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Spracherhalt und Mehrsprachigkeit

Eine Einführung

1028
2024
978-3-3811-0582-3
978-3-3811-0581-6
Gunter Narr Verlag 
Katja F. Cantonehttps://orcid.org/0000-0002-9759-6108
Helena Olfert
Laura Di Venanzio
Erkan Gürsoy
Tobias Schroedler
Patrick Wolf-Farré
10.24053/9783381105823

Das Studienbuch gibt einen innovativen Einblick in eine in Deutschland erst junge Forschungsrichtung. Die Spracherhaltsforschung erfordert eine Auseinandersetzung mit dem internationalen Forschungsstand, ebenfalls jedoch eine Spezifikation der Situation migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in Deutschland, die im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe nicht nur auf die Mehrheitssprache fokussiert sein sollte. Viele Sprachen erfreuen sich einer starken Vitalität und werden weitergegeben, obwohl gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen den Spracherhalt erschweren. Es gilt, die Entwicklung dieser Sprachen im Individuum, die außersprachlichen Faktoren, die diese beeinflussen, sowie die institutionellen Voraussetzungen für den Spracherhalt zu beschreiben. Auch werden formale und non-formale Angebote sowie die organisatorische und methodisch-didaktische Umsetzung im Unterricht betrachtet.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-10581-6 Das Studienbuch gibt einen innovativen Einblick in eine in Deutschland erst junge Forschungsrichtung. Die Spracherhaltsforschung erfordert eine Auseinandersetzung mit dem internationalen Forschungsstand, ebenfalls jedoch eine Spezifikation der Situation migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in Deutschland, die im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe nicht nur auf die Mehrheitssprache fokussiert sein sollte. Viele Sprachen erfreuen sich einer starken Vitalität und werden weitergegeben, obwohl gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen den Spracherhalt erschweren. Es gilt, die Entwicklung dieser Sprachen im Individuum, die außersprachlichen Faktoren, die diese beeinflussen, sowie die institutionellen Voraussetzungen für den Spracherhalt zu beschreiben. Auch werden formale und non-formale Angebote sowie die organisatorische und methodisch-didaktische Umsetzung im Unterricht betrachtet. Cantone et al. Spracherhalt und Mehrsprachigkeit Spracherhalt und Mehrsprachigkeit Eine Einführung Katja F. Cantone / Helena Olfert / Laura Di Venanzio / Patrick Wolf-Farré / Tobias Schroedler / Erkan Gürsoy <?page no="1"?> Dr. Katja F. Cantone ist Professorin für Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Duisburg-Essen. Dr. Helena Olfert ist Professorin für Deutsch als Zweitsprache und sprachliche Bildung an der Universität Osnabrück. Dr. Laura Di Venanzio ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Universität Duisburg-Essen. Dr. Patrick Wolf-Farré ist Assistenzprofessor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Wien. Dr. Tobias Schroedler ist Juniorprofessor für Mehrsprachigkeit und gesellschaftliche Teilhabe an der Universität Duisburg-Essen. Dr. Erkan Gürsoy ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Universität Duisburg-Essen. Von links nach rechts: Erkan Gürsoy, Helena Olfert, Katja F. Cantone, Laura Di Venanzio, Patrick Wolf-Farré, Tobias Schroedler BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen mit mehreren Sprachen gleichzeitig auf. Diese Situation birgt viele Chancen, wenngleich oft eine Herausforderung darin gesehen wird. Ziel der Mehrsprachigkeitsforschung ist es, Besonderheiten im Erwerb genau zu identi zieren, damit Kinder erfolgreich mehrsprachig in die Schulzeit starten können. Das Arbeitsbuch hat zwei Hauptanliegen: Es führt erstens in die aktuelle Mehrsprachigkeitsforschung ein und zeigt somit Studierenden Spracherwerbstheorien, die Entwicklung der beiden Sprachen sowie Phänomene des mehrsprachigen Erwerbs auf. Zweitens wird die Arbeit mit Korpusdaten vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt auf der Mehrsprachigkeit, die im Kindesalter im familiären Kontext einsetzt. Diese bildet die Grundlage für den Spracherwerb, der entweder sukzessiv zu den Erstsprachen in der Schule oder außerhalb der Institution in natürlicher Umgebung statt ndet. Natascha Müller, Tanja Kupisch, Katrin Schmitz, Katja F. Cantone, Laia Arnaus Gil Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung Deutsch - Französisch - Italienisch - Spanisch narr STUDIENBÜCHER 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Au age 2023, 353 Seiten €[D] 27,99 ISBN 978-3-8233-8580-6 eISBN 978-3-8233-9580-5 <?page no="4"?> Katja F. Cantone / Helena Olfert / Laura Di Venanzio / Patrick Wolf-Farré / Tobias Schroedler / Erkan Gürsoy Spracherhalt und Mehrsprachigkeit Eine Einführung <?page no="5"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381105823 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-381-10581-6 (Print) ISBN 978-3-381-10582-3 (ePDF) ISBN 978-3-381-10583-0 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="6"?> Geleitwort Aus der Sprachenlern- und Sprachenerwerbsforschung kommend ging ich mit be‐ stimmten Erwartungen an die ersten Kapitel dieses Buches. Für mich war bis dahin Sprach(en)erhalt primär der kognitive und zeitliche Aufwand, den ein Individuum betreibt und betreiben muss, um eine einmal gelernte oder erworbene Sprache zu erhalten. Wir wissen alle, das Nichtbenutzen einer Sprache, egal ob produktiv oder rezeptiv, leider allzu oft dazu führt, dass wir sie vergessen bzw. bei dann doch unerwartet auftauchendem Bedarf nicht so umstandslos über sie verfügen, als wenn wir sie kon‐ tinuierlich gebrauchen (vgl. z. B. Schmidt/ Köpke 2013). Mehrsprachenerwerbsmodelle gehen zwar, wie der Name sagt, auf die Mechanismen des Erwerbs bzw. des Lernens von mehr als zwei Sprachen ein; explizit mit dem Erhalt einer Sprache oder von Sprachen und dem damit verbundenen Aufwand beschäftigt sich allerdings bislang alleine das Dynamische Modell für Mehrsprachigkeit (erstmals in Herdina/ Jessner 2002, 93-106). Dies ist allerdings nicht der Fokus dieses Buches, sondern der Erhalt einer Herkunftsbzw. einer Familiensprache. Das ist stets ein Gemeinschaftsunternehmen und keines allein eines Individuums. Es bedarf einer Familie bzw. eines gemeinschaftlichen Hintergrunds, in dessen Rahmen die Sprache benutzt und verwendet wird bzw. die Sprachen benutzt und verwendet werden. Inzwischen geht es in vielen familiären Zusammenhängen nicht nur um eine zu erhaltende Sprache, sondern um zwei oder mehr Sprachen, und es bedarf des Interesses, der Bereitschaft und der Fähigkeit auf allen Seiten, an dieser Benutzung teilzuhaben. Die Familiensprache(n), die keineswegs tatsächlich auch stets die Herkunfts- oder gar die Erstsprache(n) ist/ sind, entwickelt/ n in jedem einzelnen Gruppenzusammen‐ hang eigene Merkmale und eine eigene Dynamik, der sich u. a. in Neologismen, familiären Idiosynkrasien oder spezifischen Sprachenwechseln zeigen kann. Hierzu finden sich zahlreiche spannende Beispiele in diesem Buch, welches dazu beiträgt, die Sprachenerhaltsforschung in Deutschland nicht nur weiter zu etablieren, sondern auch multiperspektivischer werden zu lassen. Die Beitragenden wollen untersuchen, „[w]ie diese Sprachen genau bezeichnet werden, mit welchen Normen und Zielvorstellungen sich die Sprecher*innen auseinandersetzen müssen, welche linguistischen und außer‐ linguistischen Faktoren ihre Weitergabe und ihren Erwerb bedingen, welchen Beitrag Schule zum Spracherhalt leisten könnte und schließlich welche gesellschaftlichen Aspekte Entscheidungen und Einstellungen zu diesen Sprachen prägen können“ (aus dem Vorwort). Das schließt die Einführung von neuen Begrifflichkeiten wie ‚Spracherhaltsdidaktik‘, ‚kindlicher Spracherhalt‘, ‚Heritage-Sprache‘ und ‚Herkunfts‐ sprachensprecher*innen‘ ein. Ich persönlich verbinde mit dem Terminus heritage language, den ich während mei‐ ner Tätigkeit an der University of Alberta in Edmonton/ Alberta, Kanada, kennenlernte, etwas ganz spezifisch Kanadisches, was nicht deckungsgleich mit dem hierzulande verwendeten Terminus Heritage-Sprache ist. In Kanada - einem Einwanderungsland <?page no="7"?> par excellence - verbindet man zweifelsohne zwar auch den Erhalt oder auch das Neulernen der heritage language, das hatte und hat aber keineswegs den Stellenwert wie in Deutschland. Insbesondere kurz nach dem 2. Weltkrieg legten Einwanderer Wert darauf, eben kein Deutsch mehr zu sprechen, sondern ausschließlich die neue Umgebungssprache zu verwenden (vgl. u.-a. Prokop 2004 und auch die Bibliografie in Prokop 2023). Ein nennenswerter Anteil meiner Studierenden der Germanistik in den 1990er Jahren hatte das Fach Germanistik an der University of Alberta, Edmonton, AB, gewählt, um die Sprache und den Hintergrund der Eltern näher kennenzulernen. Bis vor wenigen Jahren gehörte es insgesamt keineswegs dazu, dass immer die heritage languages von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden oder dass überhaupt das Lernen oder Verwenden der heritage language als notwendige Bedingung zum Konzept von heritage gehört. Strukturiert übernehmen die Lehre der heritage languages beispielsweise die Sonnabendschulen/ Saturday schools oder Play Schools durch die German-Canadian Cultural Association (https: / / www.gcaa.ca/ ) oder öffentliche Schu‐ len im Rahmen bilingualer Programme (z. B. https: / / epsb.ca/ programs/ language/ germ anbilingual/ ). Sicher könnte man - aus der Perspektive aus Deutschland - anmerken, dass der Begriff heritage oft bis heute auch folkloristisch aufgeladen ist, wie man an deutschen Clubs wie The Bavarian Schuhplattlers of Edmonton oder The Hofbräuhaus News (http: / / www.thehbhnews.ca/ WebPages/ Home.html) erkennen kann. Heritage im englischsprachigen Teil Kanadas wird aber auch verbunden mit dem ausgelassenen und regelmäßigen Feiern des kulturellen Erbes und der kulturellen Vielfalt, beispielsweise dem jährlich stattfindenden Edmonton Heritage Festival. The world’s largest three day celebration of multiculturalism (https: / / www.heritagefest.ca/ ). In dieser kurz skizzierten Tradition war auch die Forschung weniger auf den Erhalt der Sprache ausgerichtet, sondern eher auf Aspekte wie teilweise sehr lustige und fröhliche Interferenzen (vgl. beispielsweise Hufeisen 1995) oder auf die überraschende und spontane Wiederkehr der jahrzehntelang nicht mehr verwendeten heritage lang‐ uage Deutsch, beispielsweise nach Schlaganfällen (Beispiele dazu z. B. Schmidt et al 2019, passim). Zwar konnte man mit dieser Forschung wichtige und interessante neurolinguistische Einsichten in Sprachenverarbeitung und vor allem -speicherung gewinnen, aber die in diesem neuen vorliegenden Band fokussierte Forschung in die Bedingungen, Voraussetzungen, Konsequenzen, Möglichkeiten und Chancen des Sprachenerhalts stellen eine sehr viel optimistischere und offenere Haltung dar. Ich wünsche daher diesem inhaltsreichen und spannenden Werk viele interessierte und aufmerksame Lesende, sowohl professionell Beteiligte als auch familiär Agierende, und hoffe, dass die Impulse, die von ihm ausgehen, zu weiterer wichtiger Forschung anregen. 6 Geleitwort <?page no="8"?> Verweise H E R D I N A , Philip/ J E S S N E R , Ulrike (2002), A Dynamic Model of Multilingualism. Perspectives of Change in Psycholinguistics. Clevedon, UK, Multilingual Matters. H U F E I S E N , Britta (1995), Englisch bei deutschsprachigen Immigranten in Kanada. Muttersprache 3, 243-251. P R O K O P , Manfred (2004), zusammen mit Gerhard Bassler, German Language Maintenance across Canada. A Handbook. Edmonton. P R O K O P , Manfred (2023), Annotated bibliography of the cultural history of the german-speaking community in Alberta, vol. 2 2000-2018. Deutsche digitale Bibliothek (https: / / d-nb.info/ 11793 00432/ 04). S C H M I D , Monika S./ K ÖP K E , Barbara (2013), First Language Attrition, Use and Maintenance. The case of German Jews in Anglophone Countries. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Publishing Company (Benjamins Current Topics, 48). S C H M I D , Monika/ K ÖP K E , Barbara/ C H E R C I O V , Mirela/ K A R A Y A Y L A , Tuğba/ K E I J Z E R , Merel/ D E L E E U W , Esther et al. (2019) (Hg.): The Oxford Handbook of Language Attrition. Oxford, New York, NY: Oxford University Press (Oxford handbooks in linguistics). Britta Hufeisen, Technische Universität Darmstadt im Sommer 2024 Geleitwort 7 <?page no="10"?> 1 17 1.1 17 1.2 17 1.2.1 17 1.2.2 19 1.3 23 1.3.1 23 1.3.2 24 1.4 25 1.5 26 1.6 26 1.7 27 2 29 2.1 29 2.2 30 2.2.1 30 2.2.2 31 2.3 33 2.3.1 34 2.3.2 38 2.4 39 2.5 40 2.6 40 3 45 3.1 45 3.2 45 3.2.1 45 3.2.2 50 3.3 53 3.4 56 Inhalt Spracherhalt - ein multiperspektivisches Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachminderheiten in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokus auf Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindlicher Spracherhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minderheitensprache? Herkunftssprache? Familiensprache? . . . . . . . Herkunftssprachensprecher*innen? Bilinguale? Zweitsprachler*innen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie beginnt Spracherhalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weniger beeinflussbare Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinflussbare Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhalt innerhalb der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was passiert mit der Heritage-Sprache zu Hause? . . . . . . . . . . . . . . . . . Enge und erweiterte Familienmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="11"?> 3.5 56 3.6 57 4 61 4.1 61 4.2 61 4.3 64 4.4 65 4.5 68 4.6 70 4.7 72 4.8 72 4.9 73 5 81 5.1 81 5.2 81 5.2.1 81 5.2.2 83 5.3 85 5.3.1 85 5.3.2 86 5.3.3 88 5.4 91 5.5 92 5.6 93 5.7 94 6 99 6.1 99 6.2 99 6.3 102 6.3.1 103 6.3.2 104 6.3.3 110 6.4 113 6.5 114 6.6 115 7 121 7.1 121 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhalt außerhalb der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhalt in der frühesten Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhalt und frühkindliche Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhalt und schulische Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhalt und non-formale Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhalt an Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachlicher Standard und sprachliche Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Usus und Kodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachlicher Standard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Norm und Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Fähigkeiten Mehrsprachiger in der Mehrheitssprache . . Sprachliche Fähigkeiten Mehrsprachiger in der Herkunftssprache . . Herkunftssprachensprecher*innen und das native speaker-Konzept . Methoden in der Herkunftssprachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einblick in ausgewählte Forschungsarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variationen durch Sprachattrition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variationen durch Sprachtransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variationen durch Simplifizierung und Komplexifizierung . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außersprachliche Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="12"?> 7.2 121 7.2.1 122 7.2.2 124 7.2.3 127 7.3 128 7.4 131 7.5 131 7.6 133 8 139 8.1 139 8.2 139 8.2.1 140 8.2.2 140 8.2.3 141 8.3 141 8.3.1 142 8.3.2 143 8.3.3 146 8.4 147 8.5 149 8.6 149 9 151 9.1 151 9.2 151 9.3 152 9.3.1 152 9.3.2 155 9.4 157 9.4.1 157 9.4.2 158 9.5 159 9.6 159 9.7 160 10 163 10.1 163 10.2 163 10.2.1 163 Die Gruppe und das Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppenspezifische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlappung gruppenspezifischer und individueller Faktoren . . . . . . Makro-, Meso- und Mikroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität und Spracherhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität als Selbst- und Fremdwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruiertheit von Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narration als Mittel der Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Vorgestellte) Gruppenzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppenzugehörigkeit und das sprachliche Repertoire . . . . . . . . . . . . Identität und Spracherhalt im Laufe des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Frage: Was ist mit „nicht-erworbenen“ Herkunftssprachen? . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wert von Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der wirtschaftliche Wert von Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der soziale und individuelle Wert von Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertgleichheit herstellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenhänge zwischen Betrachtungen des Werts von Sprachen und Spracherhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die andere Perspektive: -Deutsch als Herkunftssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 <?page no="13"?> 10.2.2 164 10.2.3 164 10.3 165 10.3.1 166 10.3.2 167 10.4 168 10.5 169 10.6 169 11 173 11.1 173 11.2 174 11.3 175 11.4 176 11.4.1 176 11.4.2 178 11.4.3 180 11.5 182 11.6 183 11.7 183 188 Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachminderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch als Herkunftssprache in Chile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch als Herkunftssprache in Australien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherhaltsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von einer Herkunftssprachendidaktik zur Spracherhaltsdidaktik . . . . Globale Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte zur Spracherhaltsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele eines spracherhaltsdidaktisch-orientierten HSU . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachiges Lernen in allen Fächern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koordination mit weiteren Fächern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Inhalt <?page no="14"?> Vorwort Das vorliegende Studienbuch möchte einen Beitrag zu einer neuen Forschungsrichtung - der Spracherhaltsforschung - leisten. Diese Forschungsrichtung befasst sich mit der Weitergabe und dem Erhalt von Sprachen, mit denen Individuen hauptsächlich im familiären, lebensweltlichen Kontext vom Kleinkindalter an in Kontakt gekommen sind und die im Alltagsleben außerhalb dieses Kontexts selten eine Rolle spielen - den sogenannten Herkunftssprachen. Die Spracherhaltsforschung ist im deutsch‐ sprachigen Raum deshalb als eine neue Disziplin zu bezeichnen, weil der Fokus von Studien im Kontext von Mehrsprachigkeit überwiegend auf dem Erwerb des Deutschen lag und liegt, alle anderen Sprachen jedoch verhältnismäßig selten in den Mittelpunkt gestellt werden. Wie diese Sprachen genau bezeichnet werden, mit welchen Normen und Zielvorstellungen sich die Sprecher*innen auseinandersetzen müssen, welche linguistischen und außerlinguistischen Faktoren ihre Weitergabe und ihren Erwerb bedingen, welchen Beitrag Schule zum Spracherhalt leisten könnte und schließlich welche gesellschaftlichen Aspekte Entscheidungen und Einstellungen zu diesen Sprachen prägen können, soll hier behandelt werden. Wir streben an, das Thema Spracherhalt und Mehrsprachigkeit innovativ und multiperspektivisch vor dem Hintergund einer klar definierten, in der Forschung bislang nicht immer so deutlich abgegrenzten Zielgruppe anzugehen. Damit gemeint sind Personen, die im Laufe ihres Lebens in Kontakt zu einer im Land, in dem sie leben, wenig gesprochenen und institutionell geförderten Sprache/ Varietät kommen, die auf verschiedene Arten und Weisen im Kontext von Weitergabe und Erhalt steht. Die Formulierung bleibt deswegen zunächst vage, weil es zu klären gilt, welche Personen und Sprachen im spezifischen deutschen Kontext, welche Form von Kontakt (z. B. auf einem Kontinuum zwischen selten vs. häufig) und welche Arten von „Ergebnissen“ dieses Kontakts (aktive vs. rezeptive Mehrsprachigkeit) gemeint sind. Dabei werden bisher genutzte Forschungsmethoden mit Blick auf diese Zielgruppe hinterfragt und offene Fragen und Forschungslücken in ihren diziplinübergreifenden Facetten formuliert. Das Buch beginnt mit einer Positionierung bzgl. der Begriffe Mehrsprachigkeit und Spracherhalt (Kapitel 1). Es wird nachgezeichnet, warum Mehrsprachigkeit in Deutsch‐ land kein neues Phänomen ist und welche Interessen die einzelnen Disziplinen an der Erforschung von Mehrsprachigkeit haben. Schließlich wird vorgestellt, welche innovative Perspektive dieses Studienbuch einnimmt. Kapitel 2 beleuchtet den individuellen frühkindlichen Erhalt von Sprachen, die in der Regel wenig in der unmittelbaren Umgebung des Kindes vorkommen. Dazu ist es zum einen notwendig zu klären, wie diese Sprachen definiert und bezeichnet werden, zum anderen werden wichtige Dimensionen vorgestellt, die beim Erhalt im Kleinkindalter von Relevanz sind. Hierzu werden Studien herangezogen. <?page no="15"?> Kapitel 3 widmet sich dem Spracherhalt im familiären Kontext, insbesondere der Rolle des elterlichen Sprachverhaltens, aber auch dem Einfluss von Großeltern und Medien. Im Fokus stehen exemplarische (inter-)nationale Studien, die mit verschiede‐ nen Methoden untersuchen, welche Strategien und Maßnahmen den meisten Erfolg versprechen. Neuere Forschungsrichtungen wie die Sprachweitergabe bilingualer Eltern oder heritage language anxiety werden ebenfalls angerissen. In Kapitel 4 wird Spracherhalt im Kontext des gesamten Lebens einer mehrsprachi‐ gen Person in den Blick genommen. Damit ergänzt es bisherige Ausführungen zur Familie um Perspektiven aus weiteren außerfamiliären Bereichen, in denen Mehrspra‐ chige sich im Laufe ihres Lebens bewegen. Angefangen bei der frühesten Kindheit über bilinguale Kindertagesstätten, schulische und außerschulische Angebote zum Herkunftssprachlichen Unterricht bis zum tertiären Bildungssektor behandelt das Kapitel die Frage danach, welche Institutionen auf welche Weise zu Spracherhalt beitragen (oder nicht). Kapitel 5 setzt sich mit dem Normkonzept im Zusammenhang mit dem Erwerb und Erhalt von Herkunftssprachen auseinander. Nach einer einleitenden Diskussion des Normbegriffs im Spannungsfeld zwischen Usus und Kodex wird unter Rückgriff auf empirische Studien die Anwendung von Norm- und Standardvorstellungen auf sprach‐ liche Fähigkeiten mehrsprachiger Personen diskutiert. Dabei wird kritisch betrachtet, welche Sprecher*innen als Vergleichsbasis für die erreichten Kompetenzen dienen, und damit zusammenhängend, welche Erwartungen an die sprachlichen Kenntnisse von Herkunftssprachensprecher*innen in der Forschung gestellt werden. Kapitel 6 beleuchtet sprachliche Variationen und Sprachwandel in Herkunftsspra‐ chen und ihre Bedeutung für den Erhalt dieser Sprachen. Neben einer Beschreibung relevanter sprachlicher Prozesse, die zu strukturellen Veränderungen führen können, werden anhand ausgewählter Forschungsarbeiten exemplarisch Sprachvariationen für verschiedene Sprachstrukturen und Herkunftssprachen skizziert. Kapitel 7 befasst sich mit der Frage, welche außersprachlichen Faktoren die in‐ tergenerationale Sprachweitergabe und den Spracherhalt auf Makro-, Meso- und Mikroebene positiv wie negativ beeinflussen. Unter Rückgriff auf diverse Studien werden sowohl Faktoren diskutiert, die sich auf die gesamte Sprachgruppe beziehen, als auch Faktoren, die das Individuum betreffen. In Kapitel 8 wird der Themenkomplex „Identität und Spracherhalt“ beleuchtet. Dabei stehen besonders sprachliche „Identitätsakte“ im Vordergrund: Der Text behandelt die Fragen, warum manche (Herkunfts-)Sprachen erhalten werden, andere dafür nicht, und wieso gerade bei jungen Sprecher*innen die familiäre Herkunft oft überhaupt nicht in Verbindung mit dem tatsächlich verwendeten Sprachenrepertoire steht. Kapitel 9 thematisiert Theorien und Erkenntnisse zu ökonomischen und sozialen Wertvorstellungen von Herkunftssprachen in der mehrsprachigen Gesellschaft. Es wird dargestellt, dass Ideen und Konzepte von Wertigkeit von Sprachen einen zentralen Einfluss auf deren Erhalt haben (können). 14 Vorwort <?page no="16"?> 1 https: / / www.duden.de/ sprachwissen/ sprachratgeber/ Geschlechtergerechter-Sprachgebrauch; Auf‐ ruf 07.06.2024. Während die meisten Kapitel den Erhalt und Erwerb anderer Herkunftssprachen in Deutschland behandeln, nimmt Kapitel 10 die umgekehrte Perspektive ein: Hier werden Situationen beschrieben, in denen Deutsch eine Minderheitenbzw. Herkunfts‐ sprache ist. Anhand von Beispielen aus Australien und Chile wird aufgezeigt, wie die deutsche Sprache als heritage language weitergegeben wird, inwiefern sie erhalten bleibt und welche sprachplanerischen und sozialen Prozesse hierbei von Bedeutung sind. Auf Grundlage der vorherigen Kapitel und unter Berücksichtigung von internatio‐ nalen Perspektiven auf die heritage language education und ihre Ziele setzt Kapitel 11 den Fokus auf einen Paradigmenwechsel von einer sogenannten Herkunftsspra‐ chendidaktik zu einer Spracherhaltsdidaktik: Hierbei soll Spracherhalt - jenseits von Herkunft - nicht allein auf den Herkunftssprachlichen Unterricht reduziert, sondern als gesamtschulische und -gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden und nicht zuletzt die institutionellen Bedingungen des Spracherhalts auf Unterrichts- und Schulentwicklungsebene progressiv weiterdenken. Alle Kapitel beginnen mit einem einleitenden Abschnitt, der die Ziele formuliert und zusammenfasst. In jedem Kapitel findet sich zudem ein Übungsteil mit Aufgaben. Die Gliederung ermöglicht es Lehrenden, das Buch zur Grundlage eines einsemestrigen Seminars zu machen. Alle Kapitel können aber auch einzeln gelesen werden. Das Studienbuch richtet sich an Fach- und Lehramtsstudierende, Referendar*innen, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende. Es kann u. a. in den Fächern Germanistik, DaZ/ DaF, Anglistik, Romanistik, Slawistik und Turkistik eingesetzt werden. Diese Einführung ist eine gemeinschaftliche Arbeit von sechs Autorinnen und Autoren, wobei jede Person unterschiedliche Schwerpunkte abdeckt und dadurch verschiedene Kapitel (mit-)verantwortet. Alle haben alle Kapitel gelesen und sind für die gesamte Einführung verantwortlich. Wir danken Jördis Beulich, Luca Marie Biesenbender, Lea Bonhoff, Gizem Evin Dağ, Marlene David, Esther Domke, Hannah Koch, Claudia Laaber, Coralie Nicolei, Heike Roll, Katrin Schmitz und Emine Yesilöz-Astürk, die einzelne Kapitel kritisch gelesen und hilfreich kommentiert haben. Dank geht auch an Caroline Böning, Romina Krech‐ ter und Laura Seidel für die Unterstützung der Literaturformatierung. Ein besonderer Dank gilt Amani Haridy für wertvolle Kommentare aus Studierendensicht und vor allem für die Hilfe bei der Formatierung des Buches. Im Sinne einer diversitätssensiblen Sprache bemüht sich dieses Studienbuch, mög‐ lichst genderneutrale Begriffe zu verwenden. Wo dies nicht möglich ist, wird der Gender-Stern genutzt. 1 Essen, Osnabrück und Wien im Juli 2024, die Autorinnen und Autoren Vorwort 15 <?page no="18"?> 1 Kritisch zu betrachten ist, was unter Sprache überhaupt zu verstehen ist, vgl. B O A S & W I E S E (2023: 73-74). 1 Spracherhalt - ein multiperspektivisches Forschungsfeld Katja F. Cantone 1.1 Einleitung Deutschland ist ein mehrsprachiges Land. Menschen wachsen mit verschiedenen Sprachen auf, sie kommen als Kinder damit in Kontakt oder erlernen sie gesteuert in der Schule. Andere Menschen wiederum ziehen nach Deutschland und bringen verschiedene Sprachen mit, die sie bewahren und an ihre Kinder weitergeben wollen. Können wir all diese Möglichkeiten, mehrsprachig zu sein, mit der gleichen Defini‐ tion abdecken? Werden alle Sprachen dabei gleich gesehen/ bewertet/ behandelt? In diesem Kapitel werden wichtige Definitionen und Forschungsthemen im Rahmen von Spracherhalt und Mehrsprachigkeit vorgestellt, die für das gesamte Buch grundlegend sind (1.2). Wieso und inwiefern Deutschland ein mehrsprachiges Land ist, wird in 1.3 erläutert. Darüber hinaus ist es wichtig, zu klären, in welchen Disziplinen zu Mehrsprachigkeit in Deutschland geforscht wurde und wird (1.4). Das Kapitel schließt mit offenen Fragen (1.5) sowie Aufgaben zum Themenfeld (1.6). 1.2 Definitionen 1.2.1 Mehrsprachigkeit Um über die Thematik des Studienbuches sprechen zu können, stellt sich zunächst die Frage, was unter Mehrsprachigkeit zu verstehen ist. Dieser Begriff impliziert das Vorhandensein oder die Begegnung von mehreren Sprachen 1 in einer Gruppe oder in einem Individuum. Doch wie ist die Gruppe oder das Individuum überhaupt in Kontakt mit mehreren Sprachen gekommen? Menschen werden mehrsprachig, wenn sie in einer Gegend aufwachsen, in der zwei (oder mehr) Sprachen im Gebrauch zu finden sind (= gesellschaftliche Mehrspra‐ chigkeit, R I EHL 2014: 63-64, K O CH & R I EHL 2024: Kap. 3). Das ist in zweisprachigen Gebieten der Fall (wie z. B. in der kanadischen Provinz Québec), oder aber in einem Stadtviertel, in dem viele Menschen leben, die neben der Mehrheitssprache auch eine (oder mehrere) weitere Sprache(n) verwenden (z. B. in Berlin). Darunter ist die <?page no="19"?> Sprache zu verstehen, die von der Mehrheit der Menschen in einem Land oder Gebiet gesprochen wird. Individuen können aber auch mehrsprachig aufwachsen, obwohl ihre Umgebung einsprachig ist (= individuelle Mehrsprachigkeit). Das bedeutet, dass sie eine weitere Sprache neben der Mehrheitssprache erwerben. Diese Sprache wird nicht von allen Menschen in der Umgebung gesprochen und kann in diesem Kontext als Minderheitensprache bezeichnet werden. Eine Unterscheidung, die selten in der Literatur vorgenommen wird, ist die zwischen dem Begriffspaar mehrsprachig und bilingual (oder auch zweisprachig). Die Begriffe werden normalerweise synonym verwendet, so auch in diesem Studienbuch, weil Kinder mit mehr als zwei Sprachen aufwachsen können und sie heutzutage alle früh in Kontakt mit dem Englischen kommen (C ANTO N E & D I V E NANZIO 2015: 36). Bei Bilingualität wird in der Spracherwerbsforschung davon ausgegangen, dass ein Kind ab Geburt auf natürliche Art und Weise gleichzeitig Kontakt zu einer weiteren Sprache hat (M ÜLL E R E T AL . 2023: 1-2, vgl. Kap. 2). Dieser ungesteuerte kindliche Erwerb wird auch mehrsprachiger Erwerb genannt, obwohl in der Regel nur zwei Sprachen involviert sind. G R O S J EAN (2022: 7) merkt an, dass mehrere Aspekte die Antwort auf die Frage beeinflussen können, ob man sich selbst als bilingual/ mehrsprachig bezeichnet: ob man beide Sprachen flüssig spricht (fluency), ab wann man die Sprachen erworben hat sowie ob man beide Sprachen gleich gut beherrscht (in Wort und/ oder Schrift). Schließlich kommen Menschen aufgrund von Curricula und sprachpolitischen Vor‐ schriften während des Besuchs allgemeinbildender Schulen in Kontakt mit mindestens einer, oftmals mit zwei sog. Fremdsprachen. Das sind Sprachen, die ohne vorherige Kenntnisse an Schulen gelernt werden (= curriculare Mehrsprachigkeit, die meist nur additiv, also in einer Aneinanderreihung, konzipiert ist, vgl. K R UMM 2004). In Deutschland ist vorgesehen, dass alle Menschen durch schulische Angebote weitere Sprachen erlernen. Es kann also festgehalten werden, dass es mehrere Konstellationen gibt, weshalb Menschen in Kontakt mit mehr als einer Sprache kommen und diese auch gebrauchen. Im Falle gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit kommt man kaum umhin, Kenntnisse in den Sprachen zu erwerben, die in der Gegend gesprochen werden, in der man aufwächst. Im Falle individueller Mehrsprachigkeit kann es hingegen dazu kommen, dass die Minderheitensprache nicht erworben wird (vgl. Kap.-3). Im Falle curricularer Mehrsprachigkeit lernt man in der Schule Fremdsprachen, die gesetzlich festgelegt worden sind. 18 1 Spracherhalt - ein multiperspektivisches Forschungsfeld <?page no="20"?> Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit Individuelle Mehrsprachigkeit Curriculare Mehrsprachigkeit Alle sprechen dieselben Spra‐ chen Alle sprechen Mehrheitsspra‐ che Einzelne sprechen weitere Sprache(n) Alle sprechen Mehrheitsspra‐ che Einzelne sprechen weitere Sprache(n) Festlegung Angebot weiterer Sprachen Umgebung mehrsprachig Umgebung einsprachig Umgebung einsprachig Gleich anerkannte (Mehr‐ heits-)Sprachen Mehrheitssprache und Min‐ derheitssprache(n) Fremdsprachen Erwerb von Anbeginn Erwerb von Anbeginn Gesteuertes Lernen in Institu‐ tion Tab. 1.1: Konstellationen mehrsprachigen Seins 1.2.2 Spracherhalt Widmet man sich dem Konzept des Spracherhalts, muss zunächst geklärt werden, was dieser Begriff im internationalen Kontext bedeutet und wofür er seit Jahrzehn‐ ten verwendet wird. Spracherhalt, eng. language maintenance, wird zusammen mit Sprachwechsel, engl. language shift, seit über 70 Jahren beforscht (P AUWE L S 2016: 9-10). Ausgangslage ist, dass Personen nach einer Veränderung nicht mehr in dem Land leben, wo die eigene Sprache als Mehrheitssprache gesprochen wird. Hierzu werden Prozesse untersucht, die dazu führen können, dass die Sprache zugunsten der neuen Mehrheitssprache aufgegeben wird. Der Fokus der ersten Studien in diesem Feld lag vornehmlich auf der Beschreibung von (soziolinguistischen) Aspekten des Sprachkontakts zwischen einer Minderheiten- und einer Mehrheitssprache (P AUWE L S 2016: 10-13). In bestimmten Kontexten territorialer Randgruppen kann eine Sprache sogar davon bedroht sein, vollständig auszusterben (ebd.: 24). P AUWE L S grenzt language maintenance (LM) von language shift (LS) in ihrem Buch wie folgt ab: If LS is defined as the process in which a language is gradually replaced by another language, often labelled L2, dominant language or majority language, in all spheres of usage, then LM is best described as the continued use or retention of an L1, a minority or heritage language in one or more spheres of language use. (P A U W E L S 2016: 20) P AUWE L S (2016: 20) definiert language maintenance also als ein ununterbrochenes Beibe‐ halten einer Minderheitensprache in einer oder mehreren Sprachgebrauchsdomänen. Dieser Begriffsbestimmung wird im vorliegenden Studienbuch gefolgt. 1.2 Definitionen 19 <?page no="21"?> 2 Ich danke Studierenden der ersten Kohorte des neuen Teilstudiengangs Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte in der Lehramtsoption Grundschule an der Universität Duisburg-Essen, die im Rahmen einer Diskussion in der Vorlesung „Sprachliche Vielfalt und Mehrsprachigkeit in Regionen - institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen“ (WS 2023/ 24) mit mir kritisch hinterfragt haben, ob der Begriff shift in diesem Falle korrekt in der Wissenschaft mit Wechsel übersetzt sei, und die den Vorschlag gemacht haben, lieber von Verschiebung oder Umstellung zu sprechen (vgl. Kap.-3). Spracherhalt im Kontext von Migration beschreibt den Vorgang, wenn Personen ihre Sprache beibehalten, obwohl sie durch eine Lebensveränderung an einem Ort leben, wo diese Sprache nicht von der Mehrheit gesprochen wird. Dem Erhalt geht die Intention voraus, die Sprache weiter nutzen zu wollen (Sprachgebrauch) und an die nächste Generation vermitteln zu wollen (Sprachweitergabe). P AUWE L S (2016: 17) versteht LM und LS als Subdisziplinen der Sprachkontaktforschung. In diesem Sinne hat die Spracherhaltsforschung lange den Fokus auf soziolinguistische Aspekte von Gruppen gelegt. Mit dem Spracherhalt in einzelnen Familien (wenn also in Zusammenhang mit Migration die in der Familie gesprochene Sprache plötzlich zur Minderheitensprache wird) beschäftigt sich die Wissenschaft seit relativ kurzer Zeit (vgl. Kap. 3). Im englischsprachigen Kontext wird diese Form von Spracherhalt präzisiert, indem von home language maintenance gesprochen wird (vgl. z. B. die Beiträge im Handbuch von S CHALL E Y & E I S E N S CHLA S 2020). Im deutschsprachigen Raum behandeln Studien im Kontext von Mehrsprachigkeit in der Regel Erhalt und Erwerb einer Sprache neben der Mehrheitssprache Deutsch eher aus linguistischer Perspektive. Beispielsweise geben D I V E NANZIO & C ANTON E (2016) einen Überblick über Studien zwischen Anfang der 1970erbis Mitte der 2010er-Jahre mit Fokus auf das Ruhrgebiet und Umgebung. Untersuchungen betrachten insbesondere den intergenerational shift, d. h., ob es eine oder mehr Generation(en) nach der obengenannten Veränderung zu einem Sprachwechsel bzw. zu einer Umstellung 2 innerhalb der Familie zugunsten der Mehrheitssprache gekommen ist und welche Faktoren diesen Wechsel bedingt haben. Studien legen nahe, dass die Rolle der Familien für die Sprachweitergabe existenziell ist (F I S HMAN 1991, 2001), doch stellt sich die Frage, über wie viele Generationen die Weitergabe funktionieren kann (vgl. Kap.-2). Spracherhalt und Mehrsprachigkeit hängen zusammen. Welche spracherhaltenden Maßnahmen führen dazu, dass ein Individuum/ eine Familie/ eine Gruppe mehrsprachig wird? Wächst eine Person einsprachig auf, steht außer Frage, dass sie diese Sprache aktiv verwendet und an ihre Kinder weitergibt. Wächst sie hingegen mit zwei Sprachen auf, wird sich zeigen, ob die Sprache, die nicht von der Mehrheit gesprochen wird, 20 1 Spracherhalt - ein multiperspektivisches Forschungsfeld <?page no="22"?> erhalten werden kann. Daraus ergibt sich, dass Spracherhalt notwendig ist, um eine individuelle Mehrsprachigkeit zu erlangen. Genauer genommen muss - bevor eine Sprache als erhalten angesehen werden kann - zunächst die Bedingung der Sprach‐ weitergabe erfüllt worden sein: Entscheidet sich ein Individuum/ eine Familie/ eine Gruppe gegen die Weitergabe einer Sprache und für die Umstellung/ Verschiebung des Sprachgebrauchs zugunsten der Mehrheitssprache, kommt es in der darauffolgenden Generation nicht mehr zum mehrsprachigen Erwerb (vgl. Kap. 2). Daher ist die Erforschung der Bedingungen, die dazu führen, dass eine Sprache weitergegeben wird, von großer Relevanz (vgl. O L F E R T 2019, vgl. Kap.-2 und 7). Spracherhalt und Mehrsprachigkeit in einer Familie Das folgende fiktive Beispiel illustriert individuelle Aspekte von Sprachweiter‐ gabe und Sprachaufgabe bei einer mehrsprachigen Familie. António und Lúcia ziehen Anfang der 1970er Jahre von Portugal nach Deutschland. Ihre Kinder Amália und Rui (beim Wegzug 2 Jahre und 6 Monate und 1 Jahr und 3 Monate alt) erwerben Portugiesisch weiterhin im familiären Kontext, gehen ab dem Alter von 5 Jahren in eine deutschsprachige Vorschule und anschließend in die Grundschule. Beide besuchen das zusätzliche Unterrichtsangebot für die Sprache Portugiesisch. Während Amália auf der weiterführenden Schule den auf den Nachmittag ge‐ legten Portugiesischunterricht an der Nachbarschule bis zum Abitur besucht, konzentriert Rui sich auf seine Hobbys (Basketball und Gitarrespielen). Die Fami‐ lie besucht regelmäßig den in portugiesischer Sprache gehaltenen Gottesdienst in ihrem Wohnort. Amália lernt in der Schule zudem Englisch, Latein, Spanisch und Russisch, später studiert sie Englisch und Spanisch und wird Übersetzerin; sie lebt mehrere Jahre im Ausland, heiratet den spanisch-deutschsprachigen Enrique und wohnt nun in der gleichen Stadt wie ihre Eltern. Rui zieht in eine größere Stadt in der Nähe, studiert Sport und Musik auf Lehramt und heiratet eine Kollegin, Marie, die einsprachig mit Deutsch aufgewachsen ist und zusätzlich Englisch, Spanisch und ein bisschen Portugiesisch kann. Amália und Enrique bekommen einen Sohn, Manuel. Sie beschließen, dass er mit drei Sprachen aufwachsen soll: Portugiesisch, Spanisch und Deutsch. Da die Mutter zu Hause arbeitet, hört Manuel in den ersten 3 Lebensjahren überwiegend die portugiesische Sprache, zumal Großmutter Lúcia oft die Kinderbetreuung übernimmt und Portugiesisch mit Manuel spricht. Enrique ist selten allein mit Manuel, doch macht er Unternehmungen mit ihm und seinem Neffen Álvaro, der in Manuels Alter ist und seit seiner Geburt Kontakt zu Spanisch hat. Ab 3 Jahren besucht Manuel eine deutschsprachige Kindertageseinrichtung. Er spricht zu diesem Zeitpunkt alle drei Sprachen. Rui hat entschieden, mit seiner Tochter Clara Deutsch zu sprechen. Er freut sich, wenn Großmutter Lúcia ihr bei Besuchen Lieder auf Portugiesisch vorsingt, ihm ist es aber wichtiger, dass sie früh Englisch erwirbt. Marie (eine Englisch- und Sportlehrkraft) teilt seine Meinung. Clara besucht eine englischsprachige 1.2 Definitionen 21 <?page no="23"?> Kindertageseinrichtung und soll später in eine bilinguale Grundschule. Sie spricht Deutsch und kann viel auf Englisch verstehen. Im vorliegenden Studienbuch nehmen wir folgende Perspektive ein: Wir beschreiben, wie durch Sprachweitergabe Mehrsprachigkeit bei einem Individuum erlangt und in einer Familie - also zwischen Generationen - beibehalten werden kann. Abb. 1.1: Perspektive auf Spracherhalt im Kind Wir betrachten verschiedene Ebenen, auf denen der Spracherhalt stattfinden kann: die familiäre (insb. Kap. 3), die individuelle (insb. Kap. 8), die sprachliche (insb. Kap. 6), die außersprachliche (insb. Kap. 7), die gesellschaftliche (insb. Kap. 9) sowie die schulische (insb. Kap.-11) Ebene. Relevant für die vorliegende Beschäftigung mit den anderen Sprachen neben der Mehrheitssprache sind u.-a. die folgenden Fragen: • Unter welchen Umständen kann man bilingual/ mehrsprachig werden (Kap. 3 und-7)? • Welcher Grad von Erwerb und Beherrschung wird vorausgesetzt, um von bilin‐ gualen/ mehrsprachigen Personen zu sprechen (Kap.-2, 5 und 6)? • Nehmen Individuen sich selbst als bilingual/ mehrsprachig wahr und werden sie von anderen so wahrgenommen (Kap.-8, 9 und 10)? • Wie können Bildungsinstutionen oder andere Gruppen Weitergabe und Erhalt von Sprachen unterstützen (Kap.-4 und 11)? 22 1 Spracherhalt - ein multiperspektivisches Forschungsfeld <?page no="24"?> 3 Hierbei wird im Folgenden davon ausgegangen, dass alle Gruppen von Sprecher*innen weniger verbreiteter Sprachen als Sprachminderheiten betrachtet werden, im Gegensatz zur Prämisse von K O C H & R I E H L (2024: 54), dass nicht jede Gemeinschaft, die eine andere Sprache verwendet, gleich eine Sprachminderheit darstellt. Während die Migrationslinguistik „sprachliche Aspekte der Migration interdisziplinär betrachtet“ und sich dabei mit „Fragen, die sich mit Sprachwandelprozessen, Spracher‐ werbsformen, Spracherhalt und Sprachverlust sowie sprachsystematischen Aspekten“ sowie den „sprachlichen Auswirkungen von Migrationsbewegungen in die Bundesre‐ publik Deutschland und somit Immigrationsprozesse[n] sowie Binnenmigration in größeren räumlichen Zusammenhängen“ befasst (K O CH & R I EHL 2024: 15), untersucht die Spracherhaltsforschung ähnliche Aspekte, jedoch nicht unter der Prämisse der Auswirkung von Migration auf Deutsch als „Ausgangspunkt der Untersuchung“ (ebd.). Sie betrachtet vielmehr linguistische und außerlinguistische Faktoren, die Weitergabe und Erhalt begünstigen, wobei sie sprachliche Vielfalt und Sprachminderheiten fokus‐ siert. 3 1.3 Mehrsprachigkeit in Deutschland In Deutschland werden aktuell viele Sprachen gesprochen (vgl. M E DI E NDI E N S T I NT E G R A ‐ TIO N 2024). Deutsch gilt zwar als Amtssprache, dieser Umstand ist jedoch nicht im Grundgesetz verankert (M A R T E N 2012: 145). Gleichwohl sorgen verschiedene Regelun‐ gen (Deutsch ist Amts- und Gerichtssprache, Kennzeichnungen u. a. auf Lebens- oder Arzneimitteln müssen auf Deutsch sein) dafür, dass Deutsch als dominierende Sprache wahrgenommen wird (ebd.: 146-147). 1.3.1 Sprachminderheiten in Deutschland Gemeinhin unterscheidet man zwischen autochthonen und allochthonen Sprachmin‐ derheiten, die neben Deutsch zusätzliche Sprachen gebrauchen. Autochthone Sprachminderheiten sind aus historischen und politischen Grün‐ den entstanden (vgl. M C M ONAG L E 2020, K O CH & R I E HL 2024: Kap.-3). In Deutschland finden sich vier gesetzlich anerkannte Minderheiten, denen aufgrund bestimmter Kriterien z. B. mit Blick auf den Spracherhalt eine besondere Förderung zuteil wird: die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe, die deutschen Sinti*zze und Roma*nja sowie die sorbische Minderheit (vgl. B UND E S MINI S T E R IUM D E S I NN E R N , FÜR B AU UND H E IMAT 2020). 1.3 Mehrsprachigkeit in Deutschland 23 <?page no="25"?> 4 Der Migrationshintergrund definiert sich wie folgt: „Es handelt sich um Personen, die entweder selbst nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren sind oder mindestens einen Elternteil haben, der nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist. […] Dies bedeutet, dass in Deutschland geborene Deutsche einen Migrationshintergrund haben können, wenn mindestens ein Elternteil ausländisch, eingebürgert, deutsch durch Adoption oder (Spät-)Aussiedlerin beziehungsweise (Spät-)Aussiedler ist. Dieser Migrationshintergrund leitet sich dann ausschließlich aus den Eigenschaften der Eltern ab. Diese Personen »vererben« ihren Migrationshintergrund aber nicht an ihre Nachkommen, da sie selbst mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren sind. Im Kapitel [des Datenreports 2021, KFC] wird unterschieden zwischen Personen, die selbst zugewandert sind und somit eigene Migrationserfah‐ rung haben, und den nachfolgenden, zweiten und höheren Generationen, die bereits in Deutschland geboren wurden und über keine eigene Migrationserfahrung verfügen“ (D E S T A T I S 2021: 30). Als allochthone Sprachminderheiten werden diejenigen Gruppen bezeichnet, die nicht den oben erwähnten Kriterien der Bundesregierung entsprechen und in jüngerer Zeit durch Zuwanderung „hinzugekommen“ sind. B E Y E R & P L EWNIA (2020: 9) sprechen von „migrationsinduzierten allochthonen oder „neuen“ Minderheiten“. Diese Sprecher*innen stehen im Fokus des vorliegenden Studienbuchs. Anders als in anderen von Migration geprägten Ländern wie beispielsweise Australien oder Kanada (vgl. u. a. L O B IAN C O 2008, S AB O U R IN & B ÉLAN G E R 2015) erfasst Deutsch‐ land nicht systematisch, wie viele Personen mit welchen Sprachen aufwachsen und welche Sprachen regelmäßig im Gebrauch sind. Was stattdessen erhoben wird, ist der Migrationshintergrund. 4 Der M E DI E NDI E N S T I NT E G R ATION gibt einen Überblick aus verschiedenen Quellen (unter anderem das Statistische Bundesamt) und erläutert, dass in Haushalten von sog. Personen mit Migrationshintergrund derzeit in ungefähr 45-% der Fälle nur oder überwiegend Deutsch gesprochen wird, während in Haushalten von Personen, die selbst oder deren beide Eltern zugewandert sind, in ca. 38 % der Fälle nur oder überwiegend Deutsch verwendet wird (M E DI E NDI E N S T I NT E G R ATIO N 2024). Aus diesen Prozentangaben kann man folgern, dass viele dieser Familien mehrsprachig sind und eine (oder mehrere) andere Sprache(n) gebrauchen. Es lässt sich aber nicht systematisch abbilden, wie viele Personen mit welchen Sprachen aufwachsen und welche Sprachen regelmäßig im Gebrauch sind. Zudem kann ein sog. Migrationshin‐ tergrund mit Mehrsprachigkeit zusammenhängen, muss er aber nicht, wenn z. B. eine Sprache eben nicht in der Familie erhalten wurde (C ANTO N E & D I V E NANZIO 2015: 38, vgl. C HL O S TA & O S T E R MANN 2017). 1.3.2 Fokus auf Migration Aufgrund besonderer Ereignisse wie Kriege und Flucht und ihrer starken medialen Präsenz mag mitunter der Eindruck entstehen, dass Mehrsprachigkeit mal stärker und mal schwächer in Deutschland vorhanden sei. Richtig ist aber, dass durch Migration und Sprachkontakt seit jeher Sprachen lokal aufeinandertreffen und dieser Umstand temporär oder von Dauerhaftigkeit geprägt ist. Der konstante Sprachkontakt zwischen Sprachen im Individuum/ in Familien/ in einer Gruppe führt also einerseits zu einer 24 1 Spracherhalt - ein multiperspektivisches Forschungsfeld <?page no="26"?> wechselseitigen Beeinflussung in den Sprachsystemen (R I EHL 2014: 12, vgl. Kap. 6), andererseits zur umfassenden Frage, inwieweit es gesellschaftlich, individuell und institutionell möglich ist, dass Minderheitensprachen über mehrere Generationen weitergegeben werden. Die Festellung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, bedeutet also nicht im Umkehrschluss, dass Deutschland dauerhaft ein Land mit migrationsbedingt mehrsprachigen Bewohner*innen bleiben wird. Europa und Deutschland waren lange von Abwanderung sowie von Besetzungen durch die eigene Kolonialpolitik bestimmt. Zuwanderung nach Europa begann erst Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt nach dem zweiten Weltkrieg (O LTM E R 2020: 326 sowie B OA S & W I E S E 2023: 88-89). In der jüngeren Geschichte sind für Deutschland insbesondere die Anwerbung von Arbeitskräften (und ihren Familien) in den 1950er und 1960er Jahren, die Zuwanderung sog. Aussiedler*innen verstärkt in den 1990er Jahren sowie die Zuzüge aufgrund von Flucht seit den 1990ern Jahren (vgl. O LTME R & H AN EWINK E L 2021) zu nennen. Spracherhalt und Mehrsprachigkeit mit dem Fokus auf Migration zu betrachten, richtet den Blick auf Menschen, die in einem anderen Land geboren und mitunter aufgewachsen sind, und ihre nachfolgenden Familienmitglieder. Diese Menschen bringen ihre Sprachkenntnisse in das neue Land mit und wollen sie in der Regel auch erhalten. Entsprechend entsteht im individuell-familiären Rahmen eine gelebte Mehrsprachigkeit, auch lebensweltliche (vgl. G O G O LIN 2004), migrationsbedingte (vgl. H U 2003) migrationsgesellschaftliche (vgl. D I R IM & K HAK P O U R 2018) Mehrsprachigkeit oder Migrationsmehrsprachigkeit (vgl. R ÖS CH 2021) genannt. 1.4 Ausgangsperspektiven Wie ersichtlich wurde, können Mehrsprachigkeit und Spracherhalt aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Es bietet sich an, dabei inter- und transdiziplinär offen zu denken, da beide Phänomene erstens miteinander verflochten und zweitens nicht monokausal sind. In diesem Studienbuch werden Forschungen und Konzepte der Spracherhaltsforschung vorgestellt und diskutiert. Der Fokus ist dabei primär linguistisch. Nun teilt sich die Linguistik in Unterdisziplinen auf, die auch hier zutage treten werden: So beschreiben und untersuchen wir im Folgenden Mehrsprachigkeit und Spracherhalt aus angewandt-linguistischer (vgl. K O CH & R I EHL 2024), sozio-lingu‐ istischer (vgl. N E ULAND 2013) und spracherwerbsforschender (vgl. K LANN -D E LIU S 2016) Perspektive. Ebenso wird aus (sprach-)didaktischer Perspektive auf Mehrsprachigkeit und Spracherhalt im Kontext von Bildungsinstitutionen (vgl. N E U LAND & P E S CH E L 2013) geschaut. Der Fokus liegt sowohl auf theoretischen Grundlagen und auf aktuellen Forschungsergebnissen als auch auf linguistisch-sprachdidaktischen Ansätzen zum Erhalt von Minderheitensprachen. 1.4 Ausgangsperspektiven 25 <?page no="27"?> 1.5 Offene Fragen Abschließend kann gesagt werden, dass das Thema Mehrsprachigkeit kein neues ist, da es in allen Epochen menschlichen Lebens sowohl Individuen gab, die sich mehrerer Sprachen bedienen konnten/ mussten, und zugleich durch Wanderbewegungen auch stets kollektive Sprachkontaktsituationen entstanden sind. Gleichzeitig sind in der heutigen Zeit Phänomene zu berücksichtigen, die vor ca. 30 Jahren noch wenig bis keine Relevanz hatten. In Zusammenhang mit der Spracherhaltsforschung kann Mehrsprachigkeit zukünftig u. a. unter folgenden Gesichtspunkten untersucht werden: • der Medieneinsatz, der den weltweiten Kontakt zu Sprecher*innen der gleichen Sprache unkomplizierter und schnell zugänglich macht; • die Mobilität, die kostengünstigere und häufigere Reisen in das Herkunftsland ermöglicht; • eine gestiegene sprachliche Vielfalt durch Migration aus vielen Ländern; • die sich daraus ergebende größere Wahrscheinlichkeit, dass Kinder Eltern haben, die (mehrere) verschiedene Sprachen sprechen und alle weitergeben könnten; • die Bedingungen, die zum Gelingen des Spracherhalts führen; • den Beitrag, den Bildungsinstitutionen dazu leisten können; • Aspekte, die es Familien leichter machen können, Sprachen weiterzugeben. 1.6 Aufgaben 1. Informieren Sie sich auf der Seite des Mediendienst Integration über das Thema Mehrsprachigkeit (https: / / mediendienst-integration.de/ integration/ mehrsprachig keit.html). Welche Erkenntnisse überraschen Sie? 2. Schauen Sie sich das Video „CeLM in Conversation: The Bilingual Brain“ vom Centre for Literacy and Multilingualism unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=T3rc9Lj8b5k an und diskutieren Sie anschließend darüber. 3. Setzen Sie in einer Gruppenarbeit den Begriff Mehrsprachigkeit und seine diszip‐ linbezogenen Bedeutungen in Bezug zueinander. 4. Bilden Sie Gruppen und befragen Sie Studierende aus einem anderen Seminar danach, was diese unter Sprachwechsel verstehen. Sammeln Sie die Ergebnisse schriftlich. Diskutieren Sie anschließend. 5. Suchen Sie in Zweierteams nach drei Online-Zeitungsbeiträgen zu Spracherhalt. Welche Sprachen werden behandelt? Welche linguistischen Themen werden angeschnitten? Fassen Sie die Punkte zusammen, stellen Sie diese im Plenum vor und diskutieren Sie anschließend. 26 1 Spracherhalt - ein multiperspektivisches Forschungsfeld <?page no="28"?> 1.7 Literaturverzeichnis B E Y E R , Rahel, P L E W N IA , Albert (2020): „Einleitung“. In: Beyer, R., Plewnia, A. (Hrsg.): Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland. Tübingen, S.-7 - 16. B U N D E S M I N I S T E R I U M D E S I N N E R N , F Ü R B A U U N D H E I M A T (2020): Nationale Minderheiten, Minder‐ heitensprachen und die Regionalsprache Niederdeutsch in Deutschland. (4. Auflage) (https: / / www.bmi.bund.de/ Shared Docs/ downloads/ DE/ publikationen/ themen/ heimat-integration/ n ationale-minderheiten/ minderheiten-und-regionalsprachen-vierte-auflage.pdf ? __blob=publ icationFile&v=10; Aufruf 21.09.2023). B O A S , Hans C., W I E S E , Heike (2023): „“Ein Land - eine Sprache? ““. In: Freywald, U. et al. (Hrsg.): Deutsche Sprache der Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart. DOI: -10.1007/ 978-3-476-04921-6_3 C A N T O N E , Katja F., D I V E N A N Z I O , Laura (2015): „Spracherwerb und Mehrsprachigkeit - Notwen‐ diges Wissen in Bildungsinstitutionen“. In: Benholz, C. et al. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern: Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart, S.-35 - 49. C H L O S T A , Christoph, O S T E R M A N N , Torsten (2017): „Grunddaten zur Mehrsprachigkeit im deut‐ schen Bildungssystem“. In: Ahrenholz, B., Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. (4. Auflage). Baltmannsweiler, S.-21---40. D E S T A T I S (2021): Auszug aus dem Datenreport 2021 - Kapitel 1: Bevölkerung und Demografie. (ht tps: / / www.destatis.de/ DE/ Service/ Statistik-Campus/ Datenreport/ Downloads/ datenreport-2 021-kap-1.html; Aufruf 21.09.2023). D I R I M , İnci, K H A K P O U R , Natascha (2018): „Migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der Schule“. In: Dirim, İ., Mecheril, P. (Hrsg.): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Stuttgart, S. 201 - 222. D I V E N A N Z I O , Laura, C A N T O N E , Katja F. (2016): „Spracherwerb und Spracherhalt im Ruhrgebiet und Umgebung. Eine Bestandsaufnahme der hiesigen Forschung zur Mehrsprachigkeit“. In: Cantone, K. F., Moraitis, A. (Hrsg.): Vielfältig und doch individuell. Mehrsprachigkeit im Ruhrgebiet. UNIKATE 49. Berichte aus Forschung und Lehre. Essen, S.-24 - 31. F I S H M A N , Joshua A. (1991): Reversing language shift: Theoretical and empirical foundations of assistance to threatened languages. Clevedon, UK. F I S H M A N , Joshua A. (2001): Can threatened languages be saved? Reversing language shift, revisited: A 21st century perspective. Clevedon, UK. G O G O L I N , Ingrid (2004): „Lebensweltliche Mehrsprachigkeit“. In: Bausch, K.-R. (Hrsg.): Mehrspra‐ chigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdspra‐ chenunterrichts. Tübingen, S.-55 - 61. G R O S J E A N , Franҫois (2022): „Who is Bilingual? “ In: Grosjean, F. (Hrsg.): The Mysteries of Bilingu‐ alism. Unresolved Issues. Chichester, UK. (https: / / www.wiley.com/ en-us/ The+Mysteries+of+ Bilingualism%3A+Unresolved+Issues-p-9781119602378; Aufruf 10.06.2024). H U , Adelheid (2003): Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachig‐ keit. Tübingen. K L A N N -D E L I U S , Gisela (2016): Spracherwerb. Eine Einführung (3. Auflage). Stuttgart. K O C H , Nikolas, R I E H L , Claudia Maria (2024): Migrationslinguistik. Eine Einführung. Tübingen. K R U M M , Hans-Jürgen (2004): „Von der additiven zur curricularen Mehrsprachigkeit“. In: Bausch, K.-R. et al. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit im Fokus. Tübingen, S.-105 - 112. 1.7 Literaturverzeichnis 27 <?page no="29"?> L O B IA N C O , Joseph (2008): „Language Policy and Education in Australia“. In: Hornberger, N. H. (Hrsg.): Encyclopedia of Language and Education. Boston, MA., S.-343 - 353. DOI: 10.1007/ 978-0-387-30424-3_25 M A R T E N , Heiko (2012): Sprach(en)politik. Eine Einführung. Tübingen. M C M O N A G L E , Sarah (2020): „Autochthone Minderheiten und ihre Sprachen“. In: Gogolin, I. et al. (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Wiesbaden, S.-31 - 38. M E D I E N D I E N S T I N T E G R A T I O N (2024): Wie viele Menschen in Deutschland sind mehrsprachig? (https : / / mediendienst-integration.de/ integration/ mehrsprachigkeit.html; Aufruf 07.06.2024). M ÜL L E R , Natascha, K U P I S C H , Tanja, S C H M I T Z , Katrin, C A N T O N E , Katja F., A R N A U S G I L , Laia (2023): Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung. (4. Auflage). Tübingen. N E U L A N D , Eva (2023): Soziolinguistik der deutschen Sprache. Eine Einführung. Tübingen. N E U L A N D , Eva, P E S C H E L , Corinna (2013): Einführung in die Sprachdidaktik. Stuttgart. O L F E R T , Helena (2019): Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen. Eine Analyse begünsti‐ gender und hemmender Faktoren für Spracherhalt im Kontext von Migration. Tübingen. O L T M E R , Jochen (2020): „Globalisierung, Internationalisierung, Migration“. In: Gogolin, I. et al. (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Wiesbaden, S.-323 - 327. O L T M E R , Jochen, H A N E WI N K E L , Vera (2021): Geschichte der Migration nach und aus Deutschland. (https: / / www.bpb.de/ themen/ migration-integration/ laenderprofile/ deutschland/ 341068/ ges chichte-der-migration-nach-und-aus-deutschland/ ; Aufruf 25.09.2023). P A U W E L S , Anne (2016): Language maintenance and shift. Cambridge, UK. R I E H L , Claudia Maria (2014): Sprachkontaktforschung. Eine Einführung (3. Auflage). Tübingen. R Ö S C H , Heidi (2021): „Migrationsmehrsprachigkeit in der Lehrkräftebildung: Bildungsstandards und das DaZKom-Strukturmodell“. In: Rösch, H., Bachor-Pfeff, N. (Hrsg.): Mehrsprachliche Bildung im Lehramtsstudium. Baltmannsweiler, S.-13 - 42. S A B O U R I N , Patrick, B É L A N G E R , Alain (2015): La dynamique des substitutions linguistiques au Canada. Population 70(4), 771 - 803. DOI: 10.3917/ popu. 1504.0771 S C H A L L E Y , Andrea C., E I S E N C H L A S , Susana A. (Hrsg.) (2020): Handbook of HomeLanguage Mainte‐ nance and Development: Social and Affective Factors. Berlin. DOI: 10.1515/ 9781501510175 28 1 Spracherhalt - ein multiperspektivisches Forschungsfeld <?page no="30"?> 2 Kindlicher Spracherhalt Katja F. Cantone 2.1 Einleitung Dieses Kapitel befasst sich mit dem kindlichen mehrsprachigen Erwerb im Rahmen von Spracherhalt. Wie in Kap. 1 gezeigt, wird angenommen, dass im Kindesalter der (Wille der Elterngeneration zum) Spracherhalt dem Spracherwerb vorausgeht. Das wird insbesondere innerhalb von Familien deutlich, in denen vielleicht nur eine Person (in der Regel ein Elternteil) eine Minderheitensprache weitergibt. Durch die Sprachweitergabe durch diese Person erreicht das Kind eine individuelle Mehrsprachigkeit, die nicht selbst‐ verständlich ist (vgl. Kap. 3). Die Bedingungen, unter denen der Erhalt stattfindet, sind außerdem andere, als wenn eine ganze Gruppe in einem Gebiet zweisprachig aufwächst. Die individuelle Form von Sprachweitergabe steht hier im Fokus. Grundannahme ist dabei, dass jeder kindliche Spracherwerb ein erfolgreicher ist (C HOM S K Y 1965). Dieses Kapitel legt den Fokus auf Kinder (Alter null bis sechs Jahre) und will etwas provokant die Position einnehmen, dass ab Beginn des Kontakts mit einer Minderhei‐ tensprache - also während des Erwerbs dieser - parallel von Spracherhalt gesprochen werden sollte (vgl. Kap. 1). Man könnte genau andersherum entgegnen, dass es zuerst einen kindlichen Spracherwerb geben muss, bevor man von einem Spracherhalt beim Kind sprechen würde. Ist die Annahme, dass Erhalt erst ab abgeschlossenem Erwerb gilt? Internationale und nationale Forschung sind sich nicht einig, welche Bezeichnungen die erworbenen Sprachsysteme erhalten sollten (2.2.1), die in der heritage language-For‐ schung betrachtet werden. Genannter Forschungszweig untersucht seit ca. 40 Jahren den Erhalt von Sprachen im Kontext von Migration. Ebenfalls besteht Uneinigkeit darüber, ab wann von Spracherhalt gesprochen werden kann (2.2.2), also ab welchem Grad der Sprachkenntnisse oder der -produktion. Darüber hinaus fokussieren Studien zum frühen mehrsprachigen Erwerb unterschiedliche Aspekte, je nachdem, aus wel‐ cher Perspektive/ Disziplin auf das Phänomen geschaut wird. Bislang lag der Fokus der Spracherwerbsforschung darauf, zu belegen, dass Kinder in der Lage sind, zwei- und mehrsprachig aufzuwachsen. Dabei legt die Komplexität des Vorgangs nahe, dass multiperspektivisch und -methodisch vorgegangen werden müsste und nicht nur betrachtet werden sollte, „ob“ Kinder in der Lage sind, zweisprachig aufzuwachsen, sondern auch „wie“ sie in die Lage kommen, eine Minderheitensprache zu erwerben. Zunächst geht es darum, wie die Sprachen Mehrsprachiger in der Forschung genannt werden (2.2.1), sodann wird betrachtet, ab wann eine Person als mehrsprachig bezeichnet wird, d. h., ab wann der Spracherhalt als erfolgreich eingestuft wird (2.2.2). Anschließend werden Studien präsentiert, die sprachbiografische und sprach‐ erwerbsrelevante Aspekte im Rahmen von Spracherhalt untersuchen (2.3). <?page no="31"?> 1 Das vorliegende Studienbuch fokussiert auf Lautsprachen. Selbstredend werden auch Gebärdenspra‐ chen als L1 erworben. 2 Der Erwerb nach dem Alter von 3 Jahren wird auch früher Zweitspracherwerb genannt (R O T H W E I L E R 2008: 122), engl. eL2 early second language oder cL2 child second language. Bei dieser Unterscheidung wird davon ausgegangen, dass Spracherwerbsmechanismen nicht ein Leben lang zur Verfügung stehen und dass der Erwerb einer weiteren Sprache in der Altersphase 3-6 Jahre a) anders aussehen könnte und b) zu einem anderen Ergebnis führen könnte als ein Erstspracherwerb (ebd.). 2.2 Definitionen 2.2.1 Minderheitensprache? Herkunftssprache? Familiensprache? In der Forschung zum Erwerb von Mehrsprachigkeit wird davon ausgegangen, dass die Erstsprache (L1 für language one/ first language) diejenige ist, die ein Kind von Geburt an hört. 1 In der Konsequenz wird eine Sprache, die danach erworben wird, Zweitspra‐ che (L2 für language two/ second language) genannt. 2 Werden zwei Sprachen simultan (gleichzeitig) von Anfang an erworben, nennt man beide L1 (in der Summe also 2L1). Den natürlichen Erwerb zweier (oder mehrerer) Sprachen vor dem dritten Lebensjahr bezeichnet man als doppelten Erstspracherwerb oder bilingualen Spracherwerb (2L1, M ÜLL E R E T AL . 2023: 13-14, R O THWE IL E R 2008: 115, T R AC Y 2015: 300,). Dabei spielt es zunächst keine Rolle, wer mit dem Kleinkind diese Sprachen verwendet. Ein weiteres wesentliches Merkmal ist, dass man im Kindesalter von einem ungesteuerten Erwerb ausgeht (M ÜLL E R E T AL . 2023: 13), was bedeutet, dass die L1 nicht durch Instruktion vermittelt wird, sondern in einer natürlichen Interaktion. Entsprechend ist es von großer Bedeutung, wie viel das Kind mit der Sprache in Kontakt kommt, d. h. zum einen, wie viel Input von Erwachsenenseite bereitgestellt wird, zum anderen ist es ebenfalls wichtig zu überprüfen, ob das Kind die Sprache ebenfalls verwendet (vgl. 2.2). Interessant ist die Frage, warum der Begriff Erstsprache, der im Gegensatz zu Muttersprache neutral ist, nicht durchgängig in Forschung und Gesellschaft verwendet wird. Neutral ist er deswegen, weil er nicht betont, wer eine Sprache für das Kind bereitstellt, sondern nur ab wann. Hinzu kommt, dass im Falle von zweisprachig aufwachsenden Kindern nicht von zwei Muttersprachen die Rede sein kann (zumindest nicht, wenn ein Vater dabei ist). Die Bezeichnung Erstsprachen, die beide als erste vom Kind erworben werden, ist demnach objektiv. Die Auffassung, dass der Erstspracherwerb immer erfolgreich ist, geht auf den Lingu‐ isten C HOM S K Y zurück, der von folgender Annahme ausgeht: Der ideale native speaker „knows his language perfectly“ (C HOM S K Y 1965: 3). Diese Ansicht ist nicht unumstritten, weil sie im Grunde ausschließt, dass ein Erwerb, der nicht von Geburt an verläuft, erfolgreich sein kann. In jüngster Zeit versucht man, dem Idealbild des native speaker in mehrfacher Hinsicht pragmatisch zu begegnen: 1) Studien bezweifeln, dass im 30 2 Kindlicher Spracherhalt <?page no="32"?> Zweitspracherwerb keine Erfolge erzielt werden, die Sprecher*innen als native speakers ausweisen (vgl. u. a. S IN G L E TON & L E ŚNI EW S KA 2021); 2) Variationen werden nicht nur zwischen Erst- und Zweitspracherwerb beobachtet, sondern auch innerhalb der Gruppen von Einsprachigen (vgl. W I E S E E T AL . 2022 sowie die vertiefte Diskussion in Kap.-5); und 3) neurolinguistische Studien konnten nachweisen, dass keine strukturel‐ len Unterschiede in der Hirnstruktur zwischen Ein- und Mehrsprachigen vorliegen (vgl. V U L CHANOVA E T AL . 2022). So schlug der angewandte Linguist C O OK schon vor längerem vor (zuletzt 2022), von multikompetenten Sprecher*innen zu sprechen, die all ihre erworbenenen und erlernten Einzelsysteme in einem größeren, holistischen System (oder Repertoire) gespeichert haben. Widmen wir uns nun der Bezeichnung der Sprachsysteme, die erworben werden. Als erstes zu nennen ist der Begriff Herkunftssprache (HS). Dieser bedeutet nicht das gleiche wie das englische heritage language. Die Übersetzung „Erbsprache“ hat sich in Deutschland nicht durchgesetzt (G AGA R INA 2011: 21), während HS verwendet wird. B OA S & W I E S E (2023: 89) nutzen den Begriff Heritage-Sprache. Annahme ist, dass die gemeinte Sprache in der Familie eine wichtige Rolle spielt und von dieser weitergegeben wird. Auch die Bezeichnung Familiensprache suggeriert, dass es sich um die in der Familie weitergegebene Sprache handelt. Die Mehrheitssprache im Land, aus dem eine Familie kommt, muss nicht zwingend die Familiensprache sein (L ÜTT E NB E R G 2010: 306, 309). Eine weitere Möglichkeit, die gemeinte Sprache zu benennen, ist Minderheitensprache. Damit wird verdeutlicht, dass die zu erwerbende Sprache nicht von der Mehrheit einer Gruppe/ einer Gegend/ eines Landes gesprochen wird. Die an sich neutrale Benennung wird vermutlich deswegen im Kontext von allochthonen Sprachen kaum verwendet, weil sie seit vielen Jahren für autochthone Sprachen benutzt wird (vgl. 1.3). E XT R A & Y AĞMU R (2008: 139) erweitern den Begriff entsprechend um immigrant minority language, was im Deutschen am besten in migrationsbedingte Minderheitensprache seine Entsprechung findet. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass verschiedene Bezeichnungen verwendet werden, um die Sprache von individuell zweisprachig aufwachsenden oder aufgewachse‐ nen Personen zu benennen, die nicht die Umgebungs- oder Mehrheitssprache ist. Wichtig in diesem Kontext ist, dass mit der Benennung auch Annahmen bzgl. des Erwerbsver‐ laufes und des Endzustandes nach dem Erwerb einhergehen, die nicht immer durch Daten belegbar sind. Im vorliegenden Studienbuch wird HS für Herkunftssprache oder Heritage-Sprache und Minderheitensprache abwechselnd verwendet. 2.2.2 Herkunftssprachensprecher*innen? Bilinguale? Zweitsprachler*innen? Seit einigen Jahren untersuchen Forschungsstudien, welcher Sprachstand bei der Sprachweitergabe einer Minderheitensprache als realistisch aufgefasst werden kann (vgl. Kap. 5). Die zugrundeliegende Annahme ist, dass die extralinguistischen Aus‐ gangsbedingungen (vgl. Kap. 7) für den Spracherwerb nicht immer optimal seien 2.2 Definitionen 31 <?page no="33"?> (P O LIN S K Y & K AGAN 2007: 369, S CHMID 2011: 73) und eher dazu führten, dass der Erwerb nicht abgeschlossen werden könnte, weshalb auch von incomplete acquisition (M ONT R U L 2008, vgl. ausführlich dazu Kap.-5) gesprochen wird. Schaut man sich Beschreibungen von Herkunftssprachensprecher*innen (HSS) an, treten wichtige Unterschiede zutage. Bereits im Jahre 2000 betont V ALDÉ S , dass der Sprachgebrauch in der HS nicht zwingend wie in einer monolingual erworbenen L1 sein muss, d.-h., Sprachkenntnisse könnten nur passiv sein. Die Person […] is raised in a home where a non-English language is spoken, who speaks or merely understands the heritage language and who is to some degree bilingual in English and the heritage language (V A L D É S 2000: 375) Die Annahme ist demnach, dass jemand, der die HS versteht, aber nicht aktiv benutzt, ebenfalls als bilingual zu bezeichnen sei. Der Fokus liegt in dieser Definition auf Personen der zweiten Generation, deren beider Elternteile L1-Sprecher*innen der HS sind (vgl. 2.3). Auch P O LIN S K Y & K AGAN (2007: 369) sprechen von einer engen und einer weiten Definition von HSS. In der weiten Variante liegen lediglich rezeptive Kenntnisse vor (ebd.). Wichtig zu beachten ist, dass der Fokus bei diesen beiden Beschreibungen nicht darauf liegt, was fehlt, sondern darauf, dass Ausgangsbedingungen unterschied‐ liche Ergebnisse erzeugen können und man nicht von einem Ideal ausgehen sollte. Bezüglich der Bedingungen hilft die Auflistung von R O THMAN (2009: 156), die besagt, dass eine Heritage-Sprache (1) zu Hause gesprochen wird, (2) nicht die Sprache der Mehrheit ist und (3) ungesteuert erworben wird. Dabei handele es sich um eine Form von frühem Bilingualismus (ebd.). B E NMAMO UN E T AL . (2013: 132) gehen davon aus, dass mit HSS Kinder der zweiten Generation gemeint sind, die von früh auf in einer zweisprachigen Umgebung entweder simultan oder sukzessiv - d. h. zeitlich versetzt - aufgewachsen sind (vgl. auch M O NT R UL 2016: 6-7). Generation bedeutet innerhalb einer Familie die nächste Folge/ Gruppe von Personen (Großeltern - Eltern - Kinder, R UMBAUT 2004: 1161). Laut M E HLHO R N (2022: 1) sind HSS Personen, die „[…] entweder schon im Aufnahmeland geboren oder […] mit den Eltern aus dem Herkunftsland noch vor dem Schuleintritt eingewandert“ sind. Bereits 2013 fasst M E I S E L (2013: 231) zusammen, dass Daten bislang nicht belegen konnten, dass HSS eine unterscheidbare Form des mehrsprachigen Erwerbs durchliefen, vielmehr stellt er Folgendes fest: „[…] the term refers to a heterogeneous set of 2L1, cL2 and L2 learners”. C ANTON E (2022: 405-406) schließt sich dem an und formuliert, dass HSS als bilinguale Personen bezeichnet werden können, wenn der Erwerb simultan verlief. Im Falle eines Erwerbs der HS als L1 und der Mehrheitssprache versetzt als L2 sind die Sprecher*innen hingegen nicht bilingual aufgewachsen (M E LHO R N 2020: 23). Zudem sind nicht alle bilingualen Personen HSS, weil - R OTHMAN (2009: 156-157) folgend - nicht alle der zweiten Generation von Eingewanderten angehören, nicht alle allochthone Sprachen erwerben, und nicht alle in einem Kontext leben, in dem die Mehrheitssprache durchgängig die stärkere ist. Entsprechend ist zusammenzufassen, dass der kindliche Erwerb von HSS entweder 2L1- oder (e)L2-Sprechen sein kann, aber keine neue Form im Spracherwerb 32 2 Kindlicher Spracherhalt <?page no="34"?> darstellt. Hinzu kommt der Aspekt, dass die Bezeichung bilingual unabhängig davon ist, ob Personen aktiv eine HS sprechen oder nicht. Im Falle einer irgendwie gearteten Sprachweitergabe - also eines Sprachkontakts zu mehr als einer Sprache - würde man immer von mehrsprachigen Personen ausgehen (vgl. Kap.-3). 2.3 Wie beginnt Spracherhalt? Herkunftssprachensprecher*innen werden mit Blick auf bestimmte sprachbiografische und spracherwerbsrelevante Aspekte hin untersucht (C ANT O N E & O L F E R T 2015: 26, O L F E R T 2019, vgl. die ausführliche Betrachtung in Kap.-7). Doch ab wann sollten diese Faktoren eingesetzt werden und wie konsequent und kontinuierlich kommen sie im Kleinkindalter zum Tragen (vgl. Kap. 3)? Im Folgenden werden diese Faktoren (vgl. Abb. 2.1) mit Fokus auf das Alter von ca. 0-6 Jahren anhand von exemplarischen Stu‐ dienergebnissen diskutiert. Diese betreffen die Domänen Umfeld, Personen, Zeitpunkt und Menge mit Blick auf die HS. Dabei wird zwischen klar beeinflussbaren und weniger beeinflussbaren Faktoren unterschieden. Abb. 2.1: Faktoren im Spracherhalt beim Kind 2.3 Wie beginnt Spracherhalt? 33 <?page no="35"?> 3 Es verhält sich anders, wenn man bewusst plant, dem Kind eine Sprache, die nicht die eigene L1 ist, selbst zu vermitteln oder eine Person (z. B. ein Au-Pair) dafür einsetzt (M Ü L L E R E T A L . 2023: 57-58). Diese Fälle stehen jedoch nicht im Fokus dieses Studienbuchs. 2.3.1 Weniger beeinflussbare Faktoren Zunächst muss das sprachliche Umfeld betrachtet werden, in das ein Kind hinein‐ geboren wird. Relevant für den Spracherhalt ist, (1) ob und wie viel die HS in der Umgebung vorkommt, (2) welche Sprachen beide Eltern sprechen, und (3) ob die HS in der institutionellen Betreuung gesprochen wird. Beeinflusst werden können diese Kriterien bedingt, nämlich nur dann, wenn Angebote dazu vorliegen, z. B. zu (1) wie viele HSS der gleichen Sprachgruppe in der lokalen Umgebung leben, zu (2) welche Sprachkenntnisse grundsätzlich bei den Eltern vorliegen und zu (3), ob zweisprachige Kindertagesstätten vorhanden sind (vgl. ausführlich Kap.-4). In einer großangelegten Studie mit über 200 teilnehmenden Kindern (Durchschnitts‐ alter zwischen 5 und 7 Jahren) mit Russisch als HS in den Ländern Deutschland, Großbritannien, Israel, Lettland und Norwegen (R ODINA E T AL . 2020: 8) konnte gezeigt werden, dass einer der Hauptprädiktoren für den Erfolg in der Genuszuweisung (das untersuchte Phänomen) die Betrachtung der Sprachkenntnisse der Familie war (ob beide Elternteile Sprecher*innen einer HS waren oder nur ein Elternteil). Darüber hinaus wurde auf den Sprachgebrauch außerhalb von zu Hause geschaut und auch da zeigte sich, dass die Größe der community, die die HS spricht, und die Beschulung in der HS relevant waren (R ODINA E T AL . 2020: 13). Als nächstes werden die Personen betrachtet, die im näheren Umfeld des Kindes sind, in der Regel die Eltern. Welche Sprache(n) nutzen sie mit dem Kind? Wenn sie selbst Sprecher*innen einer HS sind, geben sie diese weiter, oder findet eine Sprachumstellung zugunsten der Mehrheitssprache und damit keine Weitergabe der Minderheitensprache statt (vgl. 1.2.2)? In diesem Abschnitt werden die Sprachen betrachtet, die Eltern weitergeben. Die von ihnen gewählten Strategien, die eventuell den Spracherhalt beeinflussen können, werden in Kap. 3 näher beleuchtet. Mit Hinblick auf den für den Spracherwerb notwendigen Input (vgl. 2.3.2) handelt es sich um einen extrem relevanten Faktor, der aber stark von äußeren Einflüssen abhängig ist. Man sucht sich nicht immer aus, ob man das Heimatland verlassen muss, und hat auch nicht immer Einfluss darauf, welche Sprache der/ die Partner*in spricht. Sprach‐ konstellationen ergeben sich meistens auf natürliche Weise und ohne Planung. 3 In welchem Kontext die das Kind umgebenden Personen selbst die HS erworben haben, wird ebenfalls in vielen Studien als hoch relevantes Kriterium gesehen. Zunächst wird dabei auf die Generationszugehörigkeit geschaut, um festzustellen, ab wann in einer Familie eine Sprachumstellung zugunsten der Mehrheitssprache als die meist gewählte Sprache im Gebrauch zu vermerken ist. G A R C Í A & D Í AZ (1992) nehmen an, dass Mitglieder der ersten Generation L1-Spre‐ cher*innen der Minderheitensprache und L2-Sprecher*innen der Mehrheitssprache sind, weil sie als Erwachsene eingewandert sind und die Sprache der Mehrheit spät 34 2 Kindlicher Spracherhalt <?page no="36"?> gelernt haben. Die zweite Generation (die Kinder dieser Personen) ist hingegen simul‐ tan bilingual mit Minderheiten- und Mehrheitssprache aufgewachsen. Diese Gruppe wird sich eher gegen die Weitergabe der HS entscheiden, womit die dritte Generation (die Kinder der zweiten Generation) nur noch einsprachig in der Mehrheitssprache aufwächst. Laut K O CH & R I EHL (2024: 107-108) kann diese sog. „Drei-Generationen-Re‐ gel“ durch (Familien-)Netzwerke aufgehoben werden. In einer Studie aus den 1990er Jahren konnten C L Y N E & K I P P (1996) mit Daten des Zensus in Australien belegen, dass Erhebungen Veränderungen im Sprachgebrauch verschiedener Generationen im Vergleich zu früher erhobenen Daten aufzeigen. Zum Beispiel stellten sie für die italienischsprachige community fest, dass in dieser in der ersten Generation der Zugewanderten wenig language shift stattfand. Damit ist gemeint, dass kaum Umstellung zugunsten des Englischen (die Sprache der Umgebung) als zu Hause gesprochene Sprache vorgenommen wurde, nämlich nur in ca. 11 % der Familien (C L Y N E & K I P P 1996). Bei den anderen blieb Italienisch die Sprache der Familie. In der zweiten Generation stieg die Sprachumstellung hingegen an. Hier konnte zudem ein Unterschied zwischen gemischtsprachlichen Elternpaaren (solchen mit nur einem italienischsprachigen Elternteil) im Vergleich zu Elternpaaren, in denen beide Eltern Italienisch sprachen, festgestellt werden. Bei den Familien mit nur einer Person, die Italienisch sprach, gaben bereits 77 % an, zu Hause Englisch zu sprechen, bei den Familien, in denen beide Eltern italienischsprachig waren, waren es nur 32 % (C L Y N E & K I P P 1996). In einem Beitrag von 2004 versucht R UMBAUT das Konzept der ersten und zweiten Generation präziser zu beleuchten, um wichtigen Unterschieden innerhalb der Grup‐ pen gerecht zu werden. Denn es sei bedeutsam, ob man als Kind oder Erwachsener in ein anderes Land gezogen ist (vgl. R UMBAUT 2004). Interessanterweise merkt R UMBAUT (2004: 1165) an, dass der Begriff second-generation immigrant keinen Sinn ergäbe, weil in den USA geborene Personen per definitionem keine Migrant*innen seien. Staatsangehörigkeit in Deutschland Das Staatsangehörigkeitsgesetzt (StAG) sieht erst seit dem Jahr 2000 vor, dass der Geburtsort die Staatsangehörigkeit entscheidet (ius soli, vgl. B UND E S MINI S T E R IUM D E S I NN E R N UND FÜR H E IMAT 2024a). So ist in § 4 der neuesten Fassung Folgendes vorgesehen: (1) Durch die Geburt erwirbt ein Kind die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. […] (3) Durch die Geburt im Inland erwirbt ein Kind ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil: 1. seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und 2. ein unbefristetes Aufenthaltsrecht oder als Staatsangehöriger der Schweiz oder dessen Familienangehöriger eine Aufenthaltserlaubnis […] besitzt. (B U N D E S M I N I S T E R I U M D E R J U S T I Z 2024) 2.3 Wie beginnt Spracherhalt? 35 <?page no="37"?> Ab dem 27.06.2024 ist eine wichtige Neuerung eingetreten: In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern sollen künftig vorbehaltlos die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten und die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern behalten können. Dies gilt, wenn mindestens ein Elternteil seit mehr als fünf (statt bisher acht) Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt. Ein früher Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit kann sehr wichtig sein: Studien zeigen, dass der Bildungserfolg von in Deutschland geborenen Kindern mit ausländischen Wurzeln deutlich höher ist, wenn sie schon früh die deutsche Staatsan‐ gehörigkeit bekommen. (B U N D E S M I N I S T E R I U M D E S I N N E R N U N D F Ü R H E I M A T , 2024b) R UMBAUT (2004: 1167) unterteilt Sprecher*innen in folgende Kleingruppen: Generation Beschreibung 1 Im Ausland geboren und als Erwachsene zugezogen 1.25 Im Alter zwischen 13 und 17 Jahren zugezogen 1.5 Im Alter zwischen 5 und 12 Jahren zugezogen 1.75 Im Alter zwischen 0 und 5 Jahren zugezogen 2 Selbst im Zielland geboren, Eltern im Ausland geboren 2.5 Selbst im Zielland geboren, ein Elternteil ebenso Tab. 2.1: Differenzierte Generationenbetrachtung nach R U M B A U T (2004: 1167) Bei dieser Unterteilung werden Aspekte wie der Spracherwerb, nämlich ob dieser (simultan oder sukzessiv) bilingual stattfindet (0-5 Jahre) oder ein Zweitspracherwerb ist (ab 6 Jahren), ebenso berücksichtigt wie die Beschulung (zieht man erst mit 11 Jahren in ein anderes Land, so hat man in der Regel Schulerfahrung im Heimatland) und das Heranwachsen (hier wird unterschieden, ob man beim Umzug noch Jugendlicher oder schon Erwachsener war). Beispiel für die Generationenzuweisung nach Rumbaut (2004) Piotr wandert mit 17 Jahren (Gen. 1.25) mit seiner Familie von Polen nach Deutschland ein, wo er seine spätere Ehefrau Ionela kennenlernt, die mit 10 Jahren (Gen. 1.5) mit der Familie aus Rumänien nach Deutschland gezogen ist. Ebenfalls ziehen Mohamed (Gen. 1.0) und seine Ehefrau Djamila (Gen. 1.0) mit ihrem 4-jährigen Sohn Kobe (Gen. 1.75) von Somalia nach Deutschland. Als Erwachsener lernt Kobe Anna kennen, die Tochter von Piotr und Ionela, die selbst in Deutschland geboren wurde (Gen. 2.0). Das gemeinsame Kind von Anna und Kobe, Eva, wird der Generation 2.5 angehören. 36 2 Kindlicher Spracherhalt <?page no="38"?> 4 Eine kritische Betrachtung der Dimensionen kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, vgl. jedoch Aufgabe 4. 5 Nach einer kürzlichen Auswertung des Mikrozensus in Nordrhein-Westfalen verwenden in der Gruppe der Personen ohne eigene Migrationserfahrung (Generation 2.0 nach R U M B A U T 2004) nach Selbstauskunft nur 5,5-% überhaupt kein Deutsch zu Hause (L A N D E S B E T R I E B IT NRW 2024). In ihrer Studie zum Spracherhalt bei Schüler*innen in verschiedenen europäischen Städten schlagen E XT R A & Y AĞMU R (u. a. 2008) den language vitality index vor, einen Wert, der Vitalität und Status von Minderheitensprachen messen will. Dieser setzt sich aus vier Dimensionen zusammen: language proficiency (wie gut eine Sprache verstanden wird), language choice (wieviel die Sprache zu Hause mit der Mutter gesprochen wird), language dominance (wie gut die Sprache gesprochen wird) und language preference (wie sehr die Sprache bevorzugt wird) (E XT R A & Y AĞMU R 2008: 143). 4 Die Forscher*innen operationalisieren Generationen wie folgt (2008: 9-10): Zur ersten Generation gehören Schüler*innen, deren Eltern und sie selbst in einem anderen Land geboren wurden; Schüler*innen der zweiten Generation waren im Zielland (Land, wo die Studie durchgeführt wurde) geboren, ihre Eltern (oder zumindest ein Elternteil) aber nicht; bei der dritten Generation sind Eltern und Kinder im Zielland geboren. Zu den wichtigsten Ergebnissen zählt, dass es signifikante Unterschiede zwischen untersuchten Sprachen gibt. Die prozentual größte intergenerationale Umstellung (vgl. Kap. 1) zwischen erster und dritter Generation findet von den Sprachen Polnisch (42 %), Albanisch (38 %), Spanisch (33 %) und Portugiesisch (30 %) zu den Mehrheitssprache der jeweiligen Staaten statt. Der prozentual größte intergenerationale Erhalt vollzieht sich in den Sprachen Romanes und Türkisch. Auch die auf Deutschland bezogene Studie von S T R O B E L & K R I S T E N (2015), die Bedin‐ gungen des Spracherhalts u. a. mithilfe des Sprachgebrauchs in Familien untersucht, weist Unterschiede zwischen Gruppen mit verschiedenen HS nach. In der Analyse von Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) waren die Teilnehmenden zwischen 24 und 66 Jahre alt und wurden in fünf Gruppen eingeteilt: Aussiedler*innen aus Polen, andere Zugewanderte aus Polen, Aussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion (SU), andere Zugewanderte aus der ehemaligen SU und schließlich Personen aus der Türkei (S T R O B E L & K R I S T E N 2015: 131). Der höchste Prozentanteil derjeniger, die zu Hause nur oder meist die HS sprechen, findet sich auch hier bei den Türkeistämmigen (72,1 %). Im Gegensatz dazu sprechen aus Polen stammende Aussiedler*innen zu 92 % überwiegend oder nur Deutsch zu Hause, bei anderen Zugewanderten aus Polen beträgt dieser Anteil nur 67,9 %. Aussiedler*innen aus der ehemaligen SU (40,5 % sprechen meist oder nur Deutsch zu Hause) unterscheiden sich von anderen Zugewanderten (56,2-%) aus derselben Region (S T R O B E L & K R I S T E N 2015: 134). 5 Alle bisher genannten Forscher*innen betrachten die Vitalität von Sprachen, indem sie (viele) einzelne Sprecher*innen hierzu befragen, um ein Abbild der sprachlichen Situation zu erlangen. Auch auf theoretischer Ebene lässt sich vorhersagen, welche Aspekte dazu führen könnten, dass Sprachen (nicht ihre einzelnen Sprecher*innen) in ihrem Weiterbestehen bedroht werden oder gar aussterben. Ein solches Modell hat 2.3 Wie beginnt Spracherhalt? 37 <?page no="39"?> F I S HMAN (u. a. 1991) entworfen, die Graded Intergenerational Disruption Scale. Der Autor nutzt einzelne Stufen, um nachzuzeichnen, was in manchen sprachlichen Gruppen im Sinne der intergenerationalen Sprachweitergabe besser gelungen ist als in anderen. 2.3.2 Beeinflussbare Faktoren Als nächstes werden Faktoren betrachtet, die unmittelbar Einfluss auf den erfolgrei‐ chen Erwerb im Kontext von Spracherhalt nehmen. Diese sind der Zeitpunkt, an dem der Kontakt zu einer HS beginnt, und der Input (Menge, Kohärenz und Kontinuität), der in dieser Sprache gegeben wird (vgl. Abb. 2.1, ausführlicher in Kap.-3) Wie bereits ausgeführt, hat der Zeitpunkt, ab wann ein Kleinkind mit einer weiteren Sprache in Kontakt kommt, Konsequenzen für den Erwerb. Allgemein kann man sagen, dass je später der Erwerb der weiteren Sprache ansetzt, desto mehr ähnelt er einem Zweitspracherwerb. Zunächst bedeutet das, dass das Kind mehr Vergleiche zu einer (fast vollständig) erworbenen L1 ziehen kann. Darüber hinaus geht man davon aus, dass der Zweitspracherwerb mühsamer als der Erwerb der L1 ist und seltener zum hundertprozentigen Erwerb derselben führt. Will man, dass ein Kind eine HS erwirbt, sollte entsprechend nicht bis zum Grundschulalter mit dem Kontakt gewartet werden. Umgekehrt sollte man nicht bis zum Schulbeginn warten, um den Kontakt zur Mehrheitsprache Deutsch zuzulassen, wenn dieser schon früh möglich ist. In der Bi- und Trilingualismusforschung wird untersucht, wieviel und wie gearteter Input (also das Sprachbad, das man als Kind in einer Sprache erhält) notwendig ist, um einen Erwerb zu ermöglichen, der einem einsprachigen Erwerb gleicht (u. a. G RÜT E R E T AL . 2014: 19-25, G RÜT E R & P A R ADI S 2014: 1, A R NAU S G IL E T AL . 2021). A R NAU S G IL E T AL . (2021) sowie C ANTO N E (2022) beschreiben Studien, die der Frage nachgegangen sind, wie viel Input notwendig sei, um aktiv bilingual zu werden. Mit Blick auf die möglichen Entscheidungen, die Eltern in der Sprachwahl treffen können, zeigt sich, dass naturgemäß der häufigere Zugang (exposure) zu einer HS ihren Erhalt begünstigt. A R NAU S G IL E T AL . (2021: 2-5) schlagen in ihrer Untersuchung von 126 mehrspra‐ chigen (bi- und trilingualen) Kindern vor, die Faktoren nach quantitativen (sie garantieren eine gewisse Menge an Input) und qualitativen (sie garantieren eine gewisse Varietät im Input) zu unterscheiden. Quantitative Faktoren: parental strategies of language use (welche Sprache wird genutzt) language constellations (wer hat welche L1) use of media (Mediennutzung in der Nicht-Umgebungssprache) Qualitative Faktoren: diversity of contacts (Diversität an Kontaktpersonen zur Minderheitensprache) parental discourse style (z.-B. Reaktion auf Sprachmischungen, Übersetzungen) 38 2 Kindlicher Spracherhalt <?page no="40"?> socio-economic status (SES) (sozio-ökonomischer Status der Familie) status of the involved languages (Prestige der involvierten Sprachen) direct instruction (Beschulung) B R AUN (2012: 426-432) sowie B R AUN & C LIN E (2010: 116-117 und 2014: 4-6) analysierten 70 Familien in England und Deutschland und fanden heraus, dass bei Typ 1-Familien (beide Eltern sprechen verschiedene L1, die nicht der Umgebungssprache entsprechen) zwei Drittel es geschafft haben, alle Sprachen in der Familie zu erhalten. Hingegen wurde in Typ 2-Familien (unterschiedliche L1 bei den Eltern, aber die Umgebungs‐ sprache ist die L1 von einem oder beiden) eine der HS in fast zwei Drittel der Fälle aufgegeben. Q UAY (2001, 2008) belegt anhand der trilingualen Kinder Freddy (L1 Deutsch, Englisch und Japanisch) und Xiaoxiao (L1 Englisch, Japanisch und Mandarin), dass die Tatsache, dass die Mehrheitssprache zu Hause nicht verwendet wird, den Erhalt der Minderheitensprachen erleichtert, wie auch u. a. D E H O UWE R (2009) und C HE VALI E R (2011: 82) festgestellt haben. C AL OI & T O R R E G R O S S A (2021: 17) schlagen vor, mit Blick auf erfolgreiche Erwerbsverläufe nicht die Menge an Input, sondern vielmehr die Kohärenz (engl. consistency) im Sprachgebrauch der HS zu fokussieren. Damit ist gemeint, dass die Personen um das Kind herum wirklich durchgängig die zu erhaltende Sprache verwenden. Dieser Umstand scheint zwar eine notwendige Bedingung, jedoch können Kinder in bestimmten Konstellationen (wenn z. B. nur eine Person die HS weitergibt) gleichwohl schwächer in der seltener im Input vorkommenden Sprache sein (A R NAU S G IL E T AL . 2021: 3). Außerdem richten C AL OI & T O R R E G R O S S A den Blick außerhalb der Kernfamilie und der frühen Erwerbsphasen hinaus auf eine Kontinuität (engl. continuity) im Sprachgebrauch. Diese beginnt zu Hause, wird in der Schule fortgeführt und ist relevant für den erfolgreichen Erwerb der HS (2021: 17). 2.4 Offene Fragen Zwei Aspekte bleiben nach der Betrachtung des kindlichen Spracherhalts offen. Zum einen scheint es an Studien zu fehlen, die gezielt den Spracherhalt auf die kindliche Phase legen. Es mussten indes Untersuchungen hinzugezogen werden, die ältere Teilnehmende betrachten (Schulkinder und Jugendliche), um bestimmte Aspekte zu diskutieren. Das mag daran liegen, dass die Spracherwerbsforschung im Kontext von Mehrsprachigkeit stärker linguistisch ausgeprägt ist und die soziolinguistische Forschung bislang wenig(er) auf kleine(re) Kinder konzentriert war. Zum anderen - und da ist durchaus ein Zusammenhang erkennbar - lassen sich die beeinflussbaren Faktoren ungünstiger messen als die weniger beeiflussbaren. Anders gesagt: Um den kindlichen Spracherhalt adäquat zu messen, bräuchte man eine große Anzahl an linguistischen Daten, die z. B. die Menge an Input objektiv errechnen lässt (vgl. Kap. 3). Dafür müssten die teilnehmenden Personen ununterbrochen Mikrofone bei sich tragen, was nicht realistisch ist. Stattdessen muss man auf Angaben von Erwach‐ 2.4 Offene Fragen 39 <?page no="41"?> senen zurückgreifen, um ihren Sprachgebrauch und den der Kinder nachzeichnen zu können. Menge, Varietät, Kohärenz und Kontinuität des Inputs in der HS, alles wichtige Aspekte für den Erwerb dieser, können somit nicht zuverlässig ermittelt werden. Die weniger beeinflussbaren Faktoren (vgl. 2.3.1) lassen sich indes relativ eindeutig und objektiv durch einen Fragebogen abfragen (den aber ebenfalls die Erwachsenen ausfüllen müssen). Wünschenswert wären entsprechend mehr Studien, die den kindlichen Spracherhalt und seine Bedingungen untersuchen und - so früh es geht - kindliche Ansichten dazu einholen. 2.5 Aufgaben 1. Befragen Sie zwei mehrsprachig aufgewachsene Personen, welche Faktoren re‐ trospektiv für den Spracherhalt bedeutsam waren. Sammeln Sie die Ergebnisse schriftlich und vergleichen Sie diese. 2. Besprechen Sie in einer Gruppenarbeit, welche Vor- und Nachteile eine genauere Bezeichnung der Generationszugehörigkeit im deutschsprachigen Kontext haben könnte. Diskutieren Sie kritisch, inwiefern man bei Personen, die selbst wie auch ihre Eltern im Land geboren sind, überhaupt noch von einer dritten Generation an Zugewanderten sprechen kann. 3. Suchen Sie online nach Seiten oder Blogs, die Eltern bei einer mehrsprachigen Erziehung beraten. Überprüfen Sie, ob weitere Faktoren im Spracherhalt bei Kleinkindern erwähnt werden und diskutieren Sie anschließend darüber. 4. E XT R A & Y AĞMU R (2008) schlagen für das Messen des language vitality index unterschiedliche Kriterien vor (vgl. 2.3.1). Setzen Sie sich mit diesen Kriterien auseinander und überlegen Sie, ob welche überflüssig sind oder andere fehlen. 2.6 Literaturverzeichnis A R N A U S G I L , Laia, M ÜL L E R , Natascha, S E T T E , Nadine, H Ü P P O P , Marina (2021): Active biand trilingualism and its influencing factors. International Multilingual Research Journal 15(1), 1 - 22. DOI: 10.1080/ 19313152.2020. 1753964 B E N M A M O U N , Elabbas, M O N T R U L , Silvina, P O L I N S K Y , Maria (2013): Heritage Languages and their Speakers: Opportunities and Challenges for Linguistics. Theoretical Linguistics 39: 129 - 181. B U N D E S M I N I S T E R I U M D E S I N N E R N U N D F Ü R H E IM A T (2024a): Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt in Deutschland. 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Migration und soziale Arbeit: iza 37(4), 299 - 305. V A L D É S , Guadalupe (2000): „Introduction.” In: Spanish for Native Speakers. Vol. 1 of AATSP Professional Development Series Handbook for Teachers K-16. New York, S.-1 - 29. V U L C H A N O V A , Mila, V U L C H A N O V , Valentin, S O R A C E , Antonella, S U A R E Z -G O M E Z , Cristina, G U I ‐ J A R R O -F U E N T E S , Pedro (2022): Editorial: The Notion of the Native Speaker Put to the Test: Recent Research Advances. Frontiers in Psychology 13/ Article 875740. DOI: 10.3389/ fpsyg.2022.875740 W I E S E , Heike, A L E X IA D O U , Artemis, A L L E N , Shanley, B U N K , Oliver, G A G A R I N A , Natalia, I E F R E M E N K O , Kateryna, M A R T Y N O V A , Maria, P A S H K O V A , Tatiana, R I Z O U , Vicky, S C H R O E D E R , Christoph, S H A D ‐ R O V A , Anna, S Z U C S I C H , Luka, T R A C Y , Rosemarie, T S E H A Y E , Wintai, Z E R B IA N , Sabine, & Z U B A N , Yulia (2022): Heritage Speakers as Part of the Native Language Continuum. Frontiers in Psychology 12/ Article 717973. DOI: 10.3389/ fpsyg.2021.717973 2.6 Literaturverzeichnis 43 <?page no="46"?> 3 Spracherhalt innerhalb der Familie Katja F. Cantone 3.1 Einleitung Dieses Kapitel befasst sich mit Akteur*innen und Praktiken des Spracherhalts inner‐ halb der Familie. Wie bereits erläutert (Kap. 1), fokussiert dieses Studienbuch den Erhalt einer Heritage-Sprache (HS) im Rahmen individueller Mehrsprachigkeit. In Kapitel 2 wurde vorgestellt, welche Faktoren in der Altersspanne zwischen 0 und 6 Jahren Erhalt und Erwerb der Minderheitensprache beeinflussen können. Im Folgenden werden die Personen, die den Erhalt ermöglichen, und ihre (bewussten) Entscheidungen bezüglich der Sprachweitergabe und des Sprachgebrauchs im familiären Rahmen im Fokus stehen (3.2.1). Ebenfalls werden weitere Unterstützungsmöglichkeiten besprochen (3.2.2). Im Abschnitt 3.3 werden Aspekte wie Sprachverweigerung, Harmonie und Druck seitens der Beteiligten im Kontext von Spracherhalt sowie das jüngere Themenfeld Sprechangst in der HS (heritage language anxiety) beleuchtet. 3.2 Was passiert mit der Heritage-Sprache zu Hause? Nachdem im letzten Kapitel Spracherhalt und -erwerb im Kindesalter im Vordergrund stand, befasst sich dieses Kapitel mit den Personen, die die Sprachweitergabe aktiv gestalten. Darüber hinaus wird auf die Mittel eingegangen, die dafür zur Verfügung stehen. 3.2.1 Enge und erweiterte Familienmitglieder Zunächst muss geklärt werden: Wer wird als die Bezugspersonen, die entsprechend bedeutsam und verantwortlich für den Spracherhalt sind, im Leben eines Kleinkindes identifiziert? Wie L I P P E R T bereits 2010 anmerkt, kann das Konzept der „Hauptbezugs‐ person“ als überholt gelten, zumal es in vielen Kulturen noch nie ausschlaggebend war. Die geschlechtspezifische Rolle der Mütter wird in einer aktuellen Studie von S E LL E C K (2023) diskutiert. Im Rahmen eines ethnografischen Ansatzes werden sprachliche Praktiken bei aus Somalia stammenden Müttern und Töchtern in Großbritannien beobachtet. Die Aussagen der Teilnehmenden bestätigen die Rolle der Mütter und der ältesten Töchter beim Spracherhalt im Kontext von Migration sowie die Annahme von Spracherhalt als Aufgabe/ Geschenk der Eltern an die <?page no="47"?> 1 Die OPOL-Methode (engl. one person-one language) galt und gilt seit Beginn der mehrsprachigen Erwerbsforschung als eine erfolgreiche Strategie, um Kinder aktive Mehrsprachige werden zu lassen (M Ü L L E R E T A L . 2023: 55). Jedes Elternteil hat eine andere L1, wobei eine dieser Sprachen auch die Sprache der Umgebung ist. 2 Bei dieser Methode (non-dominant-home-language) wird zu Hause die Minderheitensprache gespro‐ chen, weil beide Elternteile sie als L1 haben (M Ü L L E R E T A L . 2023: 56). Kinder, da es in Großbritannien keine institutionelle Unterstützung gibt (S E LL E CK 2023: 212-213). So ist heutzutage in vielen Familien weder die Mutter die Hauptbetreuende des Kindes, da sie bspw. einem Vollzeitberuf nachgeht, noch muss es im Leben des Kindes nur eine Person geben, die es hauptsächlich betreut (L I P P E R T 2010: Kap. 3.4). Mit dieser Entwicklung stürzt auch das Ideal der sog. OPOL-Methode 1 für die Sprachweitergabe, denn „Mutter“ und „Vater“ (auch hier zeigt sich ein kaum diverses Konzept von Familie) sind nicht zwingend diejenigen Personen, mit denen das Kind im Zeitraum von 0 bis 6 Jahren die meiste Zeit verbringt. Stimmt die Tatsache, dass Eltern auf weitere Personen für die Kinderbetreuung angewiesen sind, dann reicht die Beschreibung ‘Vater spricht Y, Mutter spricht Z, Kind erwirbt Y und Z’ nicht mehr aus. Auch bei der Strategie NDHL 2 würde durch eine frühe externe Betreuung der Kleinkinder die häusliche Förderung der HS ebenfalls abnehmen. Das bedeutet, dass Eltern zusätzlich zu ihrem Entschluss, die HS weitergeben zu wollen, aktiv werden müssen, damit weitere Personen helfen, die HS im Alltag zu praktizieren. Ansonsten wird die Minderheitensprache im Vergleich zur Mehrheitssprache weniger im Alltag vorkommen. Die Planungen, die Eltern vornehmen, um eine Sprache weiterzugeben, fasst man unter Familiensprachenpolitik zusammen (engl. Family Language Policy, FLP, C U R DT -C H R I S TIAN S E N 2018, K IN G 2016, K IN G & F O G L E 2013, K IN G E T AL . 2008). Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Eltern wichtige Akteur*innen für den Spracherhalt sind (F I S HMAN 1991, vgl. Kap. 7). FLP versucht explizite und implizite Planungen, die sowohl aus dem Inneren der Familie nach außen (bottom-up) als auch von außen in die Familie (top-down) getragen werden, nachzuvollziehen (C U R DT -C H R I S TIAN S E N 2018: 420). In den 1990er Jahren hat R OMAIN E (1995) eine Typologisierung von Strategien vorge‐ schlagen, wie Kinder aktiv bilingual werden könnten. Diese Methoden der Sprachwei‐ tergabe sind im Laufe der Jahre von anderen Forscher*innen unter Berücksichtigung verschiedener Akzente spezifiziert und ergänzt worden, insbesondere steht dabei die Gegenüberstellung von Mehrheits- und Minderheitensprache im Vordergrund. Für unsere Perspektive in diesem Studienbuch ist es nicht relevant, wie die Mehrheitsspra‐ che Deutsch erworben wird, da davon ausgegangen wird, dass das Kind den Erwerb 46 3 Spracherhalt innerhalb der Familie <?page no="48"?> 3 Selbstredend ist das nicht die einzige Möglichkeit, wie Spracherhalt stattfinden kann. Im engen Kreis der Familie wären das aber die relevanten Aspekte. erfolgreich meistert. Auch gilt unser Interesse nicht der Frage, wie der versetzte Zweitspracherwerb des Deutschen vonstatten geht. Vielmehr stellen wir ins Zentrum, welche Strategien zur Sprachweitergabe der HS helfen. Zunächst gilt die in Kap.-2 diskutierte Bedingung: Spracherhalt vor Spracherwerb. Spracherhalt bedeutet im familiären Kontext Sprachweitergabe (engl. home language maintenance, vgl. Kap. 1). Die primären Bezugspersonen (meistens die Eltern) entschei‐ den sich, eine HS weiterzugeben. Sie sind laut D E H O UWE R (2020: 11) sog. decision makers. Diese Entscheidung kann bewusst oder unbewusst erfolgen, sie muss von beiden getragen werden, doch kann es sein, dass nur Elternteil A die HS weitergibt (Abb. 3.1 linker Kreis ist nur wenig befüllt). Elternteil B spricht hingegen die Mehr‐ heitssprache mit dem Kind. Die HS kann als Familiensprache genutzt werden, wenn entweder B diese Sprache versteht und benutzt (mittlerer Kreis ist stärker befüllt), oder wenn B ebenfalls Sprecher*in der HS ist (rechter Kreis ist voll). Abb. 3.1 verdeutlicht, dass eine notwendige Bedingung (Elternteil A) im engen Familienkreis erfüllt sein muss. Zusätzlich können weitere Bedingungen hinzukommen. 3 Abb. 3.1: Sprachweitergabe der HS im engsten Familienkreis Drei Beispielfamilien Beispiel 1: Oana hat Rumänisch als L1, ihr/ e Partner*in ist monolingual mit Deutsch aufgewachsen. Oana spricht Rumänisch zum gemeinsamen Kind. Die notwendige Bedingung zum Spracherhalt im engsten Familienkreis ist erfüllt. Beispiel 2: Nikola hat Kroatisch als L1, sein/ e Partner*in ist monolingual mit Deutsch aufgewachsen, hat aber Kroatisch als Erwachsene*r gelernt. Nikola spricht Kroatisch zum gemeinsamen Kind. Wenn die Kleinfamilie zusammen ist, sprechen alle Kroatisch miteinander. Zwei Bedingungen zum Spracherhalt im engsten Familienkreis sind erfüllt. Beispiel 3: Miray hat Türkisch als L1, ihr/ e Partner*in ist bilingual mit Deutsch und Türkisch aufgewachsen. Beide sprechen mit dem gemeinsamen Kind Türkisch, das ebenfalls die Familiensprache ist. Drei Bedingungen zum Spracherhalt im engsten Familienkreis sind erfüllt. 3.2 Was passiert mit der Heritage-Sprache zu Hause? 47 <?page no="49"?> 4 Eine Longitudinalstudie untersucht Personen und erhebt Daten über einen längeren Zeitraum. Qualitativ ist eine Studie dann, wenn sie (a) mit nicht standardisierten Methoden arbeitet, (b) kleinere Stichproben erhebt, und (c) den Fokus der Analyse auf Beschreibung und Interpretation und nicht auf das Messen eines Gegenstandes legt. Die Strategien der Sprachweitergabe können sich mit der Zeit verändern (B A R R O N -H AU ‐ WAE R T 2011: 38). Eltern mögen sich zwar vornehmen, die HS weiterzugeben, es ist aber möglich, dass sie aufgrund von Reaktionen aus der Umgebung oder Alltagssituationen beeinflusst werden oder scheitern. Auch können sie - beispielsweise mit Kindergarten- oder Schulbeginn - eine neue Strategie der Sprachweitergabe annehmen (vgl. Kap.-4). Zudem haben Kinder die Möglichkeit, die Sprachwahl der Eltern zu akzeptieren oder auch nicht bzw. nach einer Zeit nicht mehr zu akzeptieren (vgl. 3.3). Ebenfalls von Gewicht sind die Reaktionen von Eltern, wenn die Kinder mit ihnen sprechen. Nimmt man als Ausgangspunkt OPOL an, so scheint klar, dass der Elternteil, der sowohl die Mehrheitsals auch die Minderheitensprache spricht, im Sinne der Sprachweitergabe die HS im Gebrauch mit dem Kind forcieren wird. Bei einer grundlegenden Umstellung des Kindes von der HS in Richtung Umgebungssprache können Elternteile bspw. mit einer monolingualen Sprachwahl (in der HS) reagieren, Übersetzungen verlangen oder es könnte code-switching, also das Mischen von Ele‐ menten aus zwei Sprachen innerhalb einer Äußerung oder zwischen Äußerungen, bei allen Beteiligten stattfinden (vgl. C ANT ON E 2007, L ANZA 1992, M ÜLL E R E T AL . 2015). Ein Elternteil oder auch beide könnten selbst sowohl mit der Mehrheitssprache Deutsch als auch mit einer HS bilingual aufgewachsen sein (zweite Generation, vgl. Kap.-2). Der Sprachgebrauch bilingualer Eltern und deren Entscheidung, ob sie die HS erhalten, ist bislang kaum erforscht. C ANTO N E (2020, 2022) hat in einer qualitativen Longitudinalstudie 4 verschiedene Familien mittels Fragebögen nach dem elterlichen Sprachgebrauch gegenüber ihren Kindern befragt. In den Familien war mindestens ein Elternteil selbst bilingual aufgewachsen, gehört demnach mindestens der zweiten Ge‐ neration an. Als Ergebnis zeigt sich, dass einige bilinguale Eltern die Mehrheitssprache mit ihren Kindern (dritte Generation) verwenden (C ANTON E 2022: 408). Interessant ist, dass in dieser Studie diejenigen die HS nicht weitergeben, die mit einer einsprachigen Person Kinder haben. Die Bilingualen, die mit Bilingualen (mit einer anderen HS) verheiratet sind, haben mit den kleinen Kindern ihre jeweilige HS gesprochen. Die Gründe dafür sind vielfältig und müssen langfristig beobachtet werden, doch könnte eine mögliche Erklärung bereits im Spracherhalt der zweiten Generation liegen: Erkennbar ist, dass sich die Person, die die HS in Deutschland erworben hat und keinen schulischen Unterricht in dieser Sprache hatte, in der Selbsteinschätzung zu den Sprachkenntnissen nicht gut bewertet (C ANTO N E 2020: 200). Hier stellt sich die Frage, mit wem sich diese bilinguale Person der zweiten Generation vergleicht (vgl. ausführlich Kap. 5) und ob diese Einschätzung der einzige Grund für die Zurückhaltung in der Sprachweitergabe ist. Die Tatsache, dass Eltern in einer Befragung angeben, die HS wenig oder gar nicht mit dem Kind zu verwenden, bedeutet nicht, dass diese keine Rolle innerhalb der (erweiterten) Familie spielt: Sowohl Großeltern als auch Besuche 48 3 Spracherhalt innerhalb der Familie <?page no="50"?> von weiteren Verwandten im Land, in dem die HS Mehrheitssprache ist, können der HS im Leben der Kinder eine bedeutsame Rolle zusprechen (C ANT ON E 2022: 409). Tatsächlich werden die (monolingualen) Großeltern sowie die Geschwisterkons‐ tellation und die Rolle der Geschwister an sich selten in Studien beachtet (vgl. Kap. 7). Dabei können Großeltern nach der Bezeichnung one other person-one language (OOPOL) sogar zu einer dreisprachigen Erziehung beitragen (vgl. B R AUN 2012). B R AUN (2012) führte Interviews zur (sprachlichen) Situation von 70 Familien in England und Deutschland und unterscheidet drei Typen von dreisprachigen Familien. In Typ (1) sind die Großeltern monolingual mit den jeweiligen HS der Elternteile, die dritte Sprache ist die Mehrheitssprache, die nicht die L1 der beiden Elternteile ist - die Sprachweitergabe findet also erst in der dritten Generation statt (B R AUN 2012: 427). In Typ (2) sind Großeltern überwiegend bilingual, sodass ein Elternteil es entsprechend auch ist - die Sprachweitergabe hat bereits in der zweiten Generation stattgefunden (ebd.). In Typ (3) sind in den Familien viele Sprachen vertreten, was zur Aufgabe von HS führt - hier wird hervorgehoben, dass es bedeutsam ist, dass Großeltern die Mehrheitssprache sprechen (ebd.). Für den Spracherhalt wird bei Familien von Typ (1) in England besonders die Rolle der Großeltern als einflussreich angegeben (B R AUN 2012: 428). In C ANTO N E (2022) zeigen sich ebenfalls verschiedene Rollen eines oder mehrerer Großelternteile im Spracherhalt: Wie oben erwähnt als OOPOL, die eine dritte Sprache vertritt, als (einzige) Person, die zum Kind die HS spricht, oder als Gründe für die Eltern, die HS zu nutzen, wenn nämlich die (einsprachigen) Großeltern besucht werden. Schließlich sei auf die wichtige Rolle von Geschwistern hingewiesen (vgl. Kap.-7). In einer Online-Studie mit 105 Familien untersuchte B A R R ON -H AUWAE R T (2011: 41) die unterschiedliche Positionen unter Geschwistern und widmete diesen ein ganzes Kapi‐ tel. Sie vermutet, dass Geschwister in manchen Fällen den Spracherhalt sichern können (B A R R O N -H AUWAE R T 2011: 71). L I P P E R T (2010) hingegen konnte eine Sprachumstellung in den von ihr untersuchten deutsch-italienischsprachigen Familien in Italien insofern beobachten, als das dritte Kind der Geschwisterfolge meist monolingual mit Italienisch aufgewachsen ist und die HS Deutsch nicht mehr erworben hat. Auch T S INIVIT S & U N S WO R TH (2022) untersuchen die Entwicklung der HS bei jüngeren Geschwistern. Sie gehen davon aus, dass ältere Geschwister, die bereits zur Schule gehen, einen negativen Einfluss auf die Entwicklung der HS bei jüngeren Geschwistern hätten (ebd.: 14). Tatsächlich konnten die Daten aber keinen signifikanten Unterschied zwischen Kindern (mit der Sprachkombination Niederländisch und Griechisch) mit oder ohne ältere Geschwister aufzeigen. Im Gegenteil, die Kinder mit älteren Geschwistern scheinen sogar bessere Ergebnisse im Griechischen (der HS) zu erzielen (ebd.). Als zwei mögliche Gründe für diese Ergebnisse nennen T S INIVIT S & U N S WO R TH (2022: 15) zum einen, dass in den meisten der untersuchten Familien die NDHL-Methode angewendet wurde, weil beide Elternteile Griechisch als L1 hatten. Zum anderen waren mehrere der älteren Geschwister noch in Griechenland geboren, was zu einem reichhaltigeren Input in der HS in der Interaktion mit den jüngeren Geschwistern geführt haben könnte. 3.2 Was passiert mit der Heritage-Sprache zu Hause? 49 <?page no="51"?> Studien, die sich mit dem Spracherhalt bei Kindern beschäftigen, befragen in der Regel die Eltern der Kinder. Die Bestrebungen, Kinder in den Mittelpunkt von Beobachtungen zu stellen und zu befragen, zeigt sich erst seit kurzem (P U R KA R THO F E R 2020: 130). P ANAGIO TO P O UL O U E T AL . (2023: 113-115) betonen, dass sich Kinder zu FLP positionieren sollten und erarbeiten in ihrer Untersuchung zu Sichtweisen von Kindern zwei Kategorien heraus: Zum einen beeinflusst die monolinguale Sprachpolitik der Schule sowohl den Sprachgebrauch als auch die Beziehung zwischen Eltern (der ersten Generation) und Kindern, indem die Deutschkenntnisse der Kinder zu einer „Umverteilung von Verantwortung in der Familiensprachenpolitik“ führen, zum anderen werden aktiv neue mehrsprachige und sprachübergreifende Räume im Sinne von Spracherhalt parallel zum eigenen und zum geschwisterlichen Erwerb des Deutschen gestaltet (P ANAG IOTO P O UL O U E T AL . 2023: 127). C ANTO N E & T R IU LZI (2024) erfassen ebenfalls die Perspektive von Kindern und befragen in einer qualitativen Studie mehrsprachige Schüler*innen vor bzw. nach dem Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule u. a. nach ihren Wünschen und Erfahrungen zur wahrgenommenen Rolle ihrer HS im schulischen und unterrichtlichen Kontext. 3.2.2 Weitere Aspekte Im familiären Raum, der nicht mehr so statisch zu verstehen ist und zunehmend mediale Praktiken miteinbeziehen muss (vgl. L ANZA 2021), können HS Unterschiede je nach Zeitspanne aufweisen. Der Gedanke, dass HS im Falle von Sprachweitergabe unent‐ wegt praktiziert werden müssen, ist in dieser Absolutheit zu streng, insbesondere wenn auf mehrsprachige Akteur*innen der zweiten, dritten oder gar vierten Generation geschaut wird. Zweifelsohne ist ein Minimum an Sprachkontakt wichtig, wenn eine HS erworben werden soll. Aber ob diese deswegen täglich in der Familie praktiziert wird (werden muss), bleibt eine offene Frage, deren Beantwortung aus empirischer Forschung erfolgen muss. So existieren in Familien beispielsweise Praktiken des gelegentlichen Sprachgebrauchs (engl. occasional language use) oder ausgewählte Tage, an denen die HS nach Absprache von allen benutzt wird (F E S TMAN , P OA R CH & D EWAE L E 2017: 57 und 69). Wenn Studien die Sprachentwicklung der HS bei jüngeren Kindern fokussieren (vgl. Kap. 5 und 6), wird in der Regel dabei ein linguistisches Phänomen betrachtet (vgl. u. a. M ÜLL E R E T AL . 2023, R E I S E R -B E LL O Z AG O & B E R THE L E 2023). Nur wenige Untersuchungen versuchen, die Sprachentwicklung mit FLP zusammenzubringen, obwohl das ein Desiderat der FLP-Forschung ist (vgl. K IN G 2016, K IN G , F O G L E & T E R R Y -L O GAN 2008, K IN G & F O G L E 2013). C AN G E L O S I E T AL . (2024) gehen in ihrer quantitativen Studie mit 81 Familien von 4 bis 5-jährigen Kindern mit 20 verschiedenen HS in Italien genau dieser Frage nach: Wie beeinflussen Entscheidungen, Meinungen 50 3 Spracherhalt innerhalb der Familie <?page no="52"?> und Ideologien (vgl. Kap. 8 und 9) die sprachliche Entwicklung der jeweiligen HS? Hierzu werden sowohl Interviews mit Eltern als auch Tests mit Kindern zum rezeptiven Vokabular und zum morphosyntaktischen Verständnis in der HS durchgeführt. Die Annahme, dass Kinder aus Familien, in denen die HS häufiger benutzt wird, bessere Ergebnisse in den Tests erzielen, hat sich nicht bewahrheitet (C AN G E L O S I E T AL . 2024: 10). Hingegen steht der wahrgenommene Wert der HS (vgl. Kap.-9) in einem signifikanten Zusammenhang zum rezeptiven Wortschatz, während die Wahrnehmung, die HS sei gesellschaftlich nicht anerkannt, einen negativen Einfluss auf das morphosyntaktische Verständnis hat (ebd.). L ITTL E & L AHMA R (2024) entwerfen für ihre Untersuchung einen psychometrischen Test mit 42 Statements, die auf das Rahmenwerk von L ITTL E (2020) aufbauen. Abb. 3.2: Identitäten von Heritage-Sprachen nach Little (2020) L ITTL E (2020: 209) schlägt auf der Grundlage von 212 befragten Eltern ein kon‐ zeptionelles Rahmenwerk vor (vgl. ausführlich Kap. 8). In den vier Quadranten finden sich vier unterschiedliche Auffassungen vom Umgang mit der HS: Im Quadranten PE (pragmatic-essential) wird die HS im täglichen Leben benutzt, in EE (essential-emotional) sorgt sie für das emotionale Wohlbefinden, in EP (emotio‐ nal-peripheral) wird die HS zur sozio-emotionalen Bequemlichkeit gebraucht, in PP (peripheral-pragmatic) als praktische Bequemlichkeit. 3.2 Was passiert mit der Heritage-Sprache zu Hause? 51 <?page no="53"?> Neuere Studien zeigen die Möglichkeiten von Spracherhalt über Mediengebrauch, nicht nur über -konsum. Diese Medien können z. B. Telefon, Computer oder Social Media sein (P U R KA R THO F E R 2020: 136). C U R DT -C H R I S TIAN S E N & L A M O R G IA (2018) untersuchen in ihrer Studie 66 Familien mit Kindern im Alter zwischen 2 und 8 Jahren. Alle Kinder wachsen in Großbritannien auf und sprechen neben Englisch Chinesisch, Italienisch oder Urdu als HS. Neben einem Fragebogen zum allgemeinen sprachlichen Hintergrund, zur Lese- und Schreibfähig‐ keit in der HS (engl. home literacy) - mit Fragen zur Anzahl der Bücher in den jeweiligen Sprachen, TV-Zeit allgemein und auf die Sprachen bezogen, selbständiges Spielen mit didaktischen Spielen, Leseverhalten der Eltern, Häufigkeit von Bibliothekenbesuchen und Vorlesegewohnheit -, elterlichen Erwartungen und anderen Informationen haben die Forscher*innen Praktiken in beiden Sprachen erhoben sowie Interviews mit Eltern geführt (ebd.: 185). Sie gehen davon aus, dass das Fehlen von Praktiken wie Fernsehen oder Lesen in der HS dazu führt, dass die HS weniger benutzt wird, zumindest zeigen die Ergebnisse der urdusprachigen Familien dieses Muster auf (C U R D -C H R I S TIAN S E N & L A M O R GIA 2018: 193). S U LIMOVA & A TANA S O S KA (2023) untersuchen den veränderten Sprachgebrauch bei drei mehrsprachigen Jugendlichen (14 Jahre alt) mit Russisch als eine der Familien‐ sprachen zu Zeiten der COVID-19-Pandemie. Im Fokus der Studie standen Fragen wie sprachliche Aktivitäten der letzten Tage unter Einbezug der Personen, mit denen sie stattfanden, der Art (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben), der Dauer sowie der Unterscheidung zwischen Online- und Offline-Tätigkeiten (S U LIMOVA & A TANA S O S KA 2023: 142). Die Autor*innen konnten keinen gesteigerten Gebrauch der HS im (er‐ zwungenen) familiären Rückzug beobachten: Der Gebrauch der Familiensprache(n), die überwiegend gesprochen oder gehört wurde(n), machte ca. ¼ der Wachzeit der Jugendlichen aus (ebd.: 144). Interessanterweise spielt Englisch (sowohl onals auch offline) bei zwei der drei Jugendlichen eine größere Rolle als Russisch, bei einem sogar als Deutsch (S U LIMOVA & A TANA S O S KA 2023: 145, vgl. Kap.-9). In der Regel wird jedoch Russisch verwendet, um mit älteren Familienmitgliedern zu telefonieren (ebd.: 151). Zusammenfassend zeigt sich, dass verschiedene Aspekte bei der Betrachtung der Sprachweitergabe im engeren Familienkreis eine Rolle spielen können. Abb. 3.2 zeigt den Trichter des Spracherhalts. Dieser symbolisiert, dass mindestens ein Ball notwendig ist, um innerhalb der Familie den Spracherhalt anzustoßen. Je mehr Bälle (= Akteur*innen oder Praktiken) den Trichter befüllen, desto stabiler ist der Erhalt. Dieser kann aber nur für Lebensphasen abgebildet werden, nie für eine ganze Lebensspanne. In diesem Kapitel steht die Phase 0 bis 6 Jahre im Vordergrund. Auch bezieht sich diese Metapher nur auf Akteur*innen und Praktiken innerhalb der Familie. 52 3 Spracherhalt innerhalb der Familie <?page no="54"?> Abb. 3.3: Trichter des Spracherhalts 3.3 Aktuelle Themenfelder In diesem Abschnitt sollen Herausforderungen in einer mehrsprachigen Erziehung von Kleinkindern angesprochen werden. Diese sind nicht linguistischer Natur (vgl. Kap.-5 und 6), sondern ergeben sich aus Faktoren, die außerlinguistisch sind (vgl. Kap. 7). Jedes Kind kann zweisprachig aufwachsen, wenn es Kontakt zu mehr als einer Sprache hat, doch nicht jedes Kind verwendet zwei Sprachen aktiv. Zunächst gibt L I P P E R T (2020: 1173-1178) einen Überblick zu Einstellungen zur Mehrsprachigkeit, die stark davon abhängig sind, wie der Erhalt der Minderheitensprache gesellschaftlich gesehen wird. 3.3 Aktuelle Themenfelder 53 <?page no="55"?> L I P P E R T plädiert dafür, bilinguales Aufwachsen nicht nur als spielerisches und leichtes Unterfangen darzustellen, sondern: […] es sollte auch genauer untersucht werden, warum es oft so schwierig ist, ein Gleichge‐ wicht zwischen Erhalt der Herkunftssprache und Erwerb der Umgebungssprache zu finden. Außerdem sollte Eltern potenziell bilingualer Kinder erklärt werden, dass der bilinguale Erziehungsprozess oft (wenn auch nicht immer) ein harter und konfliktreicher Weg ist. Und bereits im Amt befindlichen Lehrern und Lehrerinnen sollte durch besseres Training und Zusatzkurse ein klares Problembewusstsein dafür vermittelt werden, was es für Schüler genau heißt, bilingual aufzuwachsen, wie schwierig es unter Umständen für sie sein kann, ein angemessenes Niveau in der Umgebungssprache zu erreichen […]. (L I P P E R T 2020: 1192) In verschiedenen Studien hat D E H O UWE R (u. a. 2020) die Wichtigkeit einer einver‐ nehmlichen zweisprachigen Entwicklung thematisiert (engl. harmonious bilingual development). Eingangs sei gesagt, dass es sich zwar um eine wertvolle Perspektive auf das Aufwachsen in bilingualen Kontexten handelt, jedoch nicht angenommen werden kann, dass alle Familien ein bewusstes Verständnis für ihre Mehrsprachigkeit haben. Unter erschwerten Lebensbedingungen wie beispielsweise Flucht ist verständ‐ licherweise die Frage, wie die HS in der Familie erhalten werden kann, keine, die bewusst eine Rolle spielt, sondern vielmehr nebenbei und durchaus aus der Not heraus (weil die neue Mehrheitssprache noch nicht gesprochen wird) erfolgt. Ein Verständnis dafür, was zu einem Wohlbefinden im Umgang mit Mehrsprachigkeit bei Familien mit Kleinkindern führt und was nicht, ist jedoch wichtig, um zu vermeiden, dass zweisprachig aufgewachsene Kinder eine ihrer Sprachen verweigern (D E H O UWE R 2020: -9). Bislang gibt es nur wenige Studien zur Sprachverweigerung bei Kindern (vgl. L I P P E R T 2010, 2020, D E H O UWE R 2020). In einem Überblick zu Studien mit Kindern, die eine der beiden Sprachen nicht nutzen, zeigt sich, dass ca. 25 % der untersuchten mehrsprachigen Kinder eine Sprache nicht nutzen (D E H O UWE R 2020: 10). D E H O UWE R zeigt sich darüber verwundert, dass die Mehrheitssprache nicht betroffen ist (ebd.). Dabei erscheint es nur logisch, dass Kinder nicht auf die Sprache verzichten, die für die Kommunikation mit der Mehrheit an Personen (vor allem mit anderen Kindern) notwendig ist. Mit Fokus auf die Thematik dieses Studienbuchs bedeutet es, dass in einem Viertel der Fälle, in denen Sprachweitergabe stattfand, die HS von Kindern nicht verwendet wird. Dabei gibt es einen - allerdings statistisch nicht signifikanten - Unterschied zwischen Familien, in denen die Strategie OPOL verwendet wurde (d. h., ein Elterteil hat zu Hause die Mehrheitssprache gesprochen: 74 % erfolgreiche Sprachweitergabe), und den Familien, in denen beide Eltern sowohl die HS als auch die Mehrheitssprache gesprochen haben (79 % erfolgreiche Sprachweitergabe) (D E H O UWE R 2020: 12). In Fällen von frühem Zweitspracherwerb bei Kindern, die zunächst nur die HS hören (non-dominant-home-language-Strategie), zeigt sich, dass diese in 97 % der Fälle aktive Zweisprachige werden, bei Kindern, die zu Hause beides hören (OPOL-Strategie), sind es hingegen 70 %, die aktiv zweisprachig sind (D E H O UWE R 54 3 Spracherhalt innerhalb der Familie <?page no="56"?> 2020: 12-13). Eine mögliche Erklärung für diesen Unterschied könnte die Menge an Input sein, die Kinder in der HS erhalten (vgl. C ANTO N E 2022). Jedenfalls stellt sich die Frage, inwieweit der aktive Sprachgebrauch im Kindesalter voraussagt, dass die Kinder auch als Jugendliche und Erwachsene durchaus die HS benutzen werden. Mithin muss der passive Sprachgebrauch des Deutschen, den L I P P E R T in ihren Daten zu italienisch-deutschsprachigen Familien erwähnt, nicht bedeuten, dass diese Kinder als Erwachsene nicht doch Deutsch verwenden werden (vgl. L I P P E R T 2010: Kap.-9). W AN G (2023) fokussiert in einem Beitrag mit dem zugegebenermaßen beunruhigen‐ den Titel Speaking Chinese or no breakfast einen bislang kaum anlysierten Bereich von Spracherhalt, nämlich emotionale Aspekte. Diese können negativer Natur (anxiety/ Sprechangst, Stress, Wut, Frust, Betroffenheit, Bedauern, Reue, Schuld, Verlust) sein, jedoch auch positive Gefühle wie Zufriedenheit, Aufgabenerfüllung, Verwirklichung und Stolz hervorbringen (W AN G 2023: 235 und 245). In der Studie zu 12 chinesischs‐ tämmigen Familien in Australien betrachtet W AN G (2023: 233) den Zusammenhang zwischen Sprachideologien, Sprachstrategien und -praktiken, den Ergebnissen von Sprachweitergabe bei Kindern der zweiten Generation und den beschriebenen Emo‐ tionen. W AN G (2023: 237) benennt als Grund intergenerationaler Konflikte den Zusam‐ menprall zwischen (1) Strategien der FLP (die Regel speaking-Chinese-only), (2) Spracheinstellungen der Kinder (Chinesisch hassen), und (3) Sprachgebrauch (Eng‐ lisch sprechen). Dieser Teufelskreis - denn das Verwenden der Mehrheitssprache seitens der Kinder (3) erzeugt vermutlich ein noch strengeres Durchsetzen von der Regel ‚nur die HS zu Hause‘ (1) und damit ein noch intensiveres Ablehnen der HS (2) - ließe sich vermutlich auch bei Familien in Deutschland beobachten. In einer aktuellen Studie konnten L ITTL E & L AHMA R (2024: 12, vgl. 3.2.1) feststellen, dass der Quadrant EE (vgl. 3.2.2) insofern am meisten mit Wohlbefinden in Zusammenhang gebracht werden kann, als die Statements Begriffe wie ‚Schuld‘, ‚Sorge‘ und Sprach‐ verweigerung enthalten. Für die Eltern, die diesem Quadranten am ehesten zugeordnet wurden, ist der Spracherhalt der HS stark mit Wohlbefinden verbunden (ebd.). In einer qualitativen Studie (mit Fragebogeneinsatz, Interviews und einem Experi‐ ment zu elektrodermaler Aktivität) zu anxiety u. a. in der HS analysiert S E VINÇ (2022) Unterschiede zwischen drei Generationen von Sprecher*innen des Türkischen in den Niederlanden. So könnten Großeltern (erste Generation) ihre Familien (zweite und dritte Generation, vgl. Kap. 2) unter Druck setzen, weil eine fehlende Sprachweitergabe mit Identitäts- oder Religionsverlust gleichgesetzt wird (ebd.: 877). Sie stellt zwei Familien mit den höchsten Werten an heritage language anxiety gegenüber (ebd.: 878) und fasst zusammen, dass in beiden Fallbeispielen konstruktive Regeln und Bemühun‐ gen fehlen sowie kaum positive Erfahrungen zu finden sind, um eine zweisprachige 3.3 Aktuelle Themenfelder 55 <?page no="57"?> Erziehung zu Hause zu unterstützen. Vielmehr überwiegen negative Emotionen und Erfahrungen, sodass Mehrsprachigkeit nicht als Gewinn gesehen wird (S E VINÇ 2022: 884). Es wird vorgeschlagen, FLP stärker mit Blick auf widersprüchliche Emotionen (z. B. Freude oder Stress) zu betrachten (ebd.: 885), denn: „Bilingual parenting is not always a bed of roses.“ (S E VINÇ 2022: 884). 3.4 Offene Fragen Im Zentrum dieses Kapitels standen mehrheitlich internationale Studien mit verschie‐ denen Sprachkombinationen und unterschiedlichen Methoden. Es wird deutlich, dass ein Desiderat nach mehr Studien im deutschsprachigen Raum besteht. Insgesamt spiegeln Studien in diesem Bereich überwiegend heteronormative Familien mit der Konstellation Vater-Mutter-Kind wider. Es wäre angebracht, dass die Forschung zukünftig stärker die Vielfalt von Familienkonstellationen wiedergeben würde (vgl. Kap. 7). Außerdem wird der Fokus in den meisten Studien auf Personen mit akade‐ mischen Abschlüssen und höherem sozio-ökonomischen Status gelegt - hier wäre ebenfalls ein die Realität wiedergebendes Abbild mehrsprachiger Familien vonnöten. Was bedeuten die Ergebnisse der wenigen Studien, die die sprachliche Situation von HS im häuslichen Umfeld fokussieren, für die Spracherhaltsforschung? Werden diese Sprachen für das ganze Leben den gleichen Status, Stand und die gleiche Häufigkeit im Gebrauch aufzeigen? Sicherlich nicht. Sich in der HS sprachlich passiv verhaltende Kinder und Jugendliche könnten jederzeit die HS wieder z. B. aufgrund externer Faktoren (Umzug in das Zielland, wo die Sprache von der Umgebung gesprochen wird; Wiederaktivierung durch Schulunterricht; Partnerschaft mit einer Person, die die HS als L1 spricht etc.), aktiv nutzen. Es sollte nicht vorwegenommen werden, dass der Erhalt dieser Sprache unterbrochen wurde und diese Personen die Sprache nicht weitergeben werden. Schaut man auf die Eltern bzw. Bezugspersonen, so wurde in diesem Kapitel deutlich, dass Sprachweitergabe kein leichtes Unterfangen ist und mit vielen Gefühlen verknüpft sein kann. Ein geplanter Spracherhalt muss nicht immer erfolgreich sein - zumindest auf den ersten Blick bzw. in den ersten Lebensjahren. Es stellt sich die Frage, inwieweit Familien Unterstützung außerhalb der Familie finden können, um den Spracherhalt und die Weitergabe einer HS zu vereinfachen. Damit beschäftigt sich das Kapitel 4. 3.5 Aufgaben 1. Lesen Sie den Beitrag von C U R DT -C H R I S TIAN S E N & L A M O R GIA (2018) „Managing heritage language development: Opportunities and challenges for Chinese, Italian and Pakistani Urdu-speaking families in the UK“. Fassen Sie den Beitrag knapp 56 3 Spracherhalt innerhalb der Familie <?page no="58"?> zusammen, formulieren Sie drei Hautpthesen und diskutieren Sie diese im Grup‐ penpuzzle. 2. Schreiben Sie eine Reflexion über folgende hypothetische Situation: Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Kind und müssten entscheiden, ob es mehrsprachig aufwächst. Sie selbst wären für die Sprachweitergabe der Minderheitensprache zuständig, die sonst keiner spricht. Wie würden Sie sich entscheiden und warum? 3. Diskutieren Sie in einer Gruppenarbeit, inwiefern digitale Aspekte den Spracher‐ halt unterstützen können. 4. Befragen Sie eine zweisprachig aufgewachsene Person, welche Rolle Emotionen in der Sprachweitergabe gespielt haben. Sammeln Sie Beispiele für verschiedene Emotionen schriftlich zusammen und diskutieren Sie diese in der Lehrveranstal‐ tung. 3.6 Literaturverzeichnis B A R R O N -H A U W A E R T , Suzanne (2011): Bilingual Siblings: Language Use in Families. Bristol. B R A U N , Andreas (2012): Language Maintenance in Trilingual Families: A Focus on Grandparents. International Journal of Multilingualism 9(4), 423---436. DOI: 10.1080/ 14790718.2012.7143849 B R A U N , Andreas, C L I N E , Tom (2010): Trilingual Families in Mainly Monolingual Societies: Working towards a Typology. 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DOI: 10.1515/ multi-2017-0019 3.6 Literaturverzeichnis 57 <?page no="59"?> D E H O U W E R , Annick (2020): Why do so many children who hear two languages speak just a single language? Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 25(1), 7---26. (https: / / zif.tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ article/ id/ 3221/ ; Aufruf 09.06.2024) F E S T M A N , Julia, P O A R C H , Gregory J., D E W A E L E , Jean-Marc (2017): Raising multilingual children. Clevedon. F I S H MA N , Joshua A. (1991): Reversing language shift: Theoretical and empirical foundations of assistance to threatened languages. Clevedon, UK. K I N G , Kendall A. (2016): Language policy, multilingual encounters, and transnational families. Journal of Multilingual and Multicultural Development 37(7), 726 - 733. K I N G , Kendall A., F O G L E , Lyn Wright (2013): Family language policy and bilingual parenting. Language Teaching 46(2), 172 - 194. 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Cantone 4.1 Einleitung Der zentrale Ort des Spracherwerbs, der Sprachweitergabe und des Spracherhalts einer Heritage-Sprache (HS) ist ohne Zweifel die Familie. Spracherwerb und Spracherhalt finden jedoch nicht ausschließlich dort statt, sondern vollziehen sich auch in anderen Bereichen, in denen sich das Individuum im Laufe seines Lebens bewegt und die das Leben von Menschen prägen und mitgestalten. Das Ziel dieses Kapitels ist es, solche außerfamiliären Stationen im Verlauf des Lebens von Mehrsprachigen zu benennen und zu beschreiben, die sich positiv wie negativ auf Spracherhalt und Spracherwerb auswirken (können) und somit die in der Familie geleisteten Bemühungen unterstützen oder hemmen. Wir diskutieren fünf Lebensphasen. Abschnitt 4.2 behandelt die früheste Kindheit, also die Phase von 0 bis ca. 2 Jahren, und beschreibt, woran sich Eltern in ihren Spracherhaltsbemühungen orientieren, bevor ihr Kind in eine Betreuung kommt. Abschnitt 4.3 thematisiert mit dem Eintritt in die Kindertagesstätte (im Folgenden Kita) das Vorschulalter und die erste Erfahrung eines mehrsprachigen Kindes mit einer Bildungsinstitution der Mehrheitsgesellschaft. Ein spezielles Augenmerk liegt hierbei auf dem Potenzial der bilingualen Kitas für Spracherhalt. Abschnitt 4.4 fokus‐ siert den Beitrag der Schule zu Spracherhalt und widmet sich u. a. dem schulisch erteilten Herkunftssprachlichen Unterricht (HSU), bilingualen Modellen sowie moder‐ nem Fremdsprachenunterricht. Die in Abschnitt 4.5 addressierten non-formalen Bildungsangebote finden zwar zeitgleich mit den in 4.3 und 4.4 beschriebenen Phasen der Kita und Schule statt, sie sind jedoch losgelöst von diesen zu betrachten, da sie von den communities selbst ausgerichtet werden und ein paralleles Arrangement zu den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft und ihrem Angebot darstellen. Schließlich geht Abschnitt 4.6 auf Spracherhalt an Universitäten ein und beleuchtet insbesondere die Rolle der dort ansässigen Sprachenzentren für Spracherhalt. 4.2 Spracherhalt in der frühesten Kindheit Erste Gedanken im Hinblick auf Spracherhalt im Sinne von Sprachweitergabe machen sich Eltern, noch bevor das Kind auf der Welt ist (vgl. S I R ÉN 1995, P U R KA R THO F E R 2019). 1 <?page no="63"?> Werdende mehrsprachige Elternpaare machen bereits während der Schwangerschaft Pläne im Hinblick auf die Sprachweitergabe und die sprachliche Praxis mit ihrem zukünftigen Kind. In der frühesten Kindheit, also während der ersten Lebensjahre des Kindes, gelingt es vielen Eltern auch, an ihren Plänen festzuhalten und ihr Kind in dieser Phase mit der Minderheitensprache so aufwachsen zu lassen, wie sie es angedacht hatten. Entsprechendes konnte S I R ÉN (1995) in einer longitudinalen Studie in Stockholm feststellen: There does not seem to be a general societal pressure on parents during the child’s first two or three years to use minority languages to a lesser extent than they have intended. (S I R É N 1995: 78) Interessant in dieser Lebensphase ist die Frage danach, was diese Überlegungen der (zukünftigen) Eltern zur Sprachweitergabe leitet und worauf sie ihre Pläne für die familiäre Sprachpraxis stützen: As there is a lively public discourse around language use in families, including discussions in the media and even in some national parliaments, parents might be exposed to comments and questions concerning their language decisions and practices. Teachers, childminders, paediatricians, speech therapists, grandparents or just neighbours may be language policing by commenting on which languages should be spoken and how they should be used. (B A L L W E G 2022: 2) Die Entscheidungen, die (werdende) Eltern im Hinblick auf die Weitergabe der eigenen Erstsprache(n) an das Kind, den Einbezug der Mehrheitssprache in die familiäre Sprachpraxis oder die am besten geeignete Diskursstrategie zur Förderung einer mehrsprachigen Erziehung ihres Kindes treffen (vgl. Kap. 3), werden fraglos beeinflusst von den Erfahrungen, die sie selbst im Laufe ihres Lebens und insbesondere in ihrer eigenen Kindheit mit ihren Sprachen gemacht haben (vgl. K AV EH 2018, P U R KA R THO F E R 2019, S P O L S K Y 2004). Manche Eltern informieren sich allerdings auch bewusst über Strategien für eine erfolgreiche mehrsprachige Erziehung und über die dem mehrsprachigen Aufwachsen zugrunde liegenden kognitiven Mechanismen in Studien, populärwissenschaftlicher Literatur oder in Elternratgebern (K IN G & F O G L E 2006: 701-702). In populärer Presse sowie in den gängigen Elternratgebern (wie in beliebten Elternforen zu entsprechen‐ den Themen) werden im Allgemeinen die kognitiven Vorteile eines mehrsprachigen Aufwachsens betont und als eine große Chance äußerst positiv bewertet (vgl. C HILLA & F OX -B O Y E R 2012, C UNNIN GHAM 2020, F E S TMAN E T AL . 2017, L E I S T -V ILLI S 2016, M E I S E L 2019, M O NTANA R I 2002). Zugleich werden Ratschläge an die Eltern erteilt und beispielhafte Modelle für ein mehrsprachiges Aufwachsen präsentiert. Dabei wird betont, dass die bi‐ linguale Erziehung mit Aufwand verbunden ist und die Einhaltung spezifischer Regeln erfordert. Als besonders erfolgversprechend wird die OPOL-Methode hervorgehoben (one person-one language, Kap. 3), deren konsequente Anwendung empfohlen wird. Da die Ratgeber zumeist von Wissenschaftler*innen verfasst wurden (die zudem selbst 62 4 Spracherhalt außerhalb der Familie <?page no="64"?> 2 Vgl. zur Beratungspraxis durch Pflegekräfte, Ärzt*innen, Familienhelfer*innen und Freiwillige in pädiatrischen Vorsorgekliniken in Flandern V A N O S S E T A L . (2021). 3 Die Studie von B U S C H M A N N E T A L . (2011) und B O C K M A N N E T A L . (2013) ist inzwischen über zehn Jahre alt. Es mag sein, dass sich in der pädiatrischen Praxis inzwischen einiges geändert hat. Neuere Studien zu dieser Thematik liegen u.-W. nicht vor. Eltern mehrsprachiger Kinder sind), verlassen sich Eltern in ihren Sprachweitergabe- und -erhaltsbestrebungen auf die dort gemachten Aussagen und nutzen die erteilten Ratschläge für begründete Entscheidungen über mehrsprachige Erziehung (K IN G & F O G L E 2006: 701). In dieser frühen Phase werden Eltern in ihren Spracherhaltsbemühungen aber auch von unterschiedlichen Personen unterstützt bzw. beeinflusst, die Ratschläge und Empfehlungen im Hinblick auf die sprachliche Praxis in der Familie aussprechen können (vgl. B ALLWE G 2022, B O C KMANN E T AL . 2013, K IN G & F O G L E 2006). Dabei können Ratschläge und Empfehlungen in beide Richtungen wirken: Sie können mehrsprachig‐ keitsfördernd oder -hemmend sein. Die Personen können die sprachliche Praxis in der Familie mitgestalten, wie bspw. Großeltern (vgl. B R AUN 2012, vgl. Kap.-3), oder sie beeinflussen sie auf andere Weise, da sie die sprachliche Entwicklung des mehrspra‐ chigen Kindes bewerten und beurteilen (wie Ärzt*innen oder Logopäd*innen). In der frühesten Kindheit befindet sich das Kind noch im Spracherwerbsprozess und Eltern machen sich große Sorgen darüber, ob die sprachliche Entwicklung ihres Kindes - u. a. aufgrund des mehrsprachigen Aufwachsens - erwartungskonform verläuft (B O CKMANN E T AL . 2013: 16). Die Sorge gilt dabei primär der Entwicklung der Mehrheitssprache (ebd.). Für eine Einschätzung der sprachlichen Entwicklung suchen sie oftmals Rat bei externen Expert*innen, am häufigsten bei Kinderärzt*innen im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen (ebd.). Laut B U S CHMANN E T AL . (2011: 106) führen rund 88 % der Kinderärzt*innen regelmäßig solche Beratungen zu mehrsprachiger Erziehung durch. 2 Gleichzeitig fühlen sich 67 % von ihnen nicht hinreichend dafür qualifiziert, sodass rund ein Viertel bis ein Drittel der Ärzt*innen „entwicklungshinderliche“ (B O C KMANN E T AL . 2013: 17) Ratschläge erteilt 3 , wie beispielsweise dass für Kinder der Erwerb der von den Eltern gesprochenen Minderheitensprache nicht wichtig sei (B U S CHMANN E T AL . 2011: 107). D E H O UWE R (2020: 76) ordnet solche Ratschläge als „ethically reprehensible and legally unacceptable“ ein. Auch wenn einige Ärzt*innen und Logopäd*innen (vgl. die Fallbeispiele in C HILLA & H AB E R Z E TTL 2014) für den Spracherhalt hinderliche Ratschläge erteilen mögen, schei‐ nen Eltern und Kinder die erste Phase der frühesten Kindheit jedoch zu meistern und die Minderheitensprache zumindest während dieser Zeit in der Familie zu erhalten (vgl. S I R ÉN 1995). Eine erste für den Spracherhalt entscheidende Phase kann der Eintritt des Kindes in eine Institution der frühkindlichen Bildung darstellen (ebd.: -78). 4.2 Spracherhalt in der frühesten Kindheit 63 <?page no="65"?> 4.3 Spracherhalt und frühkindliche Bildung Kitas können beim Erwerb und Erhalt der HS eine wichtige Rolle spielen, da Eltern den Spracherhalt insbesondere dann als eine Herausforderung empfinden, wenn die Kinder nach dem Kitaeintritt das Deutsche „bald zu ihrer Hauptsprache machen“ (B R ABAND 2019: 294). Für die Förderung von Mehrsprachigkeit zeigen sich im institu‐ tionellen frühpädagogischen Bereich zwei konzeptionelle Ansätze: Zum einen werden ausgewählte Sprachen explizit durch bilinguale Programme in den Kitaalltag integriert und gefördert, zum anderen öffnen sich Kitas für die Mehrsprachigkeit von Kindern und binden verschiedene HS pädagogisch und spielerisch in den Betreuungsalltag ein. Der Besuch solcher Kitas kann außerfamiliär einen häufigen und vielfältigen Sprachgebrauch zur Unterstützung des HS-Erwerbs und -Erhalts bieten und einen zu‐ sätzlichen, erwerbsorientierten Anwendungsbereich der HS in der frühpädagogischen Bildungsinstitution schaffen. In bilingualen Kitas wird am häufigsten das OPOL-Prinzip verfolgt, d. h., eine pädagogische Fachkraft spricht mit den zu betreuenden Kindern die Umgebungs- und Mehrheitssprache Deutsch, die andere pädagogische Fachkraft die ausgewählte andere Sprache. So findet in beiden Sprachen sprachliche Bildung und Förderung statt. Gleichzeitig findet das Konzept des Sprachbads (engl. immersion) Anwendung, bei dem der Erwerb der Sprachen den Prinzipien des Erstsprachenerwerbs folgt: Die Kinder erwerben durch den ihnen zur Verfügung gestellten Input und durch kindgerechte Interaktionen die ausgewählten Sprachen natürlich, d.-h. ohne angeleitetes Lernen. Die hohe Anzahl und Vielfalt von HS in ohnehin sprachlich heterogenen Kitagrup‐ pen erschwert die Umsetzung, jede HS bereits im Vorschulalter institutionell durch bilinguale Programme fördern zu können (vgl. K R ATZMANN E T AL . 2020). Ein guter Weg sind daher mehrsprachigkeitsinkludierende Kitas, die sich im Betreuungsalltag für sprachliche Vielfalt öffnen und einer mehrsprachigen Sprachbildung in verschie‐ denen Sprachen nachgehen, wobei die Sprachen für verschiedene Kinder durchaus unterschiedliche Funktionen einnehmen können (vgl. R E ICH & K R UMM 2013). Kitas verfolgen dann keine bilingualen Programme zur Förderung einer bestimmten Sprache im engen Sinn, sondern den Ansatz einer mehrsprachigen Sprachbildung durch die Berücksichtigung der HS der Kinder. Dafür liegen aus pädagogisch begründeten und begegnungsorientierten Ansätzen verschiedene Handlungsbereiche vor, die die Berücksichtigung von HS im Kitaalltag ermöglichen (vgl. u. a. J AH R E Iẞ 2018, L ÜDTK E -& L ICAND R O 2017, S AL OMON 2022, S O ULTANIAN 2021). Im Fokus stehen Handlungen wie das ritualisierte Aufgreifen der Sprachen (bspw. in Liedern, Reimen, Spielen), der Einbezug der HS in Literacy-Angebote und in die Raumgestaltung, die aktive Unter‐ stützung von Peer-Interaktionen und Gesprächen mehrsprachiger Kinder in ihrer HS und der Einbezug mehrsprachiger Eltern. Voraussetzung für die Umsetzung dieser Handlungsbereiche ist immer das explizite Wissen über Sprachbiografien und Spra‐ chenverwendung der mehrsprachigen Familien (vgl. u.-a. R ITT E R F E LD & L ÜK E 2012). Der „Verein für frühe Mehrsprachigkeit an Kindertageseinrichtungen und Schulen fmks e. V.“ zählt Anfang des Jahres 2024 ca. 1.280 bilinguale Kitas in Deutschland 64 4 Spracherhalt außerhalb der Familie <?page no="66"?> 4 Der Mikrozensus ist eine statistische Erhebung, die jährlich von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder durchgeführt wird. (vgl. F MK S o. J.). Bei insgesamt 60.045 Tageseinrichtungen für Kinder (vgl. S TATI S TI S CH E S B UND E S AMT o. J., Stichtag 01.03.2023) macht das einen Anteil bilingualer Kitas von ca. 2 % aus. Obwohl die Anzahl bilingualer Einrichtungen im Vergleich zum Jahr 2014 um ca. 250 Kitas gestiegen ist (vgl. F MK S 2014), konnte sich ihr prozentualer Anteil am Gesamtangebot aufgrund der allgemein ansteigenden Einrichtungszahl nicht erhöhen. Standorte bilingualer Kitas sind zudem häufig Großstädte (vgl. F MK S o. J., 2014). In Anbetracht der hohen Anzahl mehrsprachig aufwachsender Kinder in Deutschland ist der Anteil explizit HS-fördernder Einrichtungen gering. Gleichzeitig zeigt der Blick auf die in Kitas geförderten Sprachen neben Deutsch eine deutliche Dominanz der späteren curricularen Fremdsprachen Englisch (41 %) und Französisch (30 %), während Minderheitensprachen seltener explizit durch bilinguale Programme in Kitas gefördert werden (u. a. Türkisch 4-%, Russisch 3,5-%, Italienisch 2 %, vgl. F MK S 2014). In Deutschland dienen bilinguale Kitas somit eher der frühen Förderung prestigereicher Fremdsprachen, weniger der gezielten Förderung von HS. Letztere erfolgt bspw. in den kurdisch-deutschen Kitas des Elternvereins Yekmal e. V. (vgl. Y E KMAL o. J., K I R G IZ 2022), die es seit 2014 in Berlin gibt. Eine dort durchgeführte Longitudinalstudie begleitet und untersucht die Sprachentwicklung mehrsprachig aufwachsender Kitakinder sowohl im Kurmancî-Kurdischen als auch im Deutschen (vgl. K I R GIZ 2022). Die Anzahl mehrsprachigkeitsinkludierender Kitas in Deutschland lässt sich nicht erheben. Relevante Untersuchungen geben allerdings Hinweise darauf, dass die Mehrsprachigkeit von Vorschulkindern bislang insgesamt nur wenig Berücksichtung im Kitaalltag findet (vgl. u. a. B R ABAND 2019, J AH R E Iẞ E T AL . 2017, J AH R E Iẞ 2018, Z E TTL 2019). Als positives Einzelbeispiel ist u. a. eine Kita in Potsdam zu nennen, in der 17 verschiedene Sprachen verwendet werden (vgl. T AG E S S P I E G E L vom 20.11.2023). Mit Blick auf den Einbezug unterschiedlicher HS in den Kitas kann im Allgemeinen festgehalten werden, dass „eine positive und wertschätzende Integration von Mehrsprachigkeit in Kitas überwiegend jedoch nicht gegeben“ ist (K R ATZMANN E T AL . 2020: 544). 4.4 Spracherhalt und schulische Phase Die Bedeutung von Schulen als „language maintenance policy actors“ (L IDDIC OAT 2020: 349) kommt ihnen durch die Möglichkeit einer institutionellen Stützung und einer Zertifizierung der in der Familie erworbenen HS zu. Diese Relevanz wird in der internationalen Forschung immer wieder hervorgehoben (P AUWE L S 2016: 147-149, vgl. auch P AU L S R UD 2020, Y AĞMU R 2020) und es werden unterschiedliche Optionen diskutiert, wie Schule zum Erhalt der HS mehrsprachiger Schüler*innen beitragen kann. Verlässliche Zahlen darüber, wie mehrsprachig die Schülerschaft in Deutschland ist und welche Sprachen von den Schüler*innen am häufigsten gesprochen werden, liegen nicht vor. Zum letztgenannten Aspekt hilft ein Blick auf die Daten des M IK R OZ E N S U S4 . 4.4 Spracherhalt und schulische Phase 65 <?page no="67"?> 5 Insgesamt stellte sich heraus, dass bei 72 % der Personen, die einen Elternteil haben, der nicht in Deutschland geboren ist, zu Hause ausschließlich Deutsch benutzt wird. 6 Vgl. für Erfurt A H R E N H O L Z & M A A K (2013), für Freiburg i. Br. D E C K E R & S C H N I T Z E R (2012), für Hamburg F Ü R S T E N A U E T A L . (2003). Für Informationen zur Sprachverteilung in anderen europäischen Großstädten vgl. E X T R A & Y AĞ M U R (2008). So hat dieser im Jahr 2022 für Haushalte, in denen vorwiegend eine andere Sprache als Deutsch zur Kommunikation genutzt wird, folgende Sprachen ermittelt: Türkisch (14-%), Russisch (12-%), Arabisch (10-%), Polnisch (7-%), Englisch (6-%) und Rumänisch (5 %) (D E S TATI S 2022). 5 Diese Zahlen geben allerdings nicht den Anteil an Schüler*innen wieder, die diese Sprache als HS sprechen, sondern beziehen sich auf die gesamte Familie. Gestützt werden sie durch die Ergebnisse früherer quantitativer Erhebungen in unterschiedlichen deutschen Großstädten, 6 die im Rahmen von wissenschaftlichen Studien entstanden sind. So haben bspw. C HL O S TA E T AL . (2003) bei einer Befragung mit Grundschüler*innen der Stadt Essen (in Nordrhein-Westfalen, im Folgenden NRW) folgende Sprachen als HS der Schüler*innen ermittelt: Türkisch (27 %), Arabisch (14 %), Polnisch (12 %), Russisch (5 %), Englisch (3 %), Kurdisch (2,8 %), Italienisch (2,7 %), Spanisch (2,3-%) und Griechisch (2,3-%). Die Studie SPREEG - Sprachenerhebung an Essener Grundschulen (C HL O S TA E T AL . 2003) hatte das Ziel, ein Sprachprofil der Stadt Essen zu erstellen. Die Befragung erreichte 105 von 106 Grundschulen in Essen. Insgesamt 18.871 Grundschüler*in‐ nen (87 % Rücklauf) füllten den kindgerechten Fragebogen aus und beantworteten die Frage nach den von ihnen in der Familie gesprochenen Sprachen. Fast ein Drittel der Schüler*innen waren mehrsprachig. Angegeben wurden neben Deutsch 122 weitere Sprachen. Vor dem Hintergrund sprachlicher Vielfalt stellt sich die Frage, welche Rolle Schule zur Unterstützung des Spracherhalts spielen möchte und welche Möglichkeiten im institutionellen Rahmen vorhanden sind, um Spracherhalt zu fördern (vgl. B AU R 2001 sowie die Beiträge in B AU R & H U F E I S E N 2016). Eine Möglichkeit stellt die Einrichtung von Herkunftssprachlichem Unterricht (HSU) dar (vgl. ausführlich Kap. 11). NRW bietet dabei das umfangreichste Angebot an vom Land bereitsgestelltem HSU in 30 Sprachen an (vgl. B ILDUN G S LAND NRW 2024). Insgesamt besuchen im Schuljahr 2023/ 24 über 106.000 Schüler*innen den HSU, seit dem Schuljahr 2021/ 2022 gibt es ferner die Möglichkeit, zentrale Sprachprüfungen im HSU durchzuführen und sich die Sprachkenntnisse zertifizieren zu lassen. Der Unterricht findet allerdings bei Weitem nicht flächendeckend statt und seine Einrich‐ tung ist von vielen organisatorischen Hürden begleitet. In diesem Zusammenhang konnten L E N G Y E L -& N E UMANN (2017) in der ersten großen Studie zum HSU-Besuch aus Elternsicht am Beispiel Hamburgs herausarbeiten, dass trotz des Wunsches der Eltern 66 4 Spracherhalt außerhalb der Familie <?page no="68"?> viele Kinder den HSU nicht besuchen, da es zu wenig passende Angebote gibt (L E N G Y E L & N E UMANN 2017: 277). Das häufigste Argument der Eltern, warum ihre Kinder den HSU besuchen, ist wiederum der Spracherhalt: „[weil] mein Kind dort die Sprache besser lernt als zuhause“ (ebd.: 278). In der Schule haben mehrsprachige Schüler*innen theoretisch auch die Möglichkeit, zum Spracherhalt in ihrer HS angebotenen Fremdsprachenunterricht zu besuchen (vgl. S CHMITZ & O L F E R T 2013). Dieses Angebot kann zwar attraktiv sein, wenn es in der HS keinen adäquaten HSU an dem jeweiligen Standort gibt. Das Fremdsprachenangebot verfolgt allerdings u. a. das Ziel, Schüler*innen ihnen unbekannte Sprachen zu vermit‐ teln, sodass hier die grundsätzliche Frage nach der Passung dieses Unterrichts für Spre‐ cher*innen von HS zu stellen wäre. Da die Bundesländer das Sprachangebot an Schulen bestimmen, schauen wir exemplarisch zum bevölkerungsreichsten Bundesland NRW mit ca. 2,5 Millionen Schüler*innen, die ca. 5.400 Schulen besuchen (vgl. L AND E S B E T R I E B IT.NRW 2024). NRW sieht für den Fremdsprachenunterricht zwölf Sprachen vor: Englisch (verpflichtend für alle), Chinesisch, Französisch, Alt- und Neugriechisch, Hebräisch, Italienisch, Japanisch, Latein, Niederländisch, Spanisch, Russisch und Tür‐ kisch (vgl. D AVID 2024). Viele der obengenannten, am meisten vertretenen HS der Schüler*innen finden sich in dieser Auflistung nicht wieder. Eine weitere Öffnung und Diversifizierung des gängigen Fremdsprachenkanons an der Regelschule könnte deutlich besser zum Spracherhalt beitragen (vgl. K ÜP P E R S & S CH R O E D E R 2017). Eine weitere Option, wie Schule zum Spracherhalt beitragen könnte, wäre die Einrichtung bilingualer Angebote. Von einem bilingualen Schulangebot wird dann gesprochen, wenn in einer gegenseitigen Immersionssituation (engl. two-way immer‐ sion) Schüler*innen mit verschiedenen Erstsprachen gemeinsam unterrichtet werden, oftmals mit einer Aufteilung von 50: 50 für die zwei involvierten Sprachen, in der Regel eine HS und die Mehrheitssprache (N I E D R I G 2011: 97-101). In Deutschland existieren insgesamt 1.187 Schulen, an denen solch ein bilinguales Angebot vorzufinden ist (vgl. F MK S o. J.). Davon werden 876 Angebote auf Englisch durchgeführt (74 %), mit großem Abstand gefolgt von den Sprachen Spanisch (3 %), Italienisch (2 %), Griechisch (2 %), Russisch (1 %) und Türkisch (1 %). Diese Sprachen decken sich ebenfalls nur bedingt mit den oben ermittelten HS an Schulen und spiegeln deutlich das ihnen zugesprochene Prestige wider (vgl. Kap.-9). T R IU LZI (2023) untersucht die Entwicklung schriftlicher Biliteralität (Erzähl-Fähig‐ keit) von 33 Grundschulkindern aus drei italienisch-deutschen bilingualen Schulen am Übergang in die weiterführende Schule in beiden Sprachen. Insgesamt zeigt sich, dass die analysierten Kinder gute schriftsprachliche Fähigkeiten in der HS Italienisch erwerben und diese ein Jahr nach Ende der Grundschulzeit weiterhin vorhanden sind. Ein weiteres Ergebnis, das durch Interviews mit acht teilnehmenden Kindern ermittelt wurde, ist allerdings das sehr schnelle Aufgeben des erlebten bilingualen Modus des Sprachgebrauchs an der Grundschule zugunsten einer einsprachigen Haltung an der weiterführenden Schule. Das passiert auch deshalb, weil die Kinder an der weiterfüh‐ renden Schule nicht erfahren, dass ihre Kenntnisse in der HS berücksichtigt werden 4.4 Spracherhalt und schulische Phase 67 <?page no="69"?> 7 Bei Konsulatsunterricht handelt es sich streng genommen ebenfalls um ein non-formales Angebot. Dieser Unterricht unterliegt jedoch, was die Auswahl der Lehrkräfte, der Materialien und der Unterrichtsinhalte angeht, vollständig der Verantwortung des jeweiligen Staates, der das Angebot gestaltet. Zu dieser Organisationsform des HSU vgl. auch W O E R F E L E T A L . (2020). - trotz der Tatsache, dass sie immerhin vier Grundschuljahre in einem bilingualen Modell beschult wurden. Insgesamt lässt sich für den schulischen Bereich festhalten, dass bereits gute Konzepte vorliegen, die zum Spracherhalt beitragen könnten, dass aber gleichzeitig diese Konzepte nicht flächendeckend eingesetzt werden (können) und sich nicht an den Sprachen der mehrsprachigen Schülerschaft ausrichten. 4.5 Spracherhalt und non-formale Angebote Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, erhalten Schüler*innen in Deutsch‐ land nur selten die Möglichkeit, ihre Kenntnisse in der HS innerhalb eines schulisch verankerten HSU weiter auszubauen, in der HS Lesen und Schreiben zu lernen und die Sprache auch in einem Unterrichtskontext zu verwenden (vgl. Kap. 5 und 11). Insbesondere für kleinere Sprachgruppen gibt es kaum eine Aussicht auf die Einrichtung herkunftssprachlicher Angebote in der Schule. In solch einer Konstellation bieten von migrantischen Selbstorganisationen ausgerichtete non-formale Bildungs‐ angebote eine Möglichkeit, den Ausbau von familiär erworbenen Sprachkenntnissen in einer schulisch nicht unterstützten Sprache zu fördern. Bei diesen außerschulischen Bildungsangeboten handelt es sich beispielsweise um Elterninitiativen, Kultur-, Bildungs- und religiöse Vereine oder privat organisierte Wochenendschulen (M E HLHO R N & B R EHM E R 2023: 363-364), die sich entweder ausschließlich dem Erhalt und der Förderung einer bestimmten HS bei Kindern und Jugendlichen widmen oder Kurse in einer HS als ein Angebot unter mehreren anderen gestalten. 7 Von migrantischen communities ausgerichtete non-formale Bildungsangebote kön‐ nen von großer Bedeutung für mehrsprachig aufwachsende Kinder und Jugendliche sein, da sie Ermächtigungsprozesse und Spracherhalt fördern, Identitätsarbeit stärken (vgl. Kap.-8) und die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unterstützen können (vgl. P F AF F E T AL . 2019). Die Regelschule greift dabei oftmals zu kurz, da sie an die in der Familie gemachten Erfahrungen, erworbenen Kompetenzen und mitgebrachten Ressourcen in Bezug auf Sprache meist nur dann anknüpft und diese ausbaut, wenn sie die Mehrheitssprache Deutsch betreffen. Erst in den von migrantischen Selbstorganisationen ausgerichteten non-formalen Bildungsangeboten werden zusätzliche, lerner*innenorientierte Kompetenzen und Wissen über das Schul‐ system hinaus vermittelt. Non-formale Angebote können in ihrer Beschaffenheit schulische Angebote in all ihren Facetten spiegeln und sind grundsätzlich wie institutionell angebotener Unterricht strukturiert (vgl. D OHM E N 2016). Sie unterscheiden sich von formalen im 68 4 Spracherhalt außerhalb der Familie <?page no="70"?> 8 Digitale Angebote können dabei sowohl aus Deutschland als auch aus dem Ausland kommen. Sie sind zumeist als Lernanwendungen konzipiert und nur selten in Form von Unterricht und festen Lerngruppen. 9 Vgl. zu diesem Thema jedoch den BMBF-Forschungsverbund BIKuMiG „Bildungsinitiativen für den Erhalt und Transfer von Kulkturkapital in der Migrationsgesellschaft“, der sich in Fallstudien der Erforschung genau solcher Angebote widmet (https: / / www.uni-due.de/ biwi/ bikumig/ index.php ; Aufruf 26.06.2024). Hinblick auf zwei zentrale Dinge. Erstens können in non-formalen Angeboten keine für den formalen Bildungsweg qualifizierenden Bildungsabschlüsse erworben werden. Zweitens unterliegen non-formale Angebote keinerlei formalen Beschränkungen. Der Besuch solcher außerschulischen Bildungsangebote ist ähnlich wie der Besuch von schulischem HSU freiwillig und bedarf eines hohen Maßes an Handlungsbereitschaft und Motivation von Seiten der Teilnehmer*innen bzw. ihrer Eltern. Der Unterricht wird privat organisiert und finanziert, oftmals durch Vereinsbeiträge oder auf Rechnung von freiberuflich arbeitenden Lehrkräften. Durch diese private Organisationsform gibt es keine Einschränkungen im Hinblick auf die Auswahl und Qualifikation der Lehrkräfte. Unterrichten können dort sowohl für den Sprach‐ unterricht (im Herkunftsland) ausgebildete Lehrkräfte als auch engagierte Eltern oder Studierende (vgl. Y O U & L IU 2011). Dieselbe Freiheit gilt ebenso im Hinblick auf Material und Unterrichtsinhalte. Je nach Angebotsstruktur kann der Unterricht entweder digital 8 oder in unterschiedlichen Räumlichkeiten stattfinden: bei größeren Kursen bspw. in speziell für diesen Zweck angemieteten und als Klassenraum einge‐ richteten Räumen eines Vereins, bei privaten Angeboten als Einzelunterricht oder in Kleingruppen bei der Lehrkraft oder der Familie zu Hause, in multifunktionalen Räumen, die für den Unterricht wöchentlich zur Verfügung gestellt werden (z. B. Räume eines Bildungszentrums o. ä.) oder bei Kursen im Zuge religiöser Erziehung in den Räumlichkeiten der jeweiligen Gemeinde. Nähere Informationen dazu, unter welchen Bedingungen diese Unterrichtsangebote tatsächlich stattfinden, wer sie besucht und wer in ihnen unterrichtet, liegen für Deutschland aktuell nicht vor. 9 Gerade deshalb sollten non-formale Angebote stärker in den Blick empirischer Forschungsstudien genommen werden. Verfügbare Studien zu non-formalen Bildungsangeboten migrantischer Selbstorga‐ nisationen stammen zumeist aus den USA, Großbritannien, Kanada und Australien. In diesen Nationalkontexten existieren zahlreiche empirische Untersuchungen, die sich der Erforschung solcher Angebote unter Stichworten wie saturday schools, community schools, complementary schools o. ä. widmen (vgl. C HIN E N & T U C K E R 2005, C R E E S E E T AL . 2006, S HIBATA 2000). In Deutschland steht eine systematische Erfassung der Angebots‐ landschaft non-formaler Bildung in migrantischen Selbstorganisationen insbesondere mit Fokus auf Sprache noch aus und stellt ein zentrales Forschungsdesiderat dar (vgl. P FA F F E T AL . 2019). Dabei ist davon auszugehen, dass bis zu einem Viertel des HSU außerschulisch besucht wird (O L F E R T 2019: 232). Diese Anteile werden für kleinere Sprachgruppen, in denen schulischer HSU wesentlich seltener angeboten wird, sicher‐ lich größer sein. Bisherige empirische Studien beziehen sich indes fast ausschließlich 4.5 Spracherhalt und non-formale Angebote 69 <?page no="71"?> 10 Dies ist ein Evaluationsverfahren für von Hochschulen ausgerichtete Sprachangebote. auf formelle Kontexte wie Schule und vereinzelt Hochschule (vgl. D O B UTOWIT S CH 2020, O L F E R T 2022). Zu HSU in non-formalen Lernsettings sind vor allem die Arbeiten von K R Eẞ & R O E D E R (2022) sowie R O E D E R & K R Eẞ (2023) zum Russischunterricht an Samstagsschulen in Niedersachsen hervorzuheben. Der Großteil an Studien zu non-for‐ malen Bildungsangeboten befasst sich in Deutschland hingegen meist mit Angeboten, die durch Mitglieder oder Institutionen der Mehrheitsgesellschaft organisiert werden, also bspw. mit Kinder-, Jugend- und Schulsozialarbeit, mit dem Freiwilligendienst oder mit Sportvereinen. Angebote migrantischer Selbstorganisationen werden bisher weitestgehend ausgeklammert, was einem „methodischen Nationalismus“ (P F AF F E T AL . 2019: 4) in der empirischen Bildungsforschung geschuldet sein mag. 4.6 Spracherhalt an Universitäten Ähnlich wie an Institutionen der frühkindlichen Bildung und an Schulen gibt es auch an Universitäten unterschiedliche Wege, um Spracherhalt zu fördern. Zum einen sind es dezidierte HSU-Angebote bzw. Angebote, in denen Herkunftssprachensprecher*in‐ nen (HSS) ihre Sprachkenntnisse in unterschiedlichen Unterrichtsformaten ausbauen können. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, in der tertiären Bildung durch den bewussten Einbezug der Mehrsprachigkeit der Studierenden zum Spracherhalt beizu‐ tragen. Allerdings werden diese Möglichkeiten noch recht selten wahrgenommen, da im Zusammenhang mit den Schlagworten Hochschule und Mehrsprachigkeit in erster Linie der Einsatz des Englischen in der universitären Lehre verstanden wird (S CH R O E DL E R 2020: 259). Einige Hochschulen haben auf die Mehrsprachigkeit ihrer Studierenden mit der Einrichtung spezieller Kurse für HSS reagiert (H E TTI G E R 2019: 326-342), in denen diese ihre familiär erworbenen Kenntnisse ausbauen können. Wenige Standorte haben für diese Angebote eine UNIcert®-Akkreditierung 10 (bspw. Hochschule Landshut, O S T E R K O R N 2020), was laut H E TTIG E R (2019: 340) wesentlich zu ihrer Attraktivität beitrage. Die Zertifizierung spielt in diesem Kontext eine wichtige Rolle, denn für Studierende ist der Wunsch nach einer offiziellen Bescheinigung über ihre herkunfts‐ sprachlichen Kenntnisse ein zentraler Grund für den Besuch dieser Angebote (vgl. B EAUD R I E & D U CA R 2005, D O B UT OWIT S CH 2020). Damit verbunden ist die Hoffnung, durch eine Zertifizierung einen Vorteil auf dem Arbeitsmarkt zu erlangen und ihre gesamten sprachlichen Ressourcen im Berufsleben nutzen zu können (vgl. Kap. 9). H E TTI G E R (2019: 340) hebt dabei Lehramtsstudierende sowie Studierende der Erzie‐ hungswissenschaften hervor, die aufgrund ihrer zukünftigen Berufsfelder von einer Validierung ihrer herkunftssprachlichen Kenntnisse besonders profitieren könnten. Zusätzlich zu dieser extrinsischen Motivation bringen die Studierenden aber auch eine hohe intrinsische Motivation für den Besuch herkunftssprachlicher Kurse an universitären Sprachenzentren mit und möchten einen größeren Einblick in die Kultur 70 4 Spracherhalt außerhalb der Familie <?page no="72"?> 11 Vgl. G O L T S E V & O L F E R T (2023) zu allgemeinen Erfahrungen von Studierenden mit mehrsprachigen Methoden in der universitären Lehre. und Geschichte des Herkunftslandes ihrer Eltern oder Großeltern erhalten (vgl. C HO E T AL . 1997). An denjenigen Standorten, die keine spezifischen Angebote für HSS machen, gibt es häufig zumindest die Möglichkeit, in den jeweiligen Sprachen angebotene Fremd‐ sprachenkurse zu besuchen. Das an universitären Sprachenzentren bereitgestellte Fremdsprachenangebot ist dabei wesentlich vielfältiger als der Fremdsprachenkanon an Schulen, sodass oft unterschiedliche Kurse in den größten allochthonen Minderhei‐ tensprachen zu finden sind (vgl. H E TTI G E R 2019). Auch solche Kurse könnten zum Spracherhalt der Studierenden beitragen, allerdings können sie ebenso die Bedürfnisse von HSS verfehlen. O L F E R T (2022) konnte in einer Interviewstudie mit Dozent*innen zeigen, dass diese in als Fremdsprache deklarierten Kursen primär den Spracherwerb der anderen Studierenden im Blick haben und von HSS erwarten, ihre Bedürfnisse diesem Ziel ebenfalls unterzuordnen. Eine adäquate Berücksichtigung des Sprach‐ standes der Studierenden empfinden die Dozent*innen in ihrem Unterricht als die größte Herausforderung. P OT OW S KI (2002) stellte ferner fest, dass die Dozent*innen sich stark vom monolingualen Standard der jeweiligen Sprache leiten lassen (vgl. Kap.-5) und eine defizitorientierte Sichtweise auf die sprachlichen Leistungen der HSS zeigten. Dies macht deutlich, dass entsprechende Professionalisierungsmaßnahmen der Dozent*innen erfolgen müssen, die sie auf das Unterrichten von Mehrsprachigen und auf den Umgang mit sprachlicher Heterogenität vorbereiten, damit Kurse an universitären Sprachenzentren - ob in Form von Fremdsprachenunterricht oder HSU - zum Spracherhalt von Studierenden beitragen können. Ein anderer Weg, zum Spracherhalt mehrsprachiger Studierender an Hochschulen beizutragen, wäre ein aktiver Einbezug ihres gesamten sprachlichen Repertoires in die universitäre Lehre, bspw. durch pädagogisches translanguaging (vgl. C E N OZ & G O R T E R 2017, G ANT E F O R T 2020). Darunter versteht man die Verwendung anderer Sprachen als der jeweiligen Unterrichtssprache in bestimmten Phasen des Unterrichts, so z. B. bei der Erarbeitung, bei Recherchen oder beim Anfertigen von Notizen (B R E DTHAU E R E T AL . 2021: 4-5). M AAH S (2023) zeigt in ihrer Studie allerdings, dass mehrsprachige Lehramtsstudie‐ rende während ihres Studiums zwar (zum ersten Mal) eine Wertschätzung ihrer HS erfahren, dass aber zugleich eine aktive Berücksichtigung dieser in der Lehre nicht stattfindet. 11 So bleiben Ressourcen ungenutzt und die Universität schöpft als Bildungsinstitution ihr Potenzial, zum Spracherhalt ihrer Studierenden beizutragen, nicht aus. 4.6 Spracherhalt an Universitäten 71 <?page no="73"?> 4.7 Offene Fragen Die in diesem Kapitel dargestellten Phasen fokussieren die Lebensspanne von der frühesten Kindheit bis ins frühe Erwachsenenleben und thematisieren dabei relevante Akteur*innen und ihren Beitrag zum Spracherhalt. Die Darstellung ist nicht allumfas‐ send, sondern konzentriert sich auf Bildungsinstitutionen als Spracherhaltsinstanzen. Es lassen sich jedoch auch weitere Bereiche außerhalb der Familie unter dem Aspekt des Spracherhalts untersuchen: Peers, Musik und Popkultur, Medien, Hobbys, Reisen, Literatur und Religion und deren Einfluss auf Spracherhalt. Zudem legt die Forschung ihr Augenmerk bislang auf die früheren Lebensphasen, sodass nur wenig darüber bekannt ist, wie es mit dem Spracherhalt weitergeht, sobald das Individuum die letzte Bildungsinstitution verlässt. Es sind uns keine Studien oder Erkenntnisse dazu bekannt, was mit HS im hohen Alter geschieht und was zum Spracherhalt in dieser Lebensphase beiträgt. Spracherhalt könnte jedoch durchaus bis ins hohe Alter für Mehrsprachige ein relevantes Thema bleiben, das nicht unwesentlich zur Steigerung der Lebensqualität beiträgt (vgl. P OA R CH 2020). Ferner erfahren noch nicht alle Bildungsorte und -institu‐ tionen eine ausreichende Berücksichtigung in der Forschung, was zum einen an der unzureichenden Studienlage zu non-formalen Angeboten sichtbar wird (Kap. 4.5), zum anderen im Bereich der beruflichen Bildung, die einen blinden Fleck in der HS- und Spracherhaltsforschung darstellt (vgl. S E TT E LM E Y E R 2020). Abschließend stellt sich die Frage, welche Art von Ausbildung Personen (pädagogi‐ sche Fachkräfte, Lehrkräfte, Dozent*innen an Universitäten) benötigen, um mit der sprachlichen Vielfalt an unterschiedlichen Bildungsinstitutionen angemessen umge‐ hen zu können. Diese Frage ist von besonderer Relevanz für pädagogische Fachkräfte in der frühen Bildung (vgl. D I V E NANZIO erscheint) und Lehrkräfte an Regelschulen (vgl. C ANTO N E 2020). Neben der Vorbereitung von Fremdsprachenstudierenden auf die Arbeit mit HS im eigenen Unterricht (vgl. R E IMANN E T AL . 2018, D I V E NANZIO E T AL . 2022) gibt es die Option, alle angehenden Lehrkräfte verpflichtend für das Thema zu sensibilisieren (vgl. C ANT ON E E T AL . 2022). Eine vertiefte Vorbereitung für einen schulisch unterstützten Erhalt von HS (vgl. Kap. 11) findet derzeit an kaum einem universitären Standort statt (vgl. jedoch C ANTO N E E T AL . erscheint) 4.8 Aufgaben 1. Der Berliner Interdisziplinäre Verbund für Mehrsprachigkeit BIVEM gibt eine Flyer-Reihe zu Mehrsprachigkeit und mehrsprachiger Erziehung in unterschiedli‐ chen Sprachen heraus (https: / / bivem.leibniz-zas.de/ de/ service-transfer/ flyerreihe / ). Informieren Sie sich auf der Homepage über die Inhalte dieser Flyer. Würden Sie die Flyer mehrsprachigen Eltern empfehlen, wenn diese Sie um einen Rat zu Mehrsprachigkeit bitten würden? 2. Lesen Sie folgenden Ausschnitt aus einem Interview mit Eltern, die ihre Kinder mit Ukrainisch, Arabisch und Deutsch aufwachsen lassen. Diskutieren Sie anhand des 72 4 Spracherhalt außerhalb der Familie <?page no="74"?> Ausschnitts, welchen Einfluss Ratschläge von bestimmten Personen auf Spracher‐ halt in der Familie haben könnten. Mutter: Unser Sohn kam dann zur Tagesmutter. Und da wurden wir vielleicht zum ersten Mal damit konfrontiert, dass uns gesagt wurde, dass wir zu Hause möglichst Deutsch sprechen sollten mit dem Kind. Weil für die Tagesmutter sei er das erste ausländische Kind und sie wüsste nicht, warum… Also bei den anderen Kindern, da würde die Sprachproduktion schneller kommen. Bei ihm hat es ein bisschen länger gedauert. Und sie hat sich da Sorgen gemacht. Und das hat sie dann an uns so weitergegeben. Wir sollten lieber Deutsch mit dem Kind sprechen. Und es gab tatsächlich dann ein paar Phasen, da haben wir versucht, Deutsch mit ihm zu sprechen. (eigene, unveröffentlichte Daten) 3. Recherchieren Sie, welche Bildungsangebote von unterschiedlichen migrantischen Selbstorganisationen an dem Standort Ihrer Universität ausgerichtet werden. In welchen Sprachen werden die meisten Angebote gemacht und welche Unterrichts‐ formen kommen am häufigsten vor? Diskutieren Sie, woran das liegen könnte. 4. Reflektieren Sie, ob (und wenn ja, wie) individuelle Mehrsprachigkeit, sei es Ihre eigene oder die Ihrer Kommiliton*innen, in die universitäre Lehre im Laufe Ihres bisherigen Studiums bewusst einbezogen und berücksichtigt wurde. Wenn nein, fallen Ihnen Gelegenheiten ein, in denen das hätte passieren können? 5. Lesen Sie einen Beitrag aus einem der Themenhefte „Unterricht in der Herkunfts‐ sprache“ (2022-2) (open access unter: https: / / zif.tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ iss ue/ 85/ info/ ) oder „Mehrsprachigkeit und Spracherhalt im Kontext von schulischen, außerschulischen und familiären Lernorten“ (2023-2) (open access unter: https: / / zif .tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ issue/ 91/ info/ ) in der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Fassen Sie den Beitrag in wenigen Sätzen zusammen und diskutieren Sie seine Ergebnisse vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel dargestellten Zusammenhänge. 4.9 Literaturverzeichnis A H R E N H O L Z , Bernt, M AA K , Diana (2013): Zur Situation von SchülerInnen nicht-deutscher Herkunfts‐ sprache in Thüringen unter besonderer Berücksichtigung von Seiteneinsteigern. Abschlussbericht zum Projekt „Mehrsprachigkeit an Thüringer Schulen (MaTS)“. Jena. B A L L W E G , Sandra (2022): Anticipating Expectations. 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Zugleich können dieselben vermeintlich nicht-normkonformen Konstruktionen unterschiedlich bewertet werden in Abhängigkeit davon, ob ein- oder mehrsprachig aufgewachsene Schüler*innen sie äußern. Solch ein Abgleich des sprachlichen Outputs Mehrsprachiger mit einer imaginierten Norm in der Mehrheitswie in der Minderheitensprache findet auch in wissenschaftlichen Studien statt und kann somit unsere Annahmen über die sprachlichen Fähigkeiten Mehrsprachiger leiten. Die kritische Auseinandersetzung mit unserem Verständnis von sprachlicher Norm und dem, was wir als sprachlichen Standard ansehen, ist das Ziel dieses Kapitels. 5.2 Definitionen Um uns dem formulierten Ziel des Kapitels zu nähern, soll zunächst geklärt werden, welche unterschiedlichen Arten von sprachlichen Normen es gibt und wie sie jeweils unsere Vorstellung von angemessenem und „richtigem“ Sprachgebrauch prägen. 5.2.1 Usus und Kodex In jeder Sprache lässt sich eine systemgegebene Varianz beobachten (B R E D E L 2007: 130-133). Diese umfasst alles, was in einer Sprache formal möglich wäre. So wäre es beispielsweise im Deutschen durchaus möglich, das Adjektiv *lichtig  1 von Licht gemäß der Bildungsweise Wind - windig, Sonne - sonnig usw. zu bilden. Die Form *lichtig wird von den Sprecher*innen allerdings nicht verwendet und gehört somit nicht zur ersten <?page no="83"?> 2 Der Duden schreibt hier die Verwendung von alle vor. Art von Norm, zu dem Usus (= Gebrauch) der Sprachgemeinschaft. *Lichtig kann also als nicht-normgerecht bezeichnet werden. Eine weitere Norm kann präskriptiv durch einen Kodex (= Regelsammlung) vorgegeben werden. Ein Kodex ist ein autoritatives Nachschlagewerk für den korrekten Gebrauch einer Sprache. In Deutschland genießt beispielsweise der Duden ein hohes Ansehen als ein solches Nachschlagewerk (u. a. mit dem bezeichnenden Titel „Richtiges und gutes Deutsch“), obwohl er von keinem offiziellen Organ (bspw. Kultusministerkonferenz o. ä.) bereitgestellt und für bindend erklärt, sondern von einem wirtschaftlichen Verlagsunternehmen publiziert wird. Solch ein Kodex greift immer dann ein, wenn durch das System mehrere Varianten einer Konstruktion bereitgestellt werden (zum Begriff Variante vgl. E L S PAẞ 2023: 19) und eine dieser sprachlichen Formen als die beste und „richtige“ bestimmt wird. Diese zweitgenannte Art von sprachlicher Norm spielt eine besondere Rolle in der Schriftlichkeit bzw. im formellen Register (vgl. dazu Kap.-5.3). In den meisten Fällen stimmt diese kodifizierte Form mit derjenigen überein, die auch dem Usus der Sprachgemeinschaft entspricht (vgl. Abb. 5.1). Es gibt jedoch sowohl Fälle, in denen im Usus gebräuchliche Formen vom Kodex nicht akzeptiert werden, als auch Fälle, in denen der Kodex Formen vorgibt, die gemeinhin von den Sprecher*innen nicht verwendet werden. Abb. 5.1: Das Verhältnis von Usus und Kodex im Sprachsystem Ein Beispiel für diese Diskrepanz zwischen Kodex und Usus im Deutschen ist die attributive Verwendung des Adjektivs ganz mit Substantiven im Plural, etwa in die ganzen Menschen. Diese Konstruktion ist im alltäglichen Sprachgebrauch (= Usus) sehr oft anzutreffen und dabei recht unauffällig, wird jedoch vom Duden (= Kodex) als „nicht korrekt“ klassifiziert. 2 Ähnlich sieht es mit dem Gebrauch des Dativs nach der Präposition während aus (während dem Mittagessen). Auch diese Konstruktion 82 5 Sprachlicher Standard und sprachliche Norm <?page no="84"?> 3 Vgl. auch F R E Y W A L D (2023: 178-186) zu Nebensatzkonjunktionen als verknüpfende Elemente von Hauptsätzen. 4 Vgl. in diesem Zusammenhang auch B R I Z IĆ (2023: 116) zu Nutzen und Kritik des Begriffs Standard‐ sprache und die im Vordergrund stehende „ideologische Bewertung der Standardsprache als ‚einzig legitime Sprache‘“. entspricht durchaus dem Usus vieler Sprecher*innen, wird im Duden hingegen als „umgangssprachlich“ und somit als nicht-normgerecht bewertet, allerdings auch nicht als falsch oder ungrammatisch. Ebenso verhält es sich mit dem Phänomen der weil-Sätze mit Verbzweitstellung in informellen Kontexten (Ich kann morgen nicht zum Stammtisch kommen, weil mein Schwager feiert Geburtstag), die bereits seit den 1990er Jahren Gegenstand germanistischer Arbeiten sind (vgl. u.-a. G ÜNTHN E R 1993). 3 Viele weitere sprachliche Formen, die nicht kodifiziert sind und sich dennoch im Rahmen des Usus wiederfinden, lassen sich bei Dialektsprecher*innen beobachten. So finden sich beispielsweise im Gebrauch des Alemannischen, einer oberdeutschen Varietät, die u. a. in Baden-Württemberg und Bayern gesprochen wird, die Dativ-Pos‐ sessorkonstruktion zur Besitzangabe (die Ingrid ihr Haus) oder das ohne räumlichen Bezug wie ein Relativpronomen verwendete wo (der Mann, wo mit dem Hund spazie‐ ren geht) (vgl. B R ANDN E R 2015). Diese und weitere dialektale Formen werden durch einen Kodex wie den Duden ebenfalls als „nicht-standardsprachlich“ und somit als nicht-normgerecht bewertet, obwohl sie von den Sprecher*innen in ihrer alltäglichen Sprachpraxis verwendet werden und somit zu ihrem Usus gehören. An dieser Stelle stellt sich somit die Frage, was genau unter sprachlichem Standard zu verstehen ist und wodurch sich eine Standardsprache auszeichnet. 5.2.2 Sprachlicher Standard Die Definition von sprachlichem Standard ist sehr eng an das Verständnis von sprachlicher Norm im Sinne einer kodifizierten und damit präskriptiv als korrekt festgelegten Varietät geknüpft. 4 Standardsprachen und -varietäten charakterisie‐ ren sich insbesondere durch drei Eigenschaften, nämlich Kodifizierung, Vermittlung und Status (A MMO N 2005: 32, vgl. Abb. 5.2). Kodifizierung meint, dass es für eine Standardsprache oder -varietät autoritative Nachschlagewerke (= Kodizes) für ihren korrekten Gebrauch gibt (bspw. Wörterbücher, Grammatiken etc.). Die Eigenschaft der Vermittlung bezieht sich darauf, dass Standardsprachen und -varietäten formell gelehrt werden und ihre Merkmale selbst Gegenstand von Unterricht sind, insbeson‐ dere in Bildungsinstitutionen wie Schulen. Standardsprachen und -varietäten besitzen außerdem amtlichen Status, d. h., sie sind die offizielle Sprache eines Staates. Durch diesen Status genießen sie automatisch hohes Prestige in der Gesellschaft (vgl. Kap. 9). 5.2 Definitionen 83 <?page no="85"?> 5 Zu Sprachbewertungen und Sprachideologien vgl. E L S P Aẞ (2023: 53-54). Abb. 5.2: Charakteristika von Standardsprachen und -varietäten (vgl. A M M O N 2005) Standardsprachen und -varietäten orientieren sich immer stärker an einer kodifizier‐ ten (Kodex) denn an einer sprachgebrauchsbasierten (Usus) Norm. Die Einhaltung dieser kodifizierten Norm wird von Sprachnormautoritäten kontrolliert und im Falle eines Nichtbefolgens sanktioniert. Sprachnormautoritäten sind solche Instanzen, die von anderen verlangen können, kodifizierte sprachliche Regeln einzuhalten und zu befolgen, beispielsweise Lehrkräfte in Schulen (A MMO N 2005: 32). Ihre Position als Sprachnormautoritäten ist gesamtgesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Daher ist es für Lehrkräfte wichtig, sich der unterschiedlichen sprachlichen Normen und des kontextabhängigen Umgangs mit ihnen bewusst zu sein. Es ist diese Differenzierung zwischen den beiden Normen des Usus und Kodex, die uns zu einem erweiterten Verständnis dessen verhilft, was wir gewöhnlich als sprach‐ lich falsch bzw. ungrammatisch ansehen. 5 So gehören beispielsweise Konstruktionen wie *Grammatik gelernt bei Yoda du hast aus dem berühmten Internet-Meme nicht zum Usus kompetenter Sprecher*innen und stellen daher einen klaren Verstoß gegen diese Norm dar. Sie sind als sprachlich falsch und ungrammatisch im eigentlichen Sinne markiert. Zuvor diskutierte Konstruktionen wie die ganzen Menschen, während dem Mittagessen oder die Ingrid ihr Haus stellen hingegen ausschließlich Verstöße gegen die kodifizierte Norm dar, nicht gegen die des Sprachgebrauchs. Sie können von kompetenten Sprecher*innen verwendet werden und sind lediglich als nicht-stan‐ dardsprachlich markiert, jedoch nicht falsch. An diesem Punkt stellen sich folgende Fragen, die im nächsten Abschnitt insbesondere mit Blick auf einen mehrsprachigen Erwerb diskutiert werden sollen: Wann ist welche sprachliche Norm angemessen und somit ihr Einhalten erwartbar? Damit zusammenhängend: Wie können die jeweiligen sprachlichen Normen erworben werden? Und nicht zuletzt: Wer gilt als kompetente(r) Sprecher*in einer Sprache und wer wird als solche(r) wahrgenommen? 84 5 Sprachlicher Standard und sprachliche Norm <?page no="86"?> 6 Hiermit sind unterschiedliche Domänen des sozialen und sprachlichen Handelns gemeint (vgl. M A A S 2010): Wir sprechen anders, wenn wir uns mit unseren Freunden unterhalten oder wenn wir eine Prüfung an einer Universität ablegen. 5.3 Sprachliche Norm und Mehrsprachigkeit 5.3.1 Sprachliche Fähigkeiten Mehrsprachiger in der Mehrheitssprache Wie in 5.2 beschrieben legt die Kodifizierung den korrekten Gebrauch einer Stan‐ dardsprache und -varietät fest. Die Einhaltung dieser Norm wird im Allgemeinen in Situationen des formellen Sprachgebrauchs (typischerweise in der Schriftlichkeit) erwartet. Im mündlichen Sprachgebrauch in informellen Kontexten orientieren wir uns hingegen wesentlich stärker an der Norm des Usus. Hierbei ist deutlich mehr Varianz in den Konstruktionen zu finden (vgl. Beispiele in 5.2). Solche Konstruktio‐ nen gelten gemeinhin als akzeptabel, wenn sie von monolingual aufgewachsenen Sprecher*innen geäußert werden, da sie auf dialektale oder soziolektale Einflüsse, auf Registerdifferenzen 6 oder auf unterschiedliche semantische und pragmatische Lesarten zurückgeführt werden. Wenn allerdings identische Konstruktionen von mehrsprachig aufgewachsenen Personen verwendet werden, dann kann es vorkommen, dass sie als grammatischer Fehler in der Mehrheitssprache gewertet werden (z. B. aufgrund vermeintlicher Transfereffekte aus der Minderheitensprache; vgl. zu Sprachtransfer Kap.-6.3.2). Diese Differenzierung und unterschiedliche Normerwartung in der Gesellschaft, in Bildungsinstitutionen und auch in wissenschaftlichen Arbeiten kann Mehrspra‐ chige in zweifacher Hinsicht benachteiligen: Nicht nur werden ihre sprachlichen Fähigkeiten als defizitär im Vergleich zu monolingual aufgewachsenen Sprecher*innen der Mehrheitssprache betrachtet, sondern man spricht ihnen auch die Kompetenz ab, durch ebensolche Konstruktionen gleichermaßen semantische und pragmatische Unterschiede ausdrücken zu wollen, dialektale Einflüsse zu markieren oder ihren Sprachgebrauch registersensitiv auszurichten. Mehrsprachige Personen können sich - ebenso wie einsprachige - in ihrer Sprachverwendung in der Mehrheitssprache an der Norm des Usus orientieren, was in der Bewertung ihrer sprachlichen Leistungen entsprechend berücksichtigt werden sollte. Gleichzeitg muss bedacht werden, unter welchen Bedingungen die Mehrheitssprache erworben oder gelernt wird oder wurde. Ab den 1960er Jahren sind sog. Gastarbeiter*innen aufgrund von Anwerbeabkom‐ men als Erwachsene nach Deutschland immigriert (vgl. Kap. 1) und haben die Mehrheitssprache Deutsch ungesteuert, also ohne Sprachunterricht oder sonstige Vermittlung erworben. Der Input im Zweitspracherwerb (vgl. Kap. 2) stammte somit aus dem informellen, mündlichen Sprachgebrauch, der sich an der Norm des Usus ori‐ entiert (vgl. zum Deutscherwerb dieser Personengruppen insbesondere die ZISA-Studie von C LAH S E N E T AL . 1983). Kontakt zur kodifizierten Norm blieb meistens aus. Kinder der immigrierten Personen hingegen waren in ihrem Deutscherwerb - wie auch 5.3 Sprachliche Norm und Mehrsprachigkeit 85 <?page no="87"?> einsprachig deutsch aufwachsende Kinder - sowohl der Norm des Usus im alltäglichen Sprachgebrauch als auch der kodifizierten Norm im Schulunterricht ausgesetzt, sodass ihre erworbenen sprachlichen Fähigkeiten sowohl den sprachlichen Usus als auch den Kodex widerspiegeln. Die heutige Erwerbssituation stellt sich anders dar: Erwachsene, die nach Deutsch‐ land immigrieren, werden verpflichtet bzw. erhalten die Möglichkeit, Deutschkurse zu absolvieren (u. a. „Integrationskurse“, vgl. BAMF o. J. ), Kinder und Jugendliche werden neben dem Regelunterricht an Schulen zusätzlich in eingerichteten Fördermaßnahmen und additiven Förderangeboten (u. a. „Willkommensklassen“, „Internationale Vorberei‐ tungsklassen“, „DaZ-Klassen“) gezielt an die deutsche Standardsprache herangeführt. Der institutionelle Erwerb der Mehrheitssprache ergänzt die ungesteuert erworbenen Formen durch gesteuert erworbene formelle Register und entsprechende sprachliche Formen, die diese Register artikulieren. Dies soll von Beginn an gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation an der Mehrheitsgesellschaft ermöglichen. Gleichzeitig gehen mit der gesteuerten Vermittlung höhere gesellschaftliche und institutionelle Erwartungen an die sprachlichen Fähigkeiten in der Mehrheitssprache einher. 5.3.2 Sprachliche Fähigkeiten Mehrsprachiger in der Herkunftssprache Die Unterscheidung in Kodex und Usus spielt auch eine große Rolle, wenn es um die Bewertung von Sprachkenntnissen Mehrsprachiger in ihrer Herkunftssprache (HS) geht. So wurden (und werden z. T. bis heute) bilinguale Personen lange Zeit als zwei Monolinguale in einer Person betrachtet (vgl. P O LIN S K Y 2022, vgl. jedoch u. a. G R O S J EAN 1989). Dies impliziert entsprechend hohe Erwartungen an ihre Fähigkeiten in all ihren Sprachen. Diese Erwartungen können zwar von manchen Sprecher*innen durchaus erfüllt werden, sie können allerdings auch unangemessen sein - insbesondere mit Blick auf die HS. Dies liegt an anderen Erwerbs- und Inputbedingungen im Vergleich zu Monolingualen (vgl. Kap. 3), denn HS werden als Minderheitensprachen in einer Mehrheitsgesellschaft überwiegend ungesteuert und im alltäglichen Sprachgebrauch erworben und orientieren sich somit wesentlich stärker am Usus als am Kodex. Zur kodifizierten Form ihrer HS haben Herkunftssprachensprecher*innen (HSS) oftmals keinen ausreichenden Zugang (O L F E R T 2019: 74). Dieser Umstand lässt den stetigen Vergleich ihrer sprachlichen Fähigkeiten mit denen monolingualer Sprecher*innen nicht zu. Letztere haben schließlich zusätzlich zur ungesteuert erworbenen und im Alltag gesprochenen Form der Sprache (Usus) auch uneingeschränkten und unterrichtlich vermittelten Zugang zur kodifizierten Norm (Kodex) und haben so die Möglichkeit, auch die Standardsprache zu erwerben. Trotz dieser unterschied‐ lich gearteten Erwerbs- und Inputbedingungen stellen monolinguale Sprecher*innen und deren Sprachfähigkeiten jedoch nach wie vor die Vergleichsfolie für HSS dar, beispielsweise in zahlreichen empirischen Studien, die mit Messungen sprachlicher Fähigkeiten arbeiten (vgl. Kap. 6.3), oder in theoretischen Konzeptionalisierungen 86 5 Sprachlicher Standard und sprachliche Norm <?page no="88"?> 7 Mit OPOL ist die Konstellation one person-one language gemeint (vgl. Kap.-3). ihres mehrsprachigen Erwerbs. So identifizieren etwa P O LIN S K Y & K AGAN (2007) drei grundlegende Typen von HSS: akrolektale, mesolektale und basilektale (vgl. dazu auch B R E HM E R & M E HLHO R N 2018: 32). Dabei weichen in ihrer Einordnung basilektale HSS in den sprachlichen Fähigkeiten am stärksten und akrolektale HSS gar nicht von monolingualen Sprecher*innen ab. Bereits diese Typisierung verdeutlicht, dass den sprachlichen Fähigkeiten von Mehrsprachigen häufig sprachliche Normvorstellungen zugrunde liegen, die mit dem monolingualen Spracherwerb der jeweiligen Sprache einhergehen. Auch Untersuchungen zum simultan mehrsprachigen Erwerb, d. h. dem gleichzeitigen Erwerb mehrerer Sprachen ab Geburt (vgl. Kap. 2), vergleichen die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder im Erwerbsprozess stets mit monolingual aufwachsenden Kindern und stützen sich insbesondere auf Kinder in OPOL-Konstel‐ lationen 7 (vgl. u. a. zum deutsch-romanischen Erwerb H AU S E R -G RÜDL E T AL . 2010, M ÜLL E R E T AL . 2002, 2023). Gleichzeitig untersuchen Forschungsarbeiten noch immer vornehmlich Aspekte wie Sprachdominanz und Spracheneinfluss (vgl. u. a. D I J K E T AL . 2022), sodass die Vorstellung aufrechterhalten wird, ein gleichwertiger Erwerb der verschiedenen Erstsprachen bei mehrsprachigen Kindern sei per se auszuschließen. In der nationalen und internationalen Herkunftssprachenforschung, die sich vor‐ nehmlich mit jugendlichen und erwachsenen Sprecher*innen beschäftigt, werden sprachliche Kenntnisse von HSS ebenfalls primär im Vergleich zu einsprachig aufge‐ wachsenen Personen der jeweiligen Sprache betrachtet, eine weitere Vergleichsgrund‐ lage bilden allerdings auch fortgeschrittene Zweit- und Fremdsprachenlerner*innen (vgl. u. a. D I V E NANZIO E T AL . 2012, 2016, M O NT R U L 2004, M O NT R UL & B OWL E S 2009, S CHMITZ E T AL . 2016, S ILVA -C O R VALÁN 1994, S O R AC E 2003, T S IM P LI E T AL . 2003, 2004). Fremdsprachenlerner*innen werden in manchen Studien deshalb als sog. Kontroll‐ gruppe herangezogen, weil sie einige Erwerbsmerkmale mit HSS teilen (O L F E R T 2019: 74-75). Genannt wird hier vor allem der Erwerb der jeweiligen Sprache in einer Sprach‐ kontaktsituation mit der Mehrheitssprache, die zahlreiche Transfererscheinungen hervorruft (M ONT R U L 2008: 217, zu Transfer vgl. Kap.-6.3.2). Auch die eingeschränkten Möglichkeiten des Sprachgebrauchs werden als eine Gemeinsamkeit dargestellt und damit zusammenhängend ein Input, der nicht das volle Spektrum an sprachlichen Strukturen der jeweiligen Sprache enthält (M O NT R U L 2012: 11-12). Dass dieser Umstand als eine Gemeinsamkeit der beiden Spracherwerbstypen identifiziert wird, stellt in gewisser Weise ein Paradoxon dar. Denn obgleich die beiden Sprecher*innengruppen eingeschränkten Input in der jeweiligen Sprache erhalten, ist die Struktur des Inputs konträr: Während HSS einen primär an der Norm des Usus orientierten Input erhalten, bekommen Fremdsprachenlerner*innen im unterrichtlichen Setting einen vorwiegend am Kodex ausgerichteten Input (vgl. O L F E R T 2022). Auch hier werden die anders gearteten Erwerbsbedingungen von HSS also nicht hinreichend berücksichtigt und es wird ein Erwartungsmaßstab an ihre sprachlichen Fähigkeiten angelegt, den sie oftmals nicht erfüllen können. 5.3 Sprachliche Norm und Mehrsprachigkeit 87 <?page no="89"?> Diese Vergleichsbasis verdeutlicht erneut, welches Verständnis von HSS in der Forschung (wie auch in der Gesellschaft) überwiegend vorherrscht: Sie seien keine legitimen Sprecher*innen, d.-h. keine native speakers ihrer HS. 5.3.3 Herkunftssprachensprecher*innen und das native speaker-Konzept In der Herkunftssprachenforschung wurde lange diskutiert, ob HSS als sog. native speakers (vgl. Kap. 2), also als Mutterbzw. Erstsprachler*innen ihrer HS betrachtet werden können (vgl. P O LIN S K Y 2022). Der oben bereits kritisierte Vergleich mit mo‐ nolingualen Sprecher*innen und mit Fremdsprachenlerner*innen verdeutlicht, dass sie definitorisch zunächst nicht als solche eingeordnet wurden. Man ging (und geht oftmals noch heute) davon aus, dass HSS auf der einen Seite keine native speakers, auf der anderen Seite dennoch anders als Fremdsprachenlerner*innen zu behandeln seien (vgl. ebd.). Um die Unterschiede zwischen HSS und Monolingualen, aber auch zwischen HSS und Fremdsprachenlerner*innen im Hinblick auf den Sprachgebrauch und ihr sprachliches Wissen zu erklären, entwickelten sich in der internationalen Herkunftssprachenforschung zunächst zwei theoretische Hauptansätze (vgl. dazu u. a. S CHMITZ E T AL . 2016, Tab. 5.1). - Sprachattrition/ Unvollständiger Spracherwerb Sprachliche Variationen/ Sprachwandelprozesse Anfänglich insbeson‐ dere vertreten von: D O M Í N G U E Z 2009, M O N T R U L 2004, S O R A C E 2003, T S I M P L I E T A L . 2004 P I R E S & R O T H MA N 2009, P U T N A M & S ÁN C H E Z 2013 Hauptannahme: Sprachverlusteffekte in einer Sprecher*innengeneration füh‐ ren zu einem unvollständigen Erwerb in nachfolgenden Spre‐ cher*innengenerationen. HSS erwerben eine Kontaktvarie‐ tät der Minderheitensprache, die sich vom sprachlichen Standard unterscheiden kann. Tab. 5.1: Theoretische Ansätze in der Herkunftssprachenforschung Der erste theoretische Ansatz geht von Sprachattrition (engl. language loss, language attrition) in der ersten Migrationsgeneration und einem folgenden unvollständigen Spracherwerb (engl. incomplete acquisition) in der zweiten und in weiteren Spre‐ cher*innengenerationen aus. Sprachattrition bezieht sich dabei auf erodierte Merkmale der Erstsprache nach ihrem vollständigen Erwerb und einer Phase der Stabilität im Sprachgebrauch und in der Sprachkompetenz (vgl. S O R AC E 2003, T S IM P LI E T AL . 2004). Dies bedeutet, Menschen erwerben ihre Erstsprache vollständig, verlieren aber bereits erworbene sprachliche Fähigkeiten durch sich ändernde Lebenssituationen (bspw. Migration und Erwerb einer Zweitsprache), die auch ihren Sprachgebrauch beeinflussen (vgl. dazu ausführlicher Kap. 6.3.1). Unvollständiger Spracherwerb bezieht 88 5 Sprachlicher Standard und sprachliche Norm <?page no="90"?> sich in diesem Ansatz hingegen auf den Erwerb in Nachfolgegenerationen in der Kindheit. Dabei sollen Kinder nicht das vollständige System ihrer HS erwerben oder aufrechterhalten können, weil der ihnen zur Verfügung stehende Input (meist durch die Eltern, Bezugspersonen und Familien) aufgrund der oben genannten Sprachverlustef‐ fekte nicht ausreichend sei (vgl. D OM Í N G U E Z 2009, M ONT R U L 2004, 2010). Im Hinblick auf den Erhalt von HS bekräftigt dieser Ansatz - vielleicht ungewollt - die notwendige Beschulung späterer Sprecher*innengenerationen, um sprachliche Fähigkeiten in den HS aufrechtzuerhalten, weiter auszubauen und zu sichern (vgl. O L F E R T 2023 sowie Kap. 4 und 11). Der Ansatz wurde in der internationalen und nationalen Forschung stark kritisiert, da er die unterschiedlichen Ausgangs- und Erwerbssituationen der an dem Prozess beteiligten Generationen (vgl. Kap. 2) nicht hinreichend berücksich‐ tigt. Zugrunde liegende Forschungsarbeiten zu angenommener Sprachattrition und unvollständigem Spracherwerb konzentrierten sich lange auf den englischsprachigen Raum, insbesondere auf die USA. Untersuchte Sprachkonstellationen wiesen somit fast ausschließlich Englisch als dominante Umgebungssprache auf. Soziolinguistische Faktoren, die Einfluss auf die sprachlichen Kenntnisse in den HS nehmen können (vgl. Kap.-7), wurden bei der Interpretation der Ergebnisse zudem nur wenig berück‐ sichtigt. Dies führt auch dazu, dass Studien nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Gleichzeitig lassen sich nicht alle sprachlichen Abweichungen von mehrsprachigen Sprecher*innen insbesondere der ersten Generation als Sprachattrition werten (vgl. Kap. 6). A N S TATT (2011) sowie W I E S E E T AL . (2022) weisen beispielsweise darauf hin, dass auch monolinguale Sprecher*innen Variation im Sprachgebrauch zeigen und insbesondere sprachliche Normen des Usus kein „starres Gebilde“ sind, sondern unter anderem varietätenbedingten Unterschieden, Sprachwandel und expressiven Bedürf‐ nissen unterliegen. Dieselbe Flexibilität sollte entsprechend auch Sprecher*innen von Minderheitensprachen eingeräumt werden, ohne dass gleich vom Abbau sprachlicher Fähigkeiten zu sprechen ist (A N S TATT 2011: 14). Grundsätzlich stellt sich aus heutiger Sicht zudem die Frage, ob die Annahme eines unvollständigen Erwerbs aufgrund von einem vermeintlich unzureichendem Input noch haltbar ist. Durch die zunehmende Digitalisierung steht HSS vermehrt die Möglichkeit zur Verfügung, sprachlichen Input sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form jenseits der sprachlichen Fähigkeiten von Familienmitgliedern zu bekommen und für den Erwerb zu nutzen. So wäre es sehr wahrscheinlich, dass Forschungsarbeiten, die in den 2000er Jahren Sprachattrition und unvollständigen Spracherwerb angenommen und festgestellt haben (vgl. Kap.-6.3.1), in einer heutigen Replikation zu anderen Ergebnissen kämen, da HSS und ihre Familien beim Erwerb und Erhalt der HS inzwischen nicht mehr zwingend auf sich allein gestellt sind (vgl. E I S E N CHLA S E T AL . 2016, L ITTL E 2020). Digitale Medien, insbesondere auch deren Unterstützung beim Aufrechterhalten des (sprachlichen) Kontakts zu Verwandten und Bekannten im Herkunftsland, eröffnen HSS hier andere/ bessere Möglichkeiten als noch vor ca. 20 Jahren (vgl. Kap.-3). 5.3 Sprachliche Norm und Mehrsprachigkeit 89 <?page no="91"?> 8 Kap. 6 geht genauer auf Sprachvariations- und Wandelprozesse ein und gibt Beispiele für sprachliche Variationen in verschiedenen Sprachen. Unter Berücksichtigung der Migrations- und Sprachkontaktsituation und der diver‐ gierenden Erwerbsbedingungen bei HSS geht der zweite theoretische Ansatz von sprachlichen Variations- und Wandelprozessen aus. Demnach erwerben HSS nicht eine normierte (Standard-)Sprache, wie sie als Mehrheitssprache in einem Land gesprochen wird, sondern eine Kontaktvarietät. Das heißt beispielsweise, dass Türkischspre‐ cher*innen in Deutschland eine Form des Türkischen erwerben, die vom Türkischen in der Türkei verschieden ist und die u. a. durch Sprachkontakt zum Deutschen geprägt ist. Kontaktvarietät meint eine Erscheinungsform der jeweiligen Sprache, die sich a) zunächst durch den sich verändernden Input der Migrationsgeneration von der (Standard-)Sprache in dem Land, in dem diese Sprache als Mehrheitssprache gesprochen wird, unterscheidet, und b) aufgrund von Migration und/ oder anderen Einflüssen im weiteren, stetigen Kontakt mit einer anderen Sprache befindet, meistens einer Mehrheitssprache (im Kontext dieses Studienbuchs: Deutsch). 8 In diesem zweiten Ansatz spielen die Modifikationen und die Berücksichtigung des Inputs der ersten Migrationsgeneration an folgende Sprecher*innengenerationen eine entscheidende Rolle (vgl. P I R E S & R O THMAN 2009, P UTNAM & S ÁNCH E Z 2013). Damit wird den unterschiedlichen Erwerbsbedingungen von mehrsprachigen Personen, die als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft aufwachsen und leben, Rechnung getragen. Die sprachlichen Fähigkeiten von HSS am sprachlichen Standard monolingualer Sprecher*innen zu messen, ist sowohl im Hinblick auf Kodex als auch auf Usus unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ausgangssituationen höchst problematisch. Es braucht die Anerkennung, dass sich die Beherrschung und der Gebrauch von Sprachen bei lebensweltlich Mehrsprachigen von der Beherrschung und dem Gebrauch bei Monolingualen unterscheiden kann (vgl. P O LIN S K Y 2022). Gleichzeitig zeigen linguistische Untersuchungen, dass HSS nicht per se von mono‐ lingualen Sprecher*innen abweichen, sodass Schlüsse über mögliche Attritionseffekte oder Erwerbsunterschiede - wenn überhaupt - nur auf spezifische sprachliche Domä‐ nen und spezifische Sprecher*innen möglich sind, diese jedoch nicht ganzheitlich die sprachlichen Fähigkeiten dieser Personen betreffen (vgl. dazu Kap. 6). W I E S E E T AL . (2022) argumentieren in diesem Zusammenhang deutlich dafür, HSS als native speakers zu begreifen. Sie verstehen monolinguale Sprecher*innen nicht als Kontrollgruppe zu HSS, sondern verorten beide Sprecher*innengruppen auf einem gemeinsamen erst‐ sprachlichen Kontinuum als legitime Sprecher*innen der jeweiligen Sprache. In solch einem Forschungsparadigma wird die Variation in erstsprachlichen Grammatiken fokussiert und deren Vielfalt und Dynamik untersucht, statt defizitorientiert zu zeigen, an welchen Stellen HSS von Monolingualen abweichen und somit nicht performen, wie sie es vermeintlich sollten: 90 5 Sprachlicher Standard und sprachliche Norm <?page no="92"?> To this end, we explore the dynamics, rather than the vulnerability, of different linguistic domains and investigate development, variation, and innovation, rather than incomplete acquisition, attrition and loss. (W I E S E E T A L . 2022: 3) Die Auswahl der Kontrollgruppe bzw. der Verzicht auf diese spiegelt unsere Erwar‐ tungen an die sprachlichen Kompetenzen von HSS wider und beeinflusst stark die Interpretation der elizitierten Sprachdaten. Jedoch auch die Art und Weise, wie sprach‐ liche Daten von HSS erhoben werden, kann die Interpretation der Studienergebnisse beeinträchtigen, worauf der folgende Abschnitt genauer eingeht. 5.4 Methoden in der Herkunftssprachenforschung Zur Überprüfung und Bewertung sprachlicher Fähigkeiten in HS werden in der empirischen Forschung überwiegend spontansprachliche Daten, Elizitationsdaten oder Grammatikalitätsurteile herangezogen. Untersuchungen mit spontansprachlichen Da‐ ten zeichnen sich dadurch aus, dass spontane Sprachäußerungen, die meistens im Rahmen freier Gespräche produziert werden, im Hinblick auf spezifische sprachliche Strukturen analysiert werden. Dabei werden die quantitativen und qualitativen Häu‐ figkeiten dieser Strukturen beleuchtet (vgl. Kap. 6). Ersteres untersucht, wie häufig eine spezifische Struktur in den gewonnenen Sprachdaten vorkommt. Zweiteres unter‐ sucht, ob die Struktur zielsprachlich oder nicht-zielsprachlich - orientiert am Standard - produziert wurde. Elizitationstests und Grammatikalitätsurteile sind Verfahren der experimentellen Forschung. Hier werden Tests zu einer bestimmten Fragestellung oder einem bestimmten sprachlichen Phänomen entwickelt, die die Studienteilneh‐ mer*innen durchführen (vgl. u. a. C ANT ON E & O L F E R T 2015, M O NT R U L 2004). Solche Tests können sowohl für die Sprachproduktion als auch für das Sprachverstehen konzipiert werden. Viele Verfahren bestehen aus einer Kombination von Produktions- und Verstehenstests (M ÜLL E R E T AL . 2023: 50). Relevant für das vorliegende Kapitel ist die Frage nach der anschließenden Ergebnisinterpretation. Die empirischen Querschnittstudien stellen meistens Momentaufnah‐ men dar, d. h., eine bestimmte Gruppe von Personen hat zum Zeitpunkt der Erhebung bestimmte Strukturen produziert/ verstanden (oder nicht). Longitudinalstudien, d. h. Dokumentationen von sprachlichem Verhalten über einen längeren Zeitraum (M ÜLL E R E T AL . 2023: 50), sind in der HS- und Spracherhaltsforschung anders als in der Sprach‐ erwerbsforschung zur kindlichen Entwicklung kaum vorzufinden. Die Ergebnisse von Momentaufnahmen werden überwiegend im Hinblick auf Abweichungen zum sprachlichen Standard interpretiert: Abweichungen gelten als nicht-zielsprachliche Produktionen (und somit als Fehler), die fast ausschließlich der Sprachkompetenz und nicht dem situativen Sprachgebrauch oder der natürlichen Variation in erstsprachli‐ chen Grammatiken zugeschrieben werden. Nicht jedes Auftreten einer Abweichung ist jedoch eine permanente Veränderung, die auf einen Abbau des Regelwissens zurück‐ geht (vgl. A N S TATT 2011, W I E S E E T AL . 2022). Selbst Testverfahren wie Grammatikalitäts- 5.4 Methoden in der Herkunftssprachenforschung 91 <?page no="93"?> und Lexikalitätsurteile sind letztlich nicht in der Lage, sprachliches (Regel-)Wissen direkt zu messen, da auch sie streng genommen situative Performanzdaten darstellen (vgl. A LT E N B E R G & V AG O 2004, A N S TATT 2011). Gleichzeitig werden Fähigkeiten von HSS ohne Berücksichtigung des direkten Inputs im Erwerbsprozess beurteilt. Die sog. baseline language ist jedoch von immenser Bedeutung, möchte man HSS im Forschungsvorhaben nicht benachteiligen: When researchers plans [sic] to study a heritage language, their first challenge is to identify an appropriate “baseline” language against which to compare heritage speech. The baseline language must be the precise variety of the language that the heritage speaker was exposed to during childhood, as spoken by native speakers in natural situations. Importantly, this is not necessarily the standard language variety of the native-speaking population or the variety that is taught in the language classroom. (P O L I N S K Y 2014: 3-4) Damit einhergehend gibt es methodenspezifische und sprachliche Bereiche, deren Untersuchung HSS aufgrund ihrer divergierenden Erwerbssituation benachteiligt. Dies sind mitunter Testverfahren, die schriftsprachliche Fähigkeiten zur Partizipation ver‐ langen oder gar die direkte Testung schriftsprachlicher Fähigkeiten aus dem formellen Register (vgl. W I E S E E T AL . 2022). Letztere werden im ausgewiesenen Sprachunterricht vermittelt (u. a. auch im HSU, vgl. O L F E R T 2023 sowie Kap.-4), üblicherweise aber nicht in der von P O LIN S K Y (2014) hervorgehobenen baseline language während des Erwerbs‐ prozesses. Ergebnisse können dann nicht als Abweichungen interpretiert werden, wenn HSS in der HS nicht angemessen beschult wurden bzw. der Einflussfaktor der Beschulung nicht ausreichend Berücksichtigung bei der Ergebnisinterpretation findet (vgl. Kap.-4 und 7). 5.5 Offene Fragen Das vorliegende Kapitel hat die Reflexionsnotwendigkeit zur Frage aufgezeigt, wie mit sprachlichen Normen und Standardvorstellungen im Kontext von Mehrsprachigkeit umzugehen ist. Der Forschungsdiskurs kritisiert und diskutiert diese Frage zunehmend, in konkreten Studien wird jedoch häufig noch darüber hinweggegangen, insbesondere methodologisch (vgl. dazu Kap.-6.3). Dies bedarf einer Veränderung, sollen Benachtei‐ ligungen bei der Bewertung sprachlicher Fähigkeiten von HSS durch (unzulässige) Vergleiche mit Sprecher*innengruppen vermieden werden, die andere Erwerbssituatio‐ nen und -bedingungen aufweisen. Es bleibt offen, welche Erwartungen die Gesellschaft, Bildungsinstitutionen, aber auch Wissenschaftler*innen an mehrsprachige Personen und ihre sprachlichen Fähigkeiten in der Minderheitenwie Mehrheitssprache haben. Ist es die Einhaltung sprachlicher Normen und damit das Erreichen eines sprachlichen Standards? Was bedeutet es dann, wenn diese Normen und Standards von den Mehrsprachigen nicht erfüllt und erreicht werden (können)? Braucht es tatsächlich die stetige Einhaltung sprachlicher Normen und Standards, um als legitimes Mitglied in eine Sprecher*innengemeinschaft aufgenommen zu werden? Und was passiert, 92 5 Sprachlicher Standard und sprachliche Norm <?page no="94"?> wenn Personen unabhängig von vorherrschenden sprachlichen Normen und Standards eigene/ andere sprachliche Regelhaftigkeiten herausbilden? Mögliche Antworten auf diese und sicher noch weitere Fragen werden das zukünftige Handeln im Umgang mit sprachlichen Fähigkeiten von Mehrsprachigen leiten. 5.6 Aufgaben 1. Überlegen Sie weitere sprachliche Phänomene, die sich ähnlich wie die Beispiele in 5.2 im Hinblick auf Usus und Kodex unterscheiden. Nehmen Sie dafür nicht nur Deutsch, sondern auch HS oder von Ihnen gelernte Fremdsprachen in den Blick. 2. Lesen Sie folgende Zusammenfassungen von zwei Studien: Studie 1: L AL E K O (2008) untersuchte Aspektmarkierungen in der russischen Verbalphrase. Die Testgruppe bildeten in den USA geborene und aufgewachsene bilinguale Russischsprecher*innen, die Kontrollgruppe monolingual in Russland aufgewachsene Sprecher*innen. Die Ergebnisse belegten einen deutlichen Vorteil für die letztgenannte Gruppe bei der normgerechten Markierung des Verbalaspekts. Studie 2: Å G R E N E T AL . (2014) testeten Kinder, die an einer französischspra‐ chigen Schule in Schweden unterrichtet wurden. Die erste Gruppe bildeten Schüler*innen, deren Eltern beide französischsprachig waren. In der zweiten Gruppe befanden sich Schüler*innen, die monolingual schwedischsprachig auf‐ gewachsen sind und erst in der untersuchten Schule Kontakt zum Französischen hatten. Es konnten klare Vorteile für die erstgenannte Gruppe im Französischen ausgemacht werden. Bewerten Sie die Wahl der in den Studien herangezogenen Vergleichsgruppen. Was spricht für die jeweilige Vergleichsgruppe, was dagegen? 3. Diskutieren Sie unter Verwendung der in 5.2 eingeführten Normbegriffe folgende Schüler*innenbeispiele. Ein Schüler, der Albanisch und Deutsch als Erstsprachen spricht, äußert mündlich folgenden Satz: „Ich kann morgen nicht zum Fußballspiel kommen, weil mein Vater hat Geburtstag.“ Eine Schülerin, die Georgisch und Deutsch als Erstsprachen spricht, schreibt in einer Klausur folgenden Satz: „Es muss einen Unfall gegeben haben, weil der Airbag ist aufgegangen.“ Wie würden Sie die beiden Äußerungen bewerten? 5.6 Aufgaben 93 <?page no="95"?> 4. Diskutieren Sie in Kleingruppen die in 5.5 aufgeführten offenen Fragen: - Sollte man die Einhaltung sprachlicher Normen und damit das Erreichen ei‐ nes sprachlichen Standards von mehrsprachigen Personen in der Mehrheitsvs. in der Minderheitensprache erwarten? - Was bedeutet es, wenn diese Normen und Standards von Mehrsprachigen nicht erfüllt und erreicht werden (können)? 5.7 Literaturverzeichnis Å G R E N , Malin, G R A N F E L D T , Jonas, T H O M A S , Anita (2014): Combined Effects of Age of Onset and Input on the Development of Different Grammatical Structures. A Study of Simultaneous and Successive Bilingual Acquisition of French. Linguistic Approaches to Bilingualism 4(4), 462 - 493. A L T E N B E R G , Evelyn P., V A G O , Robert M. (2004): „The Role of Grammaticality Judgments in Investigating First Language Attrition“. In: Schmid, M. et al. (Hrsg.): First Language Attrition: Interdisciplinary Perspectives on Methodological Issues. Amsterdam, Philadelphia, S. 105 - 129. 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Gegenstand des Kapitels sind also nicht „klassische“ Dialekte und Regiolekte in HS (z. B. Ligurisch in Norditalien, Andalusisch in Südspanien), sondern sprachliche Ver‐ änderungen, die bei HSS beispielsweise durch den Kontakt zu dominanten Mehrheits‐ sprachen entstehen können. Es soll aufgezeigt werden, welche linguistischen Prozesse sich wie auf sprachliche Strukturen auswirken und welche Bedeutung sprachliche Veränderungen für den Erhalt von HS haben (können). Nach der Definition relevanter Begriffe werden daher linguistische Prozesse dargestellt, die zu Sprachvariationen und Sprachwandel führen können. Ausgewählte Beispiele sprachlicher Variationen veranschaulichen diese Prozesse, lassen aber auch die Schwierigkeit einer eindeutigen Ursachenzuordnung erkennen. 6.2 Definitionen Der Begriff Sprachvariation bezieht sich auf die Veränderlichkeit von Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt und beschreibt ein gleichzeitiges Nebeneinander verschiedener Ausdrucksformen, Bedeutungen und Funktionen (E L S P Aẞ 2018: 87). Sprachliche Variation liegt nach E L S P Aẞ (2023: 19) dann vor, „wenn es zwei oder mehr sprachliche Formen gibt, dasselbe auszudrücken“. Variationen sind demnach das Ergebnis einer synchronen Betrachtung von Sprache (E L S PAẞ 2023: 22), bei der sprachliche Ausdrucksformen zu einem bestimmten Zeitpunkt untersucht und ggf. mit gleichzeitig auftretenden Formen verglichen werden. Die Koexistenz alternativer Ausdrucksformen innerhalb der Sprache eines einzelnen Sprechers beschrieb L AB OV <?page no="101"?> (1969) mit dem Begriff inherent variability. Ein Beispiel für eine sprachliche Variation des Standarddeutschen ist Kiezdeutsch (vgl. dazu ausführlich W I E S E 2012). Diese Form der deutschen Sprache zeigt sich als eine informelle und alltagssprachliche Form in der Jugendsprache, die sprachlich von der Standardsprache des Deutschen abweicht (bspw. Hast du Handy? oder Lassma Viktoriapark gehen, Lan, vgl. W I E S E 2012). Die Abweichungen sind allerdings nicht willkürlich, sondern regelgeleitet, sodass Kiezdeutsch systematische sprachliche Besonderheiten zeigt, u. a. in der Aussprache, lexikalischen Wortwahl und Grammatik. Kiezdeutsch ist deshalb eine Sprachvariation, weil es gleichzeitig neben der Standardsprache des Deutschen existiert (vgl. Kap.-8 zu Variationen im Kontext von Identität). E F IN G (2021) und W I E S E (2023) geben Überblicke über weitere sprachliche, insbesondere grammatische Variationen im Gegenwartsdeut‐ schen. Der Begriff Sprachwandel bezieht sich auf die historische Entwicklung von Spra‐ che. Er unterliegt einer diachronen Perspektive, welche sprachliche Ausdrucksformen im Laufe der Zeit und hinsichtlich ihrer Veränderung betrachtet (P IC KL 2013: 39, E L S PAẞ 2023: 22). Sprachwandel bezeichnet die Veränderlichkeit von Sprache als Abfolge verschiedener Ausdrucksformen, Bedeutungen und Funktionen (E L S PAẞ 2018: 87-88). Sprachwandelprozesse im Deutschen zeigen sich auf phonologischer, lexikali‐ scher und grammatischer Ebene insbesondere bei der Betrachtung der Sprachstufen des Deutschen (Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch, Neuhoch‐ deutsch). Die Sprachstufen haben im Gegensatz zu Sprachvariationen nicht gleichzeitig nebeneinander existiert, sondern nacheinander. Labels und Bezeichnungen für diese Sprachstufen wurden allerdings erst nachträglich und meist von Forscher*innen etabliert. L AB OV (1994: 78) unterscheidet grundlegend zwischen zwei Typen von Wandelprozessen: change from above und change from below (vgl. auch L AB OV 1966). Change from above bezieht sich auf Veränderungen, die bewusst durch die dominante soziale Gesellschaftsschicht herbeigeführt werden und sich meist am Sprachgebrauch pres‐ tigereicherer Sprachgemeinschaften orientieren (E L S P Aẞ 2018: 96-98). Change from below meint hingegen Veränderungen in der Umgangssprache durch das Wirken inter‐ ner, sprachlicher Faktoren. Solche Veränderungen liegen zunächst unterhalb der Ebene des gesellschaftlichen Bewusstseins (ebd.). Die Betonung sozio-ökonomischer Klassen hat sich in der soziolinguistischen Modellbildung als problematisch erwiesen (vgl. dazu M IL R O Y 2012), doch „die Verbindung der ‚Oben-Unten‘-Metapher mit unterschiedlichen sprachlichen Registern und verschiedenen Stufen sozialen Bewusstseins“ (E L S PAẞ 2018: 97) ist noch immer bedeutsam. Ein Wandel von oben wird bewusst herbeigeführt, z. B. behördlich auf Makroebene durch die Implementierung von Amtssprachen oder die Durchsetzung von Rechtschreibreformen (ebd., vgl. auch Kap. 5 und Kap. 7). Ein Wandel von unten hingegen vollzieht sich unbewusst im alltagssprachlichen Bereich und findet zunächst auf individueller Ebene statt. Letzterer steht in der HS-Forschung und in diesem Kapitel im Vordergrund. 100 6 Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen <?page no="102"?> Sprachliche Veränderungen in sich überlappenden Phasen Reale sprachliche Veränderungen vollziehen sich meist in Phasen, die sich über‐ lappen. Dies zeigt sich für das mentale Lexikon, dem Speicherort im menschlichen Gehirn, in dem Wörter mit ihren spezifischen Eigenschaften, d. h. mit ihren phonologischen, semantischen, morphologischen, syntaktischen und auch ortho‐ grafischen Merkmalen, eingetragen werden (vgl. B E Y E R & G E R LACH 2018), wenn ein Ausdruck mehrere, zum Teil miteinander verknüpfte Ausdrucksformen hat. Schon B R ÉAL (1897) hat dies als Polysemie festgehalten. Auch im syntaktischen Bereich zeigen sich Zwischenstadien der Sprachentwicklung und/ oder des Ge‐ brauchs bei zwei oder mehreren koexistierenden syntaktischen Strukturen für ein sprachliches Phänomen in einer Sprache. R O E P E R (1999) bezeichnet dies als ein Resultat multipler Grammatiken, die zu einem theoretischen Bilingualismus führen: We argue that a narrow kind of bilingualsm exists within every language. It is present whenever two properties exist in a language that are not stateable within a single grammar. We label this claim Theoretical Bilingualism (TB). (R O E P E R 1999: 169) Im Hinblick auf sprachlichen Wandel formulierte L O N G O BA R DI (2001) in der Inertial Theory die Annahmen, dass zum einen Wandel auf rein syntaktischer Ebene nicht auftreten solle, es sei denn, er sei nachweislich eine Folge anderer Wandelprozesse (phonologischer und semantischer Wandel) oder rekursiv eines anderen syntaktischen Wandels, zum anderen sprachlicher Wandel grundsätzlich nur an linguistischen Schnittstellen entstehen könne und die Syntax selbst als linguistischer Bereich im Hinblick auf diachrone Veränderungen völlig „träge“ sei (L ON G O BA R DI 2001: 277-278). Diese Idee der Trägheit (engl. inertia) hat in der Literatur zur diachronen (generativen) Syntax breite Beachtung gefunden, sowohl zustimmende als auch skeptische (vgl. u.-a. W ALKD E N 2012). Sprachvariationen sind nach L AB OV (1969) fester Bestandteil von Sprache. Variations- und Sprachwandelprozesse finden in der sprachlichen Interaktion statt, dort, „wo Menschen Sprache verwenden“ (E L S PAẞ 2018: 87). Von besonderer Relevanz sind dabei alltagssprachliche Interaktionen. Alltagssprachliche Kommunikationsformen unterscheiden sich von sog. elaborierten Sprach- und Sprechformen, die u. a. auch in Schule und Unterricht als sprachliche Norm gelten (vgl. Kap.-5). Die sprachliche Situation von HSS erstreckt sich größtenteils (aber nicht ausschließlich) auf alltags‐ sprachliche Kommunikationsformen, die sich durch private Dialoge, Gespräche zwischen bekannten und vertrauten Kommunikationspartner*innen in räumlicher und zeitlicher Nähe, hoher Spontaneität und meist frei gewählter Gesprächsthemen kennzeichnen (vgl. K O CH & O E S T E R R E ICH E R 1985 und O E S T E R R E ICHE R & K O CH 2016 6.2 Definitionen 101 <?page no="103"?> 1 Das ursprüngliche Nähe-Distanz-Modell (vgl. K O C H & O E S T E R R E I C H E R 1985) teilt das Beziehungs‐ gefüge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in zwei mediale Formen ein. Medial mündlich realisierte Äußerungen sind stark situationsbezogen, da sie insbesondere Teile von face-to-face-In‐ teraktionen sind, die u. a. auch emotionale Ausdrücke und unvollständige Sätze aufweisen. Solche Äußerungen werden als „Sprache der Nähe“ bezeichnet. Medial schriftlich realisierte Äußerungen hingegen weisen keinen Situationsbezug auf, sie brauchen keinen direkten Kontakt zwischen der produzierenden und rezipierenden Person, sie sind geplant, stark strukturiert und häufig komplex. Diese Äußerungen werden der „Sprache der Distanz“ zugeordnet. F E I L K E & H E N N I N G (2016) bieten eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Modell. zum Nähe-Distanz-Modell). 1 Diese Interaktionen unterliegen konzeptionell mündli‐ chen Kommunikationsformen und -bedingungen, sind aber auch in schriftlicher Form zu finden, u. a. in Chats und Messengerdiensten (vgl. u. a. B E IẞWE N G E R & P A P P E R T 2019). Der hohe Anteil alltagssprachlicher Kommunikationsformen und der geringere Anteil elaborierter Sprach- und Sprechformen im Gebrauch von HS ist ein begünstigender Faktor für Sprachvariationsprozesse in diesen Sprachen. In der Mehrheitssprache etabliert sich ein solches Verhältnis der Sprach- und Sprechformen aufgrund gezielter sprachlicher Bildung und Förderung in Bildungseinrichtungen meistens nicht. Sprachwandelprozesse setzen sprachliche Variation voraus, nicht jede sprachliche Variation führt jedoch zu Sprachwandel (E L S P Aẞ 2018: 87, 2023: 22). Manifestieren sich sprachliche Variationen im Sprachgebrauch, sodass sie Kindern während ihres Spracherwerbs im Input als Struktur der HS dargeboten werden (vgl. Kap.-2 und 3 zur Rolle des Inputs im Spracherwerb und -erhalt und Kap. 5 zum Konzept der baseline language), unterliegt die HS in diesen spezifischen linguistischen Domänen Sprach‐ wandelprozessen. Diese sollten auch in nachfolgenden Sprecher*innengenerationen zu beobachten sein. F L O R E S (2015: 261) weist auf wichtige Parallelen zwischen Sprach‐ wandeltendenzen bei monolingualen Sprecher*innen und sprachlichen Veränderungen bei HSS in Sprachkontaktsituationen hin: Veränderungen in herkunftssprachlichen Systemen geben demnach Hinweise auf Sprachwandelprozesse, die ohnehin auch bei Sprecher*innen dieser Sprache als Mehrheitssprache auftreten. 6.3 Einblick in ausgewählte Forschungsarbeiten Forschungsarbeiten zu sprachlichen Veränderungsprozessen in HS stellen verschie‐ dene linguistische Prozesse heraus, die zur Entstehung sprachlicher Variationen und somit möglicherweise beginnenden Sprachwandelprozessen in diesen Sprachen führen können. Dieses Unterkapitel beschreibt vier dieser linguistischen Prozesse exemplarisch anhand ausgewählter Forschungsarbeiten und Beispiele: Sprachattri‐ tion, Sprachtransfer, Simplifizierung und Komplexifizierung (vgl. u. a. auch B R E HM E R -& M E HLHO R N 2018). Unabhängig davon, durch welchen dieser Prozesse Sprachvariationen entstehen, sind sie stets in der Lage, den sprachlichen Input, der mehrsprachig aufwachsenden Kindern für den Spracherwerb und Spracherhalt zur Verfügung gestellt wird, zu 102 6 Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen <?page no="104"?> 2 Variationen, die nicht durch linguistische Prozesse entstehen, gehen meist auf eine Verringerung der Verwendungskontexte im Input zurück, die bewusst oder unbewusst erfolgt. Bewusste Entschei‐ dungen können bspw. mit dem Prestige der weiterzugebenden HS zusammenhängen (vgl. Kap. 9), (eher) unbewusste Entscheidungen mit bestimmten Familienkonstellationen (vgl. Kap.-7). 3 Zu Sprachattrition in Zweitsprachen vgl. u.-a. S C H M I D (2006). verändern. Erwerben Kinder die HS durch einen Input, der sich in bestimmten sprachlichen Bereichen strukturell von dem Input monolingual aufwachsender Kinder unterscheidet, ist es unabdingbar, dass sich ihre Sprachgebrauchsformen in diesen spezifischen Bereichen von denen monolingualer Kinder unterscheiden werden (vgl. dazu auch die Diskussion in Kap. 5). Das so erworbene System in der HS, das Bestandteil der weitergegebenen Sprache im Minderheitenkontext ist (vgl. Kap. 1), kennzeichnet sich dann durch eben diese sprachlichen Variationen und stellt für bestimmte HSS-Gruppen die Strukturen dar, die auch an nachfolgende Generationen weitergegeben werden oder aber die aufgrund eintretender linguistischer Prozesse erneut variieren. Sprachliche Abweichungen in HS ausschließlich mit einem veränderten Input im Spracherwerb zu erklären, reicht aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht aus, da die Veränderung des Inputs immer eine Folge anderer, häufig linguistischer Prozesse ist. 2 6.3.1 Variationen durch Sprachattrition In diesem Kapitel werden Attritionseffekte in Erstsprachen behandelt, die nicht die Sprachen der Mehrheit sind. 3 Unter dem Begriff Sprachattrition versteht man den Verlust sprachlicher Fähig‐ keiten in bestimmten Bereichen erworbener Sprachen, wobei diese sprachlichen Fähigkeiten zuvor vollständig erworben und über längere Zeit stabil verwendet wurden (vgl. u.-a. S O R AC E 2000, T S IM P LI E T AL . 2004, vgl. Kap.-5). Häufig wird im Zusammenhang mit Sprachattrition eine Dominanz der Umgebungs- und Mehrheitssprache beobachtet. Sprachattrition steht im Gegensatz zum Spracher‐ halt, obgleich weder Attrition noch Erhalt - zumindest in der linguistischen Betrach‐ tung - das gesamte Sprachsystem betreffen, sondern vorwiegend spezifische sprach‐ liche (Teil-)Bereiche. Dabei zeigen sich die sprachlichen Bereiche unterschiedlich anfällig für Sprachattritionseffekte. Besonders sensibel zeigt sich das mentale Lexikon (vgl. Kap.-6.2). Sprachverlusteffekte im mentalen Lexikon sind meist als Erstes und am auffälligsten durch Wortfindungsschwierigkeiten wahrnehmbar (vgl. A N S TATT 2011, K ÖP K E & S CHMID 2004). Grammatische Bereiche hingegen scheinen weniger anfällig, wenngleich auch sie Veränderungen hervorbringen können (vgl. M ONT R UL 2004, 2010), ebenso Bereiche des Sprachverstehens (vgl. P O LIN S K Y 2011). Sprachattrition stellt einen individuellen Prozess dar, der von verschiedenen Faktoren, darunter insbesondere 6.3 Einblick in ausgewählte Forschungsarbeiten 103 <?page no="105"?> externen Faktoren wie u. a. dem Alter bei der Migration, der Kontaktdauer zur Erstsprache, der Alphabetisierung und Beschulung in der Erstsprache, beeinflusst wird (vgl. A N S TATT 2011, K ÖP K E & S CHMID 2004, vgl. Kap.-7). Dessen ungeachtet können bei ähnlichen Gesamtsituationen interindividuelle Varianzen bei Sprecher*innen auftreten (vgl. A N S TATT 2011, S CHMID 2002). In der HS-Forschung wird Sprachattrition insbesondere Sprecher*innen der ersten Generation (vgl. Kap. 2) zugeschrieben. Man geht bei Vorliegen gewöhnlicher Erwerbs‐ bedingungen davon aus, dass sie die relevanten sprachlichen Merkmale ihrer Erstspra‐ che erworben haben, bevor diese Merkmale aus ihrem Repertoire verschwanden. Dieser zuvor vollständige Erwerb wird nachfolgenden Sprecher*innengenerationen zum Teil abgesprochen (vgl. Kap.-5 zur incomplete acquisition-Hypothese). Wenn HSS der zweiten und folgenden Generationen die linguistischen Merkmale spezifischer Domänen zuvor vollständig erworben haben, kann Sprachattrition jedoch auch in ihren Sprecher*innengenerationen auftreten. 6.3.2 Variationen durch Sprachtransfer Aufgrund des Sprachkontakts zwischen der Minderheiten- und Mehrheitssprache ist ein Transfer sprachlicher Merkmale möglich. Sprachvariationen in HS entstehen durch Sprachtransfer, wenn HSS sprachliche Eigenschaften aus der Mehrheitssprache in die HS übertragen mit der Folge, dass sprachliche Unterschiede zwischen der Sprache als Minderheitensprache und als Mehrheitssprache entstehen. Gleichzeitig können sich Unterschiede zwischen verschiedenen Variationen von HS, wenn diese in verschiedenen Ländern gesprochen werden (z.-B. Türkisch in Deutsch‐ land oder Türkisch in Frankreich), herausstellen. Diese unterliegen den sprachspezifi‐ schen Strukturen der jeweiligen Kontaktsprache. Der Begriff Transfer stammt aus der Forschung zum Zweitspracherwerb (vgl. C LAH S E N E T AL . 1983, K L E IN 1984) und unterscheidet zwischen positivem und negativem Transfer in Abhängigkeit davon, ob sich die in Kontakt stehenden Sprachen strukturell unterscheiden. Positiver Transfer findet statt, wenn die grammatischen Eigenschaften in den Sprachen identisch sind und die in der einen Sprache erworbenen Eigenschaften auch für den Erwerb der anderen Sprache genutzt werden. Dies kann zu einem schnelleren Erwerb dieser Strukturen in der Zielsprache führen (M ÜLL E R E T AL . 2023: 24). Negativer Transfer liegt vor, wenn sich die grammatischen Eigenschaften der beiden Sprachen unterscheiden und die Übertragung der Eigenschaft von Sprache A auf Sprache B zu nicht-zielsprachlichen Strukturen in Sprache B führt (M ÜLL E R E T AL . 2023: 20). Während aus positiven Transfereffekten keine Variationen an der sprachlichen Oberfläche folgen, führt negativer Sprachtransfer hingegen im Vergleich 104 6 Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen <?page no="106"?> 4 Vgl. zu Türkisch als Herkunftssprache in Deutschland auch K O C H & R I E H L (2024: 172-178). zum sprachlichen Standard in der Mehrheitssprache und möglicherweise auch zu anderen Sprecher*innengruppen, die eine andere Sprachkontaktsituation erleben, zu abweichenden Äußerungen und Strukturen in der HS. Sprachtransfer kann in allen sprachlichen Bereichen stattfinden: im phonetischen, lexikalischen und gramma‐ tischen Bereich (R OTHWE IL E R 2007: 112). Obwohl der Prozess des Sprachtransfers regelmäßig als mögliche Erklärung für vom Standard abweichende Strukturen von HSS angeführt wird, ist er als zugrunde liegender Prozess häufig jedoch nicht eindeutig nachweisbar, weshalb empirische Belege für solchen Transfer und der Umgang mit ihnen stetig diskutiert werden. Phonetische und lexikalische Transferleistungen werden meist als unproblematisch betrachtet (vgl. u.-a. L L EÓ 2018 zur Artikulation nasaler Laute im Spanischen von HSS mit der Mehrheitssprache Deutsch im Vergleich zu deutsch-spanisch Mehrsprachigen mit der Mehrheitssprache Spanisch). B A R B E R IO & I N G R O S S O (2019) untersuchen im Rahmen von Sprachkontaktphänomenen lexikalischen Transfer in italienisch-deut‐ schen Chatkommunikationen. Das folgende Beispiel zeigt einen morpho-syntaktisch eingebetteten Transfer des deutschen Lexems Übergabe in die italienische Struktur, gleichzeitig zeigt es eine nicht-integrierte Entlehnung des deutschen Ausdrucks tiptop (B A R B E R IO & I N G R O S S O 2019: 62): (1) 15/ 12/ 16, 11: 10 - F30IT_A: Ragazze ho reso casa, finita ora Übergabe - [Mädels ich habe die Wohnung abgegeben, die Übergabe ist geschafft] - 15/ 12/ 16, 11: 10 - F30IT_A: Tutto tiptop - [Alles tiptop] Spontane Sprachalternationen, auch bezeichnet als code-switching (vgl. u. a. C ANTO N E 2007, M ÜLL E R E T AL . 2015), führen meist nicht zu Sprachvariationen im engeren Sinn. Lexikalische Ausdrücke können sich aber im Sprachgebrauch der HSS manifestieren (vgl. H ACI S ALIHOĞL U 2009), etwa weil es keine sprachlichen Ausdrücke in der HS gibt, die einer Eins-zu-eins-Übersetzung entsprächen, oder aber, weil HSS die Vermittlung der kulturellen Konnotation eines Begriffes wichtig erscheint (vgl. ebd.). So findet der folgende Ausdruck Verwendung im Türkischen von HSS 4 (H ACI S ALIHOĞL U 2009: 91): (2) krank yazıldım - ‚ich bin krank geschrieben‘ Auch Sprachkombinationen innerhalb eines Wortes lassen sich beobachten, etwa beim Verb anmeldare (dt. anmeld(en) + ital. Suffix -are für bestimmte Verben im Infinitiv) in der Überschrift eines Beitrages im italienischen Online-Magazin BERLINITALY POST zur Anmeldung eines Wohnsitzes in Berlin: 6.3 Einblick in ausgewählte Forschungsarbeiten 105 <?page no="107"?> (3) Sfatiamo leggende metropolitane: dove ci si può anmeldare a Berlino (prendere il - domicilio) - ‚Wir entlarven Metropole-Legenden: Wo man sich in Berlin anmelden kann (den Wohn- - sitz anmelden)‘ Empirische Belege für strukturelle Transferleistungen stehen häufig in der Kritik. Zum einen herrscht eine Debatte um eindeutig belegbaren Strukturtransfer, weil grundsätzliche Aspekte beim methodologischen Vorgehen in empirischen Untersu‐ chungen nicht geklärt sind (vgl. Kap.-5.4). P O LIN S K Y & S C O NT R A S (2020) bemängeln zu Recht, dass in empirischen Untersuchungen meistens nicht überprüft wird, ob das untersuchte linguistische Merkmal in der Grammatik der Mehrheitssprache bei HSS überhaupt aktiv ist. Studien zum Sprachtransfer konzentrieren sich meist auf das Sprachverhalten der mehrsprachigen Personen in ihrer HS, untersuchen aber nicht ihr Sprachverhalten in der Mehrheitssprache (vgl. P O LIN S K Y & S C ONT R A S 2020, S C ONT R A S E T AL . 2017). Letzteres ist jedoch notwendig, da struktureller Transfer nur dann eindeutig belegt werden kann, wenn der Sprachgebrauch aller beteiligten Sprachen in die Untersuchung einbezogen wurde (vgl. S C ONT R A S E T AL . 2017). Grund für weitere Kritik an vorgebrachten empirischen Belegen für strukturelle Transferleistungen sind transnationale Studien zu einer HS, jedoch in verschiedenen gesellschaftspolitischen Territorien oder Ländern, die unterschiedliche und gemischte Ergebnisse aufzeigen (M ONT R U L 2023: 13). Solche unterschiedlichen Beobachtungen in verschiedenen Sprach‐ konstellationen, die aufgrund ihrer strukturellen Begebenheiten jedoch zu ähnlichen Beobachtungen führen müssten (vgl. u. a. M E I S E L 2000), erschweren den Nachweis strukturellen Transfers aus (dominanten) Mehrheitssprachen. Gegenüberstellungen empirischer Untersuchungen zu sog. Nullelementen in verschiedenen HS verdeutlichen die Schwierigkeit, strukturellen Sprachtransfer eindeutig belegen zu können. Nullsubjekte in Herkunftssprachen Viele Sprachen in Europa, darunter Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Grie‐ chisch und Russisch, sind in ihrer Standardvarietät sog. Nullsubjektsprachen, die das systematische Weglassen pronominaler Subjekte in Haupt- und Nebensätzen erlauben (vgl. M ÜLL E R E T AL . 2023, S CHMITZ E T AL . 2016, Z AG ONA 2002). Das Subjektpronomen darf ausgelassen werden, wenn es durch den Diskurs pragma‐ tisch identifizierbar ist (M ÜLL E R E T AL . 2023: 218-220). Die Einführung neuer Referent*innen erfordert hingegen ein Subjekt (ebd.). Die folgenden Beispiele aus S CHMITZ E T AL . (2016: 105) zeigen Subjektrealisierungen und -auslassungen exemplarisch für Spanisch (Ø markiert das ausgelassene Subjektpronomen): (4) a. Ella trabaja en un restaurante y Ø vende helado. (Subjektkontinuität) ‚Sie arbeitet in einem Restaurant und (sie) verkauft Eis.‘ 106 6 Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen <?page no="108"?> b. Ella trabaja en un restaurante y él vende helado. (Referenzwechsel) ‚Sie arbeitet in einem Restaurant und er verkauft Eis.‘ Die Nullsubjekteigenschaft ist Teil des sogenannten pro drop-Parameters (engl. pronoun dropping, vgl. u. a. R IZZI 1982, 1986), den weder Deutsch noch Englisch teilen, d. h., Deutsch und Englisch sind keine Nullsubjektsprachen. Sie fordern zwar Subjektauslassungen in Imperativsätzen, lassen jedoch keine weiteren, stan‐ dardsprachlichen systematischen Auslassungen zu. Deutsch ist eine sogenannte topic-drop-Sprache: Jegliche Elemente, die in der ersten syntaktischen Position des Hauptsatzes stehen, dürfen ausgelassen werden, wenn sie über den Diskurs prag‐ matisch identifiziert werden können (vgl. 5a). Subjekte in anderen Satzpositionen müssen realisiert werden, ansonsten ist die Struktur ungrammatisch (vgl. 5b). Ungrammatische Strukturen werden mit * gekennzeichnet (vgl. Kap. 5). Solche Subjektauslassungen werden im Deutschen jedoch nur in der gesprochenen Sprache bzw. in informellen Kontexten akzeptiert. (5) a. Was hast du gestern gemacht? Ø War im Kino. (topic drop) - b. *Gestern war Ø im Kino. Englisch erlaubt standardsprachlich mit Ausnahme von Imperativsätzen ebenfalls keine systematischen Auslassungen des Subjekts, gleichwohl kommen Subjektauslassungen auch hier in informellen Kontexten unter bestimmten strukturellen Bedingungen vor (vgl. Beispiel 6, zu strukturellen Bedingungen für Subjektaus‐ lassungen im Englischen vgl. u.-a. B AE 2016, N A R I YAMA 2004, W E I R 2012). (6) a. Let’s go! - b. Have you ever seen Tom lately? Ø Saw him in front of the library yesterday. - - (B A E 2016: 2) - c. *Are Ø going home? (ebd.: 5) - d. *Today, Ø won’t fail the test again. (ebd.: 6) (Null-)Subjekte bewegen sich linguistisch an der Schnittstelle von Syntax und Pragmatik und verkörpern einen Bereich, für den Spracheneinfluss und -transfer bei Mehrsprachigen in verschiedenen Sprachenkombinationen und Erwerbssitu‐ ationen beschrieben wurde (vgl. für einen Überblick u. a. S CHMITZ E T AL . 2016). Im Sinne der Inertial Theory von L O N G O BA R DI (2001) können Nullsubjekte als Schnitt‐ stellenphänomen potenziell sprachlichem Wandel unterliegen (vgl. Kap.-6.2). B E NMAMO UN E T AL . (2013) stellen Nullelemente in den Grammatiken erwachsener HSS als stark betroffen heraus. Sie gehen davon aus, dass Sprachen, die die pro drop-Eigenschaft aufweisen, diese Eigenschaft verlieren (Sprachattrition) oder HSS dieses Merkmal nur in geringem Maße verwenden. Für diese Annahmen 6.3 Einblick in ausgewählte Forschungsarbeiten 107 <?page no="109"?> 5 Vgl. zu Russisch und Italienisch als HS in Deutschland auch K O C H & R I E H L (2024: 166-172 und 178-182). beziehen sie sich auf Studien zu Ungarisch, Hindi, Tamil, Spanisch, Polnisch und Arabisch mit Englisch als Umgebungssprache in den USA (B E NMAMO UN E T AL . 2013: 149). Für spanischsprachige HSS aus Mexiko in den USA wurden bspw. Sprachattrition und Transfer postuliert (vgl. u. a. C AZZO LI -G O E TA E T AL . 2008, M O NT R UL 2004, S ILVA -C O R VALÁN 1994), weil sprachlich schwächere HSS im Vergleich zu sprachlich stärkeren HSS und monolingualen Sprecher*innen signifikant mehr realisierte als ausgelassene Subjekte produzierten und die hohe Subjektrate gleichzeitig mit einer Verletzung diskurspragmatischer Bedingungen einherging, d. h. mehr redundante Subjekte produziert wurden (M O NT R U L 2004: 133). Die Ergebnisse stehen hier in einem deutlichen Zusammenhang mit der sprachlichen Kompetenz der HSS. Das folgende gekürzte Beispiel aus M O NT R UL (2004: 133), eine Nacherzählung des Märchens „Rotkäppchen“, verdeutlicht den redundanten Subjektgebrauch der untersuchten HSS: (7) Había una vez una niña Chiquita que se llamaba Caperucita. Ella vivía con su mamá - y ella quería mucho a su abuelita. Y ella le dijo a su mama, mami quiero ir a visitar - a mi abuelita. - ‚Es war einmal ein kleines Mädchen, das sich Rotkäppchen nannte. Sie lebte mit - ihrer Mutter und sie mochte ihre Großmutter sehr. Und sie sagte zu ihrer Mutter, - Mami, ich möchte meine Omi besuchen.‘ Untersuchungen mit italienischsprachigen und griechischsprachigen HSS in Großbritannien zeigen ähnliche divergierende Strukturen im Subjektbereich (vgl. S O R AC E 2003, T S IM P LI E T AL . 2003, 2004). Diese Veränderung wird als Sprachattrition beschrieben, weil sie nicht nur im Sprachgebrauch, der Performanz der HSS, sondern durch nicht-zielsprachliche Produktionen auch in den sprachlichen Fähigkeiten, der Sprachkompetenz, zu beobachten sind. Gleichzeitig geht man von einer Annäherung der HSS an ihre dominante Umgebungssprache Englisch (Sprachtransfer) aus (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu diesen Beobachtungen zeigen Studien in Toronto (Kanada) keine Anzeichen von Sprachattrition, Sprachtransfer oder anderen Veränderungsprozessen beim Subjektgebrauch in den HS Italienisch und Russisch (vgl. N AG Y E T AL . 2011, N AG Y 2015), dies sogar unter Einbezug der ersten, zweiten und dritten Generation. 5 Der Kontakt mit dem Englischen, der in den USA als einflussreich für abweichende Strukturen im Spanischen beschrieben wird, hat somit in Kanada keinen Einfluss auf die untersuchten HS. Dies verdeut‐ licht, dass der Kontakt mit der Umgebungssprache Englisch keine Attritionsund/ oder Transfereffekte vorhersagen kann. Gleiches zeigt sich für den Kontakt mit der Umgebungssprache Deutsch. Spanischsprachige und italienischsprachige HSS der ersten und zweiten Generation weisen keine Attritionseffekte in den 108 6 Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen <?page no="110"?> pro drop-Bereichen der romanischen HS auf (vgl. D I - V E NANZIO E T AL . 2012, 2016, S CHMITZ E T AL . 2016), obwohl durch Deutsch als Umgebungssprache prinzipiell ähnlicher struktureller Transfer, der zum Abbau der Nullsubjekteigenschaft führt, möglich wäre. Empirische Untersuchungen zur sog. differenziellen Objektmarkierung in verschiede‐ nen Minderheitensprachen zeigen, anders als solche zu Nullelementen, dass HSS strukturelle Merkmale aus der Mehrheitssprache in die HS übertragen. Struktureller Transfer gilt hier als plausibel belegt. Differenzielle Objektmarkierung in Herkunftssprachen Sprachen, die differenzielle Objektmarkierungen (DOM) aufweisen (u. a. Spanisch, Türkisch, Koreanisch, Hindi, Rumänisch), markieren direkte Objekte auf formaler Ebene, wenn diese Objekte bestimmte Bedingungen, u.-a. Belebtheit, Definitheit, Spezifizität und/ oder Affiziertheit, erfüllen. Spanisch beispielweise tut dies mit dem sog. a-Marker, wie das folgende Beispiel aus Z AG O NA (2002: 13) zeigt: (8) a. En el mercado vi a los vecinos. [+ belebt] - - ‚Auf dem Markt sah ich die Nachbarn.‘ - - b. En el escritorio vi los papeles. [belebt] - - ‚Auf dem Schreibtisch sah ich die Papiere.‘ - Sprachen ohne DOM (u. a. Deutsch, Englisch, Französisch, Niederländisch) ver‐ wenden beim direkten Objekt den Akkusativ ohne weitere Markierung (vgl. (8a): ‚Auf dem Markt sah ich die Nachbarn.‘). Für viele HS wird in der Forschungsli‐ teratur beschrieben, dass ihre Sprecher*innen, wenn sie gleichzeitig Mehrheits‐ sprachen ohne DOM verwenden, die morphologischen DOM-Markierungen in den HS auslassen (vgl. dann (8a): En el mercado vi los vecinos). Dieses Phänomen wurde bspw. für Spanisch, Hindi, Rumänisch, Türkisch und Koreanisch als HS in den USA aufgezeigt (vgl. C HUN G 2018, C O ŞKUN -K UNDUZ & M ONT R U L 2022, M ONT R U L 2022, M ONT R UL E T AL . 2015), gleichzeitig für Spanisch als HS in Frankreich und den Niederlanden (vgl. G R O S J EAN & P Y 1991, I R IZA R R I VAN S U CHT E L E N 2016) und Rumänisch als HS in Italien (vgl. C OHAL 2014). Neben sprachlichen Variationen, die die Auslassung von DOM-Markierungen aufweisen, zeigen sich ebenso Variationen in HS, die direkte Objekte formal markieren, obwohl die Standardvarietät kein DOM aufweist, wohl aber die Mehr‐ heitssprache (M O NT R UL 2023: 16-17). Ein solcher struktureller Transfer wird bspw. für Guaraní-Sprecher*innen in Paraguay und Sprecher*innen des Baskischen in Spanien beschrieben (vgl. R OD R Í G U E Z O R DÓÑE Z 2017, S HAIN & T ONHAU S E R 2010). Während sich die Sprachvariation, die DOM auslässt, als morphologische Simpli‐ fizierung durch den strukturellen Transfer aus der Mehrheitssprache darstellt 6.3 Einblick in ausgewählte Forschungsarbeiten 109 <?page no="111"?> (M O NT R UL 2023: 16), präsentiert sich die andere Variation, die DOM neu entwickelt, als morphologische Komplexifizierung durch den strukturellen Transfer aus der Mehrheitssprache. 6.3.3 Variationen durch Simplifizierung und Komplexifizierung Simplifizierung meint, dass HSS sprachliche Strukturen im Hinblick auf ihre grammatische Komplexität vereinfachen oder aber komplexe Strukturen zuguns‐ ten einfacherer Strukturen vermeiden oder sogar aufgegeben. Was genau bedeutet grammatische Komplexität? Welche Struktur ist einfach, welche ist komplex? Sprachliche Komplexität ist ein theoretisches Konstrukt (vgl. u. a. L AN E T AL . 2019), das nicht direkt gemessen werden kann. Stattdessen brauchen theoretische Konstrukte einen Rahmen mit mess- oder beobachtbaren Variablen, mit denen das Kon‐ strukt erfasst und beschrieben werden kann. Die Komplexität sprachlicher Variationen in HS kann u. a. anhand von Variablen wie etwa involvierte sprachliche Merkmale und die Anzahl solcher Merkmale erfasst werden, genauso wie zusammenspielende, linguistische Ebenen (Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik) zur Beschreibung eines sprachlichen Phänomens. Auslassungen spezifischer DOM-Markierungen (vgl. Kap. 6.3.2) stellen deshalb Simplifizierungen dar, weil sprachliche Merkmale, die eigentlich eine morphologische Markierung des direkten Objekts erfordern, nicht berücksichtigt werden. Die Entscheidung, ob das direkte Objekt entsprechende Bedin‐ gungen für DOM erfüllt, bleibt also aus, in den in Kap.-6.3.2 beschriebenen Beispielen als Folge eines strukturellen Transfers. Dies bedeutet jedoch nicht gleichzeitig, dass HSS kein Wissen über entsprechende Bedingungen, sprachliche Merkmale und/ oder DOM besitzen. Struktureller Transfer ist bei Simplifizierungen nicht immer gegeben. Dies zeigt die Verwendung der Kopulaverben ser und estar im Spanischen von HSS (unter anderem in den USA). Die Verben ser und estar sind bedeutungsäquivalent zu to be im Englischen und sein im Deutschen. Während ser zur Beschreibung dauerhafter Eigenschaften verwendet wird (David es alto ‚David ist groß (gewachsen)‘), setzt man estar zur Beschreibung temporärer Zustände ein (David está cansado ‚David ist müde‘). Die beiden Verben unterscheiden sich also semantisch. HSS des Spanischen differenzieren entsprechende Kontexte weniger: Sie setzen estar ebenfalls in solchen Kontexten ein, in denen der Gebrauch von ser standardsprachlich wäre (vgl. u. a. C UZA E T AL . 2021, S ILVA -C O R VALÁN 1986). Die beiden Verben werden in bestimmten Kontexten semantisch und diskurs-pragmatisch synonym verwendet (vgl. S ILVA -C O R VALÁN 1986). Das folgende Beispiel aus S ILVA -C O R VALÁN (1986: 593) zeigt eine solche Variation, bei der estar mit einer eigentlich dauerhaften Eigenschaft verwendet wird, die man standardsprachlich mit ser ausdrücken würde: 110 6 Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen <?page no="112"?> (9) Pero yo estoy inteligente. - ‚Aber ich bin intelligent.‘ Die Simplifizierung entsteht hier, weil keine Unterscheidung zwischen semantischen und diskurspragmatischen Merkmalen erfolgt. Dies ist als grammatisch weniger komplex einzuordnen als die Identifikation relevanter Merkmale vor der Äußerungs‐ realisierung. Anders als die beschriebenen Auslassungen von DOM-Markierungen (vgl. 6.3.2) steht diese Simplifizierung im Spanischen als HS jedoch nicht im Zusammenhang mit strukturellem Transfer, da äquivalente Verbunterscheidungen in den involvierten Mehrheitssprachen nicht vorkommen. Eine Simplifizierung bzw. Reduktion bestimmter Strukturen zeigt sich ebenso im Gebrauch des subjuntivo-Modus (Subjunktiv), der im spanischen Standard u. a. zum Ausdruck von Wünschen, Hoffnungen und Zweifeln verwendet wird. Der Gebrauch dieses Modus, zu dem es weder im Englischen noch im Deutschen ein Äquivalent gibt, wird von spanischen HSS, dies ist in der Forschungsliteratur gut dokumentiert, zugunsten des Indikativ-Modus reduziert (vgl. V IN E R 2018 für einen Überblick). M ON - T R UL (2009) und L Y NCH (1999, 2008) führen diese Reduktion auf eine Aufweichung der Dichotomie zwischen Indikativ und Subjunktiv zurück, sodass HSS diese beiden Modi austauschbar verwenden, unabhängig von semantischen Unterschieden, die den beiden Modusformen zugeschrieben werden (V IN E R 2018: 81). Hier gilt wie oben: Sprachliche Merkmale, hier semantische, nicht zu unterscheiden, ist weniger komplex, als sie als Bedingung für bestimmte sprachliche Strukturen zugrunde zu legen. Wenngleich bei Simplifizierungsprozessen sprachliche Merkmale von der sprachli‐ chen Oberfläche verschwinden können (bspw. a-Marker bei DOM), sind diese Prozesse nicht mit Sprachattritionsprozessen (vgl. Kap. 6.3.1) gleichzusetzen. V IN E R (2018: 92) betont: „A decreased frequency in the use of a particular grammatical feature should therefore not equate to a lesser grammar“. Die Beobachtung, dass HSS sprachliche Strukturen seltener oder gar nicht verwenden (vgl. u. a. DOM, Subjunktiv), belegt demnach nicht, dass sie diese nicht beherrschen oder kennen. Dies stellen auch B AY R AM E T AL . (2019) heraus. Die Autor*innen zeigen für türkischsprachige HSS in Deutschland, dass diese signifikant weniger Passivstrukturen im Türkischen pro‐ duzieren als monolinguale Sprecher*innen in der Türkei, allerdings unterscheiden sich die produzierten Passivstrukturen der beiden Sprecher*innengruppen nicht hin‐ sichtlicher ihrer Zielsprachlichkeit. Die HSS weisen im Vergleich zu monolingualen Sprecher*innen eine ebenfalls vollständige und zielsprachliche Repräsentation, also eine mentale Darstellung und zielsprachlich strukturelles, abgespeichertes Wissen zum Passivsystem auf (vgl. ebd.). Die Unterschiede liegen demnach auf quantitativer, nicht aber auf qualitativer Ebene. Simplifizierungen als sprachliche Variationen können also in der Sprachperformanz von HSS zu beobachten sein, dies aber ohne Auswirkungen auf ihr zugrunde liegendes Sprachwissen. 6.3 Einblick in ausgewählte Forschungsarbeiten 111 <?page no="113"?> 6 Die Abkürzungen stehen für die grammatischen Merkmale Numerus (Sg. steht für Singular, Pl. für Plural) und Genus (M. steht für Maskulinum, F. für Femininum). Die Spracherhaltsforschung dokumentiert bislang überwiegend sprachlich-struktu‐ relle Simplifizierungen. Sprachliche Variationen können sich jedoch auch durch das Gegenteil, nämlich Komplexifizierungen auszeichnen. Komplexifizierung meint, dass HSS sprachliche Strukturen grammatisch kom‐ plexer produzieren als monolinguale Sprecher*innen. Strukturen in der HS sind dann komplexer als in der Standardsprache (und somit komplexer als notwendig). DOM, wie für Baskisch beschrieben (vgl. Kap. 6.3.2), ist ein Beispiel für morphologische Komplexifizierung in Minderheitensprachen oder nicht-dominanten Sprachen, die u. a. aus dem Transfer aus anderen/ dominanten Sprachen (hier Spanisch, R OD R Í G U E Z O R DÓÑE Z 2017: 341) resultiert. Da DOM im Standard des Baskischen nicht vorkommt, im Sprachgebrauch von Mehrsprachigen mit Baskisch und Spanisch jedoch zunimmt, schreibt R OD R Í G U E Z O R DÓÑE Z (2017: 340): „[…], I suggest that Basque DOM is an example of linguistic change that emerged in a previous stage“. Entlehnungen aus dem Spanischen ins Baskische, insbesondere entlehnte Verben, spielen eine bedeutsame Rolle, sodass diese im Zusammenhang mit grammatischem Wandel zu stehen scheinen (ebd.). Dies deutet daraufhin, dass der grammatische Wandel im Hinblick auf DOM Folge anderer Wandelprozesse ist (vgl. Inertial Theory von L ON G O BA R DI 2001, vgl. Kap.-6.2). D’A L E S S AND R O & F R A S S ON (2023) belegen eine Komplexifizierung für die veneziani‐ sche Varietät des Italienischen als HS in Brasilien. HSS entwickelten dort spezialisierte Auxiliarformen für das im Venezianischen typische Fehlen der Subjekt-Verb-Kongru‐ enz in der dritten Person bei Subjektinversionen, d. h. bei Strukturen, die das Subjekt in der Wortstellungsabfolge hinter dem finiten Verb, also postverbal aufweisen (vgl. Beispiel 10 6 aus D’A L E S S AND R O & F R A S S ON 2023: 10): (10) Ze rivà Sg. M. le Pl. F. tose Pl. F. - ist angekommen die Mädchen - ‚Die Mädchen sind angekommen.‘ Während das postverbale Subjekt le tose (die Mädchen) in (10) die Merkmale Plural und Femininum trägt, zeigt das Partizip rivà (angekommen) die Merkmale Singular und Maskulinum auf, sodass diese Elemente in ihren grammatischen Merkmalen nicht übereinstimmen. Nachgestellte Subjekte gehen in der venezianischen Varietät mit einem sog. antiagreement effect einher (vgl. D’A L E S S AND R O & F R A S S ON 2023). Die Variation, die im Venezianischen als HS in Brasilien zu beobachten ist, zeigt sich morphosyntaktisch komplexer als die venezianische Ausgangsvarietät: HSS verwen‐ 112 6 Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen <?page no="114"?> den bei Subjekten in der dritten Person drei spezialisierte Auxiliarformen (l’è, è und ze), während Sprecher*innen der Ausgangsvarietät lediglich eine Form (ze oder l’è) verwenden, dies in Abhängigkeit ihrer Dialektzugehörigkeit (bspw. ze in Treviso, aber l’è in Verona, vgl. D’A L E S S AND R O & F R A S S ON 2023: 12-13). Gleichzeitig unterliegt die HS einer zusätzlichen grammatischen Regel, die die Anwendung der verschiedenen Auxiliarformen in Abhängigkeit der Subjektposition (prä- oder postverbal) und/ oder der Numerusmerkmale des Subjekts (Singular oder Plural) bestimmt (D’A L E S S AND R O & F R A S S ON 2023: 20-23). L’è tritt in der HS überwiegend bei postverbalen Subjekten auf, also in Kontexten mit fehlender Subjekt-Verb-Kongruenz, ze bei präverbalen Subjekten sowohl in der dritten Person Singular als auch Plural, è bei präverbalen Subjekten in der dritten Person Plural (D’A L E S S AND R O & F R A S S O N 2023: 14). Die HSS der venezianischen Varietät führen demnach neue Beschränkungen bzw. Regeln für bereits bestehende Sprachformen ein (D’A L E S S AND R O & F R A S S ON 2023: 19). Die folgenden Beispiele aus D’A L E S S AND R O & F R A S S ON (2023: 14) verdeutlichen die grammatischen Beschränkungen für den Gebrauch der Auxiliarformen im Venezianischen als HS in Brasilien: (11) a. L’è vegnesto Sg. M. la Sg. F. nona Sg. F. - - Ist gekommen die Großmutter - - ‚Die Großmutter kam.‘ - b. La so mare Sg. F. ze nasesta Sg. F. in Italia - - die seine Mutter ist geboren In Italien - ‚Seine Mutter ist in Italien geboren‘ - c. I noni Pl. M. è vegnesti Pl. M. de navio - - die Großeltern (sein) gekommen mit Schiff - ‚Die Großeltern sind mit dem Schiff gekommen‘ 6.4 Offene Fragen Es ist häufig nicht eindeutig auszumachen, ob sprachliche Variation tatsächlich die Folge von Sprachattrition, Sprachtransfer, Simplifizierung, Komplexifizierung oder anderen Prozessen, vielleicht sogar ein Zusammenspiel mehrerer Prozesse, ist. Nicht jede sprachliche Abweichung in der HS geht außerdem mit dem Abbau sprachli‐ cher Fähigkeiten einher. Zukünftige Untersuchungen insbesondere nachfolgender Generationen werden überprüfen müssen, ob sich sprachliche Bereiche im Herkunfts‐ sprachensystem (weiterhin) erhalten oder ob weitere/ andere sprachliche Variationen entstehen. Letztlich braucht es longitudinale Studien, vielleicht sogar diachrone, um Veränderungsprozesse tatsächlich aufzeigen zu können, da Querschnittsdaten aus bisherigen Forschungen als einzelne Momentaufnahmen keine Beobachtung über die Zeit zulassen (vgl. Kap.-5.4). 6.4 Offene Fragen 113 <?page no="115"?> 7 Dies ist auch bei Regiolekten und Dialekten der Fall, deren Erhalt bewusst, mitunter sogar durch explizite Maßnahmen und organisiert (bspw. in Vereinen) gefördert wird. Die vorgestellten Ergebnisse zum Auftreten bzw. Nicht-Auftreten strukturellen Transfers weisen darauf hin, dass neben sprachlich-strukturellen Faktoren auch in‐ dividuelle und externe Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung von Sprachvariationen spielen können (vgl. Kap.-7). Dabei bleibt bislang offen, wie genau das Zusammenspiel dieser Faktoren aussieht. Welche Folgen haben sprachliche Variationen und Wandelprozesse letztlich für den (weiteren) Spracherhalt? HS bzw. sprachliche Formen im Gebrauch von HSS spiegeln unter Umständen nicht den Standard von Sprachen wider. Für HSS sind es aber eben diese verwendeten, sprachlichen Variationen (unbewusst oder bewusst), die es als sprachliche Strukturen in Familien und communities zu erhalten gilt. 7 Je mehr und je länger sprachliche Variationen auftreten, desto weniger sinnvoll wird die Orientierung an sprachlichen Standardvorstellungen bei der Untersuchung des Sprachgebrauchs von HSS sein (zusätzlich zu den bereits aufgeführten Gründen in Kap.-5). Im Vordergrund steht dann nicht mehr der Erhalt standardsprachlicher Strukturen der HS, sondern vielmehr der Erhalt ihrer Variationen. 6.5 Aufgaben 1. Die Fachzeitschrift Lublin Studies in Modern Languages and Literature veröffent‐ lichte 2021 eine Ausgabe mit dem Titel „The Diversity of Contemporary German“. Lesen Sie daraus den Aufsatz von E F IN G (2021) und verschaffen Sie sich einen Überblick über sprachliche Entwicklungen und Veränderungen in der deutschen Gegenwartssprache. (Der Aufsatz ist unter https: / / journals.umcs.pl/ lsmll/ article/ v iew/ 11628 abrufbar, letzter Aufruf 18.06.2024). 2. Setzen Sie sich mit den systematischen sprachlichen Besonderheiten der Sprach‐ variation Kiezdeutsch entweder auf phonologischer, lexikalischer oder grammati‐ scher Ebene auseinander (vgl. W I E S E 2012, 2023). 3. Recherchieren Sie auf der Internetseite www.languageattrition.org, bereitgestellt von der Linguistin Monika S. Schmid (vgl. u. a. S CHMID 2002), zu sprachlichen Phänomenen, Ursachen und Einflussfaktoren im Fall von Sprachattrition. 4. Überlegen Sie aus sprachkontrastiver Perspektive, in welcher Ihnen bekannten (Herkunfts-)Sprache es im Kontakt mit Deutsch als Mehrheitssprache zu Trans‐ fereffekten kommen könnte. Die Kapitel 7 und 8 in M ÜLL E R E T AL . (2023) können hier als Orientierung für untersuchte sprachliche Bereiche dienen. Beschreiben Sie die möglicherweise durch Transfer entstehende Sprachvariation in der (Her‐ kunfts-)Sprache. 5. Das Türkische weist die Verben yapmak und etmek auf, die beide tun/ machen be‐ deuten und in verschiedenen Verbverbindungen auftreten. Im türkischen Sprach‐ gebrauch kommen Formen mit yapmak allgemein häufiger vor als solche mit 114 6 Sprachvariationen und Sprachwandelprozesse in Herkunftssprachen <?page no="116"?> etmek. Im Türkischen von HSS in den Niederlanden (vgl. D OĞR UÖZ & B AC K U S 2009) zeigt sich folgende Sprachvariation: In Verbverbindungen, die standardsprachlich mit dem Verb etmek verwendet werden, verwenden HSS in den Niederlanden das Verb yapmak (Bsp. hesap yapmak vs. hesap etmek, ‚rechnen (tun)‘). Struktureller Transfer aus dem Niederländischen kann ausgeschlossen werden, da Niederlän‐ disch diese Verbverbindungen nicht aufweist. Welchen linguistischen Prozess legen Sie dieser Variation zugrunde? Begründen Sie Ihre Antwort und diskutieren Sie diese in der Lehrveranstaltung. 6.6 Literaturverzeichnis A N S T A T T , Tanja (2011): Sprachattrition. 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New York. 6.6 Literaturverzeichnis 119 <?page no="122"?> 7 Außersprachliche Faktoren Helena Olfert 7.1 Einleitung Ob Minderheitensprachen innerhalb der Familie an die Kinder weitergegeben werden, ob sie im Alltag aktiv verwendet werden (können) und in welchem Ausmaß, und welcher Kompetenzgrad in ihnen erreicht wird bzw. erreicht werden kann, hängt oftmals von sogenannten außersprachlichen Faktoren ab. Diese Faktoren sind exogen, das heißt, sie umfassen sprachexterne Bedingungen, Gründe und Ursachen für Sprach‐ erhalt bzw. Sprachverlust und beschreiben Merkmale, Handlungsspielräume oder Dispositionen von Personengruppen oder Individuen (M ONT R UL 2016: 9). Außersprach‐ liche Faktoren verknüpfen auf diese Weise gesellschaftliche Strukturen, bildungspo‐ litische Entscheidungen und sprachbezogene Haltungen mit den Sprachbiografien und den Sprachkompetenzen mehrsprachiger Sprecher*innen. Diese Faktoren können verdeutlichen, wie sich gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, historisch gewachsene Positionierungen oder politisch motivierte Veränderungen bis in die Familie hinein auswirken, und somit Fragen des Spracherhalts in seinem Kern adressieren. Deshalb beschäftigt sich das vorliegende Kapitel mit außersprachlichen Faktoren und hat zum Ziel aufzuzeigen, welche Dimensionen und Rahmenbedingungen sich wie auf Spracherhalt (nicht nur) in der Migration auswirken. 7.2 Die Gruppe und das Individuum Außersprachliche Faktoren sind unterschiedliche Wirkgrößen auf Spracherhalt, die nicht direkt in den Sprachdaten Mehrsprachiger beobachtet werden können. Sie sind deshalb für die Spracherhalts- und Herkunftssprachenforschung von Interesse, weil sie mögliche Erklärungen für die sehr große Spannbreite in den Sprachständen mehrsprachiger Sprecher*innen in der Herkunftssprache (HS) bieten, die nicht allein aus dem Sprachkontakt mit der Mehrheitssprache beim Erwerb resultieren kann (O L F E R T 2019: 103 sowie Kap. 5 und 6). Erste klassische Studien und theoretische Modellierungen, die dieses Erklärungspotenzial von außersprachlichen Faktoren für Spracherhalts-, Sprachverlust- oder Sprachrevitalisierungsprozesse erkannten oder ihnen zumindest eine wichtige Rolle bei diesen Vorgängen beimaßen, sind bereits vor Jahrzehnten entstanden (vgl. D R E S S L E R 1981, F I S HMAN 1972, 1980, G IL E S E T AL . 1977). Auch wenn die meisten Erkenntnisse zu diesen Zusammenhängen im Rahmen von Untersuchungen gewonnen wurden, die sich mit dem Aussterben von autochtho‐ nen Minderheitensprachen befassten (z. B. R I E HL 2014, S A S S E 1992, vgl. Kap. 1.3.1), <?page no="123"?> 1 Amtssprachen sind Sprachen, die in Bildungsinstitutionen und in Verwaltungsbehörden verwendet werden (S P I E K E R M A N N 2010: 343). können die festgestellten Wirkzusammenhänge auch auf die in diesem Studienbuch fokussierten allochthonen Kontexte übertragen werden, denn „the loss of dialects and enclave languages (including migrant languages) exhibits very similar characteristics“ (T S UN ODA 2006: 8). 7.2.1 Gruppenspezifische Faktoren Außersprachliche Faktoren lassen sich in gruppenspezifische und individuelle Fakto‐ ren gliedern (Y AĞMU R 1997: 19). Gruppenspezifische Faktoren beschreiben Merkmale, die für alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft Gültigkeit haben. Mögliche individu‐ elle Variation ist bei gruppenspezifischen Faktoren nicht relevant. Solch eine Wirk‐ größe ist beispielsweise das Prestige einer bestimmten Minderheitensprache (d.-h. der ihr zugeschriebene Wert, vgl. Kap.-9) und damit oftmals in direktem Zusammenhang stehend ihr Status als ausgebaute Schrift- und offizielle Amtssprache 1 . Dass Prestigeüberlegungen bewusst wie unbewusst eine Rolle bei der Weitergabe und beim Erhalt von Sprachen spielen, belegen Studien, die sich mit dem Englischen befassen - der Sprache mit dem aktuell vermutlich höchsten Prestige weltweit (D E S WAAN 2001: 5). Y AMAMOT O (2002, 2008) zeigte in ihren Studien beispielsweise, dass Englisch in einem minorisierten Kontext (d. h., wenn es eine HS ist) wesentlich häufiger intergenerational weitergegeben wird als andere Sprachen. Auch wird Englisch im Vergleich zu anderen Sprachen bei den untersuchten englisch-japanischsprachigen Paaren deutlich öfter als Familiensprache verwendet. Einflüsse von Prestige zeigten sich ebenso in der Studie von C U R DT -C H R I S TIAN S E N (2009). Die von ihr befragten chinesischsprachigen Eltern ließen sich in ihren spracherwerbsrelevanten Entschei‐ dungen stets auch von Überlegungen zu Bildungserfolg und sozialem Aufstieg durch prestigeträchtige Sprachen leiten. Obwohl die Familien in Québec wohnten, einer kanadischen Provinz mit obligatorischer Beschulung auf Französisch, erachteten es die Eltern als notwendig, dass ihre Kinder auch ohne Beschulung Kompetenzen im Englischen erwarben, denn „English is an international super language through which a great many social and economic goals can be achieved“ (C U R DT -C H R I S TIAN S E N 2009: 363). Diese Begründung über ökonomische Vorteile und finanziellen Wohlstand nutzten die Eltern jedoch gleichermaßen bei der Weitergabe des Chinesischen an ihre Kinder, dem sie eine zunehmende Bedeutung auf dem globalen Wirtschaftsmarkt und somit ein steigendes Prestige zuschrieben (vgl. Kap.-9). Gruppenspezifische Faktoren können aber auch sozio-politische Großereignisse sein wie kriegerische Handlungen und bewaffnete Konflikte, Regierungsumstürze und -wechsel, politische Unterdrückung und (sprach-) restriktive Gesetzgebungen oder Verschiebungen im politischen Herrschaftssystem, die sich alle ebenfalls auf den Erhalt oder den Verlust von Sprachen auswirken können. 122 7 Außersprachliche Faktoren <?page no="124"?> Einfluss sozio-politischer Ereignisse auf Spracherhalt R I EHL (2014: 187-188) beschreibt die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf den Spracherhalt von deutschsprachigen Minderheiten in Osteuropa. So genoss das Deutsche in den jeweiligen Gebieten vor den Weltkriegen zunächst ein hohes Prestige und profitierte im Spracherhalt und bei der Sprachweitergabe von zahlreichen Maßnahmen wie z. B. Beschulung und Gottesdiensten auf Deutsch. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte sich dies schlagartig und Deutschsprechen wurde in den Minderheitenregionen zum Stigma. Dies wurde verstärkt durch die Einführung einer restriktiven Gesetzgebung in der ehemaligen Sowjetunion, die Deutsch als Unterrichtssprache und als Sprache des Gottesdienstes einschränkten bis vollends verbot, was sich zusätzlich zum gesun‐ kenen Prestige negativ auf die Spracherhaltsbemühungen der deutschsprachigen Minderheiten auswirkte. Ein weiteres Beispiel für den Einfluss sozio-politischer Großereignisse auf Sprach‐ erhalt liefern L IM & A N S ALDO (2016: 147-150). Sie schildern die Effekte der Unabhängigkeit Sri Lankas von der britischen Kolonialmacht 1948 und der Grün‐ dung des sri-lankischen Nationalstaates auf die dort lebende malaiischsprachige Minderheit. Diese Minderheitengruppe lebte seit mehreren Jahrhunderten in Sri Lanka, gehörte zur Oberschicht und war bis zur Unabhängigkeit von Großbritan‐ nien in ihren Spracherhaltsbestrebungen trotz mangelnder institutioneller Unter‐ stützung recht erfolgreich, was nicht zuletzt auf das hohe Prestige zurückzuführen ist, das sie samt ihrer Sprache genoss. Dieses Ansehen kann der adeligen Herkunft dieser Gruppe zugerechnet werden, denn ihre Vorfahren waren Mitglieder der javanesischen Königsfamilie und andere javanesische Aristokrat*innen. Was recht schnell zum Sprachverlust bei dieser Gruppe führte, war die äußerst restrik‐ tive sri-lankische Sprachgesetzgebung nach der Unabhängigkeit in den 1950er Jahren. Dieses Gesetz erklärte Singhalesisch, die Sprache der zahlenmäßig größten Gruppe Sri Lankas, zur einzigen Amtssprache des Staates und zog eine radikale Änderung der Sprachverwendung im Bildungssystem nach sich. Singhalesisch wurde (neben Tamil) zur Unterrichtssprache, während Englisch, die Sprache der Kolonialmacht, eine immer geringere Rolle spielte und aus dem Bildungswesen mehr und mehr verdrängt wurde. Im Bewusstsein über die ökonomischen Vorteile und eine mögliche internationale Karriere für ihre Kinder entschieden sich viele Familien der malaiischen Minderheiten daraufhin, Malaiisch zugunsten des Englischen als Familiensprache aufzugeben. Dies war ihnen möglich, da sie als Mitglieder der Oberschicht über entsprechende finanzielle Mittel verfügten, einen Großteil ihrer Bildung in gehobenen Bildungsinstitutionen der britischen Besat‐ zer*innen erworben hatten und dadurch über sehr gute Englischkompetenzen verfügten. Eine Konsequenz daraus ist, dass sri-lankisches Malaiisch inzwischen von einer minorisierten zu einer vom Aussterben bedrohten Sprache geworden ist. 7.2 Die Gruppe und das Individuum 123 <?page no="125"?> 2 Unter sprachlicher Bildung werden „alle durch das Bildungssystem systematisch angeregten Sprachentwicklungsprozesse“ verstanden (S C H N E I D E R E T A L . 2012: 23; zitiert nach B E C K E R -M R O T Z E K & R O T H 2017: 17). 3 Also auch von Niederdeutsch, Romanes und Friesisch. Wie man an den Beispielen der deutschsprachigen Minderheit in Osteuropa und der malaiischsprachigen Minderheit in Sri Lanka sehen kann, betreffen gruppenspezifische Faktoren in Bezug auf sprachliche Bildung 2 insbesondere bildungspolitische Entschei‐ dungen, die das Unterrichten bestimmter Minderheitensprachen in der Regelschule erlauben oder verbieten und somit Spracherhaltsbestrebungen der jeweiligen Sprach‐ gruppen positiv wie negativ beeinflussen können. So zeichnet sich beispielsweise das Dänische in Deutschland mit ca. 50.000 Sprecher*innen durch einen verglichen mit anderen autochthonen Minderheitensprachen hohen Grad an Sprachvitalität aus. Hierzu trägt nicht nur das relativ hohe Prestige des Dänischen bei, das in seinem Status als ausgebaute Schriftsprache und als Amtssprache des Nachbarstaates Dänemark begründet ist (M AA S 2008: 67, S CHMITZ & O L F E R T 2013: 213). Auch einige (bildungs-)po‐ litische Maßnahmen wirkten sich überaus positiv auf den Erhalt des Dänischen aus, so z. B. die Verankerung der Sprachenrechte aller in Schleswig-Holstein ansässigen autochthonen Minderheiten 3 in der Verfassung und in weiteren schleswig-holsteini‐ schen Gesetzen (O E T E R 2020: 332), die allesamt auf den Erhalt dieses kulturellen und sprachlichen Erbes als „einzigartiges Profil“ des Bundeslandes (R AA S CH 2019: 472) abzielten. Besondere Relevanz hat hierbei jedoch das im Vergleich zu den anderen in Deutschland gesprochenen autochthonen Minderheitensprachen gut ausgebaute, mehrheitlich privat finanzierte Kindergarten- und Schulsystem der dänischen Minder‐ heit, das ein durchgängiges Angebot von der Elementarbis zur Oberstufe auf Dänisch anbietet und seit den 1920er Jahren auch vom deutschen Staat finanziell unterstützt wird (K RÜG E R -P OT R ATZ 2020: 344-345). Dieses gut funktionierende System ist ein mustergültiges Beispiel für gruppenspezifische Faktoren und deren Auswirkung auf Spracherhalt einer ganzen Sprachgruppe. 7.2.2 Individuelle Faktoren Im Gegensatz zu gruppenspezifischen Faktoren können individuelle Faktoren von Person zu Person verschieden sein. Es handelt sich dabei u. a. um Merkmale wie Gender, Geschwisterkonstellation innerhalb der Familie, Alter bei Erwerbsbeginn und damit zusammenhängend Spracherwerbstyp oder die Sprachkonstellation in der Familie (vgl. Kap. 3). Diese Faktoren sind insofern individuell, als es keine Möglichkeit gibt, von einer Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe direkt auf sie zu schließen, weil es hier keinen unmittelbaren Zusammenhang gibt. So kann ein Kind, das Polnisch als HS spricht, in unterschiedlichen Familienkonstellationen aufwachsen: Es kann als ältestes von drei Geschwistern in einer Familie aufwachsen, in der beide Elternteile sehr großen Wert auf Herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) legen, mit den Kindern zu Hause Polnisch sprechen und mehrmals im Jahr zu Verwandten nach Polen fahren. Es kann 124 7 Außersprachliche Faktoren <?page no="126"?> aber auch als Einzelkind in einer Patchwork-Familie groß werden, in der es zu Hause mit dem einen Elternteil Deutsch spricht, während das polnischsprachige Elternteil nicht mehr mit dem Kind in demselben Haushalt wohnt. Zwischen der Sprachgruppe und den Faktoren Familien- oder Geschwisterkonstellation gibt es keinen direkten Zusammenhang. Ein viel untersuchter individueller Faktor in Verbindung mit Spracherhalt ist Gender, wobei es hierzu in der Forschung konträre Ergebnisse gibt. So werden einerseits Frauen in der Soziolinguistik grundsätzlich als die treibende Kraft hinter Sprachwandelpro‐ zessen angesehen (vgl. L AB OV 1990). Sie hätten im Vergleich zu Männern nicht nur eine höhere Toleranz gegenüber sprachlichen Neuerungen, sondern wären offener für grundsätzliche Sprachumstellungen. Dies könnte für Spracherhaltprozesse bedeuten, dass sich vor allem Mütter weniger um die Weitergabe der HS bemühten und stattdes‐ sen die Sprachumstellung der Kinder zur Mehrheitssprache förderten (T ANN E NBAUM -& B E R K OVICH 2005: 291-292). Andererseits werden Frauen in weiteren Studien als die Bewahrerinnen von Kultur und Tradition gesehen. Sie seien zudem diejenigen, die viel Zeit zu Hause verbrächten und dadurch weniger Kontakt zur Mehrheitssprache hätten, was sich wiederum positiv auf die Weitergabe der HS an die Kinder auswirken könne (vgl. ebd.). Diese stereotypen Zuschreibungen erfahren allerdings deutliche Kritik, vor allem da sie sich oftmals nur auf Daten von Personen mit eigener Migrationserfahrung stützen. Das Erleben von Genderrollen und -erwartungen von Personen der Nach‐ folgegenerationen beziehen diese Studien nur selten ein (W INT E R & P AUWE L S 2005: 154). Qualitative empirische Studien belegen zum Zusammenhang von Spracherhalt und Gender jedoch, dass die Sprachweitergabe der HS mit der Partizipation der Mütter in Netzwerken zusammenhängt, in denen die jeweilige Sprache mit sozialem Kapital gleichgesetzt wird (vgl. K WON 2017, V E LÁZQ U E Z 2013), dass Mütter als dieje‐ nigen angesehen werden und sich selbst als diejenigen verstehen, die für Spracherhalt und hierdurch für familiären Zusammenhalt mit und durch Sprache verantwort‐ lich sind, sowie dass das Muttersein oder Mutterwerden mit Ermächtigungsprozessen in Bezug auf Spracherhalt in der Familie zusammenhängt (vgl. I Q BAL 2005, W INT E R & P AUWE L S 2005). Eine der wenigen quantitativen Studien in dem Feld fand indes keinerlei Gendereffekte auf Sprachweitergabe (vgl. D E H O UWE R 2007). In jedem Fall zeigen diese Ergebnisse „the gendered nature of intergenerational transmission“ (V E LÁZQ U E Z 2013: 200) - beziehungsweise die Erwartung solcher Effekte in der Forschung. Diese Erwartungen werden bereits deutlich, wenn man sich die Anzahl an Studien anschaut, die sich mit dem Sprachweitergabeverhalten von Müttern befassen (vgl. unter vielen anderen I Q BAL 2005, K WO N 2017, M A R T Í N E Z & M E S INA S 2019, M E J Í A 2016, O N G 2021, T S U S HIMA & G UA R DADO 2019, V E LÁZQ U E Z 2013), im Vergleich zu einigen wenigen Studien, die Väter fokussieren (vgl. A L -S AHAF I 2015, K IM & S TA R K S 2010, R OMANOW S KI 2022). Zugleich verweisen all diese Studien auf einen heteronormativen Zugang zum Thema Gender, was sich gleichermaßen in den im folgenden Absatz thematisierten Studien zur Familienkonstellation als Einflussfaktor auf Spracherhalt widerspiegelt. 7.2 Die Gruppe und das Individuum 125 <?page no="127"?> Unter dem Stichwort Familienkonstellation werden die Auswirkungen unter‐ schiedlicher Sprachen, die in der Familie zusammentreffen, auf Sprachweitergabe und Spracherhalt untersucht. Es werden Vergleiche angestellt zwischen Familien, in denen beide Elternteile dieselbe Minderheitensprache sprechen, mit Familien, in denen ein Elternteil die Mehrheitssprache spricht bzw. in denen die Eltern unterschiedliche Minderheitensprachen sprechen (vgl. D E H O UWE R 2007, D E K L E R K 2001, Y AMAMO TO 2002, 2008, Y AT E S & T E R R A S CHK E 2013). Die Ergebnisse dieser Studien deuten in eine Richtung: Wenn ein Elternteil ausschließlich die Mehrheitssprache spricht, besteht die Möglich‐ keit, dass die Kinder die Minderheitensprache des anderen Elternteils nicht erwerben. Am vorteilhaftesten sei hingegen die Konstellation, in der beide Elternteile dieselbe Minderheitensprache sprechen. Die Gründe für beide Feststellungen sind vielfältig und reichen von Prestigeasymmetrien über Unterschiede in den Sprachkompetenzen der Eltern in den jeweiligen Sprachen bis zum Umfang des Inputs, den die Kinder erhalten (ausführlicher vgl. D E H O UWE R 2017). Die Bedeutung der Familienkonstellation für Sprachweitergabe und Spracherhalt wird in diesem Studienbuch in aller Ausführlich‐ keit in Kap.-3 thematisiert (vgl. insbesondere Abb. 3.1 und Abb. 3.2). Was in Bezug auf die Familienkonstellation nur selten im Fokus der Studien zu Sprachweitergabe und Spracherhalt steht, ist die Zusammensetzung der Familie als solche und das Verständnis davon, was eine Familie ausmacht: A Western idealised conceptualisation of the family containing two married parents and one or more biological children has attracted most research attention to date. Yet this simplified view of a family does not necessarily represent current contexts accurately. (J U V O N E N E T A L . 2020: 41) Andere Familienformen, die von ebendieser idealisierten, westlichen Familienvorstel‐ lung abweichen, werden nur selten in den Blick der Forschung genommen (vgl. L OM E U G OM E S & L ANZA 2022, vgl. Kap. 3.2.1). Studien, die sich beispielsweise mit Spracherhalt und Sprachweitergabe in Familien mit alleinerziehenden Eltern befassen (vgl. O N G 2021) oder mit Familien, die Kinder adoptiert oder in Pflege genommen haben (vgl. F IO R E NTIN O 2022, P U R KA R THO F E R E T AL . 2022, S HIN 2013), stellen die Ausnahme dar. Auch zeigen die bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem individuellen Faktor eine eher statische Sichtweise auf Familie, dynamische Entwicklungen werden nur selten abgebildet (vgl. Kap. 3.2.1). Dabei wäre es wichtig zu ergründen, wie HS sich weiter‐ entwickeln, wenn beispielsweise Eltern sich trennen oder wenn neue Personen eine bedeutende Rolle bei der Erziehung einnehmen (wie beispielsweise in Patchwork-Fa‐ milien). Auch hier sollte der heteronormative Blick auf Familien ersetzt werden und die bestehende Forschungslage sollte erweitert werden um Studien zu gleichgeschlechtli‐ chen Eltern (wie z.-B. zusammen mit dem Aspekt der Adoption bei K OZMIN S KA & H UA 2022). Solche Familien würden bisherige Annahmen und Forschungsergebnisse über Sprachweitergabeverhalten in unterschiedlichen Familienkonstellationen ergänzen. Nicht zuletzt spielt auch die Geschwisterkonstellation als ein individueller Faktor eine nicht zu unterschätzende Rolle beim Spracherhalt (vgl. ausführlicher dazu Kap. 3). 126 7 Außersprachliche Faktoren <?page no="128"?> 4 Die Teilnehmer*innenzahlen am Türkischunterricht gehen allerdings seit Jahren zurück (K Ü P P E R S & S C H R O E D E R 2016: 562-563). Für aktuelle Zahlen s. https: / / mediendienst-integration.de/ fileadmin/ Da teien/ Factsheet_Herkunftssprachlicher_ Unterricht_2022.pdf 5 Russlanddeutsche sind Nachfahren von Siedler*innen aus deutschsprachigen Gebieten, die im 18. Jahrhundert ins russische Zarenreich einwanderten. Noch heute leben zahlreiche Russland‐ So konnten bisherige Studien nachweisen, dass Einzelkinder grundsätzlich beim Er‐ werb der HS im Vorteil sind verglichen mit Kindern, die mit Geschwistern aufwachsen (vgl. A R MON -L O T E M E T AL . 2011). Auch ist die Reihenfolge der Geschwisterkinder untereinander von Bedeutung. Während die älteren Geschwister später in Kontakt mit der Mehrheitssprache kommen und über bessere Kompetenzen in der HS verfügen, verhält es sich bei den jüngeren Geschwistern genau andersherum (vgl. ebd., K IN S E LLA 2020, P A R ADA 2013). L I P P E R T (2010) spricht in diesem Zusammenhang von der Drei-Ge‐ schwister-Regel: Das erste Kind ist also zumindest in der frühen Kindheit bilingual […], das zweite Kind spricht schon fast ausschließlich die Umgebungssprache, ist bestenfalls ansatzweise produktiv bilingual mit Tendenz zur rezeptiven Bilingualität, das dritte und jedes weitere Kind (falls vorhanden) ist bereits rein rezeptiv zweisprachig - mit Tendenz zur Monolingualität. (L I P P E R T 2010: 161) Diese Studienergebnisse verdeutlichen die Relevanz individueller, von der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit unabhängiger Faktoren für die Sprachweitergabe und den Spracherhalt, denn es können bereits auf dieser Ebene für die individuelle Mehrspra‐ chigkeit entscheidende Weichen gestellt worden sein. 7.2.3 Überlappung gruppenspezifischer und individueller Faktoren Individuen können in unterschiedlichem Maße an gruppenspezifischen Faktoren partizipieren und eine Einzelperson kann in ihrem Sprach(weitergabe)verhalten die Be‐ deutung gruppenspezifischer Faktoren unterschiedlich bewerten. Gruppenmerkmale können sich auf das Individuum auswirken, müssen es aber nicht. So besteht in Deutschland statistisch gesehen für die türkischsprachige Gruppe im Vergleich zu anderen Sprachgemeinschaften die größte Wahrscheinlichkeit, am HSU im Rahmen der Regelschule teilzunehmen, da der HSU Türkisch trotz seines prekären Status (vgl. Kap. 4 und 11) vermutlich zu den am besten ausgebauten HSU-Angeboten gehört und insbesondere in NRW die meisten Teilnehmer*innenzahlen aufweist (S CHMITZ & O L F E R T 2013: 218, vgl. auch Kap. 4). 4 Für eine Person, die im ländlichen Raum oder in einem der Bundesländer wohnt, die keinen HSU anbieten, haben diese statistisch günstigen Voraussetzungen für Spracherhalt auf Gruppenebene allerdings keine Rele‐ vanz. Vor allem bei sozio-emotionalen Faktoren wie Einstellung und Identität lassen sich solche Interaktionen zwischen gruppenspezifischen Merkmalen und ihrer indivi‐ duellen Ausprägung gut beobachten (vgl. Kap.-8). So ist beispielsweise für die Gruppe der sog. Russlanddeutschen 5 eine höhere Identifikation mit der deutschen Sprache 7.2 Die Gruppe und das Individuum 127 <?page no="129"?> deutsche als Minderheiten in unterschiedlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In den 1990er Jahren sind viele Russlanddeutsche nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland migriert (vgl. P A N A G I O T I D I S 2019). und Kultur belegt als für andere russischsprachige Gruppen in Deutschland (I R WIN 2009: 295). Allerdings mag diese Aussage nicht für jedes Mitglied dieser Sprachgruppe Gültigkeit haben. 7.3 Makro-, Meso- und Mikroebene Die gruppenspezifischen und individuellen Einflussfaktoren auf Spracherhalt können zudem auf unterschiedlichen Betrachtungsebenen verortet werden, wie es in der Soziolinguistik üblich ist (L IDDIC OAT 2020: 338, V E ITH 2005: 28). Die Makroebene ist die Ebene der Gesellschaft. Hierunter fallen gesamtgesellschaftliche Diskurse, Macht‐ verteilungen, politische Beschränkungen oder gesellschaftliche Spracheinstellungen. Ein klassisches Beispiel für den Einfluss von außersprachlichen Makrofaktoren auf Spracherhalt bzw. Sprachumstellung ist die Kolonialisierung von Südamerika, Afrika und Südostasien durch westeuropäische Mächte. Die Kolonialmächte führten zu der Zeit gewaltsam ihre Nationalsprachen in den besetzten Gebieten als Amtssprachen ein, was oftmals dazu führte, dass höhere Bildung nur in den Sprachen der Kolonial‐ mächte möglich wurde (vgl. L ÉG LI S E & M I G G E 2007). In vielen Fällen wurden diese Machtübernahmen von restriktiven Sprachgesetzen begleitet, die die Verwendung der autochthonen Sprachen im Alltag untersagen sollten und zu deren teilweise prekärem Vitalitätsstatus sie beigetragen haben. Bis heute sind diese gewaltsamen Sprachregelungen in der weltweiten Sprachverteilung sichtbar: Eine Karte des gegenwärtigen globalen Sprachsystems sieht eher aus wie eine Zu‐ sammenstellung politischer Karten aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert. Dies zeigt, wie sehr Sprachkonstellationen von politischen Ereignissen bestimmt werden, aber auch, wie oft sie noch lange nach dem Verschwinden dieser politischen Basis fortbestehen. (D E S W AA N 2001: 11; Übersetzung H.-O.) Auf der Mesoebene finden sich unterschiedliche Institutionen der Bildung wieder. Die relevanteste hierbei ist sicherlich die Regelschule, aber auch zahlreiche Bildungs‐ institutionen, die sich außerhalb der formalen Bildung befinden wie z. B. migranti‐ sche Selbstorganisationen und Bildungsvereine (vgl. Kap. 4). Bildungsinstitutionen sind nicht nur ausführende Organe übergeordneter politischer Geschehnisse und Strömungen. Sie setzen auf institutioneller Ebene durch, was „oben“ beschlossen wird, und beeinflussen somit, welche Sprachen für Bildungszwecke verwendet werden dürfen und welchen wiederum der Status als Bildungsressource aberkannt wird. Auch fungieren die Lehrkräfte als sog. „ideology brokers“ auf dieser Ebene (B L OMMAE R T 1999: 9). Sie verteilen als Multiplikator*innen gesellschaftlich-normative Vorstellungen 128 7 Außersprachliche Faktoren <?page no="130"?> über den Wert bestimmter Sprachvarietäten und können als Vermittler*innen von Ideologien beispielsweise an die Schüler*innen fungieren. Auf der Mikroebene lässt sich schließlich die Familie bzw. die Einzelperson mit ihrem sozialen Netzwerk verorten. Hier können Individuen sowohl losgelöst von Makro- und Mesofaktoren als auch durch sie gelenkt Entscheidungen treffen, die Spracherhalt oder Sprachverlust bedingen. Auf dieser Ebene hat in den letzten Jahrzehnten die Erforschung der Familiensprachenpolitiken (engl. family language policy) national wie international an Bedeutung gewonnen (vgl. K IN G E T AL . 2008, vgl. auch Kap. 3). Diese Forschungsrichtung befasst sich mit denjenigen Dynamiken und Prozessen innerhalb von mehrsprachigen Familien, die die konkrete sprachliche Praxis, aber auch innerfamiliäre Sprachregelungen sowie sprachbezogene Ideologien betreffen (S P O L S K Y 2012: 4). Studien untersuchen beispielsweise, welche Strategien Eltern wählen, um ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen zu lassen, und auf welcher Grundlage sie diese Entscheidungen getroffen haben (vgl. S CHWA R TZ 2020, vgl. Kap.-3 und 4). Abb. 7.1: Hierarchische Beziehung der Einflussfaktoren der Makro-, Meso- und Mikroebene auf Sprach‐ erhalt und Sprachweitergabe 7.3 Makro-, Meso- und Mikroebene 129 <?page no="131"?> 6 Dinka zählt zu den am häufigsten gesprochenen Sprachen im Sudan und ist zugleich eine der am häufigsten gesprochenen Sprachen der sudanesischen community in Australien (vgl. H A T O S S & S H E E L Y 2009). Die Makro-, Meso- und Mikroebene stehen miteinander in einer hierarchischen Beziehung (R I E HL 2014: 196) und insbesondere die unmittelbar benachbarten Ebenen beeinflussen sich gegenseitig stark in beide Richtungen (vgl. Abb. 7.1). Das heißt, dass beispielsweise gesellschaftliche Diskurse auf der Makroebene oftmals bildungspoliti‐ sche Entscheidungen auf der Mesoebene prägen, die sich wiederum auf die Mikroebene der Familie auswirken können. Ein Beispiel für dieses top-down-Wirkgefüge wäre jegliche Gesetzgebung als Bestrebung zum Spracherhalt oder zur Wiederbelebung von Sprachen, wie beispielsweise die Gesetze zum Schutz des Te Reo Māori in Neuseeland oder des Irischen in Irland (L IDDIC OAT 2020: 340). Beide Gesetze führten dazu, dass in den Schulen (wieder) in den jeweiligen Minderheitensprachen unterrichtet wurde bzw. unterrichtet werden musste. Kritisch kann hier angemerkt werden, dass solche Legislativen oftmals ein bloßes Lippenbekenntnis darstellen, solange keine konkreten Handlungszwänge auf institutioneller Ebene bestehen (vgl. auch Kap. 11). Erst mit konkreten Bestimmungen, durch welche Maßnahmen eine Sprache unterstützt werden soll, können solche Gesetze zum Spracherhalt der communities beitragen. Auch in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, einem bedeutenden Dokument zur Sicherung der sprachlichen Rechte zahlreicher autochthoner Minder‐ heiten auf europäischem Boden, wird den Minderheiten das Recht auf Spracherhalt zwar zugesprochen, allerdings setzen nur wenige Staaten sich dafür ein, dass dieses Recht auch in Anspruch genommen werden kann (S CHMITZ & O L F E R T 2013: 210-211). Auch gegenläufige bottom-up-Prozesse sind in der Forschung gut dokumentiert und können speziell mit Blick auf die Interaktion der Mikro- und Mesoebene beobachtet werden. H AT O S S (2020) stellt beispielsweise fest, dass für die aus dem Sudan nach Australien eingewanderte Dinka 6 -community der Erhalt von Dinka innerhalb der Familie eine überaus wichtige Rolle spielte. So war es auch das Bestreben der Familien, ihre in Australien geborenen Kinder in Dinka literalisieren zu lassen. Dieses Bestreben war so groß, dass Eltern diese Angebote mithilfe von Forscher*innen selbst organisier‐ ten und Dinka-Schulen gründeten bzw. Dinka-online-Angebote erarbeiteten. Dies ist ein gutes Beispiel für eine basisdemokratische Initiative (engl. grass root initiative, M C C A R T Y E T AL . 2008: 304), die sich bis auf die Mesoebene der Einrichtung einer non-formalen Bildungsinstitution auswirkte. Als eine solche bottom-up-Bewegung ist auch die Heritage Language-Bewegung in den USA und in Kanada in den 1990er Jahren zu verstehen, die durchaus als Gründungsstein der Erforschung von HS betrachtet werden kann (P E Y TON E T AL . 2001: 4). Diese Bewegung entwickelte sich ausgehend von den communities selbst, die den Erhalt ihrer Sprachen und ihre Weitergabe an die nächsten Generationen fördern und sicherstellen wollten und hierzu zunächst eigenverantwortlich entsprechende Angebote von der Elementarstufe bis zum tertiä‐ ren Bildungsbereich einrichteten (vgl. Kap. 4). Diese Angebote wurden schließlich schrittweise verstetigt und in das Regelsystem übernommen (F I S HMAN 2001: 89). 130 7 Außersprachliche Faktoren <?page no="132"?> 7.4 Offene Fragen Zu außersprachlichen Faktoren und ihrem Einfluss auf Spracherhalt bzw. Sprachver‐ lust liegen national wie international bereits zahlreiche Forschungserkenntnisse vor. Die klassischen Studien widmeten sich bereits in den 1970er Jahren der Erforschung von außersprachlichen Faktoren als Wirkgrößen in autochthonen Sprachkonstellati‐ onen (vgl. D R E S S L E R 1981, F I S HMAN 1972), wenngleich Sprachen von Zuwanderer*in‐ nen damals noch nicht prominent im Fokus der Untersuchungen standen. Auch zahlreiche aktuelle Studien erforschen den Zusammenhang von Spracherhalt und außersprachlichen Faktoren, beschränken sich dabei jedoch oftmals auf einige wenige Zusammenhänge. Woran es nach wie vor mangelt, sind vergleichende Studien, die den Einfluss außersprachlicher Faktoren auf Spracherhalt bei unterschiedlichen Sprach‐ gruppen in demselben Kontext (S CHMID 2011: 102) oder bei derselben Sprachgruppe in unterschiedlichen Kontexten untersuchen. In solchen Studien könnte eine bestimmte Sprachgruppe (z. B. Türkisch in Deutschland) nicht mit monolingualen Sprecher*innen kontrastiert werden (Türkisch in der Türkei; vgl. Kritik dazu in Kap. 5), sondern mit Sprecher*innen, die dieselbe Sprache in einer anderen Mehrheitskonstellation sprechen (Türkisch in den Niederlanden, vgl. Aufgabe 5 in Kap. 6.5), oder auch mit Sprecher*innen, die dieselbe Sprachenkonstellation im umgekehrten Mehrheits- und Minderheitenverhältnis sprechen (Deutsch in der Türkei). Solche Studien, wie sie beispielsweise in dem RUEG-Projekt vor allem mit Blick auf linguistische Merkmale durchgeführt wurden (vgl. I E F R E M E NKO E T AL . 2021, Z U BAN E T AL . 2021), könnten durch eine ähnlich kontrastive Herangehensweise besonders gut den Einfluss unterschiedli‐ cher außersprachlicher Faktoren auf Spracherhalt aufzeigen. Vielversprechend scheint auch eine deutlichere Berücksichtigung von außer‐ sprachlichen Einflussfaktoren auf allen drei Betrachtungsebenen und ihre stärkere Verknüpfung in der Analyse. So ließe sich gut nachzeichnen, wie sich beispielweise Umwälzungen auf der Makroebene in individuellem Sprachweitergabeverhalten auf‐ spüren lassen (B R IZIĆ 2008: 8-11). Dasselbe betrifft die Auseinandersetzung mit bot‐ tom-up-Bewegungen und ihrem Beitrag zu Spracherhalt. Durch sie wird deutlich, wel‐ che Möglichkeiten es für Individuen gibt, hierarchiehöhere Prozesse zu beeinflussen und beispielsweise Spracherhaltsbemühungen der communities gesetzlich zu stützen. Schließlich sollte auch die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gruppe bei Studien zu außersprachlichen Faktoren stärker miteinbezogen werden. Denn es sind insbesondere diese Überlappungen gruppenspezifischer und individueller Faktoren, die wie ein Brennglas die Erforschung der Auswirkung von gruppenspezifischen Faktoren auf den Spracherhalt beim Individuum aufschlussreich machen. 7.5 Aufgaben 1. Welchen Grund könnte es für die von L I P P E R T (2010) beobachtete Abnahme der herkunftssprachlichen Kenntnisse in der Geschwisterreihenfolge und somit für 7.4 Offene Fragen 131 <?page no="133"?> die Sprachumstellung zur Mehrheitssprache innerhalb einer einzelnen Generation geben (vgl. Kap. 7.2.2)? Vergleichen Sie Ihre Überlegungen zu L I P P E R T S sog. Drei-Geschwister-Regel mit dem von F I S HMAN bereits in den 1950ern aufgestellten Drei-Generationen-Modell der Sprachaufgabe (F I S HMAN 1991: 88-109). 2. Lesen Sie folgenden Ausschnitt aus einem Interview mit einem Vater eines Sohnes im Grundschulalter. Der Vater ist in Kanada bilingual mit Armenisch und Englisch aufgewachsen und im Erwachsenenalter mit der gesamten Familie nach Deutschland ausgewandert. Diskutieren Sie anhand des Ausschnitts, welche außersprachlichen Faktoren sich auf die Weitergabe des Armenischen innerhalb der Familie ausgewirkt haben könnten. Wie würden Sie sich zu den Überlegungen des Vaters positionieren? “I realized, the ambient language will be the dominant one, no matter what. And so, when we came here [to Germany], I knew I had to make a choice. Do I support Armenian or English? And English was of course the more useful language. I mean, I have to make that choice. There is a bit of a sacrifice there, right? But if I had to choose, I cannot say, I prefer my son to be fluent in Armenian, but not so good in English. That’s not going to benefit him nearly as much, right? So, you make a choice, right? So, I could’ve just spoken Armenian to him all the time, but then he is going to speak English with a German accent. If we ever move back [to Canada], I mean, I want him to be native English speaker as much as possible. It’s much more useful.“ (englischsprachiges Original; eigene, unveröffentlichte Daten) „Mir wurde klar, dass die Umgebungssprache die dominierende sein wird, egal was passiert. Und als wir hierher [nach Deutschland] kamen, wusste ich, dass ich eine Wahl treffen musste. Unterstütze ich Armenisch oder Englisch? Und Englisch war natürlich die nützlichere Sprache. Ich meine, ich muss diese Wahl treffen. Da ist doch ein gewisses Opfer nötig, oder? Aber wenn ich mich entscheiden müsste, kann ich nicht sagen, dass es mir lieber ist, wenn mein Sohn fließend Armenisch spricht, aber nicht so gut Englisch. Das wird ihm nicht annähernd so viel nützen, nicht? Man trifft also eine Wahl, nicht? Ich hätte also die ganze Zeit einfach Armenisch mit ihm sprechen können, aber dann wird er Englisch mit deutschem Akzent sprechen. Wenn wir jemals zurück [nach Kanada] ziehen, möchte ich, dass er ein Englisch-Muttersprachler ist, so sehr es geht. Es ist viel nützlicher.“ (deutschsprachige Übersetzung: H.-O.) 3. S CHMID befasste sich in einer Studie mit den Deutschkompetenzen von älteren in den USA und in Großbritannien lebenden Jüd*innen, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus Deutschland geflüchtet waren (vgl. S CHMID 2002). Sie stellte fest, dass der Erhalt von Kompetenzen in der deutschen Sprache davon abhängig war, zu welchem Zeitpunkt die Personen aus Deutschland geflüchtet waren. Waren sie direkt nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 geflüchtet, so waren ihre Deutschkompetenzen auch nach über 60 Jahren in einer 132 7 Außersprachliche Faktoren <?page no="134"?> 7 „Ефективність реалізації державної політики у сфері утвердження української національної та громадянської ідентичності: соціологічні індикатори (травень 2023р.)“ (https: / / razumk ov.org.ua/ napriamky/ sotsiologichni-doslidzhennia/ efektyvnist-realizatsii-derzhavnoi-polityky-u-sf eri-utverdzhennia-ukrainskoi-natsionalnoi-ta-gromadianskoi-identychnosti-sotsiologichni-indykat ory-traven-2023r; Aufruf 27.06.2024). anglophonen Umgebung noch recht gut erhalten. Waren sie hingegen erst nach der Reichspogromnacht 1938 geflüchtet, so wiesen sie oftmals deutlich geringere Deutschkompetenzen auf als die erstgenannte Gruppe und hatten die deutsche Sprache auch in der Familienkommunikation größtenteils aufgegeben. Diskutieren Sie, wie die Ergebnisse dieser Studie erklärt werden können. Überlegen Sie hierbei, welche außersprachlichen Faktoren sich auf die Deutschkompetenzen der Studienteilnehmer*innen ausgewirkt haben mögen. Lesen Sie in der Studie nach (ebd., 169-190), welche außersprachlichen Faktoren S CHMID als Wirkmecha‐ nismen auf Spracherhalt bzw. Sprachwechsel in ihrer Untersuchung ausschließen konnte. 4. Laut einer repräsentativen Umfrage 7 der nicht-staatlichen ukrainischen For‐ schungsorganisation „Razumkov Centre“ (Центр Разумкова; razumkov.org.ua) verwendeten im Jahr 2023 rund 9 % der Ukrainer*innen Russisch in der alltäglichen Kommunikation. Im Jahre 2006 waren es noch 38 %. Zudem stieg der Anteil derer, die Ukrainisch als ihre Muttersprache bezeichnen, von 52 % im Jahr 2006 auf 78 % im Jahr 2023. Zugleich fiel der Anteil der Menschen, die Russisch als ihre Muttersprache bezeichnen, in demselben Zeitraum von 31-% auf 5-%. Recherchieren Sie zunächst, welche Sprachen in der Ukraine gesprochen werden und in welcher (historischen) Beziehung sie zueinanderstehen. Diskutieren Sie anschließend, welche außersprachlichen Faktoren diesen Wechsel im Sprachge‐ brauch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine durch welche Mechanismen hervorgerufen haben könnten. Überlegen Sie weitere (auch historische) Beispiele dafür, in denen sich solche sozio-politischen Großereignisse auf die Sprachverwen‐ dung im Alltag ausgewirkt haben. 7.6 Literaturverzeichnis A L -S A H A F I , Morad (2015): The Role of Arab Fathers in Heritage Language Maintenance in New Zealand. International Journal of English Linguistics 5(1), 73 - 83. A R M O N -L O T E M , Sharon, W A L T E R S , Joel, G A G A R I N A , Natalia (2011): The Impact of Internal and External Factors on Linguistic Performance in the Home Language and in L2 among Rus‐ sian-Hebrew and Russian-German Preschool Children. Linguistic Approaches to Bilingualism 1(3), 291 - 317. 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Das bedeutet aber nicht, dass man sich dem Thema nicht wissenschaftlich nähern und dabei Regelmäßigkeiten erkennen kann. Um zunächst einige Grundlagen auf theoretischer Ebene zu schaffen, werden wir im Folgenden auf soziologische und psychologische Ansätze zurückgreifen, die anschließend anhand soziolinguistischer Datenbeispiele veranschaulicht werden. Es ist wichtig zu betonen, dass mit soziolinguistischen Methoden lediglich beobachtbare Phänomene wie gespro‐ chene und geschriebene Sprache, aber auch Gruppenbildungen und Verhaltensweisen wie Dresscodes etc. beschrieben und analysiert werden. Dabei wird deutlich, dass bei aller Individualität und Vielfalt Regelmäßigkeiten existieren, nach denen Identität konstruiert und dargestellt wird. 8.2 Definition Wenn von Identität die Rede ist, geht es im Kern immer um die Frage „Wer bin ich? “. Diese Frage stellt sich auch im Hinblick auf die Vorstellung der eigenen Herkunft, die damit einhergehenden Gruppenzugehörigkeiten und den Gebrauch von Sprache: Menschen, in deren Leben die Herkunftssprachen bzw. Heritage-Sprachen (HS) eine Rolle spielen, weisen diesen Sprachen häufig identitätsstiftende Funktionen zu (B R EHM E R & M E HLHO R N 2018: 64-66). Dass die Frage nach der Identität eine nach wie vor aktuelle ist, zeigt sich schon an der Tatsache, dass der Begriff sowohl Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs als auch der Wissenschaftssprache und somit nicht ohne weiteres ersetzbar ist, wie H ALL bereits 1996 feststellt: 1 But since [terms like identity] have not been superseded dialectically, and there are no other, entirely different concepts with which to replace them, there is nothing to do but to continue to think with them - albeit now in their detotalized or deconstructed forms, and no longer operating within the paradigm in which they were originally generated […]. (H A L L 1996: 1) <?page no="141"?> H ALL greift hier bereits einen Punkt auf, der im Folgenden wichtig werden wird: Der Begriff ist bislang weder überwunden noch abgelöst worden und wird daher weiterhin verwendet, allerdings in „detotalisierter oder dekonstruierter Form“ - was damit gemeint ist, soll im Folgenden kurz erläutert werden. Neben der in den letzten Jahren stark in den Vordergrund gerückten identitätspolitischen Perspektive (vgl. B UND E S Z E NT R AL E FÜR P O LITI S CHE B ILDUN G 2022) gibt es zu dem Begriff umfassende philosophische, psychologische und soziologische Diskurse. Da es sich somit um ein sehr vielseitiges Konzept handelt, wird Identität als einziger Begriff in diesem Kapitel definiert. 8.2.1 Identität als Selbst- und Fremdwahrnehmung Eine erste Unterscheidung, die bei Identitätsdefinitionen zumeist genannt wird, ist die zwischen einem „Innen“, also einer individuellen Ebene, und einem „Außen“, also einer sozialen Ebene (M E Y 2018: 189). Als Menschen versuchen wir, unser von innen erlebtes Selbstbildnis nach außen darzustellen und erfahren daraufhin Bewertung, etwa durch Zustimmung, Ablehnung oder auch Gleichgültigkeit. Somit ist Identitätsbildung der Versuch, jene Selbstwahrnehmung mit dieser Fremdbewertung in Einklang zu bringen: So, wie ich mich selbst sehe, will ich von anderen auch gesehen werden. Umgekehrt beeinflussen die Reaktionen auf das nach außen projizierte Bild wiederum die innere Selbstwahrnehmung, sodass es sich um einen andauernden Prozess handelt, der in beide Richtungen verläuft (vgl. hierzu auch W E R ANI 2023: 46-49). 8.2.2 Konstruiertheit von Identität Ein weiterer Punkt, über den heute weitestgehend Einigkeit besteht, ist die Ansicht, dass wir Identität nicht qua Geburt erhalten (indem wir etwa in einer bestimmten sozialen Schicht, mit einem bestimmten Geschlecht oder in einer bestimmten sprach‐ lichen Umgebung geboren werden) und dann ein Leben lang in unveränderter Form mit uns tragen. Hierauf bezieht sich auch die oben erwähnte „Detotalisiertheit“ und „Dekonstruiertheit“ von Identität: Zwar spielen diese und andere Faktoren teilweise sehr wichtige Rollen, aber sie alle bestimmen die Identität nicht abschließend. Identität wird vielmehr als ein Produkt betrachtet, das wir immer wieder aufs Neue konstruieren - auch und besonders in sprachlicher Interaktion (A ND R O UT S O P O UL O S & G E O R GAKO ‐ P O U L O U 2003: 1, B L OMMAE R T 2005: 205). Aus einer Perspektive der interaktionalen Soziolinguistik definieren B U CHO LTZ & H ALL Identität daher wie folgt: Identity is best viewed as the emergent product rather than the pre-existing source of linguistic and other semiotic practices and therefore as fundamentally a social and cultural phenomenon. (B U C H O L T Z & H A L L 2005: 588) Identität entsteht somit auch durch und mit Sprache, mitunter in lebenslangen Projek‐ ten. K E U P P E T AL . (2013) sprechen in diesem Zusammenhang von Identitätsarbeit, die aus 140 8 Identität und Spracherhalt <?page no="142"?> 2 Vgl. „Acts of Identity“ von L E P A G E & T A B O U R E T -K E L L E R (1985). der Verknüpfung täglicher Selbsterfahrungen entsteht. Für diese Verknüpfungsarbeit braucht es entsprechendes Arbeitswerkzeug, das uns in Form von Narrationen zur Verfügung steht. 8.2.3 Narration als Mittel der Identitätskonstruktion K E U P P E T AL . bezeichnen Selbstnarrationen als „linguistisches Werkzeug“ der Identi‐ tätskonstruktion (2013: 102): Durch Erzählungen uns selbst und anderen gegenüber zeichnen wir Identitätsentwürfe, bringen vergangene mit gegenwärtigen Selbster‐ fahrungen in Verbindung und entwerfen zukünftige Identitätsprojekte, denen wir uns anzunähern versuchen. Narration ist dabei der handwerkliche Vorgang, in dem Erfahrungen in sinnvolle und schlüssige Zusammenhänge gebracht werden. Dies ist wiederum geprägt von den „kulturellen narrativen Vorlagen“ (M E Y 2018: 193), an denen wir uns - bewusst oder unbewusst - orientieren. Sprache spielt dabei eine zentrale Rolle: Dass wir uns bestimmten Gruppen zugehörig fühlen oder von ihnen abgrenzen, verdeutlichen wir beispielsweise durch verschiedene Verhaltensweisen wie durch unsere Kleidung, Hobbys, Essgewohnheiten; vor allem aber tun wir dies durch entsprechenden Sprachgebrauch. Dabei muss es nicht einmal darum gehen, sich in der jeweiligen Sprache verständigen zu können. Häufig reicht ein Verweisen auf die Sprache (und damit auch auf eine bestimmte Herkunft bzw. Kultur), was wiederum bereits mit kleinsten sprachlichen Mitteln erzielt werden kann. In Abschnitt 8.3.2 wird dies anhand eines Beispiels verdeutlicht. Betrachten wir die drei obigen Abschnitte gemeinsam, so könnte eine komprimierte Definition von Identität wie folgt lauten: Identität ist der Versuch, das stets in Konstruktion befindliche Selbstbild anhand von (Selbst-)Narrationen mit der Außenwahrnehmung in Einklang zu bringen. Wo diese Narrationen sichtbar - oder vielmehr hör- oder lesbar - werden, setzt die soziolinguistische Untersuchung sprachlicher Identitätskonstruktionen an. 8.3 Stand der Forschung Aus der obigen Definition geht hervor, dass Identität kein Forschungsgegenstand ist, der sich direkt untersuchen ließe: Erst durch Handlungen - man spricht auch von „Identitätsakten“ 2 - wird Identitätskonstruktion wahrnehmbar. Das kann sich auf sprachliche Handlungen beziehen, es spielen aber auch diverse andere Bereiche eine (oft größere) Rolle, wie etwa das äußerliche Erscheinungsbild oder übliche Verhaltensweisen im sozialen Miteinander. Man stelle sich eine konkrete Situation wie das Betreten eines Seminarraums zu Beginn der Veranstaltung vor: Bewusst oder unbewusst nimmt man bei vielen der anwesenden Personen wahr, wie sie aussehen, 8.3 Stand der Forschung 141 <?page no="143"?> 3 Semiotik ist die wissenschaftliche Untersuchung von Zeichen und Zeichensystemen sprachlicher und nichtsprachlicher Art. 4 Eine andere und weniger zuschreibende Sichtweise bietet das Konzept der „hybriden Identität“, vgl. K O C H & R I E H L (2024: 205). welche Sprache sie sprechen und welches sprachliche Register sie verwenden. Man nimmt aber auch wahr, ob die Person schon im Raum sitzt oder sich verspätet, wo im Raum sie Platz nimmt, ob sie grüßt, wen sie grüßt, etc. Diese Liste ließe sich fortsetzen und verdeutlicht, dass wir uns insgesamt im Bereich der Semiotik  3 befinden: In fact, identity is semiotic through and through, and every act of semiosis is an act of identity in which we ‚give off ‘ information about ourselves. (B L O M MA E R T 2005: 203-204) Der Anschaulichkeit halber beschränken wir uns im Folgenden allerdings auf sprach‐ liche Beispiele und betrachten den Themenkomplex Identität und Spracherhalt aus den drei folgenden thematischen Perspektiven: Gruppenzugehörigkeiten, sprachliche Repertoires und Herkunftssprachen und Identität im Laufe des Lebens. 8.3.1 (Vorgestellte) Gruppenzugehörigkeit In der Beschäftigung mit Spracherhalt und Identität spielen Konzepte wie „Nation“, „ethnische Zugehörigkeit“ oder „Standardsprache“ häufig zentrale Rollen. Nicht nur die Sprecher*innen selbst ordnen sich bestimmten Kategorien und Gruppen zu, sie werden ihnen auch von außen zugeordnet, mitunter aus der Forscher*innenperspektive: So heißt es gelegentlich in Arbeiten, die sich kritisch mit solchen Konzepten auseinan‐ dersetzen, dass etwa herkunftsbedingt mehrsprachig aufgewachsene Jugendliche sich „zwischen zwei Kulturen“ bewegen. 4 In Bezug auf solche Kategorisierungen und die mit ihnen verbundenen Zuschreibungen ist es hilfreich, sich die Konstruiertheit auch scheinbar eindeutiger und stabiler Kategorien zu verdeutlichen. Ein klassischer An‐ satzpunkt hierfür ist die Arbeit von A ND E R S O N , der Nationen als imagined communities, also ‚vorgestellte Gemeinschaften‘ bezeichnet: It is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion. (A N D E R S O N 2017: 6) Im Bereich der Angewandten Linguistik wurde das Konzept von N O R T ON (2001) auf Zweitsprachenerwerbssituationen angewendet, was anschließend mehrfach aufgegrif‐ fen wurde (bspw. in L U ON G & T R AN 2021). Was A ND E R S ON beschrieben hat, trifft also nicht nur auf Nationen, sondern auch auf andere Gemeinschaften zu: Such communities include affiliations, such as nationhood or even transnational communi‐ ties, which extend beyond local sets of relationships. Such imagined communities may well have a reality as strong as those in which learners have current daily engagement, and might 142 8 Identität und Spracherhalt <?page no="144"?> even have a stronger impact on their investment in language learning. (N O R T O N & T O O H E Y 2011: 422) Wer eine HS spricht, ist somit ebenso Teil einer solchen vorgestellten Gemeinschaft: So gibt es beispielsweise die eine „Gruppe der Türkischsprachigen“ in Deutschland - oder auch nur in einer Stadt - nicht als konkrete Erfahrungsgemeinschaft. Es gibt sie höchstens als statistische Größe oder eben als vorgestellte Gemeinschaft, aber kennenlernen und austauschen werden sich die Mitglieder dieser Gruppe niemals alle. Gleichzeitig ist sie von Bedeutung: Wer in der betreffenden Stadt, Region oder dem Land mit Türkisch als HS aufwächst, wird als Teil dieser Gemeinschaft angesehen - unabhängig davon, wie die Person selbst dazu steht. Man markiert daher Ablehnung oder Zugehörigkeit zu dieser ebenso wie zu anderen Gruppen, und das geschieht v.-a. auch sprachlich. Schließlich ist auch wichtig zu bedenken, dass Identitätskonstruktionen, die sich auf HS beziehen, nicht nur aktiv von den Sprecher*innen selbst konstruiert werden, sondern auch Zuschreibungen anderer hierbei eine wichtige Rolle spielen: Durch negative Berichterstattung über das Herkunftsland in den Medien, die Konfrontation mit Vorurteilen gegenüber der [Herkunftssprache] oder stigmatisierende Bemerkungen von Mitschülern können sich Herkunftssprecher in ihrer mehrsprachigen Identität bedroht fühlen. (B R E H M E R & M E H L H O R N 2018: 66) Die Wahrnehmung der jeweiligen Sprache in der Gesellschaft wirkt so ebenfalls auf die Identitätskonstruktionen der Sprecher*innen ein. Somit sind zwar Identitätskategorien wie „deutsch“, „türkisch“, „kurdisch“, „rus‐ sisch“, „arabisch“ etc., die sich auf die Nationalität ebenso wie die Sprache beziehen können, auch heute von Bedeutung für viele Sprecher*innen; das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Identitätskonstruktionen insgesamt weitaus kom‐ plexer sind. 8.3.2 Gruppenzugehörigkeit und das sprachliche Repertoire Der Sprachgebrauch von Jugendlichen weist heutzutage auf sehr komplexe Reper‐ toires hin - ganz unabhängig davon, ob die jeweilige Person selbst mehrsprachig aufgewachsen ist oder nicht. Der Repertoire-Begriff geht auf die Arbeit von G UM P E R Z (1964) zurück und bietet eine ganzheitliche Sichtweise auf die Ausdrucksmöglichkeiten der einzelnen Person, welche von B U S CH wie folgt beschrieben wird: Das Repertoire wird als ein Ganzes begriffen, das jene Sprachen, Dialekte, Stile, Register, Codes und Routinen einschließt, die die Interaktion im Alltag charakterisieren. Es umfasst also die Gesamtheit der sprachlichen Mittel, die Sprecher*innen einer Sprechgemeinschaft zur Verfügung stehen, um (soziale) Bedeutungen zu vermitteln. (B U S C H 2021: 23) Das Repertoire setzt sich also aus verschiedenen Sprachen und Varietäten zusammen, die im Laufe des Lebens erworben werden: Zunächst kann es eine oder mehrere Spra‐ 8.3 Stand der Forschung 143 <?page no="145"?> chen geben, die zumeist in der Familie bzw. im unmittelbaren sozialen Umfeld erworben werden (vgl. Kap. 2). Diese werden in variierenden Kompetenzgraden beherrscht, da sich je nach Sprache mehr oder weniger Erwerbs- und Anwendungsgelegenheiten bieten (vgl. Kap. 5); auch das (soziale) Prestige der jeweiligen Sprache spielt hierbei eine große Rolle (vgl. Kap.-9). W E I R ICH spricht hier von der Erreichbarkeit (access) und der Reichweite (scope) der sprachlichen Ressourcen (W E I R ICH 2021: 159-160). Wo Deutsch keine Erstsprache ist, beginnt dessen Erwerb in der Regel mit dem Eintritt in den Kindergarten, spätestens aber mit der Einschulung. Hierbei können unterschiedliche Varietäten eine Rolle spielen: Die Schule vermittelt die (mitunter regional gefärbte) Bildungssprache, über die Medien haben die Kinder und Jugendli‐ chen Kontakt mit dem überregionalen Standard, untereinander erwerben sie jugend‐ sprachliche Kompetenzen (vgl. Kap. 6). Hinzu kommen weitere schulisch vermittelte Fremdsprachen, wobei Englisch durch die Vermittlung über soziale Medien, Video- und Streamingplattformen sowie popkulturelle Einflüsse eine besondere Rolle einnimmt. In urbanen Kontexten (und durch mediale Vermittlung: auch außerhalb davon) ist es somit keine Überraschung, wenn die Repertoires von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch Elemente enthalten, die aus verschiedenen Sprachen stammen. Ebenso ist es nicht ungewöhnlich, dass diese sprachlichen Elemente auch von Spre‐ cher*innen verwendet werden, bei denen die jeweilige Sprache nicht zur Migrations‐ geschichte der eigenen Familie gehört. Für Deutschland wurde dies u. a. unter dem Begriff „Kiezdeutsch“ (W I E S E 2012) untersucht (vgl. Kap. 6), ähnliche Arbeiten gibt es auch zu Varietäten wie dem „Multicultural London English“ (K I R CH E R & F OX 2021) oder anderen sog. contemporary urban vernaculars in Oslo, Amsterdam oder Stockholm (vgl. Q UI S T & S V E ND S E N 2020). Häufig beschränkt sich die Verwendung dieser Elemente allerdings auf bestimmte Bereiche wie sprachliche Routinen (bspw. Begrüßungen) oder Diskursmarker, wie im folgenden Beispiel 1: Hier unterhalten sich zwei gambiastämmige Jugendliche in einem Jugendzentrum in Hamburg. B hat A gebeten, ihm einen E-Scooter freizuschalten: Beispiel 1 A: Lauf hin ich mach auf. B: Tamam wo is der? A: Hier auf der Straße. (W O L F -F A R R É in Vorb.) Das Besondere an diesem kurzen Austausch ist, dass die türkische Partikel tamam (dt. ‚fertig‘; hier: ‚in Ordnung‘) als Zustimmung innerhalb einer deutschsprachigen Interaktion verwendet wird, obwohl keine der beiden Personen Türkisch als HS 144 8 Identität und Spracherhalt <?page no="146"?> 5 Hier ist anzumerken, dass tamam nicht nur auf Türkisch, sondern auch auf Arabisch gebräuchlich ist, sodass hier auch ein Einfluss des Arabischen eine Rolle gespielt haben kann. 6 Chunks sind sprachliche Formen wie bspw. Begrüßungsfloskeln, die als Ganzes gelernt werden, auch wenn sie aus mehreren Wörtern bestehen. erworben hat. 5 In der Datenerhebung, aus der dieses Beispiel stammt (W O L F -F A R R É in Vorb.), hat sich aber gezeigt, dass innerhalb des sozialen Raums, in dem dieser Austausch stattfindet (Gespräch unter Jugendlichen in einem großstädtischen Jugend‐ zentrum), die Verwendung türkischer Elemente gängig und akzeptiert ist und dass die Sprecher*innen solche sprachlichen Mittel nahezu ausschließlich untereinander und nur sehr selten mit Leuten außerhalb der Gruppe (wie z. B. Erwachsenen, Jugendzentrumsleitung, Fremden) verwenden. Es handelt sich also um vergleichsweise kleine sprachliche Elemente, die in der Regel wohl nicht als Türkischkenntnisse angesehen werden, bestenfalls als bruchstückhaftes Wissen. Gleichwohl sind sie von hoher Bedeutung, da durch ihren gezielten Einsatz Gruppenzugehörigkeit signalisiert und damit auch Identitätsarbeit betrieben wird. Häufig bleibt es bei der Verwendung solcher Routinen oder chunks  6 , wie der Verwen‐ dung von tamam im oben beschriebenen Beispiel. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen es zum balancierten ungesteuerten Erwerb einer Sprache kommt, die man nicht selbst als HS erworben hat. In der Arbeit von D I R IM & A U E R (2004) wurden Jugendliche im Hamburger Stadtteil Altona interviewt, die sich dort durch Alltagsinteraktionen Tür‐ kischkenntnisse angeeignet hatten und im alltäglichen Sprachgebrauch verwendeten, ohne selbst einen familiären Bezug zum Türkischen zu haben. Es handelt sich also um den ungesteuerten Erwerb einer Sprache in einem Kontext von Minderheitensprachen. Daraus ergibt sich, dass ein bestimmtes Register des Türkischen erworben wird, das der Nähesprache, Familiensprache und Umgangssprache zuzuordnen ist, wohingegen das Register im Fremdsprachenerwerb zumeist ein formelleres ist. Entsprechend geht der von D I R IM & A U E R (2004) beschriebene Spracherwerb auch über rein sprachstruk‐ turelle Ebenen hinaus und erstreckt sich über Umgangsformen, Kleidung und weitere semiotisch bedeutsame Aspekte: Ein interessantes Beispiel sind die Brüder Hans und Thomas, die sich so perfekt in ihrer Sprache, Gestik und Mimik an türkische Verhaltensstile angepasst hatten, dass wir - zumindest im Fall von Hans - erst nach einiger Zeit bereit waren zu glauben, dass wir es hier mit jungen Männern aus einem rein deutschen Familienhintergrund zu tun hatten. Sie sprachen auch untereinander meist türkisch. (D I R I M & A U E R 2004: 60) Der hier beschriebene Prozess lässt sich auf Englisch als passing bezeichnen, was mit „(als erstsprachlich) durchgehen“ übersetzt werden kann: Passing is most commonly defined as the ability to be taken for a member of social category (ethnic, racial, class, gender, etc.) other than one’s own. (C U T L E R 2014: 150) Es handelt sich also um einen umittelbaren Akt der Identitätskonstruktion, der weit über die Aneignung und Anwendung von Sprachkenntnissen hinaus geht. Um Grup‐ 8.3 Stand der Forschung 145 <?page no="147"?> 7 Der Name wurde geändert. penzugehörigkeit nicht nur zur signalisieren, sondern auch zugestanden zu bekommen, müssen ebenso der Akzent, die Prosodie, Gestik und Mimik stimmen. Fremd- oder schulsprachliche Kenntnisse der HS können hierbei sogar hinderlich sein. Es zeigt sich, dass HS auch dann einen wichtigen Teil der Repertoires von Jugend‐ lichen ausmachen können, wenn sie beim Aufwachsen im familiären Kontext keine Rolle gespielt haben. Die Kenntnisse, die in einem solchen Fall mitunter erworben werden, können vom floskelhaften Gebrauch bis zu fortgeschrittener sprachlicher und metasprachlicher Kompetenz reichen. 8.3.3 Identität und Spracherhalt im Laufe des Lebens Das Sprachenrepertoire eines Menschen erweitert und verändert sich im Laufe des Le‐ bens. Aber auch die Funktion, die Sprachen für die Identitätskontruktion erfüllen, kann sich verändern: Gerade HS können an verschiedenen Punkten der Biografie von großer Bedeutung sein und sich im alltäglichen Gebrauch befinden, oder auch vernachlässigt, ignoriert oder vergessen werden. Der folgende Auszug von W O L F -F A R R É & C ANTO N E (2022) stammt aus einer vergleichenden Studie zum Spracherhalt des Deutschen in Chile (bei Mitgliedern der deutschstämmigen Minderheit) und des Türkischen in Deutschland (bei Nachkommen der sog. Gastarbeitergeneration). Hier beschreibt der deutschchilenische Sprecher Alberto 7 den Erwerb des Deutschen als Minderheitenspra‐ che in Chile bis zur Pubertät: Beispiel 2 [W]ir sprachen nicht mit den Klassenkameraden Deutsch aber aber zuhause, wurde immer, am äh am Tisch, Deutsch gesprochen das war so, das war so immer die, die … bis ein Alter, ich erinnere mich, da war ich so, keine Ahnung so dreizehn, vielleicht ein bisschen früher noch so zwölf dreizehn Jahre wo dann, DA, Kollaps weißt Du, da wollte dann, mit der Sprache man wollte dann, total chilenisch sein, nicht wahr nix mit Deutschland zu tun haben. (W O L F -F A R R É & C ANTO N E 2022: 308) Während Deutsch bis zu diesem Zeitpunkt einen selbstverständlichen Teil seines Sprachenrepertoires dargestellt hat, spielt für Alberto mit dem Beginn der Pubertät eine neue Identitätskategorie eine wichtigere Rolle: Er sieht sich als Teil der chilenischen Gesellschaft und nicht der deutschen (hierbei ist auch die Formulierung interessant: „nix mit Deutschland zu tun haben“). Dies ändert sich einige Jahre später, als die deutsche Sprache für ihn eine neue Bedeutung erhält: 146 8 Identität und Spracherhalt <?page no="148"?> 8 Für eine ausführlichere Analyse der Auszüge vgl. W O L F -F A R R É & C A N T O N E (2022). Beispiel 3 [Mit] achtzehn bin ich von zuhause weg, nie wieder nachhause. Wenig Deutsch gesprochen, ää viel Englisch und dann hab ich, so die Wichtigkeit von der Sprache gemerkt weißt du. [… ] Meine Absicht war so nach Kanada und sowas zu machen. So ei\ so ein so ein wollte so ein MBA oder sowas machen. So ein Weiter\ Weiter\ Weiterbildung. Und dann hab ich also, eh, in der Firma, dann von, Englisch auf Deutsch also da es war viel Deutsch in Kontakt weißt du da kamen Monteure aus Deutschland, die ganze E-mailgeschichte und so weiter das war alles auf Deutsch weißt du Telefongespräche und so, alles deutsch. (W O L F -F A R R É & C ANTO N E 2022: 310) Die zeitweise Ablehnung ist somit ein wichtiger Teil für die Identitätskonstruktion von Alberto: Durch die Ablehnung wird die spätere Verwendung zu einem Akt der Sprachwahl, den er selbst bestimmt hat. Hätte man ihn als Jugendlichen interviewt und zum Deutschen gefragt, wäre seine Antwort wohl eine ablehnende gewesen und man hätte daraus schließen können, dass er die deutsche Sprache eher vernachlässigen, vielleicht sogar verlieren wird. 8 8.4 Offene Frage: Was ist mit „nicht-erworbenen“ Herkunftssprachen? Dass eine HS, die in der Familie und/ oder dem weiteren sozialen Umfeld erworben wurde, von identifikatorischer Bedeutung ist, leuchtet ein. Wie ist es aber mit Personen, die ihrer eigenen Ansicht nach die Sprache(n) ihrer Familie nicht ausreichend erworben haben, um sich selbst als native speaker wahrzunehmen? Es ist wichtig zu betonen, dass hierbei die Selbsteinschätzung im Vordergrund steht und nicht der tatsächlich erfolgte Spracherwerb: Selbst in Fällen, in denen Sprecher*innen angeben, die HS überhaupt nicht erworben zu haben, kann es durchaus zum (bspw. passiven) Spracherwerb gekommen sein (vgl. Kap.-2). Der folgende Auszug stammt aus einem sprachbiografischen Interview mit einer Sprecherin, die zum damaligen Zeitpunkt 22 Jahre alt war und deren Eltern aus Bosnien eingewandert sind. Sie selbst hat, laut eigener Aussage, oft Bosnisch von ihrer Mutter gehört und alles verstanden, ihr aber nie auf Bosnisch, sondern immer auf Deutsch geantwortet. Auf die Frage, welche Sprachen sie lernen würde, wenn sie sich drei aussuchen könnte, nennt sie an erster Stelle Bosnisch und begründet dies wie folgt: 8.4 Offene Frage: Was ist mit „nicht-erworbenen“ Herkunftssprachen? 147 <?page no="149"?> Beispiel 4 Der Punkt is’ auch, wenn ich irgendwann Kinder bekommen würde, dann würde ich eigentlich gerne denen das [Bosnisch] mit beibringen, weil wenn meine Kinder irgendwann sagen ja ich bin zur Hälfte bosnisch oder so und dann, verstehen sie’s noch nicht mal, sie können’s nicht sprechen, dann is’ schon so bisschen Identitätskrise, deswegen wär das eigentlich schon wichtig für mich, das würde ich also an Platz eins setzen […]. (W O L F -F A R R É in Vorb.) An diesem Auszug ist für unser Thema besonders der Teilsatz „[…] wenn meine Kinder irgendwann sagen ja ich bin zur Hälfte bosnisch […]“ interessant. Hier stellt die Sprecherin eine direkte Verknüpfung zwischen Sprachkenntnissen und einer entsprechenden Abstammung her, sodass eine nicht erfolgte Sprachweitergabe ihrer Ansicht nach ein „bisschen Identitätskrise“ auslösen kann. Diese Befürchtung ist sicherlich nachvollziehbar: Wer eine bestimmte Herkunft beansprucht (oder diese zugeschrieben bekommt), von dem wird häufig auch erwartet, eine bestimmte Sprache zu sprechen; wer die Sprache nicht beherrscht, muss sich gegebenenfalls sogar dafür rechtfertigen. Die Aussage der Sprecherin impliziert aber noch etwas anderes: Nur wenn ein Bewusstsein über die entspechende Herkunft gegeben ist - ganz unabhängig davon, wo die betreffende Person oder ihre Familie tatsächlich herkam -, kann es zu einer entsprechenden „Krise“ kommen. Dieser Punkt mag banal klingen, da man in der Regel wohl davon ausgeht, zu wissen, welche Sprachen es in der eigenen Familie gab und gibt, welche Migrationsgeschichte man selbst oder die unmittelbaren Vorfahren erlebt haben - aber der angenommene gegenteilige Fall macht es deutlich: Wie mag es bei Kindern sein, die ihre leiblichen Eltern nicht kennen und/ oder nicht wissen, dass die Eltern, die sie kennen, nicht die leiblichen sind? Und umgekehrt: Was, wenn ein angenommener anderssprachiger familiärer Hintergrund sich im Nachhinein als falsch erweist? Diese theoretischen Fälle sind Ausnahmen, aber sie veranschaulichen: Erst durch das Thematisieren, das Bewusstmachen der HS wird diese zum Teil der Identitätskonstruktion und erst dann kann ihr Fehlen wie im oben genannten Fall auch von Bedeutung sein. Im Hinblick auf die Erforschung von Sprache und Identität lassen sich folgende Punkte festhalten: • Identitätskonstruktion durch Sprache findet unter anderem durch die sprach‐ liche Markierung der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen statt. Viele der (nationalen, ethnischen, sozialen) Gruppen existieren nicht als reale Erfah‐ rungsgemeinschaften, sondern vorrangig als imagined communities. 148 8 Identität und Spracherhalt <?page no="150"?> • Selbst in stark reduzierter Form sind Sprachen Teile von Identitätskonstrukti‐ onen. Hierbei spielen auch metasprachliche Elemente wie Prosodie und Gestik eine Rolle, da mit ihnen Zugehörigkeit und Authentizität signalisiert werden können. • Sprachen sind nicht nur für Sprecher*innen von Bedeutung, die zur jeweiligen Sprache einen familiären Bezug haben, sondern können auch von anderen Personen erworben werden. Auf lokaler und informeller Ebene, etwa innerhalb der peer group, können solche Kenntnisse ein hohes Prestige beinhalten. • Wie im Falle anderer Sprachen auch kann sich die Rolle, die Herkunftssprachen im Laufe des Lebens für einzelne Personen spielen, ändern. Sie sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten mehr oder weniger bedeutsam für die Identi‐ tätskonstruktion. 8.5 Aufgaben 1. Wie werden Identitäten „konstruiert“? 2. Geben Sie weitere Beispiele für imagined communities, die in Ihrem Leben eine Rolle spielen oder gespielt haben, bspw. im Jugendalter. 3. Überlegen Sie: Welche Sprachen/ Varietäten/ Dialekte etc. gehören zu Ihrem Reper‐ toire? Denken Sie auch an „kleinste sprachliche Elemente“, die von Bedeutung sein können. 4. Was spricht für, was spricht gegen eine Verwendung des Begriffs „Identität“? Welche Alternativen wären denkbar? 8.6 Literaturverzeichnis A N D E R S O N , Benedict (2017): Imagined communities: Reflections on the origin and spread of nationalism. London. 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Humankapital‐ theorie, welche die Investition in das Erlangen menschlicher Fertigkeiten (meist durch Bildung) dem Ertrag, den Individuen durch die Nutzung dieser Fertigkeiten (meist durch entsprechende Erwerbsarbeit) erzielen können, gegenüberstellt. Aufbauend darauf wird erläutert, warum dieser Ansatz für (migrationsbedingt) mehrsprachig aufwachsende Menschen und die daraus resultierende mehrsprachige Gesellschaft mitunter unzureichend ist. In einer komplexen sprachlichen Textur einer Gesellschaft spielen Aspekte von Prestige bzw. Status von Sprachen eine wichtige Rolle in der Bemessung ihres (wahrgenommenen) Werts. Zur Verdeutlichung von Sprachprestige bzw. -status wird die curriculare Verankerung bestimmter Sprachen im schulischen Fremdsprachenkanon betrachtet. In diesem Kontext werden sprachenpolitische Fragen hinsichtlich der Zugehörigkeit zu bzw. der Exklusion aus ebendiesem Kanon diskutiert. Abschließend soll gezeigt werden, dass Zusammenhänge zwischen Wertwahrneh‐ mungen von Sprachen und Spracherhaltsmechanismen wichtige Zusammenhänge aufweisen, es dahingehend jedoch an empirischen Befunden mangelt. 9.2 Definitionen Bereits in der Einleitung wird deutlich, dass der Begriff ‚Wert‘ nicht eindeutig zu fassen ist (vgl. S CH R O E DL E R 2018). Vielmehr können Konzepte wie Wertwahrnehmung bzw. wahrgenommener Wert sowie Prestige und Status mitunter die präziseren Beschrei‐ bungskategorien sein. Bevor ab Abschnitt 9.3 genauere Schilderungen folgen, werden zunächst ein paar ausgewählte Konzepte definiert. Hegemonie: Im Kontext einer Betrachtung von Sprachen wird unter Hegemonie bzw. sprachlicher Hegemonie ein Machtgefüge verstanden, in dem von bestimmten Sprachen oder einer bestimmten Sprache Macht ausgeht. Humankapital: Die Humankapitaltheorie besagt, dass durch Investitionen in Schul-, Hochschul-, Aus-, Fort- und Weiterbildung die Produktivität von Menschen <?page no="153"?> am Arbeitsmarkt steigt (vgl. E ID E & S HOWALT E R 2010). Diese Investitionen in Bil‐ dung (im weitesten Sinne) betreffen die unterschiedlichsten Facetten von Wissen und Können (für frühe Grundlagen der Theorie vgl. B E C K E R 1964, M IN C E R 1958, S HU LTZ 1963,). Ideologie: Forschung zu sprachlichen Ideologien oder Sprachideologien betrachtet soziale Norm- und Wertverständnisse sowie Annahmen und Ansichten über be‐ stimmte Sprachen. Innerhalb der Ideologieforschung werden Begriffe wie Prestige (vgl. J A S P E R S 2009), Macht (vgl. B O U R DI E U 1991) und Status (vgl. C O BA R R U BIA S 1982) von Sprachen oder aber auch sprachliches Privileg (vgl. T HU R L OW & J AWO R S KI 2017) oder elitäre Sprachen (vgl. S KUTNAB B -K AN GA S 1981) häufig verwendet um ähnliche Phänomene oder Sachverhalten zu beschreiben (vgl. B A R AKO S & S E LL E C K 2019). Zumeist geht es darum, Unterschiede in der Wahrnehmung der Wertigkeit unterschiedlicher Sprachen entweder im Individuum oder aber in Gruppen oder gar ganzen Gesellschaften zu beschreiben (vgl. S CH R O E DL E R E T AL . 2022). Kommodifizierung: Mit Kommodifizierung von Sprache (engl.: commodification of language) werden Zusammenhänge oder Begebenheiten beschrieben, in denen Sprachen bzw. Sprachfertigkeiten als reines Wirtschaftsgut behandelt werden (vgl. D U CHÊN E & H E LL E R 2012). Market Value und Non-Market Value: Bei diesem Begriffspaar handelt es sich um eine von G R IN eingeführte ökonomische Betrachtungsweise des Werts von Sprachen für Individuen (vgl. G R IN 2002, 2003a, 2003b, 2006). Wichtig ist, dass es sich bei beiden Konzepten (also auch dem non-market value) um positiv gerichtete Wertzuschreibungen von Sprachen handelt. Der market value beschreibt individu‐ elle finanzielle Vorteile, die aus dem Beherrschen einer Sprache entstehen. Der non-market value beschreibt einen persönlichen Mehrwert (der nicht finanzieller Natur ist), der aus dem Beherrschen einer Sprache entsteht. Prestige: Unter Prestige im Kontext von Sprachen wird gemeinhin das Ansehen einer Sprache verstanden. Prestigeunterschiede entstehen durch die Ansammlung gleicher oder ähnlicher Ansichten einzelner Menschen, die dann in von Gruppen oder Gesellschaften geteilte Ansichten übergehen. Das kollektive oder gesellschaft‐ liche Ansehen einer Sprache unterscheidet sich stark zwischen unterschiedlichen Gruppen bzw. Gesellschaften und ist somit kontextabhängig. 9.3 Forschungsstand 9.3.1 Der wirtschaftliche Wert von Sprachen Man kann Sprachen nicht kaufen oder verkaufen wie Kleidung oder Lebensmittel. Man kann sie nicht produzieren oder verbrauchen, und auch keine Preise oder Mengen 152 9 Der Wert von Sprachen <?page no="154"?> 1 Schulbildung sollte zweifelsohne in einem demokratischen, kulturoffenen, humanistischen Weltbild weit über Wirtschaftlichkeit hinausgehen. für Sprachen beziffern: Überlegungen dazu, wie viel Geld zehn Wörter Englisch oder acht Sätze Russisch kosten, ergeben zunächst wenig Sinn. Um dennoch einmal zu veranschaulichen, wie Spracherwerb bzw. das Lernen einer Sprache mit monetären Ressourcen in Verbindung stehen, sollen zwei Beispiele gezeigt werden (vgl. O L F E R T 2019, vgl. Kap.-2 und 7). Beispiel 1: Freiwilliges Fremdsprachenlernen Wenn man darüber nachdenkt, dass eine Person einen Sprachkurs in einer Sprach‐ schule belegt oder eine Sprachreise unternimmt, um ein bestimmtes Kompetenzni‐ veau in einer Fremdsprache zu erwerben, kann man etwaige Kostenberechnungen anstellen. So könnte man ausrechnen, wie viel es für eine*n durchschnittliche*n Lerner*in kostet, eine Fremdsprache auf Niveau A1 zu erlernen. Zusätzlich zu den monetären Kosten für Sprachschule oder Sprachreise müsste die aufgewendete Zeit, die Lerner*innen investieren (Zeit, die u. U. für anderweitigen Lohnerwerb genutzt werden könnte), mit einberechnet werden. In diesem ersten Beispiel gehen wir von einer Freiwilligkeit der Person aus, die die Sprache erwerben möchte. Beispiel 2: Schulisches Fremdsprachenlernen Ein anderer Fall von Investition in Sprache kann im Schulsystem beobachtet werden. Die allermeisten Schüler*innen in Deutschland lernen Englisch in der Schule. Hierfür werden Lehrkräfte (und deren Hochschulbildung), Schulgebäude, Administration, Lehr-Lernmaterial u.v.m. aus staatlichen Steuermitteln bezahlt. Wenn also ein*e Abiturient*in mit einem Englischniveau B2 die Schule verlässt, hat der Staat mindestens einen fünfstelligen Betrag in die Englischfertigkeiten des/ der Schüler*in investiert. Anders als im ersten Beispiel haben Kinder und Jugendliche im Schulwesen nur bedingt die Möglichkeit auszuwählen, ob sie Englisch lernen möchten und wie viel Zeit sie in Unterricht investieren möchten. Anhand der zwei Beispiele ist zu erkennen, dass Sprachenlernen einen Preis hat, der entweder individuell oder gesellschaftlich monetär zu bezahlen ist. In einer basalen wirtschaftlichen Logik müsste als nächstes gefragt werden, ob sich die oben dargestell‐ ten Investitionen lohnen. Aus Beispiel 1 ließe sich relativ leicht schlussfolgern, dass wenn die Person einen bestimmten Betrag in das Erlernen der Fremdsprache investiert hat und sie anschließend eine Beförderung und damit verbunden ein höheres Gehalt erhält (welches die Kosten für den Sprachkurs übersteigt), man von einer wirtschaftlich sinnvollen Investition sprechen kann. Für Beispiel 2 ist die Annahme etwas komplexer. Rein wirtschaftlich betrachtet 1 könnte hier wie folgt argumentiert werden: Der Staat 9.3 Forschungsstand 153 <?page no="155"?> investiert durch Schulbildung (hier Englischunterricht) in die Fertigkeiten zukünftiger Generationen, die am Arbeitsmarkt partizipieren. Wenn Fähigkeiten im Englischen dazu führen, dass Firmen wettbewerbsfähiger sind und dass Individuen aufgrund der Englischfertigkeiten höhere Löhne erzielen, steigen staatliche Steuereinnahmen. Tritt dieser Fall ein, hat der Staat gewinnbringend investiert. Es sei angemerkt, dass die Annahme wissenschaftlich kaum überprüfbar ist, da nur schwerlich isoliert betrachtet werden kann, aufgrund welcher (individueller, schulisch vermittelter) Fertigkeiten die Gesamtwirtschaftsleistung steigt oder fällt. Klar ist jedoch, dass bildungsökonomisches Interesse dahingehend besteht, dass das öffentliche Schulwesen auf wirtschaftliche Produktivität einer Bevölkerung vorbereitet. Die zwei hier beschriebenen Beispiele veranschaulichen in sehr vereinfachter Weise die sog. Humankapitaltheorie (vgl. 9.2). Diese besagt, dass durch Investitionen in Bildung die Produktivität von Menschen in der Erwerbsfähigkeit steigt (vgl. E ID E & S HOWALT E R 2010). Solche Investitionen in Bildung (im weitesten Sinne) betreffen die unterschiedlichsten Facetten von Wissen und Können. C HI S WICK & M ILL E R (1995) legten erstmals dar, dass Sprachfertigkeiten auch humankapitaltheoretisch zu verstehen sind, da sie dem theoretischen Konstrukt in allen Bereichen entsprechen. Aus diesen Überlegungen heraus lassen sich gewisse Annahmen treffen, die empi‐ risch überprüfbar sind. So gibt es seit den 1990er Jahren eine Reihe von Forschungsar‐ beiten, die etwa betrachten, welchen Einfluss der Kompetenzerwerb in der Mehrheits‐ sprache für Migrant*innen im Zielland auf ihre Löhne hat (vgl. B L O OM & G R E NI E R 1996), inwiefern die Höhe des Lohns mit Englischfertigkeiten im frankophonen Teil Kanadas und mit Französischfertigkeiten im anglophonen Teil Kanadas zusammenhängt (vgl. V AILLAN C O U R T 1992, 1996), oder aber auch, inwiefern Englischkenntnisse dazu führen, dass man am deutschen Arbeitsmarkt höhere Löhne erzielt (vgl. S TÖH R 2015). Diese Studien untersuchen zumeist anhand großer Datensätze repräsentative Entwicklungen und Zusammenhänge. Um komplexere Phänomene individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit ökonomisch einzuordnen, entwickelte G R IN die hier eingeführten ökonomischen Betrachtungsweisen weiter (vgl. G R IN 2002) und führte unter anderem die Unterscheidung zwischen non-market value und market value von Sprachen ein (vgl. 9.2). Hierbei handelt es sich um wirtschaftswissenschaftlich geprägte Unterschei‐ dungen des individuellen und kontextabhängigen Werts von Sprache für einzelne Menschen. Konkret beschreibt der market value einer Sprache folgenden Sachverhalt: Sprecher*innen einer Sprache X erhalten einen höheren Lohn für ihre Tätigkeit, weil diese Sprachkompetenz es ihnen erlaubt, beispielsweise Güter an X-sprechende Per‐ sonengruppen zu verkaufen. Der non-market value betrifft hingegen die persönliche, individuelle Präferenzstruktur von Sprecher*innen. So hat eine Sprache Y für manche Personen einen ebensolchen non-market value, wenn sie es ihnen erlaubt, durch Teilhabe an Literatur und Medien oder durch den direkten Austausch mit anderen Y-Sprecher*innen Kontakt zu haben. Hierbei müssen sich jedoch keine finanziellen Vorteile durch das Verfügen über die Sprache Y ergeben (G R IN 2002: 20). 154 9 Der Wert von Sprachen <?page no="156"?> Auf der Ebene des Individuums kann Sprache unterschiedliche Formen von Wert haben (im wirtschaftswissenschaftlichen Verständnis). Den vorherigen Ausführungen folgend kann man diesen Wert also entweder darin erkennen, dass man unmittel‐ bar finanziell davon profitiert, eine bestimmte Sprache zu beherrschen, oder aber einer Sprache schlicht persönlich einen Wert ohne finanziellen Profit beimisst. Beide Verständnisse von Wert können Implikationen für den Spracherhalt haben. Diese werden im letzten Teil des Kapitels besprochen. Das Prinzip, Sprachfertigkeiten rein ökonomisch zu betrachten, wird allerdings mitunter kontrovers diskutiert, was im folgenden Teilkapitel genauer beleuchtet wird. 9.3.2 Der soziale und individuelle Wert von Sprachen Die Betrachtung von Sprachfertigkeiten als wirtschaftliches Gut oder die Beschreibung von Wertunterschieden zwischen bestimmten Sprachen wird von einigen Wissen‐ schaftler*innen kritisch betrachtet. So wird mitunter argumentiert, dass durch eine Betrachtung von Sprache als Wirtschaftsgut (Kommodifizierung) bestimmte (meist weniger prestigeträchtige) Sprachen am Arbeitsplatz banalisiert oder marginalisiert werden und Hierarchien zwischen Sprachen mit höherem Prestige, wie z. B. Englisch, und anderen Sprachen als sprachliche Hegemoniegefälle manifestiert und intensiviert werden (z.-B. D E L P E R CIO 2018, D U CHÊN E & H E LL E R 2012, P ILL E R & D U CHÊN E 2011). Um sich solchen, meist soziolinguistisch geprägten Arbeiten zu nähern, gilt es, kurz zu klären, was unter Prestige verstanden wird und wie es zu Prestigeunterschieden zwischen Sprachen kommt. Wie dem Definitionsteil dieses Kapitels entnommen werden kann, wird die Begrifflichkeit des Prestiges im Bereich von Forschungsarbeiten zu Sprachideologien im weitesten Sinne verortet. Die Begrifflichkeiten sprachliches Prestige oder Prestige von Sprachen werden u. a. genutzt, um Wertigkeitszuschrei‐ bungen (eines Einzelnen, einer Gruppe oder einer Gesellschaft) zum Ansehen einer Sprache zu beschreiben. Eine Untersuchung von S CH R O E DL E R E T AL . (2022) konnte zeigen, dass Prestigeunterschiede zwischen Sprachen, die Teil des schulischen Fremd‐ sprachenkanons sind (z.-B. Englisch, Spanisch, Französisch), und solchen, die es nicht sind (z. B. Arabisch, Russisch, Türkisch), von den Sprecher*innen der jeweiligen Sprachen als eklatant wahrgenommen werden und sogar mit signifikant häufiger auftretenden Vorfällen sprachlicher Diskriminierung in Verbindung stehen. So werden Fertigkeiten in prestigeniedrigeren Sprachen als weniger nutzbar am Arbeitsmarkt wahrgenommen und umgekehrt. Gleichzeit ist klar, dass der persönliche (emotionale) Wert unterschiedlicher Erstsprachen für ihre Sprecher*innen in den allermeisten Fällen gleichermaßen hoch ist (vgl. S CH R O E DL E R E T AL . 2023). Die oben bereits angemerkten Arbeiten zu Kommodifizierungsmechanismen von Sprachen am Arbeitsplatz zeigen mitunter auf, dass Sprachfertigkeiten in prestigenied‐ rigeren Sprachen auf dem Arbeitsmarkt ausgenutzt und banalisiert werden. Branchen wie der Tourismus oder die Callcenter-Industrie werden als Beispiele genannt, in denen Sprecher*innen zwar zwingend über bestimmte Sprachfertigkeiten verfügen 9.3 Forschungsstand 155 <?page no="157"?> 2 Natürlich kann auch eine Sprache wie Englisch als HS weitergegeben und in Deutschland vertreten sein, dies ist jedoch nur für eine vergleichsweise sehr geringe Proportion der Gesellschaft relevant. 3 Vgl. status planning (nach B A K E R 2003). müssen, jedoch nicht dafür entlohnt werden (P ILL E R & D U CHÊN E 2011). Aus Arbeiten wie der letztgenannten speist sich die Kritik an der wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung von Sprachen. Es wird kritisiert, dass Sprachen und Sprachfertigkeiten als Wirtschaftsgüter betrachtet und behandelt werden und ihr Erwerb und ihre Nutzung am Arbeitsmarkt von utilitaristischen und rein marktwirtschaftlichen Begebenheiten abhängen (z.-B. D E L P E R CIO 2018, F L U BACH E R E T AL . 2018, H E LL E R 2003). Neben Betrachtungen von Arbeitsmarkt- und Wirtschaftszusammenhängen und damit in Verbindung stehenden ungleichen Betrachtungen des Werts oder des Prestiges unterschiedlicher Sprachen legen Studien nahe, dass das Prestige einer Sprache auch mit ihrer Sichtbarkeit in institutioneller Bildung in Verbindung steht. In Deutschland sind es zumeist die Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch, die an vielen weiterführenden Schulen unterrichtet werden. Wie weiter oben bereits angedeutet, wird diesen Sprachen oft mehr Prestige beigemessen als solchen, die als Herkunftsbzw. Heritage-Sprachen (HS) in Deutschland vertreten sind (vgl. Kap.-2). 2 Durch diese Art der Statusplanung 3 wird den schulischen Fremdsprachen eine besondere Rolle zuteil, da sie politisch bewusst eine allen anderen Sprachen übergeordnete Rolle in der Gesellschaft spielen (vgl. S CH R O E DL E R 2021). Mit der Aufnahme bestimmter Sprachen in den schulischen Fremdsprachenkanon geht naturgemäß eine Exklusion vieler anderer Sprachen einher, die hierdurch eine Abwertung hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Prestiges erfahren. Aus den bis hierhin dargestellten Zusammenhängen und Erkenntnissen lässt sich ein bestimmtes sprachliches Hierarchiebzw. Machtgefüge (sprachliche Hegemonie) erkennen. So werden aufgrund sowohl wirtschaftlicher Prinzipien als auch als Ergebnis bestimmter Sprachplanungsprozesse (sowie sicherlich einigen weiteren Gründen) manche Sprachen als wertvoller, wichtiger, prestigeträchtiger, usw. angesehen als andere (vgl. hierzu Kap. 2 in P ILL E R 2016). Dieses Hegemoniegefüge führt auf der Seite der Sprecher*innen von als weniger wertvoll oder als weniger prestigeträchtig betrachteten Sprachen zu verminderten Teilhabechancen bis hin zu Diskriminierungs‐ erfahrungen (vgl. S CH R O E DL E R E T AL . 2022). Um solche - mitunter institutionalisierte - Ungleichbehandlung zu verdeutlichen, soll abschließend ein kurzes Beispiel dienen. Beispiel 3: Ungleiche HS Man stelle sich jeweils ein Kind aus zwei unterschiedlichen Familien vor. In der einen Familie stammen die Eltern aus Tunesien und sprechen mit ihrem Kind vorwiegend Französisch. In der anderen Familie stammen die Eltern aus der Türkei und sprechen mit ihrem Kind vorwiegend Kurdisch. Das Kind aus der ersten Familie hat in seiner Schullaufbahn explizit die Möglichkeit, von seiner HS zu profitieren und kann vermutlich bis hin zum Abitur (mit Vorteilen gegenüber 156 9 Der Wert von Sprachen <?page no="158"?> den Mitschüler*innen) gute Noten haben. Diese Möglichkeit hat das Kind aus der zweitgenannten Familie nicht. 9.4 Offene Fragen Wie entstehen Wertungleichheiten zwischen Sprachen und wie kann man ihnen entgegenwirken? Was hat der wahrgenommene Wert einer Sprache mit Spracherhalt zu tun? Welches Wissen benötigen wir um diese Zusammenhänge besser zu verste‐ hen? Aus unterschiedlichen Wertbetrachtungen entstehen Konsequenzen, denen auf unterschiedliche Weise sprachplanerisch entgegengewirkt werden könnte. Es gibt Zusammenhänge zwischen dem wahrgenommenen Wert einer Sprache und Sprach‐ erhaltsmechanismen. Hierzu mangelt es jedoch an empirischen Studien, um diese Prozesse und Zusammenhänge besser zu verstehen und wissenschaftlich einordnen zu können. 9.4.1 Wertgleichheit herstellen? Anknüpfend an das oben beschriebene Beispiel 3 (Französisch versus Kurdisch im Bildungssystem) ließen sich sprachplanerisch vergleichsweise einfache Lösungen für eine verbesserte Gleichbehandlung unterschiedlicher Sprachen postulieren. Würde man herkunftssprachlichen Unterricht (HSU, vgl. Kap. 11) als vollwertigen Teil schuli‐ scher (Fremd-)Sprachenbildung anerkennen, oder besser noch, ihn für Anfänger*innen öffnen und auf unterschiedlichen Niveaustufen anbieten (vgl. K ÜP P E R S & S CH R O E D E R 2016), könnte auch das Kind der zweiten Familie (vgl. Beispiel 3) von seinen her‐ kunftssprachlichen Fähigkeiten schulisch profitieren. Wirtschaftlich betrachtet ist dieser Ansatz ebenfalls nicht völlig abwegig. So stellen S CH R O E DL E R E T AL . (2023) für den australischen Kontext fest, dass Investitionen in HSU und die dadurch erwirkte Erleichterung im Spracherhalt für eine Volkswirtschaft durchaus sinnvoll sein kann. Bei einer näheren Betrachtung der eingangs im Kapitel erläuterten Prinzipien der Hu‐ mankapitaltheorie (Abwägung zwischen Investition in Sprachbildung und Ertrag) kann - zwar vereinfacht, jedoch recht einleuchtend - festgestellt werden, dass Spracherhalt im Vergleich zum gesteuerten Erwerb von Fremdsprachen (z. B. Englischunterricht) bedeutend kostengünstiger sein kann bzw. bei identischen Investitionen zu einem besseren Ergebnis führt. Für die Schulbildung im Fach Englisch wird ein erheblicher Betrag steuerlich generierter Einnahmen ausgegeben (Lehrkräftebildung, Bezahlung von Lehrkräften, Schulgebäude, etc.). Würde man nun die gleichen Strukturen für beispielsweise Arabisch oder Türkisch mit den anteilig gleichen Ressourcen staatlich fördern, um HSU vollumfänglich schulisch zu verankern und z. B. für Schulabschlüsse anerkennbar zu machen, würden die Absolvent*innen der zweitgenannten Sprachen bei gleicher Investition im Durchschnitt mit einem sehr viel höheren Sprachniveau die Schule verlassen. Auch würde die Zielvorstellung der EU-Kommission, dass alle 9.4 Offene Fragen 157 <?page no="159"?> 4 In Ländern wie den USA wird die allgemeine Sprachenpolitik als assimilatorisch bezeichnet (vgl. z. B. D E J O N G 2013). Das bedeutet, dass die Nutzung aller Sprachen, die nicht Englisch sind, in institutionellen Kontexten (z. B. im Bildungswesen, in der Verwaltung, etc.) weitestgehend unterbunden wird. EU-Bürger*innen neben der Mehrheitssprache zwei weitere Sprachen formal beherr‐ schen (vgl. K OMMI S S ION D E R E U R O PÄI S CH E N G EM E IN S CHA F T E N 2003), eher erreicht. Analog hierzu wäre es denkbar, dass sich das gesellschaftliche Prestige der bislang kaum schulisch beachteten Sprachen verändert. Eine zeitliche Dimension oder Qualität einer solchen Veränderung zu skizzieren, wäre jedoch spekulativ. 9.4.2 Zusammenhänge zwischen Betrachtungen des Werts von Sprachen und Spracherhalt Die bis hierhin beschriebenen Sachverhalte mögen vielleicht erst auf den zweiten Blick unmittelbar mit Fragen des Spracherhalts zusammenhängen. Um diese Verbindung(en) noch einmal deutlich herauszustellen, soll dieses Teilkapitel exemplarisch aufzeigen, wie Wertwahrnehmungen von Sprache(n) einen Einfluss auf deren Erhalt haben (können). Sowohl aus den dargestellten wirtschaftswissenschaftlichen Annahmen und Studien zum Wert von Sprachen als auch aus denen aus der Soziolinguistik lässt sich erkennen, dass immer dann, wenn einer Sprache oder einer Reihe von Sprachen ein höherer Wert (ein höheres Prestige etc.) beigemessen wird, eine oder mehrere Sprachen als weniger wertvoll eingestuft werden. Ganz gleich, ob es sich um einen messbaren finanziellen Wertunterschied oder um eine soziale Konstruktion von Wert‐ ungleichheit handelt, entsteht immer ein Bild, in dem bestimmten Sprachen weniger Wert beigemessen wird. Wenn nun Eltern, die ihre HS und die Umgebungssprache in etwa gleich gut beherrschen, vor der Wahl stehen, ob und in welcher Form sie ihre HS pflegen und an ihre Kinder weitergeben, spielen solche Wertwahrnehmungen unter Umständen eine gewichtige Rolle. Wird Menschen suggeriert, dass bestimmte (Herkunfts-)Sprachen im sozialen Gefüge weniger Wert sind, kann dies durchaus dazu führen, dass solche Sprachen nicht erhalten bleiben. So zeigt sich besonders in Ländern wie den USA oder Australien, wo die sehr prestigeträchtige Mehrheitssprache Englisch gesprochen wird und wo Institutionen stark einsprachig eingestellt sind, 4 dass Familien ihre HS vergleichsweise schnell aufgeben. Neben der aktiven Weitergabe einer HS gehören weitere Mechanismen zum Sprach‐ erhalt. Auch diese Mechanismen können eng mit Wertwahrnehmungen verknüpft sein. Wenn z. B. Kinder und Jugendliche in unterschiedlichen Lebensphasen die Möglichkeit ergreifen (oder eben nicht), sich intensiver mit ihrer HS auseinanderzusetzen, spielen unter Umständen auch Wahrnehmungen des Werts und der Nützlichkeit ebendieser Sprachen eine große Rolle. Wenn Jugendlichen suggeriert wird, dass ihre HS irgend‐ wann einen finanziellen Nutzen in ihrer Zukunft haben wird, oder wenn die in Frage kommende Sprache ein eher großes soziales Prestige hat, ist es bedeutend wahrschein‐ licher, dass die Motivation steigt, sich mit der HS intensiviert zu beschäftigen bzw. die 158 9 Der Wert von Sprachen <?page no="160"?> herkunftssprachlichen Fähigkeiten zu behalten, auf- und auszubauen. Präzise Studien zu solchen Mechanismen gibt es in Deutschland jedoch nicht. 9.5 Zusammenfassung Fragen nach dem Wert einer oder mehrerer Sprachen sind komplex. Es gilt zunächst zu klären, was man unter Wert oder wertvoll versteht. Geht es um eine ökonomische Betrachtung (z. B. verdient man mehr Geld, wenn man eine bestimmte Sprache beherrscht), so lässt sich ein individueller Wert bestimmen. In bestimmten Kontexten kann auch für bestimmte Teile der Gesellschaft oder auch ganze Gesellschaften attestiert werden, dass das Verfügen über eine bestimmte Sprache finanzielle Vorteile mit sich bringt. Geht es um die Einordnung des Prestiges einer Sprache, sind die sozialen Mechanismen komplex und häufig (wissenschaftlich) kaum zu verstehen. Prestigeunterschiede sind als Resultat häufig klar erkennbar und präzise zu beschrei‐ ben, jedoch sind ihre Entstehungsmechanismen sehr vielschichtig. Genau aus diesem Grund ist es im Kontext von Fragen zum Spracherhalt besonders wichtig, Wert- und Prestigewahrnehmungen (oder auch z. B. Fragen der wahrgenommenen Nützlichkeit) von HS präzise zu betrachten. 9.6 Aufgaben 1. Was ist der Unterschied zwischen market value und non-market value einer Sprache? Beschreiben Sie ein konkretes Beispiel. 2. Reflektieren Sie, welche Sprachen für Sie im schulischen Kontext wertvoll waren: Welche Sprachen konnte man als Fremdsprachen wählen und sind diese aus heutiger Sicht für Sie nützlich bzw. wertvoll? 3. Diskutieren Sie in einer Gruppenarbeit, wie es zu Prestigeunterschieden zwischen unterschiedlichen Sprachen kommt. Warum werden manche Sprachen als presti‐ geträchtiger erachtet als andere? 4. Suchen Sie online nach dem Bericht des wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit zu „Mehrsprachigkeit und Arbeitswelt“ von Renata C O R AY und Alexandre D U CHÊN E . Dieser ist im Internet frei verfügbar (https: / / centre-pluril inguisme.ch/ sites/ default/ files/ Arbeitswelt_A4_V.05_06.02.2017_web.pdf). Suchen Sie sich zwischen den Kapiteln 2-6 eines aus, welches Sie lesen. Fassen Sie anschließend zusammen, was Sie hinsichtlich der Rolle unterschiedlicher Sprachen und ihrer Wertbeimessung besonders spannend fanden. 9.5 Zusammenfassung 159 <?page no="161"?> 9.7 Literaturverzeichnis B A K E R , Colin (2003): „6. Language Planning: A Grounded Approach“. In: Dewaele, J.-M. et al. (Hrsg.): Bilingualism. Bristol, S.-88 - 111. B A R A K O S , Elisabeth, S E L L E C K , Charlotte (2019): Elite Multilingualism: Discourses, Practices, and Debates. Journal of Multilingual and Multicultural Development 40(5), 361 - 374. DOI: 10.1080/ 01434632.2018.1543691 B E C K E R , Gary (1964): Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis. Chicago. B L O O M , David, G R E N I E R , Gilles (1996): Language, employment, and earnings in the United States: Spanish-English differentials from 1970 to 1990. International Journal of the Sociology of Language 121, 45 - 68. DOI: 10.1515/ ijsl.1996.121.45 B O U R D I E U , Pierre (1991): Language and Symbolic Power. 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DOI: 10.1515/ ijsl.1996.121.69 9.7 Literaturverzeichnis 161 <?page no="164"?> 10 Die andere Perspektive: Deutsch als Herkunftssprache Patrick Wolf-Farré & Tobias Schroedler 10.1 Einleitung Während der Umgang mit Herkunftsbzw. Heritage-Sprachen (HS) in Deutschland auch medial breit rezipiert und diskutiert wird, ist der umgekehrte Fall - Deutsch als HS außerhalb des deutschen Sprachraums - weit weniger stark im öffentlichen Bewusstsein verankert. Zwar sind die Bedingungen etwa für Arabisch oder Türkisch in Deutschland gegenüber Deutsch als HS im Ausland sehr unterschiedlich: In vielen Regionen der Welt gilt Deutsch (ähnlich wie etwa Englisch oder Französisch in Deutschland) als prestigeträchtige Sprache, was sich auch institutionell niederschlägt, beispielsweise in der Präsenz von derzeit 135 Deutschen Schulen (vgl. ZFA 2024) in vielen Ländern. Aber gerade im Hinblick auf solche Faktoren lassen sich durch eine vergleichende Perspektive interessante Parallelen und Unterschiede im Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit erkennen. Bei den deutschsprachigen Minderheiten und/ oder deren Varietäten herrscht nicht immer Einigkeit darüber, wie sie zu klassifizieren sind. Daher werden zunächst einige grundlegende Begriffe erläutert und ein kurzer Überblick über die Situation des Deutschen als Minderheitensprache in der Welt gegeben. Anschließend werden mit dem Erhalt des Deutschen als HS in Australien und in Chile zwei Situationen eingehender betrachtet, bevor offene Fragen erarbeitet werden. 10.2 Definitionen Wer schon einmal mit dem Thema deutschsprachige Minderheiten in der Welt in Kontakt gekommen ist, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit Begriffe wie „Sprachminderheiten“, „Sprachinseln“, „Kolonien“ o. ä. gelesen. Bei der Verwendung dieser Begriffe wird häu‐ fig nicht scharf unterschieden, obwohl die einzelnen Fälle sprachlicher Minderheiten sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, wie Kapitel 10.3 veranschaulicht. Die wichtigsten Begriffe werden daher im Folgenden kurz dargestellt. 10.2.1 Sprachinsel Als Sprachinseln werden häufig all jene deutschsprachigen Gruppen bezeichnet, die sich in einem anderssprachigen Gebiet außerhalb der offiziell deutschsprachigen Länder Europas (Deutschland, Österreich, Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein) <?page no="165"?> 1 Zur Sprachenpolitik in deutschen Kolonien vgl. S T O L B E R G (2015). befinden. Allerdings wirft bereits diese sehr kurze Definition Fragen auf: Ab/ bis zu welcher Größe kann man von einer einzigen Gruppe sprechen? Schließt „deutschspra‐ chig“ auch Dialekte mit ein? Inwiefern ist das Umgebungsgebiet noch anderssprachig, wenn in der Sprachinsel schon beide Sprachen (die eigene und die Umgebunggsprache) gesprochen werden, was bei den allermeisten Sprachinseln der Fall ist? Der Begriff der Sprachinsel besteht mindestens bereits seit dem mittleren 19. Jahr‐ hundert (vgl. W ILD F E U E R 2017: 383). Historisch stand in der wissenschaftlichen Beschäf‐ tigung mit Sprachinseln zunächst die dortige Entwicklung der Dialekte im Vordergrund und wie sich diese im Vergleich zum Herkunftsgebiet verändern. Neben dem Fokus auf Sprachen war das Konzept der Sprachinsel auch im Bereich der Geschichte und Völkerkunde relevant, weshalb die Verwendung des Begriffs mitunter kritisch betrachtet wird (vgl. F ÖLD E S 2006, K ALINK E 2015). Ein weiterer Aspekt, der zur Definition von Sprachinseln von Bedeutung ist, ist die (erinnerte) Migrationsgeschichte: Im Gegensatz zu den autochthonen Minderheiten sind Sprachinseln allochthone, also nicht historisch vor Ort ansässige, sondern einge‐ wanderte Sprachminderheiten (vgl. M C M ONAG L E 2020, vgl. auch Kap. 1 und 7). Die daraus resultierende bewusste Unterscheidung von der übrigen Landesbevölkerung - sowohl von innerhalb als auch von außerhalb der Gruppe - ist ein zentraler gruppenerhaltender Faktor (vgl. hierzu auch die Definitionen von M ATTH E I E R 1994: 334 und W I E S IN G E R 2011: 491). 10.2.2 Kolonien Von Kolonien im eigentlichen (also politischen) Sinne spricht man in Bezug auf den deutschsprachigen Raum nur für den Zeitraum am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit hatte sich das Deutsche Reich „überseeischen Besitz“ in Afrika, im Pazifikraum und in China angeeignet, wodurch gezwungenermaßen auch die deutsche Sprache in diese Gebiete gelangte. 1 Gelegentlich werden auch Sprachinseln quasi synonym als Kolonien bezeichnet. Gerade im Hinblick auf die jeweilige Rolle der deutschen Sprache macht es allerdings einen großen Unterschied, ob es sich tatsächlich um zumeist gewaltsam angeeignete Kolonien handelte, oder ob die deutschsprachige Minderheit auf Anwerbung bzw. Einladung des jeweiligen Landes einwanderte. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive beschäftigt sich vor allem die Koloniallinguistik mit diesem Themenbereich. 10.2.3 Sprachminderheiten Während der Begriff Sprachinsel zumeist nur für den deutschsprachigen Raum und v. a. aus der Perspektive der Germanistik verwendet wird, werden solche Gruppen z. B. in der angloamerikanischen Linguistik mit dem weiter gefassten Begriff der Sprachmin‐ 164 10 Die andere Perspektive: Deutsch als Herkunftssprache <?page no="166"?> derheiten (engl. language minorities) bezeichnet. Sprachminderheiten unterscheiden sich von Sprachinseln v. a. dadurch, dass keine unmittelbar erlebte oder erinnerte Migrationsgeschichte vorliegen muss. So sind etwa das Sorbische und das Friesische Minderheitensprachen in Deutschland, die Gemeinschaft der Sprecher*innen dieser Sprachen stellen somit eine Sprachminderheit dar (vgl. Kap.-2). 10.3 Forschungsstand Historisch lassen sich verschiedene Phasen der Entstehung deutschsprachiger Min‐ derheiten unterscheiden: Die an das deutschsprachige Kerngebiet (Deutschland, Ös‐ terreich, Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein) angrenzenden Minderheiten sind zumeist aus Grenzziehungen und -verschiebungen entstanden. Hierzu zählen etwa die deutschen Minderheiten in Belgien, Dänemark, im Elsass und in Lothringen oder in Südtirol (vgl. B E Y E R & P L EWNIA 2019). Die deutschsprachigen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa entstanden teilweise bereits im Mittelalter: Hierzu zählen Grenzminderheiten in Tschechien, Polen oder der Slowakei sowie die deutschspra‐ chigen Siedlungen im heutigen Rumänien und Ungarn. Ab dem 18. Jahrhundert kommen Migrationsbewegungen ins heutige Russland und die Ukraine hinzu, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts vor allem durch Vertreibung bis in weiter östlich gelegene Regionen in Sibirien, Kasachstan oder Kirgisien erstrecken (vgl. E ICHIN G E R et al. 2008). Nachfahren dieser Gruppe, die nach Deutschland zurückgekehrt sind, werden heutzutage gängigerweise als (Spät-)Aussiedler*innen bezeichnet. Die größte Auswanderungsbewegung aus dem deutschsprachigen Raum findet etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nach „Übersee“ statt: Das wichtigste Aufnahmeland sind die USA, gefolgt mit einigem Abstand von den südlichen Ländern Südamerikas, Kanada und Australien, sowie die deutschen Kolonien in Afrika und im pazifischen Raum (siehe u.-a. weiter unten: „1848er“) (vgl. P L EWNIA & R I EHL 2018). So unterschiedlich die Phasen und Gründe der Auswanderung waren, so vielschich‐ tig stellen sich die deutschsprachigen Minderheiten in der Welt heute dar: In der ehemaligen deutschen Kolonie Namibia ist Deutsch eine der Nationalsprachen, neben der Standardsprache existieren die lokalen Varietäten Namdeutsch, Namslang und Küchendeutsch (Namibia Black German) (D ÜC K 2018). In Brasilien stellen die Dialekte Hunsrückisch (auch: Hunsriqueano) sowie Pomerano Teile der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit des Landes dar (vgl. P U P P S P INA S S É 2023, vgl. S AV E D R A & M AZZ E LLI 2023). Das Unserdeutsch (Rabaul Creole German) in Papua-Neuguinea stellt den besonderen Fall eines deutschbasierten Kreols dar (vgl. M AITZ & L IND E N F E L S E R 2018). Im Folgenden werden zwei Beispiele für (ehemalige) deutsche Sprachinseln eingehender betrachtet: Deutsch in Chile und in Australien. Es handelt sich hierbei um zwei geografisch weit entfernte Beispielländer, in die größere Gruppen Deutschsprachiger ausgewandert sind. 10.3 Forschungsstand 165 <?page no="167"?> 2 Dass diese dialektalen Varietäten mitunter stark vom Standarddeutschen abweichen und somit durchaus als eigenständige HS zu sehen sind, verdeutlichen folgende Beispiele: Pomerano: Dai film schal gaud sin, åwer ik häw em küüt ni saia ‚Der Film soll gut sein, aber ich habe ihn nicht sehen können‘ (P O S T M A 2019, S.-127); Hunsrückisch: Tu wooscht noch net uff die Welt gewest ‚Du bist noch nicht auf der Welt gewesen‘ (R I N K E & F L O R E S 2023: 75). 10.3.1 Deutsch als Herkunftssprache in Chile Die deutschsprachige Einwanderung nach Chile beginnt in der Mitte des 19. Jahrhun‐ derts, als die chilenische Regierung gezielt Deutsche anwirbt: Bereits in der ersten Welle von 1846 bis 1875 wandern Siedler*innen aus Nordhessen, Schlesien, Württemberg, Westfalen, Brandenburg, Sachsen, Hannover und Hamburg ein, die sich vor allem am Llanquihue-See sowie in den Orten Valdivia, Osorno und La Unión niederlassen (W O L F -F A R R É 2017: 29). Die zweite Phase 1882-1914 besteht v. a. aus Industrie- und Landarbeiter*innen aus Ostdeutschland, die dritte Phase ab 1914 ist durch städtische und bürgerliche bzw. intellektuelle Einwanderung geprägt (R O S E N B E R G 2018: 207). Insgesamt wandern von der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen 20.000 (B E R N E C K E R & F I S CH E R 1993: 205) und 30.000 (B LANC PAIN 1988: 357) Deutsche in Chile ein. Die bereits in der ersten Einwanderungswelle sichtbare Diversität der Herkunftsre‐ gionen muss auch sprachliche, also v. a. dialektale, Diversität mit sich gebracht haben. Aber auch auf sozialer Ebene war die Gruppe heterogen: Schon in der ersten Gruppe waren nicht nur Landwirt*innen und Arbeiter*innen, sondern auch bürgerliche und damit bildungsnahe Siedler*innen vertreten. Viele von ihnen gehörten zu den sog. „1848ern“, die aufgrund der gescheiterten Revolution das Deutsche Reich verlassen hatten. Diese sprachlichen und sozialen Mischverhältnisse sind Gründe dafür, warum in der Gruppe kein Dialektausgleich (Koineisierung) stattfand: Der Kontakt innerhalb der deutschen Gruppe in Chile muss in einer relativ standardnahen Form stattgefunden haben, während sich etwa in Brasilien Dialekte wie Hunsrückisch und Pomerano (eine in Europa ausgestorbene Varietät) erhalten und weiterentwickeln konnten (R O S E N B E R G 2018: 224). 2 Ein zweiter Grund ist die Tatsache, dass in Chile bereits 1854 die erste deutsche Schule gegründet wurde, welche damit die älteste noch aktive deutsche Schule in Lateinamerika ist (bereits 1843 wurde die Germania-Schule in Buenos Aires gegrün‐ det, die heute aber Teil der Goethe-Schule ist). Das deutsche Schulwesen wurde in den folgenden Jahren kontinuierlich ausgebaut, heute gibt es in Chile 25 PASCH-Schulen (internationale Schulen, in denen die deutsche Sprache eine besondere Rolle spielt), was nach Brasilien und Argentinien die dritthöchste Anzahl innerhalb eines Landes in ganz Lateinamerika ist (vgl. PASCH-I NITIATIV E 2024). Hinzu kommen Einrichtungen des Goethe-Instituts und Lektorate des deutschen akademischen Auslandsdiensts (DAAD), sowie ein Deutsches Lehrkräftebildungsinstitut in Santiago. Die Gruppe der Deutschchilen*innen kann heute auf 150.000-500.000 geschätzt werden, da es keine verlässlichen aktuellen Zahlen gibt. Sicher ist, dass Deutsch in vielen Familien noch weitergegeben und (meistens neben Spanisch) gesprochen wird; außerhalb der Familie wird aber in den meisten Situationen Spanisch verwendet. 166 10 Die andere Perspektive: Deutsch als Herkunftssprache <?page no="168"?> 3 Australien wurde von Großbritannien zwischen dem späten 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts als Gefangenenkolonie genutzt. Gleichwohl ist ein „Aussterben“ weder der deutschen Sprache noch der deutschchile‐ nischen Gemeinschaft abzusehen, wobei beide nicht unbedingt voneinander abhängen: Die deutsche Sprache ist als HS rückläufig, aber das oben beschriebene deutsche Schulsystem, weitere Bildungseinrichtungen und v. a. der bestehende Kontakt mit den deutschsprachigen Ländern über Schulaustauschprogramme und auf wirtschaftlicher Ebene sorgen dafür, dass Deutsch als eine Sprache wahrgenommen wird, deren Erwerb auch einen praktischen Nutzen hat (vgl. W O L F -F A R R É 2021, vgl. auch Kap. 9). Die deutschchilenische Gruppe wiederum definiert sich zwar auch, allerdings nicht ausschließlich über den Erwerb und Gebrauch der deutschen Sprache: Wichtig sind hier auch die Abstammung, die bspw. über den Nachnamen erkennbar ist, und die Pflege gemeinsamer Bräuche (vgl. W O L F -F A R R É 2017). 10.3.2 Deutsch als Herkunftssprache in Australien Abgesehen von einigen Deutschen, die bereits im 18. Jahrhundert als Gefangene nach Australien gebracht wurden, 3 beginnt die Geschichte der deutschsprachigen Einwan‐ derung nach Australien ähnlich wie die oben geschilderte Geschichte im chilenischen Kontext. So kommt die erste größere Gruppe deutschsprachiger Auswanderer*innen 1838 nach Australien, um ihren lutheranischen Glauben frei leben zu können. Anschlie‐ ßend folgt eine Auswanderungswelle der „1848er“. Um die Jahrhundertwende war Deutsch vermutlich nach dem Englischen die meistgenutzte Sprache in der australi‐ schen Einwanderungsgesellschaft. Während des Zweiten Weltkriegs fliehen deutsche und österreichische Personen jüdischen Glaubens nach Australien (vgl. H UNT & D AVI S 2022). Nach Ende des Krieges folgt die wohl größte Welle deutschsprachiger Auswanderung nach Australien in den 1950er und 60er Jahren, u. a. bedingt durch die Vertreibung Deutschstämmiger aus osteuropäischen Gebieten (vgl. B AD E 1987). Seit den 1970er Jahren gibt es weitere Auswanderer*innen aus deutschsprachigen Ländern, jedoch in kleinerer Zahl. Die Motive dieser Menschen werden zunehmend divers: Ging es zunächst v. a. darum, dem Kalten Krieg zu entkommen, zählt in jüngerer Zeit zunehmend der australische lifestyle zu den Migrationsgründen (vgl. H UNT & D AVI S 2022). In der australischen Zensuserhebung 2021 identifizieren sich 1.026.138 Australier*innen mit einer deutschstämmigen Herkunft, was sie (nach Englisch, Irisch, Schottisch, Chinesisch und Italienisch) zur sechstgrößten Gruppe macht. Innerhalb der rund 500 abgebildeten Sprachen im australischen Zensus belegt Deutsch mit rund 70.000 Sprecher*innen allerdings nur den 23. Platz (vgl. A U S T R ALIAN B U R EAU O F S TATI S ‐ TIC S 2022). Diese Diskrepanz (sechstgrößte Herkunftsgruppe, jedoch nur Platz 23 der meistgesprochenen Familiensprachen) zeigt, dass sich zwar viele Australier*innen mit einer deutschstämmigen Herkunft identifizieren, der intergenerationale Spracherhalt jedoch seltener erfolgreich ist (vgl. Kap.-1, 2, 3 und 7). 10.3 Forschungsstand 167 <?page no="169"?> Inwiefern sich Australien als Einwanderungsland von anderen lokalen oder natio‐ nalen Kontexten unterscheidet, kann hier nicht ausführlich beleuchtet werden. In der Literatur wird allerdings gelegentlich auf Besonderheiten der „Anglosphäre“ (Länder mit Mehrheitssprache Englisch, wie z. B. USA, Australien, Großbritannien) verwiesen (vgl. z. B. H O LME S & W IL S ON 2022). Mitunter wird argumentiert, dass Spracherhalt im englischsprachigen Ausland besonders herausfordernd sei, da Englisch als pres‐ tigeträchtige Weltsprache in Ländern mit häufig assimilatorischen Integrationspoliti‐ kansätzen verstärkt dazu führe, dass HS nicht weitergegeben werden. C L Y N E (2001) beschreibt die vergleichsweise hohe Quote intergenerationaler Sprachumstellung in Australien detailliert und kritisiert, dass es bildungspolitisch an Maßnahmen mangele, Spracherhalt zu fördern. Es finden sich in den Großstädten Australiens (Sydney, Melbourne, Adelaide, Brisbane) freiwillige außerschulische Unterrichtsangebote, die eine Art Herkunfts‐ sprachenunterricht (HSU) organisieren und - wie im englischsprachigen Ausland häufig üblich - Saturday schools (vgl. Kap. 4 und 7) genannt werden. Da diese nicht immer vergleichbar funktionieren (unterschiedliche Trägerschaften, unterschiedlich qualifizierte Lehrkräfte, unterschiedliche Finanzierungsmodelle, etc.), kann weder die Qualität noch die Verbreitung solcher Unterstützungsangebote im Spracherhalt in diesem Kontext präzise bewertet werden. Recherchen zu den Samstagsschulen deuten auf ein eher kleines und fragmentiertes Angebot hin, welches man vor allem in den wenigen australischen Großstädten findet. In einem sehr dünn besiedelten Land, in dem deutsche Auswanderer*innen weit verteilt sind (vgl. H UNT & D AVI S 2022), ist die institutionalisierte Unterstützung im Spracherhalt des Deutschen also eher als gering einzuordnen. Über die Samstagsschulen hinaus gibt es zwei deutsche Auslandsschulen sowie eine einstellige Anzahl weiterer Schulen mit einer prominenten Verankerung von Deutschunterricht im Curriculum (vgl. PASCH-I NITIATIV E 2024). 10.4 Offene Fragen Auch aufgrund des stark dialektologisch geprägten Interesses der ursprünglichen Sprachinselforschung sind deutsche Sprachminderheiten häufig auf strukturlinguisti‐ scher Ebene eingehend untersucht, während soziolinguistische, ethnografische und gesellschaftliche Fragen mitunter nachrangig behandelt werden. Die globalen Verän‐ derungen durch gegenwärtige Migrationsbewegungen und die Allgegenwärtigkeit von Sprachen über die digitalen Medien werfen neue Fragen auf. Eine davon ist die nach dem Verhältnis von Deutsch als HS zu Deutsch als Fremd‐ sprache (DaF): Während die Prognosen in den meisten deutschen Sprachminderhei‐ tenkonstellationen auf einen deutlichen Rückgang des Sprachgebrauchs hinweisen, ist die Nachfrage nach und der Erweb von DaF in vielen Regionen der Welt hoch bzw. steigend. In vielen Regionen Lateinamerikas sind es die Nachkommen deutschsprachi‐ ger Einwanderer*innen, die DaF erlernen, wobei die eigene Herkunft ein motivierender Faktor ist (vgl. W O L F -F A R R É 2024). Was der stärkere Einfluss des institutionalisierten 168 10 Die andere Perspektive: Deutsch als Herkunftssprache <?page no="170"?> DaF-Erwerbs im Gegensatz zum zumeist ungesteuerten Erwerb von Deutsch als HS bedeutet, ist eine offene Forschungsfrage. Ein weiterer Aspekt, der in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielt, ist die häufig privilegierte Rolle des Deutschen gegenüber anderen HS: Deutsch ist an vielen Orten der Welt institutionell vertreten, etwa durch Goethe-Institute und Deutsche Schulen (einige davon im PASCH-Netzwerk). Hinzu kommt, dass Deutsch vermutlich in vielen Regionen der Welt als vergleichsweise prestigeträchtige Sprache angesehen wird (vgl. Kap.-9), vielerorts (wenn auch in untergeordneter Form) Gegenstand von Sekun‐ darschulbildung ist und man an vielen Universitäten der Welt entweder Sprachkurse oder gar Studiengänge für Deutsch bzw. Germanistik findet, usw. Diese priviligierte Rolle des Deutschen lässt einen Vergleich zwischen Spracherhaltsprozessen im Kontext von HS in Deutschland und dem Deutschen im Ausland kaum zu. Gleichwohl bietet die Forschung zu deutschen Sprachinseln und dortigen Spracherhaltsprozessen großes Potenzial. So sind es unter anderem Fragen nach dem Prestige, die in diesen Spracher‐ haltskonstellationen wenig erforscht sind. 10.5 Aufgaben 1. Worin unterscheiden sich die Konzepte „Sprachinsel“ und „Sprachminderheit“? Überlegen Sie auch, welche Kritik man am „Sprachinsel“-Konzept üben könnte. 2. Beschreiben Sie in eigenen Worten, worin die Unterschiede zwischen Deutsch als HS im Ausland und bspw. Türkisch, Russisch oder Arabisch als HS in Deutschland bestehen. 3. Diskutieren Sie in einer Gruppenarbeit, welche Faktoren zum Erhalt oder Verlust des Deutschen als HS in Chile und Australien beitragen. 4. Recherchieren Sie weitere Länder, in denen Deutsch als HS vorkommt und welche Rolle es dort spielt. 5. Überlegen Sie, welche Bedeutung die deutsche Sprache aktuell für Sie hat. Wie würde sich dies ändern, wenn Sie in ein anderssprachiges Land auswandern müssten? 10.6 Literaturverzeichnis A U S T R A L IA N B U R E A U O F S T A T I S T I C S (2022): Cultural diversity: Census 2021 (https: / / www.abs.gov.a u/ statistics/ people/ people-and-communities/ cultural-diversity-census/ latest-release; Aufruf 23.02.2024). B A D E , Klaus J. (1987): „Transatlantic emigration and continental immigration: The German experience past and present”. In: Bade, K. J. (Hrsg.): Population, labour and migration in 19thand 20th-century Germany. 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Im vorliegen‐ den Kapitel wird der Begriff Spracherhaltsdidaktik eingeführt, um eine Perspektive zu beschreiben, die Aspekte aus Erst-, Zweit- und Fremdsprachensowie inklusiver Sprachdidaktik berücksichtigt und den Bedürfnissen des HSU gerecht werden soll, da jeweils ein isolierter Zugang zu diesen Didaktiken, ebenso eine Zusammenführung jener didaktischen Zugänge auf den HSU, zu kurz greifen würde. Auch der Begriff Her‐ kunftssprachendidaktik kommt aufgrund sprachlicher und kultureller Heterogenität im HSU (vgl. M E HLHO R N 2022, S CHALÜC K E T AL . 2022) und seinem unspezifischen Bezug an seine Grenzen (vgl. A LTUN & G ÜR S O Y 2015, D I R IM 2015), zumal der Begriff Herkunft in Herkunftssprache und HSU in Frage gestellt werden kann, da Folgegenerationen Migration als eigene Erfahrung nicht miterlebt haben und hybride Formen ihrer Identitätskonstruktion bzw. Subjektwerdung entwickeln (vgl. B ÜN G E R & J E R G U S 2023, M E CH E R IL 2014, vgl. Kap. 8). Gleichzeitig setzt sich in dieser Gruppe vermehrt das Deutsche (vgl. Kap. 2) durch und der Besuch des HSU kann aus der Sicht von Schüler*in‐ nen als Rückstand in der leistungsorientierten Schule wahrgenommen werden. Eine Spracherhaltsdidaktik - so die Annahme - würde darauf abzielen, den Spracherhalt in Folgegenerationen u. a. durch den Besuch des HSU und somit eines institutionellen Zugangs zu schriftsprachlichen Fähigkeiten in den HS zu ermöglichen (vgl. H O R NB E R G E R 2011), sofern günstige Bedingungen vorhanden sind (u. a. durch Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, vgl. Kap. 4). In Anlehnung an heritage language tea‐ ching bzw. heritage language education werden Ziele aus spracherhaltsdidaktischer Sicht für den heutigen HSU formuliert, gleichzeitig Spracherhalt als gesamtschulische Aufgabe betrachtet und Möglichkeiten des mehrsprachigen Lernens im Unterricht aller Fächer als gesellschaftlicher Beitrag zum Erhalt von HS aufgezeigt. <?page no="175"?> 11.2 Von einer Herkunftssprachendidaktik zur Spracherhaltsdidaktik HSU (in den Anfängen als sog. „muttersprachlicher Unterricht“ benannt) wird in den jeweiligen Bundesländern Deutschlands unterschiedlich realisiert. Dies kann auf den Beschluss der Kultusministerkonferenz von 1971 zurückgeführt werden, nach welchem in jedem Bundesland in eigener Zuständigkeit entschieden wird, ob der HSU außerhalb oder innerhalb der Kultusverwaltung erfolgt (vgl. u. a. L ÖS E R & W O E R F E L 2017, R E ICH 2014). Während in manchen Bundesländern kein schulisch verantworteter HSU vorhanden ist bzw. als Konsulatsunterricht angeboten wird, wird in anderen Bundesländern HSU neben den anderen Fächern (zumindest) curricular beschrieben; in Nordrhein-Westfalen kann HSU als sogenanntes Wahlpflichtfach in der Sekundarstufe I im Sinne eines Fremdsprachenunterrichts belegt werden. Weitere Organisationsformen sind bilinguale Zweige wie in Berlin oder schulübergreifende Angebote (vgl. ausführlicher L ÖS E R & W O E R F E L 2017). Was alle Modelle mehr oder weniger gemeinsam haben, ist die vielfach geäußerte Rückmeldung und Kritik, dass es sich um ein randständiges Fach im Schulsystem handelt bzw. nur eine geringe Einbindung in die Schule erfolgt (vgl. H ÄGI -M EAD 2020, K ÜP P E R S & S CH R O E D E R 2017). Besonders nach dem sogenannten PISA-Schock wurde in den 2000er Jahren der HSU (nicht zum ersten Mal) zum Politikum und in der Folge teilweise abgeschafft (vgl. G O G O LIN 2008). Inzwischen wird der HSU wieder eingeführt (u. a. im Saarland) bzw. in vielen Bundesländern als staatliches Angebot ausgebaut (vgl. M E DI E NDI E N S T I NT E G R ATIO N 2022). Während in den 1960er bis 1980er Jahren der HSU die sog. Gastarbeiter*innenkinder sprachlich und ‚landeskundlich‘ auf eine mögliche Rückkehr vorbereiten sollte, wurde dem HSU spätestens nach PISA in den 2000er Jahren eine kompensatorische Funktion zur Förderung der deutschen Sprache auferlegt. Die ihm primär zugeschriebene Aufgabe, für die Deutschentwicklung zuständig zu sein, geschweige denn den HSU in einem im Widerspruch stehenden Spannungsfeld von „integrationshemmend und -fördernd“ zu diskutieren (vgl. G ÜR S O Y 2021), zeigt, dass dieses besondere Fach ein Politikum war und weiterhin ist. Die Begriffe HSU und HS sind Teil gegenwärtiger Diskurse und prägen die schulische Praxis (vgl. Kap. 2). Auch wenn die Begriffe Herkunftssprache und Herkunftssprachen‐ unterricht aus heutiger Sicht z.T. problematisch sind, da sie keinesfalls vermeintlich deskriptive Kategorien sind, kommt dieses Kapitel nicht umhin, sie zu verwenden und sich damit in dem bestehenden Diskurs zu verfangen. Mit dem Begriff Spracher‐ haltsdidaktik, der hier eingeführt wird, wird zumindest der Versuch unternommen, eine (tendenzielle) Richtungsänderung im Diskurs um HS und Funktion des HSU zu markieren und ihn vor allem progressiv-spracherhaltsdidaktisch weiterzudenken. In der Verwendung des Begriffs Herkunftssprachendidaktik (HS-Didaktik) ergibt sich die Problematik der Reduzierung und des Bezugs auf einen ‚anderen‘ Raum bei gleichzeitiger Homogenisierung von Vielfalt. Denn den HSU besuchen Schüler*in‐ nen entweder seit dem Beginn der Grundschulzeit oder im Quereinstieg in den 174 11 Spracherhaltsdidaktik <?page no="176"?> 2 https: / / ich.unesco.org/ en/ ich-and-mother-languages-00555; Aufruf 08.06.2024 weiterführenden Jahrgangsstufen, ebenso sind unterschiedliche Ausprägungen des Sprachkontakts zu den Herkunftssprachensprecher*innen (HSS, z. B. Großeltern) vorhanden oder der Anteil neu zugewanderter und somit in der HS bereits literalisierter Schüler*innen im HSU variiert. Einige sprechen auf unterschiedlichem Niveau aktiv die HS (evtl. mit mehrheitssprachlich-geprägten oder mit dialektalen Aussprache- und Grammatikvariationen aus der HS) bzw. sie beherrschen sie rezeptiv (vgl. V ALDÉ S 2000, vgl. Kap. 2). Neben der Reduzierung von Vielfalt im HSU wird im Begriff die Tatsache vernachlässigt, dass Sprachwandelprozesse durch Sprachkontaktphänomene (vgl. Kap.-6) erfolgen. Eine neue Ausrichtung des HSU, die sich von einer HS-Didaktik abhebt, wäre ein spracherhaltsdidaktisch-orientierter HSU, dessen Ausgangspunkt globale Standards (vgl. u. a. UNESCO 2 o. J.) sind und der den Erhalt und Schutz von HS in den Vordergrund rückt. Eine spracherhaltsdidaktische Perspektive auf den HSU berücksichtigt von Anfang an vielfältige Ausprägungen von Sprachfähigkeiten in einer heterogenen HSU-Klasse und begreift alle sprachlichen Heterogenitätsdimensionen als Ressource, darunter auch die Mehrheitssprache sowie mehrheitssprachlich-geprägte bzw. dialektale Fähigkeiten als Ressource für das Lernen in der HS. Ein spracherhalts‐ didaktisch-orientierter HSU hätte somit die Aufgabe, den Erhalt von in Familien erworbenen HS auf institutioneller Ebene zu ermöglichen (vgl. C ANTO N E 2022, O L F E R T 2019). 11.3 Globale Standards Auf der Suche nach Entwicklungsperspektiven für den HSU muss auf globale Standards wie etwas aus dem Kontext von UNESCO oder UNICEF zurückgegriffen werden. Der Begriff Heritage-Sprache, dessen Übersetzung ins Deutsche schwer möglich und eben nicht mit „Herkunft“ gleichzusetzen ist (vgl. Kap. 2.2.1), drückt die gesamtgesellschaft‐ liche (und somit ebenso eine gesamtschulische) Verantwortung aus, alle autochthonen und allochthonen Minderheitensprachen (vgl. Kap. 1) im Sinne eines immateriellen, kulturellen Erbes (vgl. Kap.-9) zu schützen. Constituting an essential part of an ethnic community, mother language is a carrier of values and knowledge, very often used in the practice and transmission of intangible cultural heritage. The spoken word in mother language is important in the enactment and transmission of virtually all intangible heritage, especially in oral traditions and expressions, songs and most rituals. Using their mother tongue, bearers of specific traditions often use highly specialized sets of terms and expressions, which reveal the intrinsic depth oneness between mother tongue and the intangible cultural heritage. (UNESCO o.-J.) Die zu schützende HS enthält nicht nur sprachliches Wissen bzw. ein Sprachsystem als kulturelles Erbe, sondern sie ist auch ein fester Bestandteil familiärer Geschichten und Gemeinschaft, mit der Wissen - auch jenseits von Sprache - weitergegeben wird. 11.3 Globale Standards 175 <?page no="177"?> Auch die UN-Kinderrechtskonvention von 1989, die von der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1990 unterzeichnet wurde und im Jahr 1992 in Kraft trat, greift diese care-Funktion von HS bzw. Minderheitensprachen auf. Hiermit verpflichtet sich die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat, kinderrechtskonform in all den aufgelisteten Punkten zu handeln. Die Kinderrechte enthalten eine Reihe von Schutzmaßnahmen, die ergänzend zu den allgemeinen Menschenrechten zusätzlichen und präventiven Schutz vor jeglichen Formen von Missbrauch und Misshandlung ermöglichen. Gleich zwei Artikel nehmen konkret Bezug auf die Sprache der Kinder. In Art. 2 (Achtung der Kindesrechte; Diskriminierungsverbot) wird explizit neben Hautfarbe, Geschlecht und Religion auf Sprache Bezug genommen (UNICEF o. J.: 9-10.). Zusätzlich wird in Art. 30 (Minderheitenschutz) erneut die Notwendigkeit des besonderen Schutzes (sprachlicher) Minderheiten erwähnt. Art. 30: Minderheitenschutz In Staaten, in denen es ethnische, religiöse oder sprachliche Minderheiten oder Ureinwohner gibt, darf einem Kind, das einer solchen Minderheit angehört oder Ureinwohner ist, nicht das Recht vorenthalten werden, in Gemeinschaft mit anderen Angehörigen seiner Gruppe seine eigene Kultur zu pflegen, sich zu seiner eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben oder seine eigene Sprache zu verwenden. (UNICEF o. J.: 35) Diese Rechte werden jedoch in Deutschland oftmals - und wenn überhaupt - nur autochthonen Minderheiten zugesprochen, bei allochthonen wird dieses Recht meist nicht gesehen, wie z. B. bei der Europäischen Charta der Regional- oder Minderhei‐ tensprachen, in der die allochthonen Minderheitensprachen (ebenso Dialekte der Staatssprache) nicht berücksichtigt werden (S CHMITZ & O L F E R T 2013: 208). 11.4 Konzepte zur Spracherhaltsdidaktik Da die HS besonderen Schutz aus einer globalen Perspektive benötigen und der Erhalt von HS eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe einer Mehrheitsgesellschaft ist, ergeben sich drei Formate zum Spracherhalt von HS als gesamtschulische Aufgabe: a. ein institutionell-schulisches Angebot wie der HSU, b. Konzepte von Mehrsprachigkeitsdidaktik in allen Fächern und c. Koordination des HSU mit weiteren Fächern und außerschulichen Angeboten. 11.4.1 Ziele eines spracherhaltsdidaktisch-orientierten HSU In Anlehnung an M A R T Í N E Z (2016: 42) sind für einen spracherhaltsdidaktisch konzipier‐ ten HSU folgende Zielformulierungen aktuell: 176 11 Spracherhaltsdidaktik <?page no="178"?> • Spracherhalt von HS, • Zugang zur Literalität ermöglichen (Schriftspracherwerb und Lese-/ Schreibfä‐ higkeiten) in der HS, • Transfer interlingual-wechselseitig und Entwicklung von Biliteralität, • Einbezug vorhandener Ressourcen (Variationen der HS, weitere Sprachen), • Förderung einer positiven Einstellung gegenüber der HS sowie Abbau von Sprechangst (zu language anxiety in der HS vgl. S E VINÇ 2018, Kap.-3), • Entwicklung und Bewusstmachung einer mehrsprachig-hybriden ‚Identität‘ bzw. dynamischer Entwicklungsprozesse als Mensch/ Subjekt (vgl. Kap.-8). Diese Ziele unterscheiden sich von kompensatorischen Maßnahmen, die den HSU als Deutschförderung legitimieren und aus denen sich der HSU aufgrund der involvierten Machtverhältnisse nicht befreien kann (vgl. G ÜR S O Y 2021). Ausgangspunkt der Ziele sind • die Schüler*innen als Subjekte und die Notwendigkeit, ihre Bedürfnisse (vgl. M A R T Í N E Z 2016) wahrzunehmen, • auf die sprachliche Heterogenität unter Einbezug vorhandener Ressourcen in jeg‐ licher Hinsicht didaktisch zu reagieren, z. B. durch Differenzierung (vgl. M E HLHO R N 2022), • das Recht auf den Zugang zur Schriftsprache umzusetzen, den Erwerb von schrift‐ sprachlichen Fähigkeiten in der HS zu ermöglichen und • die Entwicklung der HS im Zusammenspiel mit der Mehrheitssprache als inter‐ lingual-wechselseitigen und dynamischen Prozess in beide/ mehrere Richtungen jenseits von hegemonialen Deutschkonzepten (= Deutsch als hierarchisch überge‐ ordnete Sprache) (vgl. K HAK P O U R 2015) zu verstehen. Die Ziele greifen ineinander, um einen progressiven HSU bedarfs- und subjektorientiert anzubieten und die Inhalte neu zu denken: Since many HL learners have internalized negative messages about their own language variant, the goal is to help students become aware of these messages and validate their own ways of speaking. A critical sociolinguistic approach to problematize and question such notions as the ‘correct’ way of speaking, ‘standard’ and ‘prestigious’ variants could have a significant positive impact on students’ confidence, self-esteem, and sense of identity. (P A R R A 2016: 174) Ein solcher Zugang ermöglicht es, den Blick zum einen auf Sprachmischung, Sprach‐ variation und Sprachwandelprozesse (vgl. Kap. 6) und zum anderen auf Haltungen (vgl. Kap.-7) zu richten. Verbunden mit diesen Zielen ist das Hauptziel eines spracherhaltsdidaktisch-aus‐ gelegten HSU, auf institutioneller Ebene HS in gesprochener und geschriebener Sprache zu erhalten (vgl. C ANTON E 2019). Der Erhalt von Zwei-/ Mehrsprachigkeit 11.4 Konzepte zur Spracherhaltsdidaktik 177 <?page no="179"?> 3 Die online verfügbaren Materialien unter der Leitung von S C H A D E R (2016) knüpfen an die Idee eines spracherhaltsdidaktisch konzipierten HSU an (u. a. in den Sprachen Albanisch, Bosnisch/ Kroa‐ tisch/ Montenegrinisch/ Serbisch, Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Portugiesisch, Tami‐ lisch und Türkisch). https: / / myheritagelanguage.com/ de/ books/ 4 Ergänzend zum Begriff translanguaging verwenden C E N O Z & G O R T E R (2017) pedagogical translangu‐ aging, um translanguaging nicht nur als spontane Technik im Unterricht zu begreifen, sondern auch die Perspektive von systematischer Unterrichtsplanung von Anfang an mitzudenken und zwischen ressourcenorientierten Möglichkeiten mehrsprachigen Inputs der Lehrperson und mehrspachigen Outputs der Schüler*innen funktional zu wechseln (vgl. Kap.-4). steht im Vordergrund (vgl. B AKK E R & W R I GHT 2021). Auf didaktischer Ebene sind für die Weiterentwicklung des HSU Ansätze des Scaffolding (vgl. G IB B ON S 2015), der Fremdsprachendidaktik (vgl. K ÜP P E R S 2017), des sprachbewussten Unterrichts (vgl. u. a. T A J ME L & H ÄGI -M EAD 2017, für die Grundschule W ILD EMANN & F O R N O L 2017) und von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) (vgl. u. a. R ÖS CH 2011) sowie eine systematisch engere Einbindung in das Schulprogramm z. B. als versetzungsrelevantes (Wahlpflicht-)Fach in der Sekundarstufe oder als Sprachunterricht (vgl. A LTUN & G ÜR S O Y 2015) analog zum Status des Fremdsprachunterrichts (vgl. K ÜP P E R S & S CH R O E D E R 2017) denkbar, um eine bildungssprachliche Entwicklung in der jeweiligen HS zu ermöglichen und nicht zuletzt Biliteralität anzubahnen (vgl. H O R NB E R G E R 2011). 3 Gleichzeitig ergeben sich durch (soziale) Medien sowie Streaminganbieter Zugänge zur HS (vgl. O L F E R T 2019), womit auch multimodale Aneignungsprozesse erfolgen, die im HSU explizit zum Thema gemacht werden sollten (vgl. P A R R A 2016). Im Konzept multiliteracies wird betont, dass Individuen in der Lage sind, nicht nur Texte zu lesen, sondern sie auch in unterschiedlichen Kontexten (Musik, Bilder, Tanz usw.) zu interpretieren und u. a. durch das Internet multimodal zu erfahren, wodurch neue(re) Bedeutungen konstruiert werden - mit besonderem Fokus auf eine kritische Haltung gegenüber ‚kulturellen‘ Standards in einer Mehrheitsgesellschaft (N EW L ONDON G R O U P 1996). Für den HSU ergeben sich hierbei zahlreiche Anknüpfungspunkte an mediale Angebote und damit verbundene Aneignungsprozesse von HS. 11.4.2 Mehrsprachiges Lernen in allen Fächern Wenn Spracherhalt als gesamtschulische Aufgabe betrachtet wird, kann der Einbezug von HS und Mehrsprachigkeit in den Unterricht aller Fächer eine weitere schulpro‐ grammatische Herangehensweise sein, um Spracherhalt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe nicht allein auf den HSU zu verlagern. Beispiele für die Fächer liegen vor (z. B. in den philologischen Fächern vgl. M O R AITI S E T AL . 2021, für den Mathematikunterricht vgl. P R E DI G E R & R E DD E R 2020, für den Biologieunterricht vgl. B E E S E & G ÜR S O Y 2019). Weitere relevante pädagogische Ansätze sind translanguaging (vgl. G A R C Í A & W E I 2014 4 , G ANT E F O R T & M AAH S 2020) oder critical multilingual language awareness (G A R C Í A 2017). In ihnen ist der Einbezug von HS und Mehrsprachigkeit nicht als Maßnahme zur Förderung des Deutschen bzw. einer Mehrheitssprache angelegt (wie z. B. im 178 11 Spracherhaltsdidaktik <?page no="180"?> 5 https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2019/ 2019_12_05-Bildu ngssprachliche-Kompetenzen.pdf Beschluss der KMK von 2019 5 ), sondern es sollen entweder interlingual-wechselseitige Beziehungen mit besonderem Fokus auf Sprachbewusstheit initiiert oder fachliche Verstehensprozesse in den Vordergrund rücken, die mehrsprachig erfahrbar werden können. Exkurs Fachwissenschaften In den Fachwissenschaften (Biologie, Geschichte, Geographie usw.) kooperieren Forscher*innen weltweit. Auch sie sprechen unterschiedliche Sprachen und Dialekte oder auch HS - und verständigen sich fachlich dennoch untereinander. Sie arbeiten auf Forschungsexpeditionen und in Laboren zusammen oder analy‐ sieren mehrsprachige Quellentexte. Neben einem gemeinsamen internationalen Wortschatz, zum Beispiel ein Klassifikationssystem auf Latein, finden sich auch griechische und lateinische Begriffe zur Beschreibung von Objekten, Prozessen und Eigenschaften sowie Übersetzungen in weitere Sprachen, die nicht mit den o. g. Sprachen arbeiten. Veröffentlichungen, Vorträge etc. finden manchmal in den jeweiligen Sprachen der Forscher*innen in den Herkunftsländern, manchmal auch auf Englisch statt. Auf längeren Exkursionen erlernen Forscher*innen Bruchstü‐ cke der Sprache(n) der Exkursionsorte und erkundigen sich nach den örtlichen Bezeichnungen von Regionen, Tieren und Pflanzen sowie deren Bedeutung. Mehrsprachigkeit ist in der Fachwissenschaft nicht hinderlich, sondern notwen‐ dig und selbstverständlich. Diese Rolle einer mehrsprachigen Person aus der Forschung didaktisch aufzugreifen, kann helfen, Fachunterricht mehrsprachig(er) zu gestalten und dabei stets fachliche Lernprozesse im Blick zu behalten. Im Zeitalter von KI-gestützten Online-Angeboten und Übersetzungsmöglichkeiten ist es unerheblich, ob die Lernenden bestimmte Bezeichnungen kennen. So können alle Schüler*innen unabhängig von ihren Sprachbiografien (mehrsprachig vs. einsprachig aufgewachsen) den Auftrag erhalten, Fachinhalte z. B. auf lexika‐ lischer Ebene mehrsprachig zu erkunden. Dieser Zugang in mehreren Sprachen fördert den Erwerb von Fachbegriffen und Konzepten aus Fachwissenschaft und Alltag. Mehrsprachigkeit ist kein Zusatzprogramm und nicht entkoppelt vom Erwerb fachlicher und unterrichtssprachlicher Kompetenzen. Der gezielte Einsatz (KI-gestützten) mehrsprachigen Lernens in allen Fächern in heterogenen Klassen - im Idealfall in Koordination mit dem HSU (vgl. Kap. 11.4.3) - kann neue Zugriffe und Brücken zum fachlichen Verstehen und den bewussten Erwerb unterrichts- und fachsprachlicher Kompetenzen ganzheitlich gedacht ermöglichen. Dabei wäre es wichtig, den HSS die Wahl der Sprache selbst zu überlassen und nicht zwangsläufig auf die HS zu reduzieren, da sie evtl. negative Erfahrungen bei der Verwendung von HS gemacht haben (vgl. Kap. 11.4.1). Dennoch können solch 11.4 Konzepte zur Spracherhaltsdidaktik 179 <?page no="181"?> 6 Materialien sind unter dem folgenden Link der B E Z I R K S R E G I E R U N G K Ö L N (2021) zu finden: https : / / www.bezreg-koeln.nrw.de/ system/ files/ media/ document/ file/ publikationen_schule_und_bildung _pub_abteilung_04_handreichung_planen_vorbereiten.pdf mehrsprachig-inklusiv konzipierte Zugänge ebenfalls einen erheblichen Beitrag zum Spracherhalt leisten. 11.4.3 Koordination mit weiteren Fächern Der Einbezug des HSU in Konzepte eines schulischen Gesamtsprachencurriculums mit besonderem Fokus auf eine koordinierte gesamtsprachliche Bildung aller Fächer liegt seit den 1980er Jahren vor (vgl. BAGIV 1985) und wird in weiteren Überlegungen fortgesetzt (vgl. G O G O LIN 2013, H U F E I S E N 2011, H U F E I S E N & T O P AL OVIĆ 2018, R E ICH & K R UMM 2013). Für die Grundschule liegt das in den 1980er Jahren entworfene (vgl. N EH R E T AL . 1988) und in den 2000er Jahren vor allem in Nordrhein-Westfalen (NRW) weiter entwickelte und empirisch erprobte Konzept der koordinierten Alphabetisierung (KOALA) vor, bei der möglichst alle Grundschulkinder zweisprachig oder mehrspra‐ chig (in Deutsch und einer weiteren HS) alphabetisiert werden (vgl. R E ICH 2016), um so erste Wege einer mehrschriftlichen Literalität anzubahnen. 6 Durch den Einsatz und die Expertise von Lehrkräften des HSU und weiteren Grundschullehrkräften werden in einem gemeinsam konstituierten (Mehrsprachen-)Unterricht beispielsweise Laut-Buchstaben-Beziehungen im Deutschen und in einer oder mehreren Sprachen vermittelt. Dies knüpft an Zugänge des mehrsprachigen Lernens an (Kap. 11.4.2), jedoch geht das KOALA-Konzept einen Schritt weiter, indem auch die Koordination mit dem HSU und die Zusammenarbeit mit den HSU-Lehrkräften erfolgt. Im HSU erhalten die Schüler*innen Vertiefungen zu den jeweiligen Laut-Buchstaben-Beziehungen der jeweiligen HS (vgl. B E ZI R K S R E G I E R UN G K ÖLN 2021). Die Harmonisierung der Lerngegen‐ stände in einem mehrsprachig-inklusiv konzipierten Unterricht mit der Möglichkeit, im HSU die HS zu vertiefen, führt in der Gruppe von deutsch- und türkischsprachigen Kindern zu besseren Leistungen in beiden Sprachen - u. a. in der Textlänge und bei der Lexikvielfalt (R E ICH 2016: 171) -, während die Kontrollgruppe, die HSU Türkisch ohne Koordinierung erhielt, schlechter abschnitt und die Kontrollgruppe ohne jeglichen HSU Türkisch sogar deutlich schlechter. Ähnliches berichten in Bezug auf Wortschatz‐ entwicklung auch S I E R E N S E T AL . (2019) aus den Niederlanden, die nachweisen konnten, dass die Entwicklung von Niederländischkenntnissen bei Schüler*innen mit der HS Türkisch besonders dann gut voranschreitet, wenn das Wissen in dieser HS (unter günstigen Bedingungen) inklusiv gefördert wird. Für die Sekundarstufe I in NRW konnte ferner nachgewiesen werden, dass Schreibleistungen im Türkischen in der 7. und 8. Jahrgangsstufe signifikant besser sind, wenn das Fach Türkisch als sogenanntes Wahlpflichtfach gewählt werden kann und somit notenrelevant und in das schulische Programm (vormittags) integriert ist (vgl. A KIN & U LUÇAM 2022). 180 11 Spracherhaltsdidaktik <?page no="182"?> 7 An der Universität Duisburg-Essen kann seit dem Wintersemester 2023/ 24 für das Grundschullehr‐ amt neben den Pflichtfächern sprachliche Grundbildung und mathematische Grundbildung anstelle eines drittes Lernbereichs der sogenannte Teilstudiengang Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte mit der Option zur Vertiefung für HSU Türkisch oder zur Grundbildung Mehrsprachigkeit gewählt werden (vgl. Kap. 4). Ein solches Qualifizierungsprogramm bereits im Lehramtsstudium schafft Möglichkeiten des koordinierten Lernens auch mit dem Mathematikunter‐ richt. 8 Vgl. https: / / zmi-koeln.de/ publikationen/ Eindruecke2.pdf Eine weitere Möglichkeit des koordinierten Lernens ergibt sich zwischen HSU und Mathematikunterricht in Bezug auf Numeracy-Fähigkeiten. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Mathematik im Alltag zu nutzen bzw. arithmetische Fähigkeiten. In einer Studie zu arithmetischen Fähigkeiten bei deutsch- und türkischsprachigen Grund‐ schulkindern der ersten Jahrgangsstufe in Duisburg konnte nachgewiesen werden, dass die Gruppe in beiden Sprachen arithmetische Prozesse verstehen bzw. Numeracy anwenden kann - u. a. hat sie weitere Zahlwortkonzepte (wie z. B. Wissen über einen ordinalen Zahlenstrahl oder Kardinalität) erworben (vgl. G ÜR S O Y , H E R ZO G & F R ITZ 2020). Vorhandene Schwierigkeiten bei Aufgaben zeigten sich dagegen in bei‐ den Sprachen. Das für das Deutsche mehrfach validierte Screeningverfahren zur Erfassung von Rechenschwäche und Rechenstärke (vgl. F R ITZ E T AL . 2018) mit der ergänzenden Validierung für das Türkische gibt Impulse für das koordinierte Lernen im mathematischen Anfangsunterricht in der Grundschule in Anlehnung an KOALA. In einem gemeinsam konstituierten Unterricht könnten Zahlwörter im Deutschen unter Einbezug des Englischen und von weiteren Sprachen gemeinsam mit HSU-Lehrkräften erarbeitet werden, im HSU könnten Numeracy-Fähigkeiten vertieft werden, wie z. B. die Erarbeitung von Grundrechenarten in den HS, um auch mathematisch in den HS handeln zu können und nicht zuletzt auf fachlicher Ebene einen institutionellen Beitrag zur Entwicklung grundschulbezogener mathematischer Fähigkeiten mehrsprachig zu leisten. 7 Auch für die Sekundarstufe I ergeben sich Möglichkeiten einer Fortführung zur Koordinierung von mathematischen Themen, z. B. mit türkischen Ausdrucksweisen für algebraische Zusammenhänge mit dem Deutschen (G ÜR S O Y 2016: 99-101). Weitere Koordinierungsperspektiven sind selbstverständlich mit weiteren Fächern wie Kunst, Musik, Religion, Sachunterricht und Englisch möglich sowie mit außerschulischen Lernorten (z.-B. in Museen 8 ). Eine Fortsetzung der Koordinierung von HSU und weiteren Fächern verlangt in den weiterführenden Schulen eine Differenzierung zwischen philologischen Fächern (Deutsch, Englisch usw.) und nicht-philologischen Fächern (Mathematik, Naturwis‐ senschaften, Gesellschaftswissenschaften, künstlerische Fächer usw.): Während sich die Themen und Kompetenzbeschreibungen in den Lehrplänen philologischer Fächer, wozu auch der HSU gezählt werden kann, ähneln und zum größten Teil auch dieselben Texte (literarische und Sachtexte) erarbeitet werden, lässt sich eine Koordinierung mit nicht-philologischen Fächern aufgrund unterschiedlicher fachlicher Anforderun‐ gen eher auf der Ebene sprachlicher Handlungen (beschreiben, erklären, begründen, berichten usw.) umsetzen (vgl. G ÜR S O Y & R O LL 2018). Bspw. kann die Beschreibung 11.4 Konzepte zur Spracherhaltsdidaktik 181 <?page no="183"?> 9 Vgl. den Beitrag von Dita Vogel https: / / rat-fuer-migration.de/ 2020/ 07/ 08/ debatte-3-sprachen-sind-g enug-fuers-abitur/ einer Durchführung eines Experiments im Physikunterricht auf Deutsch mit dem Beschreiben von allgemeinen Untersuchungsberichten als Sachtexte des Deutschun‐ terrichts und des HSU koordiniert werden, um so bilinguale Formen der sprachlichen Realisierung des Beschreibens anzueignen und im HSU evtl. mögliche Fachsprachen anzubahnen. Hierbei sollte berücksichtigt werden, dass der HSU selbstverständlich nicht alle Fächer abdecken kann, zumal er in einem geringen Umfang und unter erschwerten Bedingungen angeboten wird, gleichwohl aber Möglichkeiten einer An‐ bahnung von Biliteralität (vgl. H O R N B E R G E R 2011) stets mitgedacht werden können. Die oben vorgestellten Ansätze knüpfen an das Curriculum Mehrsprachigkeit von R E ICH & K R UMM (2013) an. Die Autoren machen im Rahmen einer stärkeren Wahrnehmung und Bewältigung sprachlicher Vielfalt den Vorschlag, zusätzlich einen sogenannten Mehrsprachigkeitsunterricht zu etablieren (wie z. B. in KOALA) und ihn wiederum mit mehrsprachigkeits- und sprachbildungsorientierten Ansätzen in den weiteren Fächern (mit philologischen unter Berücksichtigung des HSU und nicht-philologischen Fächern) zu koordinieren (R E ICH & K R UMM 2013: 10). Neben bzw. gerade wegen der koordinierenden Funktion kann der Mehrsprachigkeitsunterricht ein sprachenfreundliches Klima schaffen, die Motivation, den HSU zu besuchen, erhöhen, einen gemeinsamen Raum für Sprachlernprozesse auf einer Sprachbewusstseinsebene schaffen und als curriculares Angebot absichern, sodass die vielfältigen Ziele erreicht werden (ebd.: 17). 11.5 Offene Fragen Offen bleibt die Frage nach der Benotung im Kontext einer Spracherhaltsdidaktik, deren Kern der Schutz und institutionelle Erhalt von Heritage-Sprachen ist, für den die Schule und insbesondere das Fach HSU somit eine care-Aufgabe hat. Denn Notenrelevanz bedeutet auch, dass der HSU versetzungsrelevant sein könnte. Wenn HSS Marginalisierung durch (Nicht-)HSS erfahren, die HS in Folgegenerationen im HSU als Rückstand in der leistungsorientierten Schule erfahren und das Fach ohnehin unter marginalisierten Bedingungen angeboten wird, wäre evtl. ein Rückgang des HSU-Besuchs die Konsequenz. Gleichwohl ergeben sich durch die Perspektive eines Status als sogenannter „Fremdsprachenunterricht“ (möglich in den Varianten „neu ein‐ setzend“ vs. „für Fortgeschrittene“) mit der Folge der Noten- und Versetzungsrelevanz curriculare und gesellschaftliche Anerkennungspotenziale für die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit und durch die Öffnung des Fachs für HSS und Nicht-HSS Wege für eine curriculare Mehrsprachigkeit, womit indirekt ebenfalls ein Beitrag zum Erhalt von HS geleistet werden kann. 9 182 11 Spracherhaltsdidaktik <?page no="184"?> 11.6 Aufgaben 1. Überlegen Sie sich mögliche Bezeichnungen, die alternativ zum Begriff „Herkunfts‐ sprachenunterricht“ verwendet werden könnten, um die Bezugnahme auf den Begriff „Herkunft“ zu vermeiden. Diskutieren Sie anschließend mögliche Vor- und Nachteile der Alternativbezeichnungen. 2. Befragen Sie eine HSU-Lehrperson, unter welchen Bedingungen das Fach unter‐ richtet wird und wie sie mit sprachlicher Heterogenität im HSU umgeht. Fragen Sie auch, was sich die HSU-Lehrperson für das Fach im Allgemeinen und konkret wünscht. Sammeln Sie die Ergebnisse und vergleichen Sie diese. 3. Wählen Sie eine HS aus und recherchieren Sie im Internet und in weiteren Dokumenten den HSU dazu in Bezug auf die historische Entwicklung. Zeichnen Sie eine Entwicklungslinie mit Daten, die aufzeigt, wie sich das HSU-Angebot zu der von Ihnen ausgewählten HS entwickelt hat und welche Funktion dem HSU dabei u.-a. auferlegt wurde. 4. Diskutieren Sie die Frage, ob der HSU auch von Personen unterrichtet werden sollte, die die HS nicht als Kleinkinder erworben haben. Berücksichtigen Sie dabei die Tatsache, dass dies bei Englisch-, Französisch- oder Spanischlehrkräften die Regel ist. Begründen Sie Ihre Antwort. 5. Schreiben Sie einen Elternbrief, in dem Sie Eltern davon überzeugen wollen, dass ihr Kind den HSU besucht. 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HSU 61, 66-71, 92, 124, 127, 157, 168, 173-184, 187 Identität 14, 51, 55, 68, 100, 127, 139-143, 145- 149, 173, 177 Ideologie-51, 55, 84, 129, 152, 155 Italienisch-35, 41, 49, 52, 58, 65ff., 94, 96, 106, 108, 117f., 167, 178 Japanisch-39, 67 Kita-61, 64f. Komplexifizierung-102, 110, 112f. Kurdisch-66, 156f. Malaiisch-123 Mehrheitssprache-17-22, 31f., 34, 37, 39, 46- 49, 54f., 62ff., 67f., 85ff., 90, 92, 99, 102-106, 109, 121, 125ff., 154, 158, 168, 175, 177f. Minderheitensprache 18ff., 29, 31, 34, 38, 45f., 48, 53, 62f., 81, 85, 99, 104, 122, 126, 146, 163, 165, 175f. Niederländisch-49, 67, 109, 115 Norm 13f., 56, 81-87, 89f., 92f., 101, 125f., 128, 152 Polnisch-37, 66, 108, 124 Portugiesisch-21, 37, 106, 178 Prestige 39, 65, 67, 83, 100, 103, 122ff., 126, 144, 149, 151f., 155f., 158f., 163, 168f. Rumänisch-47, 66, 109 Russisch-21, 34, 52, 59, 65ff., 77, 106, 108, 133, 153, 155, 169, 185 Schule-13, 15, 17f., 21f., 32, 36, 39, 49f., 61, 64-68, 70ff., 81, 83f., 86, 93, 101, 124, 127f., 130, 144, 153, 156f., 163, 166, 168f., 173f., 178, 180ff. Simplifizierung-102, 109-113 Spanisch-21, 37, 58, 66f., 78, 96, 105f., 108f., 112, 117f., 155f., 166 Sprachattrition-88f., 102ff., 107f., 111, 113 Spracherhaltsdidaktik-15, 173f., 182 Spracherwerb 18, 23, 25, 29-34, 36, 38f., 47, 54, 61, 63, 71, 85, 87ff., 91, 102ff., 122, 124, 145, 147, 153, 177 Sprachgebrauch-19ff., 32, 34f., 37, 39f., 45, 48, 50, 52, 55, 64, 67, 81f., 84-89, 91, 99f., 102f., 105f., 108, 112, 114, 139, 141, 143, 145, 168 sprachliche Variation-14, 90, 99f., 102, 111- 114 Sprachminderheiten-23f., 163ff., 168 <?page no="190"?> Sprachtransfer-85, 102, 104ff., 108, 113 Sprachumstellung-34f., 49, 125, 128, 168 Sprachvariation 14, 90, 99-102, 104f., 109, 114, 177 Sprachverlust-23, 89, 103, 121, 123, 129, 131 Sprachwandel 14, 23, 89, 99-102, 125, 175, 177 Sprachweitergabe-14, 20ff., 29, 31, 33, 38, 45- 50, 52, 54ff., 61ff., 123, 125ff., 129, 131, 148 Sprechangst-45, 55, 177 Standard-14, 71, 81, 83-86, 90-93, 100, 105ff., 109-112, 114, 142, 144, 165f., 175, 177f. Status-37, 39, 56, 83, 122, 124, 127f., 151f., 156, 178, 182 Tamil-108, 123 translanguaging-71, 178 Türkisch-37, 47, 65ff., 76, 99, 104f., 109, 116, 127, 131, 135, 143ff., 150, 155, 157, 160, 163, 169, 178, 180f., 185 Universität-61, 70ff., 85, 169 Register 189 <?page no="191"?> Dr. Katja F. Cantone ist Professorin für Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Duisburg-Essen. Dr. Helena Olfert ist Professorin für Deutsch als Zweitsprache und sprachliche Bildung an der Universität Osnabrück. Dr. Laura Di Venanzio ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Universität Duisburg-Essen. Dr. Patrick Wolf-Farré ist Assistenzprofessor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Wien. Dr. Tobias Schroedler ist Juniorprofessor für Mehrsprachigkeit und gesellschaftliche Teilhabe an der Universität Duisburg-Essen. Dr. Erkan Gürsoy ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Universität Duisburg-Essen. Von links nach rechts: Erkan Gürsoy, Helena Olfert, Katja F. Cantone, Laura Di Venanzio, Patrick Wolf-Farré, Tobias Schroedler BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen mit mehreren Sprachen gleichzeitig auf. Diese Situation birgt viele Chancen, wenngleich oft eine Herausforderung darin gesehen wird. Ziel der Mehrsprachigkeitsforschung ist es, Besonderheiten im Erwerb genau zu identi zieren, damit Kinder erfolgreich mehrsprachig in die Schulzeit starten können. Das Arbeitsbuch hat zwei Hauptanliegen: Es führt erstens in die aktuelle Mehrsprachigkeitsforschung ein und zeigt somit Studierenden Spracherwerbstheorien, die Entwicklung der beiden Sprachen sowie Phänomene des mehrsprachigen Erwerbs auf. Zweitens wird die Arbeit mit Korpusdaten vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt auf der Mehrsprachigkeit, die im Kindesalter im familiären Kontext einsetzt. Diese bildet die Grundlage für den Spracherwerb, der entweder sukzessiv zu den Erstsprachen in der Schule oder außerhalb der Institution in natürlicher Umgebung statt ndet. Natascha Müller, Tanja Kupisch, Katrin Schmitz, Katja F. Cantone, Laia Arnaus Gil Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung Deutsch - Französisch - Italienisch - Spanisch narr STUDIENBÜCHER 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Au age 2023, 353 Seiten €[D] 27,99 ISBN 978-3-8233-8580-6 eISBN 978-3-8233-9580-5 <?page no="192"?> ISBN 978-3-381-10581-6 Das Studienbuch gibt einen innovativen Einblick in eine in Deutschland erst junge Forschungsrichtung. Die Spracherhaltsforschung erfordert eine Auseinandersetzung mit dem internationalen Forschungsstand, ebenfalls jedoch eine Spezifikation der Situation migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in Deutschland, die im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe nicht nur auf die Mehrheitssprache fokussiert sein sollte. Viele Sprachen erfreuen sich einer starken Vitalität und werden weitergegeben, obwohl gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen den Spracherhalt erschweren. Es gilt, die Entwicklung dieser Sprachen im Individuum, die außersprachlichen Faktoren, die diese beeinflussen, sowie die institutionellen Voraussetzungen für den Spracherhalt zu beschreiben. Auch werden formale und non-formale Angebote sowie die organisatorische und methodisch-didaktische Umsetzung im Unterricht betrachtet. Cantone et al. Spracherhalt und Mehrsprachigkeit Spracherhalt und Mehrsprachigkeit Eine Einführung Katja F. Cantone / Helena Olfert / Laura Di Venanzio / Patrick Wolf-Farré / Tobias Schroedler / Erkan Gürsoy