten, territorialisieren sie und stellen so über eine imaginierte Raumordnung die Einheit des Differenten her. “ (Luhmann 1997: 676) 4.2 Von Aufzeichnung zu Kommunikation: Schrift im mittelalterlichen Island Die von Schier (1975: 171) als terra nova bezeichnete Situation Islands, die „ a new beginning of a community, the creation of new political, legal and social orders “ bedeutet, lässt sich aus systemtheoretischer Perspektive als die Entstehung eines neuen sozialen Systems nachvollziehen. Die Besiedelung des zuvor nicht permanent bewohnten Landes durch die zukünftigen Isländer setzt einen Prozess in Gang, der die Stufen früher Gesellschaftsorganisation zeigt. Ob Island „ seine Besiedlung dem Bestreben, die vorstaatliche Ordnung einer segmentierenden, einer nichtstratifizierenden Machtbalance zu bewahren “ verdankt, wie Uwe Ebel (1989: 118) ausführt, 19 oder ob andere Faktoren wie der persönliche Machtverlust der Auswanderer nicht stärker wiegen als die generelle Ablehnung einer neuen Gesellschaftsordnung, sei dahingestellt. Feststeht, dass sich mit der Einwanderung auf Island zunächst eine primär segmentäre Gesellschaftsordnung etabliert und dass Island länger segmentär geprägt ist als die übrigen skandinavischen und europäischen Länder, im 13. Jh. jedoch ebenfalls eine klare Stratifikation aufweist. Schriftlos ist die sich neu etablierende Gemeinschaft auch in ihren Anfängen nicht, vielmehr verfügt sie mit den Runen bereits über eine Schrift. Die frühen Runeninschriften reflektieren jedoch trotz ihrer schriftlichen Form eine mündliche Kultur (dazu Brink 2005) und können als „ petrified orality “ (117) verstanden werden. Die Runenschrift, die „ je nach Situation und Kontext sakrale, profane oder magische Verwendung finden kann “ (Düwel 2001), macht allerdings deutlich, dass das soziale Gedächtnis bereits sehr komplex ausgebildet ist und die Grenzen rein mündlicher Kommunikation bereits deutlich transzendiert werden. Zwar sind isländische Runeninschriften erst aus dem Mittelalter überliefert, doch für das wikingerzeitliche Skandinavien belegen Funde die Verwendung des sog. jüngeren Fuþark von 750 n. Chr. an, zudem ist die mittelalterliche isländische Literatur reich an Erwähnungen von Runen und ihrer Verwendung. Dementsprechend bildet sich auf Island auch relativ schnell eine segmentär ausdifferenzierte Gesellschaft, die über einen hohen Komplexitätsgrad verfügt und schließlich von einer primär stratifizierten Gesellschaft abgelöst wird (vgl. dazu auch Bruhn 1999: 193 - 197). 19 Wie Ebel (1989: 121) feststellt, „ wird Island zu einem Refugium für eine obsolet werdende Gestaltung menschlichen Zusammenlebens “ . Entsprechend vermerkt er zur Íslendingasaga, dass sie „ in der Form der Familiengeschichte als der Geschichtsschreibung einer nicht auf die größere Einheit eines Staates zugeordneten Identitätsfindung dar[stellt], daß ein Zusammenleben auch ohne staatliche Macht möglich ist. “ (125). Auch Weber (1981: 505) betont, dass die Íslendingasögur eher nicht das „ Kolonistenbewußtsein einer neuen Welt “ zum Ausdruck bringen, sondern mit der Rechtsfreiheit des Bauern „ das Festhalten an Wurzeln in erprobten Gesellschaftsstrukturen, die aus Norwegen mitgebracht und nur auf Island, wenngleich stark modifiziert, bewahrt wurden “ zeigen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.2 Von Aufzeichnung zu Kommunikation: Schrift im mittelalterlichen Island 165 <?page no="166"?> Jón Viðar Sigurðsson (1999: 39) spricht von drei Phasen der Konzentration von Macht auf Island, wobei die erste Phase in den Jahren 930 - 1050 der Etablierung einer Ordnung dient und durch die Entstehung neuer Godentümer gekennzeichnet ist (39 - 62). Die in der Grágás genannte Bestimmung, dass jeder Haushaltsvorstand sich einem Goden anzuschließen hat, bringt ein Patron/ Klient-Verhältnis zum Ausdruck, das den Wandel zu primärer Stratifikation verdeutlicht. 20 Insgesamt ist die Zeit um 1050 unter verschiedenen Aspekten ein Wendepunkt: Mit dem Ende der Wikingerzüge beginnt das nordische Mittelalter, das Königtum ist fest etabliert in Dänemark, Norwegen sowie Schweden. Das Christentum ist nun offizielle Religion in Dänemark, Island sowie Norwegen und damit im größten Teil Skandinaviens. Das um 999/ 1000 zum Christentum übergetretene Island erhält 1056 seinen ersten Bischof. Spuren eines Wandels zeigen sich ab 1050 auch in merkantiler Hinsicht: Eine Gesellschaft, in der dem Schenken auf der Basis des Prinzips von Gegenseitigkeit und Umverteilung eine wesentliche Bedeutung zukommt, wandelt sich allmählich und zeigt zunehmend marktwirtschaftlichen Charakter und einen stärkeren Fokus auf unpersönliche Beziehungen (Poulsen/ Vogt/ Jón Viðar Sigurðsson 2019: 13). Die zweite Phase der isländischen Entwicklung und Machtkonzentration vollzieht sich dann bis 1220. Sie ist gekennzeichnet durch die Entstehung neuer Bezirke, die in der dritten Phase ab 1220 fest etabliert sind (Jón Viðar Sigurðsson 1999: 62 - 83). In diesen zwei Jahrhunderten nimmt eine Entwicklung von dezentralisierten kleinen Machtbereichen zu großen zentralisierten ihren Lauf, die, wie Jón Viðar Sigurðsson (1999: 209) vermerkt, über kurz oder lang wohl auch ohne den Fremdeinfluss durch die norwegische Königsmacht in eine Zentralregierung gemündet hätte: „ If developments had continued without ‚ interference from Norway ‘ , Iceland would probably, sooner or later, have acquired a central body to govern the whole country. “ Nachdem der Einfluss des norwegischen Königtums bereits infolge der Christianisierung im 11. Jh. zunimmt, kommt es trotz des isländischen Widerstands 1262/ 64 schließlich zur Unterwerfung unter die norwegische Krone, womit Island zum norwegischen Schatzland wird (dazu auch Strauch 2013). Wie Ebel (1989: 77 - 97) ausführt, bringt die 1280 vom norwegischen König Magnús lagab œ tir erlassene Jónsbók im Unterschied zum älteren Gesetzescodex Grágás eine klar hierarchische Gesellschaftsstruktur zum Ausdruck, wie auch die Beratung über ihre Annahme im Jahr 1281 auf eine praktizierte Ständeordnung verweist. 21 Das mit der Eingliederung in das norwegische Reich nun zentral regierte Island vollzieht im weiteren Verlauf dann den Wandel zur mittelalterlichen Feudalgesellschaft und damit zu einer Gesellschaft, die besonders deutlich eine primär stratifikatorische Systemdifferenzierung zu erkennen gibt. Der Name Ísland, den sich das System gibt, geht gemäß der Landnámabók (ÍF I: 36 - 39) auf Flóki Vilgerðarson zurück, einen nordischen Entdecker, der die Insel jedoch nicht permanent besiedelt. Wann sich das System tatsächlich den Namen Island gibt und diesen fortan zur Abgrenzung nutzt, ist nicht zu klären. Der älteste Beleg der Bezeichnung für eine 20 Zu Patron-Klient-Verhältnissen in stratifizierten Gesellschaften siehe Luhmann (1997: 699 - 700, 716 - 717). Speziell zu den nordischen Ländern siehe Hermanson/ Orning (2020), vgl. dazu auch Jón Viðar Sigurðsson (2019). 21 In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Eigenbezeichnung an Bedeutung, wie die Gesetzestexte zeigen: Während die in der 2. Hälfte des 13. Jh.s entstandenen Manuskripte der Grágás jeweils einleiten mit „ Þat er upphaf/ vpphaf laga va ʀ a/ va ʀʀ a “ (Das ist der Beginn unserer Gesetze), lautet der erste Satz der Jónsbók „ Þat er upphaf laga várra Íslendinga “ (Das ist der Beginn der Gesetze von uns Isländern) (Ebel 1989: 85 - 86). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 166 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="167"?> Benennung der Isländer als separate Gruppe stammt aus dem ausgehenden 10. Jh. und erscheint in verschlüsselter Form. In einer lausavísa bezeichnet Eyvindr Finnsson skáldaspillir (um 902 - um 990) die Inselbewohner mit der Kenning „ lendingar álhimins “ , die sich als „ Ís-lendingar “ auflösen lässt (Mundal 1997: 12 - 13). 22 Der älteste wortgetreue Beleg findet sich ebenfalls in der Skaldendichtung und erscheint in adjektivischer Form: In Strophe 15 der auf 1019 datierten Austrfararvísur, die Sighvatr Þórðarson (995 - 1045) über zwei 1017/ 18 im Auftrag von König Óláfr inn helgi unternommene Reisen nach Schweden verfasste, thematisiert der Dichter in Ansprache an eine Frau „ augu þessi íslenzk [ … ] in sv ǫ rtu “ (Fulk 2012: 604; diese schwarzen isländischen Augen). Etwa zeitgleich datiert mit 1022 der älteste Beleg für die Landesbezeichnung in Dokumenten, die in der Grágás überlieferte königliche Verordnung fra rétt noregs konongs a jslandi (DI I: 54; vom Recht des Königs von Norwegen in Island). In Skandinavien verbreitet war die Bezeichnung mit Sicherheit früher, wenngleich der älteste Nachweis, der gotländische Runenstein von Timans (dazu Svärdström 1978: 233 - 238), der Island im Anschluss an zwei Personennamen als Teil einer mutmaßlichen Reiseroute neben Griechenland, Jerusalem sowie Serkland aufzählt, ebenfalls aus dem 11. Jh. stammt. 23 Wie weit die geographische Verbreitung der Bezeichnung vor dem 11. Jh. reichte, ist nicht zu klären, in jedem Fall findet sie erst mit der lateinischen Schrift Eingang in die europäischen Schriften des Mittelalters. Keiner der dort erhaltenen Belege für die Nennung Islands stammt aus früherer Zeit, vielmehr gelten sämtliche Erwähnungen Islands in älteren Dokumenten als Fälschungen oder spätere Interpolationen. So geht die Forschung davon aus, dass die auf 832 datierte Urkunde, mit der Papst Gregor IV. Ansgar von Bremen zum Erzbischof und päpstlichen Legat über Skandinavien einsetzt, zwar auf eine echte Urkunde zurückgeht, die lange Länderliste, die auch Island beinhaltet, aber deutlich später, vermutlich um 1075, interpoliert wurde (Seegrün 1976: 102). Die Stiftungsurkunde des Hamburger Erzbistums von Kaiser Ludwig dem Frommen, die auf den 15. Mai 834 datiert ist und Island ebenfalls erwähnt, ist als „ die älteste Fälschung der Hamburger Kirche “ (Curschmann 1909: 122) bekannt. Erst ab Mitte des 11. Jh.s finden sich tatsächlich zeitgenössische Belege für die Erwähnung Islands im europäischen Schrifttum. Als älteste Papsturkunden, in denen die namentliche Nennung der Insel keine spätere Interpolation darstellt, gelten eine Urkunde von Papst Leo IX. über das Bistum Hamburg vom 6. Januar 1053 sowie eine auf Oktober 1055 datierte von Papst Viktor II., ebenfalls über das Bistum Hamburg, wobei die erhaltene Fassung letzterer wohl die Verkürzung einer älteren Urkunde darstellt (Seegrün 1976: 12 - 13). Die nur wenige Jahre später von etwa 1070 bis 1076 verfasste und in den anschließenden Jahren mit Ergänzungen versehene Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum des Klerikers Adam von Bremen darf als ältestes mittelalterliches Geschichtswerk gelten, das Island in verschiedenen Zusammenhängen nennt und vor allem in seiner Beschreibung der Inselwelt des Nordens eingehender darstellt (dazu Sverrir Jakobsson 2019: 3 - 8). Island erscheint so erst mit der lateinischen 22 „ Álhiminn “ (= Himmel der Fahrrinne oder auch Himmel der Aale) bezeichnet die Eisdecke auf einem Gewässer. 23 Transkribiert lautet die Aufzählung „ ormiga : ulfua-r : krikia ʀ : iaursali ʀ (: ) islat : serklat “ (Svärdström 1978: 334). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.2 Von Aufzeichnung zu Kommunikation: Schrift im mittelalterlichen Island 167 <?page no="168"?> Schrift auf der mittelalterlichen Weltkarte und das just in dem Zeitraum, in dem sich die isländische Gesellschaft in verschiedener Hinsicht erkennbar stratifikatorisch ausdifferenziert. 24 Auf Island selbst entstehen im 12. Jh. die ersten Schriften in isländischer Sprache, wobei zunächst 1117/ 18 erstmalig Rechtsinhalte auf Pergament gebracht werden, Schriftlichkeit also klar Aufzeichnungszwecken dient, wie auch die Bezeichnung Hafliðaskrá (skrá = Liste, Register) für diese erste, nicht erhaltene, aber in der Konungsbók der Grágás erwähnte Version der Gesetze zum Ausdruck bringt. Die Verwendung von Schrift für Güterverzeichnisse zeigt den Aufzeichnungscharakter des neuen Mediums in seinen Anfängen ebenso wie die Anfertigung von Genealogien, 25 die nach Clunies Ross (1993: 376 - 378) zu den ersten zu Pergament gebrachten Schriften zählen und prägend für die Entwicklung des Prosaschrifttums sind. 26 Aris Íslendingabók stellt die erste isländische Selbstbeschreibung dar, zeigt mit ihren zahlreichen Listen jedoch zugleich, dass Schrift auch in diesem Fall in hohem Maße dem Zweck der Aufzeichnung dient, was Aris Ausführungen gemäß in einer früheren Fassung noch ausgeprägter war. Kommunikativen Zwecken diente die Íslendingabók, die im Mittelalter wohl vor allem ein Werk für Gelehrte war, dagegen weniger. Neben ihrer Bedeutung als erstes Schriftwerk in der Volkssprache ist die Íslendingabók jedoch auch in weiteren zentralen Punkten Wegbereiterin der Sagaliteratur: Aris Chronologie, die zentrale isländische Ereignisse in Beziehung zu den Regierungszeiten von Päpsten und Königen setzt und mit Jahreszahlen verbindet, 27 zeigt die Objektivierung der Zeitdimension, die wesentlich für den Historisierungsprozess des mittelalterlichen isländischen Schrifttums ist. Mit der Überführung isländischer Ursprungserinnerungen in die Schrift und der Ausbildung einer historischen Ursprungszeit entsteht in der ersten isländischen Selbstbeschreibung das Grundgerüst der mit der Bezeichnung Island verbundenen Identität, das sich im Wesentlichen aus den drei Erinnerungsfiguren Auswanderung, Besiedelung und Christianisierung konstituiert und auf einem Selbstverständnis als Rechtsgemeinschaft beruht. Auch die Ausbildung von Kriterien, die als Grundlage für die Entscheidung dienen, was im Medium der Schrift erinnert wird, zeigt sich in Aris 24 Für die Verbreitung der Bezeichnung auf dem europäischen Festland sorgen nicht nur gelehrte Schriften, sondern auch die Inselbewohner selbst, wie ein auf etwa 1100 datierter Eintrag im Reichenauer Verbrüderungsbuch deutlich macht: Eine Pilgergruppe von dreizehn isländischen Frauen und Männern verewigte sich in diesem mit ihren Namen und der Herkunftsangabe „ Hislant terra “ (Naumann 1992: 707). 25 Wie Bruhn (1999: 165) betont, bringt das wachsende Interesse an Historie im Zuge der Schrift auch ein wachsendes Interesse an genealogischem Denken mit sich. Genealogisches Denken hatte auch im mythischen Diskurs Platz, die Tradition des Adels, sich mit Genealogie zu beschäftigen und genealogisch zu denken, begründet sich jedoch erst im 11. Jh. (163). Vgl. dazu Luhmann (1997: 649), der vermerkt, dass erst wenn Schrift zur Verfügung steht „ für eine Gesellschaft eine Geschichte oder für eine Familie eine Genealogie erzeugt werden “ muss. Zur Veränderung der isländischen Gesellschaft unter dem Aspekt des genealogischen Denkens siehe Bruhn (1999: 161 - 165). 26 Die erste Saga in Snorris Heimskringla, die Ynglinga saga, die Züge der Fornaldarsögur trägt, wenngleich sie nicht so strukturiert ist wie diese (dazu Jørgensen 2009), ist ein Beispiel für noch mehr genealogisch orientierte Literatur: Auf dem Ynglingatal, einer im Versmaß kviðuháttr überlieferten Genealogie des Herrschergeschlechts der Ynglingar, beruhend, ist sie nach Mundal (2009: 64) selbst ein tal, keine Saga, und steht damit am Anfang einer Entwicklung von der Auflistung zu verstärkt narrativen Strukturen. 27 Wie Bruhn (1999: 157) vermerkt, war Ari der erste oder einer der ersten, der die Landnahme mit konkreten Jahreszahlen verbindet. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 168 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="169"?> Schrift. Dass Schrift in dieser frühen Phase der isländischen Schriftgesellschaft als Medium der Aufzeichnung Verwendung findet, kommt noch deutlicher in der Landnámabók zum Ausdruck, die in ihrer ältesten Fassung wohl vornehmlich ein Register war und erst im weiteren Verlauf des Mittelalters narrativ erweitert wurde (Adolf Friðriksson/ Orri Vésteinsson 2003: 144). Mit der ebenfalls mutmaßlich Anfang des 12. Jh.s entstandenen, Ari zugeschriebenen Ævi Snorra goða ist zudem eine knappe Darstellung überliefert, die wie die Íslendingabók Erinnerungen festhält, die den Zeitrahmen des kommunikativen Gedächtnisses zur Zeit ihrer Entstehung gerade hinter sich gelassen haben. Sie fasst die wesentlichen Aspekte ihres Gegenstands knapp zusammen und ist ebenfalls als Aufzeichnung zu verstehen, die zur Basis für spätere Texte wird und das Bild von Snorri goði in den Íslendingasögur wesentlich prägt (Vermeyden 2015: 113, 132 - 133). Auch der sog. Erste Grammatische Traktat (EGR, dazu Hreinn Benediktsson 1972), zwischen 1125 und 1175 entstanden, verdeutlicht, wie sehr die Aufzeichnung im Fokus des frühen isländischen Schrifttums steht. Das Schreiben in isländischer Sprache ist noch in den Anfängen, wie nicht nur die genannten Beispiele für die Anwendung von Schrift verdeutlichen, die soweit sie einheimische Stoffe betreffen, primär aufzeichnenden Charakter haben. Vor allem auch das Anliegen des Verfassers, das Lesen und Schreiben mittels eines spezifisch isländischen Alphabets zu erleichtern, gibt dies deutlich zu erkennen: [ … ] til þe ſſ at hægra verði at ríta ok le ſ a, ſ em nv tiðiz ok a þe ſſ v landi, b ȩ ði l ǫ g ok ááttví ſ i ȩ ða þyðingar helgar ȩ ða ſ va þav hín ſ paklegv fræði er ari þorgil ſ ſ on hefir á bøkr ſ ett af ſ kyn ſ amlegv viti þa hefir ek ok ritað o ſſ i ſ lendíngvm ſ taf rof [ … ] (EGR: 208) [ … ] damit es einfacher werde zu schreiben und zu lesen - wie es nun auch in diesem Lande üblich ist, sowohl Gesetze als auch Genealogien oder religiöse Texte oder das kluge geschichtliche Wissen, das Ari Þorgilsson so weise in Büchern aufzeichnete - habe ich uns Isländern ein Alphabet geschrieben. Nicht zuletzt macht die abschließende Erklärung des Verfassers zu Nutzen und Notwendigkeit des von ihm verfassten Traktats noch einmal deutlich, dass das isländische Schrifttum noch am Anfang steht und primär der Aufzeichnung dient, sofern es sich um einheimische Stoffe handelt: Das vorgelegte Alphabet soll es erleichtern, Schriften anzufertigen und das, was in isländischer Sprache bereits geschrieben ist, zu lesen. Wie schon einleitend, wird nochmals auf übersetzte sakrale Texte sowie Gesetze und genealogisches Wissen verwiesen, 28 zugleich gibt der Verfasser zu verstehen, dass zudem weitere Möglichkeiten offenstehen, indem er die Aufzählung der bekannten Schriftwerke ergänzt um „ eða sva hveregi er maðr vill ſ kyn ſ amlegha nyt ſ emi a bok nema ȩ ðr kenna “ (EGR: 246). 29 Die im Traktat erwähnten ältesten narrativen Texte, die bereits im 12. Jh. fest etablierten Heiligensagas, beruhen auf importierten Stoffen und Modellen und geben einen wesentlichen Impuls für die Entwicklung der genuin isländischen Sagaliteratur, mit der ein weiterer entscheidender Schritt in der kommunikativen Verwendung von Schrift erfolgt, indem nun zunehmend die eigene Vergangenheit zum Gegenstand umfangreicher narrativer Darstellungen wird. Während im 12. Jh. klar Familiengeschichte und Könige im 28 Gelesen als Katalog dessen, was der Verfasser des Traktats für schriftwürdig hält, verweist der Kontext der zitierten Passage, wie Ebel (1989: 76) vermerkt, auch eindeutig auf den Zusammenhang von Schrift und Erinnerung: „ Schriftwürdig ist [ … ] das im hohen Maße Erinnerungswürdige. “ 29 oder welches nützliche Wissen auch immer man aus Büchern lernen oder lehren will Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.2 Von Aufzeichnung zu Kommunikation: Schrift im mittelalterlichen Island 169 <?page no="170"?> Zentrum des historischen Interesses der Isländer stehen, fokussiert die isländische Sagaschreibung ab dem ausgehenden 12. Jh. mit den sich nun etablierenden Konungasögur zunächst klar auf letztere (Ármann Jakobsson 2005b: 389). Nachdem die Anfänge dieser Gattung im lateinischen Schrifttum liegen, setzt sich um 1200 endgültig der Gebrauch der Volkssprache durch. Die Konungasögur unterscheiden sich nicht zuletzt dadurch von den mittelalterlichen Königschroniken, mit denen sie den Gegenstand teilen. Sie erneuern zudem die Tradition der isländischen Skalden, die in ihren Dichtungen der Erinnerung an norwegische Könige eine überdauernde Form verleihen, im Medium der Schrift (399). Nachdem die Gattung um 1200 etabliert ist, dient sie im weiteren Verlauf auch dazu, die Stellung der Isländer in der Welt zu definieren. Während die Íslendingabók isländische Identität aus der norwegischen erwachsend darstellt, 30 wird isländische Identität fortan verstärkt im Kontrast zu Norwegen definiert. 31 Das isländische Gesellschaftssystem hat sich etabliert und identifiziert sich nun kontrastierend zum norwegischen Mutterland. Nachdem im Kontext der Konungasögur die ersten Íslendingaþættir entstehen, die explizit auf isländische Identität(en) fokussieren, reichern dann vor allem die nur wenig später aufkommenden Íslendingasögur diesen Kontrast auf der Basis der von Ari entwickelten Grundstruktur zunehmend inhaltlich an. Auch die Auflistungen der Siedler in der Landnámabók werden nun erweitert um narrative Elemente, die dem ursprünglichen Register Charakteristika einer Selbstbeschreibung verleihen. Wie die Landnámabók zu erkennen gibt, definiert das System sich jedoch nicht nur über den Kontrast zu Norwegen, sondern insbesondere auch über die isländische Landschaft. Die Semiotisierung der Landschaft (dazu Glauser 2000a: 205 - 209) in den Íslendingasögur verweist auf das topographische Gedächtnis der vorschriftlichen Erinnerung einer schriftlosen Gesellschaft und setzt die Verbindung von materieller Realität und Gedächtnis im Medium der Schrift fort. 32 Während die altisländische Literatur im 13. und 14. Jh. in anderen Zusammenhängen in verschiedener Hinsicht eine Auseinandersetzung mit Kriterien und Kontrollen für das Erinnern im Medium der Schrift zeigt, 33 bilden die Íslendingasögur selbst mit dem klassischen Sagastil eine besondere Vorrichtung aus, welche die Annahme der Kommunikation jenseits intrapersoneller Kontrolle sichert, indem Vertrauenswürdigkeit und 30 Mit der Aufzählung der norwegischen Könige bis zum Einheit schaffenden Haraldr inn hárfagri im Vorwort betont die Íslendingabók die zentrale Bedeutung von Norwegen für die isländische Identität ebenso wie mit der Besiedelung aus Norwegen (Kap. 1), Norwegern als Gründungslandnehmer (Kap. 2), dem aus Norwegen importierten Gesetz (Kap. 3), der eng mit dem norwegischen Königtum verbundenen Christianisierung (Kap. 7), der Anbindung des ersten isländischen Bischofs an Norwegen (Kap. 9) sowie auch in diesem Zusammenhang dem dem norwegischen entsprechenden Gesetz (Kap. 8). Interessant ist dabei auch die Anmerkung „ En þá varð f ǫ r manna mikil mj ǫ k út hingat ýr Norvegi, til þess unz konungrinn Haraldr bannaði, af því at honum þótti landauðn nema. “ (ÍF I: 5; Und es wurde ein großer Zug vieler Menschen hierher aus Norwegen, bis König Haraldr es verbot, weil er glaubte, es käme zu einer Entvölkerung des Landes.) Nicht wie in späteren Texten Abgrenzung durch Flucht vor einem Tyrannen definiert die isländischen Anfänge bei Ari, vielmehr erscheinen diese als Verlagerung der norwegischen Bevölkerung nach Island. 31 Zur Entwicklung der isländischen Identität in Abhängigkeit von Norwegen siehe Mundal (1997), zur Verschärfung des Kontrasts zwischen Isländern und Norwegen bzw. dem norwegischen König in der Sagaliteratur des 13. Jh.s siehe Sverrir Jakobsson (2016). 32 Zur Art und Weise, wie die Íslendingasögur „ the un-named spaces of landnám Iceland “ in „ places with human meaning “ transformieren, siehe Hoggart (2010: [8]), speziell zur Verknüpfung von Ritual und Landschaft siehe Gunnell (2019: 33 - 35). 33 Vgl. dazu Kap. 2.2, zu Snorri siehe auch Starý (2013: 117 - 123). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 170 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="171"?> Wahrheitsgehalt formal bekräftigt und als verbindlich bestätigt werden. Diese Entwicklung ist im Zusammenhang der Überführung des kulturellen Gedächtnisses der Isländer in die Schriftlichkeit wesentlich. Insgesamt macht der Prozess der Textualisierung der isländischen Gesellschaft um 1300 den entscheidenden Schritt zu schriftlicher Kommunikation, erkennbar an der beginnenden Wiederaufnahme und damit Auslegung älterer Texte in neuen Zusammenhängen großer Sagakompilationen und reflektiert durch ein neuartiges Verständnis der Textträger als aktive Bestandteile des Kommunikationsprozesses. Die großen Sammelhandschriften des 14. Jh.s, die ausschließlich Íslendingasögur enthalten - zuvorderst die um 1350 entstandene Möðruvallabók - bringen zum Ausdruck, dass sich die Sagazeit als Konstrukt von Einheit, das der isländischen Selbstbeschreibung dient, etabliert hat. Indem sich Anschlusskommunikation auf die von den Íslendingasögur neu als Realitätsebene geschaffene Sagazeit beziehen kann, ist der Wandel dieser zum Kommunikationsmedium der isländischen Gesellschaft abgeschlossen. Auch die ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur als Selbstbeschreibungen des Spätmittelalters sind weiter Beobachtungen erster Ordnung, die einen solchen Wandel entsprechend selbst nicht reflektieren können. Sie als Kommunikation eines sozialen Systems anhand der Unterscheidung von Medium und Form zu behandeln, kann jedoch das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga analysieren, dessen spezifische Funktionsweise offenlegen und sich damit auch der Frage nach der Diskrepanz zwischen mittelalterlicher und moderner Wahrnehmung eines Teils der Íslendingasögur annähern. 4.3 Die Medialität der Sagazeit Varianz als zentrales Charakteristikum der mittelalterlichen Literatur im Allgemeinen und der Íslendingasögur im Speziellen wurde bereits einleitend angesprochen. In den Íslendingasögur gibt sich diese Varianz in verschiedener Hinsicht zu erkennen. 34 Sie zeigt sich bei Namen, wenn beispielsweise die in der Eyrbyggja saga als „ Auðr djúpauðga “ (die Steinreiche) bezeichnete Landnehmerin in der Laxd œ la saga den Namen „ Unnr hin djúpúðga “ (die Weise/ Tiefsinnige) trägt, während sich in den Handschriften der Njáls saga auch die Formen „ Uðr djúpúðga/ djúpauðga “ finden (siehe dazu ÍF IV: 3). Auch bei der Darstellung von Ereignissen findet sich häufig Varianz in den Íslendingasögur, wie sich u. a. am Beispiel der Fehde zwischen den Söhnen des Goden Ingimundr und Finnbogi inn rammi zeigt, die sowohl in der Vatnsd œ la saga im Rahmen einer Geschichte der Bewohner des Vatnsdalur über mehrere Generationen, als auch in der Finnboga saga als Teil der Lebensbeschreibung Finnbogis erzählt wird. Die Grundzüge stimmen überein, die Details unterscheiden sich (Gísli Sigurðsson 1994). Schließlich zeigen nicht zuletzt die in verschiedenen Versionen überlieferten Sagas die Veränderbarkeit der Íslendingasögur, wie eines der bekanntesten Beispiele, die in Hauksbók, Möðruvallabók und Flateyjarbók überlieferte Fóstbr œ ðra saga, verdeutlicht (dazu oben S. 25). Auch die Bezeichnungen einzelner Sagas sind variabel, so ist beispielsweise die Harðar saga auch als Hólmverja saga bekannt oder die Flóamanna saga als Þorgils saga Örrabeinsfóstra. 34 Zur Varianz in der Überlieferung der Íslendingasögur siehe Andersson (1964: 129 - 182). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.3 Die Medialität der Sagazeit 171 <?page no="172"?> Ferner zeigt die Überlieferung neben der Entstehung neuer Íslendingasögur im Laufe der produktiven Phase der Gattung auch deren Vergänglichkeit. Wie bereits angesprochen, sind die Texte zum Teil nur fragmentarisch überliefert, zudem sind weitere Íslendingasögur nur dem Namen nach aus anderen Werken bekannt, als Texte jedoch komplett verloren gegangen, so z. B. die *Gauks saga Trandilssonar, die vorgesehen war, in die Möðruvallabók aufgenommen zu werden, oder von Sturla Þórðarson in seiner Fassung der Landnámabók erwähnte Sagas wie beispielsweise die *Vébjarnar saga. 35 Wenig mehr ist erhalten vom Inhalt der Sagas, die zwar verloren gegangen sind, von denen die Landnámabók jedoch zumindest eine Zusammenfassung überliefert, wie beispielsweise die *Snæbjarnar saga galta (Jón Jóhannesson 1943: 106 - 107). Schließlich lassen erhaltene rímur auf eine verlorene Saga schließen, wie im Falle der Skáldhelgarímur. 36 Es liegt somit nahe, die Íslendingasögur als Formen zu verstehen und der Frage nach der anderen Seite der Unterscheidung, dem Medium, nachzugehen. 37 Wie Kiening (2007: 331) betont, verweist die Anwendung der Unterscheidung von Medium und Form aus mediävistischer Perspektive auf die Notwendigkeit, die Frage „ Was ist ein Medium? “ umzuformulieren zu „ Was kann wie als Medium funktionieren? “ 38 Versteht man die Íslendingasögur als Formen, stellen sich entsprechend die Frage, was als Medium fungiert, um diese Formen hervorzubringen, und wie dieses Medium funktioniert. In ihrem Aufsatz „ The long prose form “ formuliert Carol J. Clover (1986) das Konzept der „ immanent saga “ , das die Íslendingasögur als schriftliche Realisierungen eines größeren Ganzen mündlicher Überlieferung, eines „ immanent whole “ , versteht: „ Briefly stated, it is that a whole saga existed at the preliterary stage not as a performed but as an immanent or potential entity, a collectively envisaged ‚ whole ‘“ (84). Dieses immanente Ganze isländischer Ursprungserinnerungen, das wie gezeigt in einem beständigen Fluss ist und mit jeder Wiederaufnahme aktualisiert wird, existiert auch nach der Entstehung und Etablierung der Íslendingasögur fort. 39 Zugleich wird die Sagazeit mit diesen zur historischen 35 Eine Auflistung dem Namen nach bekannter, aber nicht erhaltener Íslendingasögur findet sich bei Guðbrandur Vigfússon (1878: CXXX - CXXXI), zu verlorenen Sagas siehe auch Jesch (1982). 36 Die erhaltenen Íslendingarímur, die sämtlich nach einer Saga gedichtet wurden, legen dies auch im Fall der Skáldhelgarímur nahe, die Existenz einer Skáld-Helga saga ist jedoch rein spekulativ (vgl. oben S. 75). Im Fall von namentlich genannten Sagas besteht zudem die Möglichkeit, dass sich die Erwähnung auf eine mündlich überlieferte Erzählung bezieht. 37 Vgl. auch Kiening (2007: 293), der betont, dass „ auch Kommunikations-, Überlieferungs- und Verbreitungsformen früherer Gesellschaften [ … ] als ,Medien ‘ bezeichnet und in ihren je eigenen historischen Prozessen verfolgt werden “ können. Die Unterscheidung von Medium und Form versteht er als „ ein Instrument, um auf historische Situationen zu blicken “ (332). Aus einer mediävistischen Perspektive kommt dabei, wie er vermerkt, einem Grundverständnis des Medialen als ein formales, dynamisches ‚ Dazwischen ‘ aufgrund der im Mittelalter (lange) vorherrschenden onto-theologischen Grundierung von Medialität eine besondere Bedeutung zu. 38 Diese Notwendigkeit gründet in der Aufgabe der ontologischen Perspektive, die mit dem Modus der Beobachtung höherer Ordnung einhergeht, was, wie Luhmann (1990b) vermerkt, die Umstellung von „ Was “ -Fragen auf „ Wie “ -Fragen mit sich bringt. Entsprechend fokussiert auch die vorliegende Untersuchung auf die Frage, wie die mittelalterliche isländische Gesellschaft Vergangenheit (re-) konstruiert. 39 Siehe dazu auch Gísli Sigurðsson (2005: 182 - 184, 2007), der aus der schriftlichen Überlieferung ‚ immanente Sagas ‘ einzelner sagazeitlicher Persönlichkeiten rekonstruiert, die nicht als solche verschriftlicht wurden, deren Inhalte dem mittelalterlichen Publikum vor dem Hintergrund des immanenten Ganzen der mündlichen Überlieferung jedoch geläufig waren. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 172 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="173"?> Vergangenheit der Isländer sowie ihrer kollektiven Ursprungszeit. Das Potential zur Formbildung behält die Sagazeit dabei bei, an dessen Seite tritt jedoch mit der Überführung der Ursprungszeit in die Schriftlichkeit das Potential der Schrift, Möglichkeiten abzubilden. Zudem etabliert sich die Sagazeit als neue Realitätsebene, auf die sich die gesellschaftliche Kommunikation beziehen kann, entsprechend kann sich die Gesellschaft ausgehend von dieser selbst beschreiben. Die Selbstbeschreibungen rekurrieren dann nicht mehr vornehmlich auf die gelebte Realität, sondern auf eine auf deren Basis entstandene imaginäre Konstruktion der Einheit des Systems. Dieses Konstrukt von Einheit, das die Sagazeit nach der Etablierung der Gattung Íslendingasaga darstellt, wird durch die weitere Verwendung zur Selbstbeschreibung in der Kommunikation des Systems selbst zum Medium. 40 Dieses stellt das Potential für die Entstehung neuer Íslendingasögur bereit, die als Formen die andere Seite der Unterscheidung von Medium und Form darstellen. Das Medium Sagazeit ermöglicht, dass neue Íslendingasögur entstehen, weil es die Formbildung anregt, indem es lose gekoppelte Elemente für mögliche Verbindungen zur Verfügung stellt. Entsprechend ist es, wie von Uecker (2005: 78) angedacht, ein vom kollektiven Gedächtnis der Isländer produziertes „ Regelsystem [ … ], nach dem die Sagas gebaut sind “ . Das Medium erweitert die Möglichkeiten, was in der Kommunikation behandelt werden kann, schränkt diese durch die Vorgabe der Elemente jedoch zugleich ein. Als Elemente des medialen Substrats sind im Falle der Unterscheidung von Sagazeit als Medium sowie Íslendingasögur als Formen zum einen Überlieferungen um die Fixpunkte des isländischen kulturellen Gedächtnisses - Auswanderung, Besiedelung und Christianisierung - zu verstehen, 41 zum anderen die durch die Konventionen der Íslendingasaga vorgegebenen Elemente zur Inszenierung dieser, d. h. Stil, Erzählweise und zentrale Komponenten des Erzählaufbaus. Als Medium ist die Sagazeit entsprechend nicht nur Träger von Signifikanten, sondern rückt zudem selbst in die Position des Signifikats (vgl. Kiening 2007: 332). Beobachtbar ist sie nur über die Formen der Íslendingasögur, durch deren Entstehung sie zugleich als Medium der Kommunikation erneuert wird. Als solches ist sie eine neuartige autopoietische Beobachtungsweise und damit eine Eigenleistung des beobachtenden Systems, der stratifizierten isländischen Gesellschaft, die sich sowohl durch ihre territorialen Grenzen als auch durch Gruppenzugehörigkeit als Einheit definieren kann. In der Funktion eines Mediums wird die geschichtliche Epoche der Sagazeit zum imaginären Raum, mittels dessen die Einheit des Differenten hergestellt werden kann, was der isländischen Gesellschaft - und nur dieser - erlaubt, über sich selbst zu kommunizieren und sich selbst zu beschreiben. 42 In Anlehnung an die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien der ausdifferenzierten Gesellschaft kann dieses Medium entsprechend als symbolisch spezialisiertes Kommunikationsmedium verstanden werden. Es ist nicht nur an die mittelalterliche isländische Gesellschaft gebunden, sondern darüber hinaus an stratifizierte Ausdifferenzierung. Entsprechend werden die Íslendingasögur auch im Spät- 40 Vgl. auch Kiening (2007: 291), der feststellt, dass mit der zunehmenden Normalität einer „ Realität der Beobachtung zweiter Ordnung “ Kommunikation zum bevorzugten Entfaltungsort des Medialen wird. 41 Diese Überlieferungen sind an die Landschaft geknüpft, an Objekten verankert (dazu Perkins 1989) oder mit berühmten Personen verbunden (dazu Simek 2000) und wurden mutmaßlich auch in þulur (Merkversreihen) weitergegeben (dazu Poole 2010). 42 Vgl. dazu auch Kiening (2007: 338), der feststellt, dass das Mediale Identitäten sowie Differenzen stiftet und dazu beiträgt, Legitimitäten zu stiften und Komplexitäten zu erzeugen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.3 Die Medialität der Sagazeit 173 <?page no="174"?> mittelalter von der Oberschicht angefertigt, sind für die gesamte Gesellschaft verbindlich und dienen der Affirmation der bestehenden Ordnung. Da sich diese jedoch im Laufe der Gattungsentwicklung deutlich wandelt, ist das Vergangene nicht mehr unmittelbar zu vergegenwärtigen, wenn es seine Aktualität bewahren soll. Mit dem Medium Sagazeit überwindet die Kommunikation im isländischen Spätmittelalter die zunehmende Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart und kann Vergangenes weiter zur Begründung der Gegenwart heranziehen. In diesem Sinne ist auch das Medium Sagazeit als ein Erfolgsmedium zu verstehen, das dazu beiträgt, die isländische Identität trotz gravierender Veränderungen erfolgreich aufrechtzuerhalten. Durch die Zwischenschaltung des Mediums zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird Distanz auf der ontischen Ebene überwunden und in die Beobachtung verlagert, die so die der Schrift inhärente Möglichkeit, potentielle Realitäten zu erfassen, integriert. Auch für das Medium Sagazeit gilt, was nach Kiening (2007: 333) charakteristisch für ein mittelalterliches Medium ist: „ Es ist ein „ herausgehobener Ort der Paradoxie, weil es sowohl zwischen Präsenz und Absenz als auch zwischen Immanenz und Transzendenz vermittelt. “ Das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga arbeitet daran, das Transzendente im Immanenten sichtbar zu machen, wenn es Aspekte des isländischen Selbstverständnisses, die nicht unmittelbar erfahrbar sind, bildlich darstellt und ihnen so im Medium der Schrift Gestalt verleiht. Die Medialität der Sagazeit ist so eine typisch mittelalterliche, die der Vergegenwärtigung von Abwesendem und der Überbrückung von Distanz dient. Dabei spielt auch die christliche Heilsgeschichte, die häufig im Zentrum (spät-)mittelalterlicher Medialität steht (dazu Kiening/ Herberichs/ Dauven-van Knippenberg 2009), eine nicht unwesentliche Rolle. 43 Indem die Medialität der Sagazeit das Abwesende vergegenwärtigt und Distanz überbrückt, trägt sie zur anhaltenden Fundierung von Identität trotz gravierender gesellschaftlicher Veränderungen bei. Dabei führt die Formenbildung des Mediums nicht zur Entstehung einer zweiten, immateriellen ‚ Welt ‘ neben der Welt, überschreitet jedoch wie von Kiening (2007: 330) als Spezifikum mittelalterlicher Medialität hervorgehoben, in ihrer Materialität das Materielle. Indem die Íslendingasögur die tatsächliche Landschaft bevölkern, materialisiert sich die Vergangenheit als lebendiges Gestern im Heute, wodurch die Sagazeit nicht zu einer eigenständigen Welt neben der Welt der physikalischen Gegebenheiten wird, aber zu einer Art von Zwischenraum, der mehr in den Blick nimmt, wenn er im doppelten Wortsinn durchschaut wird. Ohne ein Reflexionspotential zu entwickeln, das im neuzeitlichen Sinne als autoreflexiv oder fiktional zu verstehen ist (vgl. Kiening 2007: 341 - 342), kann die mediale Kommunikation so ihren Blick sowohl auf die Gegenwart als auch die Vergangenheit ausweiten. Die sakrale Qualität des Gedächtnisses, die sich im europäischen Mittelalter mit der Umstellung auf Schrift neu als Erinnerung an fundierende Ursprünge formiert, ist dabei ein wesentlicher Aspekt der Medialität der Sagazeit. Durch diese Neuformierung des Gedächtnisses erlangen die geschriebene Geschichte und die sie abbildenden Texte erst ihre neuartige Macht über die Gegenwart, was die Triebkraft hinter der kommunikativen Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart ist, die durch die mediale Selbstbeschrei- 43 Wie die nachfolgenden Analysen deutlich machen, ist die Integration der vorchristlichen Vergangenheit der Isländer in die christliche Heilsgeschichte ein wesentlicher Aspekt des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 174 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="175"?> bung zustande kommt. Auch Kiening (2007: 343) betont die auratische Dimension mittelalterlicher Medien und die vielfältigen Bestrebungen der mittelalterlichen Überlieferung, „ Materielles als auratisch zu erweisen und zugleich auf ein Nicht-(nur-)Materielles zu übersteigen. “ Im Falle der Íslendingasögur kommt diese Auratisierung des Materiellen zum einen in der Semiotisierung der Landschaft zum Ausdruck, die so mit Bedeutung aufgeladen wird, zum anderen in der Heroisierung der Protagonisten, die dadurch über die Bedeutung von Normalmenschen hinauswachsen und für diese entsprechend eine besondere Signifikanz erhalten, die medial noch einmal verstärkt wird. Die physische Grundlage der isländischen Gesellschaft - geologisch als Grund und Boden einerseits sowie genealogisch als Fleisch und Blut andererseits - dient ihr so über die bloße Abbildung der tatsächlichen Gegebenheiten wie Landbesitz und Abstammung hinaus zur Identifikation. Auf der Basis der Differenz von System und Umwelt ermöglicht die legitimierende Kraft der Ursprünge auf diese Weise, Identität nicht nur zu definieren, sondern diese mittels des Mediums vor dem Hintergrund einer zunehmenden Differenz zwischen der durch die Schrift fixierten Vergangenheit und der erinnernden Gegenwart auch aufrecht zu erhalten und zu aktualisieren. Zwei Modi der Medialität sind dabei zentral, die jeweils dazu dienen, Abwesendes zu vergegenwärtigen und Transzendentes sichtbar zu machen. Zum einen ist dies die Hypostase in Form von Personifikation, die den Protagonisten der spätmittelalterlichen Íslendingasögur über das, was sie vordergründig darstellen, hinaus Signifikanz zuweist: Sie vermitteln der Gegenwart die Vergangenheit, indem sie wesentliche Ereignisse, die für das Werden und Sein der Isländer als Gemeinschaft von zentraler Bedeutung sind, personifizieren. Bedeutsame Inhalte des kulturellen Gedächtnisses werden so in Gestalt herausragender sagazeitlicher Isländer sichtbar und damit konkret fassbar. Indem das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga auf diese Weise den Körper (im ganz allgemeinen Verständnis eines Vermittelnden) zum Medium macht, schafft es einen schriftlichen Ersatz für den leiblichen Körper, der eine Erinnerung in der Mündlichkeit (über-)trägt. 44 Im Medium der Schrift übernehmen die Handschriften die Funktion von Erinnerungsträgern, das Medium Sagazeit macht die Protagonisten der spätmittelalterlichen Íslendingasögur zu symbolischen Bedeutungsträgern, die die isländischen Ursprünge personifizieren. Dem christlichen Fokus des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga entsprechend, handelt es sich dabei vornehmlich um Aspekte der isländischen Frühgeschichte, die für ein christliches Selbstverständnis wesentlich sind. Wie Finnbogi in der nach ihm benannten Saga die freiwillige Christianisierung Islands personifiziert (Weber 1986: 313 - 314) und Búi in der Kjalnesinga saga die Integration des irischen und damit christlichen Anteils an der Besiedelung (Cook 1994), werden in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur auch weitere zentrale Aspekte des christlichen Island von den jeweiligen Protagonisten verkörpert. Neben der Hypostase entsteht die Medialität der Sagazeit zum anderen durch Intertextualität, die dem Dargestellten vor dem Hintergrund der Texte, auf die die spätmittel- 44 Über das natürliche Gedächtnis hinaus spielt der Körper auch in der Mnemotechnik eine zentrale Rolle (Hermann 2015: 331 - 338). Der Körper dient der Verortung von Erinnerung und kann selbst eine Botschaft vermitteln, wie Glauser (2007: 18 - 22) anhand der Njáls saga aufzeigt, die im Zusammenhang mit Njálls Tod beiläufig eine Anspielung auf die Gründungsanekdote der klassischen Gedächtniskunst in Szene setzt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.3 Die Medialität der Sagazeit 175 <?page no="176"?> alterlichen Íslendingasögur Bezug nehmen, eine zusätzliche Bedeutung einschreibt. Mehr als nur literarische Muster, die dem Erzählten zugrunde liegen, dienen diese Rekurse dazu, eine implizite Bedeutungsebene zu kreieren, die das, was die spätmittelalterlichen Íslendingasögur berichten, indirekt auslegt, indem sie einen Bezugsrahmen vorgibt, der die Rezeption lenkt. Ein reichhaltiger textueller Kontext ist sowohl für die personifizierende Darstellung der Vergangenheit als auch für ihre implizite Interpretation von wesentlicher Bedeutung, da diese sich jeweils nur vor diesem und die durch ihn vorgegebenen Implikationen entfalten können. Die medial vermittelte Vergangenheit bleibt auf diese Weise Beobachtung erster Ordnung, da sie als Beobachtung der Welt verstanden und dargestellt wird, sie überschreitet jedoch zugleich die Beobachtung erster Ordnung, da ihrem eigenen Beobachten und Beschreiben Beobachtungen zweiter Ordnung unabdingbar zugrundeliegen, was die medialisierte Darstellung erst ermöglicht. Die medialisierte Darstellung stellt das Paradoxon einer Einheit des Differenten dar und bringt nicht selten Widersprüche mit sich, die sich aus der Inkongruenz von medialer Logik und Handlungslogik einer Saga ergeben. Entsprechend treffend ist für diejenigen der spätmittelalterlichen Íslendingasögur, die das mediale Erzählen sehr weit treiben, auch die Feststellung Luhmanns (1997: 676 - 677), dass vormoderne Weltbeschreibungen mit heutigen Augen „ wie eine entfaltete, in Räume aufgelöste Paradoxie “ gelesen werden. Bevor ich im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit analysieren werde, wie die Medialität der Sagazeit in der Kommunikation evolviert und was entsprechend die Spezifika des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga sind, sollen zum Abschluss dieser einleitenden theoretischen Ausführungen noch die Funktionsweise des Mediums und die Bedingungen seiner Medialität in den Blick genommen werden. 4.4 Bedingungen der Medialität Wie bereits angesprochen, ist das symbolisch spezialisierte Kommunikationsmedium Sagazeit an eine stratifikatorisch ausdifferenzierte Gesellschaft gebunden, da es dieser möglich ist, sich als Regionalgesellschaft sowie durch Gruppenzugehörigkeit als Einheit darzustellen. Diese mediale Funktion kann die Sagazeit für die isländische Gesellschaft entwickeln, da sie ein Konstrukt von Einheit ist, das die Vergangenheit zum Zwecke der Identifikation vergegenwärtigt und so die durch Schrift neu geschaffene Differenz von Vergangenheit und Gegenwart transzendiert. Wie die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien der modernen Gesellschaft ist auch das Medium Sagazeit binär codiert. Wenn das System mittels des Mediums kommuniziert, operiert es anhand der Differenz von isländisch und nicht-isländisch, mit der es sich von seiner Umwelt abgrenzt und sich auf diese Weise selbst reproduziert. Die Íslendingasögur im 13. Jh. kanalisieren die unfesten isländischen Ursprungserinnerungen und etablieren die Unterscheidung isländisch/ nicht-isländisch, die sich schriftlich ab dem 11. Jh. zeigt, weiter. Basierend auf einem auf Land und Recht ausgerichteten integrierenden Verständnis der Innenseite der Unterscheidung einerseits und einem kontrastierenden, die beiden Unterscheidungen von Island und Norwegen sowie von besiedelter Gesellschaft und unbesiedelter Wildnis zugrunde liegenden Verständnis der Außenseite andererseits, wird sie dann im 14. Jh. als Grundlage für ein übergeordnetes Prozessieren mittels des Mediums Sagazeit genutzt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 176 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="177"?> Wesentlich für die Bildung des Mediums und seine Operationsweise ist dabei die dargelegte spezifisch mittelalterliche Situation der Íslendingasögur zwischen Körper und Schrift. Die Íslendingasögur als Kommunikation der gesamten Gesellschaft zu sehen, legt bereits ihre anonyme Überlieferung und ihre die Meinung des Kollektivs integrierende Erzählweise nahe. Ihre Funktion als Medium für die gesamte Gesellschaft kann die Sagazeit jedoch nur erfüllen, wenn die Kommunikation auch gesamtgesellschaftlich zum Abschluss gebracht wird. Die erste Selektion im Kommunikationsprozess mittels des Mediums Sagazeit ist offenkundig: Im Zuge der Verschriftung wird ausgewählt, was als Information anzusehen ist. Indem sich die zweite Selektion an die Form der Íslendingasaga anschließt, die qua ihrer Form Vertrauen in die Mitteilung generiert, wird die Annahme des Kommunikationsangebots gesichert. Während die erste Selektion im Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit stattfindet, in dem das Potential der Sagazeit zur Formenbildung angelegt ist, findet die zweite Selektion und damit die Entscheidung, was erinnert wird, im Medium der Schrift statt. Die dritte Selektion und damit der Abschluss des kommunikativen Akts vollzieht sich dagegen wieder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und ist aufgrund des mittelalterlichen Gesellschaftsverständnisses notwendigerweise ein Interaktionsakt, bei dem die schriftliche Kommunikation im Modus der Anwesenheit vergegenwärtigt und damit real wird. Auch wenn die Praxis des schriftlichen Vorlesens von Íslendingasögur im Mittelalter nicht direkt belegt ist, ist davon auszugehen, dass die sagnaskemmtun der spätmittelalterliche Hauptverbreitungsweg der isländischen Ursprungserinnerungen in Form der Sagazeit war. Werden die Íslendingasögur bei der sagnaskemmtun einer Gruppe vorgelesen, versteht diese, dass es sich um eine Mitteilung handelt, und schließt den Kommunikationsakt so in der Interaktion kollektiv ab. Zwar ist bei derartigen Gelegenheiten nicht die gesamte isländische Gesellschaft anwesend, wohl aber eine repräsentative Gruppe, da davon auszugehen ist, dass üblicherweise ein Haushalt, die grundlegende Einheit in stratifizierten Gesellschaften, die Basis einer derartigen Zusammenkunft bildet. Bei derartigen Versammlungen zur sagnaskemmtun handelt es sich um Interaktionssysteme. Interaktion wiederum ist wie angesprochen „ Vollzug von Gesellschaft in der Gesellschaft “ . Wenn sich nun eine repräsentative Gruppe von Isländern versammelt, um gemeinsam Erzählungen zu hören, die explizite Selbstbeschreibungen der isländischen Gesellschaft darstellen, handelt es sich also gewissermaßen um eine Art doppelten Vollzug von Gesellschaft in der Gesellschaft. Die Medialität der Sagazeit und ihr kommunikatives Potential ist nicht unwesentlich an diesen doppelten Vollzug von Gesellschaft gebunden. Das symbolisch spezialisierte Kommunikationsmedium Sagazeit ist dementsprechend das Resultat eines medialen Wandels, infolge dessen Schrift zum Kommunikationsmedium wird, die Gesellschaft aber weiter Anwesenheitsgesellschaft ist und sich über die Interaktion versteht. Im Rahmen einer Beobachtung erster Ordnung garantieren seine medialen Möglichkeiten größtmögliche Nähe zum beobachtenden System, wodurch die Identität von Beobachter und Beobachtetem gesichert ist, bei gleichzeitig größtmöglicher Distanz, die das Sichtfeld der Beobachtung vergrößert. Mit der weiteren schriftbedingten Evolution, spätestens mit der Vorherrschaft des Buchdrucks und der Umstellung auf Beobachtungen höherer Ordnung, verliert die Sagazeit diese Medialität größtenteils wieder, da die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr sämtlich gegeben sind, um die volle Funktionsweise des Mediums zu garantieren. Die nachmittelalterlichen Fortschreibungen Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 4.4 Bedingungen der Medialität 177 <?page no="178"?> der Sagazeit entstehen zwar ebenfalls im oral-written continuum, die beginnende Ausdifferenzierung der Gesellschaft bringt jedoch mit sich, dass nicht mehr wie im Mittelalter eine repräsentative Oberschicht die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft anfertigt, sondern Selbstbeschreibungen in unterschiedlichen Zusammenhängen entstehen. Zudem fehlt den nachmittelalterlichen Íslendingasögur der Hintergrund einer schriftunabhängigen lebendigen mündlichen Überlieferung sowie der leibhaftigen Anbindung an die dargestellte Vergangenheit, weshalb sich das Medium wie gezeigt mit dem ausgehenden Mittelalter nicht mehr durch Formenbildung erneuert und der Traditionsstrom zum Ende kommt. Das spezifische Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das die Medialität der Sagazeit erst ermöglicht, ist im weiteren Verlauf der Entwicklung nicht mehr gegeben, vielmehr stützt sich die mündliche Überlieferung nun noch weiter auf die schriftliche, die ihrerseits in die Phase der Auslegung übergeht. Die fundierende Vergangenheit wird nicht mehr durch bloßes Neuerzählen vergegenwärtigt, sondern auch durch eine explizite Interpretation der älteren Überlieferungen aktualisiert. Vor diesem Hintergrund erlangen die nachmittelalterlichen Íslendingasögur nie die gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit ihrer mittelalterlichen Vorbilder. Im kulturellen Gedächtnis werden sie diesen zwar zur Seite gestellt, von der sich zunehmend ausdifferenzierenden Wissenschaft jedoch klar von ihren mittelalterlichen Vorgängern abgegrenzt. Die spezifische Medialität der Sagazeit ist dementsprechend ein Phänomen der spätmittelalterlichen isländischen Gesellschaft, für die das Medium Sagazeit entsprechend den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien der modernen Gesellschaft eine evolutionäre Errungenschaft darstellt, die Kommunikation erleichtert. Als symbolisch spezialisiertes Kommunikationsmedium hat das Medium eine weit geringere Reichweite und doch ermöglicht es Kommunikation, die sich andernfalls nicht vollziehen könnte: Kommunikation der isländischen Gesellschaft über sich selbst, die aufgrund der zusätzlichen Distanz durch die Zwischenschaltung des Mediums mehr kommunizieren kann als eine reine Beobachtung erster Ordnung, ohne jedoch das Reflexionspotential einer Beobachtung höherer Ordnung zu erlangen. Gefördert wurde die Entstehung eines solchen symbolisch spezialisierten Kommunikationsmediums ohne Zweifel durch die besonderen Gegebenheiten der Entstehung der isländischen Sagaliteratur, beobachten lässt es sich nicht zuletzt durch die Bedeutung, die die Íslendingasögur nachmittelalterlich im kulturellen Gedächtnis der Isländer erlangen. 45 45 Als Medium gesamtgesellschaftlicher Kommunikation stellt die Sagazeit einen Sonderfall dar, insbesondere aufgrund der anhaltenden Bedeutung der Íslendingasögur im Anschluss an seine eigentliche produktive Phase. Die Mechanismen dieser medialen Kommunikation geben sich jedoch auch in anderen Zusammenhängen zu erkennen und lassen Untersuchungen weiterer Textkorpora lohnend erscheinen. Als auf die Oberschicht konzentrierte Kommunikation sind dabei im isländischen Kontext insbesondere die Fornaldarsögur zu nennen, die für führende isländische Familien fundierende Erzählungen darstellen, im europäischen Zusammenhang die Matière de Bretagne, die das Selbstverständnis des europäischen Adels spiegelt. Sie teilen mit dem spätmittelalterlichen Erzählen der Íslendingasaga mittels des Mediums Sagazeit jeweils den historischen Kern, der freilich weit mehr überformt ist, die normative und formative Funktion sowie die Überlieferung im oral-written continuum, gekennzeichnet durch die spezifische Kommunikationssituation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit einerseits und die Wiederaufnahme und Aktualisierung der Stoffe andererseits, die verschiedene Stufen der Überlieferung zu erkennen gibt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 178 4 Theoretischer Hintergrund <?page no="179"?> 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 5.1.1 Christianisierung in Hávarðar saga und Finnboga saga Der Protagonist der Hávarðar saga personifiziert wie Finnbogi und Búi isländische Geschichte mit Fokus auf die Christianisierung. Vor der zentralen Auseinandersetzung im Verlauf der Sagahandlung schwört Hávarðr, bei Erfolg einen Glaubenswechsel zu vollziehen: Nú verðr þar til að taka, er þeir Þorbj ǫ rn eru ok Hávarðr. Þeir leggjask frá landi; var þat langt sund, þar til Þorbj ǫ rn kom í eitt sker, er þar liggr frammi fyrir. Ok er hann kømr í skerit, þá kom Hávarðr at framan. Ok er Þorbj ǫ rn sér þat, var hann vápnlauss fyrir, þrífr þá upp stein mikinn ok ætlaði at keyra í h ǫ fuð honum. Ok er Hávarðr sér þat, kom honum í hug, at hann hafði heyrt sagt útan úr l ǫ ndum, at þar var annarr siðr boðaðr en norðr í l ǫ nd, ok með því ef n ǫ kkurr kynni honum þat at segja, at sú trúa væri betri ok fegri, þá skyldi hann því trúa, ef hann sigraði Þorbj ǫ rn. Ok eptir þat lagði hann sem harðast at skerinu. Ok er Þorbj ǫ rn ætlaði að kasta steininum, skruppu honum f œ trnir, ok varð honum á hált á grjótinu, svá at hann fell á bak aptr, en steinninn fellr ofan á bringspalir honum, ok verðr honum ósvipt við. Ok í því komsk Hávarðr upp á skerit ok lagði hann þegar í gegnum með sverðinu Gunnloga. (ÍF VI: 326) Nun soll die Erzählung dort aufgenommen werden, wo Þorbj ǫ rn und Hávarðr sind. Sie schwimmen vom Land weg; es war lange zu schwimmen, bis Þorbj ǫ rn zu einer Schäre kam, die dort davor liegt. Und als er auf die Schäre kommt, da kam Hávarðr von vorne. Und als Þorbj ǫ rn das sieht, war er unbewaffnet, er ergreift dann einen großen Stein und wollte diesen Hávarðr an den Kopf werfen. Und als Hávarðr das sieht, kam ihm in den Sinn, dass er außerhalb des Nordens erzählen gehört hatte, dass dort eine andere Religion verkündet wurde als in den nordischen Ländern und in dem Fall, dass jemand ihm sagen könne, dass dieser Glauben besser und schöner wäre, dann wollte er ihn annehmen, wenn er Þorbj ǫ rn besiegte. Und danach griff er die Schäre so stark wie möglich an. Und als Þorbj ǫ rn den Stein werfen wollte, zog es ihm die Füße weg und er rutschte auf dem Geröll aus, so dass er nach hinten auf den Rücken fiel. Der Stein aber fällt ihm auf den Oberkörper und er wird ganz benommen davon. Und in diesem Augenblick kam Hávarðr die Schäre hoch und durchbohrte ihn dann mit dem Schwert Gunnlogi. Die Sagahandlung rückt auf diese Weise zunächst die Bedeutung des neuen Glaubens ins Zentrum, der noch nicht konkret benannt wird, aber als potentiell schöner und besser eingeführt und zugleich als Erfolgsgarant dargestellt wird, wie der Erfolg Havárðrs über seinen Gegner verdeutlicht. Allein der Gedanke an diese noch unbekannte neue Religion verleiht Hávarðr Kraft für den Kampf gegen Þorbj ǫ rn. Zudem erscheint der neue Glauben als Macht, die in das Leben der ihm Zugewendeten eingreifen und sie auf diese Weise schützen kann. Implizit erweckt die Saga hier den Anschein, dass Hávarðrs erste Hinwendung zum noch unbekannten Christentum das Missgeschick seines Gegners, das Hávarðr letztlich den Sieg ermöglicht, erst auslöst. Im weiteren Verlauf spielt die Glaubensthematik zunächst keine Rolle und die Sagahandlung konzentriert sich weiter auf <?page no="180"?> Fehden und Rache. Der noch nicht näher bezeichnete neue Glaube markiert dennoch einen zentralen Wendepunkt. Bevor Hávarðr, der nach dem Tod seines Sohnes Óláfr drei Mal zwölf Monate im Bett liegen bleibt, tätig wird, muss er von seiner Frau Bjargey zur Rache angestachelt werden. Sie übernimmt auch die wesentlichen Vorbereitungen für diese und stattet Hávarðr aus. Das für die Rache so bedeutsame Schwert wird ihm zudem von seinem Freund Hallgrímr besorgt. Im Anschluss an sein ‚ Erweckungserlebnis ‘ dagegen ergreift er selbst die Initiative und übernimmt wieder eine Führungsrolle, wie er sie in seinen jungen Jahren innehatte. Nach einem erfolgreichen Leben bietet sich ihm dann die Möglichkeit, seinen Schwur zu erfüllen. Er lässt sich von Óláfr Tryggvason zum Christentum bekehren und wird so zur Personifikation eines zentralen Ereignisses der isländischen Geschichte: Ok n ǫ kkurum vetrum síðar spurði Hávarðr þau tíðindi, at Hákon jarl var dauðr, en kominn í land Óláfr konungr Tryggvason ok væri hann orðinn einvaldskonungr yfir Nóregi ok boðaði aðra trú sanna. Ok er þetta spyrr Hávarðr, bregðr hann búinu ok ferr útan ok Bjargey með honum ok Þórhallr, frændi hans. Koma þau á fund Óláfs konungs, ok tók hann vel við þeim. Var Hávarðr þá skírðr ok ǫ ll þau, ok váru þau þar um vetrinn í góðu yfirlæti með Óláfi konungi. Þann sama vetr andaðisk Bjargey, en Hávarðr ok frændi hans, Þórhallr, fóru út til Íslands um sumarit. (ÍF VI: 356 - 357) Und einige Winter später erfuhr Hávarðr die Neuigkeit, dass Jarl Hákon tot war und König Óláfr Tryggvason ins Land gekommen und Alleinherrscher über Norwegen geworden sei und einen anderen wahren Glauben verkündete. Und als Hávarðr dies erfährt, gibt er seinen Hof auf und geht nach Norwegen und Bjargey mit ihm und Þórhallr, sein Verwandter. Sie suchen König Óláfr auf und er nahm sie gut auf. Hávarðr wurde getauft, und sie alle, und sie genossen den Winter über die Gunst des Königs. In diesem Winter starb Bjargey, Hávarðr und Þórhallr aber fuhren im Sommer nach Island. Die Christianisierung erscheint auch hier rein männlich konnotiert: Da Hávarðrs Frau Bjargey noch am Hof des Königs verstirbt, bringen alleine Hávarðr und sein Verwandter Þórhallr den neuen Glauben nach Island. Die Ankunft des Christentums auf Island wird von der Saga dabei auch materiell dargestellt und so versinnbildlicht: „ Hávarðr hafði út með sér kirkjuvið harðla mikinn. “ 1 (ÍF VI: 357) Kurz nach der Rückkehr nach Island erkrankt Hávarðr und spricht sein Vermächtnis. Er setzt Þórhallr zu seinem Erben ein und äußert einen letzten Wunsch. „ [ … ] Skaltu láta þar kirkju gera, ok vil ek at þeiri mik grafa láta. “ (ÍF VI: 357 - 358) 2 Sein Wunsch wird ihm erfüllt und so verkörpert Hávarðr an seinem Lebensende nach der Christianisierung durch Óláfr Tryggvason schließlich auch die Verbindung von Island mit der christlichen Kirche: Er ok svá sagt, at þá er kristni kom til Íslands, at Þórhallr lét kirkju gera á b œ sínum af þeim við, er Hávarðr flutti út hingat. Varð þat it skrautligasta hús, ok var Hávarðr at þeiri kirkju grafinn ok þótti verit hafa it mesta mikilmenni. (ÍF VI: 358) Und es wird auch berichtet, dass Þórhallr, als das Christentum nach Island kam, aus dem Holz, das Hávarðr mitgebracht hatte, eine Kirche auf seinem Gehöft errichten ließ. Das wurde das prächtigste Gebäude und Hávarðr wurde bei dieser Kirche begraben und galt als sehr bedeutender Mann. 1 Hávarðr brachte sehr viel Kirchenholz mit nach Island. 2 Du sollst eine Kirche bauen lassen und bei dieser will ich mich begraben lassen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 180 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="181"?> Diese Personifizierung isländischer Geschichte durch Hávarðr mag zur Beliebtheit der Hávarðar saga im 18. und 19. Jh. nicht unwesentlich beigetragen haben, indem sie auch eine weitergehende zeitgenössische Interpretation der Figur Hávarðrs als Personifikation des isländischen Schicksals anregt. 3 Der in jahrelange Lähmung verfallene, vormals glorreiche Recke, der zu alter Stärke zurückfindet, kann aus dieser Perspektive auch als Verkörperung Islands gelesen werden, die in Anbetracht der desolaten Situation Hoffnung gibt, dass das sich als alte, ruhmreiche Nation verstehende Land wieder zu neuer Größe und Stärke erwacht. Einen anderen Aspekt der isländischen Christianisierung verkörpert, wie Weber (1986) aufzeigt, der Protagonist der Finnboga saga. Entsprechend des Berichts in der Landnámabók von der freiwilligen Übernahme des Christentums personifiziert dieser die Annahme des christlichen Glaubens als freiwilligen Akt. Als Gefolgsmann von Hákon Jarl Sigurðarson, dem letzten vorchristlichen Herrscher Norwegens, den die Sagaliteratur als glühenden Anhänger der heidnischen Religion darstellt (s. v. „ Hákon jarl ( ‚ earl ‘ ) Sigurðarson “ in Pulsiano 1993: 259, dazu auch Weber 1986: 313 - 314), führt die Sagahandlung Finnbogi nach Miklagarðr (= Konstantinopel), wo er für Hákon die Schulden des Norwegers Bersi, nun in Diensten des byzantinischen Königs stehend, eintreiben soll. Die Anmerkung „ Grikkland var þá vel kristit “ (ÍF XIV: 287: Griechenland war damals sehr christlich) rückt dabei gleich zu Beginn seiner Ankunft die Religionsthematik in den Fokus. Behandelt wird diese dann in zwei Begegnungen Finnbogis mit dem christlichen König. Die erste dient zunächst dazu, Finnbogi vom heidnischen Glauben abzugrenzen, indem er als Vertreter des Glaubens an sich selbst dargestellt wird, folglich keinen Göttern dient, sowie das Heidentum in Person von Jarl Hákon als negativ, Finnbogi aber trotz seiner Zugehörigkeit zu dessen Sphäre als herausragend und im christlichen Teil der Welt geschätzt darzustellen. Ok þat var einn dag, at Finnbogi bjóst á konungs fund, tekr vápn sín ok býst vel harðla. Þeir ganga tólf saman fyrir konung. Finnbogi kvaddi konung. Hann tók vel kveðju hans ok spurði, hverr hann væri. Finnbogi sagði til sín; hann kveðst ættaðr í Noregi ok á Íslandi. Konungr mælti: „ Þú ert stórmannligr maðr ok munt vera mikils háttar maðr á þínu landi; eða á hvern trúir þú? “ Finnbogi segir: „ Ek trúi á sjálfan mik. “ Konungr segir: „ Hversu gamall maðr ertu? “ Finnbogi segir: „ Ek em nú átján vetra gamall. “ Konungr mælti: „ Svá lízt mér sem margr treysti á minna, þeira er á þann hátt trúa sem þú; eða hvert er erindi þitt hingat? “ Finnbogi segir: „ Mik sendi jarl sá, er Hákon heitir ok ræðr fyrir Noregi; er ek hirðmaðr hans, en hann á fé at þeim manni, er Bersi heitir ok er hirðmaðr yðvarr. “ Segir hann konungi allan útveg, þann sem á var. Konungr mælti: „ Heyrt hefi ek getit Hákonar jarls ok jafnan at illu, en aldregi at góðu. Hugði hann undarliga, at hann mundi fá þess manns höfuð, er ek vildi halda. Ok svá sem þat er, Finnbogi, at þú hefir oss heim sótt um langan veg, en ert afbragð annarra manna, þeira sem hér hafa komit norðan ór löndum á mínum dögum, þá er nær, at ek gera fyrir þín orð nökkurn útveg, þann er þér mætti vel líka. Nú skulu þér hér í vetr vera ok eigið frjálsliga kaup við vára menn. “ (ÍF XIV: 287 - 288) 3 Auf eine besondere Beliebtheit der Hávarðar saga zu dieser Zeit deutet die rímur-Überlieferung: Mit drei rímur-Zyklen aus dem 18. Jh. sowie vier aus dem 19. Jh. ist Hávarðr mit Abstand der populärste Protagonist einer Íslendingasaga unter den in Rímnatal (II: 193 - 210) für diese beiden Jahrhunderte verzeichneten Werken. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 181 <?page no="182"?> Und es war an einem Tag, dass Finnbogi sich bereit machte, den König aufzusuchen, er nahm seine Waffen und kleidete sich gut. Sie gingen zu zwölft gemeinsam vor den König. Finnbogi grüßte den König. Der nahm den Gruß gut an und fragte, wer er sei. Finnbogi nannte seinen Namen; er sagte, er sei aus norwegischem und isländischem Geschlecht. Der König sprach: „ Du bist ein vornehmer Mann und wirst in deinem Land sehr angesehen sein; an wen glaubst du? “ Finnbogi sagte: „ Ich glaube an mich selbst. “ Der König sagte: „ Wie alt bist du? “ Finnbogi sagte: „ Ich bin nun achtzehn Winter alt. “ Der König sprach: „ Mir scheint, dass viele, die auf diese Weise glauben wie du, auf Unbedeutenderes vertrauen; was ist dein Anliegen hier? “ Finnbogi sagt: „ Mich schickt der Jarl, der Hákon heißt und über Norwegen herrscht; ich bin sein Gefolgsmann und er hat Geld ausstehen bei dem Mann, der Bersi heißt und euer Gefolgsmann ist. “ Er berichtete dem König den ganzen Stand der Dinge. Der König sprach: „ Ich habe von Jarl Hákon berichten gehört und immer im Schlechten, niemals im Guten. Er denkt wunderlich, wenn er glaubt, den Kopf des Mannes zu bekommen, den ich halten will. Doch so wie es ist, Finnbogi, dass du einen weiten Weg gemacht hast, um uns aufzusuchen und dich vor denen auszeichnest, die in meinen Tagen aus den Nordländern gekommen sind, liegt es nahe, dass ich um deines Rufs willen einen Ausweg finde, der dir gut gefallen könnte. Nun sollt ihr hier den Winter über sein und freien Handel mit unseren Leuten treiben. “ Bevor die Frage nach der Christianisierung zur Sprache kommt, personifiziert Finnbogi als herausragender Isländer ein isländisches Selbstverständnis, das die eigene vorchristliche Vergangenheit als solche anerkennt, sich jedoch zugleich von einer heidnischen Religiosität distanziert. Obwohl Gefolgsmann eines heidnischen Jarls, ist Finnbogi auch beim christlichen Herrscher in Konstantinopel wohlgelitten, obgleich dieser sein nordisches Pendant als höchst problematisch charakterisiert. Finnbogi nimmt so als isländischer Heide eine dem Christentum nahestehende Sonderstellung ein und wird von der Saga als Vermittler zwischen den Konfessionen präsentiert, wie die zweite Begegnung mit dem byzantinischen König weiter ausführt. Trotz dessen zuvor geschilderter Abneigung gegenüber Jarl Hákon verfügt der König, dass dieser das ausstehende Geld von seinem ehemaligen Gefolgsmann erhalten soll, und erhöht die Summe selbst noch um die Hälfte. Seine anschließende Aufforderung an Finnbogi, den christlichen Glauben anzunehmen, lehnt dieser dennoch ab, zumindest vorerst. Þá mælti konungr: „ Þat skaltu vita, Finnbogi, ok þeir menn, sem hér eru, at ek geri þetta fyrir þín orð. En þess vil ek þik biðja, at þú veitir oss þat, at vér sjáim nökkura aflraun þína, með því at ek veit, at þú ert um fram aðra menn at afli búinn, ok takir síðan við trú. “ Finnbogi mælti: „ Þat vil ek heita þér, ef þessi boðskapr kemr norðr í land, þá skulu fáir taka þann sið fyrr en ek, ok alla til eggja, þá er á mín orð vilja hlýða. “ (ÍF XIV: 288 - 289) Da sprach der König: „ Das sollst du wissen, Finnbogi, und die Männer, die hier sind, dass ich dies um deines Ansehens willen tue. Aber das will ich dich bitten, dass du uns gewährst, einige Kraftproben von dir zu sehen, da ich weiß, dass du andere Männer an Kraft übertriffst, und dass du dann den christlichen Glauben annimmst. “ Finnbogi sprach: „ Das will ich dir versprechen, dass wenige diese Religion vor mir annehmen werden, wenn diese Botschaft in den Norden kommt, und alle, die mein Wort hören wollen, will ich dazu anspornen. “ Wie Weber (1986: 314) bemerkt, macht die Finnboga saga auf diese Weise in zweifacher Hinsicht Geschichtsbewusstsein sichtbar: Finnbogi wird als Isländer nicht schon in Byzanz Christ, da zuhause auf Island der Gang der Geschichte noch nicht so weit fortgeschritten war. Zugleich mit dem Wissen um die Teleologie der Heilsgeschichte, die auch den Norden einbezieht, bekennt sich Finnbogi zur nationalen Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 182 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="183"?> Geschichte des noch ‚ vor ‘ -christlichen Island und dessen sittlicher Ordnung (dem forn siðr im weiteren Verstande gesellschaftlicher Ordnung), was er um so eher tun kann, da er an deren religiös-kultischer Seite keinen Anteil nimmt - ek trúi á sialfan mik. Entsprechend wird Finnbogi für sein im Einklang mit der Heilsgeschichte stehendes Verhalten vom christlichen König mit einem ehrenden Beinamen und Reichtümern belohnt, nachdem er diesem noch einmal die Außergewöhnlichkeit seiner physischen Erscheinung und seines Handelns demonstriert: Konungr sat á stóli ok tólf menn hjá honum, sex til hvárrar handar. Finnbogi stóð fyrir konungi. Hann var ágætliga búinn, ok undruðu allir menn hans fegrð ok kurteisi. Finnbogi gekk at stólinum ok hefr upp á öxl sér ok gengr út ór mannhringinum ok setr þar niðr stólinn. Allir undra þessa manns afl. Konungr gaf Finnboga gullhring, er stóð tíu aura, sverð ok skjöld, ina beztu gripi. „ Hér með, “ segir konungr, „ vil ek lengja nafn þitt ok kalla þik Finnboga inn ramma; er þat mín ætlan, at þitt nafn sé uppi, meðan heimrinn er byggðr; skaltu vera fullkominn várr vin, hvárt sem vér finnumst nökkuru sinni eða aldri heðan frá. “ Eptir þat bjóst Finnbogi inn rammi á brott með sínu föruneyti. Skilja þeir konungr inir beztu vinir. (ÍF XIV: 289) Der König saß auf dem Thron und zwölf Männer neben ihm, sechs auf jeder Seite. Finnbogi stand vor dem König. Er war prächtig gekleidet und alle bewunderten seine Schönheit und sein höfisches Auftreten. Finnbogi ging zum Thron und hebt ihn auf seine Schulter und geht damit aus dem Kreis der Männer und setzt den Thron dort nieder. Alle bewundern die Kraft dieses Mannes. Der König gab Finnbogi einen Goldring, der zehn Unzen wog, ein Schwert und ein Schild, die größten Kostbarkeiten. „ Hiermit, “ sagt der König, „ will ich deinen Namen verlängern und dich Finnbogi den Starken nennen; es ist meine Vermutung, dass dein Name nicht vergessen wird, so lange die Welt bewohnt ist. “ Danach rüstete sich Finnbogi der Starke mit seinem Gefolge zur Abreise. Er und der König trennen sich als die besten Freunde. Seiner Vermittlerrolle entsprechend, steht Finnbogi nach seiner Rückkehr auch beim norwegischen Jarl in höchstem Ansehen und ist fortan auch im Norden mit dem vom christlichen König verliehenen Beinamen bekannt. Wie er es dem byzantinischen König versprochen hat, nimmt Finnbogi das Christentum umgehend an, als Island christlich wird, und wird zu einem vorbildlichen Vertreter des christlichen Glaubens. Svá er sagt, þá er kristni var boðuð á Íslandi, sá fagnaðr er öllum hefir mestr orðit, at engi varð fyrr til né skjótari en Finnbogi inn rammi at játa því með Þorgeiri móðurbróður sínum. Var hann ok jafnan síðan formælandi þat at styrkja ok styðja, sem inir ágætustu menn boðuðu, varð ok sjálfr vel kristinn. (ÍF XIV: 316 - 317) So wird erzählt, dass als das Christentum auf Island verkündet wurde, das frohe Ereignis, das für alle das größte war, es niemand früher und schneller annahm als Finnbogi der Starke mit seinem Mutterbruder Þorgeirr. Auch später war er ein Fürsprecher, das zu stärken und zu stützen, was die herausragendsten Männer verkündeten. Er wurde auch selber ein guter Christ. In Finnbogis Leben, bei dem es sich um eine reine Erfolgsgeschichte handelt, ist die Annahme des christlichen Glaubens ein weiterer Höhepunkt, der eine Verbesserung seiner gesellschaftlichen Position und seines Ansehens nach sich zieht. Die Saga lässt keinen Zweifel daran, dass die Prosperität ihres Protagonisten in engem Zusammenhang mit seiner Christianisierung steht: Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 183 <?page no="184"?> Gerðist Finnbogi þar höfðingi ok stjórnarmaðr yfir því fólki, ok váru honum þar allir velviljaðir. Hann kallaði þann bæ á Finnbogastöðum, er hann bjó á, ok var bæði mikill ok sköruligr. Finnbogi lét gera kirkju mikla á bæ sínum ok fékk prest til ok hélt hann vel ok sæmiliga at öllu því, er honum til heyrði. (ÍF XIV: 324) Finnbogi wurde dort Häuptling und Herrscher über diese Leute und es waren ihm dort alle wohlgesonnen. Er nannte das Gehöft, auf dem er wohnte, Finnbogastaðir und es war sowohl groß als auch stattlich. Finnbogi ließ eine große Kirche auf seinem Hof errichten und bestimmte einen Priester dafür und versorgte ihn gut und ehrenvoll mit allem, was ihm geziemte. Wie Hávarðr stirbt Finnbogi im hohen Alter als geachteter Mann und versinnbildlicht als Verkörperung der Christianisierung Islands wie dieser mit seinem Ende die Verbindung von Island und der Kirche. Als herausragender Held, der gleichwohl keinen Heldentod stirbt, bildet sein friedliches Ende im Alter durch Krankheit zudem das Ende des isländischen Heldenzeitalters und den Übergang in die christliche Zeit ab: Finnbogi varð gamall maðr ok þykir verit hafa inn mesti ágætismaðr bæði á afl ok vöxt ok alla kurteisi. Kemr hann ok við margar sögur ok þykir verit hafa inn frægasti ok inn ágætasti, hefir ok mörg stórvirki ok þrekverki unnit, þó at hér sé fátt frá sagt. Er svá sagt, at hann bjó þar [á Finnbogastöðum] til elli ok varð sóttdauðr ok liggr at þeiri sömu kirkju, er hann lét gera, og svá Hallfríðr, kona hans. (ÍF XIV: 339 - 340) Finnbogi wurde eine alter Mann und gilt als rühmenswert sowohl an Kraft und Wuchs als auch an allen höfischen Sitten. Er kommt auch in vielen Sagas vor und scheint der Berühmteste und Herausragendste gewesen zu sein, er hat auch viele Groß- und Heldentaten vollbracht, auch wenn hier wenig von diesen berichtet wird. Es wird gesagt, dass er dort [auf Finnbogastaðir] bis ins Alter wohnte und an einer Krankheit starb und bei eben der Kirche begraben liegt, die er errichten ließ, und ebenso seine Frau Hallfríðr. Als Personifizierung isländischer Geschichte klingen in der Figur Finnbogis auf einer medialen Ebene weitere Aspekte des isländischen Selbstverständnisses an. Anders als in der Landnámabók, die Finnbogis Großvater als norwegischen Landnehmer nennt, beginnt die isländische Familiengeschichte gemäß der Finnboga saga mit Ásbjörn, dem Vater Finnbogis, der aus Norwegen nach Island übersiedelt, was Finnbogi zum idealtypischen Vertreter der ersten Generation genuiner Isländer macht. Seine Christianisierung ist eingebunden in einen Lebenslauf, in dem, wie oft bemängelt, eine Großtat der anderen folgt. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine bloße Aneinanderreihung von Heldentaten, vielmehr zeichnet die Saga eine Entwicklung ihres Protagonisten, die ein Prozess der zunehmenden Zivilisierung, des Bekanntwerdens und einer erfolgreichen Etablierung ist, wobei die Christianisierung einen zentralen Aspekt darstellt. Auf Betreiben seines Vaters nach der Geburt ausgesetzt, beginnt Finnbogis Leben als Exilierter seiner Herkunftsgemeinschaft in einem unzivilisierten Zustand, wie auch der ihm von seiner Pflegemutter verliehene Name zum Ausdruck bringt: „ Hon kvað þat makligt, at hann héti Urðarköttr, þar sem hann var í urðu fundinn. “ (ÍF XIV: 257). 4 Die Außerordentlichkeit, die Urðarköttr an den Tag legt, ist ihm auf den Leib geschrieben und auch durch minderwertige Kleidung nicht zu verbergen (Sauckel 2014: 50 - 51), was schließlich dazu führt, dass seine wahre Identität ans Licht kommt und er wieder in seine Herkunftsfamilie aufgenommen wird. 4 Sie sprach, es sei angemessen, dass er Wildkatze heiße, da er im Felsgeröll gefunden wurde. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 184 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="185"?> Nachdem er einem Norweger namens Finnbogi das Leben rettet, vermacht ihm dieser vor seinem späteren Tod nebst seinen Waffen auch seinen Rufnamen: „ [ … ] Þá vil ek gefa þér nafn mitt. Ok er ek ekki spámaðr, en þó get ek, at þitt nafn sé uppi, meðan veröldin er byggð. Má mér þat mest sæmd ok mínum frændum, at svá ágætr maðr taki nafn eptir mik sem ek skal ætla at þú verðir, með því at mér verðr lítit ætlat. “ (ÍF XIV: 269) „ [ … ] Dann will ich dir meinen Namen geben. Ich bin kein Prophet und dennoch vermute ich, dass dein Name bekannt sein wird, solange die Welt bewohnt ist. Es wird mir und meinen Verwandten die größte Ehre sein, dass ein so herausragender Mann, wie ich glaube, dass du einer wirst, den Namen von mir hat, denn mir selbst ist wenig zugedacht. “ Wie das Land, das er repräsentiert, erhält auch Finnbogi seinen Namen von einem Norweger, wodurch er erst vollständig zu einem Teil der zivilisierten Welt wird. Der Namenswechsel von Urðarköttr zu Finnbogi bezeichnet nicht nur seine endgültige Ankunft in der Sphäre der Kultur, sondern ist zudem der Auftakt zu zahlreichen Heldentaten, mit denen er sich einen Namen macht. Der Höhepunkt unter diesen ist die bereits angesprochene Episode am Hof des christlichen Herrschers in Konstantinopel, in der Finnbogi durch den Beinamen inn rammi (der Starke) besondere Ehre und Anerkennung erhält. Nach seiner Christianisierung schließlich ist er vollständig etabliert und anerkannt. Die Finnboga saga ist so mehr als nur die unterhaltsame Erfolgsgeschichte eines überragenden Helden. Vielmehr vermittelt sie medial durch Personifizierung bedeutsames Wissen über die isländischen Ursprünge und die Fixpunkte des kulturellen Gedächtnisses der Isländer. Als Repräsentant der Isländer in der Welt versinnbildlicht Finnbogis Leben so auch das Werden der isländischen Gesellschaft, die norwegischen Ursprünge, Exil, Namensgebung, weltweite Anerkennung und Christianisierung. Eine spezifisch isländische Ausprägung von Heidentum, die durch den Glauben nicht an Götter, sondern an sich selbst gekennzeichnet ist und die dem Christentum näher steht als der Glaube des paganen Norwegens, ist Teil dieses Selbstverständnisses. Entsprechend stellt die Saga in der Zeit vor der Christianisierung eine mehr oder minder religionslose Gesellschaft dar und versäumt es auch nicht, Finnbogi mit König Óláfr Tryggvason, der die Missionierung der Isländer veranlasste, zu verbinden und ihn in diesem Zusammenhang nochmals als Bindeglied zwischen Heidentum und Christentum darzustellen. Þat sumar kom skip af hafi ok þau tíðindi af Nóregi, at Óláfr konungr var kominn í land ok boðaði sanna trú, en Hákon af lífi tekinn. Þá er þetta spurðist, fýstist Finnbogi utan ok hugðist svá mundu helzt af hyggja þeim harmi, er hann hafði beðit. Þorgeirr latti hann utanferðar, bað hann heldr kvángast ok staðfesta ráð sitt - „ vil ek, at þú biðir dóttur Eyjólfs á Möðruvöllum, er Hallfríðr heitir; man þá yðvar í milli verða góð vinátta. “ Finnbogi bað hann ráða. Síðan safnast þeir saman frændr ok riðu á Möðruvöllu. Þeir biðja dóttur Eyjólfs til handa Finnboga. Hann svarar þeim málum vel, því at hann vissi, hvert afbragð hann var annarra manna ok hverja sæmdarför hann hafði farit til Hákonar jarls ok fengit ina ágæztu hans frændkonu; tekr hann þessu glaðliga ok heitir konunni. (ÍF XIV: 301) In diesem Sommer kam ein Schiff über das Meer und mit ihm die Nachricht aus Norwegen, dass König Óláfr in das Land gekommen war und den wahren Glauben verkündete, Hákon aber das Leben gelassen hatte. Als das bekannt wurde, wollte Finnbogi nach Norwegen und dachte, dass er so am ehesten das Leid vergessen würde, das er erfahren hatte. Þorgeirr riet ihm von der Auslandsfahrt ab, bat ihn, lieber zu heiraten und einen Hausstand zu gründen - „ ich will, dass du Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 185 <?page no="186"?> um die Tochter Eyjólfrs von Möðruvellir wirbst, die Helga heißt; dann wird zwischen euch eine gute Freundschaft entstehen. “ Finnbogi überließ ihm die Entscheidung. Darauf versammeln sie ihre Verwandten und ritten nach Möðruvellir. Sie werben für Finnbogi um die Tochter Eyjólfrs. Eyjólfr antwortet günstig in der Angelegenheit, denn er wusste, was für ein vor anderen ausgezeichneter Mann Finnbogi war und welche ruhmvolle Fahrt er zu Jarl Hákon unternommen hatte und dessen vornehmste Verwandte zur Frau bekommen hatte. Er nimmt dies freudig auf und verspricht die Frau. Aufgrund seines Kummers nach dem Tod seiner ersten Frau, einer Verwandten Jarl Hákons, erscheint es Finnbogi verlockend, nach Norwegen zu fahren, wo nach dem Tod des Jarls Óláfr Tryggvason den christlichen Glauben verbreitet. Dem Lauf der Geschichte entsprechend, nimmt er das Christentum dann jedoch, wie oben dargestellt, erst an, als dieses nach Island kommt und bewältigt seinen Kummer stattdessen durch eine neue Verheiratung. Durch Finnbogis Ehen stellt die Saga so personifizierend das isländische Selbstverständnis dar. Analog zur isländischen Gesellschaft, die zunächst mit dem Heidentum verbunden ist, dann aber eine Verbindung mit dem Christentum eingeht, ist Finnbogis erste Ehe eine Verbindung, die in engem Zusammenhang mit dem heidnischen Herrscher steht, während seine zweite im Erzählzusammenhang mit den Christianisierungsbestrebungen Óláfr Tryggvasons verknüpft wird. Als gute Beziehungen werden beide Ehen geschildert, womit medial auch die heidnische Vergangenheit Islands sehr positiv und ihr Ende als betrauernswertes Ereignis dargestellt wird. Die spezifisch isländische vorchristliche Frühzeit, die die Finnboga saga in der Figur Finnbogis nur andeutet, wird in zwei weiteren spätmittelalterlichen Íslendingasögur, Bárðar saga Snæfellsáss und Kjalnesinga saga, ausführlich thematisiert. 5.1.2 Christianisierung und vorchristliche Ursprünge in Bárðar saga Snæfellsáss und Kjalnesinga saga Wie Hávarðr verkörpert auch Gestr, der Sohn von Bárðr Snæfellsáss, die Christianisierung Islands durch Óláfr Tryggvason. Diese steht im Zentrum des zweiten Teils der Saga - im Laufe der Transmission teilweise auch als Gests saga Bárðarsonar bezeichnet (Ármann Jakobsson 1998: 60) - , in dem Óláfr Tryggvason im Wesentlichen durch seine Rolle als Verbreiter des Christentums gekennzeichnet ist. Als Gestr gemeinsam mit seinen Halbgeschwistern, darunter die ebenfalls von Bárðr abstammende Sólrún, eine Fahrt nach Norwegen unternimmt, wird diese Rolle gleich bei Ankunft in Trondheim deutlich: Þá réð Óláfr konungr fyrir Nóregi Tryggvason. Þeir bræðr kvámu á hans fund ok Sólrún með þeim. Þeir kvöddu konung ok báðu hann vetrvistar, en konungr spurði, hvárt þeir vildu skírast láta. Þeir létu seint við því. Þat fór þó fram, at þeir váru skírðir ok svá Sólrún. Váru þau með konungi um vetrinn í góðu yfirlæti. Gestr sat eptir við skip ok hafði hrauktjald. Hundr hans var hjá honum, en ekki manna. (ÍF XIII: 158) Damals herrschte König Óláfr Tryggvason über Norwegen. Die Brüder suchten ihn auf und Sólrún mit ihnen. Sie grüßten den König und baten ihn um ein Winterquartier, aber der König fragte, ob sie sich taufen lassen wollten. Sie zögerten damit. Es geschah dann aber, dass sie getauft wurden und Sólrún ebenso. Den Winter über genossen sie die Gunst des Königs. Gestr blieb zurück beim Schiff und hatte ein Spitzzelt. Sein Hund war bei ihm, aber kein Mensch. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 186 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="187"?> Als Nachfahre des halb-riesischen Schutzgeistes Bárðr ist Gestr jedoch eng mit der vorchristlichen Vergangenheit Islands verbunden, weshalb sich seine Annahme des christlichen Glaubens komplizierter darstellt als die Hávarðrs. „ [B]y definition a blendingr “ , personifiziert Gestr, wie Annette Lassen (2014: 114) bemerkt, sowohl die christliche Gegenwart als auch die heidnische Vergangenheit. Die Bárðar saga bildet entsprechend auch die mit der Christianisierung verbundenen Ambivalenzen ab, da die Übernahme der neuen Religion auch mit dem Verlust zuvor wesentlicher identitätsstiftender Merkmale einhergeht. So ist Gestr anders als Hávarðr zu Beginn wenig geneigt, König Óláfr aufzusuchen, als dieser ihn durch Gestrs Begleiter Þórðr zum Kommen auffordert: „ Var hann tregr til þess ok mælti: ‚ Ekki er ek fúss til at finna konung, því at mér er sagt, at hann sé svá ráðgjarn, at hann vill öllu ráða, jafnvel því, á hvern menn trúa ‘“ (ÍF XIII: 159). 5 Nachdem er der Einladung dann doch folgt, lenkt die Saga den Fokus auch umgehend auf die Glaubensthematik. „ Gestr spurði: ‚ Hvat örendum, herra, hafi þér við mik? ‘ Konungr mælti: ‚ Slík sem við aðra menn, at þú trúir á sannan guð. ‘“ (ÍF XIII: 159) 6 Das anschließende Gespräch macht das Dilemma Gestrs deutlich, der sein Ende befürchtet, wenn er sich vom Glauben seiner Vorväter abwendet. Auf diese Weise personifiziert er auch die Bedrohung der isländischen Identität durch den Glaubenswechsel: 7 Gestr segir: „ Alls ekki er mér um at láta þá trú, sem inir fyrri frændr mínir hafa haft. Er þat hugboð mitt, ef ek læt þann sið, at ek muna ekki lengi lifa. “ Konungr mælti: „ Líf manna er í guðs valdi, en þat skal öngum manni hlýða í mínu ríki álengdar at fága heiðinn sið. “ Gestr segir: „ Líklegt þykki mér, herra, at yðarr siðr muni betri vera, en fyrir heit eðr kúgan læt ek ekki mína trú. “ „ Svá skal vera, “ segir konungr, „ því at þann veg lízt mér á þik, at þú munir af sjálfs þíns hendi vilja heldr þann átrúnað niðr leggja en nökkurs manns harðindum, ok muntu ekki öllungis giptulauss vera, ok vert með oss í vetr velkominn. “ Gestr þakkaði konungi sín ummæli ok segist þat munu þiggja. (ÍF XIII: 159 - 160) Gestr sagt: „ Ganz und gar nicht ist mir danach, den Glauben aufzugeben, den meine Vorväter gehabt haben. Ich habe die Ahnung, dass ich nicht lange leben werde, wenn ich diese Religion aufgebe. “ Der König sprach: „ Das Leben der Menschen liegt in Gottes Macht, aber kein Mann soll es wagen, in meinem Reich auf Dauer die heidnische Sitte zu pflegen. “ Gestr sagt: „ Es scheint mir wahrscheinlich, Herr, dass euer Glaube besser sein wird, aber wegen eines Versprechens oder Gewalt gebe ich meinen Glauben nicht auf. “ „ So soll es sein, “ sagt der König, „ denn ich sehe auf diese Weise auf dich, dass du diesen Aberglauben lieber aus eigenem Antrieb niederlegen willst als durch die Gewalt irgendeines Mannes, und du wirst nicht völlig glücklos sein, und sei bei uns den Winter über willkommen. “ Gestr dankte dem König für seine Worte und sagte, das würde er annehmen. Trotz Gestrs ablehnender Antwort wird durch dieses Zusammentreffen mit Óláfr Tryggvason sein weiterer Weg als christlich gekennzeichnet: „ Var Gestr með konungi um hríð ok ekki lengi, áðr hann var prímsigndr. “ (ÍF XIII: 160) 8 Der weitere Verlauf der Saga dient dann 5 Er war unlustig dazu und sprach: „ Ich bin nicht begierig darauf, den König zu treffen, denn mir wurde gesagt, dass er so herrschsüchtig ist, dass er alles bestimmen will, sogar das, woran die Menschen glauben “ 6 Gestr fragte: „ Was für ein Anliegen habt ihr an mich, Herr? “ Der König sprach: „ Das gleiche wie an andere Menschen, dass du an den wahren Gott glaubst. “ 7 Zur Christianisierung als traumatisches Ereignis im kulturellen Gedächtnis der Isländer siehe Sverrir Jakobsson (2019). 8 Gestr war eine Weile beim König und nicht lange, bevor er mit dem Kreuz bezeichnet wurde. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 187 <?page no="188"?> dazu, die Christianisierung Gestrs wie vorab im Gespräch sowohl von ihm selbst betont als auch vom König akzeptiert, als Entscheidung zu inszenieren, die ohne Zwang erfolgt. Gestr personifiziert so insbesondere die Freiwilligkeit der isländischen Christianisierung, wie sie auch in Kap. 7 der Íslendingabók geschildert wird. Die Doppelrolle Gestrs als Verkörperung sowohl der Christianisierung als auch der damit verbundenen Distanzierung von der heidnischen Vergangenheit wird im weiteren Verlauf der Saga deutlich, als an Heiligabend ein Wiedergänger am Hof von König Óláfr erscheint. Gestr ist der einzige, der diesen Vertreter des alten Glaubens erkennt, gibt gleichzeitig jedoch bereits eine Distanz zu ihm zu erkennen, indem er nicht auf persönliches Erleben verweist, sondern auf die bloße Vermittlung durch Verwandte. Gestr segir: „ Ekki hefi ek sét hann fyrri, en sagt hefir mér verit af frændum mínum, at konungr hefir heitit Raknarr, ok af þeira sögn þykkjumst ek kenna hann; hefir hann ráðit fyrir Hellulandi ok mörgum öðrum löndum. Ok er hann hafði lengi löndum ráðit, lét hann kviksetja sik með fimm hundruðum manna á Raknarsslóða; hann myrði föður sinn ok móður ok margt annat fólk; þykki mér ván, at haugr hans muni vera norðarliga í Hellulands óbyggðum at annara manna frásögn. “ (ÍF XIII: 161) Gestr sagt: „ Ich habe ihn zuvor nicht gesehen, aber von meinen Verwandten wurde mir gesagt, dass ein König Raknarr hieß, und aus ihren Erzählungen vermeine ich ihn zu kennen; er hat über Helluland und viele andere Länder geherrscht. Und als er lange geherrscht hatte, ließ er sich mit fünfhundert Männern auf Raknarsslóði lebendig begraben; er ermordete seinen Vater und seine Mutter und viele andere Leute; gemäß der Erzählung anderer Männer glaube ich, dass sein Hügel im Norden der unbesiedelten Gegend Hellulands liegt. “ Gestr qualifiziert sich so als derjenige, der Raknarrs Hügel aufsuchen kann, und wird prompt auch vom König aufgefordert, dessen Schätze zu erlangen. Das traditionelle Motiv des haugbrot (Grabhügeleinbruch) bildet so die Basis von Gestrs Bekehrungsgeschichte, während ihre Struktur durch die dreimalige Wiederholung verschiedener Motive gekennzeichnet ist (Ármann Jakobsson 1998: 67). In diesem Zusammenhang stellt die Saga wiederholt die Überlegenheit des Christentums dar, rückt aber immer auch die vorchristliche Vergangenheit Islands in den Fokus und lässt diese zu ihrem Recht kommen. Bereits die Vorbereitungen von Gestrs Reise machen diese Wertschätzung der vorchristlichen Vergangenheit deutlich: Síðan bjóst Gestr. Konungur fékk honum fjörutigi járnskó, ok váru dyndir innan. Hann fékk honum seiðmenn tvá eptir bæn Gests; hét hann Krókr, en hon Krekja. Síðan fékk hann honum til fylgdar prest þann, er Jósteinn hét; hann var ágætr maðr ok mikils virðr af konungi. Ekki kveðst Gesti um hann vera. Konungr mælti: „ Þá mun hann þér bezta raun gefa, er þér liggr mest á. “ „ Hví skal hann eigi fara þá? “ segir Gestr; „ mörgu geti þér nærri, en eigi þykki mér á manni mega sjá, ef hann dugir vel í mikilli raun. “ (ÍF XIII: 162) Dann rüstete Gestr sich. Der König gab ihm vierzig Eisenschuhe, die innen mit Daunen waren. Er gab ihm auf Bitte Gestrs zwei Zauberer mit; er hieß Krókr und sie Krekja. Dann gab er ihm zur Begleitung den Priester, der Jósteinn hieß; er war ein herausragender Mann und wurde vom König sehr geschätzt. Gestr sagte, ihm liege nichts an diesem. Der König sprach: „ Dann wird er sich dir am besten erweisen, wenn es am wichtigsten für dich ist. “ „ Wieso soll er dann nicht mitkommen? “ sagt Gestr; „ ihr habt oft Recht, aber mir scheint, ich kann an dem Mann nicht sehen, ob er in großer Not taugt. “ Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 188 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="189"?> So erhält Gestr zu seinem Schutz seinem eigenen Wunsch gemäß zwei Zauberer zum Geleit. Mit dem vom König als Begleiter bestimmten Priester Jósteinn wird ihm neben dieser heidnisch konnotierten Begleitung auch eine dezidiert christliche zuteil. Zudem finden sich unter den Gegenständen, die Gestr zu seinem Schutz vom König erhält, zum einen ein nicht-christliches, zum anderen ein dezidiert christliches Symbol: Die genannten Eisenschuhe sind klar dem heidnischen Glauben zuzurechnen, 9 während die Kerze wie auch im Zusammenhang der Harðar saga (vgl. nachfolgend) ein zentrales Symbol des Christentums darstellt. Schwert und (Altar-)Tuch symbolisieren in diesem Zusammenhang zum einen die heroische Vergangenheit Islands, zum anderen die christliche Gegenwart: Sax gaf konungr Gesti ok sagði þat bíta mundu, ef til þyrfti at taka; dúk gaf hann honum ok bað hann vefja honum um sik, áðr en hann gengi í hauginn. Konungr gaf Gesti kerti ok sagði sjálft kveikjast mundu, ef því væri á lopt haldit, -„ því at svart mun í haugi Raknars, en vertu ekki lengr en lokit er kertinu, ok mun þá hlýða. “ (ÍF XIII: 162 - 163) Der König gab Gestr ein Schwert und sagte, es würde schneiden, wenn es nötig sei, dass er danach griffe; ein Tuch gab er ihm und bat ihn, es um sich zu wickeln, bevor er in den Hügel ginge. Der König gab Gestr eine Kerze und sagte, sie würde sich von selbst entzünden, wenn sie in die Luft gehalten würde, - „ denn es wird schwarz sein im Hügel Raknarrs, und bleib nicht länger, wenn die Kerze zu Ende ist und es wird gut ausgehen. “ Anhand der Begleiter und der spezifischen Schutzgegenstände wird dabei sowohl Gestrs aktuelle Haltung dem Christentum gegenüber dargestellt, als auch die Freiwilligkeit seiner späteren Bekehrung abgebildet, der keinerlei Zwang durch König Óláfr vorangeht. Im Gegenteil wird eine Akzeptanz des alten Glaubens durch den König impliziert, der Gestr seinen Glauben zugesteht, zugleich jedoch um die Überlegenheit des Christentums weiß. Die anschließende Reise sowie das Erbrechen des Hügels „ dramatise the territorial spread of Christianity, demonising those who stand in its way “ , wie Siân E. Grønlie (2017: 202 - 203) mit Verweis auf das Motiv des haugbrot in Heiligenerzählungen vermerkt. In ihrem Zusammenhang wird in verschiedenen Situationen die Unterlegenheit des alten Glaubens sowie seine Bedrohlichkeit und die Überlegenheit des Christentums demonstriert. Die Kontrastierung des alten und des neuen Glaubens wird dabei insbesondere mittels Personifikationen in Szene gesetzt. Die Personifizierung Odins ermöglicht der Bárðar saga, den Triumph des Christentums über die heidnischen Götter auf eine recht martialische Art bildlich darzustellen: [ … ] ok er þeir kvámu norðr fyrir Dumbshaf, kom maðr af landi ofan ok réðst í ferð með þeim; hann nefndist Rauðgrani; hann var eineygr; hann hafði bláflekkótta skautheklu ok kneppta niðr í milli fóta sér. Ekki var Jósteini presti mikit um hann. Rauðgrani taldi heiðni ok forneskju fyrir mönnum Gests ok taldi þat bezt at blóta til heilla sér. Ok einn dag, er Rauðgrani taldi fyrir þeim slíka vantrú, reiddist prestr ok þreif róðukross ok setti í höfuð Rauðgrana; hann steyptist fyrir borð ok kom aldri upp síðan. Þóttust þeir þá vita, at þat hefði Óðinn verit. (ÍF XIII: 163) 9 Eisenschuhe sind gemäß Snorri in den Skáldskaparmál (19) ein Attribut des Gottes Víðarr: „ Hvernig skal ‹ kenna › Viðar? Hann má kalla hinn þ ǫ gla Ás, eiganda jár ‹ n › skós [ … ] “ ( „ Wie soll man Víðarr bezeichnen? Er kann der schweigsame Ase genannt werden, der Besitzer der Eisenschuhe [ … ] “ ). In der Sagaliteratur erscheinen sie mit Ausnahme der Bárðar saga nur in Texten, die in der Vorzeit angesiedelt sind (siehe dazu s. v. „ járnskór “ in ONP). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 189 <?page no="190"?> [ … ] und als sie nördlich von Dumbshaf ankamen, kam ein Mann vom Land her und schloss sich ihrer Fahrt an. Er nannte sich Rauðgrani; er var einäugig; er hatte einen dunkelgefleckten Umhang und hatte ihn bis hinunter zwischen den Beinen geknüpft. Der Priester Jósteinn mochte ihn nicht sehr. Rauðgrani sprach über Heidentum und den alten Glauben zu den Männern Gestrs und sagte, es sei am besten, für sein Glück zu opfern. Und eines Tages, als Rauðgrani vor ihnen diesen Aberglauben verbreitete, wurde der Priester wütend und ergriff sein Kruzifix und hieb es Rauðgrani in den Kopf. Er stürzte über Bord und kam nie wieder nach oben. Da glaubten sie zu wissen, dass das Odin gewesen war. Die anschließende Szene, in der die beiden seiðmenn Gestrs auf dem Wege der Annäherung an den Hügel Raknarrs - symbolisiert durch einen unvermittelt in „ Grænlands óbyggðir “ (ÍF XIII: 163; den unbesiedelten Gegenden Grönlands) erscheinenden Goldschatz - , von der Erde verschluckt werden, bildet die Machtlosigkeit des heidnischen Zaubers, auf den Gestr vertraut, und die Gefährlichkeit des Heidentums zugleich ab. Ein an Glæsir in Kap. 63 der Eyrbyggja saga gemahnender Stier, der Gestrs Leben bedroht und vom Priester Jósteinn besiegt werden kann, führt dann erneut die Bedrohlichkeit des Heidentums sowie die Errettung durch den christlichen Glauben bildlich vor Augen. Interessant ist vor allem die sich daran anschließende Szene, die bereits durch ihre Platzierung in der Saga zwischen diesen drei Demonstrationen der Überlegenheit des Christentums sowie der Bedrohlichkeit des Heidentums und drei weiteren, die nachfolgend erzählt werden, eine markante Position einnimmt. Auch inhaltlich hebt sie sich von diesen ab, da hier der Priester Jósteinn, der als Repräsentant des Christentums dessen Macht wiederholt demonstriert, selbst der Hilfe bedarf, als die Reisenden weit im grönländischen Norden auf dem Weg nach Helluland auf ein großes Lavafeld stoßen: [ … ] váru fyrst jöklar, ok þá tók til brunahraun stórt. Tóku þeir þá járnskó þá, er konungur hafði fengit þeim; þeir váru fjórir tigir, en menn váru tuttugu ok Gestr umfram. En er allir höfðu tekit skóna nema Jósteinn prestr, gengu þeir á hraunit. Ok er þeir höfðu gengit um stund, varð prestr ófærr; gekk hann þá blóðgum fótum hraunit ok vildi þó eigi upp gefast. Gestr mælti þá: „ Hverr yðar sveina vill hjálpa skráfinni þessum, svá at hann komist af hrauni þessu? “ Engi tók undir þat, því at allir þóttust nóg bera. „ Þat mun ráð at hjálpa honum, “ segir Gestr, „ því at konungr mælti þar mikit um, en oss mun þat bezt gegna at bregða ekki af hans ráðum, ok far nú hingat, prestr, ok sezt upp á bagga minn ok haf með þér föng þín. “ (ÍF XII: 164 - 165) Zuerst kamen Gletscher und dann begann ein großes Lavafeld. Da nahmen sie die Eisenschuhe, die der König ihnen gegeben hatte; es waren vierzig, aber Männer waren es zwanzig und Gestr dazu. Und als alle außer dem Priester Jósteinn Schuhe genommen hatten, gingen sie über die Lava. Und als sie eine Weile gegangen waren, war der Priester nicht mehr in der Lage sich fortzubewegen, er ging da mit blutigen Füßen über die Lava und wollte dennoch nicht aufgeben. Da sprach Gestr: „ Wer von euch Burschen will diesem Bücherwurm helfen, so dass er über diese Lava kommt? “ Niemand wollte helfen, da sie alle genug zu tragen hatten. „ Es wird ratsam sein, ihm zu helfen “ , sagte Gestr, „ denn der König bestimmte ausdrücklich darüber, und es wird uns am besten nützen, nicht von seinem Beschluss abzuweichen, und komm nun her, Priester, und setz dich auf mein Bündel und nimm deine Sachen mit. “ Hier werden, wie Grønlie (2017: 204) bemerkt, die Grenzen des Priesters als Missionar offenkundig: „ [W]hile he is admirably equipped to deal with universal temptations, he will need some local knowledge if he is to tackle the specific challenges of the northern world. “ Die vorangegangenen Demonstrationen von Überlegenheit gegenüber übernatürlichen Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 190 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="191"?> Mächten durch den Priester als Repräsentanten des Christentums bestätigen Gestrs im ersten Gespräch mit König Óláfr geäußerte Vermutung, der neue Glaube könne durchaus besser sein. Wie schon zuvor wird König Óláfr als richtungsweisend dargestellt, da Gestr hier aufgrund von dessen Wertschätzung des Priesters, der lediglich auf königlichen Wunsch an der Unternehmung beteiligt ist, eine erste Verbindung mit diesem eingeht. Auffällig ist vor allem die bildliche Ausgestaltung der Szene: Lavafelder stellen ein typisches Charakteristikum der isländischen Landschaft dar, während auf Grönland keine zu finden sind (vgl. Sayers 1994: 8), was auch im mittelalterlichen Island wohlbekannt war: In keiner anderen Saga, die Grönland schildert, wird Lava erwähnt, im Gegenteil zeichnen sich diese durch gute Kenntnisse von Grönland und der dortigen Topographie aus. 10 Die Bárðar saga (ÍF XIII: 164) lokalisiert ihr Lavafeld auf dem Weg zu Raknarrs Hügel „ í Hellulands óbyggðum “ (im unbesiedelten Gebiet Hellulands), was an die Verszeilen „ í Hellulands / hrauns óbyggðum “ (ÍF XIII: 164; in der unbesiedelten Steinwüste Hellulands) der Ævikviða Örvar-Odds in der Örvar-Odds saga gemahnt. Während diese eine Steinwüste bezeichnen, 11 verweisen die blutenden Füße des Priesters in der Bárðar saga jedoch tatsächlich auf Lava, deren Begehen andere Fußkleidung als die genannten Eisenschuhe schlicht zerschneidet. 12 Ausgehend vom Gesamtkontext der Erzählung ist weniger ein Missverständnis oder eine Fehlinformation anzunehmen, sondern vielmehr die mediale Verwendung dieses Erzählelements. Nicht Abbildung der geographischen Realität ist das Ziel der Erzählung an dieser Stelle, sondern identitätsstiftende Vergegenwärtigung der Vergangenheit mittels Personifikation. Gestr, der als Repräsentant der alten Religion in dieser isländisch anmutenden Umgebung den Priester auf den Rücken nimmt, ist so als weitere Versinnbildlichung der isländischen Christianisierung zu lesen: Das Fundament des christlichen Island ist der alte Glaube, was damit vor Gestrs Christianisierung noch einmal deutlich gemacht wird. Dem Priester alleine ist der Gang durch das unwegsame, Island repräsentierende Gelände nicht möglich, er muss dazu eine Verbindung mit dem alten Glauben eingehen. Der gemeinsame Weg von Gestr und dem Priester durch das Lavafeld bildet so die Fortsetzung des weiteren Wegs mittels einer Synthese von Paganem und Christlichem ab, die auch für die isländische Gesellschaft im Zuge der Christianisierung charakteristisch ist. Die vorchristliche Vergangenheit wird von dieser nicht geleugnet, sondern vielmehr als Fundament anerkannt und entsprechend in das Selbstverständnis integriert. 13 An diese spezifisch das isländische Christentum abbildende Szene schließen sich dann drei weitere Demonstrationen der Macht des christlichen Glaubens an, in deren Verlauf Gestr die Annäherung an das Christentum vollzieht. Der Hügel Raknarrs lässt sich nur mit 10 Selbst die als erdichtet geltende Króka-Refs saga legt nahe, dass der Sagaverfasser über genauere Kenntnisse der geschilderten grönländischen Örtlichkeiten verfügte (Jóhannes Halldórsson 1959: XXXVI - XXXVII). 11 Helluland, vermutlich das heutige Baffin Island/ Qikiqt ꜳ luk, zu ‚ hella ‘ (flacher Stein, Steinplatte) (s. v. „ hella “ in ONP). 12 Das ONP vermerkt (s. v. „ hraun “ ), dass damit sowohl ein Lavafeld als auch eine Steinwüste bezeichnet wird und mitunter nicht zu entscheiden ist, was gemeint ist. 13 Entsprechend wird auch Helluland dargestellt, das William Sayers (1994: 16) als „ the object of a syncretic view combining traditional pre-Christian attitudes toward the north with consonant Christian symbolism “ charakterisiert. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 191 <?page no="192"?> christlicher Macht öffnen und nur mittels der von König Óláfr erhaltenen Kerze gelingt es Gestr, das Gefolge Raknarrs im Hügel zu besiegen. Der Hügelbewohner Raknarr erweist sich dabei nicht nur als höchst gefährlich, selbst wenn ihm von einem Anhänger des alten Glaubens wie Gestr Ehre erwiesen wird, sondern vermittelt auch klar, dass bei ihm mit allem Negativen zu rechnen ist, auch wenn die Situation einen anderen Anschein erweckt, wie sein anfänglicher Umgang mit Gestr verdeutlicht. Furðu var hann illiligr at sjá. Bæði var þar fúlt ok kalt. Kistill stóð undir fótum hans, fullr af fé; men hafði hann á hálsi sér, harðla glæsiligt, ok digran gullhring á hendi; í brynju var hann ok hafði hjálm á höfði, en sverð í hendi. Gestr gekk at Raknari ok kvaddi hann virðuligri konungskveðju, en Raknarr hneigði honum á mót. Gestr mælti: „ Bæði er, at þú ert frægr, enda þykki mér þú allítrligr vera að sjá: hefi ek langan veg sótt þik heim; muntu mik ok góð erindislaun láta hafa, ok gef mér gripuna þá ina góðu, er þú átt; skal ek þá víða þína risnu bera. “ Raknarr veik þá at honum höfðinu með hjálminum. Tók Gestr hann, ok því næst færði Gestr hann úr brynjunni, ok var Raknarr hinn auðveldasti. Alla gripuna hafði hann af Raknari nema sverðit, því at þá er Gestr tók til þess, spratt Raknarr upp ok rann á Gest. Hvártki fann þá á honum, at hann væri gamall né stirðr. Þá var ok albrunnit kertit konungsnautr. (ÍF XIII: 167) Er war furchtbar grimmig anzusehen. Es stank dort und war kalt. Eine Kiste stand unter seinen Füßen, voll mit Geld; eine sehr prächtige Kette hatte er um den Hals und einen dicken Goldring am Arm; er trug eine Rüstung und hatte einen Helm auf dem Kopf und ein Schwert in den Händen. Gestr ging zu Raknarr und erwies ihm ehrenvolle Königsgrüße und Raknarr neigte sich zu ihm. Gestr sprach: „ Du bist sowohl berühmt als auch sehr herrlich anzusehen, ich bin einen langen Weg gekommen, um dich anzusehen; lass mich auch einen guten Lohn für mein Vorhaben haben und gib mir die guten Kostbarkeiten, die du hast; dann werde ich deine großzügige Lebensart weit tragen. “ Da drehte Raknarr den Kopf mit dem Helm. Gestr nahm ihn und als nächstes half er ihm aus der Rüstung, und Raknarr kam ihm dabei sehr entgegen. Alle Kostbarkeiten nahm er von Raknarr bis auf das Schwert, denn als Gestr nach diesem griff, sprang Raknarr auf und rannte auf ihn zu. Gestr merkte da, dass Raknarr weder alt noch steif war. Die Schutzkerze des Königs war dann auch ganz heruntergebrannt. Ohne den Schutz der Kerze ist Gestr machtlos gegenüber dem mächtigen Vertreter der alten heidnischen Zeit. Wie im Vorfeld der Auseinandersetzung mit diesem erfolgt auf Demonstrationen christlicher Macht auch hier ein Versagen des alten Glaubens, dem Gestr anhängt, bevor das Christentum final in der Auseinandersetzung mit dem bedrohlich erscheinenden Heidentum seine Überlegenheit demonstriert. Kallaði Gestr þá á Bárð, feðr sinn, til fulltingis, ok litlu síðar kom hann, ok orkaði hann engu; færðu þeir inir dauðu hann í reikuð, svá hann náði hvergi í nánd at koma. Þá hét Gestr á þann, er skapat hafði himin ok jörð, at taka við trú þeiri, er Óláfr konungr boðaði, ef hann kæmist í burtu lífs ór hauginum. Fast herti Gestr þá á Óláf konung, ef hann mætti meira en sjálfum sér, þá skyldi hann duga honum. Eptir þat sá Gestr Óláf konung koma í hauginn með ljósi miklu. Við þá sýn brá Raknari svá, at ór honum dró afl allt. Þá gekk Gestr svá fast at, at Raknarr fell á bak aptr með tilstilli Óláfs konungs. Þá hjó Gestr höfuð af Raknari ok lagði þat við þjó honum. Allir hinir dauðu settust niðr við kvámu Óláfs konungs, hver í sitt rúm. At þessu starfi enduðu hvarf Óláfr konungr at sýn frá Gesti. (ÍF XIII: 168) Da rief Gestr nach Bárðr, seinem Vater, um Unterstützung und der kam wenig später und er bewirkte nichts; die Toten stießen ihn hin und her, so dass es ihm nicht gelang, in die Nähe zu kommen. Da versprach Gestr dem, der Himmel und Erde geschaffen hat, dass er den Glauben annehmen werde, den König Óláfr verbreitete, wenn er lebend aus dem Hügel käme. Sehr Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 192 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="193"?> eindringlich forderte Gestr König Óláfr auf, wenn er mehr vermöge als er selber, dann solle er ihm beistehen. Danach sah Gestr König Óláfr mit viel Licht in den Hügel kommen. Bei diesem Anblick erschrak Raknarr so, dass alle Kraft aus ihm wich. Dann bedrängte Gestr Raknarr mit Unterstützung König Óláfrs so sehr, dass er hintenüber fiel. Dann hieb Gestr Raknarr den Kopf ab und legte ihn ihm an den Hintern. Mit der Ankunft von König Óláfr setzen sich alle Toten nieder, jeder an seinen Platz. Mit dem Ende dieser Tätigkeiten verschwand König Óláfr aus Gestrs Sicht. Gestr personifiziert damit die freiwillige Hinwendung der Isländer zum Christentum, die hier jedoch anders als in der Íslendingabók berichtet, als Konsequenz der Erkenntnis, dass der christliche dem alten Glauben überlegen ist, geschildert wird. Die Rückkehr von Gestr und seinen Begleitern nach Norwegen bildet diesen Glaubenswechsel dann zudem durch Personifikation als allgemeine Entwicklung, die über Gestrs persönliche Konversion hinausgeht, ab. Während Gestr auf dem Weg zu Raknarrs Hügel den Priester durch die Lava tragen muss, da diesem alleine kein Vorankommen möglich ist, verhält es sich auf dem Rückweg genau umgekehrt. Die Zerstörung des Hügels hat extreme Auswirkungen auf die ihn umgebende Landschaft, womit die Saga den Untergang des Heidentums und die damit verbundenen Umwälzungen durch die Etablierung der neuen christlichen Gesellschaftsordnung in Szene setzt (Barraclough 2008: 28): „ Náliga þótti þeim jörðin skjálfa undir fótum þeim; gekk ok sjórinn yfir allt rifit með svá stóru boðafalli, at mjök svá gekk sjór yfir allan hólminn. “ (ÍF XIII: 169) 14 Gestr ist in Anbetracht dessen machtlos, die Kenntnisse der Heiligen Schrift des Priesters dagegen ermöglichen die Rettung aus der Gefahr: „ Jósteinn prestr gekk þá fram fyrir þá ok hafði róðukross í hendi, en vatn í annarri ok stökkti því. Þá klufðist sjórinn, svá at þeir gengu þurrum fótum á landi. “ (ÍF XIII: 169) 15 Die Anklänge an den Auszug aus Ägypten im zweiten Buch Mose (Ex 14, 21 - 22) sind offensichtlich, zudem stellt die Saga damit eine Verbindung dieser Auszugsszene mit dem Hinweg zur Raknarrs Hügel dar. Nachdem der Hilfe benötigende Priester in diesem Zusammenhang von Gestr als skráfinnr bezeichnet wird, 16 sind es nun dessen Kenntnisse der Heiligen Schrift, die zur Errettung führen, womit auch der Siegeszug der Schriftreligion über den mündlich vermittelten vorchristlichen Glauben in Szene gesetzt wird (Grønlie 2017: 206). Die spezifisch isländischen Umstände dieses Glaubenswechsels werden dann nach Gestrs Rückkehr an den Königshof noch einmal unterstrichen, wo im Zuge der Vollendung seiner Annahme des Christentums sowohl die Freiwilligkeit als auch die Rolle Óláfr Tryggvasons bei der isländischen Christianisierung zum Ausdruck gebracht werden: „ Konungr bað hann þá skírast láta. Gestr sagðist því heitit hafa í Raknarshaug; var þá ok svá 14 Die Erde schien beinahe unter ihren Füßen zu beben; und das Meer trat mit so starkem Wellengang über das Riff, dass es geradezu die ganze Insel flutete. 15 Der Priester Jósteinn ging voran und hielt das Kruzifix in einer Hand und Wasser in der anderen und sprengte es. Da teilte sich das Meer, so dass sie trockenen Fußes an Land gingen. 16 Bei skráfinnr handelt es sich um ein Hapax legomenon bestehend aus skrá (Aufzeichnung) und dem mit finna (finden, wahrnehmen) verwandten Namensglied -finnr. Grønlie (2017: 206) übersetzt „ scrollmonger “ , was den Priester als denjenigen charakterisiert, der die Schrift verbreitet. Als Teil einer Kenning ist -finnr schlicht eine Bezeichnung für ‚ Mann ‘ , der Priester entsprechend ein ‚ Mann der Schrift ‘ im Sinne eines Vertreters der Schriftreligion. Im Kontext der Erzählung hat die Bezeichnung jedoch ein leicht spöttischen Charakter, deshalb oben nach Blöndal die Übersetzung ‚ Bücherwurm ‘ . Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 193 <?page no="194"?> gert. “ (ÍF XIII: 169) 17 Nach dieser Verkörperung der isländischen Christianisierung personifiziert Gestr anschließend zudem die Kehrseite des Glaubenswechsels, der auch mit einem Verlust von an den alten Glauben geknüpften identitätsstiftenden Merkmalen einhergeht und der von der Saga als Kehrseite zur christlichen Lichtsymbolik durch Blindheit und Verlust versinnbildlicht wird (Grønlie 2017: 208): Ina næstu nótt eptir er Gestr var skírðr, dreymdi hann, at Bárðr, faðir sinn, kæmi til hans ok mælti: „ Illa hefir þú gert, er þú hefir látit trú þína, þá er langfeðgar þínir hafa haft, ok látit kúga þik til siðaskiptis sakir lítilmennsku, ok fyrir þat skaltu missa bæði augu þín. “ Tók hann þá at augum hans heldr óþyrmiliga ok hvarf síðan. Eptir þetta, er Gestr vaknaði, hefir hann tekit augnaverk svá strangan, at inn sama dag sprungu þau út bæði. Síðan andaðist Gestr í hvítaváðum. Þótti konungi það inn mesti skaði. (ÍF XIII: 169 - 170) In der Nacht, nachdem Gestr getauft wurde, träumte er, dass Bárðr, sein Vater, zu ihm käme und sprach: „ Schlecht hast du gehandelt, als du deinen Glauben, den deine Vorväter gehabt haben, aufgabst und dich aufgrund unwürdigen Verhaltens zum Glaubenswechsel zwingen ließest, und deshalb sollst du deine beiden Augen verlieren “ . Dann griff er ziemlich schonungslos nach seinen Augen und verschwand dann. Als Gestr danach erwachte, hatten ihn so heftige Augenschmerzen erfasst, dass sie beide am gleichen Tag heraussprangen. Danach starb Gestr im Taufkleid. Dem König erschien dies der größte Schaden. Gestrs Tod symbolisiert so das Ende der heidnischen Vergangenheit Islands und die mit dem Glaubenswechsel verbundene Tragik, „ sweeping away indigenous oral traditions that have no place within the world of scriptural history “ (Grønlie 2017: 207). Das Anliegen der Bárðar saga, die Überlegenheit des Christentums darzustellen, ist offenkundig, „ but its triumph is set against the tragedy of Gestr ’ s death and the larger loss of human interaction with supernatural beings, which comes about in the wake of the new religion “ , wie O ’ Connor (2014: 163) vermerkt. Der eindeutige Kontrast zwischen Heidentum und Christentum sowie ihre Unversöhnlichkeit, die von Gestrs Tod abgebildet werden, versinnbildlichen das Ende der heidnischen Zeit und den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Wie William Sayers (1994: 13) feststellt, sind jedoch nicht die jeweiligen Verdienste der beiden Glaubenssysteme das Thema der Bárðar saga, but loyalty to ancestral and community traditions or to the royal Norwegian proponent of a new faith. In Bárðar saga the opposed religions serve as metonyms to explore the more complex and still evolving relationship between an earlier, self-contained and self-sufficient Iceland and the new Christian European order, represented by Norway. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist das Bemühen der Saga, vor diesem Hintergrund die heidnische und die christliche Vergangenheit Islands zu einem sinnstiftenden Ganzen zu vereinen sowie eine vorchristliche Vergangenheit zu konstruieren, die dies ermöglicht. Dies kommt wie angesprochen auch in der Bekehrungsgeschichte Gestrs zum Ausdruck, die in ihrer Vergegenwärtigung der identitätsstiftenden Vergangenheit bei aller Betonung der Überlegenheit des Christentums auch vorchristlich konnotierten Elementen eine bedeutungstragende Rolle zuschreibt, wie insbesondere die Lavafeld-Episode verdeutlicht. Während Gestr die Christianisierung sowie das Ende der heidnischen Vergangenheit und damit auch die Unvereinbarkeit von Heidentum und Christentum personifiziert, ver- 17 Der König bat ihn, sich taufen zu lassen. Gestr sagte, das habe er in Raknarrs Hügel versprochen; es wurde dann auch so gemacht. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 194 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="195"?> körpert sein Vater Bárðr die heidnische Vergangenheit Islands, die mit der Christianisierung ihr Ende findet. 18 Zu Beginn wesentlicher Bestandteil der isländischen Besiedelungsgeschichte, verschlechtert sich seine Stellung im Laufe der Sagahandlung, da es ihm nicht gelingt, seine Familie zusammenzuhalten und seine Abstammungslinie aufrechtzuerhalten (Ármann Jakobsson 1998: 64 - 65). Er kommt zum Schluss „‚ at sakir ættar minnar ok harma stórra ber ek eigi náttúru við alþýðu manna, ok því man ek leita mér nökkurra annarra ráða “ (ÍF XIII: 119) 19 und zieht sich aus der menschlichen Gesellschaft zurück. Eptir þetta hvarf Bárðr í burtu með allt búferli sitt, ok þykkir mönnum sem hann muni í jöklana horfit hafa ok byggt þar stóran helli, því at þat var meir ætt hans at vera í stórum hellum en húsum, því at hann fæddist upp með Dofra í Dofrafjöllum; var hann tröllum ok líkari at afli ok vexti en mennskum mönnum, ok var því lengt nafn hans ok kallaðr Bárðr Snjófellsáss, því at þeir trúðu á hann náliga þar um nesit ok höfðu hann fyrir heitguð sinn; varð hann ok mörgum in mesta bjargvættr. (ÍF XIII: 119) Danach verschwand Bárðr mit seiner ganzen Wirtschaft, und es scheint den Menschen, als ob er im Gletscher verschwunden wäre und dort eine große Höhle eingerichtet hätte, denn es entsprach mehr seiner Art, sich in großen Höhlen aufzuhalten als in Häusern, denn er war bei Dofri in Dofrafjöll aufgewachsen; er war auch Trollen ähnlicher an Wuchs und Kraft als menschlichen Männern, und so wurde sein Name verlängert und er wurde Bárðr, der Ase vom Snæfell, genannt, denn sie glaubten an ihn in der Nähe dort auf der Halbinsel und sahen ihn als Gottheit an, die angerufen werden konnte: er wurde auch für viele der größte Schutzgeist. Damit wird Bárðr vom lebendigen Bestandteil der isländischen Gesellschaft zum Bewohner eines orbis alius: „ His place is no longer in the history of Iceland but in the mountains “ , konstatiert Ármann Jakobsson (2005: 15). Treffender noch lässt sich formulieren, dass Bárðr durch die Verortung in den Bergen einen Platz in der isländischen Geschichte erhält, damit jedoch auch seinen Platz in der isländischen Gesellschaft aufgibt. Sein Rückzug aus der menschlichen Gesellschaft markiert so das Ende der heidnischen Vergangenheit Islands, zugleich wird diese jedoch von der Bárðar saga als wesentlicher Bestandteil der isländischen Geschichte festgeschrieben und als Teil des vorchristliches Fundaments der isländischen Gesellschaft anerkannt (dazu Ármann Jakobsson 1998). Diesbezüglich gibt sich ein weiteres wesentliches Anliegen der Saga zu erkennen, das ebenfalls von den Protagonisten personifiziert wird, die, wie Sayers (1994: 18) vermerkt, auch „ for the more ambivalent attempt to retain something distinctively and independently Icelandic from the settlement era “ stehen. So betont die Bárðar saga nicht nur die Bedeutung der Christianisierung für die isländische Identität und stellt die damit verbundenen Ambivalenzen dar, sondern gestaltet darüber hinaus eine spezifisch isländische vorchristliche Vergangenheit, die zwar heidnisch konnotiert ist, sich selbst aber zugleich vom Heidentum distanziert. Diese heidnische Vergangenheit wird von der Bárðar saga durchaus positiv bewertet, wie sie gleich zu Beginn deutlich macht. Bárðr kommt als Ziehsohn zu Dofri in Dofrafjöll, seinerseits ein Bergbewohner, und erwirbt dort zahlreiche Kenntnisse. 18 Wie Helga Kress (1992) aufzeigt, verkörpert auch Bárðrs Tochter Helga als Sinnbild für die Verdrängung des Weiblichen im Zuge der Christianisierung einen wesentlichen Aspekt der vorchristlichen Vergangenheit der Isländer sowie deren Ende. 19 „ aufgrund meiner Abstammung und meines großen Kummers habe ich nicht die gleiche Veranlagung wie die meisten Leute und deshalb werde ich mir einen anderen Ausweg suchen “ Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 195 <?page no="196"?> Síðan vandi Dofri hann á alls kyns íþróttir ok ættvísi og vígfimi, ok eigi var traust, at hann næmi eigi galdra ok forneskju, svá at bæði var hann forspár ok margvíss, því at Dofri var við þetta slunginn; váru þetta allt saman kallaðar listir í þann tíma af þeim mönnum, sem miklir váru <ok> burðugir, því at menn vissu þá engi dæmi at segja af sönnum guði norðr hingat í hálfuna. (ÍF XIII: 103) Danach erzog Dofri ihn in allen möglichen Fertigkeiten und genealogischem Wissen und geschickter Waffenführung: und es war nicht sicher, dass er nicht Zauber und Hexerei erlernte, so dass er sowohl zukunftskundig als auch zauberkundig war, denn Dofri war darin erfahren; alles zusammen wurde dies Künste genannt zu dieser Zeit von den Menschen, die bedeutend und von vornehmem Geschlecht waren, denn die Menschen wussten damals kein Zeugnis zu geben vom wahren Gott hier im nördlichen Teil der Welt. Auffällig ist hier, dass mit genealogischem Wissen und Geschicklichkeit in der Waffenführung zwei zentrale Elemente der Íslendingasaga konkret als von Bárðr bei Dofri erworbene Kenntnisse angeführt werden und Bárðr so als typischer Vertreter der von den Íslendingasögur konstruierten Sagazeit erscheint. Die heidnisch konnotierten Kenntnisse unter den von Bárðr erlernten Künsten wie Zauber und vorchristliche Bräuche werden in der Aufzählung dagegen mittels doppelter Verneinung von diesen Fähigkeiten abgehoben und zugleich gerechtfertigt, indem sie nicht nur als zeittypisch dargestellt, sondern darüber hinaus mit bedeutenden Menschen aus vornehmem Geschlecht verbunden werden. Sie werden so einer vergangenen Zeit zugeordnet, für diese positiv konnotiert und aufgrund des noch nicht bekannten christlichen Glaubens als akzeptabel präsentiert. Im Anschluss daran wird die heidnische Epoche weiter aufgewertet, indem sie wie auch später im Zusammenhang mit der Bekehrungsgeschichte Gestrs als Fundament der christlichen Gesellschaft vergegenwärtigt wird. Mittels eines prophetischen Traums, den Bárðr während seines Aufenthalts bei Dofri träumt, wird dies gleich zu Beginn der Saga unter Verwendung des in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur auch andernorts verwendeten Baummotivs bildlich dargestellt. Seine kulturelle Bedeutung wird nicht zuletzt mit Verweis auf den Wahrheitsgehalt der präsentierten Deutung betont: Þá var þat á einni nótt, at Bárðr lá í sæng sinni, at hann dreymdi, at honum þótti tré eitt mikit koma upp í eldstó fóstra síns, Dofra. Þat var harðla margkvíslótt upp til limanna. Þat óx svá skjótt, at þat hrökk upp í hellisbjargit ok því næst út í gegnum hellisbjargit. Þar næst var þat svá mikit, at lim þess þótti honum taka um allan Nóreg, ok þó var á einum kvistinum fegrsta blóm, ok váru þó allir blómamiklir. Á einum kvistinum var gullslitr. Þann draum réð Bárðr svá, at í hellinn til Dofra mundi koma nökkurr konungborinn maðr ok fæðast þar upp ok sá sami maðr mundi verða einvaldskonungr yfir Nóregi, en kvistr sá inn fagri mundi merkja þann konung, er út af þeim væri kominn, er þar yxi upp, ok mundi sá konungr boða annan sið en þá gengi; var Bárði draumr sá ekki mjök skapfelldr. Hafa menn þat fyrir satt, at þat it bjarta blóm merkti Óláf konung Haraldsson. (ÍF XIII: 104) Da war es eines Nachts, als Bárðr in seinem Bett lag, dass er träumte, einen großen Baum aus dem Feuerplatz seines Ziehvaters Dofri wachsen zu sehen. Er war sehr verzweigt bis in das Geäst. Er wuchs so schnell, dass er bis an die Höhlendecke austrieb und als nächstes durch die Decke. Als nächstes war er so groß, dass es ihm schien, die Zweige umspannten ganz Norwegen, und an einem Zweig war die schönste Blume, auch wenn doch alle Zweige blumenreich waren. Ein Zweig war von goldener Farbe. Diesen Traum deutete Bárðr so, dass irgendein Mann von königlicher Geburt zu Dofri in die Höhle kommen würde und dort aufwüchse und dieser Mann würde Einheitskönig über Norwegen werden, aber der schöne Zweig würde den König bezeich- Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 196 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="197"?> nen, der von dem abstammen würde, der dort aufwuchs, und dieser König würde einen anderen Glauben verbreiten als den, der damals verbreitet war; der Traum war Bárðr nicht sehr angenehm. Die Menschen halten es für wahr, dass die schöne Blume König Óláfr Haraldsson darstellte. Das Christentum erwächst hier bildlich aus dem Heidentum, womit nicht nur die vorchristlichen Wurzeln der isländischen Gesellschaft dargestellt werden, sondern der Glaubenswechsel zudem als natürliche Entwicklung und Wachstumsschritt präsentiert wird. Auch hier findet keine Abwertung des Heidentums statt, vielmehr wird auch die heidnische Zeit als blühende Epoche imaginiert. Die isländische Entwicklung wird dabei in der Figur Bárðrs mit der norwegischen parallelisiert. Wie der hier nicht namentlich genannte Haraldr inn hárfagri, der in der altisländischen Literatur verschiedentlich als Ziehsohn Dofris genannt wird, ist auch Bárðr ein Ziehsohn Dofris, dessen Abkömmling die Christianisierung seines Heimatlandes symbolisiert. Zugleich findet eine Abgrenzung gegenüber Norwegen statt, dessen historische Frühzeit anders als die isländische vom Königtum geprägt ist und dessen Christianisierung durch Óláfr inn helgi Haraldsson erfolgt, während die isländische Christianisierung, wie die Bárðar saga, wie oben dargestellt, im weiteren Verlauf mittels Personifizierung durch Gestr aufzeigt, auf Óláfr Tryggvason zurückzuführen ist. Die isländische Entwicklung ist so einerseits typisch für den Norden, der aufgrund später Bekanntschaft mit dem Christentum über eine heidnische Vorzeit in jüngerer Vergangenheit verfügt, und andererseits speziell, weil diese heidnische Vorzeit durch die Abwesenheit eines Königs sowie durch eine Gesellschaft, innerhalb derer auch nicht-menschliche Wesen wie Bárðr existieren, gekennzeichnet ist. Die nichtmenschlichen Wesen beeinflussen die Gesellschaft durchaus auch positiv und sorgen für die Verbreitung von wertvollem Wissen, wie die Saga im weiteren Verlauf darstellt. Die heidnische Epoche wird so nicht nur negativ gesehen, sondern bildet die anerkannte Grundlage der christlichen. Zwar gelingt es Bárðr nicht, seine Geschlechtslinie durch die Verbindung mit menschlichen Mitgliedern der isländischen Gesellschaft aufrechtzuerhalten, er gibt jedoch bedeutende Kenntnisse weiter, wie Kap. 7 verdeutlicht, in dem er seine Tochter Þórdís mit Oddr verheiratet. 20 „ Síðan lagði Bárðr ástfóstr við Odd ok kenndi honum lögspeki um vetrinn; var hann síðan kallaðr lögvitrari maðr en aðrir menn “ (ÍF XIII: 135). 21 Auch durch Parallelisierung eines jeweils zentralen Ereignisses in Teil eins und zwei gestaltet die Bárðar saga die heidnische Vorzeit als Präfiguration der christlichen. So wird in Kap. 13 und 18 jeweils ein Julfest geschildert, das einen zentralen Umbruch in der Sagahandlung markiert: Das erste leitet die Übernahme der Protagonistenrolle durch Gestr ein, das zweite seine Hinwendung zum Christentum. Darüber hinaus bilden die beiden Julfeste im Vergleich die vorchristliche bzw. die christliche Phase der isländischen Frühzeit ab. Das erste stellt eine Zusammenkunft dar, an der sowohl nicht-menschliche als auch menschliche Gäste teilhaben und als deren führender Vertreter Bárðr präsentiert wird: „ Í 20 Oddr Ǫ nundarson, genannt Tungu-Oddr, ist ein prominenter sagazeitlicher Häuptling, der insbesondere für seine Beteiligung an der in H œ nsna-Þóris saga und Íslendingabók (ÍV I: 12) geschilderten Fehde wegen eines Heuraubs bekannt ist und vor allem mit Gesetzeskundigkeit konnotiert wird. Die Bárðar saga bindet ihren Protagonisten so nicht nur in die bekannte sagazeitliche Gesellschaft ein, sondern verweist damit zugleich auch auf deren vorchristliche Grundlage. 21 Danach ließ Bárðr Oddr eine liebevolle Erziehung zukommen und lehrte ihn den Winter über Gesetzeskunde; darauf wurde er ein gesetzeskundigerer Mann als andere Männer genannt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 197 <?page no="198"?> öndvegi sat Bárðr Snæfellsáss “ (ÍF XIII: 144; Bárðr Snæfellsáss saß auf dem Hochsitz). Durch die Gastgeberrolle der tröllkona (Trollfrau) Hít steht die Versammlung unter weiblicher Führung und wird so mit einer matriarchalen Gesellschaftsordnung konnotiert. Das von Bárðr repräsentierte Heidentum ist dabei positiv belegt und wird auch hier von einer als problematisch dargestellten negativen Repräsentation vorchristlicher Elemente abgegrenzt. 22 Nachdem die Trinkerei ausartet und es infolge dessen zu einer vom Riesen Kolbjörn initiierten Auseinandersetzung kommt, greift Bárðr ein und befriedet die Festgesellschaft: „ Bárðr segir, at þat skal öngum duga at gera nökkut ómak í herbergjum Hítar, vinkonu sinnar, - ‚ þar sem hon hefir boðit oss með kærleikum. ‘“ (ÍF XIII: 145) 23 Das zweite Julfest - durch die Zeitangabe „ aðfangakveld fyrir jól “ (ÍF XIII: 160; Heiligabend vor Weihnachten) klar christlich markiert - ist im Unterschied dazu eine rein männliche Veranstaltung, die unter der Oberherrschaft des norwegischen Königs steht. Auch hier erfolgt ein Einbruch negativ konnotierten Heidentums durch das Erscheinen Raknarrs und eine Wendung der bedrohlichen Situation durch den König als Oberhaupt der Festgesellschaft, der als führender Vertreter des Christentums die schädlichen Nachwirken dieser Konfrontation mit heidnischen Elementen durch ein christliches Ritual behebt: „ En er skoðat var, lágu margir menn sem hálfdauðir ok í óviti, þar til er konungr kom sjálfr til ok les yfir þeim. “ (ÍF XIII: 160 - 161) 24 Mit der Parallelisierung der beiden Julfeste bildet die Bárðar saga zum einen den Wandel Islands vom freien selbstbestimmten Land zum norwegischen Hoheitsgebiet ab, der, wie Sayers (1994: 14 - 16) betont, als positiv konnotierter, mit kulturellem Fortschritt assoziierter Wandel dargestellt wird. Zum anderen stellt sie damit positiv besetzte Aspekte der heidnischen Vorzeit als vorchristliche Entsprechung des christlichen Zeitalters dar und vereint so heidnische und christliche Vorzeit zu einem sinnstiftenden Ganzen. Die Gestaltung einer spezifisch isländischen vorchristlichen Vergangenheit, die zwar heidnisch, aber dennoch positiv konnotiert ist und sich selbst vom negativ konnotierten Heidentum abgrenzt, ist ein zentrales Anliegen der Bárðar saga. Um dies abzubilden, bedient sie sich auch im ersten Teil der Erzählung, dessen Protagonist Bárðr darstellt, der Personifikation eines heidnischen Gottes. 25 Der Auftritt Thors als handelnde Figur ermöglicht der Saga nicht nur, die Rolle des Protagonisten Bárðr als Schutzgeist aufzuzeigen (vgl. Ármann Jakobsson: 68), sondern zudem, diesen Glauben an einen im Berg verorteten Schutzgeist mittels bildlicher Darstellung entschieden von der heidnischen 22 Bereits einleitend unterscheidet die Bárðar saga gute von bösen Riesen (Hawes 2008b: 154 - 155), überhaupt sind die nicht-menschlichen Wesen in der Saga recht eindeutig positiv oder negativ konnotiert. 23 Bárðr sagte, dass es niemandem dienlich sei, im Heim von Hít, seiner Freundin, für Verdruss zu sorgen, - „ da sie uns freundschaftlich empfangen hat. “ 24 Und als sie sich umsahen, lagen viele Männer wie halb tot und bewusstlos da, bis der König selbst dazu kam und über ihnen aus der Heiligen Schrift las. 25 Auffällig an den beiden in der Bárðar saga in Erscheinung tretenden paganen Göttern ist insbesondere, dass sie jeweils auch Merkmale tragen, die ansonsten dem jeweils anderen Gott zugeschrieben werden. Der Name Grímr sowie ein grauer Mantel sind typische Kennzeichen Odins, während ein roter Bart (Rauðgrani = ‚ Rotbart ‘ ) das typische Attribut Thors darstellt. Hinter dieser Darstellung steht meines Erachtens nicht Unwissen, sondern vielmehr das Bemühen, altes heidnisches Wissen nicht zu erneuern. Auch die Harðar saga weist Odin wie angesprochen einen Namen zu, mit dem üblicherweise Thor bezeichnet wird. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 198 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="199"?> Religion abzugrenzen. 26 Stattdessen wird der Schutzgeistglaube eng mit der isländischen Besiedelung verknüpft. Ingjaldr, der gemeinsam mit Bárðr nach Island auswanderte und auch auf dessen Rat sein Land in Besitz nimmt (siehe unten Kap. 5.3.1), gerät aufgrund einer Auseinandersetzung mit der tröllkona Hetta in Schwierigkeiten. Annan dag eftir reri Ingjaldr á sjó ok var einn á skipi ok rær allt þar til, er frammi var fjallit ok svá nesit. Heldr þótti honum lengra en hann hugði. Veðr var gott um morgininn. En er hann kom á miðit, var undir fiskr nógr. Litlu síðar dró upp flóka á Ennisfjalli, ok gekk skjótt yfir. Þar næst kom vindr ok fjúk með frosti. Þá sá Ingjaldr mann á báti, ok dró fiska handstinnan; hann var rauðskeggjaðr. Ingjaldr spurði hann at nafni; hann kveðst Grímr heita. Ingjaldr spurði, hvárt hann vildi ekki at landi halda. Grímr kveðst eigi búinn, - „ ok máttu bíða, þar til er ek hefi hlaðit bátinn. “ Veðr gekk upp at eins ok gerði svá sterkt ok myrkt, at eigi sá stafna í milli. Tapat hafði Ingjaldr önglum sínum öllum ok veiðarfærum; váru ok árar mjök lúnar. Þóttist hann þá vita, at hann mundi ekki at landi ná sakir fjölkynngis Hettu ok þetta mundu allt hennar ráð verit hafa. Kallaði hann þá til fulltings sér á Bárð Snæfellsás. Tók Ingjald þá fast at kala, því at drjúgum fylldi skipit, en frýss hvern ádrykk, þar er kominn var. Ingjaldr var vanr at hafa yfir sér einn skinnfeld stóran, ok var hann þar í skipinu hjá honum; tók hann þá feldinn ok lét yfir sik til skjóls; þótti honum sér þá vísari dauði en líf. (ÍF XIII: 126) Am nächsten Tag ruderte Ingjaldr aufs Meer. Er war allein auf dem Schiff und ruderte soweit, bis er den Berg und auch die Halbinsel hinter sich gelassen hatte. Es schien ihm weiter, als er beabsichtigt hatte. Das Wetter war gut an jenem Morgen. Als er zu den Fischgründen kam, waren dort viele Fische. Wenig später erschien eine Wolke über dem Ennisfjall und verbreitete sich schnell. Als nächstes kam Wind und Schneetreiben mit Frost auf. Da sah Ingjaldr einen Mann in einem Boot, der mit starker Hand Fische aus dem Wasser zog; er hatte einen roten Bart. Ingjaldr fragte ihn nach seinem Namen; er sprach, er heiße Grímr. Ingjaldr fragte, ob er nicht das Land ansteuern wolle. Grímr sagte, er sei noch nicht fertig, - „ und du wirst warten müssen, bis ich das Boot vollgeladen habe. “ Der Wetter wurde beständig schlechter und so heftig und dunkel, dass man nicht von einem Ende des Bootes zum anderen sehen konnte. Ingjaldr hatte all seine Haken und Gerätschaften zum Fischen verloren; die Ruder waren auch ganz abgenutzt. Er glaubte zu wissen, dass er aufgrund von Hettas Zauberkräften das Land nicht erreichen würde und dass das alles ihr Tun war. Er rief Bárðr Snæfellsáss um Hilfe an. Ingjaldr wurde es dann schnell kalt, da das Schiff sich schnell mit Wasser füllte und jede Welle, die ankam, gefror. Ingjaldr pflegte einen großen Pelzmantel zu tragen und der war bei ihm im Boot; da nahm er den Mantel und warf ihn sich zum Schutz über; er war sich da des Todes sicherer als des Lebens. Während die Funktion der übernatürlichen Wesen sowie das Verhältnis dieser untereinander in der Bárðar saga höchst komplex und nicht immer eindeutig sind (dazu Ármann Jakobsson 2005a), ist die von der Saga inszenierte Abgrenzung von den heidnischen Göttern sehr klar. Thor tritt hier als negative Macht in Erscheinung, die das Leben dessen bedroht, der mit ihr konfrontiert wird, während Bárðr als zuverlässiger Schutzgott erscheint: En er Ingjaldr var nálega at bana kominn, sá hann, hvar maðr reri einn á báti; hann var í grám kufli ok hafði svarðreip um sik. Ingjaldr þóttist þar kenna Bárð, vin sinn. Hann reri snarliga at skipi Ingjalds ok mælti: „ Lítt ertu staddr, kumpán minn, ok váru þat undr mikil at þú, jafnvitur maðr, lézt slíka óvætti ginna þik sem Hetta er; ok far nú á skip með mér, ef þú villt, ok prófa, at 26 Die mediale Bedeutungsebene sorgt auch hier für Irritationen beim modernen Leser, so charakterisiert Hawes (2008b: 146) es als „ rather odd “ , dass die Saga einen Konflikt zwischen ihrem halb-riesischen Protagonisten und Thor, dem Riesentöter der nordischen Mythologie, inszeniert. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 199 <?page no="200"?> þú fáir stýrt, en ek mun róa. “ Ingjaldr gerði svá. Hvarf Grímr þá á bátinum, er Bárðr kom; þykkir mönnum sem þat muni Þórr verit hafa. Bárðr tók þá at róa allsterkliga ok allt þar til er hann dró undir land; flutti Bárðr Ingjald heim, ok var hann mjök þjakaðr, ok varð hann alheill, en Bárðr fór heim til síns heimilis. (ÍF XIII: 127 - 128) Aber als Ingjaldr dem Tod nahe war, sah er einen Mann allein in einem Boot rudern; er trug einen grauen Mantel und hatte einen Riemen aus Walrosshaut um den Leib. Ingjaldr glaubte dort Bárðr, seinen Freund, zu erkennen. Der ruderte rasch zum Schiff Ingjaldrs und sprach: „ Schlecht geht es dir nun, Kamerad, und es ist sehr verwunderlich, dass ein so kluger Mann wie du sich von einem bösen Wesen wie Hetta zum Narren halten lässt; komm nun auf mein Schiff, wenn du willst, und lass uns versuchen, ob du steuern kannst, ich aber werde rudern. “ Ingjaldr tat dies. Da verschwand Grímr auf dem Boot, als Bárðr kam; die Menschen glauben, dass das Thor gewesen sein muss. Bárðr begann dann sehr stark zu rudern, bis er das Land erreichte; er brachte Ingjaldr nach Hause, der sehr erschöpft war, sich aber wieder ganz erholte, Bárðr aber ging heim. „ This scene recalls several Christian miracle stories about Óláfr Tryggvason and St. Þorlákr “ merkt Grønlie (2017: 198) dazu an und verweist insbesondere auf ein Wunder des letzteren, bei dem dieser ebenfalls auf wundersame Weise auf einem Fischerboot erscheint und dieses mit der gesamten Mannschaft sicher an Land steuert. Entsprechend konstatiert sie, dass Bárðr kompetent die Aufgaben eines christlichen Heiligen übernimmt: „ he rids the wastelands of trolls and pagan gods, and guides those at sea who call on him to harbour “ (199). Als Präfiguration verehrungswürdiger Repräsentanten des Christentums repräsentiert er einen Glauben, der mit dem christlichen die entschiedene Opposition zu Vertretern des germanischen Pantheons teilt. Bárðrs direkte Verbindung mit der isländischen Gesellschaft bricht mit der Christianisierung ab, mit seinem Rückzug in die Berge macht er sich jedoch unsterblich (Ármann Jakobsson 2005a: 15). Die Möglichkeit, dass Bárðr noch immer im Berg lebt und von dort in das Schicksal der Menschen eingreifen kann, wird dabei nicht explizit angesprochen, steht aber doch im Raum. 27 So endet Kap. 13, das die Übernahme der Protagonistenrolle Bárðrs durch Gestr markiert, schlicht damit, dass Bárðr sich nach Hause begibt. „ Síðan fór Bárðr heim, ok höfðust þeir Gestr þá heima við um tíma. “ (ÍF XIII: 145) 28 Ab Kap. 14 wird Bárðr einmal als Vorfahr, einmal als führender Vertreter der Bergbewohner erwähnt, sein weiteres Schicksal jedoch bleibt offen. In Erscheinung tritt er erst wieder, als Gestr angesichts der Bedrohung im Hügel nach seinem Beistand ruft. Während er in diesem Fall machtlos ist, erfolgt sein zweites und letztes Erscheinen in der Saga nach Gestrs Christianisierung nur im Traum. Die anschließenden Geschehnisse legen jedoch nahe, dass er tatsächlich fähig ist, das Schicksal zu beeinflussen. Die Bárðar saga lässt auf diese Weise offen, ob Schutzgeister wie Bárðr in der Lage sind, in die Welt einzugreifen, und gibt ihren Rezipienten weiter die Möglichkeit, deren Existenz als gegeben anzunehmen. Nur deshalb kann sie als „ origin story explaining how there could be helpful supernatural beings in the Icelandic wilderness “ (Lindow 2009: 254) charakterisiert werden. Die Abgrenzung Bárðrs von der vorchristlichen Religion nimmt dem Glauben 27 „ [T]he retaliatory act of mutilating and killing his son makes the saga hero appear very sinister “ , wie Hawes (2008b: 144) anmerkt. Final wird so ein Bild von Bárðr präsentiert, das kompatibel mit der kirchlichen Sichtweise auf nicht-christliche übernatürliche Mächte im Mittelalter ist, das im Gesamtkontext der Saga das Verständnis von Bárðr als Schutzgeist, der in Not angerufen werden kann, aber nicht gefährdet. 28 Dann ging Bárðr nach Hause und Gestr und er blieben eine Weile daheim. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 200 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="201"?> an Schutzgeister und Naturwesen seine eindeutig heidnische Konnotation, was ermöglicht, ihn auch nach der Christianisierung weiter als wesentlichen Bestandteil isländischer Identität zu begreifen. Die Bárðar saga integriert so den mit vorchristlichen Glaubensvorstellungen verbundenen Volksglauben in die christliche isländische Identität. Anstatt ihn zu verdammen, assimiliert ihn die christliche Elite, die im 14. Jh. im Wesentlichen für die Aktualisierung der isländischen Ursprungserinnerungen verantwortlich ist. Damit ergänzt das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga die fundierende Vergangenheit um einen Aspekt, der für das isländische Selbstverständnis nicht nur im späten Mittelalter wesentlich ist, und nimmt auch nicht-menschliche Wesen mit vorchristlichen Wurzeln in das kulturelle Gedächtnis auf. Wie die Bárðar saga gestaltet auch die Kjalnesinga saga eine spezifisch isländische pagane Vorzeit, die sich einerseits vom heidnischen Glauben distanziert und andererseits vorchristliche Elemente integriert. Ihr Protagonist Búi personifiziert, wie bereits angesprochen, die Integration des irischen Elements in die frühe isländische Gesellschaft. Zudem verkörpert er als Gegner des Heidentums einerseits und Bindeglied zum orbis alius andererseits weitere Aspekte des isländischen Selbstverständnisses im Spätmittelalter, die durch seine Lebensgeschichte bildhaft werden. Íslendingasaga-typisch stellt die Kjalnesinga saga Fehden in das Zentrum der ersten Hälfte ihrer Erzählung und fokussiert dabei insbesondere auf die Abgrenzung vom heidnischen Glauben (Kap. 3 - 5) und Búis Unterstützung durch übernatürliche Kräfte bei der Brautwerbung (Kap. 6 - 11). In der zweiten Hälfte stellt Búi aktiv eine Verbindung zum orbis alius her, nachdem er infolge der Auseinandersetzungen das Land verlassen muss und auf Geheiß des norwegischen Königs Haraldr inn hárfagri dann schließlich den riesischen König Dofri aufsucht, mit dessen Tochter er ein Verhältnis eingeht (Kap. 12 - 14). Nach seiner Rückkehr an den norwegischen Königshof besiegt er einen blámaðr des Königs (Kap. 15), bevor er nach Island heimkehrt und dort die im ersten Teil der Saga geschilderten Auseinandersetzungen zu Ende führt: Nach dem Sieg über den alten Widersacher und der gleichzeitigen Distanzierung von der früheren Geliebten (Kap. 16) findet eine Versöhnung mit dem vormaligen Gegner in Glaubensangelegenheiten statt (Kap. 17). Abschließend wird Búi von seinem Sohn, der aus der Verbindung zur Riesentochter hervorging, aufgesucht und es kommt zum Kampf Vater gegen Sohn, in dessen Folge Búi den Tod findet (Kap. 18). Die Kjalnesinga saga ist gänzlich in der Zeit vor der Christianisierung angesiedelt und führt so die Ablehnung der heidnischen Götter bildlich vor Augen, ohne dass diesen explizit der sie ablösende christliche Glaube gegenübergestellt wird. Indem die Saga durch die Einführung christlicher Siedler aus Irland die christliche Seite der isländischen Frühzeit betont, christianisiert sie die isländischen Ursprünge jedoch und setzt auf dieser Basis zugleich einen Kontrast zwischen Heidentum und Christentum in Szene. Ihr Protagonist Búi, der mit dem Beinamen hundr (Hund) und der Schleuder, einer für einen sagazeitlichen Helden untypischen Waffe, wesentliche Gemeinsamkeiten mit Cú Chulainn, einem der größten Helden der irischen Mythologie, aufweist, 29 wird als Nachfahre eines irischen 29 Keltische Motive finden sich verschiedentlich in der altisländischen Literatur. Einar Ól. Sveinsson (1957) führt zahlreiche Beispiele an, die zum Teil auf die Vermittlung durch kontinentaleuropäische Texte zurückgehen und zum Teil mutmaßlich direkt aus mündlicher irischer Überlieferung übernommen wurden. In der Kjalnesinga saga erkennt er „ very vague fragments of tales of the youthful exploits of Cúchulin and of his son, Aenfer “ , die er als „ an echo of Irish tales which found their way to Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 201 <?page no="202"?> Einwanderers christlich gekennzeichnet, und auch seine Ziehmutter Esja wird zu einer Gruppe getaufter irischer Landnehmer gezählt. Seiner Nähe zum Christentum entsprechend, steht Búi dem heidnischen Glauben ablehnend gegenüber: „ Hann vildi aldri blóta ok kveðst þat þykja lítilmannligt at hokra þar at. “ (ÍF XIV: 9) 30 Damit etabliert die Saga einen Gegensatz zwischen ihrem Protagonisten und Þorgrímr, dem Goden des Bezirks, der zuvor als „ blótmaðr mikill “ (ÍF XIV: 7; großer Opferer) charakterisiert wird und dessen wesentliche Handlung der Bau eines Tempel ist. Dieser Glaubensgegensatz wird dann im weiteren Verlauf der Saga intensiviert, indem es zur Auseinandersetzung zwischen Búi und Þorgrímr kommt. Wie Cook (1994: 122) aufzeigt, stellt die Saga einen klaren Gegensatz zwischen irischen Christen und nordischen Heiden dar. Die Saga inszeniert dabei zunächst eine Verstärkung des Kontrasts zwischen dem heidnischen Glauben zugeneigten Isländern einerseits sowie denjenigen mit christlichen Wurzeln andererseits. So beginnt die Saga mit Helgi bjóla, dem Sohn von Ketill flatnefr und Vater des genannten Þorgrímr, der als „ nytmenni mikit í fornum sið, blótmaðr lítill, spakr ok hægr við alla “ (ÍF XIV: 3) 31 geschildert wird und ein sehr gutes Verhältnis zu den neu aus Irland angekommenen christlichen Siedlern pflegt. 32 Sein Sohn Þorgrímr dagegen wird nicht nur als großer Opferer charakterisiert, sondern auch als wenig tolerant gegenüber Andersgläubigen. Die Verstärkung heidnischer Sitten und die daraus resultierende Opposition zweier Glaubensrichtungen treibt die Handlung dann im weiteren Verlauf voran. Die Aggression geht dabei zunächst klar von den Anhängern des heidnischen Glaubens aus, der auch dadurch als problematisch präsentiert wird. Þorgrímr goði gaf mikinn gaum at þeim mönnum, sem ekki vildu blóta; sættu þeir af honum inum mestum afarkostum. Létu þeir Þorsteinn, son hans, þá fara mikil orð til Búa, er hann vildi eigi blóta, ok kölluðu hann Búa hund. Þat vár, er Búi var tólf vetra, en Þorsteinn, son Þorgríms, var átján vetra, stefndi Þorsteinn Búa um rangan átrúnað til Kjalarnessþings ok lét varða Iceland with settlers who came from the British Isles, some of whom are known to have lived on the Kjalarnes, the district in which the saga takes place “ versteht (15). Zu den keltischen Elementen in der Kjalnesinga saga sowie einem möglichen Zusammenhang zur Überlieferung um Cú Chulainn siehe auch Cook (1994: 119 - 120). 30 Er wollte niemals opfern und sagte, es scheine ihm unmännlich, sich dort niederzubeugen 31 ein sehr tüchtiger Mensch in heidnischer Zeit, ein kleiner Opferer, weise und angenehm im Umgang mit allen 32 Anders die Landnámabók, die Helgi bjóla als Christen bezeichnet und seine Söhne auch anders benennt. Sie schildert im Gegensatz zur Kjalnesinga saga einen klaren Rückfall in das Heidentum: „ Svá segja vitrir menn, at n ǫ kkurir landnámsmenn hafi skírðir verit, þeir er byggt hafa Ísland, flestir þeir, er komu vestan um haf. Er til þess nefndr Helgi magri ok Ørlygr enn gamli, Helgi bjóla, J ǫ rundr kristni, Auðr djúpauðga, Ketill enn fíflski ok enn fleiri menn, er komu vestan um haf, ok heldu þeir sumir vel kristni til dauðadags. En þat gekk óvíða í ættir, því at synir þeira sumra reistu hof ok blótuðu, en land var alheiðit nær hundraði vetra. “ (ÍF I: 396; So berichten weise Männer, dass einige Landnehmer, die Island besiedelt haben, getauft gewesen waren, die meisten, die von Westen über das Meer kamen. Dazu werden Helgi magri und Ørlygr inn gamli, Helgi bjóla, J ǫ rundr kristni, Auðr djúpauðga, Ketill inn fíflski und weitere Männer genannt, die von Westen über das Meer kamen, und manche von ihnen hielten den christlichen Glauben bis zu ihrem Todestag gut. Aber es ist in den Geschlechtern nicht weitergegangen, denn die Söhne von einigen von ihnen errichteten Tempel und opferten, und das Land war nahezu ganz heidnisch nach hundert Jahren.) Mit dieser für den Handlungsverlauf unerheblichen Abweichung distanziert die Kjalnesinga saga die isländischen Ursprungserinnerungen von der Kapitalsünde der Apostasie. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 202 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="203"?> skóggang. Þessa sök sótti Þorsteinn, ok varð Búi sekr skógarmaðr. Eigi lét Búi sem hann vissi, ok öllum ferðum sínum háttaði hann sem áðr; (ÍF XIV: 9 - 10) Der Gode Þorgrímr achtete besonders auf die Männer, die nicht opfern wollten; sie erfuhren von ihm eine sehr gewaltsame Behandlung. Er und sein Sohn Þorsteinn richteten große Worte an Búi, als er nicht opfern wollte, und nannten ihn Búi Hund. Als Búi zwölf Winter alt und Þorsteinn, der Sohn Þorgrímrs, achtzehn Winter alt war, lud Þorsteinn Búi wegen falschen Glaubens vor das Kjalarnesthing und ließ eine strenge Acht beantragen. Diese Klage gewann Þorsteinn und Búi wurde zu strenger Acht verurteilt. Búi verhielt sich, als ob er das nicht wüsste und benahm sich bei allem wie zuvor. Im weiteren Verlauf fokussiert dann auch die Kjalnesinga saga auf die Abgrenzung von der heidnischen Religion. Zentral ist in diesem Zusammenhang ein Tempel, den Þorgrímr errichten lässt. [ … ] þat var hundrað fóta langt, en sextugt á breidd; þar skyldu allir menn hoftoll til leggja. Þórr var þar mest tignaðr. Þar var gert af innar kringlótt svá sem húfa væri; þat var allt tjaldat ok gluggat. Þar stóð Þórr í miðju ok önnur goð á tvær hendr. Frammi fyrir Þór stóð stallr með miklum hagleik gerr ok þiljaðr ofan með járni; þar á skyldi vera eldr, sá er aldri skyldi slokkna; þat kölluðu þeir vígðan eld. Á þeim stalli skyldi liggja hringr mikill af silfri gerr; hann skyldi hofgoði hafa á hendi til allra mannfunda; þar at skyldu allir menn eiða sverja um kennslamál öll. Á þeim stalli skyldi ok standa bolli af kopar mikill; þar skyldi í láta blóð þat allt, er af því fé yrði, er Þór var gefit, eðr mönnum; þetta kölluðu þeir hlaut eða hlautbolla. Hlautinu skyldi dreifa yfir menn eða fé, en fé þat, sem þar var gefit til, skyldi hafa til mannfagnaðar, þá er blótveizlur eru hafðar. En mönnum, er þeir blótuðu skyldi steypa ofan í fen þat, er úti var hjá dyrunum; þat kölluðu þeir Blótkeldu. (ÍF XIV: 7) [ … ] der war hundert Fuß lang und sechzig breit; alle Männer sollten dazu eine Tempelsteuer beitragen. Thor wurde dort am meisten verehrt. Weiter innen war es dort so rund gebaut, als ob es eine Haube wäre; alles war mit Teppichen behangen und mit Luken versehen. Dort stand Thor in der Mitte und andere Götter auf beiden Seiten. Vorne vor Thor stand ein Altar, der reich verziert und mit Eisen verkleidet war. Dort sollte ein Feuer sein, das nie erlöschen sollte; das nannten sie das geweihte Feuer. Auf diesem Altar sollte ein großer Ring aus Silber liegen; ihn sollte der Tempelgode bei allen Zusammenkünften tragen. Darauf sollten alle Männer Eide schwören in Angelegenheiten, in denen Beschuldigungen erhoben wurden. Auf diesem Altar sollte auch ein großer Kupferkessel stehen, in diesen sollte all das Blut von Vieh oder Menschen, die Thor geopfert wurden, abgelassen werden; das nannten sie Opferblut und Opferblutkessel. Mit dem Opferblut sollten Menschen oder Vieh besprengt werden, und das Vieh, das dort geopfert wurde, sollte zur Bewirtung dienen, wenn Opferfeste abgehalten wurden. Aber die Menschen, die sie opferten, sollten in den Sumpf hineingeworfen werden, der neben der Tür war; den nannten sie Opfersumpf. Die Schilderung des Tempels ist von der Eyrbyggja saga inspiriert, weicht aber in einigen Details davon ab und scheint zudem von der Darstellung des Kultes in Uppsala in Adam von Bremens Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum beeinflusst zu sein (Böldl 2005: 227). In der Kjalnesinga saga verkörpern der Tempel und der in ihm besonders verehrte Gott Thor das Heidentum. Ihre Vernichtung durch Búi inszeniert diesen als entschiedenen Gegner des heidnischen Glaubens. Strenggenommen handelt es sich in diesem Fall nicht um die Personifizierung eines Gottes innerhalb der Sagahandlung, da kein Gott, sei es als Traumerscheinung oder als handelnde Figur, persönlich auftritt. Der als führender Vertreter einer Gruppe von Göttern namentlich erwähnte Thor tritt nicht körperlich in Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 203 <?page no="204"?> Erscheinung, sondern ist eine Abbildung des Gottes im Tempel. Die Darstellung der Saga verschweigt diesen Sachverhalt jedoch und erweckt in verschiedener Hinsicht den Anschein, es handle sich bei den im Tempel angebeteten Götterfiguren um lebende Personen. Nachdem zunächst die Tempelbeschreibung keinerlei Hinweis auf den Abbildcharakter der Götter gibt, wiederholt sich die implizite Vermenschlichung der Götterabbilder später in der Aussage von König Haraldr „ þú vannt þat níðingsverk, at þú brenndir inni goð vár, er öllum mönnum hæfir at tigna “ (ÍF XIV: 28), 33 als er von Búis Niederbrennen des Tempels Kenntnis erlangt. Sie bezieht sich auf die Götterstatuen nicht als Objekte, sondern als Opfer eines Mordbrands und spricht ihnen damit Lebenskraft zu. 34 Búi löscht diese ebenso aus wie die seiner Anhänger, was die Saga durch die Tötung von Þorgrímrs Sohn Þorsteinn, dem in diesem Zusammenhang eine symbolische Bedeutung zukommt, in Szene setzt: Búi gekk þá inn í hofit; hann sá, at Þorsteinn lá á grúfu fyrir Þór. Búi fór þá hljóðliga, þar til er hann kom at Þorsteini. Hann greip þá til Þorsteins með því móti, at hann tók annarri hendi undir knésbætr honum, en annarri undir herðar honum; með þeim hætti brá hann Þorsteini á lopt ok keyrði höfuð hans niðr við steini svá fast, at heilinn hraut um gólfit. Var hann þegar dauðr. (ÍF XIV: 12) Búi ging dann in den Tempel hinein; er sah, dass Þorsteinn vornüber gebeugt vor Thor lag. Búi ging dann lautlos, bis er zu Þorsteinn kam. Er griff dann so nach Þorsteinn, dass er eine Hand unter dessen Kniekehlen legte und die andere unter die Schultern; auf diese Weise riss er ihn in die Luft und stieß seinen Kopf so heftig nieder auf den Stein, dass das Gehirn auf den Fußboden spritzte. Er war sofort tot. Die Brutalität, die Búi dabei an den Tag legt, wird weniger mit ihm verknüpft als vielmehr mit der heidnischen Religion: Die Tötung von Þorsteinn evoziert die in der Landnámabók geschilderte Praxis des Thorsopfers, von der es heißt „ Ok þar stendr enn Þórssteinn, er þeir brutu þá menn um, er þeir blótuðu “ (ÍF I: 126). 35 Die Zerschmetterung des im Thorstempel Thor anbetenden Þorsteinn (wörtlich „ Thor-Stein “ ) auf einem Stein ironisiert so mit dem Glauben an heidnische Götter verbundene Vorstellungen und Praktiken und charakterisiert das Opfer vor dem Hintergrund der Eyrbyggja saga, in der diese Strafe nur verurteilte Missetäter ereilt (Böldl 2005: 228), zugleich als negativ. Ausgehend von der Tempelbeschreibung in Kap. 2 landet Þorsteinns Leiche anschließend im Opfersumpf, bevor Búi das Ende des Heidentums in dreifacher Hinsicht versinnbildlicht: Er brennt den Tempel nieder, wozu er sich des geweihten Feuers bedient, das Heidentum also mit seinen eigenen Mitteln schlägt, schließt ihn ab und wirft anschließend auch die Schlüssel in das Feuer. 36 33 du hast die Schandtat vollbracht, unsere Götter, die zu ehren es sich für alle Menschen ziemt, im Tempel zu verbrennen 34 Vgl. s. v. „ brenna inni “ in ONP die Übersetzung „ be burned to death inside a building “ und die angeführten Belegstellen in den Íslendingasögur, die sich sämtlich auf Mordbrände beziehen. 35 Und dort steht noch immer der Thorsstein, auf dem sie den Männern, die sie opferten, den Rücken brachen. 36 Von diesem geweihten Feuer berichtet die Saga im Zusammenhang mit der Tempelbeschreibung und der Schilderung des Altars, wie oben zitiert, dass Búi es zuerst entzünden muss. Dies kann als weitere Ironisierung des heidnischen Glaubens und zudem als Verweis auf die Überlegenheit des Christentums verstanden werden, hatte sich doch im späten Mittelalter der Brauch, vor dem Tabernakel das immerwährende ‚ Ewige Licht ‘ zu unterhalten, den Belegen nach zu urteilen, allgemein durchgesetzt (s. v. „ Ewiges Licht (christlich) “ in: RKD 6: 604). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 204 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="205"?> [ … ] síðan sneri hann inn aptr í hofit. Hann tók þá eldinn þann inn vígða ok tendraði; síðan bar hann login um hofit ok brá í tjöldin; las þar brátt hvat af öðru; logaði nú hofit innan á lítilli stundu. Búi sneri þá út ok læsti bæði hofinu ok garðinum ok fleygði luklunum í logann. (ÍF XIV: 12 - 13) [ … ] dann kehrte er wieder in den Tempel zurück. Er nahm dann das geweihte Feuer und zündete es an: dann trug er die Flamme durch den Tempel und schwang sie in die Teppiche, sie ergriff schnell einen nach dem anderen; in kurzer Zeit brannte der Tempel von innen. Búi ging nach draußen und schloss sowohl den Tempel als auch die Umzäunung ab und warf die Schlüssel ins Feuer. Die Ablehnung und negative Bewertung des Glaubens an Thor ist in der Kjalnesinga saga eindeutig, allerdings stellt die Saga wie auch die Bárðar saga keinen klaren Gegensatz zwischen vorchristlichem und christlichem Glauben dar. Vielmehr unterscheidet auch sie zwischen der Anbetung heidnischer Götter einerseits und einem ebenfalls vorchristlichen Glauben anderseits, der sich auf in der isländischen Natur lebende übernatürliche Wesen richtet und auch magische Elemente beinhaltet, aber in der Saga als mit einer christlichen Gesinnung kompatibel dargestellt wird. Sichtbar gemacht wird letzterer vor allem durch die Figur von Búis Ziehmutter Esja, die wie Búis Vater Andríðr zu den christlichen Siedlern aus Irland gehört, zugleich jedoch auch mit altem Glauben und alten Sitten konnotiert wird: „ Allir þessir menn váru kallaðir skírðir, en þó var þat margra manna mál, at Esja væri forn í brögðum. “ (ÍF XIV: 5) 37 Bereits zuvor wird diese Verbindung von Christentum und altem Glauben in der Gestalt Esjas angedeutet. Der auch aus der Landnámabók (ÍF I: 52 - 55) bekannte und dort ebenfalls als Christ bezeichnete Örlygr übergibt sein Land Esja: „ [ … ] með því at Örlygr var gamall ok barnlauss, þá gaf hann upp land ok bú ok tók Esja við “ (ÍF XIV: 5). 38 Anders als in der Landnámabók, der die Figur der Esja unbekannt ist, wird Örlygrs Land in der Kjalnesinga saga nicht als „ Esjuberg “ bezeichnet und die von ihm gebaute Kirche zwar wiederholt erwähnt, jedoch erst ganz am Ende mit dieser topographischen Bezeichnung verbunden. Vielmehr wird hier die Bezeichnung „ Esjuberg “ nur mit Esja verknüpft, von der es in der Saga heißt „ settist hon þá at Esjubergi “ (ÍF XIV: 5). 39 Hier klingt eine Verbindung des Bergs Esja mit einer gleichnamigen Bewohnerin an, die an den Schutzgeist Bárðr Snæfellsáss in der Bárðar saga gemahnt, was durch die im weiteren Verlauf der Saga zu findenden Charakteristika Esjas unterstrichen wird. 40 Esja ist Teil der menschlichen Gesellschaft, hat jedoch auch ein Leben außerhalb dieser, wie die Saga bildlich darstellt, als Búi nach einem Totschlag ihrer Hilfe bedarf und sie ihm als Versteck eine Höhle zuweist: Sneru þau þá fyrir ofan garð með fjallinu ok þar yfir ána, ok síðan gengu þau einstigi upp í fjallit ok til gnípu þeirar, er heitir Laugargnípa; þar varð fyrir þeim hellir fagr. Var þat gott herbergi. Þar var undir niðri fögr jarðlaug. Í hellinum váru vistir ok drykkr ok klæði. (ÍF XIV: 13 - 14) Dann gingen sie oberhalb des Hofs am Berg entlang und dort über den Fluss, und dann den schmalen Pfad den Berg hinauf und zu der Bergspitze, die Laugargnípa heißt; dort lag eine 37 Alle diese Leute wurden als getauft bezeichnet, aber dennoch sagten viele, dass Esja sich nach alter Sitte verhielte. 38 [ … ] weil Örlygr alt und kinderlos war, gab er Land und Hof auf und Esja übernahm sie. 39 sie ließ sich dann in Esjuberg nieder 40 Man vergleiche in diesem Zusammenhang auch die erwähnte Klassifizierung der Kjalnesinga saga als (land-)vættasaga durch die frühe Forschung (siehe Kap. 3.4.1). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 205 <?page no="206"?> schöne Höhle vor ihnen. Das war eine gute Unterkunft. Unterhalb war dort eine schöne befestigte warme Quelle. In der Höhle waren Speisen und Getränke und Bettzeug. Die Höhle, der typische Wohnort übernatürlicher Wesen, ist weitab menschlicher Siedlungen in der Natur angesiedelt, ein Fluss, der überquert werden muss, markiert die Grenze zwischen der Gesellschaft und Esjas ‚ Zweitwohnsitz ‘ , den sie Búi als Versteck zuweist. Esjas zweite Natur ist entsprechend die eines nicht-menschlichen, in der Natur verorteten Wesens, wie ein Gegner Búis vor einer Auseinandersetzung mit der Bezeichnung tröll (Troll) auch explizit zum Ausdruck bringt: „‚ Vel er þat, Búi, at vér höfum hér mætzt; mun nú eigi hlífa hellir Esju tröllsins sem næst. ‘“ (ÍF XIV: 38) 41 Auch die Bezeichnung von Esjas Wohnort „ at Esjubergi “ , was sowohl ‚ am ‘ als auch ‚ im ‘ ‚ Felsen der Esja ‘ bedeuten kann, sowie nicht zuletzt ihre übernatürlichen Fähigkeiten verorten Esja nicht eindeutig in der Sphäre der Menschen, sondern verbinden auch sie mit einem orbis alius. Die mit Esja verknüpften Zauberkünste und vor allem ihre Schutzfunktion spielen eine wesentliche Rolle im Verlauf der Saga und werden von dieser auch immer wieder betont und inszeniert. Sie wird als „ margkunnendi “ (ÍF XIV: 21; zauberkundig) bezeichnet und übt ihre Schutzfunktion gegenüber Búi in verschiedener Hinsicht aus. Vor seinem Holmgang rüstet sie ihn mit diversen Gegenständen aus, darunter ein Zauberhemd. 42 [ … ] „ nú vil ek, at þú breytir búnaði þínum; hefi ek hér nú loðkápu, er ek vil at þú berir; skyrta er hér annat klæði; þat þyki mér líkara, at hon slitni ekki skjótt, hvárki fyrir vápnum né fyrnsku; sax er hér hinn þriði gripr; þess væntir mik, at þat nemi hvergi í höggi stað, því at þú munt nú skjótt verða at reyna, hversu þér bíta vápnin. “ (ÍF XIV: 21) [ … ] „ nun will ich, dass du deine Ausrüstung wechselst, ich habe hier nun einen Lodenmantel, von dem ich will, dass du ihn trägst; ein zweites Kleidungsstück ist das Hemd hier; es erscheint mir wahrscheinlicher, dass es nicht schnell zerreißt, weder durch Waffen noch durch Zauberkunst; der dritte wertvolle Gegenstand ist das Schwert hier; von dem erhoffe ich mir, dass es glatt durchhaut, denn du wirst nun schnell erfahren, wie die Waffen schneiden. “ Auch einen Schutzzauber vollzieht sie vor diesem Kampf an ihm: „ Hon gerði honum þá laug ok strauk hvert bein á honum. “ (ÍF XIV: 22) 43 Mittels Zauber schützt sie ihn auch vor einer unbedachten Erwiderung der Beleidigung durch seinen Widersacher Kolfiðr, die seine Geliebte Ólof nicht verhindern kann: Ólof kvað óráðligt út at ganga við þann liðsmun, sem vera mundi. Búi kveðst eigi þat hirða. Ok er Búi var vápnaðr, þá laust þeim verk í augu hans bæði, at hann varð þar báðum höndum til at grípa. Ólof spurði, hvat honum væri. Búi kvað þá mundu seinkast um útgönguna - „ get ek, “ sagði hann, „ at fóstra mín hlutist nú til. “ Ólof kvað þat vel vera. Þá er Kolfiðr þóttist vita, at ekki mundi verða útgangan Búa, sneri hann þá á braut ok hans menn; létti hann þá eigi fyrr en hann kom heim ok undi illa við sína ferð. Þegar er Kolfiðr sneri braut frá einstiginu, bætist Búa augnaverkjarins. (ÍF XIV: 25) 41 Es ist gut, Búi, dass wir uns hier getroffen haben; nun wird dich die Höhle des Trolls Esja nicht wie neulich schützen. 42 Zauberhemden zählen zu den typischen magischen Gegenständen, die in den Íslendingasögur erscheinen, was nicht auf ‚ postklassische ‘ Vertreter begrenzt ist. Als Motiv lässt sich das Zauberhemd in der altnordischen Literatur bis in das 12. Jh. zurückführen (Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2009: 431). 43 Sie macht ihm dann ein warmes Bad und strich jeden seiner Knochen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 206 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="207"?> Ólof sprach, es sei nicht ratsam hinauszugehen in Anbetracht der zu erwartenden zahlenmäßigen Unterlegenheit. Búi sagt, dass ihn das nicht kümmert. Und als Búi bewaffnet war, begannen seine Augen beide zu schmerzen, so dass er mit beiden Händen danach greifen musste. Ólof fragte, was mit ihm wäre. Búi sprach dann, das Hinausgehen würde sich verzögern - „ ich vermute “ , sagte er, „ dass meine Ziehmutter sich nun einmischt. “ Ólof sprach, dass das gut sei. Als Kolfiðr zu wissen glaubte, dass Búi nicht herauskommen würde, wendete er sich mit seinen Männern ab; er machte nicht eher halt, bis er nach Hause kam und war unzufrieden mit seiner Tour. Als Kolfiðr sich vom zur Höhle führenden Pfad abwandte, besserten sich Búis Augenschmerzen. Diese Schutzfunktion charakterisiert im Wesentlichen Esjas Rolle in der Kjalnesinga saga, die in Búis weiteren Kämpfen jeweils ausdrücklich auf den Beistand und Schutz verweist, über den er dabei durch Esja verfügt. Den Angriff durch die Neffen seines Widersachers Þorgrímr vor seiner Abfahrt aus Island (Kap. 11) übersteht er nicht zuletzt dank der Waffen und des schützenden Hemdes, die er von Esja erhält: „ [H]ann hafði öll góð vápn ok skyrtu þá, er fóstra hans hafði gefit honum. “ (ÍF XIV: 26) 44 Auch im Kampf gegen den blámaðr des Königs, den Búi siegreich beendet (Kap. 15), wird eingangs das von Esja gefertigte Hemd hervorgehoben: „ Hann fór í skyrtu sína, þá er Esja hafði gefit honum ok fyrr gátum vér; “ (ÍF XIV: 36) 45 Im Kampf selbst wird die Bedeutung des Hemdes für Búis Sicherheit noch einmal verdeutlicht: „ Skildi Búi þat, at hann tók svá, at bein hans mundu brotna, ef eigi hlífði honum klæðin. “ (ÍF XIV: 36) 46 Auch die Auseinandersetzung mit seinem alten Widersacher Kolfiðr nach Búis Rückkehr nach Island (Kap. 16) unterstreicht die Bedeutung des Hemdes für Búis Leben und seinen Erfolg. Erneut wird eingangs auf das von Esja gefertigte Zauberhemd verwiesen „ hann var í skyrtu sinni Esjunaut “ (ÍF XIV: 38; er trug sein Hemd Esjunaut), das sich im Kampf dann als höchst potenter Schutz erweist: Þá veittu þeir honum atsókn, en hann varðist prúðliga. Kolfiðr eggjaði sína menn, en hlífðist sjálfr við, því at hann ætlaði sér afburð; en þeim var Búi torsóttr, því at þótt þeir kæmi höggum eða lögum á hann, þá varð hann ekki sár, þar er skyrtan tók; en hverr sem hann kom höggum á, þá þurfti eigi um at binda. Var þá svá komit, at sex menn váru látnir af Kolfinni, en hinir allir sárir. Búi var sárr á fæti. (ÍF XIV: 39) Sie griffen ihn an, aber er wehrte sich mannhaft. Kolfiðr stachelte seine Männer an, hielt sich aber selber zurück, da er sich Überlegenheit verschaffen wollte; Búi war schwer zu überwinden, denn obwohl sie ihn mit Hieben oder Stößen trafen, wurde er nicht verwundet, wo ihn das Hemd schützte; aber jeder, den seine Hiebe trafen, musste nicht verbunden werden. Es war dann so gekommen, dass sechs von Kolfiðrs Männern tot waren, die anderen alle verwundet. Búi war am Fuß verletzt. Auch nach Búis Sieg über Kolfiðr wird explizit nochmals auf die Schutzfunktion des Hemdes verwiesen: Búi ist an Händen und Füßen verletzt, „ þar sem eigi hafði skyrtan hlíft “ (ÍF XIV: 39; dort wo ihn das Hemd nicht geschützt hatte). Das Hemd ist in der Kjalnesinga saga so die zentrale Vergegenständlichung von Esjas übernatürlichen Kräften. Wie Jóhanna Katrín Friðriksdóttir (2009: 431) anmerkt, spielt Esja eine derart bedeutende Rolle in der Erzählung, dass diese allein als die der hilfreichen Ziehmutter nicht 44 Er hatte all die guten Waffen und das Hemd, das ihm seine Ziehmutter gegeben hatte. 45 Er zog das Hemd an, das Esja ihm gegeben hatte und das wir vorher erwähnten. 46 Búi verstand, dass er so angriff, dass seine Knochen brechen würden, wenn ihn die Kleidung nicht schützte. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 207 <?page no="208"?> befriedigend zu erklären ist. 47 Vielmehr weist die Kjalnesinga saga auch Esja medial eine zentrale Funktion bei der Vergegenwärtigung der Vergangenheit zu. 48 Wie Bárðr ist auch sie eine Verkörperung des isländischen Volksglaubens mit vorchristlichen Wurzeln, der auf diese Weise in die fundierende Vergangenheit der Isländer integriert wird. Während die Kjalnesinga saga den Glauben an Schutzgötter wie die Bárðar saga mittels der Vernichtung personifizierter heidnischer Götter vom Heidentum abgrenzt, vollzieht sie die Integration von Elementen vorchristlichen Glaubens auf eine andere Weise als diese. Bárðr wird als historische Figur präsentiert, die sich aufgrund nicht-menschlicher Anteile nicht mehr in die Gesellschaft fügt, sich aus dieser zurückzieht und die Funktion eines Schutzgeistes übernimmt. Die Kjalnesinga saga dagegen verschmilzt die Schutzgeistfunktion mit einer als historisch präsentierten, christlich konnotierten Figur, die nicht explizit als nichtmenschlich bezeichnet wird, aber wesentliche Züge mit übernatürlichen Daseinsformen teilt. Esja verkörpert auf diese Weise auch das weibliche Prinzip der vorchristlichen isländischen Gesellschaft und deren enge Verbindung zur Natur. Als Schutzgeist in menschlicher Gestalt rettet sie Búi nicht nur in diversen Zusammenhängen das Leben, sondern nimmt auch die Mutterrolle für ihn ein. Als Ziehmutter Búis liegt seine Entwicklung in ihren Händen, entsprechend personifiziert sie das vorchristliche Fundament der isländischen Gesellschaft, das durch sie zugleich in einen christlichen Zusammenhang gebracht wird. Diese Funktion Esjas ermöglicht der Saga mittels Personifikation durch ihren Protagonisten Búi nicht nur die Integration des irisch-christlichen Elements in die isländische Besiedelungsgeschichte abzubilden, sondern auch eine weitere Facette der isländischen Identität bildlich darzustellen: Die spezifisch isländische Ausprägung einer vorchristlichen Vorzeit, die bereits christlich beeinflusst ist, zugleich aber auch auf nichtchristlichen Vorstellungen gründet, womit das christliche Island seine vorchristlichen Wurzeln nicht kappt, sondern würdigt und integriert. Als Nachfahre eines christlichen Siedlers ist Búi christlich gekennzeichnet und seine Ablehnung der heidnischen Götter zeichnet ihn als Gegner des Heidentums aus, sein Leben jedoch gründet auf vorchristlichen Glaubensvorstellungen. Er personifiziert so das Selbstverständnis des mittelalterlichen Island, das seine nicht-christlichen Ursprünge in die Selbstbeschreibungen integriert, indem es diesen die eindeutig pagane Konnotierung entzieht oder nicht-christliche Elemente in einen christlichen Kontext stellt und zudem die christlichen Aspekte in den Fokus rückt. Diese Verbindung von nicht-christlichen und christlichen Elementen in der isländischen Geschichte verkörpert Búi auch dadurch, dass es ihm gelingt, den riesischen König Dofri aufzusuchen, wie von König Haraldr inn hárfagri als Wiedergutmachung für das Niederbrennen des Tempels gefordert. Indem die Saga betont, dass es sonst nur Haraldr 47 Frauen, die Magie ausüben, nehmen in den Íslendingasögur unterschiedliche Funktionen ein. In den spätmittelalterlichen Werken treten sie, wie Jóhanna Katrín Friðriksdóttir (2009: 431) weiter vermerkt, in der Regel wie in den Fornaldarsögur oder mündlichen Erzählungen stereotypisch als hilfreiche Ziehmutter des Helden oder als seine übelwollende Widersacherin in Erscheinung, was im Vergleich auf die Bedeutsamkeit der umfangreichen und individuell gestalteten Rolle Esjas in der Kjalnesinga saga verweist. 48 Etliche Handschriften reflektieren diese Bedeutsamkeit Esjas sowohl für Búi als auch die Saga, indem sie diese als „ Saga af Búa Esjufóstra “ (Saga von Búi, dem Ziehsohn der Esja) bezeichnen, so ÍB 45 4to (Ende 17. Jh.), AM 163 n fol. (2. Hälfte 17. Jh.), ÍB 45 fol. (Mitte 18. Jh.), Lbs 513 4to (Mitte 18. Jh.), AM 928 4to (2. Hälfte 18. Jh.). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 208 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="209"?> persönlich gelingt, Dofri aufzusuchen, wird Búi in der Tradition klassischer Íslendingasaga- Helden dem norwegischen König ebenbürtig dargestellt, 49 mit dem er zudem den Status als fóstri eines Wesens mit übernatürlichen Fähigkeiten gemeinsam hat. Haraldr inn hárfagri steht als Reichseiniger in der Sagaliteratur am Anfang der historischen Vergangenheit Norwegens, womit diese Gleichsetzung auch auf Búis Funktion, die Anfänge der isländischen Geschichte zu verdeutlichen, verweist. Zugleich wird Búi auf diese Weise äußert positiv bewertet, was zunächst von Rauðr, der ihm den Weg zu Dofri weist, zum Ausdruck gebracht wird: „ Marga menn hefir konungr sent þessa örindis, ok hefir engi aptr komit, ok auðsýnt er mér, at konungr vill þik feigan; en öngra manna veit ek þeira ván, at viti, hvar Dofri ræðr fyrir, nema Haraldr konungr. “ (ÍF XIV: 29) „ Schon viele Männer hat der König mit diesem Auftrag geschickt, und keiner ist zurückgekehrt, und es ist mir leicht zu erkennen, dass der König deinen Tod will; aber ich weiß von keinen Menschen, die zu wissen glauben, wo Dofri herrscht, außer König Haraldr. “ Unterstrichen wird dies dann im weiteren Verlauf durch Dofri selbst: „ Fáir koma slíkir [= menn] ór Mannheimum nema Haraldr konungr, fóstri minn; hann er langt fyrir alla; “ (ÍF XIV: 32). 50 Als Bindeglied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen tritt Búi dann in Erscheinung, indem er ein sexuelles Verhältnis mit Fríðr, der Tochter Dofris, die ihn auch mit ihrem Vater bekannt macht, eingeht: Fríðr gekk þá á braut ok var á brutt um hríð. Búi fagnaði henni vel, er hon kom aptr, ok spurði, hvat þau faðir hennar hefði við talazt. Hon kveðst hafa sagt honum, at skeggbarn eitt lítit væri komit; hann lézt vilja sjá þat; - „ ek sagða, at þat varð at hvílast í nótt. Skaltu nú hér sofa í nótt í mínu herbergi. “ Hann lét sér þat vel líka. Skemmtu þau sér þar um kveldit. (ÍF XIV: 30 - 31) Fríðr ging dann für eine Weile weg. Búi freute sich, als sie zurückkam, und fragte, was sie mit ihrem Vater gesprochen habe. Sie sagte, sie habe ihm gesagt, dass ein kleines Bartkind gekommen sei; er habe geantwortet, dass er dieses sehen wolle; - „ ich sagte, dass es sich die Nacht über ausruhen müsse. Nun sollst du heute Nacht in meinem Zimmer schlafen. “ Er antwortete, dass ihm dies sehr gefiele. Sie vergnügten sich dort den Abend über. Zum Vermittler zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen wird Búi dadurch, dass ihm gelingt, das von König Haraldr geforderte Schachspiel tatsächlich von Dofri zu erlangen, was der König anerkennend feststellt: „‚ Þú ert mikill maðr fyrir þér, Búi, ‘ sagði konungr, ‚ hefir þú sannar jartegnir, at þú hefir Dofra fundit; þetta tafl hefir hann aldri viljat fyrir mér laust láta; [ … ] ‘“ (ÍF XIV: 35) 51 Seine Zwischenstellung zwischen Heidentum und Christentum bringt die Saga schließlich auch dadurch zum Ausdruck, dass Búi von seinem christlichen Vater einem heidnischen Taufritual unterzogen wird - „ var vatni ausinn ok 49 Wie in anderen postklassischen ‘ Íslendingasögur wird auch in der Kjalnesinga saga der in der altisländischen Literatur öfter formulierte „ Anspruch auf Ebenbürtigkeit des adlig denkenden und handelnden isländischen Großbauernsohns mit dem hochmittelalterlichen Adel Skandinaviens und des Kontinents “ , von Weber (1981: 482) als tign-Motiv bezeichnet, mit der Irreligiosität des Protagonisten verbunden (dazu Weber 1981: 482 - 484). 50 Wenig solche [= Menschen] kommen aus der Menschenwelt außer König Haraldr, mein Ziehsohn. Er überragt alle. 51 „ Du bist ein bedeutender Mann, Búi, “ sagte der König, „ du hast wahre Beweise, dass du Dofri getroffen hast; dieses Schachspiel wollte er nie für mich aus den Händen geben. [ … ] “ Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 209 <?page no="210"?> kallaðr Búi “ (ÍF XIV: 9; er wurde mit Wasser besprengt und Búi genannt), 52 am Ende jedoch als getaufter Mann bezeichnet und in geweihter Erde begraben wird: „ en með því at Búi var skírðr maðr, en blótaði aldri, þá lét Helga húsfreyja grafa hann undir kirkjuveggnum inum syðra ok leggja ekki fémætt hjá honum nema vápn hans “ (ÍF XIV: 43). 53 Die Grabbeigaben vergegenständlichen dabei zum Abschluss auch nochmals die Charakterisierung Búis in der Erzählung: Die Waffen kennzeichnen ihn als Vertreter des heroischen Zeitalters der Isländer, der sich, wie der Verzicht auf andere wertvolle Beigaben zum Ausdruck bringt, von heidnischen Sitten distanziert. Als Bindeglied zwischen Heidentum und Christentum verkörpert Búi schließlich auch die mit dem Glaubenswechsel verbundenen Ambivalenzen. Anders als Gestr, der sterben muss, weil das Christentum die heidnische Zeit beendet, findet Búi den Tod, weil er nicht bereit ist einzugestehen, dass auch die nicht-christlich konnotierte Vorzeit in der Gegenwart weiterwirkt. Der Botengang zum riesischen König Dofri, der ihm von König Haraldr auferlegt wird, ist eine Wiedergutmachung für das Niederbrennen das Tempels und damit auch die Ablehnung der vorchristlichen Vergangenheit, deren Problematik die Saga dann besonders mit ihrem Ende thematisiert. Aus der Verbindung Búis mit Fríðr, der Tochter Dofris, ist ein Sohn hervorgegangen, der Búi aufsucht, um dessen Anerkennung zu erlangen: Jökull mælti: „ Mér er sagt, at þú sér faðir minn; en Fríðr er móðir mín, dóttir Dofra konungs. “ Búi segir: „ Ólíklig sögn er, at þú sér minn son, því at mér þætti ván, at sá mundi vera gildr maðr, er undir okkur ælist, en mér sýnist þú heldr auðþrifligr. “ Jökull mælti: „ Ek hefi enn ekki marga vetr á baki; en móðir mín bað mik þat segja þér til jartegna, at hon kveðst hafa sagt þér, at þú mundir kenna á þínum hlut, ef þú tækir eigi vel við frændsemi minni. “ Búi segir: „ Ekki hirði ek um sögur þínar, þykja mér þær ómerkiligar; vil ek, at við tökum fang, því at þú ert ekki okkarr son, ef engi máttr er í þér. “ (ÍF XIV: 42) Jökull sprach: „ Mir wurde gesagt, dass du mein Vater seist; und Friðr, die Tochter König Dofris, ist meine Mutter. “ Búi sagt: „ Es ist eine unwahrscheinliche Aussage, dass du mein Sohn bist, denn ich würde erwarten, dass der ein tüchtiger Mann sein müsse, der von uns abstammte, aber du erscheinst mir eher schwächlich. “ Jökull sprach: „ Ich habe noch nicht viele Winter auf dem Buckel; aber meine Mutter bat mich, dir zum Beweis zu sagen, dass sie dir gesagt habe, dass es sich dir an deinem Schicksal zeigen wird, wenn du unsere Verwandtschaft nicht gut annimmst. “ Búi sagt: „ Ich kümmere mich nicht um deine Geschichten. Sie erscheinen mir unzutreffend; ich will, dass wir einen Ringkampf führen, denn du bist nicht unser Sohn, wenn keine Kraft in dir ist. “ Trotz Einwänden von Seiten Jökulls kommt es zur Konfrontation, die die Saga wie zuvor Esjas nicht-menschliche Seite in der Natur lokalisiert und durch die schöne Umgebung zugleich positiv konnotiert: „ Þeir Búi gengu þá austr undir fjallit til laugar; þar váru vellir fagrir. “ (ÍF XIV: 42) 54 Medial verweist die Kjalnesinga saga bereits durch die Assoziierung Búis mit Cú Chulainn auf einen Vater-Sohn-Konflikt mit tödlichem Ausgang, gestaltet diesen jedoch abweichend. Während Cú Chulainn in seinem Gegner erst dann seinen Sohn 52 Die Terminologie kennzeichnet das Ritual eindeutig als heidnische Wasserweihe, für die ausa vatni in der altisländischen Literatur „ fast als ein Terminus technicus “ erscheint, wohingegen die christliche Taufe mit skíra bezeichnet wird (RGA 33: 309). 53 und weil Búi ein getaufter Mann war und nie opferte, da ließ seine Ehefrau Helga ihn an der südlichen Kirchenmauer begraben und keine Wertgegenstände zu ihm legen außer seinen Waffen 54 Búi und Jökull gingen ostwärts unterhalb des Berges zu einer Quelle. Dort waren schöne Wiesen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 210 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="211"?> erkennt, als es zu spät ist, weil er ihn bereits tödlich verwundet hat, verweigert Búi seinem Sohn Jökull die Anerkennung, um die dieser bittet: Jökull mælti: „ Þreytum þetta ekki meir, ok tak við frændsemi minni. “ „ Nei, “ kvað Búi, „ falla skal annarr hvárr okkarr. “ Jökull mælti: „ Eigi mun þá betr. “ Eptir þat réðust þeir á í annat sinn, váru þá allmiklar sviptingar; var þá við sjálft búit, at Jökull mundi falla, ok í því var sem kippt væri báðum fótum senn undan Búa, ok féll hann áfram, ok þar varð við brestr hár ok mikill. Búi mælti: „ Fellt mun nú til hlítar, ok mátti móðir þín eigi hlutlaust láta vera. “ Þá hlupu at aðrir menn, ok sá þar vegsummerki, at bringspelirnir váru í sundr í Búa, ok hafði orðit undir steinn. Búi mælti þá til Jökuls: „ Ekki hefir nú orðit erindi þitt hingat hagfellt, því at þú hefðir verit mannsefni, enda mun nú skömm saga frá mér ganga. “ Eptir þat var Búi borinn heim á rauðum skildi ok lifði þrjár nætr ok andaðist síðan. (ÍF XIV: 43) Jökull sprach: „ Lass uns darüber nicht länger streiten und erkenne mich als Verwandten an. “ „ Nein, “ erklärte Búi, „ einer von uns beiden soll fallen. “ Jökull sprach: „ Dann wird es nicht besser werden. “ Danach gingen sie zum zweiten Mal aufeinander los, es gab ein heftiges Ringen; es fehlte dann nicht viel, dass Jökull gefallen wäre, und in diesem Moment war es, als ob Búis Beine beide plötzlich weggezogen würden, und er fiel vornüber, und dabei ertönte ein hartes und lautes Krachen. Búi sprach: „ Gefallen wird nun zur Genüge sein, und deine Mutter mag daran nicht unbeteiligt gewesen sein. “ Da kamen andere Männer dazu und sahen dort die Spuren des Geschehenen, dass die Rippen Búis gebrochen waren, und es war ein Stein darunter gewesen. Dann sprach Búi zu Jökull: „ Dein Vorhaben hier ist nicht geglückt, denn du hättest zu einem Mann getaugt, und so wird nun wenig von mir zu berichten sein. “ Danach wurde Búi auf einem roten Schild nach Hause getragen und lebte noch drei Nächte und starb dann. Anders als in der irischen Erzählung und auch in den im Germanischen überlieferten Vater-Sohn-Konflikten stirbt mit Búi in der Kjalnesinga saga der Vater. 55 Er wird jedoch nicht von seinem Sohn getötet, sondern findet den Tod, weil dessen nicht-menschliche Mutter auf übernatürliche Weise eingreift. Medial stellt die Saga so mit dem Tod ihres Island personifizierenden Protagonisten das ambivalente Verhältnis der isländischen Gesellschaft gegenüber der eigenen heidnischen Vergangenheit dar: Einerseits ist diese, wie von Búi zum Ausdruck gebracht, unvereinbar mit der Gegenwart, andererseits stellt sie das Fundament der isländischen Gesellschaft dar, dessen Leugnung, wie von Búi verkörpert, destruktive Folgen hat, weil ihr ohne dieses der Boden entzogen wird. Búis Tod zeigt so ein bei Negierung wesentlicher identitätsstiftender Merkmale drohendes Schicksal auf. Wie der von ihm getötete Þorsteinn im Tempel wird auch Búi auf einem Stein zerschmettert und stirbt damit einen heidnischen Opfertod, der das Überleben Jökulls, des blendingr, in dem die nicht-christliche Seite der isländischen Vergangenheit weiterlebt, ermöglicht. Der weitere Handlungsverlauf konnotiert den Einfluss paganer Elemente dann allerdings wieder negativ und macht deutlich, dass sieim weiteren Verlauf der isländischen Geschichte keine Rolle spielen: „ Jökli þótti verk sitt svá illt, at hann reið þegar í brutt ok til 55 In den zahlreichen in der Weltliteratur dargestellten Vater-Sohn-Konflikten (dazu Busse 1901) ist der Tod des Vaters eine Ausnahme, die ansonsten nur in der altgriechischen Literatur - in der Ödipus- Erzählung sowie in einer Variante von Odysseus ʼ Tod - zu finden ist. Im tragischen Typus, den neben der im Ulster-Zyklus überlieferten Erzählung vom Tod Cú Chulainns (Aided Oenfir Aífe; der Tod von Aífes einzigem Sohn) auch das althochdeutsche Hildebrandslied (dessen nicht erhaltenes Ende dank der Ásmundar saga kappabana erschlossen werden kann) repräsentiert, tötet jeweils der Vater den Sohn. Im versöhnlichen Typus, vertreten u. a. vom Jüngeren Hildebrandslied und der Áns saga bógsveigis, dagegen erkennen sich die beiden und legen den Konflikt schließlich bei. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 211 <?page no="212"?> skips, er búit var suðr á Eyrarbakka, ok fór þar utan um sumarit; en síðan höfum vér önga sögu heyrt frá honum. “ (ÍF XIV: 43) 56 Die Kjalnesinga saga macht so durch ihren Protagonisten Búi nicht nur die Integration des irischen Elements in die frühe isländische Gesellschaft sichtbar, sondern auch die Abgrenzung von der paganen Vorzeit bei gleichzeitiger Integration dieser in das isländische Selbstverständnis des Spätmittelalters, indem sie eine Distanzierung vom heidnischen Götterglauben darstellt und den an die isländische Natur geknüpften Schutzgeistglauben zugleich christianisiert. Sie schafft damit eine spezifisch isländische Vorzeit, die durch die Verschmelzung zweier Gegenpole gekennzeichnet ist, wie nicht nur mittels der Figur Esjas zum Ausdruck gebracht wird. Auch Búi selbst verkörpert vor seinem Tod die Akzeptanz der heidnischen Vergangenheit und die Verbindung mit ihr, was von der Saga als weise Entscheidung präsentiert wird: „ [V]itrir menn ok góðgjarnir “ (ÍF XIV: 41; weise und friedliebende Menschen) vermitteln zwischen Búi und seinem alten Widersacher, dem Goden Þorgrímr, und „ undir dóm inna beztu manna “ (ÍF XIV: 41; durch das Urteil der besten Männer) kommt es zu einem Vergleich, der mittels verschiedener Verheiratungen bekräftigt wird. Búi profitiert sehr von dieser Verbindung, auch nach dem Tod Þorgrímrs: [ … ] höfðu þeir þat upphaf at þessum málum ok sættum, at Búi skyldi fá Helgu Þorgrímsdóttur; en fégjöld þau, sem dæmdust á Búa, skyldi vera heimanfylgja Helgu; sá þeir þat, sem var, at þau Búi áttu hvern pening eptir hans [Þorgríms] dag. (ÍF XIV: 41) [ … ] sie begannen ihre Verhandlungen und Vergleiche damit, dass Búi Helga Þorgrímsdóttir bekommen sollte; und die Geldbußen, zu denen sie Búi verurteilt hatten, sollten Helgas Mitgift sein; sie sahen, wie es war, dass Búi und Helga nach dem Tod Þorgrímrs jeden Pfenning hatten. Esja hinterlässt ihr Vermögen nach ihrem Tod ebenfalls Búi, den die Verbindung mit nicht-christlich konnotierten Vertretern der isländischen Frühzeit damit doppelt bereichert: „ [H]on gaf allt fé sitt Búa ok Þuríði, dóttur hans. “ (ÍF XIV: 41) 57 In persona versinnbildlicht Búi so nach der Integration des irischen Elements in die frühe isländische Gesellschaft, der Ablehnung des heidnischen Glaubens und der Ambivalenz gegenüber der heidnischen Vergangenheit schließlich auch die gewinnbringende Versöhnung der isländischen Gesellschaft mit ihren heidnischen Wurzeln, die von der Saga als Schlichtung eines virulenten Konflikts dargestellt wird: „ Tókst nú vinátta með þeim Þorgrími goða með mægðum; “ (ÍF XIV: 41). 58 Búis Funktion als Verkörperung Islands entsprechend, endet die Saga mit dem Verweis auf seine Rolle als Stammvater eines angesehenen Geschlechts: „ Frá Búa Andríðssyni er komin mikil ætt; ok lúku vér þar Kjalnesinga sögu. “ (ÍF XIV: 44) 59 56 Jökull erschien seine Tat so übel, dass er danach davon und zu einem Schiff ritt, das fertig zur Fahrt in Eyrarbakki im Süden lag, und fuhr dort im Sommer außer Landes; und seither haben wir keine Geschichte von ihm gehört. 57 sie gab ihr ganzes Vermögen Búi und Þuríðr, seiner Tochter 58 Nun begann eine große Freundschaft zwischen dem Goden Þorgrímr und Búi sowie Esja 59 Von Búi Andríðssohn stammt ein großes Geschlecht ab; und hier schließen wir die Saga von den Leuten auf Kjalarnes. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 212 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="213"?> 5.1.3 Distanzierung vom Heidentum in Flóamanna saga und Harðar saga Während Bárðar saga und Kjalnesinga saga sowohl bestrebt sind, vorchristliche Elemente in die fundierende Vergangenheit der Isländer zu integrieren, als auch diese von einem negativ konnotierten Heidentum abzugrenzen, das vom Glauben an die bekannten germanischen Götter repräsentiert wird, konzentriert sich die Flóamanna saga auf die Abgrenzung des christlichen Island vom heidnischen Glauben. 60 Um diese bildlich darzustellen, bedient jedoch auch sie sich der Personifikation eines heidnischen Gottes. Thor tritt zwar nicht ausdrücklich als Handelnder auf, sondern nimmt im Traum Gestalt an, greift aber gleichwohl in das Geschehen ein. Sein Opponent, der Protagonist Þorgils, wird von der Saga, wie oben zitiert, durch einen prophetischen Traum mit seinem Nachfahren, dem heiligen Þorlákr verbunden, nach dessen Leben die Biographie Þorgils ʼ auch modelliert ist (Grønlie 2017: 193 - 194). Lassen (2019: 325) betont, dass dieser Traum als Schlüssel zur christlichen Ausrichtung der Flóamanna saga zu verstehen ist, und konstatiert, dass der Zweck dieser Gestaltung von Þorgils ʼ Leben nach dem eines Heiligen „ must be to praise St. Þorlákr through his ancestor “ . Umgekehrt wird jedoch auch Þorgils ʼ Leben und damit auch die Sagazeit durch diese Verbindung zum Schutzpatron Islands aufgewertet. Vor diesem Hintergrund stellt auch die Flóamanna saga wie die in den vorigen Kapiteln analysierten Sagas mittels Personifikation eine klare Opposition zwischen Heidentum und Christentum sowie die Abgrenzung von ersterem bildlich dar. In den einleitenden Kapiteln der Saga spielt der heidnische Glaube keine Rolle, vielmehr wird hier eine mehr oder minder religionslose Gesellschaft geschildert. Der erste Teil, der von den Leuten in Flói erzählt, konzentriert sich in klassischer Manier der Íslendingasögur auf die Darstellung von Landnahme sowie Kämpfen und berichtet weder von heidnischen Praktiken, noch enthält er transzendente Elemente. Auch die anschließende Schilderung der Jugend Þorgils ʼ , die sich diversen Auseinandersetzungen und Auslandsfahrten widmet, ist sehr zurückhaltend mit Hinweisen auf Religionsausübung und der Schilderung von jenseits der materiellen Wirklichkeit angesiedelten Ereignissen. Lediglich Kap. 13 thematisiert Übernatürliches und präsentiert Þorgils auch im Kampf mit diesem als herausragend. Der einzige konkrete Hinweis auf vorchristliche Glaubensvorstellungen ist dabei die Einführung einer Frau, bei der und deren Sohn Þorgils eine Zeit lang zu Gast ist: „ Gyða var margkunnandi á fyrnsku ok fróðleik. “ (ÍF XIII: 255; Gyða war heidnisch und zauberkundig.) Die Saga berichtet in diesem Zusammenhang jedoch zunächst nur äußert knapp vom Aufenthalt Þorgils, der gastfreundliche Aufnahme findet. Auch an seinem nächsten Aufenthaltsort wird Þorgils sehr freundlich von seinem Gastgeber Björn aufgenommen, wundert sich jedoch, dass die Leute sehr früh schlafen gehen. Schnell erfährt er den Grund dafür: „ Honum var sagt, at faðir Bjarnar hafði fyrir litlu andazt, ok þat með, at hann gengi aptr; váru menn ok hræddir við hann. “ 61 (ÍF XIII: 255) Nachdem Þorgils während seines Winteraufenthalts selbst Zeuge des Umgehens wird, schreitet er zur Tat. 60 Die Flóamanna saga liegt in zwei unterschiedlichen Fassungen vor. Ich beziehe mich auf die kürzere Fassung, die, wie Richard Perkins aufzeigt, verschiedentlich zu erkennen gibt, dass sie eine Verkürzung der längeren und entsprechend die jüngere Version darstellt, die mit Sicherheit auf das Spätmittelalter datiert werden kann (Perkins 1972). Zudem ist diese anders als die längere vollständig erhalten und in zahlreichen Papierhandschriften überliefert. 61 Ihm wurde gesagt, dass der Vater Björns vor kurzem gestorben war, und außerdem, dass er umginge; die Menschen hatten auch Angst vor ihm. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 213 <?page no="214"?> [ … ] ok eina nótt var þat, at hann stóð upp, tók öxi í hönd sér ok gekk út. Hann sá draug fyrir dyrum standa, mikinn ok illiligan. Þorgils færir upp öxina, en þessi snýr undan ok til haugsins, ok sem þeir koma þar, snýr draugrinn á móti. Takast þeir fangbrögðum, því at Þorgils hafði sleppt öxinni. Var þeira atgangr bæði harðr ok grimmligr, svá at upp gekk jörðin undir fótum þeim, en at lyktum varð svá, með því at Þorgilsi var lengra líf ætlat, at draugrinn fellr á bak aptr, en Þorgils ofan á hann. Tekr hann þar þá hvíld ok náir síðan öxi sinni. Höggr Þorgils þá af honum höfuð ok mælir síðan yfir honum, at hann skuli engum manni at meini verða; varð ok aldri vart við hann síðan. Björn virði Þorgils mikils, er hann hafði gert þar svá mikla híbýlabót. (ÍF XIII: 255 - 256) [ … ] und in einer Nacht geschah es, dass er aufstand, die Axt in die Hand nahm und hinausging. Er sah einen Geist vor der Tür stehen, groß und fürchterlich. Þorgils hebt die Axt, aber der Geist entweicht in Richtung des Hügels, und als sie dort ankommen, wendet sich der Geist gegen ihn. Sie beginnen miteinander zu ringen, denn Þorgils hatte die Axt fallenlassen. Ihre Auseinandersetzung war hart und grimmig, so dass die Erde unter ihren Füßen aufbrach, und weil Þorgils ein längeres Leben bestimmt war, verhielt es sich am Ende so, dass der Geist nach hinten auf den Rücken fällt und Þorgils auf ihn. Er ruht dann kurz dort und erreicht dann seine Axt. Þorgils schlägt ihm dann den Kopf ab und bespricht ihn, dass er keinem Menschen zum Schaden werden solle; er wurde danach auch nicht mehr gesehen. Björn würdigte Þorgils sehr, da er die Verhältnisse im Haus sehr verbessert hatte. Diesem Erfolg Þorgils ʼ im Kampf gegen negative übernatürliche Mächte folgt prompt ein weiteres Ereignis, das Þorgils als erfolgreichen Kämpfer gegen derartige Erscheinungen präsentiert. Die zuvor mit Anklängen an die vorchristliche Religion eingeführte Gyða stirbt und geht nach ihrem Tod ebenfalls um. Ihr Sohn Auðun bittet deshalb Þorgils um Hilfe, mit dessen Unterstützung es auch gelingt, die aus ihrem Sarg steigende Gyða zu bezwingen: Þá fara þeir til báðir ok tóku hana, ok þurfti alls við, ok váru þeir þó báðir sterkir menn. Þat taka þeir bragðs, at þeir flytja hana til báls, er Auðun hafði búit. Síðan kasta þeir henni á bálit ok váru hjá, meðan hon brann. (ÍF XIII: 256) Da gingen sie beide zu ihr und ergriffen sie, und es bedurfte alles, auch wenn sie doch beide starke Männer waren. Sie fanden als Ausweg, dass sie sie zu einem Holzstoß schafften, den Auðun errichtet hatte. Dann warfen sie sie auf den Holzstoß und waren dabei, während sie brannte. Durch diese Präsentation als Kämpfer gegen dämonische Mächte wird die Rolle als treuer Anhänger des christlichen Glaubens, die Þorgils im weiteren Verlauf der Saga zukommt, im Vorfeld bereits vorbereitet. In Anbetracht der fehlenden konkreten Hinweise auf den vorchristlichen Glauben generell und speziell in diesem Zusammenhang überrascht der religiöse Gegensatz, den die Saga nach weiteren Reisen und großen Taten Þorgils ʼ dann sehr unvermittelt inszeniert. Sie erweckt dadurch jedoch den Eindruck einer vorchristlichen Vergangenheit, die nicht übermäßig heidnisch geprägt ist, und bereitet mit dieser Relativierung die entschiedene Abgrenzung vom Heidentum, die im weiteren Verlauf mittels Personifikation von Thor folgt, vor. Nú kom kristni á Ísland, ok tók Þorgils í fyrra lagi við trú. Hann dreymdi eina nótt, at Þórr kæmi at honum með illu yfirbragði ok kvað hann sér brugðizt hafa, - „ hefir þú illa ór haft við mik, “ segir hann, „ valit mér þat, er þú áttir verst til, en kastat silfri því í fúla tjörn, er ek átta, ok skal ek þér í móti koma. “ „ Guð mun mér hjálpa, “ segir Þorgils, „ ok er ek þess sæll, er okkar félag sleit. “ (ÍF XIII: 274) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 214 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="215"?> Nun kam das Christentum nach Island, und Þorgils nahm den Glauben sehr früh an. Eines Nachts träumte er, dass Thor zu ihm käme mit finsterem Aussehen und zu ihm sprach, dass er ihn betrogen hatte - „ du hast dich übel gegen mich benommen, “ sagte er „ mir das Schlechteste ausgewählt, das du hattest, und das Silber, das mir gehörte, in einen stinkenden Tümpel geworfen, und das werde ich dir vergelten. “ „ Gott wird mir helfen “ , sagte Þorgils, „ und ich bin glücklich, dass unsere Gemeinschaft gelöst ist. “ Þorgils wird als aufrechter Christ dargestellt, der sich auch durch die Aussichten auf Unannehmlichkeiten nicht von seinem Glauben abbringen lässt: Auf die Drohungen des ausgemusterten Gottes aufgrund der feindseligen Haltung seines vormaligen Anhängers reagiert er mit Gottvertrauen, von dem er auch nicht ablässt, als Thor seine Drohung wahr macht und Þorgils ʼ Hofeber tötet (vgl. dazu Perkins 1974: 198 - 201). Im Gegenteil weist er den alten Glauben auch mit der Weigerung, den getöteten Eber zu nutzen, ein weiteres Mal zurück. „ Ok er Þorgils vaknar, sá hann, at töðugöltr hans var dauðr. Hann lét grafa hann hjá tóptum nökkurum ok lét ekki af nýta “ (ÍF XIII: 274). 62 Auch das Erscheinen Thors in einem weiteren Traum, in dem dieser die Drohungen gegenüber Þorgils verstärkt und nun auch gegen dessen Leben richtet, bringen Þorgils nicht von seinem Vertrauen auf Gott ab, ebenso wenig wie die erneute Androhung, Þorgils ʼ Vieh zu schaden: „ Enn barst Þórr í drauma Þorgilsi ok sagði, at honum væri eigi meira fyrir at taka fyrir nasir honum en galta hans. Þorgils kvað Guð mundu því ráða. “ 63 (ÍF XIII: 274 - 275) Nachdem Thor tatsächlich einen Ochsen tötet, verlagert die Saga die Auseinandersetzung zwischen Þorgils und dem zuvor von ihm verehrten, nun aber abgelehnten heidnischen Gott endgültig in die materielle Wirklichkeit, indem sie eine körperliche Konfrontation impliziert: Þórr heitaðist at gera honum fjárskaða. Þorgils kvaðst eigi hirða um þat. Aðra nótt eptir dó uxi gamall fyrir Þorgilsi. Þá sat hann sjálfr hjá nautum um nóttina eptir. En um morguninn, er hann kom heim, var hann víða blár. Hafa menn þat fyrir satt, at þeir Þórr muni þá fundizt hafa. (ÍF XIII: 275) Thor versprach ihm dann, dass er ihm einen Viehschaden zufügen werde. Þorgils sprach, dass er sich nicht darum kümmere. Die Nacht darauf starb ein alter Ochse von Þorgils. Daraufhin saß er die Nacht danach selbst beim Vieh. Und am Morgen, als er heimkam, hatte er viele blaue Flecken. Die Menschen halten es für wahr, dass Thor und er sich getroffen haben werden. Der Kampf Þorgils ’ gegen den Vertreter seines abgelegten Glaubens wird zwar nicht selbst bildlich dargestellt, das anschauliche Ergebnis jedoch evoziert die entsprechenden Assoziationen einer harten tätlichen Auseinandersetzung. Der Wahrheitsgehalt des Erzählten wird dabei Íslendingasaga-typisch durch die Beurteilung des Geschehenen aus einer kollektiven Perspektive unterstrichen. Nach dieser Tat scheint Thor bezwungen und Þorgils erhält eine Einladung nach Grönland von Eiríkr inn rauði. Nachdem die Saga diesen zuvor im Zusammenhang mit einem Aufenthalt von Þorgils am Hofe Hákon Jarls als „ íslenzkr maðr, er síðan fann ok byggði Grænland; hann var ungr maðr ok kurteiss ok inn 62 Und als Þorgils erwacht, sah er, dass sein Hauseber tot war, und er ließ ihn bei einigen verfallenen Häusern vergraben und wollte nicht, dass er genutzt wurde. 63 Wieder erschien Thor Þorgils im Traum und sagte, dass es ihm nicht schwerer fiele, ihm selbst das Leben zu nehmen als seinem Eber. Þorgils sagte, dass Gott darüber bestimmen werde. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 215 <?page no="216"?> mesti vin Þorgils “ (ÍF XIII: 258) eingeführt hat, 64 erstaunt Þorgils ’ erste ablehnende Reaktion innerhalb der Sagahandlung. Vor dem Hintergrund des immanenten Ganzen, dessen Abbilder die Íslendingasögur darstellen, und der Rolle Þorgils ’ als nun mehr entschiedener Gegner der heidnischen Götter ergibt sie jedoch durchaus Sinn, ist Eiríkr inn rauði in der Sagaliteratur doch eindeutig heidnisch konnotiert. 65 Þorgils ’ Entscheidung, dann doch zu fahren, wird im Verlauf der Sagahandlung ebenso wenig begründet wie zuvor seine Ablehnung, vielmehr scheint die Motivation im Bestreben der Saga zu liegen, einen Kontrast zwischen Heidentum und Christentum in den Blick zu rücken, wobei ersteres zunächst implizit in einen negativen und bedrohlichen Kontext gerückt wird. Bereits nach Äußerung seines Vorhabens warnt Þorgils ’ Frau vor der Fahrt: „‚ Misráðit mun, ‘ sagði hon, ‚ at þangat sé farit, en þó skal ek fara, ef þú ferr. ‘“ (ÍF XIII: 276) 66 Nachdem er dennoch dazu rüstet, erscheint ihm prompt Thor ein zweites Mal im Traum: [ … ] Þorgils bíðr nú byrjar ok dreymir hann, at maðr kæmi at honum, mikill ok rauðskeggjaðr, ok mælti: „ Ferð hefir þú ætlat fyrir þér, ok mun hon erfið verða. “ Draummaðrinn sýndist honum heldr greppligr. „ Illa mun yðr farast, “ segir hann, „ nema þú hverfir aptr til míns átrúnaðar; mun ek þá enn til sjá með þér. “ Þorgils kvaðst aldri hans umsjá hafa vilja ok bað hann burt dragast sem skjótast frá sér, - „ en mín ferð tekst sem almáttigr guð vill. “ Síðan þótti honum Þórr leiða sik á hamra nökkura, þar sem sjóvarstraumr brast í björgum, - „ í slíkum bylgjum skaltu vera ok aldri ór komast, utan þú hverfir til mín. “ „ Nei, “ sagði Þorgils, „ far á burt, inn leiði fjandi! Sá mun mér hjálpa, sem alla leysti með sínum dreyra. “ (ÍF XIII: 278 - 279) [ … ] Þorgils wartete nun auf günstigen Fahrtwind und träumte, dass ein Mann zu ihm käme, groß und rotbärtig, der sprach: „ Du hast eine Reise geplant und sie wird schwierig werden. “ Der Traummann erschien ihm ziemlich grimmig. „ Übel wird es dir ergehen, “ sagte er, „ außer du wendest dich wieder dem Glauben an mich zu; dann werde ich mich wieder um dich kümmern. “ Þorgils sprach, er wolle seine Hilfe nie mehr haben und gebot ihm, so schnell wie möglich zu veschwinden, - „ und meine Reise gelingt, wenn der allmächtige Gott es will. “ Dann schien es ihm, als ob Thor ihn zu einigen Klippen führte, wo die Brandung gegen die Felsen donnerte, - „ in solchen Wellen sollst du sein und niemals herauskommen, außer du kehrst um zu mir. “ „ Nein, “ sagte Þorgils, „ verschwinde, du hässlicher Teufel! Der wird mir helfen, der alle mit seinem Blut erlöst hat. “ Hier wird die Opposition zwischen dem abgelegten heidnischen Glauben und dem neuen christlichen durch den Rückgriff auf ein biblisches Modell noch einmal verstärkt. Þorgils 64 ein isländischer Mann, der später Grönland entdeckte und besiedelte, er war ein junger Mann, stattlich und der beste Freund Þorgils ’ 65 Man vergleiche dazu die im Detail abweichenden, in Bezug auf Eiríkrs Heidentum jedoch übereinstimmenden Erwähnungen in den Vinlandsagas: In der Gr œ nlendinga saga heißt es „ Gr œ nland var þá kristnat, en þó andaðisk Eiríkr rauði fyrir kristni “ (ÍF IV: 256; Grönland wurde damals christianisiert, aber Eiríkr rauði starb vor der christlichen Zeit). Die Eiríks saga rauða berichtet dagegen „ Eiríkr tók því máli seint, at láta sið sinn, en gekk skjótt undir ok lét gera kirkju eigi allnær húsunum. Þat hús var kallat Þjóðhildarkirkja. Hafði hon þar fram b œ nir sínar og þeir menn, sem við kristni tóku. Þjóðhildr vildi ekki samræði við Eirík, síðan hon tók trú, en honum var þat mj ǫ k móti skapi. “ (ÍF IV: 212; Eiríkr verhielt sich in der Angelegenheit, seine Religion aufzugeben, träge, aber Þjóðhildr tat es schnell und ließ eine Kirche nicht zu nahe bei den Häusern errichten. Dieses Haus wurde Þjóðhildskirche genannt. Sie und die Männer, die das Christentum angenommen hatten, hielten dort ihre Gebete ab. Þjóðhildr wollte keinen Geschlechtsverkehr mehr mit Eiríkr, nachdem sie den christlichen Glauben angenommen hatte, und das gefiel ihm übel.) 66 „ Es wird unklug sein, “ sagte sie, „ dorthin zu fahren ‚ aber dennoch werde ich fahren, wenn du fährst. “ Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 216 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="217"?> wird mit Christus gleichgesetzt, während Thor den Teufel in Form eines heidnischen Gottes darstellt (Perkins 1974: 201 - 203), wobei sich zudem Einfluss von Martinus saga und Oddr Snorrasons Ólafs saga Tryggvasonar zeigt (Grønlie 2017: 182). Nicht zuletzt hat diese Szene, wie Grønlie (184) aufzeigt, ihr Vorbild in der Versuchung Christi in der Wüste, dessen Zurückweisung des Satans in der Formulierung der altnordischen Bibelübersetzung Stjórn in Þorgils ’ Antwort auch deutlich anklingt. In Anbetracht dieses Traumes warnt Þorgils ’ Frau erneut vor der geplanten Fahrt: „‚ Aptr munda ek setjast ‘ segir hon, ‚ ef mik hefði svá dreymt [ … ] ‘“ (ÍF XIII: 279), 67 jedoch erfolglos. Þorgils nimmt die Fahrt dennoch auf und kommt mit seiner Mannschaft nach anfänglich gutem Fahrtwind recht bald in Bedrängnis. „ Ok sem þau koma ór landsýn, tekst af byrr allr, ok velkjast þau úti lengi, svá at bæði varð matfátt ok drykkjarfátt. “ 68 (ÍF XIII: 279) Nicht das von Thor angedrohte Unwetter, sondern eine anhaltende Flaute macht ihnen zu schaffen, womit die Saga Thor Macht über das Wetter indirekt abspricht, was seine traditionelle Rolle als Gewittergott gerade in Anbetracht der vorangegangenen Drohung doch deutlich ironisiert. Mit dem geschilderten Ereignis schafft sie zudem eine Plattform für eine neuerliche Versuchung durch den Gott. Zuerst erscheint Thor Þorgils zum dritten Mal im Traum: „ Þorgils dreymdi, at inn sami maðr kæmi at honum ok mælti: ‚ Fór eigi sem ek sagða þér? ‘ Þórr talaði þá enn margt við Þorgils, en Þorgils rak hann frá sér með hörðum orðum “ (ÍF XIII: 280). 69 Mit seiner Frage diskreditiert sich Thor selbst als Lügner und Aufschneider, brachte doch eben nicht, wie von ihm verheißen, ein Sturm die Schiffsmannschaft in Bedrängnis, sondern im Gegenteil eine Flaute. 70 Nachdem Þorgils auch dieser dritten Versuchung widersteht, tritt er zudem als Anwalt des Christentums in Erscheinung, als sich seine Mannschaft aufgrund der anhaltenden Notsituation wieder Thor zuwenden will: Tekr nú at hausta, ok mæltu sumir menn, at þeir skyldi heita á Þór. Þorgils bannaði þat ok sagði, at menn skyldi missmíði finna, ef nökkurr maðr blótaði þar í skipi. Við þessi orð treystist engi á Þór at kalla. (ÍF XIII: 280) Es beginnt nun, Herbst zu werden, und manche Männer sagten, dass sie Thor anrufen sollten. Þorgils verbot das und sagte, dass die Männer es bereuen würden, wenn irgendein Mann dort auf dem Schiff Thor opfern würde. Bei diesen Worten traute sich niemand, Thor anzurufen. Nachdem sich Þorgils auch hier mit aller Entschiedenheit gegen die Verehrung Thors stellt, erscheint ihm dieser ein letztes Mal im Traum. Eptir þetta dreymdi Þorgils, at sami maðr kom at honum ok mælti: „ Enn sýndist þat, hversu trúr þú vart mér, er menn vildu á mik kalla, en ek hefi nú beint fyrir þínum mönnum, ok eru nú komnir at þrotum allir, ef ek dugi þeim eigi, en nú muntu taka höfn á sjáu nátta fresti, ef þú hverfr til mín af nökkurri alvöru. “ „ Þott ek taka aldri höfn, “ segir Þorgils, „ þá skal ek þér ekki gott gera. “ Þórr svarar: „ Þótt þú gerir mér aldri gott, þá gjaltu mér þó góz mitt. “ Þorgils hugsar, hvat um þetta er, ok veit nú, at þetta er einn uxi, ok var þetta kálfr, er hann gaf honum. Nú vaknar 67 „ Ich würde zurückbleiben, wenn ich derart geträumt hätte [ … ]. “ 68 Und als sie außer Landessicht waren, flaute der Wind völlig ab und sie trieben lange auf See umher, so dass sowohl Nahrung als auch Getränke knapp wurden. 69 Þorgils träumte, dass der gleiche Mann zu ihm käme und sprach: „ Geschah es nicht, wie ich dir sagte? “ Thor sprach wieder viel zu Þorgils, doch Þorgils wies ihn mit harten Worten von sich. 70 Verglichen mit der älteren, umfangreicheren Fassung drängt die jüngere Version der Saga die Bedeutung Thors zudem auch dadurch in den Hintergrund, dass sie sein wortreiches Bemühen, Þorgils wieder für sich zu gewinnen, lediglich erwähnt, nicht aber wiedergibt (vgl. ÍF XIII: 280). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 217 <?page no="218"?> Þorgils ok ætlar nú at kasta utanborðs uxanum. En er Þorgerðr verðr þess vís, falar hon uxann, því at henni var vistafátt. Þorgils sagðist vilja ónýta uxann ok engum selja. Þorgerði þótti nú illa. Hann lét kasta uxann útbyrðis ok kvað eigi kynligt, þótt illa færist, er fé Þórs var innbyrðis. (ÍF XIII: 280 - 281) Danach träumte Þorgils, dass der gleiche Mann zu ihm kam und sprach: „ Wieder zeigte sich, wie treu du mir warst, als die Männer mich anrufen wollten. Aber ich habe deinen Männern Unterstützung angeboten und nun sind sie alle dem Ende nahe, wenn ich ihnen nicht helfe, aber nun wirst du binnen einer Woche einen Hafen erreichen, wenn du dich mit einem gewissen Ernst mir zuwendest. “ „ Selbst wenn ich nie einen Hafen erreichen sollte, “ sagt Þorgils, „ dann werde ich dir dennoch nichts Gutes tun. “ Thor antwortete: „ Wenngleich du mir niemals Gutes tust, solltest du mir doch mein Eigentum abgelten. “ Þorgils überlegt, was das sein könnte, und weiß nun, dass dies ein Ochse war, den er als Kalb Thor gegeben hatte. Nun wird Þorgils wach und will den Ochsen über Bord werfen. Als Þorgerðr dies gewahr wird, feilscht sie um den Ochsen, denn sie hatte wenig Lebensmittel. Þorgils sagte, er wolle den Ochsen vernichten und niemandem verkaufen. Das erschien Þorgerðr übel. Þorgils ließ den Ochsen über Bord werfen und sagte, es sei nicht verwunderlich, dass die Fahrt schlecht verlief, solange Thors Vieh an Bord war. Þorgils widersteht damit auch dem erneuten Hilfsangebot Thors und wird nicht mehr von ihm belästigt, nachdem er den ursprünglich Thor geweihten Ochsen über Bord wirft und damit materiell die letzte Verbindung zu dem heidnischen Gott kappt. Die Personifikation Thors ermöglicht es der Saga so, mittels des Widerstreits zwischen Gott und Sagaprotagonist die Abgrenzung der Isländer vom heidnischen Glauben nach der Christianisierung bildlich darzustellen. Auf diese Weise wird ein starker Kontrast zwischen den beiden Religionen herausgestellt, den die Sagahandlung in der Schilderung des Aufeinandertreffens des Heiden Eiríkr mit dem aufrechten Christen Þorgils nur andeutet: „ Ekki var Eiríkr margt til Þorgils, ok var vistin með minna þokka veitt en Þorgils hugði. “ (ÍF XIII: 302) 71 Unterstrichen wird die Darstellung Þorgils ’ als Kämpfer gegen den heidnischen Glauben und Verfechter des Christentums im Anschluss an den Glaubenskrieg auf See durch die Ereignisse auf Grönland, bevor es zu diesem Aufeinandertreffen mit seinem konfessionellen Gegenpart Eiríkr kommt. Wie Grønlie (2017: 186) aufzeigt, legen die zahlreichen Assoziationen zu religiösen Texten und hagiographischer Literatur nahe, dass Þorgils ’ Versuchungen in Grönland „ signify the experience of all newly baptised Christians who renounce the temptations of the world “ . Er wird im weiteren Verlauf in verschiedener Hinsicht als Christusfigur inszeniert (182 - 183), wobei seine imitatio Christi gänzlich im Außen, auf See und in Grönland, angesiedelt ist, während die auf Island angesiedelten Ereignisse den Konventionen der Íslendingasaga entsprechen (195). Die Flóamanna saga stabilisiert so die isländischen Ursprungserinnerungen und aktualisiert sie gleichzeitig. Indem sie einen sagazeitlichen Helden zugleich als Präfiguration des isländischen Nationalheiligen Þorlákr in Szene setzt, 72 vergegenwärtigt sie die Christianisierung als zentrales Ereignis im kulturellen Gedächtnis der Isländer. Mit ihrem Protagonisten, der 71 Eiríkr war nicht freundschaftlich gegenüber Þorgils, und die Bewirtung war weniger entgegenkommend, als Þorgils sich gedacht hatte. 72 Ausführlich zu den Beziehungen der Flóamanna saga zur Þorláks saga helga siehe Grønlie (2017: 193 - 195). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 218 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="219"?> als „ Christian pioneer, [ … ] an almost saintly homo viator “ (Lassen 2019: 323) den Weg der Isländer zum christlichen Glauben personifiziert und dabei auch die damit verbundenen Anstrengungen und Opfer zum Ausdruck bringt, christianisiert sie die isländischen Ursprungserinnerungen und stellt damit auch der heroischen Ethik der Íslendingasaga eine neue Ethik „ of suffering and purity, rather than masculinity and revenge “ entgegen (Grønlie 2017: 192). Wie Grønlie (186) feststellt, vermittelt die Saga „ in its final assessment [ … ] between Þorgils as hero and Þorgils as saint, Þorgils as powerful chieftain and Þorgils as suffering martyr “ . Auf diese Weise integriert sie die fundierenden Ursprünge, die in Gestalt der Sagazeit nicht zuletzt als heroisches Zeitalter erinnert werden, und die zunehmend christlich geprägte erinnernde Gegenwart im Spätmittelalter. Þorgils, der als das Ideal eines religiösen Führers präsentiert wird - „ steadfest and severe as a father, loving and compassionate as a mother “ (Lassen 2019: 328) - , wird zum Symbol für die isländische Christianisierung, indem er sich mit aller Entschiedenheit von Thor, der den heidnischen Glauben repräsentiert, distanziert und durch seine imitatio Christi Jesus nachfolgt. Als Repräsentant Thors kann auch die anderweitig nicht belegte Figur des Geächteten Þórir rauðskeggr in Kap. 56 der Grettis saga gelesen werden, dessen Attribute roter Bart, übermäßige Größe und Stärke sowie insbesondere die Inszenierung eines angeblichen Unwetters, um Grettir zu schaden, deutlich an den Gott gemahnen. Auch hier kommt es nach anfänglich gutem Verständnis der beiden zu von Þórir ausgehenden Schwierigkeiten und infolge dessen zu seinem Tod durch Grettirs Hand, womit die Grettis saga die von der Flóamanna saga ausführlich dargestellte Distanzierung vom Heidentum in aller Kürze inszeniert (dazu auch nachfolgend S. 258). Die Personifikation eines heidnischen Gottes findet sich schließlich mit Odin auch in der Harðar saga. Im Unterschied zu den bereits genannten Sagas tritt dieser jedoch nicht als negativ konnotierte Figur auf, sondern als Helfer, der es Hörðr erst ermöglicht, den Grabhügel Sótis zu erbrechen. 73 Nachdem Hörðr den Schwur abgelegt hat, sein Vorhaben, in Sótis Hügel einzudringen, bis zum nächsten Julfest umzusetzen, und dieses mit Begleitung in Angriff nimmt, begegnet ihnen auf dem Weg zum Hügel ein Fremder, von dem Hörðr mit Namen gegrüßt wird. [ … ] hann tók honum vel ok spurði, hvat hann hét ‚ - „ því at ek þekki þik ekki, þótt þú látir kunnliga við mik. “ „ Björn heiti ek, “ segir sjá, „ ok kenndi ek þik, þegar ek sá þik, ok hefi ek þó ekki sét þik fyrri; en vinr var ek frænda þinna, ok þess skaltu njóta frá mér. Veit ek, at þér ætlið at brjóta haug Sóta víkings, ok mun yðr þat eigi greitt veita, ef þér eruð einir í aktaumum; en ef svá ferr sem ek get til, at yðr vinnist eigi at at brjóta hauginn, þá vitja þú mín. “ (ÍF XIII: 39 - 40) [ … ] er grüßte ihn freundlich und fragte, wie er heiße, - „ denn ich kenne dich nicht, auch wenn du dich mir gegenüber wie ein Bekannter verhältst. “ „ Björn heiße ich “ sagte dieser, „ und ich erkannte dich, als ich dich sah, auch wenn ich dich doch vorher nicht gesehen habe; aber ich war 73 Schottmann (2000: 236) merkt an, dass das Erscheinen von Odin als Helfer typisch für die Fornaldarsögur ist: „ In den Isländersagas erscheint Óðinn ja nie als Helfer “ . Tatsächlich ist das Erscheinen Odins in der Helferfunktion einzigartig in den Íslendingasögur, nicht aber wie gezeigt die Personifikation von paganen Göttern, die ein typisches mediales Element im spätmittelalterlichen Erzählen der Íslendingasaga darstellt, mittels dessen vorchristliche Vergangenheit in Abgrenzung von der Gegenwart abgebildet wird. Der Name Björn, mit dem sich Odin in der Harðar saga bezeichnet, ist in den Þulur von Snorris Edda allerdings eine Kenning für Thor (ÍF XIII: 44) (vgl. dazu auch oben S. 198). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.1 Identifikation und Abgrenzung durch Personifikation 219 <?page no="220"?> ein Freund deiner Verwandten, und so sollst du einen Nutzen von mir haben. Ich weiß, dass ihr vorhabt, den Hügel des Wikingers Sóti aufzubrechen, und das wird euch Schwierigkeiten bereiten, wenn ihr es allein durchführt; und wenn es so geht, wie ich vermute, dass es euch nicht gelingt, den Hügel aufzubrechen, dann kommt zu mir “ . Wie von Björn vorhergesagt, gelingt es Hörðr und seinem Begleiter tatsächlich nicht, in den Hügel einzudringen. Erst als sie auf Björns Angebot zurückkommen und ein Schwert von diesem erhalten, lässt sich der Hügel öffnen. Anders als in der Bárðar saga ist es hier ein Vertreter des Heidentums, der verhindert, dass sich der Hügel ein drittes Mal schließt, handelt es sich bei Björn doch um Odin, wie die Saga zum Abschluss der Episode vermerkt. Eine gewisse Distanz zum Protagonisten kennzeichnet so auch diesen Repräsentanten der heidnischen Religion, der Hörðr selbst unbekannt ist und durch den Verweis auf die frühere Freundschaft mit dessen Verwandten der Vergangenheit zugeordnet wird. Wie die oben analysierten Sagas unterscheidet auch die Harðar saga zwischen positiv und negativ konnotierten Repräsentanten der paganen Vergangenheit, wobei sie jedoch im Unterschied zu diesen mit einem Gott auch einen offiziellen Repräsentanten des Heidentums positiv zeichnet und Hörðr als Unterstützer zur Seite stellt. Die Verkörperung negativer Aspekte der heidnischen Vergangenheit kommt im Zusammenhang dieser Episode allerdings wie auch in anderen spätmittelalterlichen Íslendingasögur einem haugbúi (Hügelbewohner) zu, der durch seine Bestattungsart klar als heidnisch gekennzeichnet ist und sich durch sein Auftreten als furchterregender Gegner präsentiert. Anders als Björn/ Odin ist der Hügelbewohner Sóti eindeutig negativ belegt und dient als Vertreter einer vorchristlichen Vergangenheit, von der die Saga ihren Protagonisten entschieden abgrenzt, wobei sie ihm den christlichen Glauben zur Seite stellt, anders als die vorherigen Beispiele allerdings nur indirekt. So kann Hörðr den erbitterten Kampf gegen ihn nur gewinnen, weil er seinen Ziehbruder Geir bittet, ihm zu folgen „ ok hafi með sér eld ok vax - ‚ því at hvárttveggja hefir mikla náttúru með sér, ‘ segir hann. “ (ÍF XIII: 41). 74 Das Wachs erweist sich im weiteren Handlungsverlauf nicht als bloßes Rohmaterial, sondern als Wachskerze und damit als besonderes Symbol des Christentums, welches durch das von den jungfräulichen Bienen produzierte Wachs die Geburt Christi durch die Jungfrau Maria versinnbildlicht (s. v. „ Kerze “ in Lurker 1991). Erst nach Einsatz dieser Wachskerze gewinnt Hörðr die Oberhand im Kampf gegen Sóti. Þá spratt Sóti upp ok rann á Hörð. Varð þar harðr atgangr, þess at Hörðr varð mjök aflvani. Tók Sóti svá fast, at hold Harðar hljóp saman í knykla. Hörðr bað Geir tendra vaxkertit ok vita, hve Sóta brygði við þat. En er ljósit bar yfir Sóta, ómætti hann ok fell hann niðr. (ÍF XIII: 42) Da sprang Sóti auf und lief auf Hörðr zu. Es wurde ein harter Kampf, der Hörðr sehr erschöpfte. Sóti griff so fest zu, dass sich Hörðrs Fleisch zu Beulen zusammenzog. Hörðr bat Geir, die Wachskerze anzuzünden und in Erfahrung zu bringen, was das für einen Eindruck auf Sóti machte. Und als das Licht auf Sóti fiel, wurde er ohnmächtig und fiel nieder. Sóti hat noch die Kraft, Hörðr zu verfluchen, verschwindet dann jedoch freiwillig, als die Nähe des Lichts der Wachskerze droht: „ Hörðr bað Geir bera at honum ljósit ok sjá, hve vingjarnligr hann væri; ok í því steypist Sóti í jörð niðr ok vildi eigi bíða ljóssins; skildi svá 74 und Feuer und Wachs bei sich zu haben - „ denn alle beide haben große Kraft an sich “ , sagt er. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 220 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="221"?> með þeim. “ (ÍF XIII: 43) 75 Wie Schottmann (2000: 240) vermerkt, ist Hörðr selbst dem Hügelbewohner unterlegen, erst das Entzünden der Kerze kann ihn besiegen, 76 womit die Saga das Christentum als stärkste Macht präsentiert. Das christliche Symbol besiegt nicht nur den Hügelbewohner, sondern erweist sich als Helfer auch dem Fremden überlegen, der nach dem Ereignis nicht mehr zu finden ist. Dieser wird in diesem Zusammenhang dann auch als Repräsentant des alten Glaubens gekennzeichnet, wobei die Wahrheit des Behaupteten indirekt durch die Ansicht der Allgemeinheit bestätigt wird: „ Hvergi fundu þeir Björn, ok höfðu menn þat fyrir satt, at Óðinn mundi þat verit hafa. “ (ÍF XIII: 44) 77 Zwar ist die Personifikation Odins hier nicht wie in den zuvor genannten Beispielen negativ konnotiert, aber auch sie wird durch das Christentum, das sich als überlegen erweist, zum Verschwinden gebracht. Personifikation dient im spätmittelalterlichen Erzählen der Íslendingasaga somit zum einen dazu, Identifikation zu ermöglichen, indem sagazeitliche Helden für das isländische Selbstverständnis bedeutsame geschichtliche Ereignisse sichtbar machen und so dem Publikum näher bringen. Zum anderen werden für die isländische Identität im Spätmittelalter wesentliche Abgrenzungen vermittelt, indem sie mittels Personifikation bildlich dargestellt werden. Die verschiedentlich in spätmittelalterlichen Íslendingasögur in Erscheinung tretenden heidnischen Götter Odin und Thor ermöglichen so eine Konfrontation mit dem vorchristlichen Glauben und eine Distanzierung von diesem, indem dies innerhalb der Sagahandlungen bildlich vorgeführt wird. Diese Abgrenzung gegenüber der heidnischen Religion und insbesondere deren bedrohliche Auswirkungen auf die Gegenwart bilden mit Sicherheit keine aktuelle Situation ab. Das Christentum ist im Spätmittelalter fest etabliert und die Macht der Kirche auf Island enorm. Vielmehr handelt es sich bei dieser Art der Abgrenzung um die mediale Vermittlung der Verschärfung der Differenz von System und Umwelt, die sich als Folge der Ausbildung von Schrift als Kommunikationsmedium ergibt. Das System nimmt sich als Einheit wahr und verschärft in seiner Anschlusskommunikation die Kontrastierungen, anhand derer es sich selbst beschreibt, zunehmend. Der Kontrast von Heidentum und Christentum wird spätmittelalterlich wesentlich für die Definition isländischer Identität, die nun fest auf der Einbindung in die christliche Welt gründet. 5.2 System und Umwelt 5.2.1 Ab- und Ausgrenzungen Neben der Unterscheidung von heidnisch und christlich nutzen die isländischen Selbstbeschreibungen des Spätmittelalters weitere Unterscheidungen, um die isländische Gesellschaft kontrastierend zu identifizieren. So gibt das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga auch eine Verstärkung des für die Ausbildung der isländischen Identität 75 Hörðr bat Geir, das Licht zu ihm zu tragen und zu sehen, wie freundlich er wäre; und damit stürzte sich Sóti in die Erde und wollte nicht auf das Licht warten; so trennte er sich von ihnen. 76 Die Kerze wird allerdings nur einmal entzündet und nicht, wie von Schottmann konstatiert, „ wieder “ , was im Hinblick auf die christliche Symbolik doch nicht unwesentlich ist. 77 Björn fanden sie nirgends und die Menschen halten es für wahr, dass es sich bei ihm um Odin gehandelt hat. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 221 <?page no="222"?> so wesentlichen Kontrasts zu Norwegen zu erkennen. Die spätmittelalterlichen Íslendingasögur enthalten wieder vermehrt norwegische Vorgeschichten und kontrastieren auch auf inhaltlicher Ebene Island und Norwegen in diversen Zusammenhängen. In etlichen spätmittelalterlichen Vertretern wird eine klare Opposition zum norwegischen König aufgebaut, die der Darstellung des Kontrasts zwischen Island und Norwegen dient. In der Kjalnesinga saga wird König Haraldr inn hárfagri als direkter Widerpart des Protagonisten Búi inszeniert, der diesem die Möglichkeit gibt, sich zu beweisen und nicht nur seiner Abgrenzung vom Heidentum dient, sondern im Kontext der Gesamthandlung zugleich zu seiner Distanzierung von Norwegen beiträgt (Cook 1994: 125 - 128). In der Víglundar saga ist ein Konflikt mit Haraldr inn hárfagri in der Vorgeschichte Auslöser und Grundlage der Haupthandlung, in der darüber hinaus in weiterer Hinsicht Island deutlich von Norwegen unterschieden wird (Peters 2018: 297 - 298). Auch die Króka-Refs saga schildert eine Auseinandersetzung zwischen dem norwegischen König, hier Haraldr inn harðráði, und ihrem Protagonisten, wie nachfolgend ausführlicher analysiert werden wird. Die Grettis saga setzt ebenfalls eine Konfrontation mit dem norwegischen König in Szene und nutzt die Figur Óláfr inn helgi Haraldsson zur Abgrenzung ihres Helden sowie seiner anschließenden Reintegration, wie ich im Nachfolgenden aufzeigen werde. Eine Kontrastierung mit Norwegen personifizieren die Protagonisten von Finnboga saga, Gunnars saga Keldugnúpsfífls sowie Kjalnesinga saga zudem jeweils auch im Kampf gegen einen blámaðr des jeweiligen norwegischen Herrschers, der durch seine exotische Herkunft und seine nicht-menschlichen Züge in zweifacher Hinsicht als fremd gekennzeichnet ist. 78 Die Differenz von System und Umwelt, die im spätmittelalterlichen Erzählen der Íslendingasaga mittels der Kontraste heidnisch/ christlich und isländisch/ norwegisch sichtbar gemacht wird, erweist sich darüber hinaus auch als ein zentrales Thema spätmittelalterlicher Íslendingasögur. So gibt das Erzählen der Íslendingasaga im Spätmittelalter wie angesprochen ein ausgeprägtes Interesse an Außenseitern zu erkennen. Während der Fokus der klassischen Íslendingasögur auf der Mitte der Gesellschaft liegt, interessieren sich die spätmittelalterlichen Íslendingasögur verstärkt für die Peripherie. Auch die Wiederaufnahme und Aktualisierung älterer Werke gibt dieses besondere Interesse am Randständigen und Außergesellschaftlichen zu erkennen: Die in verschiedenen spätmittelalterlichen Versionen belegten Íslendingasögur sowie die mutmaßlich aus älteren Werken umgearbeiteten Sagas widmen sich verstärkt Geächteten oder anderen gesellschaftlichen Außenseitern. Die infolge der zunehmenden Schriftlichkeit verschärfte Differenz von System und Umwelt schlägt sich in den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen nieder, indem diese die Außenseite des Systems in den Fokus rücken. Die Differenz von System und Umwelt wird im spätmittelalterlichen Erzählen der Íslendingasaga durch die Teilung der sagazeitlichen Realität in ‚ innen ‘ und ‚ außen ‘ bildlich sichtbar gemacht, zugleich wird so die Einheit des Differenten hergestellt. Dabei wird sowohl Island als Insel von der Außenwelt unterschieden als auch innerhalb Islands die Wildnis von den besiedelten Gegenden. 79 Aufzuzeigen, was im Inneren bzw. im Äußeren zu verorten ist, ist ein zentraler 78 Zum blámaðr als Verkörperung des Fremden siehe Lindow (1995: 13 - 17). 79 Die Unterscheidung zwischen dem Inneren und dem Äußeren ist keine neue, vielmehr wird bereits zur Wikingerzeit zwischen „ cultivated “ und „ wild “ unterschieden (Gunnell 2019: 29). Auch in den ältesten isländischen Werken zeigt sie sich: Wie Lindow (1997) darlegt, unterscheidet Ari in der Íslendingabók zwischen (heidnischer) Peripherie und (christlichem) Zentrum. Die eddischen Mythen geben ebenfalls Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 222 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="223"?> Bestandteil des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga. Dem integrativen Selbstverständnis der isländischen Gesellschaft als Rechtsgemeinschaft entsprechend, wird einerseits im Außen lokalisiert, was nicht dem Gesetz entspricht. Mit Gísla saga, Harðar saga und Grettis saga fokussieren drei Íslendingasögur, die spätmittelalterlich verfasst oder umfassend aktualisiert wurden, als Sagas von Geächteten klar auf diesen Aspekt und damit auf die Außenseite der Gesellschaft. Andererseits rückt das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga übernatürliche Wesen sowie Erscheinungen und auf diese Weise mit menschlich/ nicht-menschlich eine weitere Abgrenzung in den Fokus. Indem das Übernatürliche fernab der isländischen Gesellschaft in der unbesiedelten isländischen Landschaft oder fremden Gebieten fern der Zivilisation angesiedelt wird, wird aufgezeigt, dass es nicht zur Gesellschaft gehört, sondern in einem orbis alius zu lokalisieren ist. So siedelt die Þorskfirðinga saga Gull-Þórirs Kampf mit dem Drachen in der Finnmörk an, die ihm dabei hilfreichen magischen Gegenstände sowie das errungene Gold spielen in der Handlung auf Island keine Rolle mehr und werden nur knapp erwähnt (Cardew 2004: 26). Die Konfrontationen mit Hügelbewohnern in Bárðar saga und Harðar saga finden ebenfalls abseits der Zivilisation statt, wo auch die riesischen Vorfahren Bárðrs sowie sein Ziehvater Dofri, der auch von Búi in der Kjalnesinga saga aufgesucht wird, verortet werden. Þorgils ’ Auseinandersetzung mit Thor in der Flóamanna saga eskaliert außerhalb der isländischen Grenzen auf dem Seeweg nach Grönland und auch die Fljótsdæla saga siedelt den nicht-menschlichen Entführer der Jarlstochter Droplaugr, Mutter der Protagonisten Helgi und Grímr, weitab von Island an. Auf Island selbst beheimatete übernatürliche Wesen werden außerhalb der Gesellschaft in der Natur lokalisiert. In der Bárðar saga sind nicht-menschliche Wesen ebenso fernab der Siedlungen in natürlichen Behausungen anzutreffen wie in der Grettis saga, auch die Kjalnesinga saga stellt diese Verbindung her. Die Abgrenzung eines mit nicht-menschlichen Wesen besiedelten orbis alius von der menschlichen Welt wird dabei zusätzlich durch naturgegebene Hindernisse abgebildet, wie nicht nur die Bárðar saga demonstriert, in der der Protagonist seine Höhle im Gletscher einrichtet, oder die Kjalnesinga saga durch die Lokalisierung von Esjas ‚ Zweitwohnsitz ‘ jenseits eines Flusses zum Ausdruck bringt. Auch die Grettis saga kennzeichnet die Lage des mythischen Þórisdalur durch einen Gletscher, der als natürliche Grenze zwischen den Welten fungiert (Kap. 61). Die Behausung der den Hof Sandhaugar heimsuchenden Unholde im Bárðardalur lokalisiert sie hinter einem Wasserfall, der ebenfalls dazu dient, das Übernatürliche abzugrenzen und es auf diese Weise deutlich von der menschlichen Welt zu unterscheiden (Kap. 66). Die Gunnars saga Keldugnúpsfífls verortet die Konfrontationen ihres Protagonisten mit nicht-menschlichen Wesen ebenfalls jenseits natürlicher Hindernisse wie in einer Schlucht (Kap. 5) oder in einer Höhle einem Gletscher (Kap. 6), die durch ihre Lage in einem fremden, nicht näher bezeichneten Land jenseits des Ozeans doppelt im Äußeren lokalisiert werden. 80 Die eine klare Unterscheidung zwischen innen (Miðgarðr) und außen (Útgarðr) zu erkennen. Das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga zeichnet jedoch ein Fokus auf diese Unterscheidung aus, die in verschiedener Hinsicht sichtbar gemacht und dadurch in der Kommunikation behandelt wird. 80 Die einzige Ortsbezeichnung in diesem Zusammenhang ist „ Skuggi “ für einen Fjord. Sie ist wahrscheinlich durch die Örvar-Odds saga inspiriert, wo ein Fjord dieses Namens in den unbesiedelten Gebieten Hellulands erwähnt wird (ÍF XIV: LXXIII). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 223 <?page no="224"?> deutliche Grenze zwischen der Gesellschaft und dem im Außen lokalisierten Übernatürlichen wird hier zudem verstärkt durch „ myrkva svó mikla, að þeir vissi ekki, hvað þeir fóru “ (ÍF XIV: 356), die erst mit ihrer Ankunft dort wieder verschwindet „ og því létti af myrkri öllu, því sem áðr hafði verið yfir skipi þeira. “ (ÍF XIV: 357) 81 Durch die bildliche Teilung der Realität in innen und außen kann das isländische Gesellschaftssystem auch über seinen eigenen Prozess der zunehmenden Ausdifferenzierung kommunizieren, indem es ihn mittels des Mediums Sagazeit in Szene setzt. 82 Im Modus der Beobachtung erster Ordnung kann es seine eigene Entwicklung zwar nicht reflektieren, sie auf diese Weise aber dennoch in der Kommunikation behandeln. Die Grenzen des Systems werden dabei insbesondere durch Außenseiterfiguren abgebildet, die sie als Grenzgänger sichtbar machen. Die Bárðar saga thematisiert wie gezeigt die Verschiebung des Übernatürlichen vom Inneren in das Äußere und damit die Entstehung eines isländischen orbis alius. Damit stellt sie die Verschärfung der Differenz von System und Umwelt explizit als Entwicklung der isländischen Gesellschaft dar, die durch diese Personifikation Gestalt annimmt und somit greifbar wird. Diese Entwicklung bringt die Gattung Íslendingasaga im Laufe ihrer produktiven Phase auch anderweitig zum Ausdruck, wie ein Vergleich der im frühen 13. Jh. entstandenen Egils saga und der deutlich jüngeren Grettis saga, die nicht vor Mitte des 14. Jh.s entstanden sein kann, oder vielmehr der jeweiligen Protagonisten zeigt. Diese haben wesentliche Gemeinsamkeiten, wobei besonders ihre Nähe zum Übernatürlichen ins Auge fällt. Sowohl Egill als auch Grettir werden Ähnlichkeiten mit Trollen zugeschrieben, 83 beiden legen Verhaltensweisen an den Tag, in denen über- oder nicht-menschliche Verhaltensweisen anklingen. 84 Ein zentraler Unterschied jedoch ist, dass Egill trotz seiner antisozialen und nicht-menschlichen Züge klar ein akzeptiertes Mitglied der gesellschaftlichen Elite ist, während Grettir zwar als Befreier von Wiedergängern und anderen bedrohlichen übernatürlichen Wesen geschätzt, aber dennoch von der Gesellschaft geächtet und verfolgt wird. Im Unterschied zur Egils saga, die mit Egill einen Vertreter des heidnischen 10. Jh.s in den Fokus rückt, ist die Grettis saga vorwiegend in der Zeit nach der Christianisierung angesiedelt und Grettir ein Angehöriger der christlichen Epoche. 85 Auf der Ebene der konstruierten Vergangenheit kann der Außenseiterstatus Grettirs so als Ausdruck einer gesellschaftlichen Veränderung 81 eine so große Dunkelheit, dass sie nicht wussten, wohin sie fuhren/ und damit löste sich auch die ganze Dunkelheit, die sich zuvor über ihr Schiff gelegt hatte 82 Lindow (1995: 21) betont, dass „ the distinction on which we insist, between ‚ natural ‘ and ‚ supernatural ‘ , or ‚ human ‘ and ‚ supernatural ‘ , was not terribly important in the relatively fixed stable system of Scandinavian [ … ] world view “ . Auch in den ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur ist diese Unterscheidung nicht immer eindeutig, sie rückt jedoch als Unterscheidung in den Vordergrund, indem sie häufig in Szene gesetzt wird. 83 Siehe dazu Egils saga Kap. 60, Grettis saga Kap. 38, Kap. 57, Kap. 64, zu letzterer nachfolgend ausführlicher. 84 Sie zeichnen sich beide nicht nur durch ihre außerordentliche Kraft aus, sondern auch durch nichtmenschliche Charakterzüge. Egill hat Züge eines Werwolfs und beißt seinem Gegner in einem Kampf die Kehle durch, als sein Schwert durch Zauber stumpf wird (Holtsmark 1968: 7 - 9). Zu Grettirs nichtmenschlichen Zügen siehe Hawes (2008a: 34 - 36), vgl. auch Ármann Jakobsson (2009), ausführlicher auch nachfolgend. 85 Egills Lebensdaten werden auf 910 - 990 angesetzt (Sigurður Nordal 1933: LII - LIII), die Haupthandlung der Grettis saga wird auf ca. 1006 - 1047, Grettirs Geburt in das Jahr 996 datiert (Guðni Jónsson 1936: LXVII). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 224 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="225"?> gelesen werden, infolge derer sich auch die gesellschaftlichen Normen ändern. Was in vorchristlichen Zeiten sozial akzeptiert ist, findet in einer christlichen Gesellschaft keinen Platz mehr (Hume 1974). Vergleicht man die beiden Sagas, ist darüber hinaus jedoch ein weiterer Aspekt wesentlich. Während die Entstehung der Egils saga die Anfänge der produktiven Phase der Íslendingasaga markiert und eng mit dem Bestreben verknüpft ist, Macht und Herrschaft zu legitimieren, ist die Grettis saga ein Produkt der spätmittelalterlichen isländischen Gesellschaft, die den Wandel von Schrift zum Kommunikationsmedium vollzogen hat. Entsprechend steht die Grettis saga nicht in einem mimetischen Verhältnis zur erlebten Realität (vgl. Viðar Hreinsson 1992: 105), sondern kommuniziert mittels des Mediums Sagazeit über die isländische Gesellschaft. Der Unterschied in der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung der beiden Protagonisten reflektiert dabei auch die Verschärfung der Differenz von System und Umwelt im Laufe der produktiven Phase der Gattung Íslendingasaga. Erst nachdem sich die Differenz verschärft hat, kann dies auch vom System beobachtet werden. Egill ist entsprechend auch deshalb mit all seinen nichtmenschlichen Zügen ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, weil die Kommunikation im frühen 13. Jh. noch weit weniger eindeutiger ist und sich das System entsprechend auch nicht in dem Maße abgrenzt wie im weiteren Verlauf unter dem Einfluss zunehmender Schriftlichkeit. 86 Die Grettis saga als spätmittelalterliche Selbstbeschreibung dagegen bringt mit ihrer medialen Darstellungsweise die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich infolge der Schrift ergeben, zum Ausdruck. 5.2.2 Zur Medialität der Grettis saga 5.2.2.1 Außenseiter und Grenzgänger Die Medialität der Sagazeit ermöglicht der Grettis saga, die Veränderungen, denen die spätmittelalterliche isländische Gesellschaft infolge der fortschreitenden Textualisierung unterliegt, zu kommunizieren, wozu auch sie sich der Personifikation bedient. „ In his transgression of boundaries Grettir has put the opposition between ‚ inside ‘ and ‚ outside ‘ [ … ] into focus “ , wie Kirsten Hastrup (1990: 157) betont. Als Außenseiter par excellence, der sowohl in der Verwandtschaftsgemeinschaft, als auch in der Gesellschaft, der Rechtsgemeinschaft und der menschlichen Welt eine Randposition einnimmt (157 - 158), personifiziert Grettir die Differenz von System und Umwelt und macht sie durch seine Taten sichtbar. Indem er bildlich wiederholt Grenzen überwindet, die zu überschreiten anderen unmöglich ist, lenkt die Grettis saga die Aufmerksamkeit des Publikums regelmäßig auf seine Funktion als Grenzgänger und definiert so die Rolle als besonderer Bedeutungsträger, die ihm als uneingeschränkt im Zentrum der Erzählung stehenden Protagonisten zukommt, genauer. 87 Nicht zuletzt seine Grenzgänge machen Grettir zum von Hastrup (167) konstatierten Kulturheros, der sowohl die Kultur verteidigt als auch neue kulturelle 86 Vgl. dazu Ármann Jakobssons Feststellung (2011: 43) „ Egill is both troll and not troll. We do not know that he ever shape shifts. He is never referred to as a troll apart from this one ambiguous instance in York. His ancestors may or may not have been shape shifters. Ultimately, Egill ’ s own troll nature remains obscured by a lack of concrete evidence. “ 87 Hervorstechend sind in diesem Zusammenhang insbesondere verschiedene Gelegenheiten, bei denen Grettir schwimmend, watend oder tauchend Gewässer, die im Erzählverlauf jeweils als eindeutige Grenze erscheinen, überwindet (Kap. 38, Kap. 56, Kap. 64, Kap. 66, Kap. 75). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 225 <?page no="226"?> Möglichkeiten schafft. Auch der Wendepunkt der Saga, Grettirs Auseinandersetzung mit Glámr und dessen Fluch, wird bildlich als Überschreitung einer Grenze sowie der Verlagerung von innen nach außen inszeniert: Vildi Glámr leita út, en Grettir f œ rði við f œ tr, hvar sem hann mátti, en þó gat Glámr dregit hann fram ór skálanum. Áttu þeir þá allharða sókn, því at þrællinn ætlaði at koma honum út ór b œ num; en svá illt, sem at eiga var við Glám inni, þá sá Grettir, at þó var verra at fásk við hann úti, ok því brauzk hann í móti af ǫ llu afli at fara út. Glámr f œ rðisk í aukana ok kneppði hann at sér, er þeir komu í anddyrit. Ok er Grettir sér, at hann fékk eigi við spornat, hefir hann allt eitt atriðit, at hann hleypr sem harðast í fang þrælnum ok spyrnir báðum fótum í jarðfastan stein, er stóð í durunum. Við þessu bjósk þrællinn eigi; hann hafði þá togazk við at draga Gretti at sér, ok því kiknaði Glámr á bak aptr ok rauk ǫ fugr út á dyrrnar, svá at herðarnar námu uppdyrit, ok ræfrit gekk í sundr, bæði viðirnir ok þekjan frørin; fell hann svá opinn ok ǫ fugr út ór húsunum, en Grettir á hann ofan. Tunglskin var mikit úti ok gluggaþykkn; hratt stundum fyrir, en stundum dró frá. (ÍF VII: 120 - 121) Glámr wollte hinausgehen, und Grettir stemmte sich mit den Füßen dagegen, wo er konnte, aber Glámr konnte ihn dennoch aus der Stube hinauszerren. Sie hatten dann einen sehr harten Kampf, denn der Knecht wollte ihn aus dem Haus hinausbringen, aber so schlecht mit Glámr auch im Haus zu kämpfen war, so sah Grettir doch, dass es noch schlechter wäre, draußen mit ihm zu tun zu haben, und deshalb wehrte er sich mit aller Kraft, das Haus zu verlassen. Glámr strengte sich noch mehr an und presste ihn an sich, als sie in den Flur kamen. Und als Grettir sieht, dass er sich nicht dagegen stemmen konnte, tut er beides zugleich, dass er, so heftig er kann, dem Knecht in die Arme rennt und sich mit beiden Füßen gegen einen Stein stemmt, der an der Tür fest in der Erde stand. Damit rechnete der Knecht nicht; er hatte sich gerade gestreckt, um Grettir an sich zu ziehen, und deshalb beugte er sich nach hinten und flog rückwärts gegen die Tür, so dass die Schultern gegen die Türbalken stießen und das Dach entzwei ging, sowohl die Holzsparren wie die gefrorenen Rasenstücke; er fiel dann rückwärts aus dem Haus hinaus, und Grettir über ihn. Es war heller Mondschein draußen und abwechselnd dichte Wolken und klarer Himmel; manchmal war der Mond verdeckt, manchmal war er frei. (HS: 97) 88 Zudem rückt die Saga mit ihren abschließenden Worten, die die Darstellung der Lebensgeschichte Grettirs und seine Außerordentlichkeit mit der Autorität Sturla Þórðarsons affirmieren, noch einmal die Grenzgänge zwischen dem Inneren und dem Äußeren im Leben Grettirs in den Fokus: sein langes Leben in der Acht, seine Verteidigung der Gesellschaft gegen Einbrüche aus dem orbis alius sowie als letzte grenzüberschreitende Handlung die in Konstantinopel vollzogene Rache seines Bruders Þorsteinn drómundr. Hefir Sturla l ǫ gmaður svá sagt, at engi sekr maðr þykkir honum jafnmikill fyrir sér hafa verit sem Grettir inn sterki. Finnr hann til þess þrjár greinir. Þá fyrst, at honum þykkir hann vitrastr verit hafa, því at hann hefir verit lengst í sekt einnhverr manna ok varð aldri unninn, meðan hann var heill; þá aðra, at hann var sterkastr á landinu sinna jafnaldra ok meir lagðr til at koma af aptrg ǫ ngum ok reimleikum en aðrir menn; sú in þriðja, at hans var hefnt út í Miklagarði sem einskis annars íslenzks manns; ok þat með, hverr giptumaðr Þorsteinn drómundr varð á sínum efstum d ǫ gum, sá inn sami, er hans hefndi. (ÍF VII: 289 - 290) 88 Die Übersetzung der Grettis saga folgt hier und im Weiteren der von Hubert Seelow (1998, im Folgenden HS), verwendet jedoch anders als diese Eigennamen in ihrer altisländischen Form. Abweichende Übersetzung ist durch Kursivierung gekennzeichnet. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 226 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="227"?> Der Gesetzessprecher Sturla hat gesagt, dass seiner Ansicht nach kein Geächteter so ausgezeichnet gewesen sei wie Grettir der Starke. Er führte dazu drei Gründe an. Den zuerst, dass er findet, er sei der Klügste gewesen, denn er war am längsten von allen Leuten in der Acht und wurde nie besiegt, solange er gesund war; als zweiten, dass er der Stärkste war im Land von seinen Altersgenossen, und sich besser darauf verstand, Wiedergänger und Gespenster zu vertreiben als andere Leute; der dritte, dass er draußen in Miklagarðr gerächt wurde, wie es mit keinem anderen Isländer der Fall war; und außerdem, dass Þorsteinn drómundr, eben derjenige, welcher ihn rächte, im Alter ein so glücklicher Mensch wurde. (HS: 227) Von Beginn an als Außenseiter gekennzeichnet, markiert Grettir im Laufe der Sagahandlung als Außenseiter in verschiedener Hinsicht die Differenz zwischen System und Umwelt, anhand derer sich das System selbst beobachtet. Als Geächteter verkörpert er die Außenseite der Rechtsgemeinschaft, die für das isländische Selbstverständnis auch nach der Unterordnung unter die norwegische Krone von Bedeutung ist, da das Land auch im norwegischen Reich weiterhin ein separater Rechtsbezirk bleibt. Als Kämpfer gegen übernatürliche Wesen, der selbst übermenschliche Züge hat, demonstriert er die Grenze zwischen der materiellen und der immateriellen Welt und personifiziert auf diese Weise den Prozess der Verschärfung der Differenz von System und Umwelt. Dabei thematisiert die Grettis saga in der Figur Grettirs den mit dieser Entwicklung verbundenen Verlust von Einheit, der als höchst tragische, zugleich aber auch unabänderliche Entwicklung präsentiert wird, wobei in seinem Untergang auch der damit verbundene Siegeszug des Patriarchats über eine weiblich dominierte Gesellschaftsordnung anklingt, insofern als er von der Mutter geliebt, vom Vater dagegen abgelehnt wird. Als Vermittler zwischen den Welten schließlich verbindet Grettir zugleich das Innere und das Äußere und gewährleistet damit die Einheit des Differenten (vgl. Hastrup 1990: 163). Die zunehmende gesellschaftliche Komplexität infolge zunehmender Schriftlichkeit spiegelt sich dabei im komplexen Charakter Grettirs wider, der im Laufe der Sagahandlung zwar keine charakterliche Entwicklung durchmacht, aber höchst unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Rollen einnimmt. 89 Eingeschrieben in die isländische Landschaft wie kaum eine andere Íslendingasaga, 90 inszeniert die Grettis saga ihren Protagonisten nicht zuletzt durch diese enge Verbindung zum Land als Personifikation Islands. Seine Vielschichtigkeit und Ambivalenz bringen verschiedene Aspekte isländischer Identität zum Ausdruck, die mit der Figur Grettirs in Szene gesetzt und so verhandelt werden können. „ Grettir and his struggles with temper act as sites of communal negotiation of identity, a platform for the society to think itself through “ , konstatiert entsprechend auch Rankovi ć (2017: 408), was für die Gedächtniszeit der Íslendingasögur nicht minder gilt als für die Zeit ihrer Entstehung. 5.2.2.2 Außenseiter und Märtyrer Wenngleich ihre herausragende literarische Qualität die Grettis saga davor bewahrt hat, das Schicksal der übrigen ‚ postklassischen ‘ Íslendingasögur zu erleiden, erweist sie sich unzweifelhaft als spätmittelalterliche Vertreterin der Gattung. Obwohl sie in Teilen und 89 Siehe dazu die aufschlussreiche Diskussion der verschiedenen Rollen Grettirs von Hastrup (1990: 162 - 167). 90 Eine Auflistung der mit Grettir verknüpften Ortsnamen findet sich bei Guðvarður Már Gunnlaugsson (2000: 49 - 51). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 227 <?page no="228"?> umfangreicher als die meisten der spätmittelalterlichen Vertreter auf mündlicher Überlieferung gründet, 91 ist sie zugleich vor einem reichhaltigen Hintergrund von schriftlich verfügbaren Texten entstanden. 92 Wie andere spätmittelalterliche Íslendingasögur beginnt die Grettis saga mit einer Vorgeschichte, die den isländischen Freiheitsmythos aufgreift, und kombiniert dies mit einer Haltung, die die Herrschaft des norwegischen Königs als gegeben und durchaus positiv annimmt, wie im Hauptteil durch Grettirs Wunsch, in dessen Dienste zu treten, deutlich wird. Und nicht zuletzt hat auch die Grettis saga die für das spätmittelalterliche Erzählen der Íslendingasaga typische, ausgeprägt christliche Perspektive. Explizit zeigt sich diese im abschließenden Spesar þáttr, der von der Rache, die Grettirs Halbbruder Þorsteinn drómundr in Miklagarðr vollzieht, sowie dessen anschließendem Leben berichtet, das mit der völligen Hinwendung zu Gott endet. Aber auch im Hauptteil der Saga, der ævisaga (Lebensgeschichte) Grettirs, ist dies deutlich erkennbar. „ Connotations of the devil and the diabolic are readily discernible in the text. Undeniably it embodies a strongly Christian ideology “ wie Russell Poole (2004: 7) feststellt. Die Sagaforschung hat diese christliche Ideologie bislang insbesondere im Hinblick auf die Ursachen für Grettirs Untergang näher beleuchtet, wobei sie zu höchst unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangt. 93 So betont Hermann Pálsson, Wegbereiter und führender Vertreter einer christlichen Deutung der Grettis saga, Grettirs Verantwortlichkeit in dieser Hinsicht und verweist auf seinen Hochmut, gemäß christlicher Morallehre eines der sieben Hauptlaster, als „ helzti bölvaldur hans “ (1969: 378; sein größtes Übel). Cook (1982 - 85: 152) dagegen kommt zum Schluss, dass Grettir als wahrhaft außerordentlicher Mann dargestellt wird, „ who is more sinned against than sinning “ . Während Hermann Pálsson Grettir dennoch „ a surprisingly high stature “ zum Zeitpunkt seines Todes zugesteht und feststellt, „ by the end, Grettir ’ s trials seem to have purified him “ (Fox/ Hermann Pálsson 1974: XIII), stirbt Grettir nach Ansicht von Andrew Hamer (2008: 37), der ebenfalls auf den christlichen Hintergrund der Grettis saga fokussiert, „ as an outcast from God and society “ . Die Schlusskapitel haben hinsichtlich der christlichen Ausrichtung der Grettis saga allerdings bislang recht wenig Beachtung erfahren, dabei sind gerade sie wesentlich für das Verständnis der Rolle, die die Saga Grettir zuschreibt. Wie ich zeigen werde, erreicht die Inszenierung Grettirs als Kulturheros ihren Höhepunkt im Schlussteil, in dem ihm eine zentrale Rolle in der Durchsetzung des Christentums auf Island zugeschrieben wird. 94 91 Wobei anzunehmen ist, wie Óskar Halldórsson (1977: 627) anmerkt, dass die Saga nicht alle mit Grettir verbundenen mündlich kursierenden Überlieferungen aufgenommen hat. 92 Zu den Texten, die die Grettis saga direkt beeinflusst haben, zählen neben Sagas und þættir der verschiedenen Gattungen die Bibel, Boccaccios Decamerone sowie klassische Werke wie die Disticha Catonis, die Sententiae des Publilius Syrus und die Alexandreis von Gualterus de Castellione (für einen Überblick siehe Hermann Pálsson 2002: IX - XX). Das jüngste Werk unter diesen ist die um 1350 auf Latein verfasste und dann in das Isländische übersetzte Guðmundar saga biskups, was der Debatte um die Entstehungszeit der Grettis saga einen Terminus post quem hinzufügt. Zu den klassischen und biblischen Entsprechungen zahlreicher Sprichwörter und Spruchweisheiten siehe ebenfalls Hermann Palsson (2002, insbesondere 72 - 85, 123 - 129). 93 Ausführlich dazu Rankovi ć (2017: 375 - 381), die diesbezüglich ein „ hermeneutic pendulum “ im Laufe der jüngeren Forschungsgeschichte zur Grettis saga konstatiert, das zwischen zwei Sichtweisen schwingt, die entweder Grettir oder den Umständen die Verantwortung für sein Schicksal zuweisen. 94 Wenngleich der sich den hier als Schlussteil bezeichneten Kapiteln der Spesar þáttr anschließt und dieser ein integraler Teil des Gesamtwerks ist, erscheint mir diese Bezeichnung dennoch angemessen, da es sich bei diesen um das Ende der Grettis saga als ævisaga Grettirs handelt und das Verlassen von Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 228 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="229"?> Nach Meinung von Halldór Laxness (1948: 242) erreicht auch die Genialität der Grettis saga ihren Höhepunkt in den Schlusskapiteln, was wie nachfolgend deutlich werden wird, damit zusammenhängt, dass die gesamte Saga im Wesentlichen auf ihren Schlussteil ausgerichtet ist. Nicht zuletzt stellt der Schlussteil den Grund dafür dar, dass Halldór Laxness (1946: 83) uneingeschränkt zuzustimmen ist, wenn er zur Grettis saga konstatiert, að hér sé sögð saga hins íslenska þjóðdýrlings, og þó sönnu nær að þetta sé píslarsaga hins eina sanna íslenska krists, sem er maður og vættur til helmínga, þjóðkristsins, sem ber alla vora sorg og sekt, þess samnefnara þar sem allar hinar meiriháttar sögur vorar, og þjóðsagan líka, gánga upp. dass hier die Geschichte des isländischen Volksheiligen erzählt wird, und fast könnte man sagen, dass dies die Leidensgeschichte des einzig wahren isländischen Christus ist, der halb Mensch, halb übernatürliches Wesen ist, des Volkschristus, der unser ganzes Leid und unsere ganze Schuld trägt, des gemeinsamen Nenners, in dem alle unsere großen Sagas, und auch die Geschichte des Volks, aufgehen. Im Folgenden möchte ich die damit verbundenen „ leyndarmál sem felast bak texta hennar “ , 95 die von Halldór Laxness (1946: 85) so treffend wahrgenommen, aber nicht weiter thematisiert wurden, aufzeigen und darlegen, wie die Saga auf eine mediale Weise ihren Protagonisten und damit auch die isländischen Ursprungserinnerungen christianisiert. Der Hintergrund des Martyriums Der dritte Fixpunkt des isländischen kulturellen Gedächtnisses, die Christianisierung, spielt wie in anderen spätmittelalterlichen Íslendingasögur auch in der Grettis saga eine zentrale Rolle. Die eigentliche Christianisierung Islands wird von der Saga allerdings übersprungen, da die Schilderung von Grettirs Leben in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende einsetzt. Lediglich in der Vorgeschichte wird im Zusammenhang mit seinen Vorfahren kurz auf die Missionierung durch Bischof Friðrekr verwiesen, den auch Ari im Zusammenhang mit Missionierungsbestrebungen auf Island vor der Annahme des Christentums erwähnt: „ Þetta var eptir útkvámu Friðreks byskups ok þeira Þorvalds Koðránssonar; þeir bjuggu þá at L œ kjamóti, er þetta var. Þeir boðuðu kristni fyrst fyrir norðan land “ (ÍF VII: 35). 96 Die Saga thematisiert so nicht das singuläre Ereignis der offiziellen Annahme des Christentums, wie beispielsweise Kristni saga, Njáls saga oder Landnámabók, sondern vielmehr die zunehmende Verbreitung des christlichen Glaubens, die sie wie auch die Bárðar saga als einen progressiven, aber durchaus ambivalenten Prozess darstellt. Dieser Prozess wird personifiziert von Grettir selbst, der durch ein zwiespältiges Verhältnis sowohl dem christlichen als auch dem vorchristlichen Glauben gegenüber charakterisiert wird. Letzteres macht die Saga, wenngleich weniger offenkundig als die in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich analysierten Beispiele, auch Island als Schauplatz der Handlung sowie der den Riddarasögur näher stehende Stil des Spesar þáttr auf weiteren Ebenen das Ende der Grettis saga als Íslendingasaga signalisieren. 95 Geheimnisse, die sich hinter ihrem Text verbergen 96 Das war nach der Ankunft von Bischof Friðrekr und Þorvaldr Koðránsson und ihren Leuten in Island; sie wohnten damals in L œ kjamót, als das war. Sie verkündeten als erste das Christentum im Nordland; (HS: 33) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 229 <?page no="230"?> durch die Personifizierung von heidnischen Göttern deutlich. Neben der oben angesprochenen Personifikation Thors als negativ konnotierter heidnischer Gott, den Grettir gezwungen ist zu töten, um weiteren Schaden abzuwenden, erscheint auch eine positiv belegte Figur, die deutliche Züge eines heidnischen Gottes trägt: Der Riese Hallmundr gemahnt in verschiedener Hinsicht an Odin (Seelow 1998: 256) und ist Grettir Helfer und Freund. Wie in der Bárðar saga, in der Hallmundr ebenfalls erwähnt wird, wird auch in der Grettis saga zwischen guten und bösen nicht-menschlichen sowie nicht-christlichen Wesen unterschieden. Grettir, der selbst mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgezeichnet ist und durchaus auch Gemeinsamkeiten mit den von ihm bekämpften bösen Mächten an den Tag legt (Ármann Jakobsson 2009), versteht sich mit ersteren gut und hat ein besonderes Talent, die menschliche Gesellschaft von letzteren zu befreien. Er steht somit zwischen den Welten, worauf auch sein wiederholtes Auftreten unter dem Namen Gestr, der auf verschiedene nicht-menschliche Besucher in der christlichen Welt verweist, die in der altisländischen Literatur in Erscheinung treten, 97 und was insbesondere die für den weiteren Verlauf seines Lebens so wesentliche Auseinandersetzung mit dem Wiedergänger Glámr verdeutlicht. Während sich Glámr bei Anwesenheit eines Priesters nicht zeigt, ist Grettir sogar körperlicher Kontakt möglich. Anders als der durch seine schwedische Abstammung und seinen heidnischen Glauben in zweifacher Hinsicht von den Hofbewohnern und auch Grettir als nicht zur Gesellschaft gehörig abgegrenzte Glámr, der eindeutig außerhalb der Gesellschaft lokalisiert wird, wird Grettir trotz seiner Nähe zum orbis alius im Inneren verortet, wie die Schilderung des Kampfes zwischen den beiden aufzeigt. In der Sphäre der Kultur, symbolisiert durch das Haus, rechnet sich Grettir bessere Chancen gegen Glámr aus, der wiederum darauf abzielt, den Kampf nach außen, in die unzivilisierte Natur, zu verlagern (Noetzel 2017: 178), was ihm mit den für Grettir so gravierenden Folgen auch gelingt. Wenngleich Grettir durch die Nähe zu übernatürlichen, heidnisch konnotierten Wesen charakterisiert wird, steht er dem Christentum selbst keineswegs ablehnend gegenüber. Dies wird zunächst am norwegischen Königshof im Zusammenhang mit dem Gottesurteil deutlich, dem er sich unterwerfen soll, nachdem er ohne böswillige Absicht die Verbrennung der Söhne des Þórir í Garði herbeiführt und deshalb des Mordbrandes angeklagt wird. 98 Grettir ist durchaus gewillt, die Feuerprobe abzulegen, um sich durch ein Gottesurteil von diesem Verdacht zu befreien, und bereitet sich auch entsprechend darauf vor: Grettir kvaðzk gjarna vilja af sér koma þessu ámæli, ef konungi þ œ tti þat vera mega. Konungr bað hann satt frá segja, hversu farit hefði með þeim. Grettir sagði þá allt, sem áðr var greint, ok þat með, at þeir lifðu allir, er hann komsk út með eldinn; „ vil ek nú bjóða mik til slíkrar undanf œ rslu, sem yðr þykkja l ǫ g til standa. “ Óláfr konungr mælti þá: „ Unna vilju vér þér at bera járn fyrir þetta mál, ef þér verðr þess auðit. “ Gretti líkaði þat allvel; tók hann nú at fasta til járnsins, ok leið til þess, er sá dagr kom, er skírslan skyldi fram fara. (ÍF VII: 132) 97 Weitere Beispiele neben der oben ausführlicher analysierten Bárðar saga nennt Grønlie (2017: 201 - 202). 98 Ein Vergleich mit der Landnámabók zeigt, dass die Grettis saga ganz offensichtlich bemüht ist, Grettir in ein gutes Licht zu stellen, indem sie die Tat nicht wie diese als Mord bezeichnet, sondern als Unglücksfall verstanden wissen will (ÍF VII: XXX). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 230 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="231"?> Grettir meinte, er wolle sich gerne von dieser Anschuldigung befreien, wenn der König glaube, dass das möglich sei. Der König sagte, er solle wahrheitsgemäß erzählen, wie das mit ihnen gegangen sei. Grettir sagte dann alles, was zuvor erzählt wurde, und das kam dazu, dass sie alle lebten, als er hinauskam mit dem Feuer: „ Ich will mich jetzt zu jedem Unschuldsbeweis erbieten, den eurer Ansicht nach die Gesetze erfordern. “ König Óláfr sagte dann: „ Wir wollen dir erlauben, glühendes Eisen zu tragen für diese Sache, wenn dir das vergönnt ist. “ Grettir gefiel das sehr gut; er begann nun zu fasten für das Gottesurteil, und die Zeit verging, bis der Tag kam, an dem die Reinigungsprobe stattfinden sollte. (HS: 105 - 106) Die Saga stellt so eine positive Haltung Grettirs dem christlichen Glauben gegenüber dar, auch wenn es ihm aufgrund einer unbeherrschten Reaktion auf eine Provokation in der Kirche unmittelbar vor Beginn des Ordals nicht vergönnt ist, dieses abzulegen: Þá hljóp fram piltr einn frumvaxta, heldr svipligr, ok mælti til Grettis: „ Undarligr háttr er nú hér í landi þessu, þar sem menn skulu kristnir heita, at illvirkjar ok ránsmenn ok þjófar skulu fara í friði ok gera þeim skírslur; en hvat myndi illmenninu fyrir verða, nema forða lífinu meðan hann mætti? Hér er nú einn ódáðamaðrinn, er sannreyndr er at illvirkjum ok hefir brennt inni saklausa menn, ok skal hann þó enn ná undanf œ rslu, ok er þetta allmikill ósiðr. “ Hann fór at Gretti ok rétti honum fingr ok skar honum h ǫ fuð ok kallaði hann margýgjuson ok m ǫ rgum ǫ ðrum illum n ǫ fnum. Gretti varð skapfátt mj ǫ k við þetta, ok gat þá eigi st ǫ ðvat sik. Grettir reiddi þá upp hnefann ok sló piltinn undir eyrat, svá at hann lá þegar í óviti, en sumir segja, at hann væri dauðr þá þegar. En engi þóttisk vita, hvaðan sjá piltr kom, eða hvat af honum varð, en þat ætla menn helzt, at þat hafi verið óhreinn andi, sendr til óheilla Gretti. (ÍF VII: 133) Da sprang ein gerade erwachsen gewordener Bursche hervor, der ziemlich hässlich war, und sagte zu Grettir: „ Ein seltsamer Brauch herrscht jetzt hier in diesem Land, wo die Leute Christen heißen sollen, dass Übeltäter und Diebe und Mörder in Frieden herumgehen und sich Gottesurteilen unterwerfen können; doch was würde ein Übeltäter eher versuchen, als sein Leben zu retten, solang er kann? Hier ist jetzt ein Bösewicht, dessen Untaten bewiesen sind und der unschuldige Männer in einem Haus verbrannt hat, und er soll dennoch den Unschuldsbeweis antreten können; das ist eine schreckliche Unsitte. “ Er ging auf Grettir zu und zeigte mit dem Finger auf ihn und schnitt Gesichter und nannte ihn Sohn eines Meerweibs und gab ihm viele andere Schimpfnamen. Grettir wurde sehr wütend darüber, und konnte sich dann nicht zurückhalten. Er hob darauf die Faust und schlug dem Burschen so unters Ohr, dass dieser sofort besinnungslos dalag, und einige sagen, dass er auf der Stelle gestorben sei. Aber keiner glaubte zu wissen, woher dieser Bursche kam, oder was aus ihm wurde, und es wird meist vermutet, dass es ein unreiner Geist gewesen sei, der zu Grettirs Unglück gesandt worden war. (HS: 106) Ungeachtet dessen, ob die Verantwortung für Grettirs Verhalten, das das Gottesurteil unmöglich macht, mehr in seinem Charakter oder mehr in einer dämonischen Macht gesucht wird, 99 macht diese Episode deutlich, dass Grettir dem Christentum gegenüber zwar positiv eingestellt ist, sich zugleich jedoch als nicht kompatibel mit diesem erweist. Die Saga selbst verweist explizit auf einen unreinen Geist, womit sie wie Cook (1982 - 85: 151) vermerkt, vermutlich auf das Markusevangelium rekurriert, und dabei, wie Grønlie (2017: 249) anmerkt, mit dem Jungen, der diesen verkörpert, ein häufiges Element von Heiligenerzählungen verwendet. Während der Junge Grettir die Zugehörigkeit zur christlichen Gesellschaft abspricht (249), revidiert die Saga dieses Urteil zugleich, indem 99 In der jüngeren Forschung zeigt sich die Tendenz, Grettirs eigenen Beitrag zu seinem Untergang sehr stark zu gewichten und ihn so eher negativ zu beurteilen (Rankovi ć 2017: 378 - 381). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 231 <?page no="232"?> sie die Gleichsetzung der Anklägers mit einem unreinen Geist als allgemeine Meinung der Öffentlichkeit ( „ þat ætla menn helzt “ ) präsentiert, während die Ansicht, Grettir habe einen Jungen getötet, lediglich wenigen ( „ sumir segja “ ) zugeschrieben wird, womit externe Ursachen für Grettirs Verhalten weit mehr Gewicht erhalten als problematisches Verhalten von Seiten Grettirs. Ein derartiges Verständnis dieser Episode wird auch durch den weiteren Verlauf der Erzählung gestützt, in dem Grettir durchaus ein gutes Verhältnis zum Christentum kennzeichnet, wenn er auch nicht direkt mit diesem verbunden wird, wie insbesondere im Zusammenhang mit seiner Vernichtung der Trolle im Bárðardalur deutlich wird. 100 Bezeichnenderweise findet auch dieser Kampf mit übernatürlichen Mächten wie bereits die Auseinandersetzung mit Glámr an Jul statt. 101 Grettir selbst nimmt nicht am Weihnachtsgottesdienst teil, ermöglicht mit seiner Außerordentlichkeit allerdings der Hausfrau den Besuch der Messe, indem er sie mitsamt ihrem Kind durch einen reißenden Fluss trägt. Während Grettir in dieser Szene in der Rolle des heiligen Christophorus erscheint (Turville-Petre 1974 - 1977: 354) und damit auch ein Wunder von Óláfr inn helgi wiederholt (Grønlie 2017: 247), wird seine Menschlichkeit zugleich von der Hausfrau in Frage gestellt, deren Zweifel der Priester, und damit ein offizieller Vertreter des Christentums, jedoch umgehend zerstreut: Húsfreyja kom til Eyjardalsár til tíða, ok undruðu menn um ferðir hennar yfir ána. Hon sagðisk eigi vita, hvárt hana hefði yfir flutt maðr eða troll. Prestur kvað mann víst vera mundu, - „ þó at fára maki sé, ok látum hljótt yfir, “ sagði hann [ … ] (ÍF VII: 211) Die Hausfrau kam nach Eyjardalsá zum Gottesdienst, und die Leute wunderten sich, dass sie über den Fluss gekommen war. Sie sagte, sie wüsste nicht, ob ein Mensch sie herübergetragen habe oder ein Troll. Der Priester meinte, es sei sicher ein Mensch „ wenn er auch wenigen gleich ist, und wir wollen darüber schweigen “ , sagte er [ … ] (HS: 166) Nachdem Grettir während der Christmette erfolgreich gegen das Trollweib kämpft, erfolgt nach der Rückkehr der Hausfrau, der Grettir Bericht über die Ereignisse erstattet, eine explizite Anbindung seiner Person an den christlichen Glauben, die von ihm selbst ausgeht: „ Hann sagði þá til it sanna ok bað s œ kja prest ok kvazk vildu finna hann; var ok svá g ǫ rt “ (ÍF VII: 213). 102 Nachdem dem Priester Grettirs wahre Identität offenbar wird, bezweifelt er zunächst dessen Erzählung, was Grettir veranlasst, ihn zu überzeugen. Eptir jól var þat einn dag, at Grettir fór til Eyjardalsár, ok er þeir Grettir fundusk ok prestr, mælti Grettir: „ Sé ek þat, prestr, “ segir hann, „ at þú leggr lítinn trúnað á sagnir mínar. Nú vil ek, at þú farir með mér til árinnar ok sjáir, hver líkindi þér þykkir á vera. “ (ÍF VII: 214) Nach dem Julfest war es eines Tages, dass Grettir nach Eyjardalsá ging, und als sich Grettir und der Priester trafen, sprach Grettir: „ Ich sehe es, Priester “ , sagt er, „ dass du meinen Erzählungen wenig Glauben schenkst. Nun will ich, dass du mit mir zum Fluss gehst und siehst, wie wahrscheinlich es dir zu sein scheint. “ (HS: 168) 100 Geradezu berühmt ist diese Episode aufgrund ihrer Verbindungen zum altenglischen Versepos Beowulf, die die Forschung seit langem beschäftigen. Ausführlich zu den Gemeinsamkeiten der beiden Werke siehe Óskar Halldórsson (1982: 18 - 24). 101 Zum Erscheinen von Wiedergängern an Weihnachten als Inszenierung eines Gegensatzes zur Geburt Christi in Grettis saga und Eyrbyggja saga siehe Pettit (2020). 102 Er sagte dann die Wahrheit und bat, den Priester zu holen, er wolle mit ihm sprechen; das wurde auch getan. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 232 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="233"?> Wieder sucht Grettir von sich aus die Nähe zum Vertreter des Christentums. Dieser steht ihm zwar skeptisch, aber durchaus wohlwollend gegenüber. So bezweifelt er die Umsetzbarkeit von Grettirs Vorhaben, überlässt diesem aber die Entscheidung über das weitere Vorgehen und unterstützt ihn, als Grettir ihn vor seinem Tauchgang in den Wasserfall bittet, das Seil zu halten. Mit dieser Aufgabe ist er jedoch überfordert: Als er blutige Fetzen im Wasser erblickt, verlässt er seinen Posten, da er von Grettirs Tod ausgeht: Hann varð þá laus á velli ok þóttisk nú vita, at Grettir myndi dauðr vera; hljóp hann þá frá festarhaldinu ok fór heim. Var þá komit at kveldi, ok sagði prestr vísliga, at Grettir væri dauðr, ok sagði, at mikill skaði væri eptir þvílíkan mann. (ÍF VII: 216) Da hielt er der Sache nicht Stand und glaubte jetzt zu wissen, dass Grettir tot sei; er lief dann schnell weg von der Stelle, an der das Seil festgemacht war, und ging nach Hause. Da war es Abend geworden, und der Priester sagte, er wisse genau, dass Grettir tot sei, und sagte, der Tod eines solchen Mannes sei ein großer Verlust. (HS: 169) Diese Fehleinschätzung wird so mit einer erneuten höchst positiven Bewertung Grettirs verbunden, mittels derer ihm und seinen Fähigkeiten aus einer christlich-kirchlichen Perspektive Anerkennung gezollt wird. Beiläufig macht die Grettis saga damit zudem deutlich, dass auch ein Priester nicht unfehlbar ist. Die Beziehung zwischen Grettir und dem Repräsentanten des Christentums stellt sie erneut als ein völlig unproblematisches und von gegenseitiger Wertschätzung sowie Kooperation von Seiten Grettirs geprägtes Verhältnis dar. Nicht zuletzt zeigt sich hier, dass ein offizieller Vertreter des Christentums einer Herausforderung, wie sie die Trolle im Bárðardalur (und zuvor schon Glámr) darstellen, nicht gewachsen ist, was Grettir und seinen Fähigkeiten im Kampf gegen dämonische Mächte eine bedeutende gesellschaftliche Funktion zuweist. Grettir erweist sich in der betreffenden Lage nicht nur als hilfreicher, sondern auch als zuverlässiger als der Vertreter des Christentums, was dieser selbst eingesteht: „ En þá er prestr fann Gretti, spurði hann inniliga eptir atburðum, en hann sagði alla s ǫ gu um ferð sína ok kvað prest ótrúliga hafa haldit festinni. Prestr lét þat á sannask. “ (ÍF VII: 217) 103 Der gesellschaftliche Nutzen von Grettirs Handeln wird abschließend noch einmal betont, wobei dieses zudem erneut als Kooperation zwischen ihm und dem Gottesmann dargestellt wird, die ermöglicht, dass die den dämonischen Mächten zum Opfer gefallenen Personen, deren Gebeine Grettir aus der Höhle mitbringt, schließlich in den Schoß der Kirche heimkehren: „ varð ok aldri mein af aptrg ǫ ngum eða reimleikum þar í dalnum síðan; þótti Grettir þar g ǫ rt hafa mikla landhreinsun. Prestr jarðaði bein þessi í kirkjugarði. “ (ÍF VII: 219) 104 Bei diesem Kampf gegen die Trolle im Bárðardalur handelt es sich um die letzte Großtat Grettirs, bevor sein Ende eingeläutet wird. Nachdem er so noch einmal in zweifacher Hinsicht als Vernichter übernatürlicher Mächte dargestellt wird, der in einem betont positiven Bezug zum Christentum steht, rückt die Saga wieder seinen Status als gejagter Geächteter in den Fokus. Sein Aufenthaltsort wird bekannt, worauf er den Bárðardalur verlässt und bei Guðmundr inn ríki Schutz sucht, der ihm empfiehlt, sich auf der Insel 103 Als aber der Priester Grettir traf, fragte er ihn genau nach dem, was geschehen war, und dieser erzählte die ganze Geschichte von seiner Unternehmung und sagte, der Priester habe das Seil nicht sorgfältig gehalten. Der Priester musste das zugeben. (HS: 171) 104 es wurde dort im Tal auch nie mehr Schaden angerichtet durch Wiedergänger oder Spuk; man fand, Grettir habe dort eine große Befreiungstat für das Land vollbracht. Der Priester beerdigte die Gebeine auf dem Kirchhof. (HS: 171) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 233 <?page no="234"?> Drangey im Skagafjörður niederzulassen. 105 Indem eine geachtete sagazeitliche Persönlichkeit wie Guðmundr inn ríki, mächtiger höfðingi im Eyjafjörður-Bezirk, Hauptfigur der Ljósvetninga saga sowie in etlichen weiteren Íslendingasögur erwähnt, 106 Grettir den weiteren Weg weist und dafür sogar das Gesetz bricht, 107 wird dieser ebenfalls in einen positiven Kontext gestellt und zugleich durch diese persönliche Verbindung gesellschaftlich aufgewertet. Ein weiteres Kapitel, das die Saga zwischen den Rat Guðmundrs und Grettirs Umsetzung dessen schiebt, stellt zwar nicht direkt, aber doch indirekt eine Verbindung zwischen Grettirs Vorhaben und dem in den Íslendingasögur häufiger als kluger und geachteter Ratgeber in Erscheinung tretenden Goden Snorri her und hat eine ähnliche Wirkung. Nachdem Snorri goði bereits zuvor Grettir auf dessen Bitte um Beistand hin zwar nicht aufnehmen wollte, ihm aber verbale Unterstützung zusagte (Kap. 49), wird diese Verbindung vor Grettirs Fahrt nach Drangey nochmals erneuert. Einleitend berichtet Kap. 68, dass Snorri seinen Sohn Þórrodr vom Hof gejagt und ihm gesagt habe, er solle nicht wiederkommen, ehe er nicht einen Friedlosen erschlagen habe, was die Saga allerdings mehr pro forma als überzeugend motiviert: Eptir víg Þorsteins Kuggasonar lagði Snorri goði fæð mikla á þá Þórodd, son sinn, ok Sám, son Barkar hins digra, en þat er eigi greint, hvat þeir h ǫ fðu helzt til saka, útan þat, at þeir hafi eigi viljat gera eitthvert stórvirki, þat er Snorri lagði fyrir þá, ok því rak Snorri goði Þórodd brott frá sér ok bað hann eigi fyrr aptr koma en hann hefði drepit einnhvern skógarmann, ok svá varð at vera. (ÍF VII: 219 - 220) Nach der Erschlagung Þorsteinn Kuggasons wurde der Gode Snorri sehr unfreundlich gegen seinen Sohn Þóroddr und Sámr, den Sohn des B ǫ rkr digri, doch es wird nicht berichtet, was sie sich eigentlich zu Schulden kommen ließen, außer dass sie eine große Tat nicht ausführen haben wollen, die Snorri von ihnen gefordert hatte, und deshalb jagte der Gode Snorri Þóroddr davon und sagte, er solle nicht eher wiederkommen, bis er irgendeinen Friedlosen erschlagen habe, und dabei blieb es. (HS: 173) Als Þóroddr infolgedessen dann mit aller Macht versucht, den ihm weit überlegenen Grettir zu erschlagen, obwohl ihm dieser die Aussichtslosigkeit seines Bemühens klar vor Augen führt, beendet Grettir den Kampf schließlich auf wenig konventionelle Weise mit Verweis auf Snorri goði: Grettir leiddisk við hann at fásk; þreif hann til Þórodds ok setti hann niðr hjá sér ok mælti: „ Alls á ek kosti við þik at gera, þat sem ek vil, ok ekki hræðumk ek, at þú verðir mér at bana, en hræðumk ek hærukarlinn Snorra goða, f ǫ ður þinn, ok ráð hans; þau hafa flestum á kné komit. Ok skyldir þú ætla þér þat, er þú gætir orkat; en ekki er þat barnaf œ ri, at berjask við mik. “ En er Þóroddr sá, at hann kom engu fram, sefaðisk hann heldr, ok skildu þeir við þat. (ÍF VII: 221) Grettir wurde es langweilig, mit ihm zu kämpfen; er packte Þóroddr und setzte ihn neben sich nieder und sagte: „ Ich habe die Möglichkeit, alles mit dir zu machen, was ich will, und ich habe 105 Chronologisch ist das Zusammentreffen, wie es die Saga schildert, nicht möglich (ÍF VII: 218). Auch hier zeigt sich, dass im medialen Erzählen die Bedeutsamkeit eines Ereignisses wesentlich ist, nicht seine korrekte zeitliche Einordnung. 106 Aus der schriftlichen Überlieferung lässt sich ein facettenreiches Bild von Guðmundr inn ríki zusammensetzen, das ihn nicht nur positiv, aber als typischen Vertreter klassischer sagazeitlicher Häuptlinge zeichnet (Gísli Sigurðsson 2007). 107 Laut der Grágás darf einem Geächteten nicht geholfen werden, auch nicht mit einem Ratschlag, der Zuwiderhandelnde wird sonst ebenfalls bußfällig (s. v. „ Friedlosigkeit “ in RGA 9: 615). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 234 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="235"?> keine Angst, dass du mich töten könntest, doch ich habe Angst vor dem grauhaarigen Goden Snorri, deinem Vater, und vor seinen Ratschlägen; sie haben die meisten auf die Knie gebracht. Und du sollst dir nur das vornehmen, was du ausführen kannst; und es ist kein Kinderspiel, gegen mich zu kämpfen. “ Als aber Þóroddr sah, dass er nichts ausrichtete, beruhigte er sich wieder, und danach gingen sie auseinander. (HS: 174) Der Ausgang dieser Episode vermittelt weniger den Eindruck einer ernsten Aufforderung seines Sohnes durch Snorri, vielmehr scheint sie integriert, um Grettir im Vorfeld der Serie von Auseinandersetzungen, die ihm schließlich den Tod bringt, noch einmal mittels seiner Fähigkeiten, seines Handelns und seiner gesellschaftlicher Verbindungen als herausragend zu charakterisieren. So wird erneut Grettirs außerordentliche Stärke demonstriert, sein durchaus vorhandenes diplomatisches Geschick gezeigt (Rankovi ć 2017: 408) und nicht zuletzt sein Schicksal - wie kurz zuvor schon im Fall von Guðmundr inn ríki - eng mit einer bekannten Persönlichkeit verknüpft, der in der verschriftlichten Ursprungszeit der Isländer eine bedeutsame Rolle zukommt: Reið Þóroddr heim í Tungu ok sagði f ǫ ður sínum sameign þeira Grettis. Snorri goði brosti at ok mælti: „ Margr er dulinn at sér, ok varð ykkarr mikill mannamunr; þú hjótt upp á hann, en hann mátti gera við þik, hvat er hann vildi. En þó gerði Grettir vitrliga, er hann drap þik eigi, því at ek mynda eigi nennt hafa, at þín væri óhefnt; skal ek heldr leggja honum til liðs, ef ek verð við staddr hans mál. “ Fannsk þat mj ǫ k at Snorra, at honum þótti Grettir vel hafa g ǫ rt við Þórodd, ok var jafnan vinr hans síðan í till ǫ gum sínum. (ÍF VII: 221 - 222) Þóroddr ritt heim nach Tunga und erzählte seinem Vater, wie es ihm mit Grettir ergangen war. Der Gode Snorri lächelte und sagte: „ Mancher nimmt sich zuviel vor, und zwischen euch zeigte sich ein großer Unterschied; du schlugst auf ihn ein, doch er konnte mit dir tun, was er wollte. Und doch handelte Grettir klug, als er dich nicht tötete, denn ich hätte mich nicht damit zufrieden gegeben, dass du ungerächt geblieben wärest; ich werde ihn eher unterstützen, wenn ich mit seiner Sache zu tun habe. “ Man merkte es Snorri sehr an, dass er fand, Grettir habe sich Þóroddr gegenüber gut verhalten, und er war danach in seinen Ratschlägen immer sein Freund. (HS: 174) Durch diese Verbindung Grettirs mit Snorri goði, der in den Íslendingasögur häufig in der Funktion des klugen Ratgebers auftritt, wird Grettirs Handeln nicht zuletzt dadurch positiv bewertet und legitimiert, dass Snorri, wie schon vorab in der Erzählung, eben keinen Rat zur Ergreifung gibt oder gar dahingehend handelt. Durch die doppelte Anbindung an sagazeitliche Größen wird Grettir so vor seiner Aufenthaltsnahme auf Drangey explizit positiv konnotiert. Mit zwei kurz zuvor erwähnten Ereignissen weist die Saga zum Abschluss von Kap. 67 allerdings auch auf sein Ende: So erwähnt die Saga, dass er zu spät kommt, um Rache für Hallmundr zu nehmen, der so aus dem gesellschaftlichen Kreislauf ausgeschlossen wird - und verweist in diesem Zusammenhang auch auf die mediale Bedeutungsebene der Saga und deren weitere Entwicklung. 108 Zugleich impliziert 108 Als besonders beachtenswert markiert die Grettis saga diese Sagapassage, indem dem sterbenden Hallmundr mit der Hallmundarkviða im Stil der Fornaldarsögur sechseinhalb Strophen in den Mund gelegt werden (dazu Guðni Jónsson 1936: XXXIX). Der Tod Hallmundrs wird von der Grettis saga auch deshalb so prominent erzählt, weil diesem die Rolle zukommt, eine Prophezeiung über Grettirs weiteres Schicksal abzugeben. So antwortet er auf die Frage seiner Tochter, wer ihn rächen werde: „ Eigi er víst, at þess verði auðit; vita þykkjumk ek, at Grettir myndi hefna mín, ef hann mætti sér við koma, en ekki mun h œ gt að ganga í móti gæfu þessa manns, því at honum mun mikit lagit verða. “ (ÍF VII: 205; „ Es ist nicht sicher, dass das geschehen wird; ich glaube zu wissen, dass Grettir mich rächen Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 235 <?page no="236"?> die Saga damit auch, dass Grettir, der mit seinen heidnischen Zügen nicht mehr in die christliche Gesellschaft passt, gewissermaßen aus der Zeit fällt. Auch mit der anschließenden Anmerkung, dass Grettir bei seinem Aufenthalt in Sandhaugar mutmaßlich einen Sohn zeugte, der allerdings in jungen Jahren stirbt, verweist die Saga auf ein Ende der Linie Grettirs, der damit allein der Vergangenheit, nicht aber der Zukunft zugeordnet wird. Bemerkenswert im Zusammenhang mit Grettirs immer wieder betonter Nähe zum Christentum ist zudem, dass der von ihm gezeugte Sohn von der Allgemeinheit zunächst als Abkömmling des Priesters Steinn, der Grettir bei seinem Kampf gegen die Trolle assistiert, angesehen wird. Das in diesen kurzen Bemerkungen anklingende Ende Grettirs kommt erneut zur Sprache, als er nach seiner Auseinandersetzung mit dem Sohn des Goden Snorri seinen Heimathof Bjarg aufsucht. Er will, der Empfehlung von Guðmundr inn ríki folgend, nach Drangey, traut sich wegen seiner Angst vor der Dunkelheit jedoch nicht zu, ohne einen verlässlichen Menschen dort zu bleiben. Trotz ihrer unguten Vorahnungen erlaubt seine Mutter ihm, seinen jüngeren Bruder Illugi mitzunehmen, und unterstützt ihn zudem mit Geld, nicht ohne jedoch deutlich auf das schlimme Ende, das ihm droht, hinzuweisen. Im Anschluss daran nimmt das Ende Grettirs dann seinen Anfang, das damit eingeleitet wird von einer betont positiven Positionierung Grettirs in der Gesellschaft einerseits sowie verschiedenen negativen Vorzeichen andererseits. Die Felseninsel Drangey, zu der er sich mittels des Geldes seiner Mutter eine Überfahrt verschafft, wird dann die letzte Lebensstation Grettirs, dessen Situation sich durch die folgenden Ereignisse zunehmend zuspitzt und schließlich in seinen Tod mündet. Mit Grettirs Flucht nach Drangey wird erneut eine deutliche Unterscheidung von innen und außen abgebildet, die damit den Rahmen für die folgende Handlung vorgibt. Nachdem Grettir einen Großteil seines Geächtetendaseins im isländischen Hochland verbracht hat - jenseits der Zivilisation, aber doch von dieser umschlossen - , ist sein letzter Aufenthaltsort nun auch geographisch eindeutig im Außen lokalisiert: Die nur schwer zugängliche Felseninsel ist nicht nur unbewohnt, sondern liegt zudem eine Seemeile vom isländischen Festland entfernt. Der mit Grettirs Inbesitznahme von Drangey beginnende Schlussteil der Grettis saga lässt sich in aller Kürze wie folgt zusammenfassen: Grettirs Aufenthalt auf Drangey ist den Eigentümern der Insel, acht der führenden Männer des Bezirks, ein Dorn im Auge. Als deutlich wird, dass Grettir die Insel nicht zu verlassen gedenkt, wird sie unter der Bedingung, dass Grettir getötet oder vertrieben wird, zu einem Großteil an einen von ihnen, Þorbjörn Ǫ ngull, verkauft. Dieser wird bereits bei seiner Einführung sehr negativ dargestellt und kommt nach drei vergeblichen Versuchen schließlich mit Hilfe seiner Ziehmutter und deren Zauberkünsten zum Erfolg. Eine verzauberte Wurzel führt zu einer schweren Verletzung Grettirs, die ihn so schwächt, dass er getötet werden kann, nachdem eine Nachlässigkeit des Knechts Glaumr, der aus Faulheit die Leiter nicht hochzieht, Ǫ ngull und seinen Männern ermöglicht, auf die Insel zu gelangen. Der Art und Weise seines Vorgehens wegen wird Ǫ ngull abschließend für seine Tat geächtet und muss das Land verlassen. würde, wenn er es könnte, doch es wird nicht einfach sein, gegen das Glück dieses Mannes anzugehen, denn ihm ist Großes bestimmt. “ (HS: 161)). Grettir wird so ein herausragendes Schicksal beschieden, das auch den Fluch der ógæfa (Unglück), den Glámr ihm auferlegte, von ihm nimmt. Was an dieser Stelle zunächst kryptisch klingt, ist ein Verweis auf die Umkehr und imitatio Christi Grettirs, die die Saga im Schlussteil gestaltet, wie im anschließenden Kapitel analysiert werden soll. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 236 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="237"?> Im Folgenden möchte ich zeigen, wie der Schlussteil der Grettis saga mit den Ereignissen auf Drangey nicht nur den tragischen Tod eines außerordentlichen Helden und damit verbunden auch den endgültigen Untergang des isländischen heroischen Zeitalters inszeniert, sondern darüber hinaus auf mediale Weise mit der Figur Grettirs und insbesondere seinem Ende auch einer spezifischen Entwicklung der isländischen Gesellschaft in ihren Anfängen Gestalt verleiht, wobei diese diametral zum Leben Grettirs verläuft. Für die Isländer ist Grettirs Tod ein Verlust, zugleich bedeutet er jedoch auch einen Fortschritt für die isländische Gesellschaft, die sich damit einen entscheidenden Schritt von ihrem heidnischen Erbe distanziert, diesem aber zugleich auch ein Denkmal setzt. Dies stellt die Grettis saga dar, indem sie ausführt, was die ältere Sagaschreibung nur am Rande erwähnt. Gemäß der Íslendingabók war die Annahme des Christentums durch die Isländer mit einigen Zugeständnissen an die Anhänger des alten Glaubens verbunden: „ of barnaútburð skyldu standa en forn l ǫ g ok of hrossakj ǫ tsát. Skyldu menn blóta á laun, ef vildu, en varða fj ǫ rbaugsgarðr, ef váttum of kvæmi við. “ (ÍF I: 17) 109 Kurz merkt Ari dazu abschließend an: „ En síðarr fám vetrum vas sú heiðni af numin sem ǫ nnur. “ (ÍF I: 17) 110 In der Grettis saga wird diese endgültige Ächtung der Ausübung heidnischer Praktiken mit der Erinnerung an Grettir verknüpft, indem der Prozess, der zur Ächtung seines Mörders führt, auch diese bedeutende Gesetzesänderung mit sich bringt. So berichtet die Saga im Anschluss an das Urteil „ Var þá í l ǫ g tekit, at alla forneskjumenn gerðu þeir útlæga. “ (ÍF VII: 268 - 269) 111 Der Tod des Helden wird so als Anlass für eine Entwicklung inszeniert, mit der sich die isländische Gesellschaft vollständig als christlich etabliert, indem sie die letzten Relikte aus heidnischer Zeit endgültig verbannt. Grettirs Leben und insbesondere sein Ende vermitteln darüber hinaus auf mediale Weise Wissen über die isländische Gesellschaft und deren Entwicklung, wobei das Verhältnis zum heidnischen Erbe bei einer entschiedenen Distanzierung vom heidnischen Glauben neu definiert wird. Grettirs Tod bestimmt die Struktur der ganz auf diesen zugeschnittenen Grettis saga, und erweist sich durch seine gesellschaftliche Bedeutung als sozio-kulturelles Zeichen, das in der mittelalterlichen Literatur dann am augenfälligsten ist, wenn „ der Tod eines Helden Herrschaftsablösung signalisiert, die gleichzeitig als Änderung eines kulturellen Systems verstanden wird “ (Scholz Williams 1983: 140). Grettirs Schicksal, das unabwendbar auf seinen Tod hinausläuft, personifiziert das Schicksal des isländischen Volkes, dessen heidnische Vergangenheit mit der vollständigen und endgültigen Durchsetzung des Christentums unabwendbar zum Ende kommt. Bestimmend für den Schlussteil sind die dreimaligen Wiederholungen verschiedener Motive, wobei insbesondere die Thingversammlungen in Kap. 72, 77 und 84 ins Auge fallen. Diese Thingversammlungen strukturieren den Schlussteil, indem sie ihn in zwei Teile teilen und gewissermaßen einrahmen. Nach einer kurzen Darstellung der Ausgangssituation, die Grettirs Abschied von seiner Mutter, die Reise mit seinem Bruder Illugi in den Skagafjörður sowie die Besetzung von Drangey schildert und die Eigentümer sowie den Konflikt zwischen beiden Parteien einführt, folgt mit dem Hegranesthing die erste 109 bei Kindesausetzung sollten die alten Gesetze bestehen bleiben und auch beim Pferdefleischverzehr. Menschen sollten im Geheimen opfern, wenn sie wollten, aber sie sollten zur milden Acht verurteilt werden, wenn es Zeugen gäbe 110 Aber wenige Winter später wurde dieses Heidentum wie das andere abgeschafft. 111 Dann wurde in das Gesetz aufgenommen, dass alle, die das Heidentum pflegten, geächtet wurden. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 237 <?page no="238"?> Thingversammlung. Diese präsentiert Grettir wie verschiedentlich zuvor als herausragend im Kampf und auch sonst in der überlegenen Position. Dass er sich verkleidet unter dem Namen Gestr zuerst den Frieden zusichern lässt, bevor er sich zu erkennen gibt, ist eine Provokation für die ohnehin mit seiner Anwesenheit im Bezirk und speziell auf der Insel unzufriedenen Bauern, was den weiteren Handlungsverlauf motiviert. Eine zweite Thingversammlung markiert das Ende der ersten Hälfte des Schlussteils, die Grettir auch nach dem Hegranesthing weiter in der Rolle des Überlegenen präsentiert und ihn durch eine weitere Heldentat, das Durchschwimmen des Sundes, um Feuer zu holen, charakterisiert. Nötig aufgrund des Versagens von Glaumr, dem Knecht, der das Feuer ausgehen lässt, deutet diese Episode zum einen weitere Schwierigkeiten, die Grettir durch Glaumr erwachsen, bereits an. Zum anderen wirkt sie durch das sich daraus ergebende sexuelle Abenteuer Grettirs mit einer Magd, das vor allem durch seine frivole Komik gekennzeichnet ist, als Entspannungsmoment in der Sagahandlung. Grettir wird nach dieser Tat kollektive Wertschätzung gezollt, während sein Gegner Ǫ ngull durch Grettirs fortgesetzten Aufenthalt auf Drangey zunehmend unter Druck gerät: En er það fréttisk, at Grettir hafði lagzk viku sjávar, þótti ǫ llum frábærr fr œ knleikr hans bæði á sjá ok landi. Skagfirðingar ámæltu mj ǫ k Þorbirni ǫ ngli fyrir þat, er hann kom eigi Gretti brott ór Drangey, ok kváðusk mundu aptr taka hver sinn part. (ÍF VII: 241) Und als bekannt wurde, dass Grettir eine Seemeile weit geschwommen war, fanden alle, dass sein Mut auf dem Wasser wie auf dem Land außerordentlich sei. Die Leute aus dem Skagafjörður machten Þorbj ǫ rn Ǫ ngull schwere Vorhaltungen, weil er Grettir nicht von Drangey vertrieben hatte, und sie sagten, jeder würde seinen Anteil zurücknehmen. (HS: 189) Auch die Überleitung zur zweiten Thingversammlung beinhaltet eine positive Bewertung Grettirs, der wie bereits im Vorfeld seines Aufenthalt auf Drangey durch die gute Beziehung zu geachteten Persönlichkeiten der Sagazeit positiv konnotiert wird. Zugleich deutet sie die baldige Wende zum Negativen durch den Verlust bedeutender Unterstützer bereits an: Á þessum vetri andaðisk Skapti l ǫ gmaðr Þóroddsson. Var Gretti þat skaði mikill, því at hann hafði heitit at ganga fyrir um syknu hans, þegar Grettir hefði tuttugu vetr í sekð verit, en sjá var inn nítjándi sekðar hans, er nú var frá sagt um hríð. Um várit andaðisk Snorri goði, ok mart bar til tíðinda á þessum misserum, þat sem ekki kemr við þessa s ǫ gu. (ÍF VII: 243) In dem Winter starb der Gesetzessprecher Skapti Þóroddsson. Für Grettir war das ein großer Verlust, denn er hatte versprochen, seine Befreiung aus der Acht zu betreiben, wenn Grettir zwanzig Jahre friedlos gewesen sein würde, und dieses Jahr, von dem jetzt eine Zeitlang erzählt wurde, war das neunzehnte seiner Acht. Im Frühjahr starb der Gode Snorri, und in dem Jahr trug sich vieles zu, was diese Geschichte nicht berührt. (HS: 191) Neben dem Gesetzessprecher Skapti, der Grettir Hoffnung auf Befreiung aus der Acht macht, stirbt mit Snorri goði eine weitere sagazeitliche Führungspersönlichkeit, die von der Saga wie gezeigt im Vorfeld der Ereignisse auf Drangey als Unterstützer positiv in Beziehung zu Grettir gesetzt wird. Zugleich ordnet diese Anmerkung die dargestellten Ereignisse zeitlich ein, wobei die Grettis saga wie auch andere spätmittelalterliche Íslendingasögur die Bedeutung eines Ereigniszusammenhangs stärker gewichtet als eine historisch korrekte Darstellung: Während das endgültige Verbot von heidnischen Praktiken laut Ari wenige Winter nach der Annahme des Christentums gesetzlich besiegelt Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 238 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="239"?> wird, lässt es sich anhand der Darstellung der Grettis saga durch die Erwähnung des Todes von Snorri goði im Jahr zuvor auf das Jahr 1031 datieren, was eindeutig ein Anachronismus ist. 112 Die anschließend geschilderte Verhandlung auf dem Althing, die thematisiert, ob Grettirs Acht wegen zwanzigjähriger Dauer aufgehoben werden kann, markiert dann den Wendepunkt. 113 Da sich Grettir erst neunzehn Jahre in der Acht befindet, wird diese nicht aufgehoben - er muss weiter auf Drangey bleiben und die Situation spitzt sich zu. Die sich an diese Thingversammlung anschließende zweite Hälfte des Schlussteils steht dann in verschiedener Hinsicht unter umgekehrten Vorzeichen wie die erste. Nachdem Ǫ ngull mit Hilfe seiner Ziehmutter bösen Zauber ins Spiel bringt, wendet sich das Blatt für Grettir, er gerät in die Rolle des Unterlegenen und wird schließlich getötet. Mit seinem Tod wendet sich jedoch auch seine Stellung in der Gesellschaft, die ihn als betrauerten Toten wieder in ihre Mitte aufnimmt, während der vormals im Sinne der Gesellschaft agierende, aber bereits zu Beginn und im Handlungsverlauf zunehmend negativ bewertete Ǫ ngull auf dem Althing aufgrund seiner Vorgehensweise in der Auseinandersetzung mit Grettir geächtet und damit endgültig aus der Gesellschaft verbannt wird. Diese dritte Thingversammlung sowie eine kurze Schilderung ihrer direkten Folgen, Ǫ ngulls Fahrt nach Norwegen und schließlich Miklagarðr, was den Spesar þáttr einleitet, beschließt den erzählerischen Schlussteil der Grettis saga. 114 Dem Gesetz kommt durch diese drei Thingversammlungen sowohl auf der strukturellen als auch der Handlungsebene eine tragende Rolle zu, was auch seine Bedeutung im sagazeitlichen Island abbildet. Drei weitere dreimalige Wiederholungen von zentralen Motiven verbinden die beiden Hälften des Schlussteils, wobei ihre Gewichtung die Wendung zum Negativen abbildet: Zwei Mal fährt Ǫ ngull im ersten Teil vergeblich zur Insel, einmal im zweiten; zwei Demonstrationen von Grettirs Außerordentlichkeit finden sich im ersten Teil, mit seinem Verhalten im Angesicht des Todes eine weitere im zweiten Teil; einmal erfährt Grettir die Treulosigkeit seines Knechtes Glaumr im ersten, zwei Mal im zweiten Teil. Nicht zuletzt stellt die Grettis saga mit einem Dreischritt eine gesellschaftliche Entwicklung dar, die wesentlich für das isländische Selbstbild ist und den Hintergrund darstellt für die bereits angerissene Verknüpfung der Figur Grettirs mit der von Ari in der Íslendingabók berichteten Art und Weise der Annahme und Durchsetzung des Christentums auf Island. Wie die vorangegangenen Sagaanalysen deutlich machen, ist die Integration der vorchristlichen Vergangenheit in ein christliches Weltbild ein zentrales Anliegen des spätmittelalterlichen Erzählens der Íslendingasaga. Die mit Ausnahme der Vorgeschichte gänzlich in christlicher Zeit angesiedelte Grettis saga, die in so vielfältiger Hinsicht eine Auseinandersetzung mit der vorchristlichen Vergangenheit Islands darstellt, setzt entsprechend die vollständige Distanzierung vom Heidentum in Szene, um bedeutende pagan 112 Vermutlich fand diese Gesetzesänderung, die auf Betreiben von König Óláfr inn helgi erfolgte, im Jahr 1016 statt (Strauch 2013: 268). 113 Die Aufhebung einer Acht nach zwanzigjähriger Dauer hat keine gesetzliche Grundlage. Sie dient der Grettis saga als dramaturgisches Element, das medial zudem die Funktion hat, Grettirs Schicksal als durch das Gesetz vorgegeben zu inszenieren. 114 Nach dem Spesar þáttr erfolgt mit den oben angesprochenen Anmerkungen Sturla Þórðarsons in Kap. 93 noch eine kurze Zusammenfassung von Grettirs Leben, so dass die Saga, die eine der am meisten biographisch ausgerichteten unter den Íslendingasögur ist, anders als beispielsweise die ebenfalls biographisch strukturierte Króka-Refs saga (zu dieser nachfolgend 5.3.2), auch mit einem klaren Fokus auf ihren Protagonisten endet. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 239 <?page no="240"?> konnotierte Ursprungserinnerungen in die christliche Gegenwart zu integrieren. Mit erzählerischen Mitteln versinnbildlicht sie dabei, was die Íslendingabók als trockene Fakten überliefert, und vermittelt dem mittelalterlichen Publikum so auch Wissen über die eigenen Ursprünge. Drei Bezugnahmen auf Inhalte des Gesetzes, die das Verhältnis von heidnischer und christlicher Religion betreffen, sind in den Schlussteil eingebettet und werden als wesentliche Elemente eines spannenden Erzählstrangs in den Fokus gerückt. In ihrer Abfolge bilden sie die isländische Selbstbeschreibung, die die Íslendingabók vorlegt, szenisch ab und stellen so auf mediale Weise eine gesellschaftliche Entwicklung dar, die in einem mit Grettirs Tod verbundenen Fortschritt kulminiert: die endgültige Verbannung des Heidentums. Das erste dieser drei Elemente, die Friedenszusicherung auf dem Hegranesthing, imaginiert mit einprägsamen Worten und eindrücklichen Bildern eine friedliche Gesellschaft, aus der ein etwaiger Friedensbrecher ausgestoßen wird. Wenngleich aus einer christlichen Perspektive formuliert, setzt sie - in der Saga vorgetragen von dem Mann, der am meisten darauf drängt, dass Grettir „ væru grið gefin “ (ÍF VII: 231; „ Sicherheit gewährt würde “ ) - Christen und Heiden in ihrer Aufzählung gleich: „ Hér set ek grið, “ segir hann, „ allra manna á millum, [ … ] Sé sá griðníðingr, er griðin rýfr eða tryggðum spillir, rækr ok rekinn frá guði ok góðum m ǫ nnum, ór himinríki ok frá ǫ llum helgum m ǫ nnum, ok hvergi hæfr manna í milli, ok svá frá ǫ llum út flæmdr sem víðast varga reka eða kristnir menn kirkjur s œ kja, heiðnir menn hof blóta, eldr brennr, j ǫ rð gr œ r, mælt barn móður kallar ok móðir m ǫ g f œ ðir, aldir elda kynda, skip skríðr, skildir blíka, sól skín, snæ leggr, Finnr skríðr, fura vex, valr flýgr várlangan dag, ok standi honum beinn byrr undir báða vængi, himinn hverfr, heimr er byggðr, ok vindr veitir v ǫ tn til sjávar, karlar korni sá; hann skal firrask kirkjur ok kristna menn, heiðna h ǫ lda, hús ok hella, heim hvern, nema helvíti. Nú skulu vér vera sáttir ok sammála hverr við annan í huga góðum, hvárt sem vér finnumsk á fjalli eða fj ǫ ru, skipi eða skíði, j ǫ rðu eða j ǫ kli, í hafi eða á hestbaki, svá sem vin sinn í vatni finni eða bróður sinn á braut finni, jafnsáttir hverr við annan sem sonr við f ǫ ður eða faðir við son í samf ǫ rum ǫ llum. Nú leggju vér hendr saman, ok allir vér, ok h ǫ ldum vel griðin ok ǫ ll orð t ǫ luð í tryggðum þessum, at vitni guðs ok góðra manna ok allra þeira, er orð mín heyra, eða n ǫ kkurir eru nær staddir. “ (ÍF VII: 232 - 233) „ Hier verkünde ich Frieden “ , sagte er, „ zwischen allen Menschen [ … ]. Der sei ein Friedensbrecher, der den Frieden stört oder die Sicherheit verletzt, verabscheut und verstoßen von Gott und guten Menschen, aus dem Himmelreich und von allen Heiligen, und nirgends geduldet unter den Menschen und vertrieben von allen, soweit man Wölfe jagt oder Christen Kirchen besuchen, Heiden Opfer bringen, das Feuer brennt, die Erde grünt, das sprechende Kind die Mutter ruft und die Mutter den Sohn gebiert, Menschen Feuer entzünden, das Schiff schwimmt, Schilde blinken, die Sonne scheint, Schnee fällt, der Finne gleitet, die Föhre wächst, der Falke fliegt den frühlingslangen Tag, wenn ihm gerader Fahrtwind unter beide Flügel steht, der Himmel sich dreht, die Welt bebaut wird und der Wind Wasser nach dem Meere führt, Männer Korn säen; er soll meiden Kirchen und Christen, heidnische Männer, Häuser und Höhlen, jeden Ort außer der Hölle. Nun sollen wir uns alle einig und ausgesöhnt sein untereinander in gutem Willen, ob wir uns treffen im Gebirge oder am Strand, auf dem Schiff oder auf Skiern, auf der Erde oder auf ewigem Eis; im Meer oder im Sattel, so wie man seinen Freund im Wasser trifft oder seinem Bruder auf dem Weg begegnet, ebenso ausgesöhnt untereinander wie der Sohn mit dem Vater oder der Vater mit dem Sohn bei jeglichem Umgang: Nun legen wir die Hände zusammen, wir alle, und halten wohl diesen Frieden und alle bei dieser Erklärung gesprochenen Worte, bei Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 240 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="241"?> Zeugnis Gottes und guter Menschen und all derer, die meine Worte hören, oder die in der Nähe stehen. “ (HS: 181 - 182) Mit dieser Friedenszusicherung, Tryggðamál oder auch Griðamál genannt, integriert die Grettis saga eine deutlich ältere und ursprünglich mündliche Überlieferung, erkennbar an der altertümlichen Sprache, die insbesondere durch Stabreim das Auswendiglernen und damit die mündliche Weitergabe erleichtert. 115 Indem sie einen offenkundig über Jahrhunderte bedeutsamen kulturellen Text aufgreift, gewährleistet die Erinnerungsgemeinschaft kulturelle Kontinuität, durch seine Aktualisierung im Sagakontext erhält dieser im spätmittelalterlichen Erzählen der Saga zudem medial Bedeutung. In seiner ältesten Verschriftung in der Grágás „ clearly designed to be spoken formally by a third party, an arbitrator, in the presence of witnesses, to two antagonists who are being reconciled “ (Jackson 2016: 8), verbildlichen die Tryggðamál - selbst ein ursprünglich vorchristlicher, christlich assimilierter Text - in der Grettis saga zu Beginn des Schlussteils auch dessen Programmatik: Wie zwei Opponenten stehen sich die vorchristlich-heidnische Vergangenheit und die christliche Gegenwart der Isländer gegenüber - sie gilt es zu versöhnen, um das Werden der Isländer als einen sinnvollen und gottgewollten, zwangsläufigen Verlauf darzustellen und wesentliche identitätsstiftende, aber ursprünglich heidnisch konnotierte Erinnerungen trotz des Glaubenswechsels zu bewahren. Auf einer medialen Ebene dienen die Tryggðamál im Kontext der Erzählung zudem dazu, identitätsstiftendes Wissen der Isländer zu vermitteln. Mittels der Friedenszusicherung wird eine Gesellschaft dargestellt, in der Heiden und Christen unter der Herrschaft des christlichen Gottes zusammenleben. In der medialen Darstellung der Entwicklung der christlichen isländischen Gesellschaft, die dem Schlussteil der Grettis saga zugrunde liegt, handelt es sich dabei um die erste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung Islands, die in der Íslendingabók durch die Verhandlungen über die Annahme des Christentums in Kap. 7 dargestellt wird. Die zweite Stufe dieser Entwicklung stellt die Saga dann im Zusammenhang mit Þorbj ǫ rn Ǫ ngulls Ziehmutter Þuríðr dar. Nachdem die Saga im Kontext der Ereignisse auf dem Hegranesthing noch eine friedliche Gemeinschaft von Christen und Heiden darstellt, präsentiert die Saga bei der anschließenden Einführung von Þuríðr mit einem weiteren Verweis auf das Gesetz als zweiten Schritt ein etwas anders geartetes Verhältnis von Christentum und Heidentum: Fóstru átti Þorbj ǫ rn ǫ ngull, er Þuríðr hét; hon var mj ǫ k g ǫ mul ok til lítils f œ r, at því er m ǫ nnum þótti. Hon hafði verit fj ǫ lkunnig mj ǫ k ok margkunnig mj ǫ k, þá er hon var ung ok menn váru heiðnir; nú þótti sem hún myndi ǫ llu týnt hafa. En þó at kristni væri á landinu, þá váru þó margir gneistar heiðninnar eptir. Þat hafði verit l ǫ g hér á landi, at eigi var bannat at blóta á laun eða fremja aðra forneskju, en varðaði fj ǫ rbaugss ǫ k, ef opinbert yrði. (ÍF VII: 245) 115 Wie Elizabeth Jackson (2016) mit Verweis auf Parallelen und Verbindungen zu anderen mittelalterlichen Überlieferungen aufzeigt, ist es möglich, Fragmente der in der mittelalterlichen isländischen Literatur überlieferten Tryggðamál auf eine gemeingermanische mündliche Überlieferung zurückzuführen. Sie zeichnet eine Entwicklung nach, die über die Einbindung in eine sehr frühe Version einer norwegischen Tryggðamál, die mündliche Transmission nach Island, die Christianisierung im Zuge des Übertritts zum Christentum, die anschließende Verschriftung und schließlich zur Verwendung in literarischen Zusammenhängen führt, wie sie neben der Grettis saga auch die Heiðarvíga saga zeigt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 241 <?page no="242"?> Þorbj ǫ rn Ǫ ngull hatte eine Ziehmutter, die Þuríðr hieß; sie war sehr alt und zu wenig zu gebrauchen, wie die Leute fanden. Sie war sehr zauberkundig gewesen und sehr bewandert in vielen Dingen, als sie jung war und die Leute Heiden waren; jetzt glaubte man, sie habe alles vergessen: Aber obwohl das Christentum im Land war, gab es trotzdem noch viele Funken des Heidentums. Es war hier im Land Gesetz gewesen, dass es nicht verboten war, heimlich zu opfern oder andere heidnische Bräuche zu pflegen, doch es hatte eine Anklage auf Landesverweisung zur Folge, wenn es offenbar wurde. (HS: 192) Dass das Opfern im Geheimen nach der Annahme des Christentums zunächst noch erlaubt war, aber dreijährige Landesverweisung nach sich zog, wenn es offenbar wurde, berichtet, wie oben zitiert, auch die Íslendingabók. Anders als diese erwähnt die Grettis saga die beiden anderen Zugeständnisse, die an die Anhänger des paganen Glaubens gemacht werden, nicht, sondern fokussiert auf das für den weiteren Handlungsverlauf bedeutsame Ausüben heidnischer Kulthandlungen, wobei sie im Hinblick auf diesen „ blóta “ (opfern) mit „ eða fremja aðra forneskju “ (oder andere heidnische Handlungen ausführen) ergänzt. 116 Mit dem anschließenden Verweis auf die Persistenz alter Gewohnheiten im Laufe eines Menschenlebens wird dieser zudem bereits angedeutet: „ Nú fór svá m ǫ rgum, at gj ǫ rn var h ǫ nd á venju, ok þat varð tamast, sem í œ skunni hafði numit. “ (ÍF VII: 245 - 246) 117 Hier wird nun eine frühchristliche Gesellschaft dargestellt, in der pagane Elemente noch präsent sind und gewisse Konzessionen an die Anhänger des Heidentums gemacht werden, obwohl dieses entsprechend Aris oben zitierter Aussage abgelegt wurde. Þuríðr wird als Relikt einer vergangenen Zeit präsentiert, die in der Gegenwart noch nachwirkt, von der sich die Saga aber zugleich deutlich abgrenzt. Der Allgemeinheit erscheint es ungeeignet, sich derartige Unterstützung zu suchen. Lediglich Ǫ ngull, der negativ konnotierte Widersacher Grettirs, sieht darin eine letzte Möglichkeit, Grettir doch zu besiegen. Bevor die sich aus Ǫ ngulls Handeln ergebenden Ereignisse geschildert werden, distanziert sich die Saga somit deutlich von der Ausübung heidnischer Praktiken, die lediglich als letztes Mittel wenig sympathischer Zeitgenossen, das ansonsten verurteilt wird, vorgestellt werden. Während in der Íslendingabók die später vollzogene Verschärfung des Gesetzes, die das Ausüben heidnischer Glaubenspraktiken komplett verbietet, knapp als Faktum konstatiert wird, motiviert die Grettis saga diese und zeigt ihre Notwendigkeit anhand des Erzählverlaufs eindrücklich auf. Die dritte und letzte Stufe in dieser medial dargestellten Entwicklung der isländischen Gesellschaft schließlich wird von der dritten Thingversammlung im Schlussteil abgebildet, auf der Ǫ ngull infolge der Geschehnisse um Grettirs Tod geächtet und als Konsequenz aus den Ereignissen, wie oben zitiert, das Gesetz geändert wird. Was zunächst der milden Acht unterlag, wird nun mit strenger Acht belegt, wobei die Saga auch durch die Wortwahl den Ausschluss aus der Gesellschaft und den damit verbundenen niedrigen Status des Verbannten zum Ausdruck bringt. Der Terminus forneskjumenn, mit dem die zu Ächtenden 116 Forneskja bezeichnet zum einen die alte, also heidnische Zeit generell, ist je nach Kontext aber auch mit ‚ Heidentum ‘ oder ‚ Zauberkunst ‘ zu übersetzen, was auf die enge Zusammengehörigkeit dieser beiden Aspekte aus christlicher Perspektive verweist (dazu s. v. „ forneskja “ in ONP). Bei der nominalen Abstraktbildung zu forn handelt es sich um eine späte Form, die explizit den Gegensatz zum Christentum bezeichnet, womit die Grettis saga die Opposition von heidnisch und christlich auch durch ihre Wortwahl in den Blick rückt. 117 Nun ging es vielen so, dass die Hand gern das Gewohnte tat und das am nächsten lag, was man in der Jugend gelernt hatte. (HS: 192) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 242 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="243"?> belegt werden, macht deutlich, dass diese Ächtung einem gesellschaftlichen Bann gleichkommt, insofern als sämtliche dem Heidentum zugerechneten Menschen ausgeschlossen werden. Gesellschaftlich bedeutet dies für das christliche Island eine weitere Progression, die zugleich den Endpunkt der Christianisierung darstellt. Dies macht auch die Íslendingabok deutlich, die Kap. 7, das von der Annahme des Christentums berichtet, mit der Erwähnung des endgültigen Verbots der heidnischen Religion schließt, der lediglich noch die Nennung der Gewährsperson für das Berichtete, die Erwähnung des Todes von Óláfr Tryggvason sowie eine zeitlichen Einordnung folgen (ÍF I: 17 - 18). Umkehr und imitatio Christi Vor dem Hintergrund dieses gesellschaftlichen Dreischritts integriert die Grettis saga das von Ari knapp konstatierte endgültige Verbot der Ausübung heidnischer Praktiken in die Sagazeit als isländische Ursprungszeit und weist ihrem Protagonisten dabei eine zentrale, wenngleich passive Rolle zu. Nachdem er sich im Laufe seines Lebens um die Befreiung der Menschen von bösen übernatürlichen Mächten verdient gemacht hat, bewirkt sein Tod schließlich die endgültige gesellschaftliche Verbannung dieser. Indem die Saga diese Gesetzesänderung explizit mit Grettir verbindet und als direkte Folge seines Todes darstellt, erhebt sie seinen Tod zum Opfertod und ihn damit zum Märtyrer im Kampf um die Durchsetzung des Christentums auf Island. Wie Ólafur Halldórsson (1977: 633 - 634) betont, übernehmen Geächtete häufig die Rolle eines gesellschaftlichen Opferlamms. Grettir ist damit geradezu prädestiniert für die Rolle eines Märtyrers, nicht zuletzt da „ die affektive Kraft des Heroischen, das Erstaunen und Faszination hervorruft, Nähe und Distanz evoziert, grundsätzlich dem Sakralen verwandt zu sein scheint “ wie Heinzer/ Leonhard/ von den Hoff (2017: 13) feststellen. Dass Grettirs Tod dem eines Märtyrers gleicht, wurde von der Sagaforschung bereits wiederholt angemerkt, 118 bislang jedoch nicht weiter in das Gesamtverständnis der Grettis saga integriert. Wie ich zeigen werde, ist der Tod nur eines von verschiedenen Elementen, die sämtlich der Sakralisierung Grettirs dienen, die ihrerseits den Zweck hat, die christliche Gegenwart des mittelalterlichen Island mit seinen nicht-christlichen Wurzeln im Sinne einer gottgewollten Entwicklung zu verbinden. Diese Sakralisierung Grettirs, die ihren Anfang mit der finalen vierten und schließlich erfolgreichen Fahrt von Ǫ ngull nach Drangey nimmt, wird von der Saga zuvor bereits angedeutet. Auf der dritten Fahrt, bei der Ǫ ngull von seiner Ziehmutter begleitet wird, belegt er Grettir und seine Gefährten mit der Bezeichnung „ heljarmenn “ (ÍF VII: 247; wörtlich „ Männer der Hel “ ), als Grettir deutlich macht, dass er Drangey nicht zu verlassen gedenkt. Die Erwähnung Hels verweist auf den nahenden Tod der Bezeichneten, aber auch auf Grettirs Gefährlichkeit sowie seine nicht-christlichen Züge und konnotiert ihn heidnisch, wenngleich die Bezeichnung heljarmaðr auch ohne Bezug zum Heidentum für einen Mann von außerordentlicher Kampfesstärke verwendet wird. Eine wesentlich stärkere und negativere nicht-christliche Konnotation rufen deshalb daran anschließend dann die Bezeichnungen hervor, mit denen Grettir im Gegenzug die Ziehmutter Ǫ ngulls 118 Meines Wissens weist Halldór Laxness, wie oben zitiert, als erster darauf hin, im wissenschaftlichen Kontext wird es zunächst eher beiläufig von Hermann Pálsson (1980: 96) vermerkt, in jüngerer Zeit von Rankovi ć (2007: 403 - 405) etwas ausführlicher thematisiert. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 243 <?page no="244"?> belegt, nachdem sich diese mit einer negativen Prophezeiung in die Auseinandersetzung einmischt: „ Fussum þeiri gørningavætti, “ segir Grettir, „ ok var þar eigi ins verra eptir ván, ok við engi orð hefir mér meir brugðit en þessi, er hon mælti; ok þat veit ek, at af henni ok hennar fj ǫ lkynngi leiðir mér n ǫ kkut illt. Skal hon ok eitthvert til minjar hafa, er hon hefir okkr heimsótt, “ ok þreif upp stein stundar mikinn ok kastaði ofan á skipit, ok kom á fatahrúguna. Þat var þó lengra steinkast, en Þorbj ǫ rn ætlaði, at n ǫ kkurr maðr myndi kasta. Við þat kom upp skrækr mikill; hafði steinninn komit á þjólegg kerlingar, svá at í sundr gekk. Þá mælti Illugi: „ Ekki vilda ek, at þú hefðir þetta g ǫ rt. “ „ Lasta þú eigi þetta, “ segir Grettir, „ en þat uggir mik, at of lítt hafi á komit, því at eigi væri of goldit fyrir okkr báða, þó at ein kerling komi fyrir okkr. “ (ÍF VII: 248) „ Pfui, diese Hexe “ , sagt Grettir, „ da konnte man nichts Schlimmeres mehr erwarten, und keine Worte haben mich mehr erschreckt als diese, die sie sagte; ich weiß, dass mir von ihr und ihrer Hexerei etwas Böses geschehen wird. Sie soll auch etwas zum Andenken daran haben, dass sie uns besucht hat “ , und er hob einen riesigen Stein und warf ihn hinunter auf das Schiff und traf den Kleiderhaufen. Das war doch ein weiterer Steinwurf, als Þorbj ǫ rn je einem Mann zugetraut hätte. Da ertönte ein lauter Schrei; der Stein hatte den Oberschenkel der Alten getroffen, so dass er brach. Da sprach Illugi: „ Ich wünschte, dass du das nicht getan hättest. “ „ Tadle es nicht “ , sagt Grettir; „ doch ich fürchte, dass es nicht genug getroffen hat, denn es wäre für uns beide nicht zu teuer gebüßt, wenn ein altes Weib gegen uns aufgerechnet würde. “ (HS: 194) Der Terminus fjándi, in den Íslendingasögur zumeist ‚ Feind ‘ , ist in einem christlichreligiösen Kontext die übliche Bezeichnung für den Satan als Gegenspieler Gottes, der als solcher auch in zahlreichen Märtyrerbiographien erscheint. Diese Rolle nimmt in der Grettis saga die Ziehmutter Ǫ ngulls ein, deren Charakterisierung als gørningavættr (Hexe) nicht nur ihre magischen Fähigkeiten betont, sondern sie auch den nicht-menschlichen Wesen zuordnet. Dass einem weiblichen Wesen die Rolle des Satans zugewiesen wird, verweist auch hier auf die negative Konnotierung von Weiblichkeit infolge des mit der Christianisierung verbundenen Siegeszugs des Patriarchats. Im Steinwurf Grettirs, zu dem ihn sein Wissen um die Gefährlichkeit der Alten und seine Angst vor den daraus resultierenden Konsequenzen bewegen, der die Alte jedoch nur verletzt, nicht tötet, kommt noch einmal Grettirs Außerordentlichkeit zum Ausdruck. Seine Worte deuten zugleich den angedeuteten Fortgang der Ereignisse an und verweisen bereits auf sein Ende. Vor allem aber ist diese Szene für die Inszenierung von Grettirs Tod als Opfertod bedeutsam: Grettir fordert die Auseinandersetzung, die zu seinem Tod führt, aber zugleich auch das Heidentum final zum Ende bringt, aktiv heraus, obwohl er sich der negativen Konsequenzen, die dies für ihn persönlich mit sich bringt, durchaus bewusst ist. 119 Nicht zuletzt präsentiert diese Szene die komprimierte Form einer Kernaussage des Schlussteils der Grettis saga: Heidnisches ist bedrohlich und muss gänzlich beseitigt werden, da es ansonsten zu großem Unheil führt. Die Bedrohlichkeit und das Unheilverheißende der 119 Anders als Hermann Pálsson (1981: 98), der diesen Steinwurf mit Grettirs Verhalten nach Glaumrs Provokation im Hinblick auf den Wurzelstock gleichsetzt und konstatiert, dass Grettir im Schlussteil zwei Mal die Beherrschung verliert, sehe ich an dieser Stelle keinerlei Hinweis auf einen Kontrollverlust Grettirs, sondern eine durchaus gewollte Handlung, was nicht zuletzt seine Verteidigung dieser gegenüber Illugi zum Ausdruck bringt. Die Saga verwendet auch den Terminus skapfátt (wütend), anders als in den beiden anderen Fällen, nicht. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 244 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="245"?> heidnischen Religion werden im weiteren Handlungsverlauf dann im Zusammenhang mit der Ausübung des Zaubers durch Ǫ ngulls Ziehmutter inszeniert: [ … ] ok er hon kom til strandar, haltraði hon fram með sænum, svá sem henni væri vísat til. Þar lá fyrir henni rótartré svá mikit sem axlbyrðr. Hon leit á tréit ok bað þá snúa fyrir sér; þat var sem sviðit og gniðat ǫ ðrum megin. Hon lét telgja á lítinn flatveg, þar gniðat var; síðan tók hon hníf sinn ok reist rúnar á rótinni ok rauð í blóði sínu ok kvað yfir galdra. Hon gekk ǫ fug ands œ lis um tréit ok hafði þar yfir m ǫ rg r ǫ mm ummæli. Eptir þat lætr hon hrinda trénu á sjá ok mælti svá fyrir, at þat skyldi reka út til Drangeyjar, ok verði Gretti allt mein at. (ÍF VII: 249 - 250) [ … ] und als sie zum Strand kam, humpelte sie am Meer entlang, als ob ihr die Richtung gewiesen würde. Dort lag vor ihr ein Wurzelstock, der so groß war, dass man ihn gerade noch auf der Schulter tragen konnte. Sie schaute die Wurzel an und sagte, sie sollten sie für sie umdrehen; das Holz war angebrannt und abgerieben auf der einen Seite. Sie ließ eine kleine, flache Stelle schnitzen, wo es abgerieben war; danach nahm sie ihr Messer und ritzte Runen darauf und malte sie rot mit ihrem Blut und sprach darüber Zauberworte. Sie ging rückwärts gegen den Lauf der Sonne um den Wurzelstock und sagte dazu viele böse Sprüche. Darauf lässt sie den Wurzelstock ins Meer stoßen und sagte, dass er nach Drangey hinaustreiben solle, und Grettir solle großen Schaden davontragen. (HS: 195) Im Gesamtkontext der Saga trägt diese Szene zugleich dazu bei, ein typisch vorchristliches Element der isländischen Gesellschaft von seiner heidnisch-religiösen Konnotation zu lösen. Die Schrift des paganen Island, die hier als Teil dieser Praxis bezeichneten Runen, ist nicht per se negativ, sondern lediglich in diesem Zusammenhang, wie im Vergleich mit Kap. 66 deutlich wird, in dem Grettir mit in Runen in einen Stab geritzten Strophen mit dem Priester kommuniziert. Die Gefährlichkeit des Wurzelstocks wird anschließend auch durch sein Verhalten angezeigt (ÍF VII: 250) - „ hóf rót kerlingar í móti veðri, ok þótti fara eigi vánu seinna “ 120 - bevor eine weitere dreimalige Wiederholung auf seine Signifikanz im Handlungsverlauf verweist. Beim ersten Fund von Grettir als „ Illt tré ok af illum sent “ bezeichnet, warnt dieser seinen Bruder „ þat er sent okkr til óheilla “ , und wirft ihn ins Meer zurück. 121 Ebenso verfährt er auch am nächsten Tag, als die beiden erneut auf die Wurzel stoßen „ ok var þá nær stigunum en inn fyrra dag “ . 122 Erneut warnt Grettir „ ok kvað þat aldregi skyldu heim bera “ , doch als der Wurzelstock schließlich von Glaumr, dem Knecht, gefunden und in die Hütte gebracht wird, lässt er sich von dessen Worten „ F œ r þú eigi verr í sundr en ek hefi heim f œ rt “ (ÍF VII: 251) provozieren. 123 Wie schon im Falle der Provokation vor dem Gottesurteil reagiert er skapfátt (wütend), was ihn unachtsam werden lässt und dazu führt, dass er den von Glaumr angeschleppten verhexten Wurzelstock nicht erkennt, ihn kleinhacken will und sich dabei verletzt. Die Wunde, die er sich dabei zuzieht, entzündet sich und ist zwar nicht unmittelbar tödlich, aber die Ursache dafür, dass Grettir schlussendlich nicht im Stande ist, sich gegen seine Angreifer zu verteidigen. 120 die Wurzel der Alten trieb gegen die Windrichtung und schien sich nicht langsamer zu bewegen, als man erwarten konnte (HS: 196) 121 Ein böser Baum und von einem Bösen geschickt/ er ist uns zum Unheil geschickt (HS: 196) 122 und sie war jetzt näher an den Leitern als am ersten Tag (HS: 196) 123 und sagte, dass man sie nie nach Hause tragen dürfe/ „ Mach du sie nicht schlechter auseinander, als ich sie nach Hause gebracht habe. “ (HS: 196) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 245 <?page no="246"?> Wie Hamer aufzeigt, finden sich in der Episode um die verhexte Wurzel verschiedene lexikalische Parallelen zur Darstellung des Gottesurteils in Kap. 39. So wird im Zusammenhang mit der Szene, die das Gottesurteil erforderlich macht, von glaumr (Lärm) berichtet, der durch das Auftreten Grettirs ein Ende findet. Glaumr ist zugleich der Beiname des Knechts, dessen Unzuverlässigkeit Grettir schließlich den Tod bringt, so dass Hamer (2008: 26) treffend schlussfolgert: „ Glaumr is part of Grettirs destruction, but Grettir had earlier put a very sudden end to glaumr. “ Neben der Charakterisierung Grettirs als skapfátt angesichts einer Provokation sowohl im Zusammenhang mit dem Gottesurteil als auch mit dem verhexten Wurzelstock verweist die Wiederholung der Phrase sendr/ sent til óheilla (zum Unheil senden/ gesendet), die ebenfalls in beiden Zusammenhängen erscheint, auf eine narrative Verbindung dieser beiden Episoden (dazu Hamer 2008: 25 - 28). Während Hamer diese als Hinweis darauf versteht, dass der sich durch das misslungene Ordal als Sünder erweisende Grettir auch als Sünder stirbt, bringen die lexikalischen Wiederholungen in den beiden Episoden meines Erachtens vielmehr das Gegenteil zum Ausdruck. Hamer, der Grettirs tödliche Wunde als Zeichen dafür deutet, „ that still, at the moment of his death, he remains inmundus / óhreinn “ (34), vernachlässigt den narrativen Kontext, in dem die Saga auf das Gottesurteil rekurriert, und übersieht so, dass dieser die Bezugnahme in ein ganz neues Licht stellt und vielmehr nahelegt, den Wurzelstock als Grettirs neuerliches iudicium Dei zu verstehen. 124 In die Richtung einer derartigen Deutung verweisen auch die von Hermann Pálsson (1981: 89) aufgezeigten Verbindungen zwischen der Grettis saga und dem Buch Hiob, die seiner Ansicht nach die Vermutung nahelegen, „ að Jóbsbók hafi gefið höfundi Grettlu ákveðnar hugmyndir um mannraunir og þjáningar “ . 125 Nicht zuletzt wird diese Interpretation durch die Worte gestützt, die Illugi nach Grettirs Tod an Ǫ ngull richtet. Neben dem Vorwurf, sich der Zauberei bedient zu haben, verweist Illugi auch auf das „ níðingsverk “ (die schändliche Tat), den bereits todgeweihten Grettir mit Waffen angegriffen zu haben. Dabei verwendet er mit der Formulierung „ þér bærið járn á hann “ (ÍF VII: 262; wörtlich „ ihr habt Eisen an ihn gelegt “ ) dieselben Worte, die für die Eisenprobe (at bera járn; Eisen tragen) verwendet werden, worin auch die passive Rolle Grettirs im Zusammenhang mit seinem zweiten Gottesurteil anklingt. Wie bereits angesprochen, mutet Grettirs Tod an wie ein Märtyrertod, wenngleich Grettir kein Märtyrer im klassischen Sinne - ein durch besondere Frömmigkeit gekennzeichneter Mensch, der sein Leben der Verbreitung des Glaubens widmet - ist. Allerdings trägt sein Tod gemäß der Grettis saga entscheidend zur finalen Durchsetzung des christlichen Glaubens auf Island bei, womit Grettir wie ein Märtyrer für die Verbreitung 124 Zu weiteren Verbindungen zwischen dem Gottesurteil und Grettirs Tod siehe Hamer (2008: 31 - 35). Eine Diskussion von Hamers Argumentation findet sich bei Rankovi ć (2017: 398 - 400), die die von ihm aufgezeigten intertextuellen Verbindungen ebenfalls überzeugend findet, nicht aber die negative Beurteilung Grettirs. Die Antwort auf die in diesem Zusammenhang von ihr gestellte Frage (400) „ what special reason is there for assuming a connection with a Christian ritual, considering that Þuríðr herself is an attested heathen? “ liegt meines Erachtens eben darin, dass die Saga den Wurzelstock als neuerliches Gottesurteil Grettirs verstanden wissen will, wie nachfolgend ausgeführt werden wird. 125 dass das Buch Hiob dem Verfasser der Grettis saga bestimmte Vorstellungen von schweren Prüfungen und Leiden gab Hermann Pálsson (1981: 87) versteht die Prüfung Grettirs darüber hinaus als zentrales Thema der Grettis saga, was, wie verschiedentlich angemerkt (vgl. Rankovi ć 2017: 378 - 379), für eine Gesamtinterpretation der Saga zu kurz greift, einer solchen aber einen nicht unwesentlichen Aspekt hinzufügt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 246 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="247"?> des Christentums stirbt. Seine extraordinären Fähigkeiten im Kampf gegen übernatürliche Mächte, die er im Verlauf der Erzählung immer wieder zum Wohle der Allgemeinheit einsetzt, qualifizieren ihn in besonderem Maße für diese Rolle: Mit der Fähigkeit, Dämonen auszutreiben, hat er eine wesentliche Gemeinsamkeit mit den Jüngern Jesu, denen dieser (Mk 3, 14 - 15) ausdrücklich die Vollmacht „ die Dämonen auszutreiben “ verleiht, 126 was in der Saga auch nach Grettirs Sieg über Glámr anklingt: „ Þórhallr lofaði guð fyrir ok þakkaði vel Gretti, er hann hafði unnit þenna óhreina anda. “ (ÍF VII: 122) 127 Die Grettis saga verweist im Zusammenhang der Ereignisse auf Sandhaugar, des von Trollen heimgesuchten Hofes im Bárðardalur, als Grettir als Retter des Julfestes in Erscheinung tritt, auf diese Affinität: Der Priester der Gegend zerstreut nicht nur die Bedenken der vom Spuk geplagten Hausfrau gegenüber Grettir, sondern benennt ihn anschließend zudem als möglichen Helfer in ihren Schwierigkeiten: „ má vera, at hann sé ætlaðr til at vinna bót á vandræðum þínum. “ (ÍF VII: 212) 128 Grettirs insgesamt wenig christlicher Lebensweise zum Trotz betont die Saga seine Bemühungen um eine solche teilweise explizit und positioniert ihn wie gezeigt klar auf der Seite des Christentums (vgl. auch Rankovi ć 2017: 402 - 403). Hamer (2008: 33 - 35) zeigt außerdem eine höchst interessante Verbindung zu klerikalen Texten auf, die die Zusammenhänge von Grettirs Ende weiter erhellt. Er führt aus, dass die Vorbereitung auf das iudicium Dei auch die Rezitation von Vers 23 aus Psalm 88 beinhaltet, und verweist auf Augustinus ’ Kommentar zu Psalm 88 in Enarrationes in Psalmos, in dem dieser den Namen des Psalmisten, Etan, als „ Robustus “ (der Starke) deutet. 129 Die Gleichsetzung von Grettir, der in der Saga wiederholt als „ inn sterki “ (der Starke) bezeichnet wird, 130 mit dem Psalmisten ist in der Tat bestechend, allerdings lässt Hamer 126 Soweit nicht anders vermerkt, wird die Bibel nach der Einheitsübersetzung (EÜ) (2016) zitiert, online zugänglich unter https: / / www.die-bibel.de [zuletzt abgerufen am 28.02.2023]. 127 Þórhallr lobte Gott dafür und dankte Grettir sehr, dass er diesen unreinen Geist besiegt hatte. (HS: 98) 128 „ es kann sein, dass er dazu bestimmt ist, deinen Schwierigkeiten Abhilfe zu schaffen. “ (HS: 166) 129 Die Zählung als Psalm 88 folgt der Vulgata, in modernen Bibelausgaben handelt es sich um Psalm 89. 130 Bemerkenswerterweise wird Grettir zwar in zahlreichen Texten genannt, die als älter als die Grettis saga gelten, in diesen jedoch in der Regel nicht als inn sterki, sondern lediglich mit seinem Patronym bezeichnet (eine Auflistung sämtlicher Grettir erwähnender Texte findet sich bei Guðvarður Már Gunnlaugsson (2000: 39)). In diesen Texten findet sich das Epitheton in den von mir herangezogenen Ausgaben von Íslenzk fornrit einzig in Landnámabók (Sturlubók), Fóstbr œ ðra saga und Eyrbyggja saga. Zieht man den Aspekt der handschriftlichen Überlieferung heran, ist keiner dieser Belege älter als Mitte des 14. Jh.s, auf die das Wolfbütteler Manuskript der Eyrbyggja saga datiert wird, das, anders als ältere Textträger der Saga, den Beinamen beinhaltet (Scott 2003: 296 - 297). In die Fóstbr œ ðra saga hat die Bezeichnung Grettirs als inn sterki lediglich in die im ausgehenden 14. Jh. entstandene Flateyjarbók Eingang gefunden, während die anderen Versionen darauf verzichten (ÍF VI: 191). Die Sturlubók dagegen ist erst in einer Handschrift des 17. Jh.s überliefert. Dies erweckt weniger den Eindruck eines über einen längeren Zeitraum mündlich überlieferten Beinamens, als vielmehr den Verdacht, dass er tatsächlich auf die Grettis saga selbst zurückgeht, und lässt es durchaus möglich erscheinen, dass er gar in der Verbindung zu Psalm 88 gründet, die die Saga herstellt. Dafür spricht, dass die Saga zwar wiederholt Grettirs Stärke thematisiert, aber kein konkretes Ereignis erwähnt, das ihm diesen Beinamen einbringt, und diesen zudem ausschließlich an Stellen verwendet, die für die hier gezeigte Charakterisierung Grettirs als Märtyrer für die Christianisierung Islands entscheidend sind: So fragt in Kap. 39 König Óláfr: „ Ertu Grettir inn sterki? “ , (ÍF VII: 132; „ Bist du Grettir der Starke? “ ), während in Kap. 54 der Riese Hallmundr konstatiert: „ Þú munt vera Grettir inn sterki Ásmundarson. “ (175; „ Du musst Grettir Ásmundarson der Starke sein. “ ) Im Zusammenhang mit dem als Personifizierung von Thor zu verstehenden Þórir rauðskeggr berichtet die Saga in Kap. 56, dass er das Ziel habe, „ at drepa Gretti inn sterka “ (íF VII: 180; Grettir den Starken zu töten). In Kap. 86 lässt sie dann Ǫ ngull verkünden, „ at ek drap kappa þann, er Grettir hét inn sterki “ (272; dass ich den Helden tötete, der Grettir der Starke Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 247 <?page no="248"?> auch hier den weiteren Kontext außer Acht, wenn er daraus schließt, dass Grettir als Sünder stirbt. Hervorzuheben ist zunächst, dass die betreffenden Predigten von Augustinus an einem Gedenktag für Märtyrer gehalten wurden (EIP: II, einleitender Vermerk), wie dieser selbst auch betont (EIP: II, 27). 131 Betrachtet man die von Hamer zitierte Aussage in ihrem Kontext und vor dem Hintergrund der Augustinischen Psalmenauslegung generell, scheint vielmehr eine gegenteilige Deutung als die Hamers angezeigt. Augustinus steht in der Tradition der alten Kirche, die die Psalmen auf Christus bezogen versteht, und erklärt sie entsprechend christologisch, wobei er die Christologie entweder unmittelbar aus dem Text herausliest oder in einem sehr lockeren Zusammenhang am Text aufhängt (Bouman 2019: 118). Christologisch deutet er auch Psalm 88, in dem er gleich zu Beginn deutlich macht, dass er Christus als das Gegenüber des Psalmisten versteht (Fiedrowicz 1997: 253). In seiner Auslegung der Psalmen ist Augustinus mehr Seelsorger als Theologe (Bouman 2019: 284), entsprechend ist auch die Erlösung in Christus das „ Herzstück der Enarrationes “ (Bouman 2019: 118), was auch die Predigt zu Psalm 88 deutlich zu erkennen gibt (dazu Fiedrowicz 1997: 236, 275). Wesentlich im Zusammenhang mit der Grettis saga, die ihren Protagonisten namentlich mit dem Psalmisten Etan assoziiert, ist neben dem seelsorgerischen Aspekt und damit dem Fokus auf Etans Leiden insbesondere seine positive Bewertung im weiteren Verlauf der Predigt. Als Gläubiger erfährt auch Etan die Erlösung in Christus, weshalb Augustinus (EIP: II, 5) seinen Namen in einer weiteren Bezugnahme als „ Robustus corde “ (der im Herzen Starke) deutet. Daraus ergibt sich bei einer Assoziation Grettirs mit dem Psalmisten auch eine positive Konnotation des Sagaprotagonisten, dessen Stärke dann ebenfalls nicht unbedingt nur durch seine körperliche Kraft zum Ausdruck kommt. Eine Gleichsetzung Grettirs mit dem Psalmisten klingt darüber hinaus darin an, dass Psalm 88 als ‚ exilischer Klagepsalm ‘ (dazu Veijola 1982) auch Grettirs Situation reflektiert, der als Geächteter ebenfalls exiliert und in einer beklagenswerten Lage ist. Grettir klagt jedoch nicht, sondern legt auch in Anbetracht dieser Situation die für die Helden der Íslendingasögur typische stoische Haltung an den Tag. Wie der Psalmist erfüllt er aber die Voraussetzungen für das Erbarmen Christi und eine Erlösung in Christus, wie die Saga durch die wiederholte Betonung seines Glaubens deutlich macht, wobei diese in der Gruppe B der Handschriften durch eine Ergänzung auch bei der Darstellung seines Todes noch einmal explizit erfolgt (vgl. dazu Rankovi ć 2017: 402 - 403): Lét Grettir þann veg líf sitt, hinn vaskasti maðr, er verit hefir á Íslandi; var honum vetri fátt í hálffimmtøgum, er hann var veginn; en þá var hann fjórtán vetra, er hann vá Skeggja, it fyrsta víg, ok þá gekk honum allt til vegs ok framan til þess, er hann átti við Glám þræl, ok var hann þá tuttugu vetra. En er hann fell í útlegð, var hann hálfþrítøgr, en í sekð var hann vel nítján vetr ok hieß), bevor sie Grettirs Bruder Þorsteinn drómundr sich nach vollzogener Rache als „ bróðir Grettis ins sterka “ (273; Bruder Grettirs des Starken) vorstellen lässt. Von letzterem heißt es dann in Kap. 90 „ at hann var mj ǫ k frægr orðinn af því, er hann hafði hefnt Grettis ins sterka “ (286; dass er sehr berühmt geworden war dadurch, dass er Grettir den Starken gerächt hatte). Und schließlich wird Grettir im Sturla Þórðarson zugeschriebenen Schlusskommentar in Kap. 93 als „ inn sterki “ (289) bezeichnet, was alles in allem den Eindruck einer strategischen Platzierung des Epithetons an Schlüsselstellen der Saga erweckt. 131 Enarrationes in Psalmos, „ In Psalmum LXXXVIII “ (Sermo I und II) (EIP) wird zitiert nach der Datenbank monumenta.ch [zuletzt abgerufen am 28.02.2023]. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 248 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="249"?> kom opt í stórar mannraunir ok helt ávallt vel trú sína, ór því sem ráða var; sá hann flest fyrir, þó at hann gæti eigi at g ǫ rt. (ÍF VII: 262) Auf diese Weise ließ Grettir, der tapferste Mann, den es auf Island gab, sein Leben, er war 54 Winter alt, als er erschlagen wurde; und er war damals 14 Winter, als er Skeggi erschlug, der erste Totschlag, und dann gereichte ihm alles zu Ruhm, bis er mit dem Knecht Glaumr zu tun hatte, und da war er zwanzig Winter. Und als er geächtet wurde, war er fünfunddreißig, und er war gut neunzehn Winter in der Acht und kam oft in große Schwierigkeit und hielt seinen Glauben immer gut, soweit er die Möglichkeit hatte; er sah das meiste voraus, wenn er auch nichts dagegen tun konnte. Mit der Betonung von Grettirs Machtlosigkeit trotz seiner Vorahnungen verweist die Saga zum einen erneut darauf, dass das Schicksal des Menschen in Gottes Hand liegt, was bereits in Kap. 41 anklingt, wo sie Grettir bei der Zusammenkunft mit seinem Halbbruder Þorsteinn drómundr, die auf dessen spätere Rache für Grettir verweist, mit „ Satt er þat, sem mælt er, at engi maðr skapar sik sjálfr. “ (ÍF VII: 137) 132 einen Verweis auf Psalm 100 in den Mund legt (Hermann Pálsson 2002: 77). 133 Zum anderen schreibt sie Grettir mit Zukunftskundigkeit neben seiner außerordentlichen körperlichen Kraft und seinen Fähigkeiten im Kampf gegen übernatürliche Mächte eine weitere Fähigkeit zu, über die der durchschnittliche Mensch nicht verfügt und die ihn als Menschen mit außergewöhnlichem Charisma charakterisiert. Wie vor allem von der älteren Forschung wiederholt bemerkt, rückt ihn dies in die Nähe mythischer Helden (dazu Óskar Halldórsson 1977: 629 - 632), und macht ihn damit zu einer Art ‚ heiligem Menschen ‘ . 134 Im überwiegend magisch-religiös bestimmten Erleben und Denken des Mittelalters wird dieses außergewöhnliche Charisma auf übernatürliche Verursachung, göttlich oder dämonisch, zurückgeführt (Speyer 1990: 53). Grettir handelt am Ende seines Lebens nicht unter dämonischem, sondern unter göttlichem Einfluss, wie die Saga klar deutlich macht, indem sie seine letzten Tage in verschiedener Hinsicht als Umkehr beschreibt und als eine Verwandlung in Christus gestaltet. Tatsächlich ist die Darstellung von Grettirs Ende eine Art sagazeitliche imitatio Christi, die von der Saga vor allem dadurch erzeugt wird, dass sie mit dem Vokabular und den typischen Elementen einer Íslendingasaga Bilder und Vorstellungen hervorruft, die im Kontext christlicher Sühne- und Bußthematik typisch sind, sowie durch intertextuelle Bezüge Assoziationen an christliches Gedankengut und insbesondere die Passion Christi weckt. Die Passion Christi ist eines der dominantesten Themen der spätmittelalterlichen Theologie, Frömmigkeit, Literatur und Kunst (Haug/ Wachinger 1993: V) und ein Muster für die spätmittelalterliche Textproduktion mit höchst unterschiedlichen Funktionen, mittels dessen auch Texte entstehen, die die spätmittelalterliche Passionsfrömmigkeit auf unkonventionelle Art und Weise zum Ausdruck bringen (Wachinger 1993). Als einer dieser unkonventionellen Texte erweist sich auch die Grettis saga, die durch ihre Umsetzung von Konventionen der Íslendingasaga diesen Sachverhalt jedoch derart verschleiert, dass ihn erst eine eingehendere Betrachtung zu erkennen gibt. Ein Hinweis darauf sind auf inhaltlicher Ebene zwei der im Zusammenhang mit Grettirs Tod zentralen 132 Es ist wahr, was gesagt wird: Kein Mensch erschafft sich selber. (HS: 110) 133 Als Davidspsalm verweist zudem auch dieser auf die Christustypologie. 134 Zu heiligen Menschen sowie Analogien zwischen Heroen und christlichen Heiligen siehe Speyer (1990). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 249 <?page no="250"?> Figuren, der Knecht Glaumr, dessen Treulosigkeit Grettirs Tod überhaupt erst ermöglicht, sowie sein Bruder Illugi, der ihn nach Drangey begleitet. Während ersterem die Rolle zukommt, die Judas in den Evangelien zugeschrieben wird, indem er Grettir zwar nicht für Geld verrät, aber doch durch sein Handeln dessen Häschern ausliefert, gemahnt Illugi, der ihm als einziger im Tod beisteht, an den Lieblingsjünger Jesu im Johannesevangelium (von der späteren Überlieferung als Johannes identifiziert), der als einziger seiner Jünger während des Kreuzestodes Jesu anwesend ist. Diese Gemeinsamkeiten sind nicht ausgeprägt genug, um den Eindruck von Blasphemie zu erwecken, im Kontext der Erzählung, die, wie ich im Folgenden zeigen werde, zahlreiche weitere Hinweise auf eine Anbindung Grettirs an Christus enthält, aber doch ausreichend deutlich, um beim spätmittelalterlichen Publikum, für das die christlichen Glaubensinhalte einen zentralen Bestandteil der Lebensrealität darstellen, eine Assoziation mit der Passion Christi zu wecken. Die Verknüpfung eines Kämpfers wie Grettir mit Christus mag einem modernen Betrachter befremdlich erscheinen, ist aus einer mittelalterlichen Perspektive jedoch durchaus stimmig, unterscheidet sich das mittelalterliche Christusbild doch deutlich von dem, das die Bibel zeichnet: Der Christus der Bergpredigt pries die Friedensstifter selig. Der Christus der mittelalterlichen Kreuzzüge saß mit Schert [sic] und Schild bewaffnet auf einem gesattelten Streitroß, dem er die Sporen gab. Als Anführer (dux) des Kreuzheeres gab er ein Beispiel für die gottgewollte Verbindung von Religion und Schwert. (Schreiner 2000: 58) Grettir kämpft zwar nicht aktiv mit dem Schwert für die Verbreitung des Christentums, passiv trägt er durch seinen Tod jedoch wesentlich dazu bei. Indem die Saga das Ende seines Lebens als Nachfolge Christi gestaltet, stellt sie eine nicht minder gottgewollte Verbindung zwischen den heroisch geprägten vorchristlich-heidnischen Ursprüngen der isländischen Gesellschaft und der christlichen Religion her. Grettirs Leidensgeschichte beginnt mit dem Wurzelstock, dessen Funktion als Gottesurteil er selbst benennt, nachdem er sich an diesem verletzt: „ Sá varð nú drjúgari, er verr vildi “ (ÍF VII: 251) 135 kommentiert er und verweist damit auf den Satan, auf den gemäß christlicher Lehre letztlich alles Leid und alle Disharmonie zurückzuführen sind, als Urheber des bösen Zaubers (s. v. „ Heil und Erlösung “ in TRE 14: 616). Als Nachfolger Christi im weiteren Sinne wird Grettir so durch göttliche Vorsehung zu seinem Martyrium geführt, wobei die Saga diese seine Rolle zudem dadurch markiert, dass sie ihm auch die drei wichtigsten Charakteristika der Jesusnachfolge im engeren Sinne zuschreibt (dazu s. v. „ Nachfolge Jesu “ in TRE 23): Das Leben Grettirs ist wie das der Jünger Jesu gekennzeichnet durch Wanderschaft sowie den Verzicht auf Nachkommen und Besitz. Mit der Verfolgung, der er ausgesetzt ist, ruft die Saga zudem die bestimmende Leidenserfahrung im Mittelalter auf, durch die die Nachfolger Christi Anteil an dessen Leidensgeschichte bekommen (TRE 23: 689). Die Grettis saga greift so die imitatio Christi, das Leitmotiv der Frömmigkeit des späten Mittelalters, auf und fügt es in einen sagazeitlichen Rahmen ein, um die isländischen Ursprünge zu christianisieren und die Entwicklung der isländischen Gesellschaft als sinnvollen, gottgewollten Plan darzustellen. Grettirs Leiden und sein Opfertod sind in diesem Zusammenhang als eine Sühnehandlung für die unchristliche Seite der isländischen Ursprungszeit zu verstehen. Grettir wird nur literarisch als Sühneopfer dar- 135 Der hat jetzt die Oberhand gewonnen, der das Böse wollte (HS: 196) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 250 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="251"?> gebracht, erfüllt jedoch zwei wesentliche Funktionen, die auch menschliche Sühneopfer in rituellen Zusammenhängen erfüllen (s. v. „ Sühne “ in TRE 32: 334): Zum einen wird ihm durch seine familiäre Herkunft, seine gesellschaftlichen Verbindungen sowie als herausragendem Kämpfer und dem am längsten in der Acht Überlebenden ein hoher gesellschaftlicher Wert zugeschrieben, zum anderen stellt ihn die Saga explizit als Vermittler dar. Mit seinem Leiden und Tod sühnt Grettir nicht nur seine eigenen Sünden, sondern im alttestamentarischen Sinn zudem die Sünden der Vorväter und wird so zum Vermittler zwischen heidnischer Vergangenheit und christlicher Gegenwart. Er legitimiert das nichtchristliche Erbe Islands, das er selbst in sich trägt, indem er sich für die vollständige Christianisierung des Landes opfert. Mehr als nur eine Buße für seine eigenen Sünden, stellt sein Tod so eine Sühnehandlung in einem heilsgeschichtlichen Rahmen dar. So wie das Selbstopfer in rituellen Zusammenhängen erfolgt, weil sonstige Ritualmittel versagen, mutet das Selbstopfer Grettirs, das die Saga literarisch inszeniert, an wie die Ultima Ratio, bedeutsame Erinnerungen aus vorchristlicher Zeit trotz ihrer eigentlichen Inkompatibilität mit der christlichen Gegenwart des isländischen Spätmittelalters zu bewahren. Grettirs Leidensgeschichte zeigt mit seinem körperlichen Leiden infolge der Verletzung durch den Zauber nach der Etablierung der heidnischen Hexe als satanische Gegenspielerin zunächst ein weiteres für einen Märtyrer typisches Kennzeichen, das die Saga entsprechend auch ausführlich in den Blick rückt. Grettir fügt sich mit dem abgerutschten Beil eine große Wunde ( „ sár mikit “ , ÍF VII: 251) zu, die zunächst gut zu verheilen scheint: Þá tók Illugi ok batt um skeinu Grettis, ok bl œ ddi lítt, ok svaf Grettir vel um nóttina, ok svá liðu þrjár nætr, at engi kom verkr í sárit; en er þeir leystu til, var skeinan saman hlaupin, svá at náliga var gróin. Illugi mælti þá: „ Þat vil ek ætla, at þér verði eigi langt mein at þessu sári. “ „ Vel væri þá, “ segir Grettir, „ en undarliga hefir þetta til borit, at hverju sem verðr, en hinn veg, segir mér hugr um. “ (ÍF VII: 251) Dann verband Illugi die Wunde Grettirs, und sie blutete wenig, und Grettir schlief gut in der Nacht und es vergingen drei Nächte, ohne dass Schmerz in die Wunde kam; und als sie aufbanden, hatte sich die Wunde geschlossen, so dass sie beinahe verheilt war. Da sprach Illugi: „ Ich glaube, diese Wunde wird dir nicht lange zu schaffen machen. “ „ Dann wäre es gut “ , sagt Grettir, „ doch seltsam ist das zugegangen, was auch werden mag, aber etwas anderes sagt mir meine Ahnung. “ (HS: 197) Grettirs ungute Ahnungen bestätigen sich und die Wunde erweist sich als ‚ Teufelswerk ‘ : Nú leggjask þeir niðr um kveldit. Ok er kom at miðri nótt, brauzk Grettir um fast. Illugi spurði, hví hann væri svá ókyrr. Grettir segir, at honum gerðist illt í f œ tinum - „ ok þ œ tti mér líkara, at n ǫ kkut litbrigði væri á. “ Kveiktu þeir þá ljós. Ok er til var leyst, sýndisk fótrinn blásinn ok kolblár, en sárit var hlaupit í sundr ok miklu illiligra en í fyrstu. Þar fylgdi mikill verkr, svá at hann mátti hvergi kyrr þola, ok eigi kom honum svefn á augu. Þá mælti Grettir: „ Svá skulu vér við búask, sem krankleiki þessi, sem ek hefi fengit, mun eigi til einskis gera, því at þetta eru gørningar, ok mun kerling ætla at hefna steinsh ǫ ggsins. “ Illugi mælti þá: „ Sagða ek þér, at eigi myndi gott fá af kerlingu þeiri. “ „ Allt mun fyrir eitt koma, “ segir Grettir ok kvað vísur fimm: [ … ] (ÍF VII: 252) Nun legen sie sich am Abend hin. Und als es Mitternacht wurde, warf sich Grettir heftig hin und her. Illugi fragte, warum er so unruhig sei. Grettir sagt, dass ihm das Bein wehtue, „ und mir scheint wahrscheinlich, dass es seine Farbe verändert hat. “ Da zündeten sie Licht an. Und als sie aufgebunden war, sah man, dass der Fuß geschwollen und kohlschwarz war, die Wunde aber war Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 251 <?page no="252"?> aufgegangen und sah viel schlimmer aus als zuerst. Dabei hatte er so starke Schmerzen, dass er nicht ruhig liegen konnte, und er tat kein Auge zu. Da sprach Grettir: „ Wir müssen damit rechnen, dass diese Krankheit, die ich bekommen habe, wohl etwas ausrichten wird, denn das ist Hexerei, und die Alte wird den Steinwurf rächen wollen. “ Illugi sprach darauf: „ Ich sagte dir, dass man nichts Gutes erwarten könne von diesem alten Weib. “ „ Es läuft alles auf dasselbe hinaus “ , sagt Grettir und sprach fünf Strophen: [ … ]. (HS: 197) Grettir selbst ordnet die Wunde als Vergeltung für den Steinwurf auf die Alte ein und betont, dass sie auf Zauber zurückzuführen ist, womit er seine Verletzung zugleich seinem Kampf gegen dämonische Mächte - und damit indirekt auch für das Christentum - zuschreibt. Wie Hermann Pálsson (2002: 67 - 68) aufzeigt, finden sich in der Beschreibung von Grettirs Wunde verbale Übereinstimmungen mit Alexanders saga, Tristrams saga und Örvar-Odds saga, wesentlicher erscheint mir jedoch sein Hinweis auf die Anklänge an das typische Leiden christlicher Märtyrer (vgl. auch Rankovi ć 2017: 405). Meines Erachtens ist der von Grettir zum Ausdruck gebrachte Schmerz, der das charakteristische Merkmal einer Sühnehandlung darstellt (s. v. „ Sühne “ in TRE 32: 333), auch ein wesentlicher Grund, wieso er nicht wie von Hamer angenommen, als Sünder stirbt. Im Zusammenhang mit Grettirs Wunde springen zudem zahlreiche Elemente ins Auge, die vielleicht nicht sämtlich für den einfachen Gläubigen, wohl aber für den gelehrten Rezipienten Assoziationen an zentrale Elemente der christlichen Lehre wecken und Grettirs Verhalten in deren Sinne ausgestalten. Nachdem die Märtyrerrolle Grettir im Vorfeld seines Todes körperlich eingeschrieben wird, demonstriert er in der Annahme des von Gott geschickten Leidens die passive Seite von Geduld, der christlichen Tugend schlechthin, und zeigt jene „ weltüberlegene Seelenruhe “ , die das Martyrium dem Heroenkult annähert und mit dem stoischen Vorsehungsglauben verknüpft (s. v. „ Leiden “ in TRE 20: 690). Die fünf Strophen, die Grettir anschließend spricht, muten vor diesem Hintergrund an wie ein Sündenbekenntnis, kein zwangsläufiger, aber doch typischer Bestandteil einer Sühnehandlung (s. v. „ Sühne “ in TRE 32: 334): Im sog. Æviflókkr berichtet Grettir abgesehen von der letzten Strophe, die auf den Zauber verweist, vornehmlich von kriegerischen Taten, die zum Teil nicht in der Saga erzählt werden, und bei denen der Fokus klar auf Auseinandersetzung und Totschlag liegt. Der Verweis auf Zauber in der letzten Strophe stellt wieder den Zusammenhang zwischen seinem Tod und bösen Mächten her, die anschließende Prosa bekräftigt die bisherigen negativen Vorsehungen, nicht zuletzt durch die Involvierung Glaumrs, der die Lage mit seinem Verhalten bereits zwei Mal zuvor verschlimmerte: „ Nú skulu vér vera varir um oss, “ sagði Grettir, „ því at svá munu þau Þorbj ǫ rn Ǫ ngull til ætla, at eigi skuli þetta eitt saman fara. Vil ek, Glaumr, at þú gætir stiga hvern dag heðan í frá, en dragir upp á kveldi, ok gerir þetta trúliga, sem mikit liggi við; en ef þú svíkr okkr, þá mun þér skammt til ills. “ Glaumr hét góðu um þetta. Nú tók at harðna veðrátta, ok gerði á landnyrðing mikinn með kulda. (ÍF VII: 255) „ Jetzt müssen wir uns vorsehen “ , sagte Grettir, „ denn Þorbj ǫ rn Ǫ ngull und die Alte werden im Sinn haben, dass es nicht allein dabei bleiben soll. Ich will, Glaumr, dass du von jetzt an jeden Tag die Leiter bewachst und sie am Abend heraufziehst und dies treu tust, da vieles davon abhängt; aber wenn du uns im Stich lässt, dann wird dir das Übel nah sein. “ Glaumr versprach, sein Bestes zu tun. Jetzt fing das Wetter an, schlechter zu werden, und es kam starker Nordostwind mit Kälte. (HS: 199) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 252 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="253"?> Die Wetterverschlechterung kündigt die aufziehenden Schwierigkeiten dann vorab an, bevor in der das Kapitel abschließenden, erneut sehr plastischen Darstellung von Grettirs Leiden durch die Wunde erneut der Einfluss dämonischer Mächte anklingt: „ Verkrinn tók at vaxa í skeinunni, svá at blés upp allan fótinn, ok lærit tók þá at grafa bæði uppi ok niðri, ok snerisk um allt sárit, svá at Grettir gerðisk banvænn. “ (ÍF VII: 255) 136 Obwohl es sich nicht um eine allzu große Verletzung handelt, die sich Grettir zuzieht, ist diese todbringend für ihn, was auf den übernatürlichen Einfluss in diesem Zusammenhang verweist. 137 Zudem schwingen in der Beschreibung von Grettirs Verletzung symbolisch codierte Anklänge an zentrale Elemente der christlichen Lehre mit, die Grettirs Leiden weiter im Sinne einer Sakralisierung seiner Person erhellen. Die sich öffnende Wunde, deren Farbveränderung ein sichtbares Zeichen der Veränderung von Grettirs Status ist, kann als Symbol Christi gelesen werden, das zum einen seine jungfräuliche Geburt, zum anderen seinen Tod evoziert. 138 Nachdem sie zunächst auf wundersame Weise zu verheilen scheint, bricht sie nach drei Tagen schlimmer auf als zuvor und ruft damit die Auferstehung in den Sinn. Scheinbar gegenteilig als Wende zum Guten im Falle Christi, zum Schlechten dagegen bei Grettir, liegt die Parallelität in der Verwandlung, die jeweils nach drei Tagen stattfindet. Auch für Grettir gilt, was Augustinus in seiner Auslegung von Psalm 88 (EIP: II, 13) im Hinblick auf Christus betont: „ [I]lle non perimebatur, sed commutabatur. “ 139 Während die Verwandlung Christi mit seiner Auferstehung erfolgt, tritt sie in Grettirs Fall durch den Tod ein, der mit dem Leiden an der Wunde eingeleitet wird. Indem die Saga das Motiv der Verwandlung Christi gewissermaßen umkehrt, verweist sie zugleich auf Grettirs Umkehr, die mit seiner Verwundung infolge des Zaubers ihren Anfang nimmt. Grettirs Verwandlung geht darüber hinaus mit einem Wechsel von Dunkelheit zu Licht einher - „ Kveiktu þeir þá ljós. “ (ÍF VII: 252; Da zündeten sie Licht an.) - was eine weitere Assoziation an Christus weckt, der (Joh 8, 12) von sich sagt „ Ich bin das Licht der Welt. “ Weiter heißt es dort „ Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben “ , was auch dem Verständnis von Grettirs Angst vor der Dunkelheit, die ihm durch den Fluch von Glámr auferlegt wurde, eine neue Facette hinzufügt. Nach diesem Auftakt zu Grettirs Umkehr und Verwandlung wendet sich die Saga dann seinen Gegnern zu. Grettir selbst wird dabei zunächst indirekt auf der christlichen Seite verortet, indem die gegen ihn gerichteten Aktionen seines Gegners Þorbj ǫ rn Ǫ ngull, der 136 Der Schmerz in der Wunde nahm noch zu, so dass das ganze Bein anschwoll, und der Schenkel fing oben und unten an zu eitern, und die Wunde breitete sich aus, so dass Grettir dem Tod nahe war. (HS: 200) 137 Die Wunde wird zwar zunächst als sár mikit bezeichnet, dann aber immer als skeina (leichtere Verletzung, Schramme), worauf auch „ síðan Grettir skeindi sik “ (ÍF VII: 255; seit Grettir sich leicht verletzte) verweist. Man vergleiche den Ausspruch des von Flosis Speer getroffenen Ingjaldr in der Njáls saga (ÍF XII: 338) „ ok kalla ek þetta skeinu, en ekki sár “ (aber das nenne ich eine Schramme, keine Wunde). Die Grettis saga impliziert durch die harmlose Bezeichnung der körperlichen Verletzung, dass diese allein nicht zu Grettis Tod führen würde, folglich der Zauber das wirklich unheilvolle Element des Ereignisses darstellt. 138 Die Vorstellung der Vulva als Wunde zeigt sich im Mittelalter beispielsweise im Märe (dazu Heiland 2015: 79 - 83) oder auch umgekehrt als Gleichsetzung der Seitenwunde Christi mit einer Vulva (dazu von Samsonow 2001: 351 - 358). Zur Gleichsetzung der Homöonyme vulva und vulnus (Wunde) in der populären spätmittelalterlichen geistlichen Prosaschrift Stimulus amoris siehe Riehle (1977: 74 - 75). 139 Er wurde nicht zerstört, sondern verwandelt. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 253 <?page no="254"?> nach Vollzugs des Zaubers von seiner Ziehmutter gedrängt wird, nach Drangey zu fahren, explizit als wenig christlich bezeichnet werden. Ǫ ngulls Schwager Halldórr, dem Ǫ ngull von seinen Plänen berichtet, ordnet diese im Sinne der Aussage des Schlussteils der Grettis saga zunächst als unheilverkündend und gesetzeswidrig ein: „‚ Þat mun eigi góðu reifa, ‘ sagði Halldórr, ‚ því at hon er fj ǫ lkunnig, en þat er nú fyrirboðit. ‘“ (ÍF VII: 257) 140 Dennoch gibt er einen Rat, wie Ǫ ngull vorzugehen habe, und trägt trotz negativer Beurteilung des Vorhabens als Bestandteil des göttlichen Plans dazu bei, dass sich Grettirs neuerliches Gottesurteil vollziehen kann: „ Sjá þykkjumk ek þat, “ segir Halldórr, „ at þú treystir einhverju, en eigi veit ek, hversu gott þat er. Nú ef þú vill áfram halda, þá far þú út í Haganes í Fljót til Bjarnar, vinar míns; hann á skútu góða. Seg honum orð mín, at hann ljái þér skipit. Þaðan mun sigla mega inn til Drangeyjar, en ósýn lízk mér ferð yður, ef Grettir er ósjúkr ok heill. Viti þér þat ok víst, vinni þér hann eigi með drengskap, at nóga á hann eptirmálsmenn. Drepið eigi Illuga, ef þér meguð annat; en sjá þykkjumk ek, at eigi mun allt kristiligt í þessum ráðum. “ (ÍF VII: 257) „ Ich glaube, ich sehe “ , sagt Halldórr, „ dass du auf etwas vertraust, doch ich weiß nicht, wie gut das ist. Wenn du nun weitermachen willst, dann geh hinaus in die Fljót nach Haganes zu meinem Freund Björn; er hat ein gutes Boot. Sag ihm von mir, dass er dir das Schiff leihen soll. Von dort wird man hineinsegeln können nach Drangey, aber ich weiß nicht, wie eure Fahrt ausgeht, wenn Grettir gesund und munter ist. Ihr wisst es auch genau, dass wenn ihr ihn nicht mit Tapferkeit besiegt, er genug Leute hat für die Mordverfolgung. Tötet Illugi nicht, wenn ihr es vermeiden könnt; doch ich glaube zu sehen, dass nicht alles christlich ist bei diesen Plänen. “ (HS: 201) Die anschließende Begegnung zwischen Ǫ ngull und Grettir markiert dann die endgültige Wendung, die Grettir entschieden auf der Seite des Christentums positioniert: Grettir mælti þá til Ǫ nguls: „ Hverr vísaði yðr leið í eyna? “ Ǫ ngull mælti: „ Kristr vísaði oss leið. “ „ En ek get, “ sagði Grettir, „ at in arma kerlingin, fóstra þín, hafi vísat þér, því at hennar ráðum muntu treyst hafa. “ „ Fyrir eitt skal nú yðr koma, “ sagði Ǫ ngull, „ hverjum sem vér h ǫ fum treyst. “ (ÍF VII: S. 260 - 261) Grettir sprach dann zu Ǫ ngull: „ Wer zeigte euch den Weg zur Insel? “ Ǫ ngull sprach: „ Christus zeigte uns den Weg. “ „ Ich vermute eher “ , sagte Grettir, „ dass die bösartige Alte, deine Ziehmutter, ihn dir gezeigt hat, denn ihren Ratschlägen wirst du vertraut haben. “ „ Auf dasselbe wird es jetzt für euch hinauslaufen “ , sagte Ǫ ngull, „ wem wir vertraut haben. “ (HS: 204) Während Ǫ ngulls zweifelhafte religiöse Loyalität offenkundig wird, nimmt Grettir hier die Rolle seines Anklägers ein, wie Rankovi ć (2007: 403) feststellt, was ihn selbst positiv bewertet: „ That Þorbj ǫ rn Hook is ready to falsely invoke Christ here only incriminates him further, while in contrast casting a positive light on Grettir. “ Darüber hinaus gibt diese Szene, in der Grettir als Verteidiger des Christentums auftritt, den entscheidenden Hinweis auf seine Transformation vom Außenseiter zum Märtyrer, auch dadurch markiert, dass wie von Hermann Pálsson (2002: 68) hervorgehoben, in kurzer Abfolge drei Mal Formen des Verbs vísa (weisen) verwendet werden. Die Behauptung Ǫ ngulls, Christus habe ihm den 140 „ Das wird zu nichts Gutem führen “ , sagte Halldórr, „ denn sie ist zauberkundig, und das ist jetzt verboten. “ (HS: 201) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 254 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="255"?> Weg gewiesen, ist zugleich ein Hinweis auf die mediale Ebene der Erzählung, die der dargestellten Sagahandlung einen übergeordneten Sinn verleiht und diese als gottgewollte Entwicklung darstellt. Auf dieser medialen Ebene inszeniert die Saga in verschiedener Hinsicht den Opfertod Grettirs, der die Christianisierung der isländischen Gesellschaft wesentlich vorantreibt, indem die endgültige Ächtung der Ausübung heidnischer Praktiken als unmittelbare Konsequenz aus Grettirs Tod und den mit diesem verbundenen Umständen dargestellt wird. In diesem Sinne ist Ǫ ngulls Aussage auch ganz wörtlich zu sehen: Christus weist Ǫ ngull den Weg, der gewissermaßen ein göttliches Werkzeug ist, mittels dessen Grettir seinem ganz persönlichen Gottesurteil unterzogen wird. Der Beiname Þorbj ǫ rn Ǫ ngulls, der eine der vier Figuren namens Þorbj ǫ rn in der Saga ist, die jeweils eine Facette von Grettirs Charakter zum Ausdruck bringen (Hermann Pálsson 1981: 103), erscheint mir in diesem Zusammenhang insofern bemerkenswert, als er diese Konstellation versinnbildlicht andeutet: In Anlehnung an die Worte Jesu in Mt 4, 19 mit denen er seine Jünger zu „ Menschenfischern “ ernennt, die Menschen für das Christentum gewinnen sollen, ist Ǫ ngull gewissermaßen der Haken, mit dem Grettir für das Christentum gefischt wird. 141 In Umkehr von Ǫ ngulls Behauptung, Christus habe ihm den Weg gewiesen, weist Christus im Folgenden Grettir den Weg. Ǫ ngulls Aussage markiert so auch die Umkehr Grettirs, der im weiteren Verlauf der Erzählung im Anschluss an seine Beichte die Nachfolge Jesu antritt und schließlich den Opfertod stirbt. In diesem Zusammenhang ist auch die Art und Weise, wie diese Umkehr auf der sichtbaren Ebene eingeleitet wird, höchst bemerkenswert. Wie Grønlie (2017: 253 - 254) aufzeigt, rufen der Wurzelstock sowie die Axt, mittels derer sich Grettir an diesem verletzt, eine Predigt Papst Gregors des Großen auf, in der dieser unter Bezugnahme auf die Bibel, in der rót häufig eine figurative und moralische Bedeutung hat, auf Wurzel und Axt zu sprechen kommt und erklärt „ that the tree represents ‚ all mankind ‘ and the axe ‚ our Lord ‘ , consisting of a handle (his humanity) and iron (his divinity) - ‚ en hann høggr með guðdómi ‘ ( ‚ and he strikes with his divinity ‘ ). “ Mit tré, rót, øx, h ǫ ggva und járn wiederholt die Grettis saga zentrale Begriffe von Gregors Auslegung (Grønlie 2017: 252). Auch damit verweist sie darauf, dass es sich bei der Verletzung, die sich Grettir durch die am verzauberten Wurzelstock abgerutschte Axt zuzieht, um ein Gottesurteil handelt und Grettir infolge dessen selbst zum göttlichen Werkzeug wird. Einen entscheidenden Hinweis darauf, dass es sich bei Grettirs Tod um einen Opfertod handelt, gibt die Saga medial bereits im Vorfeld von Grettirs Umkehr, indem sie der Erzählung durch die Assoziierung eines biblischen Stoffs mittels christlicher Symbolik eine zusätzliche Bedeutung einschreibt. In Kap. 74 findet sich eine kurze Episode, die mehr ist als nur das unterhaltsame Zwischenspiel, das die Handlung auf Drangey auflockert und den Protagonisten in ein positives Licht stellt, als das sie zunächst anmutet: 141 Das Substantiv ǫ ngull hat die Bedeutung ‚ Haken ‘ . Als Beiname ist „Ǫ ngull “ auch in der Landnámabók belegt (ÍF I: 273), wo er auf den Geburtsort des Trägers in Ǫ ngley (heute Engeløy) in Hálogaland zurückgeführt wird, was wohl auch für weitere Träger dieses Beinamens gilt. Das ONP (s. v. „ǫ ngull “ ) verweist in Zusammenhang mit dem Beinamen Ǫ ngull auch auf die ebenfalls belegte Form „ Engill “ , was zugleich die altisländische Bezeichnung für ‚ Engel ‘ ist. Wie die Analyse im weiteren Verlauf deutlich machen wird, ist es durchaus möglich, im Falle Þorbjörn Ǫ ngulls auch einen Anklang der Grettis saga daran zu sehen. Man vergleiche dazu die Formel des Christenrechts in der Járnsíða oder anderen Gesetzestexten, in der die Gefährten des Teufels, die gefallenen Engel der apokryphischen Schriften, als englar bezeichnet werden (s. v. „ engill “ in ONP). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 255 <?page no="256"?> Svá er sagt, at þá er Grettir hafði tvá vetr verit í Drangey, þá h ǫ fðu þeir skorit flest allt sauðfé þat, sem þar hafði verit; en einn hrút létu þeir lifa, svá at getit sé; hann var h ǫ sm ǫ góttr at lit ok hyrndr mj ǫ k. At honum hendu þeir mikit gaman, því at hann var svá spakr, at hann stóð fyrir úti ok rann eptir þeim, þar sem þeir gengu. Hann gekk heim til skála á kveldin ok gneri hornum sínum við hurðina. (ÍF VII: 237) Es wird erzählt, dass, als Grettir zwei Winter in Drangey gewesen war, sie fast das ganze Schlachtvieh geschlachtet hatten, das dort gewesen war; doch einen Widder ließen sie leben, wie berichtet wird; er hatte einen Bauch von grauer Farbe und große Hörner. Mit ihm hatten sie großen Spaß, denn er war so zahm, dass er draußen wartete und ihnen nachlief, wohin sie auch gingen. Er kam am Abend heim zur Hütte und rieb seine Hörner an der Tür. (HS: 186) In der mittelalterlichen Tierallegorik nimmt der Widder eine zentrale Rolle ein und stellt in Bezugnahme auf die im Alten Testament berichtete Opferung Isaaks durch Abraham, die Gott als Glaubensprüfung fordert, nicht nur das Opfertier schlechthin dar, sondern wird zudem als Christusallegorie verstanden (dazu s. v. „ Widder “ in LMA 9, s. v. „ Jesus Christus “ in TRE 16). Anstelle seines Sohnes Isaak opfert Abraham bekanntlich einen Widder, was die altnordische Bibelkompilation Stjórn (132) wie folgt berichtet: „ Abraham sa þa einn hornottan veðr a baki ser milli þorna ok klungra. sua sem hann litadiz um. Tok hann ok fornfærdi i stað sunar sins “ . 142 Die Grettis saga verwendet zur Bezeichnung des Tieres einen anderen Terminus als die (altnorwegische) Bibelübersetzung, betont jedoch wie diese die Hörner des Widders, der als klug und eine Freude im Leben der Brüder überaus positiv konnotiert ist und in eine enge Beziehung zu Grettir gebracht wird. Auffällig ist hier zunächst, dass der Widder, das symbolische Opfertier, überlebt, obwohl er wie die übrigen Schafe auf der Insel zum Schlachtvieh gezählt wird. Im weiteren Verlauf der Sagahandlung ist dies von Bedeutung, da diese durch die narrative Verknüpfung mit der Widderepisode medial ausgelegt wird. Auf die Bedeutung dieser Episode, die sicher nicht auf ein tatsächliches Ereignis zurückgeht - abgesehen von ihrer vordergründigen Banalität überlebt schlicht niemand, der davon zu berichten wüsste - verweist die Saga, indem sie sie zwei Mal explizit als mündliche Überlieferung kennzeichnet und so Íslendingasagatypisch ihren Wahrheitsgehalt unterstreicht. Zum Auftakt von Grettirs finalem Kampf wird der Widder, dem die Gnade des Überlebens geschenkt wird, dann erneut erwähnt, als Ǫ ngull und seine Männer nach der Erklimmung Drangeys gegen die Tür der Hütte schlagen, in der sich Grettir und Illugi aufhalten: „ Þá mælti Illugi: ‚ Knýr H ǫ smagi hurð, bróðir, ‘ segir hann. ‚ Ok knýr heldr fast, ‘ sagði Grettir, ‚ ok óþyrmiliga; ‘“ (ÍF VII: 259). 143 Durch die Verwendung eines Kosenamens für den Widder (H ǫ smagi = ‚ Graubauch ‘ ) wird dieser von Illugi, der die Erwähnung mit einer verwandtschaftlichen Anrede seines Bruders kombiniert, nochmals in eine intime Beziehung zur Grettir gesetzt. Durch die Bezugnahme auf den Widder im Zusammenhang mit dem Auftakt zu Grettirs Ende wird dieses nun mit der im Vorfeld erzählten Episode verbunden, in der von der Gnade berichtet wird, die ihm zuvor erwiesen wurde, indem er anders als das übrige Schlachtvieh der Insel verschont wurde. Die Saga signalisiert so, dass der Widder für das Folgende von symbolischer Bedeutung ist. Er ist gewissermaßen ein 142 Da sah Abraham hinter sich einen gehörnten Widder zwischen den Dornen, als er sich umblickte. Er nahm ihn und opferte ihn anstelle seines Sohnes. 143 Da sprach Illugi: „ H ǫ smagi klopft an die Tür, Bruder, “ sagt er. „ Und er klopft ziemlich fest “ , sagte Grettir, „ und gewaltsam. “ (HS: 203) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 256 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="257"?> Deutungsschlüssel zum Verständnis der tieferen Zusammenhänge von Grettirs Tod. Indem die Saga jeweils von einer Aktivität gegen die Tür berichtet und die beiden Aktivitäten zudem mittels Paronomasie ( „ gneri “ - „ knýr “ ) verbindet, setzt sie zudem die Aggression von Grettirs Feinden mit der zuvor geschilderten Freundschaftsbezeugung des Widders gleich. Diese Umkehr der Bedeutung dieses Erzählelements verweist darauf, dass die nun folgende Erzählsequenz auch darüber hinaus eine Verkehrung der Episode, auf die sie Bezug nimmt, darstellt. Erneut wird so auf struktureller Ebene auf Grettirs Umkehr verwiesen, die dadurch zudem genauer bezeichnet wird. Die Freundschaftsbezeugung des Widders steht am Ende und erfolgt im Gegenzug dafür, dass Grettir ihn am Leben lässt, im Gegenzug der Feindschaftsbezeugung von Ǫ ngull und seinen Männern dagegen, die am Anfang steht, findet Grettir den Tod. Durch die Vervollständigung der Verkehrung der zentralen Bestandteile der ersten Episode in ihr Gegenteil schließlich weist die Saga Grettir, dem in der Episode um den Widder der aktive Part dessen zukommt, der das symbolische Opfertier verschont, in der zweiten Episode die passive Rolle des symbolischen Opfers zu, die das Tier in der ersten einnimmt. Es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass die Saga neben der Bibel auch hier auf Augustinus rekurriert, der sich in einer Predigt wie folgt zu besagter Bibelstelle äußert: 144 Tamen ne sine sacrificio discederetur, aries apparuit cornibus haerens in vepribus. Et in isto ariete agnosce figuram domini salvatoris, agnosce Christum spinis Iudaeorum coronatum. Ergo et Isaac Christus et aries Christus, sed nec Isaac Christus nec aries Christus, quia unus Christus. Sed verus Christus multis figuris significatur. Nam et agnus Christus et leo Christus. (Augustinus 2015: 26) Damit er nicht ohne Opfer weggeht, erschien ein Widder und blieb mit den Hörnern in einem Dornbusch hängen. Und in diesem Widder erkenne die Gestalt des Herrn Erlösers, erkenne Christus, Christus von den Juden gekrönt. Also ist Isaak einerseits Christus und der Widder Christus, aber andererseits ist Isaak nicht Christus, der Widder auch nicht Christus, weil Christus einzigartig ist. Aber der wahre Christus wird in vielen Gestalten dargestellt. Denn Christus ist Schaf und Christus ist Löwe. Der Rollentausch zwischen Grettir und dem Widder kann so als Andeutung gelesen werden, dass Christus auch in der Gestalt Grettirs erscheint, und entsprechend als Verweis auf Augustinus, der Isaak als Typus für Christus deutet und gemäß dem Christus der wahre Mittler ist, der „ das Opfer in der Gestalt Gottes “ empfängt und „ in Knechtsgestalt “ das dargebrachte Opfer selbst ist (s. v. „ Opfer “ in TRE 25: 274). Überhaupt ist die mediale Ebene der Erzählung auf eine assoziative Weise in die Saga eingeflochten, die auf eine indirekte Weise an das Vorgehen von Augustinus in den Enarrationes gemahnt. Die Grettis saga kommentiert nicht, sondern inszeniert, stellt dabei jedoch über Assoziationen, die an 144 Zu Echtheit und Textgeschichte dieser Predigt, die lange nicht als ein Werk Augustinus ʼ galt, siehe Weidmann (2015: 17 - 21). Die betreffende Predigt wird nur einmal indirekt bezeugt, weist jedoch zahlreiche Parallelstellen zum Œ uvre von Augustinus auf, der die Thematik von Abraham und Isaak sehr häufig behandelt. Es hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, dem weiter nachzugehen, weshalb zu betonen ist, dass ich nicht davon ausgehe, dass die hier zitierte Predigt tatsächlich in direktem Zusammenhang mit der Grettis saga steht. Die zuerst von Hamer (2008) dargelegten, hier weiter ausgeführten Verbindungen der Grettis saga mit dem Werk von Augustinus und die enorme Bedeutung von diesem im Mittelalter lassen eine Beeinflussung durch den in ihr dargelegten Gedankengang gleichwohl sehr wahrscheinlich erscheinen. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 257 <?page no="258"?> Begrifflichkeiten oder Bilder anknüpfen, Verbindungen des Grundtextes zu anderen Texten her, die dazu dienen, den Grundtext zu erhellen. Indem die Saga darüber hinaus durch lexikalische Parallelitäten verschiedentlich zwei Erzählsequenzen verknüpft, wobei jeweils die erste zur Deutung der zweiten dient, wie im Falle des Widders und des Gottesurteils gezeigt, ist sie darüber hinaus auf dieselbe Weise selbstreferentiell. 145 Sowohl die intertextuellen als auch die intratextuellen Verbindungen dienen im Erzählverlauf dazu, dem Erzählten eine zusätzliche Bedeutung einzuschreiben und dieses damit auszulegen. Dergestalt scheint mir die Saga Grettir auch die Rolle des dienenden Knechts und damit des Opfers im Augustinischen Sinn zuzuschreiben, wenngleich er nie explizit als solcher bezeichnet wird. So verwendet die Grettis saga für ihren Protagonisten zweimal den Terminus lánardróttinn (eigentlich ‚ Lehnsherr ‘ , in altnordischer Terminologie den Brot-, Dienst- oder Landesherrn bezeichnend), der in den Íslendingasögur nur selten belegt ist und in der Grettis saga selbst in Anbetracht von Grettirs Acht und der damit verbundenen Besitzlosigkeit doch eher deplaziert anmutet. 146 Zum einen findet sich dieser in Kap. 56, in dem der geächtete Þórir rauðskeggr, der wie dargestellt medial als Personifizierung eines heidnischen Gottes gelesen werden kann, Grettir um Aufnahme über den Winter bittet und diesem dabei die Rolle des lánardróttinn zuweist. Obwohl mit der Absicht gekommen, Grettir zu erschlagen, entgegnet Þórir diesem, der nach den im Kapitel zuvor berichteten Schwierigkeiten mit dem Friedlosen Grímr, dem er Aufnahme gewährte, zögert: „‚ Full várkunn þykki mér þér á vera, þó at þú trúir illa sekum m ǫ nnum, en heyrt muntu mín hafa getit um vígaferli ok ójafnað, en aldri um slíkt dáðleysi, at svíkja lánardrottin minn.[ … ] ‘“ (ÍF VII: 181) 147 Nachdem Grettir ihn aufnimmt, berichtet die Saga im weiteren Verlauf dann allerdings, dass Þórir Grettirs Boot zerstört und dies auf ein zuvor niedergegangenes Unwetter zurückführt, womit er sich selbst als Lügner und Betrüger entlarvt und damit medial auch die Verwerflichkeit der heidnischen Religion aufzeigt. Die Rolle des lánardróttinn wird Grettir zum anderen in Kap. 82 zugewiesen, in dem Ǫ ngull gegenüber Glaumr, nach dem dieser den Angreifern den Zugang zu Drangey ermöglichte, verlauten lässt „‚ [ … ] illt er at eiga þræl at einkavin, þar sem þú ert, Glaumr, ok hefir þú skemmiliga svikit þinn lánardrottin, þó at hann væri eigi góðr. ‘“ (ÍF VII: 259) 148 145 Es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass auch weitere Episoden der Grettis saga vor dem Hintergrund eines sie verbindenden anderen Texts in einem derartigen Zusammenhang stehen und entsprechend nur vordergründig „ sögur af honum sem varpa engu ljósi á lokaörlög hans “ (Geschichten von ihm, die kein Licht auf sein endgültiges Schicksal werfen) sind und, anders als Guðmundur Andri Thorsson (1990: 101) annimmt, durchaus eine Funktion im Handlungsverlauf haben. 146 In den Íslendingasögur wird der Terminus zum einen in der Hallfreðar saga verwendet, in der Óláfr Tryggvason einmal von Hallfreðr als lánardróttin bezeichnet wird (Kap. 9) und ein weiteres Mal, als auf das Verhältnis eines Gefolgsmanns zu seinem König Bezug genommen wird (Kap. 12), sowie in der Njáls saga einmal vom Knecht Atli für seinen Herrn Njáll (Kap. 38) sowie eine weiteres Mal in Verbindung mit svíkja im Zusammenhang mit Hrappr Ǫ rgumleiðason, dem bei seiner Einführung der Rat gegeben wird, seinen Herrn nicht zu betrügen (Kap. 87), was er dann aber in verschiedener Hinsicht tut, bevor er schließlich in einer Auseinandersetzung mit den Njálssöhnen getötet wird. 147 „ Ich glaube, ich habe volles Verständnis für dich, wenn du Friedlosen misstraust, und du wirst von mir gehört haben im Zusammenhang mit Mordgeschichten und Gewalttätigkeiten, aber nie mit einer solchen Gemeinheit wie dem Verrat an meinem Herrn. “ (HS: 143) 148 „ Es ist übel einen Knecht zum Freund zu haben, wo du bist, Glaumr, denn du hast deinen Herrn schändlich verraten, wenn er auch nicht gut ist. “ (HS: 203) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 258 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="259"?> Auffällig an diesen beiden Verwendungen des Begriffs lánardróttinn ist dabei die lexikalische Verbindung mit svíkja (verraten) in beiden Fällen, womit die Saga wie im Falle des Gottesurteils und des Wurzelstocks zwei Szenen durch eine lexikalische Parallele verknüpft. Die Darstellung von Grettirs Ende verweist so auf seinen Kampf gegen die heidnische Religion, was auch seinen Tod eindeutig in diesen Zusammenhang stellt. In der altisländischen Literatur ist die Verbindung at svíkja lánardróttinn sinn anders als die sehr viel verbreitetere Wendung at svíkja dróttinn sinn nur in wenigen Texten belegt. Einen dieser Texte stellt die Ólafs saga helga in der Flateyjarbók dar, auf die die Grettis saga mit ihrer Verwendung von at svíkja lánardróttinn sinn zu verweisen scheint, da sie über diese Formulierung hinaus weitere Verbindungen zu dieser aufweist, die meines Erachtens keinen bloßen Zufall darstellen. 149 Zunächst ist hier das verwandtschaftliche Verhältnis zu nennen, in dem Grettir über seinen Großvater Ǫ nundr zu Óláfr inn helgi steht, was die Saga prominent im ersten Satz berichtet: „Ǫ nundr hét maðr; hann var Ófeigs sonr burlufótar Ívars sonar beytils. Ǫ nundr var bróðir Guðbjargar, móður Guðbrands kúlu, f ǫ ður Ástu, móður Óláfs konungs ins helga. “ (ÍF VII: 3) 150 Persönlich tritt der König dann im Zusammenhang mit dem Gottesurteil, dem Grettir sich unterwerfen soll und will, an einer Schlüsselstelle der Saga, kurz nachdem Grettir von Glámr verflucht wurde und bevor ihm die strenge Acht auferlegt wird (vgl. Grønlie 2017: 246), in Erscheinung. Grettir betont in diesem Zusammenhang dann auch das Verwandtschaftsverhältnis, wobei sich die Saga zudem explizit auf ihren einleitenden Satz rückbezieht: „‚ Þat hefða ek ætlat, at ek mynda meiri s œ md til yðvar s œ kja, herra, en nú horfisk á, fyrir sakar ættar minnar ‘ ok sagði, hversu m ǫ nnum var farit með þeim Óláfi konungi, sem fyrr var talat. “ (ÍF VII: 134) 151 Sie verweist damit indirekt auch auf die spätere Heiligsprechung des Königs, der anders als im einleitenden Satz in der Sagahandlung nur als Haraldsson bezeichnet wird. Die enge Verbindung zum König als dessen Gefolgsmann, die sich Grettir wünscht, kommt aufgrund des missglückten Gottesurteils allerdings nicht zustande: „ Vilda ek nú gjarna, “ sagði Grettir, „ at þér t œ kið við mér; hafi þér þá marga með yðr, at ekki mun vígligri þykkja en ek. “ „ Sé ek þat, “ sagði konungr, „ at fáir menn eru nú slíkir fyrir afls sakar ok hreysti, sem þú ert, en miklu ertu meiri ógæfumaðr en þú megir fyrir þat með oss vera. Nú skaltu fara í friði fyrir mér, hvert er þú vill, vetrarlangt, en at sumri far þú út til Íslands, því at þar mun þér auðit verða þín bein at bera. “ (ÍF VII: 134) „ Ich wollte jetzt gerne “ , sagt Grettir, „ dass ihr mich aufnähmt; ihr habt da viele bei euch, die nicht für kampfestüchtiger gelten als ich. “ „ Das sehe ich “ , sagte der König, „ dass nun wenige Männer so sind, was Kraft und Tapferkeit angeht, wie du bist, doch du hast viel zu viel Unglück, als dass du bei uns bleiben könntest. Jetzt sollst du den Winter über in Frieden vor mir gehen, wohin du 149 Wie die folgende Analyse zeigen wird, ergibt es keinen Sinn, eine umgekehrte Bezugnahme der Flateyjarbók auf die Grettis saga anzunehmen. Die Entstehung der Flateyjarbók als Terminus post quem für die Entstehung der Grettis saga anzunehmen, erscheint allerdings doch problematisch, da die besagten Abschnitte durchaus auch aus einer älteren Handschrift der so variantenreich überlieferten Ólafs saga helga entnommen sein können. 150 Ǫ nundr hieß ein Mann; er war der Sohn des Ófeigr burlufótr, des Sohnes von Ívar beytill. Ǫ nundr war der Bruder von Guðbjörg, der Mutter von Guðbrandr kúla, dem Vater von Ásta, der Mutter von König Óláfr dem Heiligen. (HS: 12) 151 „ Ich hätte gedacht, dass ich um meiner Familie willen mehr Ehre von euch erlangen würde, Herr, als jetzt zu erwarten ist “ , und er sagte, wie es mit der Verwandtschaft zwischen ihm und König Óláfr bestellt war, wie schon erzählt wurde. (HS: 107) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 259 <?page no="260"?> willst, im Sommer aber fahre hinaus nach Island, denn dort ist es dir bestimmt, den Tod zu finden. “ (HS: 107) Der Verweis auf Grettirs Tod aus dem Munde des Königs ist ein weiterer Hinweis darauf, Grettirs Ende mit Óláfr inn helgi zu verbinden. Und auch die angesprochene Nachahmung eines Wunders, das von letzterem berichtet wird, durch Grettir verbindet die beiden Figuren. In der Ólafs saga helga in der Flateyjarbók nun findet sich die lexikalische Verbindung at svíkja lánardróttinn sinn, mit der die Grettis saga Grettirs Kampf gegen das Heidentum und seinen Tod verbindet, in folgendem Zusammenhang: Björn stallari, der nicht nur als Vertreter von König Óláfr inn helgi fungiert, sondern zudem als „ astvinr konungs “ (Herzensfreund des Königs) bezeichnet wird, lässt sich aufgrund seiner Geldgier von Abgesandten des dänischen Königs Knútr kaufen. Nachdem er sich diesen gegenüber eidlich verpflichtet hat, wird er allerdings „ okatr “ (unfroh), nachdem ihm sein Fehler bewusst wird, „ at suikia suo uirduligan lanardrottin sem ek a “ und beschließt, das Bestechungsgeld König Óláfr zu überlassen (Flat II: 289). 152 Anschließend berichtet die Flateyjarbók von seiner Rückkehr zu König Óláfr, der seinen Gefolgsmännern gerade von einem Traum berichtet: þeir spurdu huat hann hafde dreymt. Hann suarar. þat bar firir mig at mer þotti bearnndyre ganga at hallardyrum ok laust med hramme sinum dyruordinn ok gek sidan inn j haull ok færdi mer hofut sitt ok var dyrit miog daprligt. (Flat II: 289) Sie fragten, was er geträumt habe. Er antwortet, mir kam zu Gesicht, dass ein Bär zu den Hallentoren kam und er schlug mit seiner Tatze den Torwächter und ging dann in die Halle und brachte mir seinen Kopf und das Tier war sehr betrübt. Dabei handelt es sich, wie sofort im Anschluss deutlich wird, um einen prophetischen Traum, der auf seinen Gefolgsmann Björn Bezug nimmt: Ok j þessi suipan bæidd(i) Beornn dyruordu inngaungu. Dyruerdirnir vilia æigi lofa honum ok fara firir dyrnar. Beornn bregdr þa suerdi ok h ỏ ggr dyruordinn banah ỏ gg en annarr tekr a ras undan. Beornn gek firir Olaf ok lagdi hofudit j kne honum ok mællti. ek færi ydr hofut mitt herra ok gerit af huat er þer uilit. (Flat II: 289 - 290) Und in diesem Moment forderte Björn bei der Torwache Einlass. Die Torwächter wollen es ihm nicht erlauben und gehen vor die Tore. Björn zieht dann das Schwert und versetzt dem Torwächter einen tödlichen Hieb und der andere läuft davon. Björn trat vor König Óláfr und legte ihm seinen Kopf in den Schoß und sprach: Ich bringe euch meinen Kopf, Herr, und macht damit, was ihr wollt. Nachdem Björn sein Vergehen offenbart, konstatiert König Óláfr, dass König Knútr einen verlockenden Köder ausgeworfen habe und die Reichtümer Björn schwach werden ließen, verzeiht ihm jedoch, da er sein weiteres Verhalten als angemessen bewertet: „ en fair hafa nu um tima til uor komit med slikum eyrendum at oss hafui fet fært en hofut þit Beornn mun þar sæmst sem nu er þat. “ (Flat II: 290) 153 Nachdem ihm Björn dann noch berichtet, dass er die Abgesandten von Knútr habe hängen lassen, bescheinigt Óláfr ihm, dass er „ mykla hollostu ok dreingskap “ (Flat II: 290; große Treue und anständiges Verhalten) 152 einen so ehrenvollen Lehnsherrn, wie ich ihn habe, zu verraten 153 Aber wenige sind nun zur rechten Zeit mit einer solchen Botschaft zu uns gekommen, dass du uns Geld gebracht hast und deinen Kopf, Björn, er wird dort am besten sein, wo er nun ist. Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 260 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="261"?> gezeigt habe und belohnt ihn mit einem Goldring. Mit einem Verweis auf Björns anschließende Beichte und seine lebenslange Freundschaft mit dem König bis an ihrer beider Ende in der Schlacht bei Stiklastaðir endet diese Episode in der Flateyjarbók. Neben der Anbindung des Protagonisten an Óláfr inn helgi und der genannten lexikalischen Verbindung finden sich in diesem Abschnitt weitere Elemente, die eine Beziehung der Grettis saga zur Flateyjarbók mutmaßen lassen: So berichtet die Saga in Kap. 21 und 22 zunächst vom Tod eines Bären durch Grettirs Hand sowie anschließend von Grettirs späterem Totschlag eines Mannes namens Björn, der ihn im Zusammenhang der Jagd nach dem Bären provoziert hatte. Schließlich spielt das Motiv der Enthauptung auch in der Grettis saga eine zentrale Rolle, wenngleich es nicht in Zusammenhang mit der Erzählung von Björn und seinem tierischen Namensvetter erscheint. Verbindet man jedoch Grettirs Enthauptung mit diesen Bär/ Björn-Episoden, kommt diesen vor dem Hintergrund der Flateyjarbók eine Schlüsselfunktion im Hinblick auf Grettirs Enthauptung sowie seinen Schädel zu. Zunächst fällt auf, dass die Grettis saga in ihrer Erzählung wieder einmal die einzelnen Elemente des Textes, auf den sie Bezug nimmt, in ihr Gegenteil verkehrt und so auf der strukturellen Ebene eine Umkehr darstellt: Während der Bär in der Flateyjarbók einen symbolischen Tod stirbt, ist der Tod des Bären in der Grettis saga tatsächlich. Auch Grettirs Widersacher Björn stirbt in der Saga tatsächlich, während für Björn stallari in der Flateyjarbók ein Torwächter als Stellvertreter stirbt, was Björns Vergehen sühnt. Anders als in seinem früheren Leben, repräsentiert durch die früh im Sagaverlauf erzählten Episoden mit dem Bären und Björn, bei deren Tod Grettir die aktive Rolle einnimmt, kommt ihm am Lebensende zunehmend die passive Rolle zu, die mit Tod und Enthauptung endgültig festgeschrieben ist. Setzt man nun seine Enthauptung in Beziehung zur Bär/ Björn-Episode der Flateyjarbók, in der die Enthauptung ein symbolisches Sühneopfer darstellt, das durch einen Stellvertreter dargebracht wird, verweist diese intertextuelle Verbindung darauf, dass auch Grettirs Enthauptung als symbolisches Sühneopfer und er selbst als Stellvertreter zu verstehen ist. Dass es sich bei dem für Björn stallari sterbenden Stellvertreter um einen Torwächter handelt, ist durch die Bezugnahme der Grettis saga auf diese Episode ein weiterer Hinweis, wie Grettirs Tod zu deuten ist: Wie der Stellvertreter Björns an der Schwelle des Tors enthauptet wird, verliert Grettir Kopf und Leben als Stellvertreter Christi an der Schwelle des Tors zum ewigen Leben, als die der Tod im mittelalterlichen Denken verstanden wird (s. v. „ Tod “ in TRE 33: 610). Eine sich aus Grettirs Rollenumkehr ergebende Gleichsetzung mit dem seinen Lehnsherrn zunächst betrügenden Björn, der dann zur Einsicht kommt, stützt die Saga mit einer weiteren Parallele. König Óláfr lobt Björn wie zitiert für seinen drengskapr (Tapferkeit, anständiges Verhalten), wie auch die Grettis saga im Vorfeld von Grettirs Tod wiederholt auf Grettirs drengskapr verweist (dazu Hermann Pálsson 2002: 101 - 110). Bei seinem Sterben fokussiert sie ganz auf sein Leiden, wohl um das Bild seiner Umkehr mit Beginn des Martyriums nicht zu gefährden. Implizit stellt sie diesen Bezug aber doch her, indem Illugi in seiner Replik auf Ǫ ngulls Angebot, ihn bei Schwur eines Treueeids zu verschonen, Ǫ ngull derartiges Verhalten abspricht - „‚ [ … ] ef Grettir hefði mátt verja sik, ok hefði þér unnit hann með drengskap ok harðfengi ‘“ (ÍF VII: 263) und ihn zudem als „ ódrengr “ (feigen, verachtenswerten Mann) bezeichnet. 154 154 „ wenn Grettir sich hätte verteidigen können und ihr ihn mit Tapferkeit besiegt hättet “ (HS: 205) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 261 <?page no="262"?> Verkehrt man zudem auch noch at svíkja lánardróttinn sinn als das zentrale Element, das die beiden Textstellen der Grettis saga miteinander sowie diese mit der Erzählung in der Flateyjarbók verbindet, in ihr Gegenteil, impliziert dies, dass Grettir anstatt der Rolle des verratenen lánardróttinn, die ihm die Saga an den beiden genannten Stellen zuschreibt, die Rolle des Dieners (þjónn) zukommt, der seinem Lehnsherren treu ist. Wer dieser Lehnsherr ist, lässt die christliche Ausrichtung der Saga und insbesondere ihr Bestreben, Grettirs Ende als Märtyrertod darzustellen, vermuten und klingt auch im Terminus lánardróttinn selbst an: Guð dróttinn, der christliche Gott, der in der mittelalterlichen Literatur verschiedentlich explizit als oberster Lehnsherr christlicher Helden genannt wird. Die Saga deutet dies auch mit ihrer Bezugnahme auf die besagte Episode in der Flateyjarbók an, deren Stellvertretergedanken sie aufgreift und weiterführt. Nachdem Grettir sein erstes Gottesurteil und damit auch einen möglichen Status als Gefolgsmann von König Óláfr inn helgi aufgrund seiner Unbeherrschtheit zunichte macht, folgt er dem König mit seinem Tod dann in dreifacher Hinsicht nach: Posthum revidiert er durch das nun erfolgreiche Ordal die Zurückweisung des Königs und qualifiziert sich entsprechend als dessen Gefolgsmann. Zudem folgt Grettir diesem auch als Märtyrer nach, da Óláfr zwischenzeitlich selbst den Märtyrertod starb, was die Saga zwar nicht direkt berichtet, aber durch das Epitheton inn helgi deutlich macht, das sie einleitend verwendet, während sie ihn im Zusammenhang mit Grettirs Gottesurteil lediglich mit seinem Patronym bezeichnet, aber auf die einleitende Nennung rückverweist. Und schließlich kann der König im Zusammenhang der Grettis saga auch als lánardróttinn Grettirs verstanden werden, da Grettir (realiter) die (signitive) Rolle Björns in der Flateyjarbók übernimmt, wenn er den Bären und dann Björn selbst tötet, womit die mittelalterliche Funktion des Königs als sakralisierter Stellvertreter Gottes auch Grettirs Rolle als þjónn unterstreicht. 155 Die Rolle des Dienenden schreibt die Saga Grettir medial auch durch die Grettisfærsla zu, in der es sich bei den aufgezählten Aufgaben, die mit Grettir verbunden werden, um niedrige Tätigkeiten in Haus und Hof handelt (Heslop 2006: 70, 74). Ein weiterer Hinweis darauf findet sich zudem in Kap. 19 im Zusammenhang mit Grettirs Vernichtung der Berserker in Hamarsey: Þórir, der Anführer der Berserker, lobt Grettir, er und seine Männer wären von einem Unbekannten noch nie derart gut behandelt worden und fragt ihn, welchen Lohn er für seinen Dienst ( „ fyrir þína þjónustu “ (ÍF VII: 65; für deinen Dienst) haben wolle, was Grettir die Rolle des Dienenden zuweist. Wenig später zeigt sich allerdings, dass Þórir Grettirs þjónusta schlicht falsch eingeschätzt hat und dieser tatsächlich dem gegenteiligen Zweck dient, als es zuerst den Anschein hat: Grettir steht nicht auf der Seite der Berserker, sondern befreit die Menschen der Gegend von deren Tyrannei. Ausgehend von Grettirs finaler Aufopferung für die isländische Gesellschaft sind auch seine zuvor gegen diese gerichteten Taten im Hinblick auf seine tatsächliche Funktion für die Isländer missverständlich. Als Personifizierung Islands bringt Grettir im Zusammenhang mit den Berserkern entsprechend in seinem abschließenden Kommentar, als ihm für deren Vernichtung gedankt wird, auch das isländische Selbstverständnis zum Ausdruck: „ Ek þykkjumk nú mj ǫ k inn sami ok í kveld, er þér t ǫ luðuð hrakliga við mik. “ (ÍF VII: 69) 156 Wenngleich die heidnische Vergangenheit Islands von anderen als schimpflich angesehen 155 Zu Herrschersakralität im Mittelalter im Allgemeinen sowie der Stellvertreterfunktion des Königs im Besonderen Erkens (2013: 18). 156 Ich glaube, ich bin ziemlich derselbe wie heute abend, als ihr mich beschimpft habt. (HS: 58) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 262 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="263"?> werden kann, bringt sie aus einer isländischen Perspektive doch dieselbe Identität zum Ausdruck. Bezüglich Grettirs Dienst für die isländische Gesellschaft erscheint mir darüber hinaus nicht unwahrscheinlich, dass in diesem Zusammenhang auch das in Deuterojesaja (Jes 52,13 bis Jes 53,12) überlieferte vierte Gottesknechtslied einen Teil des textuellen Hintergrunds darstellt, auf den die Grettis saga rekurriert und Grettirs Ende damit eine tiefere Bedeutung verleiht. 157 In der Folge der vorangegangenen drei Gottesknechtslieder zu verstehen, berichtet dieses vom Leiden, der Hinrichtung und dem Begräbnis des Gottesknechtes, dem bereits in den ersten drei Liedern eine Art Stellvertreterrolle zugewiesen wird (s. v. „ Gottesknecht “ in WiBiLex: 20). Das vierte Lied nun macht deutlich, dass der Knecht „ Leiden und Tod [ … ] stellvertretend für sein Volk Israel erlitten und damit ihre Sünde getragen [hat]. “ Die Sünde, für die der Knecht sein Leben lässt, ist der Unglaube an die göttliche Botschaft, die Belohnung für seinen Tod ist das neue Leben, das Gott ihm geben wird, was ihn rechtfertigt und „ vor der staunenden Welt zu höchsten Ehren erheb[t] “ (s. v. „ Gottesknecht “ in WiBiLex: 22). Grettir ist in dem Sinne Knecht Gottes, als er mit seiner Opferung für das endgültige Ende des Heidentums einen göttlichen Auftrag ausführt. Wie den Knecht im Lied ereilt ihn ein elendes Schicksal bis zu Tod und Grab, das weniger als göttliche Strafe für seine eigene Schuld zu verstehen ist, sondern vielmehr als ein stellvertretendes Leiden für die Sünden seines Volkes, d. h. die heidnischen Aspekte der isländischen Vergangenheit, und das ihm schließlich Ruhm und Ehre bringt. Sein Tod befreit nicht nur ihn persönlich von seiner Vergangenheit, sondern kollektiv auch die Isländer. 158 Durch sein Leiden geht der göttliche Plan der Christianisierung Islands ultimativ auf: Die isländische Gesellschaft distanziert sich damit endgültig von ihrer heidnischen Vergangenheit, indem sie den kompletten Bann heidnischer Sitten in das Gesetz aufnimmt. Die Märtyrerrolle wird Grettir so vorab zugeschrieben, körperlich eingeschrieben und schließlich durch seinen Tod bekräftigt. Gemäß Thomas von Aquin ist ein Martyrium die wirksamste Taufe (s. v. „ Martyrium “ in LMA VI: 354), die Taufe wiederum bezeichnet den Übergang von einem Leben in Sünde zum neuen Sein des Getauften, das sein künftiges Leben in Christus darstellt. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Grettir, der - folgt man der von Guðni Jónsson (1936: LXVII - LXVIII) aufgestellten Sagachronologie - noch vor Annahme des Christentums durch die Isländer geboren wird, an keiner Stelle in der Saga als getauft bezeichnet wird. Zwar wird verschiedentlich sein Glaube erwähnt, über seinen konkreten religiösen Status jedoch schweigt sich die Saga ebenso aus wie über den seiner Eltern. Die einzige Bemerkung zur Religionszugehörigkeit einzelner seiner Familienmitglieder ist die im Anschluss an die oben zitierten Missionierungsbestrebungen von Bischof Friðrekr getroffene Feststellung, dass Þorkell krafla, der Ziehvater von Grettirs Mutter Ásdís, sich dem christlichen Glauben anschließt: „ lét Þorkell prímsignast ok margir menn með honum “ (ÍF VII: 35). 159 Die prímsigning (zum Verb prímsigna) ist als Vorstufe zur Taufe die Aufnahme in den Katechumenstand, der als Lehrzeit zur Einübung des 157 In der modernen isländischen Übersetzung der Heiligen Schrift (Biblían 1981) lautet die Bezeichnung des Liedes passenderweise Ljóð um hinn líðandi þjón Drottins (Lied vom leidenden Diener Gottes). 158 Zum Tod als Befreiung von der Vergangenheit und dem damit verbundenen Entrinnen des „ mit Christus “ Gestorbenen aus der „ Todessphäre Adams “ siehe s. v. „ Tod “ (TRE 33: 596). 159 Þorkell ließ sich mit dem Kreuz zeichnen und viele Leute mit ihm. (HS: 31) Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 5.2 System und Umwelt 263 <?page no="264"?> christlichen Glaubens und Lebens dient, bevor die endgültige Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen erfolgt (s. v. „ Primsigning “ in RGA 23: 445 - 453), womit die Saga diesem Vorfahren Grettirs eine Mittelstellung zwischen Heide und Christ zuschreibt. So bildet sie auch in Grettirs Umfeld die Position ab, mittels derer sie auch ihn selbst charakterisiert: eine Zwischenstellung zwischen Heidentum und Christentum einnehmend, letzterem nahestehend und auf dem Weg zur eigentlichen Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft. Diese Uneindeutigkeit von Grettirs religiösem Status ist sicher kein Zufall, sondern von Bedeutung im Hinblick auf seine Sakralisierung auf medialer Ebene: Als Nicht-Getaufter, aber dem Christentum Nahestehender, der für dessen Verbreitung stirbt, gilt Grettir als mit Blut getauft und wird somit durch die Bluttaufe von seinen Sünden erlöst und in die Gemeinschaft Christi aufgenommen. 160 In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass Grettir kniend, also in Büßerhaltung stirbt, was die Saga nicht direkt formuliert, aber - durch seine Beinverletzung begründet - inszeniert: Die Formulierung „ Grettir mátti eigi af knjánum rísa “ (ÍF VII: 260; Grettir konnte sich nicht von den Knien erheben) leitet seinen letzten Kampf ein, der unmittelbar mit dem Tod endet. Postmortale Sakralisierung Neben dem Opfertod setzt die Grettis saga ihren Protagonisten mit zahlreichen weiteren Elementen als Märtyrer und Heiligen in Szene. Das für die Anerkennung als Heiliger nötige Wunder vollbringt Grettir noch im Tod und einem sagazeitlichen Helden angemessen, indem er das Schwert so festhält, dass Ǫ ngull es auch mit der Unterstützung von sieben Männern nicht aus seiner toten Hand winden kann und die Hand abhacken muss, um es zu in Besitz zu nehmen. En er þeir hugðu, at hann myndi dauðr, þreif Ǫ ngull til saxins ok kvað hann nógu lengi hafa borit þat. En Grettir hafði fast kneppt fingr at meðalkaflanum ok varð ekki laust. Fóru þeir þá til margir ok gátu ekki at g ǫ rt; átta tóku þeir til, áðr en lauk, ok fengu ekki at g ǫ rt at heldr. Þá mælti Ǫ ngull: „ Hví skulu vér reka sparmælit við skógarmanninn? Ok leggið niðr h ǫ ndina við stokkinum. “ Ok er þat var g ǫ rt, hjuggu þeir af honum h ǫ ndina í úlfliðnum; þá réttust fingrnir ok losnuðu af meðalkaflanum. Þá tók Ǫ ngull saxit tveim h ǫ ndum ok hjó í h ǫ fuð Gretti; varð þat allmikit h ǫ gg, svá at saxit stózk eigi, ok brotnaði skarð í miðri egginni. Ok er þeir sá þat, spurðu þeir, hví at hann spillti svá grip góðum. Ǫ ngull svarar: „ Þá er auðkenndara, ef at verðr spurt. “ Þeir s ǫ gðu þessa eigi þurfa, þar sem maðrinn var dauðr áðr. „ At skal þó meira gera, “ segir Ǫ ngull. Hjó hann þá á háls Gretti tvau h ǫ gg eða þrjú, áðr af t œ ki h ǫ fuðit. (ÍF VII: 261 - 262) Und als sie glaubten, dass er tot sei, griff Ǫ ngull nach dem Schwert und sagte, das habe er lange genug getragen. Aber Grettir hatte die Finger fest um den Griff gespannt, und es war nicht loszubekommen. Da versuchten es viele und konnten nichts ausrichten; zu acht zogen sie schließlich daran und konnten auch nichts ausrichten. Da sagte Ǫ ngull: „ Warum sollen wir den Friedlosen schonen? Legt den Arm auf den Balken. “ Und als das getan war, hieben sie ihm die Hand ab am Handgelenk; da streckten sich die Finger und ließen den Schwertgriff los. Dann nahm Ǫ ngull das Schwert mit zwei Händen und hieb Grettir auf den Kopf; das wurde ein sehr kräftiger Hieb, so dass das Schwert nicht standhielt, und es brach eine Scharte in die Mitte der Schneide. Und als sie das sahen, fragten sie, warum er ein so wertvolles Stück beschädigte. 160 Die Bluttaufe bleibt im Mittelalter in der Tradition der Alten Kirche Ersatz für die nicht vollzogene Taufe während des Lebens (s. v. „ Taufe “ in TRE 32: 698). Peters, Medium Sagazeit, BNPh 73 (2024) DOI 10.24053/ 9783381105229 264 5 Textanalysen: Mediale Vergegenwärtigung in den spätmittelalterlichen Íslendingasögur <?page no="265"?> Ǫ ngull antwortet: „ Dann ist es leichter zu erkennen, wenn danach gefragt wird. “ Sie sagten, das brauche es nicht, da der Mann schon tot war. „ Es soll trotzdem noch mehr getan werden “ , sagt Ǫ ngull. Darauf hieb er zwei oder drei Hiebe auf den Hals Grettirs, ehe es den Kopf abtrennte. (HS: 204 - 205) Auch im Tod zeigt sich so nochmals Grettirs Außerordentlichkeit. Die Schändung der Leiche ist darüber hinaus ein typischer mit Märtyrern verknüpfter Topos, der zudem dazu dient, den Gegner als barbarisch zu kennzeichnen. Die weitere Sakralisierung Grettirs erfolgt dann durch den Umgang mit seinen sterblichen Überresten, wobei der Schädel eine zentrale Rolle spielt. Wenngleich Grettir wie ein Wiedergänger enthauptet wird, inszeniert die Saga damit weniger die typische Enthauptung eines Wiedergängers, dem der Kopf anschließend an das Hinterteil gesetzt wird, um ein erneutes Wiederkommen zu verunmöglichen, als vielmehr die Enthauptung eines Heiligen, wie der weitere Umgang mit seinem Schädel zeigt. Dieser ist für Ǫ ngull zunächst Siegeszeichen und Beweismittel, um das ausgesetzte Kopfgeld zu kassieren. Dementsprechend nimmt er ihn neben Waffen sowie Kleidern von Wert mit und konserviert ihn, um ihn für seine weiteren Zwecke zu erhalten. „ H ǫ fuð Grettis l ǫ gðu þeir í salt í útibúri því, er Grettisbúr var kallat, þar í Viðvík; lá þat þar um vetrinn. “ (ÍF VII: 264) 161 Das Einsalzen des Kopfes und seine Verwahrung im Vorratshaus muten etwas makaber an, sind j