Genderlinguistik
Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht
0902
2024
978-3-3811-0592-2
978-3-3811-0591-5
Gunter Narr Verlag
Helga Kotthoff
Damaris Nübling
10.24053/9783381105922
Dieses Studienbuch, das 2018 erschien und jetzt in der überarbeiteten Neufassung vorliegt, richtet sich an Studierende und Lehrende der Germanistischen Linguistik und anderer Philologien. Es bietet eine fundierte und dabei stets verständliche Einführung in das Thema sowie einen Überblick über die aktuelle Forschungslage. Behandelt werden alle Bereiche der Systemlinguistik sowie der Sozio- und Gesprächslinguistik. Das inhaltliche Spektrum reicht von stimmlichen Unterschieden, dem Komplex Genus - Sexus - Gender und Personennamen über die Konstruktion von Geschlecht in Wörterbüchern bis hin zu Unterschieden in Gesprächen, auch in der Scherz- und der institutionellen Kommunikation. Es schließt mit einem Kapitel zu Genderkonstruktionen und Kommunikation im Internet. Eine umfangreiche Bibliographie bietet eine gute Grundlage für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Thema.
Stimmen zum Buch:
"formal verständlich und klar sowie inhaltlich fundiert, umfangreich und spannend" - Muttersprache 1 (2020)
"ein ausgezeichnetes und lesenswertes Grundlagenwerk, gründlich und durchgehend leserfreundlich geschrieben." - Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 63 (2020)
"Die große Stärke dieser Einführung liegt in ihrem beispiel- und forschungsbasierten Charakter, die dem Kompendium das nötige Fundament verschaffen." - Info DaF 47,2-3 (2020)
<?page no="0"?> Genderlinguistik Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Helga Kotthoff / Damaris Nübling unter Mitarbeit von Claudia Schmidt <?page no="1"?> Prof. Dr. Damaris Nübling lehrt seit 2000 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Historische Sprachwissenschaft. Sie forscht zum Sprachwandel, zur Dialektologie, Genderlinguistik und Namenforschung. Derzeit leitet sie mehrere Forschungsprojekte zu Genusbesonderheiten, zu Personennamen und zu Tier/ Mensch-Unterscheidungen in Lexik und Grammatik. 2014 erhielt sie den Konrad-Duden-Preis. Prof. Dr. Helga Kotthoff lehrt seit 2007 an der Universität Freiburg Germanistische Linguistik mit Schwerpunkten in Gesprächsforschung, Soziolinguistik und Deutsch als Fremdsprache. Sie forscht zu Scherzkommunikation, Gender sozio- und interaktionslinguistisch, schulischen Interaktionen und solchen im Deutschen als Fremdsprache. Dr. Claudia Schmidt lehrt seit 1996 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Gemanistische Linguistik mit Schwerpunkten in Deutsch als Fremdsprache, Zweitsprachenerwerbsforschung und Medienlinguistik. Sie forscht zum Fremdsprachenerwerb, zur Genderlinguistik und zu Deutsch als Fremdsprache. <?page no="2"?> narr STUDIENBÜCHER <?page no="4"?> Helga Kotthoff / Damaris Nübling unter Mitarbeit von Claudia Schmidt Genderlinguistik Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht 2., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="5"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381105922 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2024 1. Auflage 2018 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-381-10591-5 (Print) ISBN 978-3-381-10592-2 (ePDF) ISBN 978-3-381-10593-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="6"?> 11 12 1 15 1.1 16 1.2 19 1.3 23 2 29 2.1 29 2.2 30 2.2.1 30 2.2.2 32 2.2.3 33 2.2.4 34 2.2.5 35 2.2.6 36 2.2.7 38 2.2.8 40 2.2.9 41 2.2.10 42 2.3 45 2.3.1 45 2.3.2 46 2.3.3 48 2.3.4 48 2.3.5 50 2.3.6 51 2.3.7 52 Inhalt Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur 1. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu Genderlinguistik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Geschlecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der linguistischen Genderforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau dieser Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch . . . . . . . . . . . Was heißt „Konstruktion“ von Geschlecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt doing gender? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ethnomethodologe Harold Garfinkel und seine Agnes-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Goffmans Sicht auf Arrangements der Geschlechter . . . . . . . . Geschlecht als reflexiv institutionalisiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückbindungen ans Biologische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender hervorbringen und / oder mitlaufen lassen . . . . . . . . . Gender bemerkbar in den Vordergrund der Interaktion bringen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterbrechung als doing gender? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender als semiotische Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Undoing gender, Grade an Salienz und Verzicht auf Relevantsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indexing gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indexikalität erster und xter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jungen inszenieren eine weiblich assoziierte kommunikative Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche in Detroit inszenieren Schicht und Gender . . . . . Indirekte Assoziationen mit Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehr zu Genderindices in der Jugendkommunikation . . . . . . . Soziale Stilisierung über Genderindizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation von Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stil-Basteln-- Gender-Basteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 2.4 53 2.4.1 53 2.4.2 56 57 3 59 3.1 59 3.1.1 60 3.1.2 63 3.1.3 64 3.1.4 65 3.2 66 66 4 67 4.1 67 4.2 68 4.2.1 69 4.2.2 70 4.2.3 72 4.2.4 73 4.3 77 4.3.1 77 4.3.2 80 4.3.3 87 4.3.4 91 4.3.5 92 4.3.6 94 100 5 103 5.1 109 5.1.1 113 5.1.2 116 Sozial-konstruktivistische und radikalkonstruktivistische Ansätze . . Judith Butlers Diskursidealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sind sexuelle Präferenzen für Identitäten immer zentral? . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodie und Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stimmgrundfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwankungen der Stimmgrundfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Äußerungsfinale Tonverläufe und weitere Merkmale . . . . . . . Die Singstimme und ihre Genderisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nominalklassifikation: Flexion und Genus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deklination-- Genus-- Sexus-- Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deklination und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemischte und starke Feminina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Starke Maskulina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwache Maskulina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deklinationsunterschiede als sedimentierte Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genus und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genussysteme und Genuszuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Genus-Sexus-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Genus-Sexus-Prinzip bei (personifizierten) Tieren, Objekten und Abstrakta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evoziert das Genus von Objektbezeichnungen Geschlechterstereotype? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haben Geschlechterstereotype Auswirkungen auf die Genuszuweisung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genus-Sexus-Devianzen beim Menschen zum Ausdruck von Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das so genannte generische Maskulinum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Substantive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maskulina verstärken männliche Vorstellungen (Klein 1988, 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie des „generischen“ Maskulinums (Irmen / Köhncke 1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="8"?> 5.1.3 117 5.1.4 119 5.1.5 122 5.1.6 123 5.1.7 124 5.1.8 127 5.1.9 128 5.1.10 129 5.1.11 131 5.1.12 132 5.1.13 135 5.2 144 6 151 6.1 151 6.2 154 6.2.1 154 6.2.2 157 6.3 174 6.4 174 6.5 178 179 7 181 7.1 181 7.1.1 182 7.1.2 183 7.1.3 184 7.2 185 191 Sind Frauen mitgemeint? (Heise 2000, 2003) . . . . . . . . . . . . . . . Generische Maskulina und alternative Sprachformen im Vergleich (Stahlberg / Sczesny 2001 und Schunack / Binanzer 2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss sprachlicher Formen auf die Verarbeitung von Texten (Braun et al. 2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenbezeichnungsmodelle auf dem Prüfstand (Rothmund / Scheele 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generisch beabsichtigt, aber spezifisch interpretiert (Gygax et al. 2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Macht von Sprachformen (Kusterle 2011) . . . . . . . . . . . . . . Referenz- und Relevanzanalyse an Texten (Pettersson 2011) . Personenbezeichnungen im Deutschen und Niederländischen (De-Backer / De-Cuypere 2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effekte genderbewusster Sprache auf die Zuschreibung von Kompetenz und das Prestige von Berufen (Vervecken / Hannover 2012, 2013, 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu guter Letzt: Sind Epikoina komplett geschlechtsindefinit? Mensch und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung, Diskussion, Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . Indefinitpronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren der Geschlechtsspezifizierung und -neutralisierung . . . . . Wortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Derivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphosyntaktische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analytische (periphrastische) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachgebrauchsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Fischer und seiner Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „…-darunter auch Frauen und Kinder“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sie hat Erfolg „trotz ihrer zierlichen Figur“ . . . . . . . . . . . . . . . . Binomiale (Koordinierungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> 8 193 8.1 193 8.2 195 8.3 197 8.4 202 8.5 204 8.6 211 8.7 218 223 9 225 9.1 226 9.2 235 9.3 240 9.4 247 252 10 253 10.1 253 10.2 254 10.3 258 262 11 263 11.1 263 11.2 264 11.3 265 11.4 268 11.5 270 11.6 272 11.7 274 11.7.1 275 11.7.2 276 11.7.3 278 11.7.4 282 283 12 285 12.1 285 Lexikon und Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Etymologie von Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Etymologie von Frauen- und Männerbezeichnungen . . . . . . . . . . . . . Pejorisierung von Frauenbezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechter in Schimpf- und in Sprichwörtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechter im Wortschatz (Lexikon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechter im Wörterbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechter in der Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Onomastik: Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luca und Eurone-- Rufnamen und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lutherin und Frau Thomas Mann-- Familiennamen und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Heidi und das Merkel-- (Frauen-)Namen im Neutrum . . . . . . . . . Weitere genderonomastische Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung der Substantivgroßschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Binnenmajuskeln, Schrägstriche, Klammern: Binarisierende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterne, Doppelpunkte, Unterstriche: Nicht-binarisierende Verfahren Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender, Sozialisation, Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender kommt von außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimensionen des Genderkonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aneignung der Gendersemiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern-Kind-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindercliquen-- zwei Kulturen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Blick zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemgruppe Jungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionale Genderarrangements in der Schule . . . . . . . . . . Scherzverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender in der Soziolinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varietäten und ihr Prestige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="10"?> 12.2 287 12.2.1 287 12.2.2 288 12.2.3 289 12.2.4 290 12.2.5 291 12.3 292 12.4 294 12.5 296 12.5.1 296 12.5.2 297 12.5.3 298 12.6 300 12.7 302 12.8 305 12.8.1 305 12.8.2 307 12.8.3 308 12.9 309 12.10 311 12.11 317 317 13 319 13.1 319 13.2 321 13.3 322 13.4 325 13.5 326 13.5.1 326 13.5.2 327 13.5.3 328 13.6 329 13.7 330 13.8 334 13.9 335 13.9.1 336 13.9.2 340 Die klassischen Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die englische Variable -ng . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Labovs Kaufhausstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Unruhe im Tabellenbild“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offenes und verdecktes Prestige, auch unter historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prestigeorientierung in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Netzwerkstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache als Abgrenzungsverfahren-- vor allem zwischen Müttern und Töchtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habitus und Geschlechtsindizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habitus bei Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbststilisierung und Attraktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cheshires Studie zu Jugendcliquen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situationsbezogenes Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde aus dem heutigen Deutschland und Österreich . . . . . . . . . . . Sprache und soziale Semiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche und soziale Stile in Detroiter „Handlungsgemeinschaften“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinder inszenieren den Übergang ins Jugendalter . . . . . . . . . . Junge Leute in Barcelona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionale Soziolinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gendern wird soziolinguistisch relevant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitet die soziolinguistische Genderforschung intersektional? . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender im Gespräch und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominanz und Unterordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesprächsstile und ihre Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterbrechungen und andere Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Redezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragen und Rezeptionskundgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptionskundgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Modell der kulturellen Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Direktheitsstufen bei Direktiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmung von Autorität, Expertentum und Kompetenz . . . . . . . . . . . Das Gestalten von Beziehungen der Nähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender, Humor und Lachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humor und Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scherzen auf eigene Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> 13.9.3 341 13.9.4 343 13.9.5 344 13.9.6 345 13.9.7 347 13.10 348 13.11 349 351 14 353 14.1 353 14.1.1 353 14.1.2 354 14.2 356 14.3 358 14.3.1 358 14.3.2 361 14.3.3 364 14.4 368 14.4.1 370 14.4.2 374 378 15 381 15.1 381 15.2 383 15.2.1 383 15.2.2 385 15.2.3 388 15.3 393 15.3.1 393 15.3.2 395 15.3.3 398 15.3.4 403 15.3.5 405 407 409 464 Spott, Frotzeln, Humor mit Biss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Milieuunterschiede in der Privatwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität und romantische Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humor und indexing gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Gender als Identitätskategorie immer relevant? . . . . . . . . . . . . . . . Mode und die unterschiedliche Salienz von Gender . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fernsehen, Radio und Printmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fernsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Beispiel „Germany’s next Topmodel“ . . . . . . . . . . . . . . . . Tagespresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kulturelle Supermacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radiowerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komik in Film und Fernsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humoristische Kritik an Geschlechterverhältnissen . . . . . . . . . Genderparodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetnutzung und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetbasierte Kommunikation und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Merkmale internetbasierter Kommunikation . . . . Gender und Sprachgebrauch im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genderisierte Stile internetbasierter Kommunikation? . . . . . . Gender und Identitätskonstruktion(en) im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indexing gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genderswapping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selfies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Online-Dating . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Online-Misogynie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="12"?> Vorwort zur 2. Auflage Die genderlinguistische Forschung hat in den letzten Jahren in einigen Bereichen an Fahrt aufgenommen und zu neuen Befunden und Einsichten geführt. Dies gilt auch für Themenfelder, die es nicht in die Öffentlichkeit schaffen (z. B. die Abfolge bei Koordi‐ nationen vom Typ Vater und Mutter vs. Mutter und Vater). Das hat eine Aktualisierung dieser Einführung erforderlich gemacht. Der starke Zuwachs an Forschung ist eine erfreuliche Entwicklung, deren Erträge in diesen Band eingegangen sind. Spärlicher Zuwachs, wie etwa in der Gesprächs- und Sozialisationsforschung, soll dazu animieren, sich hier in Zukunft stärker zu betätigen. Viele Fragen, die in der 1. Auflage von 2018 noch nicht beantwortet waren, wurden mittlerweile bearbeitet, oft mit neuen, manchmal überraschenden Ergebnissen. Nach wie vor ist das Bemühen um geschlechterbewusstes Formulieren ein emotio‐ nal aufgeladenes Thema in der Öffentlichkeit, dessen linguistische Grundlagen und Forschungen kaum zur Kenntnis genommen werden. Dazu gehört auch, dass es keine „Gendersprache“ gibt und dass das Deutsche als Sprachsystem nicht verändert wird, sondern dass bestimmte Gebrauchsweisen der deutschen Sprache zu- oder abnehmen, etwa indem man mehr movierte -in-Formen (wie Soldatin, Vorständin) verwendet als noch vor 50 Jahren, oder indem man vermehrt Präsenspartizipien gebraucht (wie Studierende, Mitarbeitende). Das Sprachsystem selbst wird dabei kaum affiziert. Mit dieser zweiten, stark erweiterten Auflage der Einführung in die Genderlinguistik liefern wir eine Grundlage zur Versachlichung der Diskussion und die Möglichkeit, wissenschaftlich fundiert den faszinierenden Zusammenhang zwischen Sprache, Spre‐ chen und Gesellschaft zu ergründen. Dazu gehört auch die Theoriediskussion, der wir hier erneut den Impuls geben, sich besser im Sozialkonstruktivismus anzusiedeln als in einem radikalkonstruktivistischen Sprachdeterminismus. Freiburg und Mainz, im Mai 2024 Helga Kotthoff, Damaris Nübling, Claudia Schmidt <?page no="13"?> Vorwort zur 1. Auflage Kaum ein Thema löst so vehemente, oft reflexhafte Reaktionen aus wie die Gender‐ linguistik. Längst hat sich ein öffentlicher Disput entsponnen, der sich zwar immer wieder über ‚die Sprache‘ äußert, aber denkbar weit von der dafür zuständigen wissenschaftlichen Disziplin, der Sprachwissenschaft, entfernt ist. Dieser weitgehend uninformiert und emotional geführte Diskurs hat sich so weit verselbständigt und dabei auf vermeintliche Vorschriften oder gar „Sprechverbote“ kapriziert, dass sich die Linguistik selbst gar nicht mehr zu Wort meldet: Man wüsste nicht, wo man anzufangen hätte. Ohne linguistische Elementarkenntnisse lässt sich kaum etwas vermitteln. Deshalb dringen weder Erkenntnisse aus der Linguistik nach außen noch fragt die Öffentlichkeit, ob die Linguistik etwas dazu zu sagen hätte. Wir meinen jedoch, dass dies dringend angezeigt ist. Wir legen daher für alle diejenigen, die sich für die faszinierende Disziplin der Sprachwissenschaft interessieren, eine Einführung vor, die versucht, den aktuellen Wissensstand zum Komplex Sprache und Geschlecht allgemeinverständlich zu präsen‐ tieren. Manche Bereiche sind gut erforscht, andere weniger, viele auch gar nicht. Im letzten Fall müssen wir uns auf (meist) US-amerikanische Forschungen beziehen, die aufzeigen, was für das Deutsche noch zu leisten wäre. Da die Genderlinguistik (im Gegensatz zu anderen genderbezogenen Disziplinen) nie an deutschen Univer‐ sitäten institutionalisiert wurde, sind gravierende Wissensdefizite zu beklagen, die die deutsche oft weit hinter die angelsächsische Genderlinguistik zurücktreten lässt. Solche Forschungslücken werden in dieser Einführung, die sich in erster Linie an die Studierenden unseres Faches wendet, benannt. Zur besseren Orientierung im Buch sind zentrale Begriffe und Schlagwörter durch Fettdruck hervorgehoben. Außerdem sind manche Abschnitte in Textkästen gefasst und mit Icons versehen, die unterschiedliche Funktionen haben. Es handelt sich dabei um Abschnitte, die wir für besonders wichtig halten, die interessante Hintergrundinformationen bieten oder unsere Ausführungen ver‐ tiefen oder Beispiele darstellen. <?page no="14"?> Dem Narr-Verlag und insbesondere Tillmann Bub danken wir für die tatkräftige und freundliche Unterstützung. Lena Späth sind wir für die kritische Lektüre aus studen‐ tischer Perspektive dankbar, Pepe Droste und dem Freiburger Forschungskolloquium für wertvolle Kommentare zu Kap. 12. Lea Sonek, Claudia Koontz, Elena Gritzner und Petra Landwehr haben aufwändige Layout-Arbeiten geleistet. Die einzelnen Kap. wurden wie folgt aufgeteilt: Helga Kotthoff ist Verfasserin von Kap. 2 und 11 bis 14, Damaris Nübling von Kap. 3 bis 10, Kap. 1 stammt von beiden. Autorin von Kap.-15 ist Claudia Schmidt. Freiburg und Mainz, im September 2018 Helga Kotthoff, Damaris Nübling, Claudia Schmidt Vorwort zur 1. Auflage 13 <?page no="16"?> 1 Wozu Genderlinguistik? Das Geschlecht, nicht die Religion, ist das Opium des Volkes. (Goffman 1994, 131) Diese Einführung ist kein feministischer Leitfaden. Sie ist auch keine Einführung in die feministische Linguistik, da sie keinen sprachpolitischen Anspruch verfolgt (hierzu Samel 2000; Pusch 1984). Als eine der wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Linguistik schreibt Pusch (1990, 13): Als feministische Wissenschaft ist die feministische Systemlinguistik ‚parteilich‘, d. h., sie bewertet und kritisiert ihre Befunde, begnügt sich nicht mit der Beschreibung, sondern zielt auf Änderung des Systems in Richtung auf eine gründliche Entpatrifizierung und partielle Feminisierung, damit aus Männersprachen humane Sprachen werden. Diese Haltung ist durchaus legitim. Dennoch versuchen wir in dieser Einführung eine möglichst unparteiliche Position einzunehmen. Dabei thematisieren wir durchaus sprachpolitische Vorschläge, da sie den öffentlichen Diskurs bestimmen und bereits zu greifbaren Effekten in Form von Sprachwandel geführt haben. Um ein Beispiel zu nennen: Wir bewerten das Indefinitpronomen man, obwohl es an Mann anklingt, damit etymologisch verwandt ist und maskulines Genus hat, mit Referenz auf Frauen nicht als ‚falsch‘ oder ‚inkongruent‘, auch wenn dies die feministische Sprachwissenschaft tut und deshalb das feminine Indefinitpronomen frau kreiert hat. Viele haben an dem Satz „Wie kann man seine Schwangerschaft feststellen? “ nichts auszusetzen und verwenden ihn selbstverständlich mit Bezug auf sich selbst oder auf andere Frauen. Dies gilt es festzustellen und nicht zu bewerten. Zur Wirkung feministischer Neuerungen kann man als Beispiel maskuline Personenbezeichnungen (wie Student, Forscher) anführen, die durch die Etablierung und Empfehlung femininer Formen stärker auf die männliche Referenz reduziert wurden und werden. Was für das Deutsche fehlt, ist eine möglichst wertungsfreie Genderlinguistik, die den Einfluss der sozialen Variablen Geschlecht auf ‚die Sprache‘ (das System) und ‚das Sprechen‘ (Sprachverwendung, Gespräche) untersucht, und, wenn ein solcher Einfluss gegeben ist, diesen (möglichst) bemisst. Dass es dabei zur Feststellung von Asymmetrien kommt und zur Bestätigung von vielem, was die feministische Linguistik bereits erforscht und beschrieben hat, bedeutet nicht, auf sprachpolitische Maßnahmen abzuzielen, so sinnvoll und berechtigt sie sein mögen (hierzu gibt es mittlerweile viel Literatur, s. von Duden „Richtig Gendern“ und „Handbuch geschlechtergerechte Spra‐ che“). Natürlich haben jahrhundertelang praktizierte Geschlechterunterscheidungen, Ungleichbewertungen und Hierarchisierungen nicht nur das Sprachsystem geprägt, sie wirken auch bis heute auf unser Sprachverhalten, in unsere Interaktionen ein, und sie lassen sich in den Tiefen der Grammatik nachweisen. Diese Einführung behandelt daher einerseits den Sprachgebrauch, wie er sich im Sprechen über und durch die <?page no="17"?> Geschlechter manifestiert; die gesprächs- und medienanalytische Genderforschung wird dabei auf den neuesten Stand gebracht. Andererseits analysieren wir das Sprach‐ system, das in seinen erhärteten lexikalischen und grammatischen Strukturen frühere Gespräche, Geschlechterordnungen und das Sprechen über die Geschlechter konser‐ viert, perpetuiert und reproduziert. Seit einigen Jahrzehnten werden Unterscheidungen nach Geschlecht politisch unterbunden, Geschlecht darf z. B. bei Bewerbungen und beruflichen Zugängen (außer dem Beruf des Priesters) keine Rolle spielen (undoing gender). Auch in vielen gesellschaftlichen Bereichen verliert diese Unterscheidung an Relevanz, sie wird zunehmend zurückgewiesen. Mütter gehen immer öfter arbeiten, Väter kümmern sich zunehmend um die Kinderversorgung. Auch hier stellt sich die Frage, ob solcher gesellschaftlicher Wandel sich bereits in ‚Sprache und Gespräch‘ niedergeschlagen hat oder dies derzeit tut. 1.1 Was ist Geschlecht? Geschlecht ist eine in vielen Gesellschaften praktizierte soziale Unterscheidung von Menschen, die am Körper ansetzt. Als Geschlechtszugehörigkeit wird hier das begrif‐ fen, wozu Menschen sich selbst bekennen. In den meisten Fällen entspricht ihre Geschlechtsidentität (Gender) der bei der Geburt vorgenommenen und von den Ge‐ nitalien abgeleiteten Geschlechts(klassen)zuordnung (Sexus). Ist der Sexus nicht schon vorher bekannt, so lautet die erste Frage von Angehörigen nach der Geburt: „Und - was ist es? “. Mit „was“ könnte theoretisch viel gemeint sein, praktisch bezieht es sich nur auf das Geschlecht. Die Geschlechtszuordnung sortiert die Menschen von Anfang an in (mindestens) zwei Klassen und hat gewaltige soziale Folgen (zur jüngst etablierten dritten Option im Personenstandsregister s. u.). Das, was nach der Geburt allerorten vorgeführt und tagtäglich eingeübt wird, ist die - graduell ausgeprägte - soziale Geschlechterrolle (Gender), die die Binarität in aller Regel vergrößert. Mit Gender sind somit alle an die biologische (anatomische) Geschlechtsbestimmung andockenden vielfältigen Praktiken der Geschlechtsdarstellung (doing gender) gemeint (Kap. 2). Diese sind viel wirkmächtiger als Genitalien, Hormon- oder Chromosomensätze und bestehen z. B. aus kulturell und historisch variablen Kleidungs-, Ornamentierungs-, Konsum-, Betätigungs-, Verhaltens- und auch Sprechweisen, die sachlich und logisch keinerlei Bezug zu dem haben, was man bei der Geburt zwischen den Beinen vorgefun‐ den hat. Sie werden jedoch so früh und leidenschaftlich betrieben und dabei erhärtet, dass sie bald für Natur, für ‚angeboren‘ gehalten werden (Naturalisierung von Gender). Versuche, ins Genderinventar der anderen Geschlechtsklasse zu greifen (röcketragende Männer, krawattetragende Frauen), werden mehr oder weniger stark sanktioniert. Röcke tragende Männer riskieren sogar den Verlust ihres Geschlechts, mindestens ihres Status, während hosentragende Frauen mittlerweile das Hosengeschlecht neutralisiert haben. Noch 1970 wurde die Parlamentarierin Lenelotte von Bothmer, weil sie es wagte, im Bundestag einen Hosenanzug zu tragen, von den (nicht anders gewandeten) Herren übel beschimpft („Sie sind ein unanständiges würdeloses Weib! “; „Sie sind 16 1 Wozu Genderlinguistik? <?page no="18"?> keine Dame! “). Gender ist damit hochvariabel, kontingent und historisch wandelinkl. umkehrbar (so war rosa früher die ‚Farbe der Jungen‘). Die bei der Geburt vorgenommene Klassifikation wird als lebenslang geltend begrif‐ fen und mit der Vergabe eines ebenfalls lebenslang geltenden, vergeschlechtlichten Vornamens hör- und sichtbar gemacht (Kap. 9). Eltern, die ihrem Kind schon lange vor der Geburt einen Protobzw. Pränatalnamen geben, ändern diesen häufig mit der Geschlechtsdiagnose. Da der Mehrheitsglaube der an zwei Geschlechter ist und tief in Gesellschaft, Gesetze, Sprache etc. eingelassen ist, untersuchen wir diese historisch sehr alte Unterscheidung in der deutschen Sprache. In diesem nicht-biolo‐ gistischen Sinn sprechen wir von Gender oder einfach nur von Geschlecht, das die Kopplung von Gender an Geschlechtsorgane weder negiert noch erfordert. Auch viele andere Gesellschaften beziehen bei der Geschlechterunterscheidung körperliche Geschlechtsmerkmale ein. Da das natürliche, biologische oder körperliche Geschlecht oft sichtbar ist sowie-- auf vielfältigste Art und Weise-- sichtbar gemacht und bei der Geschlechtszuweisung durchaus thematisiert wird (der hat ja gar keinen Bart! die hat ja einen richtigen Bart! ), da wir außerdem bei Kühen, Bullen und anderen Tieren nicht von Gender sprechen können, sondern deren Geschlechtsklasse sich nur aus körperlichen Merkmalen ergibt, sprechen wir in diesen Kontexten von Sexus. Auch auf der biologischen Sexusebene gelangte in den letzten Jahrzehnten die (medizinisch schon ältere) Erkenntnis ins allgemeine Bewusstsein, dass sich eine strikte Zweigeschlechtlichkeit nicht aufrechterhalten lässt. Auf anatomischer (innere und äußere Geschlechtsorgane), chromosomaler und hormonaler Ebene existieren vielfäl‐ tige Zwischentypen und -formen, die noch bis vor kurzem bald nach der Geburt medizinisch zugunsten der Geschlechtsbinarität bearbeitet (‚vereindeutigt‘) wurden. Auch so schafft man zwei (und nur zwei) Geschlechter und bannt man Ambiguität. Gegenwärtig können wir beobachten, dass sich immer mehr Geschlechter und Geschlechtsidentitäten Gehör und Respekt verschaffen, z. B. Intersex-Personen (mit uneindeutigen Geschlechtsorganen), die heute nach der Geburt nicht mehr operativ vereindeutigt werden müssen (man wartet ihre eigene Entscheidung ab) und die (seit 2013) von keinem oder (seit 2018) von einem dritten Geschlechtseintrag („divers“) Ge‐ brauch machen können (dies gilt auch für andere Geschlechtsidentitäten). Ebenso kann die Geschlechtsidentität (auch soziales oder psychologisches Geschlecht genannt) von der genitalienbezogenen Zuordnung abweichen (Transgender). Viele weitere Formen auch fluider oder temporärer Geschlechtszugehörigkeiten kommen hinzu. Auch gibt es Personen, die sich jenseits jeglichen Geschlechts positionieren, somit jegliche Geschlechtszugehörigkeit ‚gekündigt‘ haben (dem entsprechen in der Religion Athe‐ istInnen): Sie weisen, egal, wie ihr Körper beschaffen ist, jegliche Vergeschlechtlichung von sich. Hier erlangen die Genitalien den Status von Haarfarbe oder Sommersprossen, sie sind irrelevant. Dabei haben auch geschlechtsfreie Menschen mit der Tatsache zu kämpfen, dass ihnen, ob sie es wollen oder nicht, ein Geschlecht zugewiesen wird: In jeder Begegnung versucht das Gegenüber üblicherweise, ihnen eine Geschlechtsklasse zuzuweisen. Auch das Deutsche erzwingt eine Geschlechtsbinarisierung, da es gerade 1.1 Was ist Geschlecht? 17 <?page no="19"?> 1 Am 29.12.2022 berichtete die Berliner Zeitung, dass es 137 Einträge mit der Angabe „divers“ im Berliner Melderegister gebe. Das seien 0,0037 Prozent der rund 3,7 Millionen Einwohner(innen) von Berlin. in zentralen Bereichen nur zwei Optionen (und nicht drei oder vier) vorsieht, so etwa bei der Anrede (Frau oder Herr), in der Warteschlange (die Dame / der Herr war vor mir dran und kaum diese Person war vor mir dran), bei den Pronomen der 3. Person (sie oder er), bei der Namengebung (Michael oder Michaela). Unisexnamen (Toni, Nicola, Kim) werden, wiewohl mittlerweile als vollwertige Vornamen erlaubt, nur selten vergeben und irritieren derzeit noch. Standesämter raten oft von ihnen ab. Dass Kim de l’Horizon 2022 mit dem Buch „Blutbuche“ sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis erhalten hat, deutet auf Veränderungen in diesem Bereich hin. Mit kreativer Energie sucht die nonbinäre Erzählfigur in diesem Buch nach einer eigenen Sprache. De l’Horizon praktiziert für sich selbst eine queere Semiotik, die Zobal (2022) so beschreibt: Der Auftritt der Künstlerfigur anlässlich der Verleihungszeremonie glich der Bestätigung des Geschriebenen. Kim de l’Horizon, eine groß gewachsene, schlanke Erscheinung, der Oberlippenbart streng getrimmt, der lange, schmale Rock, aus dem eine Art Wiese zu wuchern schien, mit grün glitzernden Pailletten besetzt, demonstrierte den Einklang von Literatur und Leben. Wir werden dieses Spektrum an geschlechtlicher Vielfalt mit in den Bick nehmen, ohne umgekehrt aus dem Blick zu verlieren, dass die große Mehrheit der Menschen der Zweigeschlechtlichkeit frönt und sich mehr oder wenig stark zu ihrem Geschlecht bekennt. 1 Beim doing gender (Kap. 2) werden auch biologische Fakten ins Feld ge‐ führt: Stimmunterschiede werden dramatisiert, Bekleidungen gewählt, die deutlich auf primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale verweisen bzw. diese exponieren, Operationen durchgeführt, die die biologischen Geschlechtsmerkmale bearbeiten, vergrößern, ‚optimieren‘, betonen, Bärte werden wachsen gelassen etc. Biologische Geschlechtsmerkmale werden somit (neben einer Palette an kulturellen Indices) mehr oder weniger bewusst zur Geschlechtsdarstellung eingesetzt - ein Blick ins Fernsehen, ins Internet oder auch nur ein Schritt vor die Haustür reichen zur Bestätigung dessen aus. Biologische Sexus- und soziale Genderklasse korrelieren zu weit über 90 %, und dies wird von vielen mehr oder weniger betont. Daher differenzieren wir (entgegen radikalkonstruktivistischen Ansätzen von Judith Butler und anderen) zwischen Sexus und Gender, wohl wissend, dass Gender rele‐ vanter für die Geschlechtsdarstellung und -zuordnung ist und in keiner logischen Beziehung zum Sexus steht. Die Soziologie unterscheidet in diesem Sinn zwischen Weibchen und Männchen (Sexus) sowie zwischen Frauen und Männern (Gender) (Hirschauer 2013). Wir alle führen einen Körper mit uns, der für andere sichtbar ist und dem diese ein Geschlecht zuweisen (ein Faktum, das Butler vernachlässigt). Dies zeigt: Geschlecht ‚gehört‘ nicht nur dem Individuum, Geschlecht wird in aller Regel und binnen kürzester Zeit von anderen zugewiesen. Gelingt die Geschlechtszuweisung 18 1 Wozu Genderlinguistik? <?page no="20"?> 2 Wichtig ist: Geschlecht wird in dieser Einführung niemals für Genus verwendet, auch wenn dies in der öffentlichen und leider auch in der linguistischen Diskussion immer wieder passiert. Zur „begrifflichen Kontamination“ (Irmen / Steiger 2005, 217) von Geschlecht in der Bedeutung von Genus sowie zur „Sexualisierung der Grammatik“ (218) s. Irmen / Steiger (2005), Hornscheidt (1998) und Doleschal (2002). nicht, führt dies (beiderseits) zu Irritationen. Dies erfahren Transgenderpersonen zu Beginn ihrer Transition, wenn sie Hormone einnehmen, ihre Kleidung verändern etc. Hier erweist sich das alltägliche Interesse an einer wohlgeformten Geschlechtergrenze am offensichtlichsten: „Also uns sind Beschwerden über Sie zu Ohren gekommen. Sie sind geschlechtlich nicht eindeutig“, zitiert eine davon betroffene Trans-Person ihren Arbeitgeber (Schmidt-Jüngst 2018, 66). Viele gehen im Alltag davon aus, dass jede Person genau ein festes Geschlecht hat. Jemanden nach ihrem / seinem Geschlecht zu fragen, bedeutet, es als solches anzuzweifeln. Die meisten Menschen würde diese Frage verstören (sie wird auch kaum gestellt), selbst wenn sie an der Geschlechts‐ darstellung (Gender) desinteressiert sind. Ab der Geburt wird das, was Geschlecht primär ausmacht, so schnell und intensiv verinnerlicht, ohne dass man sich dessen bewusst ist (einschließlich vieler Eltern, die behaupten, bei der Erziehung keinen Unterschied zu machen). Da wir uns im Folgenden nicht immer dazu äußern können und wollen, ob Sexus- und Genderklasse übereinstimmen, sprechen wir vereinfachend von Geschlecht, wenn wir die persönliche Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen meinen. 2 Umso konsequenter werden wir in der Grammatik das Wort Geschlecht meiden (wir sprechen dort nur von Genus). In ihrem berühmten Werk „Das andere Geschlecht“ (1949) erklärte Simone de Beauvoir: Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es [d. h.: dazu gemacht]. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt. (Beauvoir 1992, 334) Das große Anliegen der linguistischen Geschlechterforschung war und ist es, in diesem Sinn die sprachlichen und kommunikativen Beiträge zur Gestaltung von Männlichkeiten, Weiblichkeiten, Zwischen- und Transidentitäten nachzuzeichnen. Die noch größere Frage, wie es zur sprachlichen Geschlechtsdifferenzierung überhaupt kommt - phylo-, historiowie ontogenetisch -, ist noch kaum beantwortet: Weder wissen wir, ob alle Sprachen Geschlecht kodieren (und, wenn ja, wie verpflichtend und seit wann), noch wie sich im Zeitverlauf der Ausdruck dieser Information verändert, verstärkt oder abschwächt. Dieses Buch wird dazu neue Einblicke liefern. 1.2 Geschichte der linguistischen Genderforschung Die linguistische, feministisch geprägte Forschung zu Sprache, Gespräch und Ge‐ schlecht blickt in Deutschland inzwischen auf eine über vierzigjährige Geschichte zurück. Damit wurde eine soziolinguistische Teildisziplin begründet, die mehr in 1.2 Geschichte der linguistischen Genderforschung 19 <?page no="21"?> den USA als in Deutschland intensiv beforscht wird. Da die Genderlinguistik in Deutschland nie institutionalisiert wurde (es gibt keinen germanistischen Lehr‐ stuhl mit genderlinguistischer Ausrichtung), hinkt die Forschung zum Deutschen der englisch-amerikanischen hinterher. Immer wieder werden wir in dieser Einführung auf Forschungs- und Wissensdefizite zum Deutschen hinweisen müssen. Manche Kapitel (z. B. Kap. 12 zur Soziolinguistik) sind darauf angewiesen, sich auf anglophone Länder zu beziehen. Dennoch versuchen wir, uns in dieser Einführung so weit wie möglich auf das Deutsche zu konzentrieren. Dabei müssen wir (aus Platzgründen) kontrastive Betrachtungen, so wichtig und interessant sie wären, weitestgehend ausklammern (dazu seien die Bände „Gender across languages“ von Hellinger / Bußmann 2001-2003 sowie von Hellinger / Motschenbacher 2015 empfohlen, die 42 Sprachen untersuchen). Dennoch hat sich innerhalb der bisherigen Forschung ein breites Spektrum an Frage‐ stellungen entwickelt, das sich mit grammatischem Genus ebenso beschäftigt wie mit Wortbildung, Namen, Kollokationen, Gesprächsforschung und Genderstilisierungen in den sog. Neuen Medien. Dabei kommt eine Bandbreite an qualitativ-interpretativen und quantifizierenden Methoden zum Einsatz. Zu Beginn der 1970er Jahre entstanden in den USA erste Studien zum Zusammen‐ hang von Patriarchat, Sprache und Diskurs. 1970 hielt Mary Ritchie Key auf der Tagung der American Dialect Society ihren Vortrag „Linguistic Behavior of Male and Female“ (1972), 1972 analysierten Casey Miller und Kate Swift Sexismen im Wortschatz, und 1973 erschien Lakoffs Beobachtungsstudie dazu, wie Frauen in Sprache und Sprechen marginalisiert werden, z. B. wie sie im sog. generischen Maskulinum verschwinden und einen Sprechstil der Zurückhaltung, Unterordnung und Unsicherheit praktizieren, der ihre gesellschaftliche Zweitrangigkeit absichert. LinguistInnen widmeten sich auch der textuellen Repräsentation der Geschlechter, z. B. in Kinder- und Schulbüchern (Nilsen 1971, 1973; Ott 2017a, 2017b), in denen mehr Jungen auftraten und viel interessanteren Tätigkeiten nachgingen als die wenigen Mädchen. Seither hat sich die internationale linguistische Geschlechterforschung zu einem lebendigen Forschungsgebiet entwickelt. Sie beschäftigt sich mit Grammatik und Dis‐ kurs, mit Sprachsystem, Sprachwandel und Sprachverhalten, auch im Kulturvergleich (Günthner / Kotthoff 1991; Hellinger / Bußmann 2001-2003; Hellinger / Motschenba‐ cher 2015). Cameron (1998) und Coates (1998) haben wichtige Veröffentlichungen in zwei Readern zugänglich gemacht. Auch zwei Handbücher zu Sprache, Kommunika‐ tion und Geschlecht stehen zur Verfügung (Holmes / Meyerhoff 2003, Angouri / Baxter 2021). In Deutschland bildeten Beiträge von Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz den Auftakt zur feministischen Linguistik. Trömel-Plötz (1978) griff in „Linguistik und Frauensprache“ Fragestellungen aus den USA auf und übertrug sie auf das Deutsche. Sie identifizierte und kritisierte dabei bzgl. des Sprachsystems das frauen‐ verschleiernde sog. generische Maskulinum wie der Forscher, bei dem sich Frauen mitgemeint fühlen dürfen, das sich aber oft genug als geschlechtsspezifisch-männlich erweist. Auch Wortbildungsasymmetrien (Gott → Göttin, aber Krankenschwester → *Krankenbruder) sowie semantische und lexikalische Asymmetrien identifiziert sie 20 1 Wozu Genderlinguistik? <?page no="22"?> erstmals, des Weiteren Unterschiede im sprachlichen Verhalten. Dem folgte die Replik „Die Frauen und die Sprache“ von Kalverkämper (1979), der das Anliegen der Linguistin missverstanden hatte und ihr einen linguistisch-strukturalistischen Nachhilfekurs angedeihen ließ. Dies wiederum hat Pusch (1979) zu einer Antwort veranlasst, in der sie für das Deutsche den Grundstein zur feministischen Linguistik gelegt hat. Dem sind mehrere gewichtige Aufsätze und Bände von Trömel-Plötz, Pusch, aber auch anderen LinguistInnen gefolgt (so 1995 ein Überblicksartikel von Bußmann, mehrere Beiträge von Schoenthal, 2012 der Sammelband „Genderlinguistik“ von Günthner et al., 2022 der Band „Genus - Sexus - Gender“ von Diewald / Nübling). Samel (2000) hat die erste Einführung in die feminische Linguistik verfasst, gefolgt von Klann-Delius (2005). Ayaß (2008) hat mit „Kommunikation und Geschlecht“ eine Einführung in die Kommunikationssoziologie vorgelegt. Bis heute ist die Disziplin der feministischen Linguistik bzw. Genderlinguistik ein umstrittenes und ideologisch umkämpftes Feld. Insbesondere der öffentliche Diskurs nimmt kaum linguistische Forschung wahr und geriert sich nicht selten antiwissenschaftlich, indem wissenschaftliche Befunde als irrelevant abgetan werden. Diese Einführung versucht deshalb, einen Überblick über den aktuellen, oft verstreut publizierten Wissensstand zu liefern und dabei auch die zahlreichen Forschungsdefizite zu benennen. Erfreulicherweise ist seit Erscheinen der 1. Auflage 2018 ein hohes Aufkommen an anspruchsvoller Forschung zu konstatieren, die auf Impulse, Ideen und Forschungsanregungen dieser Einführung zurückgeht. In diesem Band vertreten wir ein gemäßigtes Konzept des sprachlichen Konstruk‐ tivismus. Es besteht kein Zweifel daran, dass Geschlechtsdarstellungen (doing gender) nicht nur durch Kleidung, Körperstilisierungen, Berufe, Tätigkeiten und Institutionen produziert werden, sondern maßgeblich durch Sprache und Sprechen, sei es in Ge‐ sprächen und Interaktionen, sei es durch Anreden, Stimmen, Namensnennungen, die Verwendung von Pronomen, oder - auf noch subtilere Weise - durch grammatische Strukturen: Geschlecht ist im Deutschen sehr präsent, man kann der Geschlechtsaus‐ kunft kaum entrinnen. Sprachsysteme bestehen aus der Härtung jahrhundertelangen Sprechens der Geschlechter mit- und übereinander. Nicht nur die Lexik (Wortschatz), auch die „Grammatik ist geronnener Diskurs“ (Haspelmath 2002, 270), denn „Gram‐ matik entsteht als Nebenprodukt des Sprechens in der sozialen Interaktion“ (ebd., 262). Offensichtlich ist oder war (viele Jahrhunderte lang) Geschlecht in der Interaktion eine so wichtige Information, dass Geschlechtshinweise tief in die deutsche Grammatik eingesickert sind. Damit handelt es sich um ein kaum zu umschiffendes Phänomen, das die Zweigeschlechtlichkeit ständig aufruft. Wir betrachten das Verhältnis zwischen Sprache und ‚Wirklichkeit‘ im Sinne eines moderaten sprachlichen Relativitätsprinzips als ein flexibles, wechselseitiges Bedingungsgefüge: Einerseits prägt und präformiert die Sprache als Sediment früherer Diskurse unsere Wahrnehmung (und damit auch die Wirklichkeit). Sie determiniert sie aber nicht; sonst wäre Sprachwandel (der permanent stattfindet) kaum denkbar. Um ein Beispiel für die Macht von Sprache zu liefern: Der lang erkämpften Abschaffung der Anrede Fräulein im Jahr 1972 gingen viele Jahrzehnte voraus, in denen man, 1.2 Geschichte der linguistischen Genderforschung 21 <?page no="23"?> um Frauen korrekt adressieren und auf sie referieren zu können, wissen musste, ob sie verheiratet waren oder nicht, d. h. die Kenntnis darüber, ob eine Frau im Besitz eines Mannes war oder nicht, war eine omnirelevante Information, eine zwingende Voraussetzung, um überhaupt über oder mit ihr sprechen können. Alle Frauen waren im Unterschied zu den Männern entsprechend zweigeteilt. Dass das Diminutiv Fräulein die noch unvollkommene, ihrer eigentlichen Bestimmung harrende und nur durch einen Ehemann zu vervollkommnende Frau bezeichnete, kommt hinzu. Andererseits und umgekehrt aktiviert man beim Sprechen eben diese Kategorien und Informationen in jeder einzelnen Äußerung. So sind Ausdrücke wie Köchin, Arzt, sie, er nicht nur bloße Referenzformen, sondern gleichzeitig (je nach Sichtweise auch ausschließlich) sog. Appellationen mit wirklichkeitskonstituierender Funktion (Hornscheidt 1998, 2006). Um auf unser Bespiel zurückzukommen: Mit jeder Verwendung von Frau und Fräulein hat man vor 1972 diese asymmetrische Geschlechterordnung bestätigt und verfestigt. Unseres Erachtens vollzieht sich Wirklichkeit auch jenseits sprachlicher Handlungen, wenngleich sie maßgeblich diskursiv hergestellt wird. So beobachten wir immer wieder, dass und wie veränderte soziale Verhältnisse sich in der Sprache niederschlagen. Hierzu schreibt Haß-Zumkehr (2003): Wir finden in der Sprache weniger ein Abbild als einen Abdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse vor […], der die Wahrnehmung so lange prägt, bis entweder die Verhältnisse oder die Wahrnehmung der Verhältnisse in Misskredit geraten. Bewusste Veränderungen der Sprache sollen die Wahrnehmung korrigieren. Auch veränderte gesellschaftliche Verhältnisse können jedoch zu Veränderungen in der Sprache führen, auf die die feministische Sprachkritik nicht abgezielt hatte. Tatsächlich lässt sich beides oft gar nicht voneinander trennen. (162) Im Folgenden distanzieren wir uns von einseitig-radikalkonstruktivistischen Ansätzen, die die Sprache bzw. das Sprechen verabsolutieren. Wir gehen davon aus, dass spezifische Sprechaktivitäten und Kommunikationsstile in der Gesellschaft mit historisch entstandenen Genderassoziationen verbunden sind, die je nach Kontext unterschiedlich genutzt werden können. Innerhalb eines sozialen Milieus eignen sich interpretierbare Genderfolien für die Inszenierung verschiedener sozialer Identitäten. Mit einem zurückhaltenden Gesprächsstil (der traditionell eher als feminin gesehen wird) kann ein Mann sich z. B. in einem bestimmten Kontext als „Nicht-Macho“ oder als „neuer Mann“ inszenieren. Auch Typenzitationen wie das Sprechen in der Rolle eines Kiezdeutsch-Sprechers bedeuten bei männlichen und weiblichen Jugendlichen nicht dasselbe. Wer eine Queer-Identität für sich beansprucht oder eine andere Art von Transgression lebt, kann diese über semiotische Anleihen hier wie dort kommunizieren. In den folgenden Kapiteln wird unsere gegenstandsorien‐ tierte Herangehensweise an Geschlechterverhältnisse in Sprache und Kommunikation deutlicher. Wir konzipieren die Genderlinguistik so, dass auch Fragen einer „queeren Linguistik“ (Motschenbacher 2012) eingehen. Im Buch gibt es Kapitel, die von ihrer methodischen Ausrichtung her historisch-phi‐ lologisch, textanalytisch-philologisch, experimentell-psycholinguistisch oder quanti‐ 22 1 Wozu Genderlinguistik? <?page no="24"?> tativ-korpuslinguistisch orientiert sind. Daneben stehen sozialwissenschaftlich oder medienwissenschaftlich ausgerichtete Zugänge. Selbst naturwissenschaftliche Anteile kommen in Kap. 3 über die Stimme ins Spiel. Die Gesprächs- und Medienforschung (Kap. 13, 14, 15) verbindet sozialwissenschaftliche und linguistische Methoden. 1.3 Aufbau dieser Einführung Vorab ein Wort zur Personenreferenz: Da ein generisches Maskulinum (Kap. 5) nur beschränkte Gültigkeit hat, werden wir es weitgehend meiden. Statt ein bestimmtes Verfahren dogmatisch durchzudeklinieren (wovon auch alle Ratgeber abraten), ver‐ wenden wir eine bunte Mischung an geschlechterbewussten Formulierungen, auch, aber nicht ausschließlich, nicht-binarisierende. Unter anderem praktizieren wir das, wofür uns „Das kleine Etymologicum“ von Kristin Kopf (2014) als Vorbild erscheint. Hier die betreffende Passage: Bei generischer Verwendung von Personenbezeichnungen (wenn keine konkreten Individuen gemeint sind) wird in diesem Buch die weibliche oder die männliche Form gebraucht. Die Zuweisung erfolgt per Zufall, über eine randomisierte Liste. Gemeint sind aber immer alle Menschen, egal welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen (oder ob sie das überhaupt tun). Auch die Fälle, in denen unklar ist, ob beide Geschlechter gemeint sind, wurden großzügig den generischen Bezeichnungen zugeschlagen. Sie werden im Folgenden also auf Vorfahrinnen, Griechinnen, Lexikografinnen … stoßen, die alle Nicht-Frauen mitmeinen - und auf Ahnen, Goten und Sprachwissenschaftler, die die Nicht-Männer mit einschließen. (11) Eine der häufigsten Reaktionen auf dieses Buch bestand in dem interessanten Vorwurf, Frauen genannt zu haben, wo angeblich eindeutig nur Männer gemeint sein können. So bestand man bspw. ohne Rücksicht auf historische Tatsachen darauf, dass an der Völkerwanderung nur Männer beteiligt waren. Hinzu kam, dass die weiblichen Formen, obwohl sie im Buch genau 50 % ausmachen, als dominierend kritisiert wurden. Dies deutet auf ein generelles Male-as-norm-Prinzip hin, wonach Menschen als Männer vorgestellt werden (man vergegenwärtige sich nur das Endprodukt bei Darstellungen der Entwicklung vom Affen zum Menschen). Dem kann man, wie mittlerweile erwiesen ist, nur mit der Sichtbarmachung von Frauen begegnen. In dieser Einführung prakti‐ zieren wir also Mischverfahren, die den Text nicht schwerfälliger werden lassen. Unser Band enthält neben dieser Einleitung 14 Kapitel, die kurz skizziert werden. Kap. 2, „Doing, undoing und indexing gender“ stellt die Konzepte des doing gender und indexing gender vor. Gesellschaften haben Vorstellungen davon, welches kommunikative Verhaltensrepertoire eher als weiblich oder als eher männlich gilt, und auch Praktiken, Kindern und Erwachsenen diesbezügliche Erwartungen zu spiegeln. Hat sich im Laufe seiner Enkulturation ein Kind etwa über Kleidungs- und andere Verhaltenssemiotiken zu einem erkennbaren Mädchen oder Jungen gemacht, braucht diese Mitgliedschaftskategorie nur noch mitzulaufen, kann aber auf unterschiedliche 1.3 Aufbau dieser Einführung 23 <?page no="25"?> Art und Weise salient gemacht werden. Viele Anzeigeverfahren von Gender sind bspw. über die Mode habitualisiert. In der Kommunikationsstilistik gibt es keine strenge Genderexklusivität, sehr wohl aber in manchen Bereichen höhere Auftretensfrequenzen (z. B. freundliches Lachen bei Frauen). Dies indiziert Unterstützung des Gegenübers, die weiblich konnotiert ist. Alle Geschlechter können sich so verhalten und erlangen darüber spezifische Identitätsprofile. Kap. 3, „Prosodie und Phonologie“, befasst sich mit der Stimme, die man (wie kaum sonst etwas Sprachliches) für etwas so Biologisches und Angeborenes hält wie Haare oder Körperteile. Forschungen zeigen jedoch, dass auch die Stimme, ihre Tonhöhe und ihr Verlauf (Modulation) weitaus mehr Kultur als Natur enthält. Auch werden Frauen- und Männerstimmen durch Höherbzw. Tieferlegung voneinander differenziert, ihr Überschneidungsbereich wird schärfer abgetrennt als natürlicher‐ weise der Fall. Frauen- und Männerstimmen verändern sich auch historisch, und sie unterscheiden sich im interkulturellen Vergleich. Als noch konstruierter erweist sich die Singstimme. Ab dem 19. Jh. wurden Tenor und Alt voneinander separiert und Frauen- und Männerstimmen außerdem klanglich polarisiert (Koloraturen werden weiblich). Kap. 4, „Nominalklassifikation“, widmet sich der zweifachen Klassifikation der Substantive durch Genus und durch Deklinationsklasse (als der Art und Weise, Kasus und Numerus auszudrücken). In diesen Tiefen der deutschen Grammatik haben sich (historische) Geschlechtervorstellungen verfestigt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Hier legen wir die Bezüge sowohl von Genus als auch von Deklinationsklasse zu Geschlecht offen. Beide Klassifikationen haben großen Anteil an der Produktion der Zweigeschlechtlichkeit und der asymmetrischen grammatischen Ausstattung ent‐ sprechender Personenbezeichnungen. So ist es kein sprachgeschichtlicher Zufall, dass maskuline Personenreferenzen am Nomen drei bis vier Kasus unterscheiden, feminine dagegen gar keinen. Dies weist subtil auf handlungsmächtige Männer und ohnmächtige Frauen hin. Beim Genus erweisen sich Frauenbezeichnungen im Neutrum (Weib, Mädchen, Fräulein) als Hinweise auf unangenehme oder auf unreife, sozial unfertige Frauen, die ihr gesellschaftlich vorgesehenes Ziel (Ehe und Mutterschaft) noch nicht erreicht oder verfehlt haben. Kap. 5 zum sog. generischen Maskulinum behandelt ein besonderes Thema von Kap. 4, nämlich die vieldiskutierte Frage, ob das grammatische Maskulinum bei Personenbezeichnungen (wie der Linguist) sich auf beide Geschlechter zu beziehen in der Lage ist, wie dies manche Grammatiken und viele Laien behaupten. Um diese Frage linguistisch anzugehen, referieren wir (psycho-)linguistische Untersuchungen, die wir abschließend interpretieren und einordnen. Vor allem nehmen wir grammati‐ sche und referenzsemantische Unterscheidungen vor, die u. a. den Numerus und die Referenzialität dieser Maskulina berücksichtigen und sich auf die geschlechtsübergrei‐ fende Rezeption auswirken. Auch Indefinitpronomen wie man, jemand, keiner werden berücksichtigt. 24 1 Wozu Genderlinguistik? <?page no="26"?> Kap. 6 thematisiert die Morphologie, vor allem die Wortbildung. Hier wird das breite Spektrum an morphologischen und morphosyntaktischen Verfahren der Ge‐ schlechtsspezifikation und der Geschlechtsabstraktion vorgestellt, z. B. (häufige) Femi‐ nin- und (seltene) Maskulinmovierungen (Köchin - Witwer), substantivierte Partizipien und Adjektive (Behinderte, Arbeitslose), Attribute wie weiblich / männlich und die Frage, wann und zu welchem Zweck welche Strategie gewählt wird. Dass und warum Diminution mehr mit weiblichem als mit männlichem Geschlecht zu tun hat, wird ebenfalls erhellt. Kap. 7 befasst sich mit der Syntax. Zunächst werden syntaktische Verfestigungen in Form sog. Formulierungs- oder Sprachgebrauchsmuster erfasst, so das häufige Faktum, dass die (Ehe-)Frau syntaktisch hinter ihrem Mann herläuft und dabei in seinem Schatten bleibt, denn meist wird sie gar nicht (anonym) oder weniger individualisiert als er (etwa durch den bloßen Vornamen), z. B. Helmut Kohl und Frau (Hannelore). Die bei Katastrophenmeldungen zu lesende Wendung darunter auch Frauen und Kinder weist dagegen Verletzung oder Tod von Männern als verschmerzbar aus. Wir wenden uns auch sog. Binomialen (Koordinationen) zu, die - je nach Kontext - den Mann vor die Frau (Mann und Frau) oder die Frau vor den Mann stellen (Mama und Papa). Hier zeigen wir, dass soziale Geschlechterrollen die jeweilige Abfolge bestimmen und dass es diachron zu Veränderungen kommen kann. Auch die neue Methode des Word Embeddings wird gestreift, die semantischem Wandel empirisch nachgeht. Kap. 8 adressiert den Kernbereich sprachlicher Bausteine, die Lexeme. Es klärt zunächst die Etymologie von Geschlecht sowie der wichtigsten Frauen- und Männer‐ bezeichnungen. Dann wendet es sich der Pejorisierung und ihren Qualitäten zu, die viele Frauenbezeichnungen im Laufe ihrer Geschichte erfahren haben. Auch werden Geschlechterstereotype in Sprich- und Schimpfwörtern herausgearbeitet. Anschlie‐ ßend werden lexikalische Asymmetrien identifiziert, etwa dass ein Liebhaber etwas anderes ist als eine Liebhaberin, aber auch dass Mutter und Vater sich durch mehr als ihr Geschlecht unterscheiden. Abschließend wird das lexikografische doing gender in Wörterbüchern aufgezeigt, in denen oft jahrhundertealte Stereotypen unreflektiert überdauert haben. Nicht unerwähnt bleiben soll das linguistische doing gender, indem sich die Disziplin selbst an der Her- und Darstellung von Geschlecht beteiligt. Kap. 9 befasst sich mit einer der größten Bühnen der Geschlechterdarstellung, den Personennamen. Bekanntlich verweisen Vornamen direkt auf ein bestimmtes Geschlecht, Unisexnamen werden selten gewählt. Geschlecht lässt sich dabei der Phonologie von Rufnamen entnehmen, d. h. es ist tief in diese Strukturen eingelassen. Bis ins 18. und 19. Jh. hinein war es üblich, die Familiennamen von Frauen zu movieren (die Lutherin). Dieser sprachlich markierten Zugehörigkeit zu einem Mann entspricht noch heute die Praxis, dass bei der Eheschließung in der großen Mehrzahl der Fälle die Frau den Namen des Mannes annimmt. Schließlich wird auch mit der dialektal gegebenen Möglichkeit der Neutralisierung weiblicher Rufnamen (das Heidi), aber auch von Familiennamen (das Merkel) ein namengrammatisches Thema aufgegriffen und der Ratio dahinter nachgegangen. 1.3 Aufbau dieser Einführung 25 <?page no="27"?> Mit der Schreibung in Kap. 10 beschließen wir den systemlinguistischen Teil. Auch die Schreibung leistet einen beträchtlichen Beitrag zur Geschlechterunterschei‐ dung. So hat sich die Substantivgroßschreibung bei Lexemen für Männer früher durchgesetzt als bei solchen für Frauen. Bei Bezeichnungen für Frauen existierte sogar eine negativ-evaluative Kleinschreibung für diejenigen, die man für Hexen hielt. Schließlich werden die verschiedenen (typo)grafischen Strategien binarisierender und nicht-binarisierender Sonderzeichen behandelt, die entweder Frauen und Männer sichtbar machen sollen (z. B. Schrägstriche oder Binnenmajusklen) oder Personen, die sich jenseits der Zweigeschlechtlichkeit verorten (Unterstriche, Sterne, Doppelpunkte). Kap. 11, „Gender, Sozialisation, Kommunikation“, fragt danach, wie das Kind die Kategorie Gender erwirbt. Beim Hineinwachsen in eine Kultur begegnen dem Kind implizite und explizite Verfahren, die auf Gender hindeuten. In Westeuropa und Ame‐ rika ist eine kontextuelle Diversität beobachtbar, bspw. wird in Kindergartenstudien keine starke Genderdifferenzierung in Interaktion und Verhalten der Erzieher/ innen gegenüber den Kindern mehr belegt. Gleichzeitig ist Gender Marketing zu einem unübersehbaren Faktor geworden: Die Produktwelt besonders für Kinder ist in den letzten Jahren einer absurden Zweiteilung ausgesetzt worden, gegen die die rosa und blauen Strampelhosen von vor 50 Jahren harmlos sind. In diesem Kapitel wird ein Überblick über Familieninteraktionen, Gender in Kindercliquen, in der Schule und im Konsumsektor gegeben. In Kap. 12, „Gender in der Soziolinguistik“, rekapitulieren wir die Forschung zu Gender in der korrelationalen und interaktionalen Soziolinguistik. Sehr oft hat diese gezeigt, dass phonetische, syntaktische und auch pragmatische Variablen nicht nur eine Schichtenprägung aufweisen, sondern auch zwischen den Geschlechtern systematisch variieren. Die im englischen Sprachraum durchgeführten Studien zeigen, dass Menschen sich mittels einer bestimmten Aussprache oder eines Satzbaus mehr oder weniger unbewusst als einen sozialen Typus entwerfen. So spielt bspw. auch kulturelle Widerständigkeit in solche Selbstinszenierungen hinein. Die deutschspra‐ chige Soziolinguistik ist im Hinblick auf die Integration sprachlicher Indices in eine soziale Semiotik viel zurückhaltender und liefert deshalb in Bezug auf Gender wenig Erhellendes. In Kap. 13, „Gender im Gespräch“, wird kurz auf verschiedene Sprachverhaltens‐ bereiche eingegangen, die in der nun fast fünfzigjährigen Geschichte der linguistischen Genderforschung als mehr oder weniger typisch für das eine oder andere Geschlecht angesehen wurden: Unterbrechungen, hohe Direktheitsstufen bei Aufforderungen und humoristischen Frotzelaktivitäten, Eingehen auf Themen, Herausstreichen eigener Kompetenzen usw. Dabei muss feministische Folklore an manchen Stellen zurückge‐ wiesen werden, so die des Unterbrechens als männlicher Verhaltensstrategie. Als sehr relevant zeigt sich, dass jeweils gleiche Sprachverhaltensweisen oftmals von der sozialen Umgebung nicht gleich rezipiert werden. Tatsächlich ist beispielsweise die Autorität weiblicher Führungspersonen weniger gesichert als die männlicher. Die Statusdimension ist durchgängig mit Gender verquickt. Hohe Redezeiten und 26 1 Wozu Genderlinguistik? <?page no="28"?> Themengestaltungen in Gesprächen sind primär mit Status verbunden. Auch die Genderdimensionen von Scherzkommunikation werden erhellt. Aus der Beobachtung, wer sich wem gegenüber welche Scherze erlauben kann und ob und wie diese von den Interagierenden goutiert werden, lässt sich die soziale Mikrostruktur einer Situation ablesen. In Kap. 14, „Fernsehen, Radio und Printmedien“, stellen wir interdisziplinäre Zugänge zu verschiedenen Bereichen der massenmedialen Kommunikation vor. Frauen sind noch immer viel weniger nachrichtenwürdig als Männer, was die Machtverteilung in der Welt unmittelbar ausdrückt. Männer in bedeutenden Positionen dominieren nach wie vor die Massenmedien. So rekreieren Fernsehen, Radio und Zeitungen assoziative Verbindungen von Männlichkeit und Macht. Unterhaltungs- und Wettkampfshows wie „Germany’s next Topmodel“ und die Werbung werden etwas genauer betrachtet, z. B. die Entwicklung der Radiowerbung unter Einschluss der Analyse einiger Spots. Vor allem in der TV- und Bühnencomedy finden sich graduell unterschiedlich starke In‐ szenierungen widerständiger weiblicher Typen, deren Spektrum sich enorm erweitert hat. Wir arbeiten bei der Beschreibung komischer Figuren weiterhin mit dem Ansatz der sozialen Indexikalisierung. Im letzten Kap. 15 wird danach gefragt, inwieweit die durch die Neuen Medien geschaffenen vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten mit z. T. spezifischer sprach‐ licher Ausgestaltung Geschlechtsunterschiede in der Nutzung aufweisen, welche Stilisierungen von Gender sich herausgebildet haben und ob die sprachlichen Hand‐ lungsmöglichkeiten im Netz die Binarität der Geschlechter verstärken oder zu ihrer Auflösung beitragen. Einbezogen werden auch Analysen multimodaler Texte, da visuelle Daten Aufschluss darüber geben können, wie die Gestaltung des Köpers zu Genderkonstruktionen beiträgt. Hier wird vor allem auf die Funktion und Gestaltung von Selfies eingegangen. Berücksichtigt werden neben (internet-)linguistischen Arbei‐ ten Forschungsergebnisse aus den Medienwissenschaften. 1.3 Aufbau dieser Einführung 27 <?page no="30"?> 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch 2.1 Was heißt „Konstruktion“ von Geschlecht? Den Basisgedanken einer gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht stützen wir auf Berger / Luckmanns (1966 / 1987) Sicht, nach der in der Alltagswelt die Vis-à-vis-Situation zentral ist, in der Menschen in Aktion, Reaktion und Gegenreaktion miteinander interagieren (Reziprozität). Die / der Andere ist dabei als anderes Subjekt wahrzunehmen und bildet ein Spiegelbild für die eigene Ich-Wahrnehmung. Die Vis-à-vis-Interaktion ist dynamisch und flexibel, folgt aber vorgeprägten sozialen Typisierungen, die im Laufe der Geschichte spezifische Prägungen erfahren haben. In solche Prägungen wird ein Kind zunächst hineingeboren. Eine historische Perspektive auf soziale Typisierung ist somit von Belang. Der Basisgedanke der gesellschaftlichen Konstruktion verleugnet in unserer Lesart keine biologischen Gegebenheiten, sondern beleuchtet deren Aus- oder Umbau, Unterstreichung und (Ir)Relevantsetzung. Die sogenannten Baby X-Studien zeigen eindrücklich, dass und wie die Erwachse‐ nen das gesellschaftliche Gendersystem an das Kind herantragen (mehr in Kap. 10). Erwachsene fahren mit dem zunächst von der Genitalienbestimmung ausgehenden Sortiervorgang für das Kind fort, indem sie z. B. das Schreien eines männlichen Babys eher als Ausdruck von Aggression hören als das Schreien eines weiblichen: Als den Erwachsenen in einem viel zitierten Experiment erzählt wurde, dass ein kleines Mädchen schreie, interpretierten sie dasselbe Schreien desselben Kindes eher als Ausdruck von Angst (Condry / Condry 1976). Man hört derzeit manchmal die Kritik, in den Anfängen der Geschlechterforschung sei diese essentialistisch vorgegangen (Kerner 2007); sie sei von einer biologischen Essenz ausgegangen und habe aus dieser psychische Eigenschaften und Verhalten abgeleitet. Wir werden sehen, dass diese Kritik auf die linguistische Forschung nicht zutrifft. Zumindest weite Teile der sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung standen von Anfang an eher in einer durch George Herbert Mead geprägten, interaktionssymbolischen Tradition und in einer sozialkonstruk‐ tivistischen. Sozialkonstruktivismus in der Geschlechterforschung In dieser Tradition geht man davon aus, dass Kinder durch eine historisch vorge‐ prägte Sicht auf soziale Typen indirekt ihre Selbstwahrnehmung lernen. Das heißt nicht, dass man sie als eine „black box“ sieht, auf die das gesellschaftlich vorherr‐ schende Genderbild einfach projiziert wird. Prägungen gehen aber entlang gängi‐ ger Vorstellungen von weiblichem und männlichem Verhalten vonstatten, die die Kinder in ihren jeweiligen Lebenswelten verstärken oder abmildern können. Im <?page no="31"?> Zusammenhang mit der Interpretation ihrer Äußerungen und ihres Verhaltens bil‐ den sie entsprechende Gefühle auch in Bezug auf sich selbst aus. 2.2 Was heißt doing gender? In den Sozial- und Kommunikationswissenschaften stellt sich bei allen sozialen Kate‐ gorien, denen im Alltag Relevanz zugeschrieben wird, die Frage, wie dies geschieht (Kotthoff 2002a). In keiner (bekannten) Kultur bleibt es bezüglich folgenschwerer sozia‐ ler Kategorien grundsätzlich nur beim Konstatieren physischer oder psychologischer Differenzen. Auch der sozialen Kategorie Alter liegt beispielsweise zunächst ein phy‐ siologischer Prozess zu Grunde. Darüber hinaus wird gesellschaftlich relevant gesetzt, dass beispielsweise ein Kind ab einem gewissen Alter laufen lernt; Alter ist mit Verhal‐ tensstandards verbunden; Jugendliche markieren den Übergang von der Kindheit zum Jugendalter aktiv, indem sie sich anders kleiden und anderen Aktivitäten nachgehen (auch gehört Rauchen oft als semiotische Anzeige des Verlassens des Kind-Status dazu; Eckert 2014). In konservativ-islamischen Milieus soll das geschlechtsreife Mädchen sein Haar verbergen. Mit dem Erreichen der Menstruation und Gebärfähigkeit wird nun über ein Kopftuch in der Öffentlichkeit die Relevanz von Alter, Religion und Geschlecht gleichzeitig semiotisch demonstriert. In vielen Gesellschaften leistet beispielsweise das Auftragen von Make up die gekoppelte Anzeige von Alter und Weiblichkeit. Genauso wie es eine große Bandbreite an Möglichkeiten gibt, die Kategorie Alter über den Körper hinaus oder gegen ihn gerichtet (das Ziel der Kosmetikindustrie) semiotisch kundzutun, bietet auch das soziale und kulturelle Geschlecht (Gender), die Möglichkeit, in graduell abgestufter Relevanz inszeniert zu werden. 2.2.1 Der Ethnomethodologe Harold Garfinkel und seine Agnes-Studie In den Sozialwissenschaften arbeiten wir zur Erfassung der Relevantsetzung mit dem Konzept des doing gender, das auf Harold Garfinkels „Agnes-Studie“ (1967) fußt. Agnes (Pseudonym) wurde 1958 an das Medical Center der University of California Los Angeles überwiesen. Sie besaß weder Eierstöcke noch Gebärmutter. Die männli‐ chen Genitalien, die für Agnes einen grausamen Schlag des Schicksals darstellten, wurden ihr entfernt. Um die Operation herum wurde das Lernen weiblicher Ver‐ haltensweisen zentral. Agnes war fortwährend damit beschäftigt, sich als Frau zu präsentieren und dies zu routinisieren. Diesen Vorgang nennt Garfinkel (1967, 118) „passing“. Ihr Geschlecht verlangt nun eine Ausübung, die Kinder meist ohne hohe Bewusstheit allmählich erwerben. Diese Ausübung („doing“) von Femininität verlangt beispielsweise als weiblich geltende Kleidungs- und Haarstile und Arbeit an der Stimme (Kap. 3). „Doing“ (tun) erfasst zunächst die Alltagsbeobachtung, dass Geschlecht einer 30 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="32"?> Inszenierung bedarf, wenn es bemerkbar sein und Konsequenzen haben soll, die für alle interpretierbar sind. Der Soziologe Garfinkel verfolgte, wie sich die Transfrau Agnes nach ihrer Operation (vom Mann zur Frau) auf allen Ebenen des Verhaltens in das kulturelle Frau-Sein im Kalifornien der sechziger Jahre einübte, darunter auch das Gesprächsverhalten. Zunächst einmal hatte Agnes sich nach der Entscheidung, als Frau leben zu wollen und nach Operationen, mittels Kleidungs- und Körpergestaltungssemiotik als erkennbare Frau umstilisiert. Auf dieser Ebene liegen auch heute noch die auffälligsten Genders‐ tilisierungen. Auf dem Terrain des Gesprächsverhaltens musste und wollte Agnes z. B. lernen, sich in argumentativen Gesprächen nicht durchzusetzen, sondern stattdessen einzulenken, was sie und ihr Umfeld als typisch für Frauen erkannt hatte. Vor allem ihr Freund lehrte sie, nicht zu insistieren und nicht so stark ihre Meinung zu verteidigen, weil das unweiblich sei. Ihr soziales Umfeld fungierte dabei als Ratgeber für das Aufführen von Frau-Sein. Sie musste und wollte es lernen, sich von Männern bestimmte Höflichkeiten angedeihen zu lassen und andere selbst zu praktizieren. Agnes hörte auf, Frauen zur Zigarette Feuer zu geben und hielt stattdessen selbst einem Mann sichtbar ihre der Anzündung harrende Zigarette hin, damit dieser sein Feuerzeug zücke. Agnes verwendete viele Euphemismen, weil sie das als frauentypisches Sprechen empfand. Garfinkel diskutierte Verhaltensweisen, die damals noch gemeinhin als natürlich galten, als in kultureller Praxis wechselseitig erzeugtes „accomplishment“ (Leistung). Die Komponenten der Genderpraxis konnten in Agnes’ Umfeld gut in ihrer Machart und Bedeutung erkannt werden. Der Gedanke der interaktiven Wechselseitigkeit ist für die gesamte Ethnometho‐ dologie sehr bedeutungsvoll. Ayaß (2007) verdeutlicht, dass auch Garfinkel selbst am doing gender rund um Agnes beteiligt war, weil auch er sie genderspezifisch behandelte (z. B. sie durch spezifische Höflichkeiten als Frau bestätigte und sich selbst gleichzeitig als Mann). Ayaß (2008, 152) widmet der Rezeptionsgeschichte dieser klassischen Studie, die diesseits- und jenseits des Atlantiks lange ignoriert wurde, einige Ausführungen. Mit Hirschauer (1993b, 58) konstatiert Ayaß, dass „ein Gutteil feministischer Grundla‐ genforschung außerhalb der Frauenforschung stattfand.“ Butlers theoretisches Buch „Gender Trouble“ lese sich wie ein spätes Echo auf Garfinkels und Goffmans Studien. Allerdings nehme Butler gar nicht zur Kenntnis, dass ihre wesentlichen Thesen von der sozialen Konstruiertheit des Geschlechts bereits bei Garfinkel zu finden seien, der solche Prozesse auch empirisch rekonstruiert habe. Wir möchten diese bedenkliche wissenschaftsgeschichtliche Unterschlagung, der sich auch in der Folge Forscher/ innen blind angeschlossen haben (z. B. betreibt Villa 2003 in ihrer Einführung in Butlers Werk keine Richtigstellung bezüglich der Entwicklung konstruktivistischen Denkens über Gender), nicht fortsetzen und kommen auf andere Kritikpunkte an dem einflussreichen Buch „Gender Trouble“ später zurück. 2.2 Was heißt doing gender? 31 <?page no="33"?> 1 Einige Ausführungen zu Goffmans Forschungsprogramm greifen auf Kotthoff (1994b) zurück. Hirschauer (1993a) hat etwa dreißig Jahre später mittels einer ethnografischen Studie darüber, wie die Transition sowohl von Frau zu Mann wie von Mann zu Frau vor sich geht, sehr genau beschrieben, was medizinische und psycholo‐ gische ExpertInnen leisten, um diese durch ihr professionelles Engagement eine soziale Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei belegt er mit einer Fülle ethnografi‐ scher Daten die allgemeine These, „daß die medizinische Konstruktion der Trans‐ sexualität ein immanenter Bestandteil der zeitgenössischen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit ist“ (ebd., 9). Gerade weil die Trennung der Geschlechter im Alltag immer weniger gelebt werde, erweise sich die „Geschlechtsidentität“ als „letzte Bastion des Glaubens an ein wahres Geschlecht“ (1993, 115). Dieser Glaube findet sich nicht nur bei Stimmexperten und Kosmetikerinnen, die beim passing zu Werke gehen. 2.2.2 Goffmans Sicht auf Arrangements der Geschlechter 1 Nur kurz nach Erscheinen von Garfinkels Studie hat Erving Goffman die Betrachtungs‐ weise von Geschlecht innerhalb der Soziologie und den Kommunikationswissenschaf‐ ten weiter revolutioniert. Er kritisiert im „Arrangement der Geschlechter“ (1977) die Sozialwissenschaften, welche bis dato die Prozesse der fortlaufenden Geschlechterkon‐ struktion kaum erforscht hätten. Für viele Wissenschaftler/ innen war die Bedeutung des Faktors Geschlecht ein Phänomen, welches im Rahmen von Rolle, Privileg und Benachteiligung erfassbar schien. Mit der Untersuchung von „Rollenverhalten“ seien sie, so Goffman, der immensen Bedeutung des geschlossenen Bündels an Glaubensvor‐ stellungen und Praktiken nicht gerecht geworden, welche geltend gemacht werden, um das gesellschaftliche Arrangement der Geschlechter als natürliches auszugeben und abzusichern. Goffman ist hauptsächlich in seinem Buch „Gender Advertisement“ (1976, dt. „Ge‐ schlecht und Werbung“ 1981) und in seinem Aufsatz „The Arrangement between the Sexes“ (1977, dt. 1994) auf die Methoden der Geschlechterstilisierung eingegangen. Wir verdanken ihm die Betrachtungsweise von Geschlecht als naturalisiertem Ord‐ nungsfaktor von Interaktionen, eine Konzeption, welche weit reichende theoretische und empirisch-forschungspraktische Ausblicke auf Fragen von Geschlechterverhält‐ nissen und Kommunikation eröffnete. Seine Genderanalysen fügen sich konsequent in seine Studien zu Interaktionsri‐ tualen ein. Sein Forschungsprogramm lässt sich als das Studium der direkten und unmittelbaren Interaktion umreißen, wie es Knoblauch (1994) im Vorwort zur Heraus‐ gabe seiner Schriften zu Gender herausgearbeitet hat. Im Zusammenhang mit der Erforschung der Interaktionsordnung hat er sich auch Fragen der Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit gewidmet; diese Darstellungen implizieren immer 32 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="34"?> auch normative Zuweisungsakte für die gesellschaftlichen Plätze der Individuen. Ver‐ schiedentlich ist Goffman dem Vorwurf begegnet, er analysiere nicht die Gesellschaft mit ihren Schichten-, Klassen- und Einkommensstrukturen, sondern Verhalten von Individuen. Dieser Vorwurf könnte potentiell auch die Genderanalysen betreffen. Kaum je ist bei ihm die Rede davon, dass Männer weltweit den Großteil der Produkti‐ onsmittel besitzen und Frauen schlechter bezahlt werden und außerdem in der Regel die Familienarbeit auf ihren Schultern lastet. Hier gilt, was er in der „Rahmen Analyse“ süffisant zu bedenken gab: „Persönlich halte ich die Gesellschaft in jeder Hinsicht für das Primäre und die jeweiligen Beziehungen eines einzelnen für das Sekundäre; die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich nur mit Sekundärem (22 ff.).“ Goffman geht davon aus, dass sich die Verhaltenssymbolik der Geschlechter zu einem gewichtigen Teil an der Mittelschichts-Idealversion des Eltern-Kind-Komplexes orientiere. Zu diesem humanen Grundmuster gehöre das hilflose Kind und der es beschützende Erwachsene. Da Goffman glaubt, dass Männlichkeitsrituale sich eher am Elternstatus orientieren und Weiblichkeitsrituale eher am Kindstatus, belasse ich es bei der Redeweise „der Erwachsene“. Wir zählen ein paar Bereiche auf, in denen Rituale des Genderismus Elemente aus dem Eltern-Kind-Komplex in Szene setzen. • Das Kind ist bewegungsmäßig instabil. Es wird vom Erwachsenen gestützt. Weibli‐ che Kleidung (Stöckelschuhe, enge und komplizierte Röcke) ritualisiert Instabilität. • Der Erwachsene erklärt dem Kind die Welt; er belehrt und das Kind nimmt die Belehrungen an. In unserer Berufswelt gelangen Frauen seltener in die Positionen und Institutionen, welche die Welt erklären. • Das Kind darf sich emotional freier ausdrücken als der beherrschte Erwachsene. Es darf weinen, herumalbern und euphorische Bewegtheit ausdrücken. Starke Gefühlsbewegungen gelten bei uns als unmännlich, aber durchaus als weiblich. • Der Erwachsene muss immer bereit sein zur Selbstverteidigung, Frauen und Kinder nicht. Männer bewaffnen sich auch in Bedrohungssituationen mehr als Frauen. 2.2.3 Geschlecht als reflexiv institutionalisiert An der Dramatisierung (Relevanzzuspitzung) der sexuierten Sozialordnung in alltäg‐ lichen Begegnungen sind viele Verhaltensdimensionen beteiligt, z. B. kann ich mich mehr oder weniger genderisiert kleiden oder mich mehr oder weniger im Sinne kultureller Stereotype verhalten. Ich kann als Frau eine hohe Stimme mit starker Behauchung für mich einspielen oder auch nicht (Kap. 3). Ähnlich wie die Ethnomethodologie geht Goffman davon aus, dass der Zugang zu gesellschaftlichen Positionen, Rängen und Funktionen kein ausschließlich exogener Faktor der Kommunikation ist, sondern endogen in der sozialen Begegnung mitpro‐ duziert wird. Ich bin also in Bezug auf meine Rolle gesellschaftlich nicht ausschließlich durch äußere Faktoren festgelegt, sondern produziere sie selbst im Austausch mit. Daher rührt das starke Interesse der sozialkonstruktivistischen Richtungen an Inter‐ aktionen. 2.2 Was heißt doing gender? 33 <?page no="35"?> Rekonstruktion der Genderrelevanz: Hier lässt sich nachzeichnen, dass bei‐ spielsweise eine junge Frau in einem Prüfungsgespräch kaum zu Wort kam, weil der ältere, männliche Professor die Themen selbst ausformulierte. Wenn wir nur diesen einen interaktionalen Kontext analysieren, können wir die Struktur des Gesprächs beschreiben, wissen aber nicht, ob hier tatsächlich Genderkategorien die institutionellen Kategorien überschrieben haben. Wusste die junge Frau nichts, so dass der Professor selbst reden musste? Tritt der Professor gegenüber männlichen und weiblichen Studierenden unterschiedlich auf ? Wenn wir sagen, dass Gender aus einem Bündel an Typisierungen besteht, müssen wir diese per‐ sonen- und situationenübergreifend nachweisen. In „Das Arrangement der Geschlechter“ erläutert Goffman Geschlecht als eine An‐ gelegenheit institutioneller Reflexivität. Das heißt, dass das soziale Geschlecht so institutionalisiert wird, dass es genau die Merkmale des Männlichen und Weiblichen entwickelt, welche angeblich die differente Institutionalisierung begründen. Sein durchgängiges Argument lautet, dass die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern als solche keine große Bedeutung haben für die Fähigkeiten, die wir für die Bewältigung der meisten Aufgaben im Alltag brauchen. Warum also, lautet dann die Frage, lassen Gesellschaften irrelevante Unterschiede sozial so bedeutsam werden, dass sich die ganze Arbeitsteilung darauf aufbaut? Diese Institutionalisierung von zwei Geschlechtern schließt immer auch normative Zuweisungsakte für die gesellschaftlichen Plätze der Individuen ein. Unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Positionen sind darin eingeschlossen. Wenn beispielsweise weib‐ liche Wesen als zart gelten, kann die Kleidung dies unterstreichen (was sie bis heute in vielen Kulturen tut). Man erlaubt weiblichen Kindern kein lautes Herumbrüllen, weil es nicht zu den Annahmen passt, die man sich bereits gebildet hat. Zur Zartheit passt Turnen besser als Fußball. Solche Prozesse der Verstetigung nennt Goffman „Institutionalisierung“. 2.2.4 Rückbindungen ans Biologische Die Institutionalisierung der Geschlechtlichkeit lässt sich an bestimmbare biologische Merkmale rückbinden. Der Verankerungsprozess biologischer Differenz ist aber in allen seinen Schattierungen sozial. Obwohl die kulturellen Ausdrucksformen des Männlichen und des Weiblichen kaum etwas mit der Biologie zu tun haben, liefert diese dennoch die Grenzlinien, woran Semiotiken rückgekoppelt werden. Der Code des Geschlechts prägt die Vorstellungen der Menschen von ihrer Natur, nicht umgekehrt. Genau diesen Gedanken schreibt Butler (1988) sich originär selbst zu. Insofern ent‐ spricht Goffmans Sicht auch derjenigen postmoderner Theorien. Universal beobacht‐ bar ist die Tatsache, dass Menschen sich eine Natur konstruieren. Beobachtbar ist auch, dass natürliche Phänomene (Schwangerschaft, Alter, Körpergröße, Geburt, Tod) in 34 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="36"?> diese Konstruktionen eingehen. Goffman gibt diese Begriffe nicht auf und verleugnet auch nicht ihre Materialität. Damit unterscheidet er sich von Butlers frühen Arbeiten. Sie hatte zunächst die Performanz des sozialen Geschlechts als so zentral gesetzt, dass auch das biologische Geschlecht als von dieser Performanz gestaltet gesehen wurde (Butler 1991, zur Kritik daran Kotthoff / Wodak 1997). Auch bei Goffman werden Geschlecht und Gender einander nicht dichotomisch gegenübergestellt. Das biologische Geschlecht wird auch hier nicht für das Substrat gehalten, woran die Konstruktion von Gender anknüpft. Goffman (1977, 1979) und Garfinkel (1967) arbeiteten kulturgebundene Methoden der Geschlechterstilisierung empirisch so heraus, dass der Beschreibung der Phäno‐ menbereiche viel Raum gegeben wird, z. B. derjenige der höflichen Etikette, der Frauen als das zartere Geschlecht symbolisiert und Männer als das robustere. Wie nebenbei gerät das robustere Geschlecht eher an die Schalthebel der Macht. Daran konnte die Genderlinguistik anknüpfen. Mit ihren historischen Analysen dazu, dass Männerbezeichnungen in der Entstehung der Großschreibung von Substantiven früher groß geschrieben wurden als Frauenbezeichnungen (Kap. 10), oder Studien dazu, dass Väter in der Familie mehr Imperative von sich geben als Mütter (Kap. 11), absolviert sie dabei vornehmlich ein sozialwissenschaftlich-rekonstruktives Programm, kein philosophisch-dekonstruktives. 2.2.5 Gender hervorbringen und / oder mitlaufen lassen Innerhalb der Ethnomethodologie wird zwischen sozialen Kategorien im Fokus der Aufmerksamkeit und Habitualisierungen, die nur mehr im Hintergrund des Handelns der Menschen mitlaufen, unterschieden. Viele Kategorien sind genderisiert. Das Zuschreiben bringt eine Kategorie hervor oder lässt sie mitlaufen. Im Zentrum des Konzepts der „Mitgliedschaft in einer sozialen Kategorie“ stehen zwei Beobachtungen: 1. Personen werden in Gesprächen mit Hilfe bestimmter Mitgliedschaftskategorien als Zugehörige bzw. Mitglieder bestimmter Gruppen erkennbar gemacht und klassifiziert. 2. Diese Zugehörigkeitskategorien sind ihrerseits in jeweils übergeordnete Katego‐ riensammlungen integriert, deren einzelne Kategorien zusammengehören: „Bezeichnungen wie ‚Lehrer‘, ‚Franzose‘ oder ‚Mozartfan‘ erscheinen in dieser Perspek‐ tive als Vehikel der Darstellung von Mitgliedschaft bzw. Zugehörigkeit. Bezeichnungen wie ‚Beruf ‘ oder ‚Nation‘ erscheinen als die jeweils übergeordneten ‚category sets‘, auf die die Teilnehmer bei dieser Darstellungsarbeit zurückgreifen können. Beide Be‐ obachtungen geben zusammengenommen Anlass für eine Reihe von Fragen, die darum kreisen, wie Mitgliedschaftskategorien in Gesprächen eingesetzt werden und wie sie die Anfertigung und das Verstehen ‚sinnvoller‘ Beschreibungen von Personen und 2.2 Was heißt doing gender? 35 <?page no="37"?> 2 Vgl. dazu die bekannten Analysen zu der einer Kindererzählung entstammenden Äußerung The Baby cried. The mommy picked it up., die unser selbstverständliches Verstehen dieses Zusammenhangs erläutern (Sacks 1992, 236 ff.). Handlungen, Situationen und Ereignissen ermöglichen und nahelegen 2 “ (Hausendorf 2002, 27). Der Reiz dieses von Hausendorf grob umrissenen Konzepts liegt darin, Zugehörig‐ keit bzw. Mitgliedschaft in einer sozialen Kategorie nicht als ein Phänomen von immer gleicher Relevanz zu behandeln, sondern als eines, das von den Mitgliedern einer Gruppe systematisch erzeugt wird. Spreckels (2006) zeigt beispielsweise, wie eine Mädchenclique bestimmte andere Mädchen als „Britneys“ (in Anlehnung an den Popstar Britney Spears) klassifiziert und unter sich eine Abgrenzung von diesem stark geschminkten und sexy gekleideten Typus betreibt. Bei Kindern wird die Mitgliedschaftskategorie Mädchen oder Junge zunächst durch Erwachsene hervorgebracht, indem sie den Kindern vergeschlechtlichte Namen geben (Kap. 9, Kotthoff 1994a), indem sie beispielsweise Jungen die Puppen wegnehmen, weil häufiges Mit-Puppen-Spielen nicht als jungenhaft gilt. Hat das Kind sich im Laufe seiner Enkulturation u. a. über Kleidungs- und Verhaltenssemiotiken zu einem erkennbaren Mädchen oder Jungen gemacht, braucht diese Mitgliedschaftskategorie eigentlich nur noch mitzulaufen, kann aber auf unterschiedliche Art und Weise auch betont werden. Mehr oder weniger starke Hervorgehobenheit spielt für das Konzept des doing gender eine entscheidende Rolle. Für Garfinkels Agnes und ihre soziale Umgebung stand zunächst Hervorrufen im Zentrum (zum Hervorrufen eines neuen Geschlechts s. Hirschauer 1993). Das Frau-Sein musste von Agnes für alle verständlich angezeigt und in Interaktionen ausgehandelt und bestätigt werden. Der Mensch hat viele Identitätsfacetten; nicht alle werden aber in einer Interaktion relevant gesetzt, nicht alle sind genderisiert. Ich kann gleichzeitig Deutsche, Nachbarin, Autofahrerin und vieles mehr sein. Wenn mir wegen Fahrens trotz Rot an einer Ampel der Führerschein entzogen wird, ist Gender irrelevant. Die Dramatisierung einer genderisierten Sozialordnung kann in alltäglichen Begegnungen unterschiedlich vonstatten gehen, auch unterschiedlich stark gewichtet und bemerkbar gemacht werden. 2.2.6 Gender bemerkbar in den Vordergrund der Interaktion bringen? Einige Ethnomethodologen (so z. B. Schegloff 1997) plädieren dafür, nur von doing gender zu sprechen, wenn die Interagierenden eine erkennbare Orientierung auf diese Identitätskategorie selbst vornehmen, wenn beispielsweise die Geschlechteretikette im Gespräch ausdrücklich angesprochen wird (z. B. als Regel „Ladies first“). Nur dann werde gender von den Beteiligten selbst als Identitätskategorie relevant gesetzt, denn wir alle haben viele solche Identitäten, die prinzipiell in den Vordergrund der Interaktion geholt werden können oder eben nicht (s. die Zeitschriften Discourse 36 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="38"?> & Society 7 (1997), 8 (1998), und 10 (1999)). Solche expliziten Referenzen auf Geschlechternormen spielen aber im Alltag nur eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu Stilisierungen, die quasi immer mitlaufen und von den Mitgliedern einer Gesell‐ schaft als Normalität angenommen worden sind (wenngleich sie kulturell hergestellt sind). Thematisierungen von Gender lassen sich bei expliziten Zuordnungen („Das ist Männersache“ oder „Jetzt reden wir mal von Frau zu Frau“) und anderen Bezugnahmen auf die soziale Kategorie Geschlecht finden. Pavlidou (2015) diskutiert informelle Gesprächsszenen unter guten Bekannten in Griechenland und analysiert, wie über Themen wie Körpergewicht oder Schönheit eine Relevanz von Gender hergestellt wird. Der Themenkomplex der Gestaltung des Äußeren setzt Gender relevant. Die Konversationsanalytikerin Stokoe (1998) stellte in englischen Diskussionen junger Leute über ihre Zukunft fest, dass Gender oft im Zusammenhang mit Familienplanung und Kinderbetreuung thematisiert wurde. Kinderbetreuung werde oft als Frauensache besprochen. Damit würde Gender im Gespräch selbst salient. Salienz / Auffälligkeit scheint für doing gender von großer Bedeutung zu sein. Auf solche Fokussierungen können wir aber die Alltagsbedeutung von Gender nicht beschränken, wie verschie‐ dene Genderforscher/ innen aus dem großen Feld der Diskursanalyse deutlich gemacht haben (z. B. Günthner / Kotthoff 1991; Bucholtz 2003; Spreckels 2012). Andere Ethnomethodolog/ inn/ en, z. B. West / Zimmerman (1987, 126), sehen Gen‐ der als „fortlaufende Leistung“, die in alle Alltagssituationen eingeschrieben ist: When we view gender as an accomplishment, an achieved property of situated conduct, our attention shifts from matters internal to the individual and focuses on interactional and, ultimately, institutional arenas. In one sense, of course, it is individuals who “do” gender. But it is a situated doing, carried out in the virtual or real presence of others, who are presumed to be oriented to its production. Rather than as a property of individuals, we conceive of gender as an emergent feature of the social situations: both as an outcome of and a rationale for various social arrangements and as a means of legitimating one of the most fundamental divisions of society. Es ergibt sich ein Spannungsverhältnis zu Schegloffs Konzept von doing gender als im Vordergrund der Interaktion stattfindende, bemerkbare Aktivität und dem fortlaufen‐ den „accomplishment“, das durchaus im Hintergrund bleiben kann. Gender kann als soziale Kategorie im Agieren von Gesellschaftsmitgliedern nicht immer die wichtigste sein. West / Zimmerman (1987) schreiben, im Unterschied zu anderen situativen Identitäten (z. B. beruflicher Art) sei Gender aber eine „Meisteridentität“, die sich durch alle Situationen ziehe. Soziale Kategorien wie „Nachbarin“ oder „Verkäufer“ seien eben auch genderisiert. Dem möchten wir nicht widersprechen; aber auch Alter wirkt sich beispielsweise auf die Repräsentation solcher Kategorien aus; es muss also von mehreren „master categories“ ausgegangen werden. In Kap. 7 wird herausgearbeitet, wie tief Alter und Geschlecht auch im Sprachsystem sedimentiert sind. Die Interagierenden müssen nicht unbedingt selbst bemerken, dass ihre Verhal‐ tens- und Denkweisen auf Alter oder Geschlecht verweisen. Die mehr oder weniger 2.2 Was heißt doing gender? 37 <?page no="39"?> hervorgehobene Relevanz solcher Kategorien zeigt sich oft nur den Forschenden, die systematische Vergleiche anstellen, z. B. zwischen Freizeitinteraktionen unter Männern oder unter Frauen oder unter jüngeren und älteren Menschen. Gerade in der feministischen Gesprächsforschung wurden für einige Kontexte subtile Gesprächs‐ verhaltensunterschiede beschrieben, z. B. bezüglich der Themensteuerung weiblicher und männlicher Studierender in Arbeitsgruppen (Schmidt 1992) oder in der kommu‐ nikativen Darstellung eigener beruflicher Kompetenzen (Schlyter 1992), die für die Agierenden selbst nicht salient sind, nicht offen zu Tage treten. Die Sprecher/ innen orientieren sich aber nicht offen an einer Geschlechterrelevanz, sondern versteckt und hintergründig. Wir halten also zunächst fest, dass innerhalb der Ethnomethodologie keine Einigkeit darüber herrscht, ob doing gender in der Situation salient sein muss oder ob es genügt, über Vergleiche aus einer Forschungsperspektive heraus zeigen zu können, dass Gender neben anderen Kategorien irgendwie bemerkbar war. Versteckte Genderrelevanzen: In Schmidts Studie zu studentischen Arbeits‐ gruppen (1992) wurde auf die von den Studenten eingebrachten Themen stärker reagiert als auf die von den Studentinnen eingebrachten. Solche Subtilitäten sind kaum salient. In Schlyters Aufzeichnungen von Gleichstellungsverhandlungen für schwedische FormularentwicklerInnen zeigte sich, dass die Frauen ihre Kompe‐ tenzen weniger herausgestrichen und betont hatten als die Männer. Sie bezogen weniger Lohn, weil ihre Arbeit bei den Vorgesetzten nicht als genauso anspruchs‐ voll galt wie die der Männer. Schlyter verfolgte Gerichtsverhandlungen und zeigt, dass die Frauen andere verbale Selbstdarstellungstechniken verwendeten als die Männer (1992). In dem Prozess war Gender somit von großer Bedeutung. Trotzdem war die bescheidene berufliche Selbstdarstellung der Entwicklerinnen von Behör‐ denformularen zunächst auch hier nicht salient. Sie setzten Gender durchaus the‐ matisch relevant, weil sie ja für gleichen Lohn für gleiche Arbeit klagten. Dass sie außerdem noch Gender „taten / aufführten“, indem sie ihren Erfolg durch ihr ei‐ genes konversationelles Auftreten behinderten, erschloss sich erst durch Schlyters vergleichende Analysen. 2.2.7 Unterbrechung als doing gender? Zimmerman / West (1983, 1989) haben gesprächsstilistische Unterschiede, z. B. den hohen Einsatz von Unterbrechungen, unter „doing gender“ gefasst, obwohl auch hier im Gespräch selbst nicht darauf verwiesen wurde, somit also keine offene Orientierung an Gender deutlich wurde. Darauf werden wir im Kap. 13 zu Gender im Gespräch ausführlich eingehen. Der Fokus liegt sowohl bei Schegloffs als auch bei Zimmermans und Wests Ausführungen auf der Rekonstruktion von Verfahren des Anzeigens und Bemerkbar-Machens der sozialen Kategorie Geschlecht. Die Kriterien dafür sind beim Erstgenannten aber wesentlich rigider, weil er in der sozialwissenschaftlichen 38 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="40"?> Rekonstruktion von doing gender einer offenen Ausrichtung an der Relevanz von Gender durch die Interagierenden habhaft werden möchte. Diese Ausrichtung auf Genderdifferenzen hin bleibt für die Interagierenden selbst aber oft versteckt hinter speziellen Stilphänomenen, Handlungsrollen oder Themen. Wests und Zimmermans breite Konzeption von doing gender ist einerseits brauch‐ barer, aber andererseits auch problematisch, weil sie weiterhin meinen, doing gender an Einzelphänomenen festmachen zu können, die im Kern zunächst eher doing dominance bewirken (Kotthoff 1996a). Wer andere viel unterbricht, gibt sich dominant. Ist Dominanz immer an Männlichkeit gekoppelt? Sie zitieren Cahill (1986), dessen Kindergartenstudien eigentlich zu einer etwas anderen Sicht einladen. Er hatte herausgearbeitet, über welche Aktivitäten und Zu‐ schreibungen Kinder Gender gestalthaft für sich selbst annehmen. So lernen kleine Jungen von etwa drei Jahren, es als jungenhaft zu betrachten, dass sie die Umwelt offen manipulieren können und dass ihr Äußeres nicht so wichtig ist. Mädchen lernen z. B., dass die Ornamentierung des Körpers mädchenhaft ist. Der Umgang mit dem eigenen Äußeren und die Art des Einwirkens auf andere sind erste Genderperformanzen der Kinder (Kotthoff 1994b, 1996a). In Cahills Studie ist bemerkbar, dass das Sprach‐ verhalten der Kinder im Einklang mit anderen semiotischen Codes (wie Kleidung) eine gestalthafte Genderisierung ergibt. Eine Stilisierung von Feinheit und die Bedeutsamkeit der Gestaltung des Äußeren gehören in unserem Kulturkreis zu einer sichtbaren Kommunikation von Weiblichkeit. Kinder sind ja auf ihre Beobachtungen der Welt angewiesen. Dies deutet darauf hin, dass Gender gestalthaft kommuniziert wird, als ein Bündel verschiedener Ausformungen. Wir kommen in Kap. 11 darauf zurück. In den achtziger Jahren gingen Zimmerman und West als gradlinig angenommenen Rangordnungen im Gespräch nach, wie sie etwa mittels des Turn-Taking-Mechanismus herstellbar wären. Sacks et al. (1974) haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass über das Rederechtsmanagement lokale Hierarchien hergestellt werden können. In ihrer Studie von 1983 fanden West / Zimmermann bei zufällig aufgenommenen, gemischt‐ geschlechtlichen Paaren 48 Unterbrechungen ihrer Definition (Sprecheinsatz vor Redezug-Ende des vorherigen Sprechers). Davon wurden 46 von Männern ausgeführt. In ihrer zweiten Studie (1989) bei fünf Paaren von Unbekannten in einem Laborsetting fanden sie 75 % der insgesamt 28 Unterbrechungen von Männern realisiert. West / Zim‐ merman glaubten, damit ein alltägliches, direktes Verfahren des doing gender gefunden zu haben. So ein gradliniges doing gender als Verfahren maskuliner Dominanzherstel‐ lung müsste an auffälligen Frequenzen von beispielsweise Unterbrechungen oder Themensetzungen von männlicher Seite festmachbar sein, und das ist selten der Fall, wie wir in Kap. 13 sehen. Gleiches gilt für hohe Frequenzen von Fragen oder Vagheitsmarkierungen, die in der Forschung zunächst als Ausweise der Kommunikation von Weiblichkeit gesehen wurden (Kotthoff 2006c). Unsicherheit kommuniziert aber nicht gradlinig Weiblichkeit. Noch nicht einmal die Herstellung von Dominanz lässt sich über ein konversationelles 2.2 Was heißt doing gender? 39 <?page no="41"?> Verfahren allein bewerkstelligen, geschweige denn Geschlecht. Dass doing dominance mit doing masculinity einfach identifiziert wurde, macht einen weiteren Kritikpunkt an diesem frühen Konzept von doing gender aus. 2.2.8 Gender als semiotische Gestalt Genderunterschiede in der Gestaltung des Äußeren (Frisur, Gesichtsgestaltung mit Bart und / oder Make-up, Kleidung) sind außerdem wesentlich offensichtlicher als Sprachverhaltensphänomene (s. Kap. 13). Aber nicht einmal dieser Differenzbereich lässt sich einfach auf einer Machtskala abbilden, schließlich ist in den Kulturwissen‐ schaften gut belegt, dass zumindest in vergangenen Jahrhunderten Höherstehende sich einer Semiotik von Feinheit bedienten (Veblen 1899 / 1997). Seit vielen Jahrzehnten sind Spitzen, Seiden und zarte Stoffe weiblich assoziiert. In Cahills Kindergartenstudie deutet sich schon an, dass Gender ein Gestaltphänomen ist, das unbedingt die Darbie‐ tung des Äußeren einschließt. Die Kommunikation von Männlichkeit und Grobheit überlappen sich sehr häufig, wie kürzlich Pujolar (2001) in einer Studie über zwei Jugendgruppen in Barcelona erneut gezeigt hat (s. Kap. 12). Kaum je „tut“ ein einziges Phänomen allein Gender. Wenn wir Gender als semiotische Gestalt konzeptualisieren, können wir auch erfassen, dass Neutralisierungsarbeit auf einer semiotischen Ebene des Handelns durch Differenzarbeit auf einer anderen Ebene prinzipiell ausgeglichen werden kann. Die Firmenleiterin setzt sich beispielsweise mit vormals männlich konnotierten Verhal‐ tensweisen gut durch, gibt sich in ihrer Kleidung mit Stöckelschuhen und engen Röcken aber sehr weiblich. Wir können spezifische Transgender-Identitäten beschreiben, die beispielsweise Bart und Augen-Make-Up kombinieren, wie Hall (2003) und Barrett (2017) ausführen. Außerdem wird Gender oft nur „mitvollzogen“ und wird nur mit‐ telbar relevant, wenn etwas anderes zentral ist (ein anderes „doing“ bemerkbar im Vordergrund steht). In Bezug auf Situationsbeeinflussung legen einige Studien nahe, dass doing being male oft mit hohen Direktheitsstufen beim Ausdruck von Dissens und Aufforderun‐ gen einhergeht (z. B. Goodwin 1990), sich insofern mit Dominanzgebaren überlappt. Klann-Delius (2005) fasst Untersuchungen zum Kommunikationsstil von Müttern und Vätern dahingehend zusammen, dass Väter gegenüber den Kindern häufiger direkte Befehle verwenden als Mütter. Trotzdem wird niemand eine sehr direkte Frau für einen Mann halten. Das heißt, die Beziehung ist weder exklusiv noch hinreichend. In Kap. 13 werden wir sehen, dass in der heutigen Arbeitswelt auch Männer Aufforderungen eher indirekt gestalten. Über Jahrhunderte hinweg diente die Etikette der Geschlechterbegegnung einer sehr hohen Relevantsetzung von Geschlecht und konstruierte den Unterschied vom sich um die Frau bemühenden Mann und der umworbenen Frau. Beide hatten komplexe Rituale einzuhalten und in allen Nuancen zu verstehen. Burmann (2000) hat ihrer Untersuchung dazu eine umfangreiche Materialbasis von etwa 170 Etikette- und 40 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="42"?> Anstandsbüchern der letzten 250 Jahre zugrunde gelegt. Wenn der Herr der Dame Komplimente machte, dann tat er aus heutiger Sicht genauso Gender, wie wenn er sie zum Tanz aufforderte und ein Angebot zur Begleitung machte. Das gesamte rituelle System symbolisierte die Frau als kostbar, moralisch hochstehend und verletzlich. Im Vergleich dazu wird bei Analysen heutiger Speed-dating-Veranstaltungen (Günth‐ ner / Franz 2012) deutlich, dass die Kommunikation von Genderdifferenz phasenweise weniger relevant ist. 2.2.9 Undoing gender, Grade an Salienz und Verzicht auf Relevantsetzung Gegen die Omnirelevanzannahme von Gender, die von weiten Teilen der Gender Studies zunächst geteilt wurde, stellt Hirschauer (1994) seine Idee des undoing gen‐ der, einer vorübergehenden situativen Neutralisierung der Geschlechterdifferenz. Er rekurriert dabei auch auf Goffman (1977), der unterschiedliche Inszenierungsgrade von Gender seinerzeit schon im Blick hatte. Hirschauer (1994, 676) verweist auch auf die relative Signifikanz der Geschlechterunterscheidung im Vergleich zu anderen Klassifikationen wie Alter, Ethnizität oder Schicht. Dass bei allen Identitätsklassifi‐ kationen mit Kreuzungen und Kopplungen gerechnet werden muss, bestätigt die Interaktionsforschung schon seit langer Zeit (Günthner / Kotthoff 1991). Es gilt immer im Kontext zu rekonstruieren, welche Mitgliedschaftskategorien in welcher Kopplung zum Tragen kamen. Wir stimmen dem Befund zu, dass es Kontexte gibt, in denen Geschlecht kaum eine Rolle spielt, in den Hintergrund des Handelns tritt. Wir stimmen auch zu, dass dieses Absehen Neutralisierungsarbeit verlangen kann, die als undoing gender fassbar wäre (etwa bei institutionellen Entgenderisierungsverfahren wie Bemühungen um gleiche Repräsentanz von Männern und Frauen in bestimmten Berufsgruppen). Dies setzt allerdings voraus, dass für den Phänomenbereich historisch eine Geschichte von großer Genderrelevanz aufgefallen ist. Nur vor einem solchen Hintergrund ist dann die Rückstufung so auffällig, dass das Konzept des „undoing“ greifen würde. Wenn man für die soziale Konstruktion von Gender eine Relevanzabstufung zwischen den Polen des ‚doing‘ und ‚undoing‘ versucht (Kotthoff 2002a, 2012a), begegnet man Praktiken und stilistischen Realisierungen derselben, die sozusagen hinter dem Rücken der Beteiligten mehr oder weniger Geschlechterrelevanz ergeben. Sie treten nur bei eklatanter Abweichung vom Erwartbaren ins Bewusstsein. Beim Sprechen sind es z. B. Stimme und Prosodie, welche sowohl mit dem Körper verbunden sind als auch kulturell auf bestimmte Genderdifferenzen eingespielt werden, die normalerweise im Hintergrund der Interaktion bleiben (Kap. 3). In einigen Bereichen der Sportbekleidung ist die Genderisierung so heruntergefahren, dass beispielsweise bei Turn- oder Bergschuhen vieler Marken nur Größenunterschiede zählen. Da sonst im Schuhgeschäft eklatante Differenzierungen am Werk sind, die den Frauenschuh mit anderem Leder, Riemchen oder Absätzen bis hin zum Stiletto ausstatten und verzieren 2.2 Was heißt doing gender? 41 <?page no="43"?> 3 https: / / www.zalando.de/ skinny-jeans/ (Aufruf am 08.05.2024). 4 Perlenketten, Stöckelschuhe, Bärte und enge Röcke spielen in verschiedenen „Drag“- und Transgen‐ derszenen bemerkbare Rollen (Barrett 2017). und den Männerschuh funktional und flach gestalten, kann im Sportschuhbereich beispielsweise von „undoing“ gesprochen werden. Gender tritt in einer Abstufung von Relevanz und Salienz auf. In die unauffällige Alltagsbekleidung ist Gender beispielsweise dahingehend eingeschrieben, dass Männer in der westlichen Welt keine Röcke und Kleider tragen, Frauen erstens mehr Schmuck und zweitens einen besonderen Schmuck tragen, derzeit auch betont enge Hosen, um nur ein paar Besonderheiten zu nennen, die über die Jahrzehnte nur leicht variieren (hier ein Satz aus einer Werbung: „Ladies, show your legs mit Skinny Jeans! Skinny Jeans betonen deine Beine und bringen deine Kurven toll zur Geltung […]“) 3 . In den letzten sieben bis acht Jahren hat sich an Schulen und Hochschulen im deutschen Sprachraum der hautenge, sehr körperbetonte Hosentyp („Leggings“ oder „Skinny Jeans“) als der am meisten verbreitete Typ durchgesetzt. Damit setzen junge Frauen ihren Körper mit seiner Kontur relevant. Diese genderdifferenten Hosen gehören unbedingt zu den Phänomenen, die Gender als bemerkbare Identitätskomponente kommunizieren und auch körperliches Geschlecht, weil die Hosen beispielsweise Schenkel und Hinterteil betonen. Greift der Mann zu einer solchen Strumpfhose oder zur Perlenkette, würde dies zunächst als „crossing“ bemerkt (s. Kap. 12). In der Sozi‐ olinguistik wird das „Hineinwandern“ in fremde sprachliche Territorien als crossing bezeichnet (Androutsopoulos 2001). Wenn Jugendliche mit Vollkompetenz in Deutsch als Erstsprache plötzlich ethnolektal reden, greifen sie einen Stil auf, der zunächst unter den GastarbeiterInnen zu Hause war und solchen Jugendlichen streng genommen nicht gehört. Ähnlich würden sich Männer mit einer sogenannten „Skinny Jeans“ oder Perlenkette um den Hals verhalten 4 . Wenn dies von anderen Männern aufgegriffen würde, könnten wir entweder von undoing gender rund um die Semiotik der Leggings oder Perlenkette sprechen. Undoing will mit seiner spezifischen Veränderung einer Zuordnung bemerkt werden. Oder wir rekonstruieren die bemerkbare Stilisierung von Inter- oder Transgender. Im flüchtigen Alltagshandeln ergibt sich die Neutralisierung von Geschlecht aber auch unbemerkt, hintergründig, wenig „bemerkbar“ (wie EthnomethodologInnen sagen würden). 2.2.10 Indexing gender Das Konzept der Indexikalisierung / Indizierung von kulturellem Geschlecht fasst die graduelle Relevantsetzung der Phänomene besser, weil es von vornherein auf ein Erkennen von Typisierungsgraden und -merkmalen innerhalb von Handlungsgemein‐ schaften setzt, deren Wissen man aus der Forschungsperspektive rekonstruieren kann (etwa so, wie Eckert 2000 es durchgeführt hat, s. Kap. 12). Wenn etwa ein Mann einen 42 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="44"?> Bart trägt, indiziert er durchaus Gender, bringt es aber nicht als zentrales Merkmal in den Vordergrund der Interaktion. Ein anderer Kritikpunkt am Modell des doing gender betrifft die subjektivistische Orientierung. Tut nur das Individuum Gender, nicht etwa Institutionen? Alle Institutionalisierungen (wie Herren- und Damenparfüms etc.) und die Mas‐ senmedien leisten die permanente Erinnerung der Welt an die von ihnen inszenierten binären Idealbilder von Mann und Frau, wozu auch die Omnipräsenz des erotisierten Blicks auf die Frau gehört. Massenmediale, aber auch andere institutionelle Einflüsse (Kirchen, Militär, Wirtschaft …) liegen jenseits des personalen Handelns der meisten Menschen. Sie verweisen auf die Geschichtlichkeit der normativen Konzeption, die Fenstermaker / West (2002, 540 f.) im Blick haben, wenn sie schreiben, […] that the doing of gender, race and class consists of the management of conduct in relation to normative conceptions of appropriate attitudes and activities for particular sex category, race category and class category members. Wenn West / Fenstermaker „doing“ hier „in relation to normative conceptions“ setzen, kommen sie dem durchaus nahe, was wir mit Ochs (1992) als „indexing“ fassen. Sie vernachlässigen aber, dass Gender oder Klasse bereits in Institutionen so eingeschrie‐ ben sein kann, dass das Individuum nur wenig tun muss. In vielen institutionellen Bereichen finden sich z. B. in den dort vertretenen Berufen und Machtbereichen Indikationen von Gender. Es sei hier nur kurz angemerkt, dass auch doing class ein sehr problematisches Konzept ist. Gesellschaftliche Klassenverhältnisse sind primär ökonomisch basiert. Wie Ökonomie und Kommunikation zusammengehen, lässt sich im Rahmen dieses Buches nicht klären. Wenn man für die soziale Konstruktion von Gender eine Relevanzabstufung zwi‐ schen den Polen des „doing“ und „undoing“ versucht (Kotthoff 2002a; Günthner / Franz 2012), muss man Praktiken und stilistische Realisierungen derselben verorten, die hinter dem Rücken der Beteiligten und nur „nebenbei“ auch noch Geschlechterrelevanz ergeben. Sie sind als Einzelphänomene nicht salient und treten nur bei eklatanter Abweichung vom Erwartbaren ins Bewusstsein. Erst die Forschungsperspektive kann in den Verhaltens- und Handlungsweisen von Menschen Bezüge zu Gender aufdecken. Ochs nahm den Befund, dass es für viele sprachliche und kommunikative Verfahren wenig Exklusivität der Genderanzeige gibt (viele Namen sind exklusive Kennzeich‐ nungsverfahren, auch beispielsweise morphologische Markierungen am Verb in slawi‐ schen und einigen anderen Sprachen, Kap. 6 und 8), zum Anlass, über nichtexklusive Verfahren der Geschlechtsanzeige nachzudenken. Die Verfahren verlangen die Inter‐ pretation der Beteiligten, welche innerhalb von Handlungsgemeinschaften gelingt. Aktivitäten und stilistische Realisierungen von Aktivitäten verweisen auf historisch entstandene soziale Typen, welche so tradiert oder variiert werden können. 2.2 Was heißt doing gender? 43 <?page no="45"?> 5 Dieser Terminus entstammt der Semiotik. Wir verwenden hier auch den Alltagsbegriff des Indizie‐ rens, der durchaus abdeckt, was gemeint ist. Indexikalität 5 ist eine Beziehung des Verweisens (Charles Sanders Peirce nach Pape 1993). Das Pronomen ich verweist direkt auf den Sprecher / die Sprecherin, referiert auf ihn / sie (Indexikalität 1. Ordnung). Silverstein (1976) diskutiert auch nichtreferenzielle Indexikalität, wie sie z. B. durch bestimmte Intonationskonturen kommuniziert werden kann (Indexikalität 2. Ordnung). Die Intonationskontur geht z. B. eine assoziative Verbindung mit einem Gefühlsausdruck ein (Tonsprung nach oben kann auf Begeisterung hindeuten). Erst je nach Verbindung mit anderen Phänomenen (wie dem verwendeten Vokabular und der ablaufenden Handlung) konkretisiert sich aber die Beziehung als typisch für ein Gefühl oder jemanden, dem ein solcher Gefühlsausdruck zugeschrieben wird. Das häufige, begeisterte Ausrufen von „super“ und ähnlich positiven Adverbien kann Weiblichkeit indexikalisieren, eine Indexikalität 2. Ordnung anzeigen, wenn der häufige Ausdruck von Begeisterung und Freude in der Gesellschaft für Frauen als normal eingespielt ist. Dann kann er auch für Parodiezwecke genutzt werden. Da die meisten Namen eindeutig auf ein Geschlecht verweisen (Nübling et al. 2015, hier Kap. 8), sprechen wir mit Silverstein (1976) von „referenzieller Indexikalität“ oder von Indexikalität 1. Ordnung. In der Grammatik des Deutschen verweisen Pronomen der dritten Person Singular direkt auf das Geschlecht von Personen und Genus des Substantivs (Kap. 4). Auch Verwandschaftsbezeichnungen wie Mutter, Vater, Onkel, Tante usw. verweisen direkt auf Geschlecht (Kap. 7). Selbst die Verbindung von Gattung und Geschlecht kann einfach und direkt sein, wenn bestimmte Gattungen gesellschaftlich fest an eine Geschlechterrolle gebunden sind (etwa die Predigt in der katholischen Kirche). Oft sind kommunikative Gat‐ tungen allerdings nur im Rahmen patriarchaler Ideologien genderisiert. Klatsch wurde oft als weibliches Betätigungsfeld abgewertet, was sowohl in der Zuordnung falsch ist ( Johnson / Finlay 1997), als auch in der generellen Abwertung (Bergmann 1981). Lamentationen beispielsweise werden in vielen Kulturen ausschließlich von Frauen praktiziert (Kotthoff 2002b) und bestimmte Jagdgesänge oder verbale Angriffs‐ spiele nur von Männern. Für bestimmte Tätigkeitskomplexe hat sich eine exklusive geschlechtliche Arbeitsteilung herausgebildet, innerhalb derer die kommunikative Gattung dann funktioniert (Günthner 2001). Wenn die in der Gattung ausgedrückten Emotionen, z. B. die der Trauer in georgischen Lamentationen, eher mit Frauen als mit Männern assoziiert werden, fungieren sie als ein Genderindex zweiter oder xter Ordnung. Der Emotionenausdruck der Trauer ist nicht exklusiv weiblich, jedoch historisch eher mit dem öffentlich sichtbaren Trauern von Frauen verbunden. Bis ins letzte Jahrhundert hinein trugen Witwen beispielsweise länger die schwarze Trauerkleidung als Witwer. Mit Cameron (1997) plädieren wir dafür, bei der Erforschung von Sprechen und Geschlecht nicht von stabilen Korrelationen auszugehen, sondern eher davon, dass 44 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="46"?> Stile (und meist auch Gattungen und andere Sprechaktivitäten) in soziale Praktiken eingebettet sind, in denen auch Gender (neben anderen sozialen Parametern) relevant gesetzt werden kann, aber nicht muss. Eckert / McConnell-Ginet (1992) betonen, dass unser Sprachverhalten von den Aktivitäten geprägt ist, in denen wir uns engagieren und soziale Beziehungen eingehen. Cameron (1997, 34) unterstreicht, dass durch den Begriff der kommunikativen Praxis die Relationen von Sprache, Sprechen und Geschlecht zu vermittelten Relationen werden. 2.3 Indexikalität erster und xter Ordnung Wir erkennen seit einiger Zeit, dass Geschlecht im Sprachverhalten kaum kontextüber‐ greifend immer auf dieselbe Art und Weise symbolisiert wird (Günthner / Kotthoff 1991), aber dass es doch stilistische Verfahren gibt, die im Zusammenhang von Handlungen auch auf Gender verweisen. Wenn spezifische Sprechaktivitäten und ihre stilistische Realisierung in der Gesellschaft mit historisch entstandenen Assoziationen verbunden sind, können sie u. a. eine besondere Ausprägung von Gender indizieren (eine über Interpretation hergestellte Indexikalität zweiter Ordnung). So entstandene Genderfolien eignen sich dann für die Inszenierung verschiedener Identitäten. Mit einem zurückhaltenden Gesprächsstil (der traditionell eher als feminin gesehen wird) kann ein Mann sich z. B. in einem bestimmten Kontext als „Nicht-Macho“ oder als „neuer Mann“ inszenieren, eine Frau sich hingegen mit der gleichen Verhaltensweise als traditionelle Frau, da herkömmlich verschiedene Anzeichen für verbale Zurück‐ haltung am stärksten bei Frauen gefunden wurden. Ochs (1992, 337) versteht es so, dass Gender mit bestimmten Praktiken und Verhaltensweisen in eine assoziative Verbindung tritt, die kulturtypisch ist. Pavlidou (2011, 412) erläutert die Position von Ochs zu indirektem Indizieren so, dass dies über Normen, Erwartungen und Präferenzen, die in einer spezifischen Handlungsgemeinschaft erkennbar sind, Aktivitäten mit Images von Männern und Frauen verbindet. Dann haftet ihnen Genderisierung an. Das wird nun an einem Beispiel verdeutlicht. 2.3.1 Jungen inszenieren eine weiblich assoziierte kommunikative Gattung Gobiani / Kotthoff (2014) diskutieren einige Freizeitszenen aus einer georgischen Schü‐ lerclique, in der einige Jungen mit einem weiblich konnotierten Klagediskurs einen anderen Jungen aufziehen, der sich verletzt hatte und Schmerzenslaute von sich gab. Schmerzenslaute und -formeln sind in Georgien weiblich assoziiert (Kotthoff 2007). Dies streichen die Jungen heraus, indem sie im ironischen Aufziehen des verletzten Freundes Formeln verwenden, die sich in Georgien hochfrequent in den Lamentationen von trauernden Frauen finden (Kotthoff 2001). Für die Jungen ist es ein „weibliches Verhalten“, körperlichen Schmerz zu zeigen; sie beginnen in einer langen Interaktions‐ 2.3 Indexikalität erster und xter Ordnung 45 <?page no="47"?> sequenz, den verletzten Freund spöttisch mit den typischen Formeln lamentierender Frauen („Dein Leid mir“) indirekt zu verspotten. Sie imitieren Frauenstimmen und ihre Formeln aus rituellen Zusammenhängen der stark genderisierten Trauerklage. Solche Klageformeln verwenden georgische Mütter auch zur Warnung, wenn ihre Kinder gefährdet sind oder sich kritikwürdig verhalten, z. B.: deine Mutter soll dir sterben; warum bin ich am Leben; weh meinem Herzen (Kotthoff 2002b). Durch die Aufführung von mit Frauen assoziierten Lamentationselementen „verweiblichen“ die männlichen Jugendlichen den verletzten Freund symbolisch und beleidigen ihn scherzhaft, indem sie um ihn herum einen in der georgischen Kultur im Bereich weiblicher Aktivitäten angesiedelten Diskurs entfalten. Man muss wissen, dass auf dem georgischen Land bei einem Tod tagelange Lamentationen von Frauen aufgeführt werden. Es ist somit für die Jugendlichen leicht, eine Sprechweise zu parodieren, die mit den „fremden Stimmen“ der Frauen spielt. Jede/ r in der georgischen Kultur kann diese Stimmen sozial zuordnen. Im deutschen Sprachraum gibt es kaum etwas Vergleichbares. Für unsere Ar‐ gumentation ist bedeutsam, dass die Gattung der Lamentation, der Emotionsausdruck starker Trauer und ihr Formelrepertoire in Georgien weiblich assoziiert sind. Dieses Konglomerat an Aktivitäten und Emotionsausdrücken lässt sich zu verschiedenen Zwecken nutzen, z. B. dazu, dem demonstrativ bemitleideten Jungen indirekt die Männlichkeit abzusprechen (bei uns könnte man sagen, dass er zu einem „Weichei“ gemacht wird), indem man ihn in einen weiblich assoziierten Diskurs integriert. Sekundäre Indexikalisierung wird hier genutzt, um in einem bestimmten Kontext jemanden zu einem sozialen Typus zu machen, indem ihm ein genderisiertes Verhalten zugesprochen wird, das an seine Verletzung anknüpft und seine Geschlechtsklasse bedroht. 2.3.2 Jugendliche in Detroit inszenieren Schicht und Gender Eckert (2000) zeigt indexing gender in einer varietätenlinguistischen Studie über Jugendliche in Detroit, die eine sog. „Belten High School“ („all white community“) besuchen. Unter anderem mittels kleidungsstilistischer, phonologischer und gramma‐ tischer Variablen betreiben die Jugendlichen soziale Selbstpositionierungen. Eckert führt eine qualitative Ethnografie der Milieus durch, in denen die Jugendlichen leben. Unter den Schülern und Schülerinnen ist die Einteilung in „jocks“ und „burnouts“ zentral. Die „jocks“ sind pro-schulisch eingestellt, rauchen nicht und orientieren sich insgesamt eher an globalen Mittelschichtswerten. Die rauchenden „burnouts“ verkörpern dagegen eher eine Art lokale Arbeiterklassenkultur. Mit Schule haben sie nicht viel am Hut. Die Autorin bemüht Bourdieus Habitus-Konzept (1976), um die lokalen Konstruktionen von Unterschieden verstehen zu können, die alle eine Geschichte haben und deshalb nicht „lokal“ beschränkt sind. Sprachverhalten bettet sich in die semiotische Differenzarbeit ein. Die „jocks“ betreiben z. B. eher eine hintere Aussprache der Vokale / e/ und / a/ , flesh klingt bei ihnen wie flush, lunch mehr wie 46 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="48"?> 6 Diese Kopplung ist oft beobachtbar. Unterschichtigkeit geht einher mit der Kommunikation von Grobheit, die wiederum geeignet ist für die Kommunikation von Männlichkeit. Beispielsweise gilt auch Fluchen als typisch für die Unterschicht und eignet sich wegen der Konnotation von Unfeinheit zur Kommunikation von Männlichkeit. launch. Die Mädchen praktizieren dies in beiden Gruppen mehr als die Jungen. Dies gilt als chic. Genderideale sind mit Schichtenspezifik so verbunden, dass Mädchen der Mittel‐ schicht bestimmte mit Weiblichkeit assoziierte Merkmale stark betonen und Jungen der Mittelschicht davon punktuell abweichen. Doing being male wird semiotisch über Anleihen am „unfeinen Sprechen der Unterschicht“ geleistet (Kotthoff 1992b). Wir finden in einem mittelschichtsorientierten semiotischen Komplex somit Indices, die gleichzeitig auf ein männlich und unterschichtig assoziiertes Verhalten hinweisen. 6 Manche „burnout“-Mädchen sprechen auch standardnah und gepflegt. Die von Eckert untersuchten Variablen stellen wir in Kap. 12 vor. In Eckerts Studie ergibt sich ein höchst differenziertes Bild der verschiedenen Variablen, die einen unterschiedlichen Status für die Kommunikation von sozialer Identität haben. Sprachliche Stile nehmen auf jeden Fall an einer sozialen Gesamtstilisierung teil, deren Komponenten innerhalb der Gemeinschaft prototypisch zugeordnet werden können; aber genau dies kann für Basteln am Identitätsindex genutzt werden. Die „gender performance“ sieht auch diese Richtung nicht als von innen kommend, sozusagen aus der Essenz des Individuums, sondern von außen, aus der Beobachtung semiotischer Zuordnungen. Ein Phänomen, sei es ein bestimmter Schuhtyp, eine Vokalaussprache oder eine Direktheitsstufe, wird mit einem sozialen Typus locker assoziiert. Der kombinierte Einsatz dieser Phänomene wird so zum Stilisierungsakt, mit dem das Individuum sich einen Platz in einem sehr spezifischen sozialen Gefüge zuschreibt, vor allem in der Bündelung verschiedener Phänomene, denn ein Stil besteht immer aus der Kombination verschiedener Verfahren (Auer 2007, 12). Einige Jugendliche an der Detroiter Schule inszenieren sich auch als „In-betweens“. Sie setzen die bemerkbaren semiotischen Verfahren so ein, dass sie weder als „jock“ noch als „burnout“ klar zugeordnet werden können. Alle Soziolinguist/ inn/ en, die mit dem Konzept des indexing gender arbeiten (z. B. auch Holmes / Stubbe 2003; Holmes 2006; Barrett 2017) betonen, dass die inter‐ pretative Rekonstruktion von Genderbezügen nur innerhalb einer „community of practice“ (einer Handlungsgemeinschaft, wie sie z. B. eine Schule oder eine Firma darstellt; Kap. 12) möglich ist, in der die sozialen Assoziationen im Zusammenhang historisch entstanden sind. 2.3 Indexikalität erster und xter Ordnung 47 <?page no="49"?> 2.3.3 Indirekte Assoziationen mit Gender Ochs (1992) betont die konventionelle und konstitutive Rolle zwischen der Kommuni‐ kation von Affekt und von Gender. Die Verwendung vieler Frageanhängsel vom Typ „isn’t it? “ im Englischen oder „ne? “ und Ähnliches im Deutschen („tag questions“) wurden von Lakoff 1973 stärker mit dem Ausdruck von Weiblichkeit assoziiert; primär aber gelten sie als Verfahren des Rückbezugs auf einen Gesprächspartner oder als Ausdrucksformen von Unsicherheit (Holmes 1984 und Kap. 12). Nur weil demonstrative Rückbezüge zum Gegenüber und Vermeidung von Sicherheit historisch eher mit dem von Frauen als von Männern verlangten Verhalten assoziiert werden und in manchen Kulturen zur Weiblichkeitserziehung gehören, indizieren sie indirekt kulturelles Geschlecht. Sie bringen die soziale Kategorie Geschlecht aber auch bei gehäuftem Auftreten nicht in den Vordergrund der Interaktion, laufen somit nicht unter doing gender im Sinne von Schegloff (1997), bei dem Gender so salient sein muss, dass im Gespräch eine bemerkbare Orientierung an dieser Kategorie stattfindet. West / Zimmermans Vorstellungen von doing gender entsprechen sie auch nicht, weil die Relation zwischen der Sprachverhaltensweise und der sozialen Kategorie nicht direkt ist. Man kann sich problemlos einen Therapeuten vorstellen, der mit Fragepartikeln den Klienten zum Reden bringen will und sich strategisch unsicher gibt. Im Kontext dieser institutionellen Kommunikation kann eine Anleihe bei einem weiblich assoziierten Stilphänomen einen therapeutischen Gesprächsstil miterzeugen. Der Therapeut inszeniert sich nicht als besonders männlicher Mann. 2.3.4 Mehr zu Genderindices in der Jugendkommunikation In der Jugendkommunikation wird die Relevanz von Gender über grammatische oder phonologische Variablen hinaus vielfältig indiziert. Auch bestimmte Gesprächsprak‐ tiken indizieren altersspezifische Männlichkeiten, Weiblichkeiten oder Zwischenty‐ pen. Lust und Frust auf dem heterosexuellen Paarbildungssektor gehören unter Mädchen nicht nur zu einem offen bekundeten, sondern geradezu forcierten psychi‐ schen Zustand, der in besonderer Weise an der Ko-Konstruktion der soziokulturellen ingroup der gleichaltrigen Freundinnen und der Ausbildung von alters-, kultur- und genderdistinkten Gefühlsnormen teilhat (Stenström 2003; Spreckels 2006; Kotthoff 2012a). Die Mädchen verhandeln untereinander strategische Weitergaben der Telefon‐ nummern von Jungen und die entsprechenden Normen für das Organisieren des Miteinander-Bekanntmachens von Mädchen und Jungen untereinander; sie beziehen ihre Freundinnen in ihre romantischen Interessen ein, z. B. über Grußrituale und lang und breit ausgemalte, gemeinschaftliche Annäherungsinitiativen an einen Jungen. Sowohl eigene Korpora als auch Aufnahmen anderer Forscher aus Jungengruppen ähnlicher oder höherer Altersstufen (Schmidt 2004) liefern keine Belege für eine ähnliche Frequenz und Intensität der interaktionalen Verhandlung des Paarbildungs‐ geschehens und den Einbezug des Freundes. In den untersuchten Cliquen gab es keine Transgender-Jugendlichen. 48 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="50"?> In Kotthoffs Daten (2012a) von privaten Telefongesprächen unter 14bis 16-jährigen Freundinnen entsprechen die Mädchen dem, was in der Literatur schon vor drei Jahrzehnten als weibliche Beziehungsorientierung diskutiert wurde (Giligan et al. 1990). Auch die Tatsache, dass es in den langen Telefongesprächen thematisch sehr häufig um Paarbildung und heteroromantische Geselligkeit geht, passt wunderbar in ein bekanntes Bild über Mädchenaktivitäten. Man kann in diesen hochgradig koope‐ rativen Verhandlungen des „wer mit wem“ somit einen Index auf ein traditionelles Mädchen-Sein ausmachen, denn in der Tat stricken sie am Telefon fortlaufend Geflechte von Beziehungen, verhandeln Allianzen, marginalisieren einige Mädchen und Jungen und erhöhen die anderen. Sie bewerten die Aktivitäten ihres sozialen Um‐ felds, einschließlich Schule und Elternhaus, Jungen, die moralischen Standards roman‐ tisch-erotischer Hetero-Beziehungen, Mädchen und deren (un)mögliche Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe. Essentialisierung der demonstrativ hohen Kooperativität unter weiblichen Wesen (eine Lesart, die man Gilligan et al. durchaus zuschreiben kann) sollte man nicht betreiben, wenn man verfolgt, wie die Mädchen Allianzen und Netzwerke bilden. Die feministische Idealisierung dieser Beziehungsorientierung als prinzipiell unterstützend (wie wir sie z. B. bei Coates 1986 finden) greift zu kurz, hat aber doch für die Phänomenologie einiger Aktivitätstypen schon Beschreibungen geliefert. Wie stark wer mit wem kooperiert, ist eine Frage der Wahl; sie ist nicht schlichtes Produkt einer psychologischen Prägung, sondern Gegenstand sozialer Netzwerkherstellung, wie in den Transkripten der Gesprächsausschnitte deutlich wird. Der romantische Diskurs ist weitgehend an Heterosexualität ausgerichtet; das heterosexuelle Paar ist nach wie vor der Prototyp der in den Mädchengesprächen komplementär inszenierten Geschlechterdifferenz. Insofern können wir in Bezug auf die in Kotthoff (2012a) präsentierten Gesprächsausschnitte global durchaus von doing gender und doing heteronormativity sprechen; das ist den Themenbereichen inhärent. Allerdings bleibt diese Zuordnung unspezifisch, wenn man nicht weiß, welche Vorstellungen über die Begegnung von Mädchen und Jungen in diesem Diskurs lebendig werden. Es sind nicht etwa Vorstellungen von einer einzigen großen Liebe, die vielleicht auch in dieser Altersgruppe bis in die sechziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts galten, sondern kurzlebige Verbindungen, die gleichwohl von großen Worten begleitet sein können. Im Vordergrund steht die Institutionalisierung von Heterogeselligkeit mit ihrem hohen Unterhaltungswert. Diesen bedienen zu können gehört zur Selbstinszenierung eines heutigen, spezifischen Mädchen-Seins. Schon allein das zeitlich ausgedehnte Telefonieren als solches wurde zu einem sekundären Genderindex (heute wird die Freundinnenkommunikation anders prakti‐ ziert, Kap. 15). Die von Winterhalter (2006) befragten Eltern sahen das ausgedehnte Telefonieren der Töchter als eine Praxis von Mädchen, kaum von Jungen. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen vor achtzehn Jahren bedienten sie sich aus Kostengründen der Festnetzanschlüsse. Auch andere Studien (Rakow 1992) kommen zu dem Ergebnis, dass die Tele-Privatgespräche von Frauen im Durchschnitt länger dauern als die von Männern und im Alltag der Frauen eine zentralere Rolle spielen. Telefonate 2.3 Indexikalität erster und xter Ordnung 49 <?page no="51"?> dienen nicht nur instrumentellen Zwecken, wie etwa der Terminfindung, sondern der Beziehungskommunikation. Vor diesem Hintergrund indiziert ein Telefonat, in dem sich lang und breit über Beziehungen ausgetauscht wird, eine genderisierte Tradition. Am Telefon betreiben die Mädchen zwar „social engineering“, aber auch in einer historisch eher neuen Ausrichtung. Wir können dem zustimmen, was Eckert (2003, 384) über US-Mädchen schreibt: The entire heterosexual enterprise at this point is about alignments within the cohort rather than about individual boy-girl relationships. The pairs are brokered by members of the crowd, […] And it is girls who do the brokering. Girls control the heterosexual market - they decide who will go with whom, they arrange meetings and alliances, and they negotiate desirability. Die nüchterne Abschätzung äußerer und statusbezogener Qualitäten für die Paarbil‐ dung in Frage kommender Jungen kann durchaus als Anleihe am traditionell Männern attribuierten Verhalten gesehen werden. Die Mädchen geben sich als strategische Spielerinnen auf dem Paarbildungsmarkt. Die hohe Relevanz dessen bleibt als traditio‐ neller Genderindex bestehen, die konstruierten Spielregeln ordnen den Mädchen aber aktive und initiative Rollen zu. Der alten Differenzlinie zwischen dem wählenden Mann und der ausgewählten Frau begegnen wir nicht mehr. Über Indexikalisierungen von historisch männlich verorteten Verhaltenskomplexen wird die kommunizierte Identität des altersspezifischen Mädchen-Seins zu einer besonderen Bricolage (Stilbastelei). Um solche Bricolagen verstehen zu können, muss man die Geschichte eines Verhaltensbe‐ reichs kennen (mehr zum Bricolage-Konzept bei Galliker 2014). In der Genderetikette galt über Jahrhunderte hinweg der Mann als der aktiv wählende Part und die Frau hatte seine Wahl geschickt und verdeckt auf sich zu lenken (Burmann 2000). Sie hatte seine Annäherungsversuche abzuwehren, aber so, dass der Mann aus der Art der Abwehr seine Chancen herauslesen konnte. 2.3.5 Soziale Stilisierung über Genderindizien Wir fassen zusammen, dass unter doing gender einerseits alle Praktiken verstanden werden, mittels derer die Geschlechter lang eingespielte Unterschiede anzeigen. Das ist im Bereich der äußeren Gestaltung stark der Fall. Sobald sich beispielsweise in einem Kleidungsstück Spitze befindet, ist dies eines für Frauen und hilft, Frau-Sein anzuzeigen. Das Tragen von Make up und Schönheitshandeln (Degele 2004, 2006) sind weiteren Formen, Weiblichkeit zu tun. Innerhalb der vielen Abstufungen in der Kommunikation von Weiblichkeit kann vor allem über Arbeit am Äußeren der Körper sexuell aufgeladen werden. Diese Praktiken sind mehr oder weniger exklusiv. Sie sind unterschiedlich stark habitualisiert, sodass sie nicht unbedingt in den Vordergrund der Interaktion treten. Komplimente können sie allerdings schnell in diesen Vordergrund holen. Im Bereich der Interaktion gibt es kaum geschlechtsexklusive Verhaltensweisen, 50 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="52"?> die allein direkt auf Gender verweisen, allerdings geschlechtspräferentielle, die im multimodalen Verbund als Genderisierung interpretiert werden können. Eine bemerkbare Relevantsetzung von Gender in der Interaktion kann als „doing“ verstanden werden (enges Konzept von doing gender). Das ist beispielsweise der Fall, wenn Männer sich mittels besonderer Praktiken, die historisch bereits als Männerprak‐ tiken identifiziert wurden, als männlich inszenieren. Dazu gehört in einigen Kulturen z. B. das Aufführen ritueller, poetischer und obszöner Angriffsspiele wie verbale Duelle (z. B. Labov 1972b; Dundes et al. 1972; Kotthoff 1995a). Auch Thematisierungen und Aufführungen von Geschlechteretikette gehören dazu (Der Herr gibt der Dame Feuer). Viele Verhaltensweisen und sprachliche Merkmale (also sehr unterschiedliche Größenordnungen) können einen Genderindex ergeben, der an einer spezifischen sozialen Stilisierung teilhat. Wenn sich beispielsweise Jungen untereinander schmut‐ zige Witze erzählen und beleidigende Frotzelangriffe austauschen, dann inszenieren sie damit eine traditionelle Männlichkeit. Solche Praktiken gehören zum historisch überlieferten Repertoire der Männlichkeit (Fine 1990). Wenn Mädchen diese Verhal‐ tensweisen zeigen, integrieren sie diese in ihr ansonsten mehr oder weniger weiblich konnotiertes Verhaltensrepertoire. Sie können damit die Identität eines widerständi‐ gen, unangepassten Mädchens aufführen. Im Ansatz der Indexikalisierung werden sprachliche Merkmale und kommunikative Praktiken innerhalb von Sprechgemein‐ schaften unter einer historischen Perspektive interpretiert, bzw. die in der Sprechge‐ meinschaft vorherrschende Sicht wird rekonstruiert. Erst vor dem Hintergrund der historischen Einordnung der Praktik oder des Merkmals kann sie dann im Rahmen einer Selbst- und Fremdstilisierung „gelesen“ werden. Gender wird so als Bündel von Stilisierungen gesehen. Niemand muss die gesamte Palette der Männlichkeits- oder Weiblichkeitsmerkmale und -praktiken ausschöpfen. Außerdem sind auch soziale Kategorien wie Alter, Schicht oder Kulturzugehörigkeit an Stilisierung gebunden. Über Anleihen hüben und drüben kann man sich im Genderbereich gekonnt dazwischen ansiedeln. Auch bei Transgender-Personen schlägt wenig Natur durch (wenngleich dies von denselben oft behauptet wird), sondern vor allem semiotische Kenntnisse. Wir bleiben also Goffmans dramatologischer Perspektive treu. 2.3.6 Kommunikation von Identitäten Wir stilisieren uns nicht einfach als Frau oder Mann, sondern sehr viel spezifischer als eine „performable persona“ (Agha 2007, 160). Wenn wir eine bestimmte Kleidungs- und Sprechsemiotik an den Tag legen, machen wir uns zu einem spezifischen sozialen Typ, bedienen uns also zunächst an einem historisch bereits zur Verfügung stehenden Zeichenrepertoire, um den Typus aufzuführen, der für andere als solcher erkennbar wird (Bucholtz 1999). Der Zeichengebrauch ist insofern reflexiv, als er soziale Typen so auch durch Bestätigung fortleben lässt. Schon Kindergartenkinder wissen beispiels‐ weise, wie sie in ihren Rollenspielen Polizisten, autoritäre Mütter und quengelnde Kleinkinder aufführen. Sie können in diesen Rollen Anweisungen erteilen oder weiner‐ 2.3 Indexikalität erster und xter Ordnung 51 <?page no="53"?> lich tun, je nachdem. In der Terminologie von Agha (2007) führen sie metapragmatische Modelle auf, die sie über typische Äußerungen (die Mutter äußert z. B. Mahnungen), typische Prosodie und Kleidungsstile gestalten (in Cahills Aufnahmen legen sich Kinder für die Mutterrolle eine Kette um den Hals oder sie tun, als würden sie rau‐ chen). Transgender- und nonbinäre Personen stilisieren ihre Spezifik über bestimmte Kombinationen aus bekannten semiotischen Genderrepertoiren (Barrett 2017, Levon 2021). Die Rekonstruktion von Typisierungsprozessen (z. B. typischem Vaterverhalten in der Familie), in die sich Machtbeziehungen einschreiben, fassen wir entschieden nicht als „Zitat“ im Sinne von Butler (1991, 217), die Geschlechterfestschreibung als im Diskurs des performativen Akts konstituiert sieht, das heißt durch ständige repetitive Praktiken. Wenn ich jemanden zitiere, schreibe ich mir die Worte oder die Aufführung nicht selbst zu, verhalte mich dazu mit Distanz. Das Konzept der sozialen Stilisierung, das wir hier stattdessen verwenden, integriert durchaus Verfahren der Imitation, die den Butler’schen Zitaten ähnlich sein könnten; unten entfalten wir, wie wichtig es für die wissenschaftliche Rekonstruktion ist, dass Individuen über das Imitieren in der Regel hinausgehen. 2.3.7 Stil-Basteln-- Gender-Basteln Sprachverhalten und Selbststilisierungen hat vor allem die heutige Jugendsprach‐ forschung als soziale Positionierungsaktivität fest im Blick. Jugendliche nutzen ihr Wissen um sprechstilistische Zuordnungen, um sich als ein bestimmter Typus zu entwerfen, aber auch, um Typen zu zitieren, zu karikieren und mit Zuordnungen zu spielen. Das Sprachrepertoire von Jugendlichen bildet oft ein komplexes und dyna‐ misches Spektrum „ererbter“ und „erworbener“ Zugehörigkeiten und Abgrenzungen einerseits ab (als Produkt von Aneignungs- und Auswahlprozessen), wie es zugleich ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, um kulturelle Identität immer wieder neu zu definieren, zu bestätigen, anzupassen und kontextbezogen zum Ausdruck zu bringen. Verschiedene Soziolinguist/ inn/ en (wie etwa Bierbach / Birken-Silverman 2014) zeigen wie Sprachvarietäten, Aktivitäten, in denen sich die Jugendlichen engagieren (in ihrem Fall Break-Dance), die Gestaltung ihres Äußeren und vieles mehr, zusammenwirkend kontextuelle Bedeutungen produzieren, Beziehungen zwischen den Interaktanten abstecken und diese in ihrem sozialen Umfeld positionieren. Gender ist dabei eine relevante, aber verwobene und vermittelte Größe. Die Autorinnen setzten ihren Schwerpunkt auf die Rekonstruktion einer spezi‐ fischen, italo-deutschen Männlichkeit junger Break-Dancer. Bildung stellt für die meisten der männlichen Mitglieder der von Bierbach / Birken-Silvermann im Raum Mannheim in langjährigen Ethnografien erforschen Cliquen jugendli‐ cher Italo-Deutscher beispielsweise kaum ein erstrebenswertes Ziel dar (sie ent‐ sprechen in mancher Hinsicht Eckerts „burnouts“); dem Selbstbild der Jungen entspricht eher die Kunst des „arrangiarsi“, ein geschicktes „Irgendwie-Durch‐ 52 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="54"?> kommen“, verbunden mit dem Image des „bad boy“. Zu dieser sprachlichen Selbststilisierung gehört viel Switching ins Sizilianische, ansonsten Mannhei‐ merisch mit Anleihen beim überregionalen Kiezdeutsch (Wiese 2012) und wenig Standarddeutsch. Angeben ist eine anerkannte Aktivität in der aus vielen Jungen und wenigen Mädchen bestehenden Clique, aber auch Geschichten vom Schul‐ eschwänzen und andere Zurückweisungen eines geordneten Lebens. 2.4 Sozial-konstruktivistische und radikalkonstruktivistische Ansätze Wir haben uns oben in der rekonstruktiven Sozial- und Kommunikationsforschung verortet. Diese arbeitet empirisch mit bestimmten Aufzeichnungsmethoden von Diskursen. Goffman hat die Institutionalisierung von Gender beispielsweise in der Werbung und in der Geschlechteretikette aufgezeigt. Wir haben oben viele Studien re‐ kapituliert, die in dieser Tradition kontextuelle Arrangements der Geschlechter weiter ausgeleuchtet haben. Immer stehen in sozio- und diskurslinguistischen Studien überin‐ dividuelle Verankerungsprozesse genderisierter Zuschreibungen und Handlungsmög‐ lichkeiten im Zentrum der Analyse. Im universitären Fach der Gender Studies werden demgegenüber oft aus der Philosophie kommende Reflexionen zu Gender fokussiert. 2.4.1 Judith Butlers Diskursidealismus Da die Schriften der Philosophin Judith Butler sehr einflussreich sind, seien sie hier kurz gestreift. Butler hatte zunächst mit dem „Unbehagen der Geschlechter“ (1991) eine Theorie entwickelt, nach der die Geschlechter sich hauptsächlich durch den Diskurs erst konstituieren. Auch der Körper ist in ihrer Theorie wesentlich ein Konstrukt, das über „Sprechakte“ hergestellt wird. Sie greift auf John L. Austins Theorie der performativen Sprechakte und Jacques Derridas Konzepte der Iterierbarkeit von „différance“ zurück, um behaupten zu können, auch das biologische Geschlecht sei „herstellt“. Völlig unklar bleibt in ihrem Werk, wie metaphorisch dieses „Herstellen“ eigentlich gemeint ist. Zunächst einmal ist der Körper mit all seinen Prozessen des Wachsens, Alterns usw. gegeben, die selbstverständlich kulturell mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden. Aber wie weit geht dieses Aufladen in den Körper hinein? Wie und warum stellen Menschen körperliche Differenzen aus, die in der heutigen Mode ähnlich zelebriert werden wie vor 50 Jahren? Da finden wir keine Beschreibungssprache, die wir für die Rekonstruktion von Geschlechterverhältnissen nutzen können. Auch in „Körper von Gewicht“ (1995) betreibt Butler eine Art von Diskursidealis‐ mus, dem wir uns nicht anschließen. Da auch die deutschen Gender Studies von der Butler-Rezeption sehr stark geprägt werden, kommen wir um eine Stellungnahme dazu 2.4 Sozial-konstruktivistische und radikalkonstruktivistische Ansätze 53 <?page no="55"?> nicht herum. Sie beschreibt sich selbst generierende Normen, die Gender prägen und auch tief in den biologischen Bereich eingreifen. Für die Auseinandersetzung damit, wie genau kulturelle Normen, die sich nach Butler als „Sprechakte“ im Sinne Austins äußern, auf Körperlichkeit einwirken, tritt sie nicht in den notwendigen Austausch mit Medizin und Biologie, sondern setzt sich mit der griechischen Mythologie auseinander und verbleibt somit in der Textwelt (dazu kritisch z. B. Meyer 2015; Vukadinovič 2017). Platon entwickle im „Timaios“ die Vorstellung des „Aufnehmenden“ (S. 82), das als „Chora“ beschrieben wird. Indem dieses aufnehmende Prinzip als „Amme“, die alle Körper aufnimmt, weiblich verfasst sei, komme ihm der Status von etwas Ausgeschlossenem, Verworfenem zu. So lässt sich allerdings kein Bezug zur realen Leiblichkeit herstellen. Des Weiteren besteht das Buch sehr stark aus einer Auseinan‐ dersetzung mit den Schriften des Psychoanalytikers Jacques Lacan, für den der Phallus eine alles signifizierende Kraft besitzt. So bleiben die verschiedenen Darlegungen im Buch sehr empiriefern. Nirgends ist die Rede von Kindergärten oder Sportclubs, in denen reale Körper aufeinandertreffen und ein Mit- oder Gegeneinander sprachlich und multimodal aushandeln. Gegen die Macht der „iterativ“ hergestellten Normalität stellt Butler die Subversion von „queerness“ und Transvestitenbällen. Radikal ist dieser Konstruktivismus nur innerhalb von Traditionen philosophischen Denkens (Hall 2003), aber er tritt mit keiner Empirie in Kontakt, sei diese ökonomisch, sozial, sprachlich oder sonstwie kulturell. Butler gilt als wichtigste Theoretikerin des diskursanalytischen Dekonstrukti‐ vismus. Dieser beschäftigt sich theorieimmanent mit Identitäten oder Identifizierun‐ gen und Machtverhältnissen. Herrschafts- und Machtverhältnisse, die „Zwangshete‐ rosexualität“ und Formen der Kleinfamilie werden in psychoanalytischen Theorien und literarischen Werken „dekonstruiert“. Die Entselbstverständlichung von Körper, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als Naturtatsachen geschieht in einer philosophischen Auseinandersetzung. Entsprechend versuchen heute die von Butlers Schriften sehr stark geprägten „queer studies“ große Theorieentwürfe, deren empirische Anbindung aber fast immer schwach ausfällt (dazu kritisch auch Degele 2008). Unser Buch steht hingegen in der sozialwissenschaftlichen Tradition von gegenstandsorientierter Theoriebildung (Strauss / Corbin 1996 / 1999). Theorieentwicklung bleibt an die empirische Forschung rückgebunden. Die linguistische Genderforschung rekonstruiert zuerst einen Phäno‐ menbereich, sei es derjenige der Jugendkommunikation, der Personenreferenz oder der Namen. Von empirischen Befunden ausgehend rekonstruiert sie, welche sozialstruk‐ turellen Kategorien in dem Bereich für Differenzen verantwortlich sein könnten. Die Theoriediskussion erfolgt möglichst auf der Basis empirischen Materials. Auch in „Hass spricht“ finden wir bei Butler (2001) keine Korpora, in denen beispielsweise Kontexte und Wirkungen von Hassäußerungen rekonstruiert würden. Sie greift erneut prominent auf die von John L. Austin ausgearbeitete Theorie der Sprechakte (1972) zurück, auch auf seine Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Sprechakten. 54 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="56"?> Konstative Äußerungen sind Behauptungen und Aussagen, die als wahr oder falsch bewertet werden können, denen also Wahrheitswerte zugeordnet werden können. Demgegenüber beschreibt Austin Sprechakte als performativ, wenn mit ihnen Handlungen vollzogen werden (z. B. Austin 1972, 27). Ein Beispiel zur Illus‐ tration ist der Akt der Eröffnung der Olympischen Spiele: Eine dazu befugte Person einer spezifischen Institution (beispielsweise des gastgebenden Staates) vollzieht mit bestimmten Worten - „Hiermit erkläre ich die Olympischen Spiele in … für eröffnet.“ - eine Handlung, die den Status der Situation verändert. Die Wirkung des performativen Sprechaktes ist bei diesem Beispiel besonders deutlich, da die Olympischen Spiele genau an dem Moment, in dem diese Worte ausgesprochen werden, beginnen (Müller 2011). Zu beachten ist, dass hier die Befugnis der betei‐ ligten Personen, der institutionelle Rahmen sowie Konventionen eine entschei‐ dende Rolle spielen: Zwar kann jede/ r eine solche Aussage vollziehen, aber die spezifische Performativität tritt nur in bestimmten Konstellationen und Kontexten auf, ansonsten misslingt der Sprechakt (Bourdieu 1979). So lässt sich festhalten: Konstative Sprechakte können wahr oder falsch sein, performative Sprechakte ge‐ lingen oder misslingen, und wenn sie gelingen, werden mit ihnen sozial bedeut‐ same Handlungen vollzogen. Butler schreibt den konstativen und performativen Sprechakten große Macht zu, sowohl zur Bestätigung gesellschaftlicher Ordnungen als auch zu ihrer Unterlaufung. Beschimpfungen könnten Subjekte entwerten. Subjekte könnten die derogativen Ausdrücke aber auch umdrehen und sie sich unter umgekehrtem Vorzeichen neu aneignen (wie es etwa geschieht, wenn sich mehrsprachige Jugendliche im deutschen Sprachraum Kanacken nennen). Wir stimmen dem zu, sind allerdings bei der Zuschrei‐ bung revolutionärer Potentiale an dergleichen kommunikative Praktiken weniger enthusiastisch (Kotthoff et al. 2014, 94 f.). Wieder bleibt Butlers Auseinandersetzung mit der Macht isolierter Sprechakte theorieimmanent. Diese Macht scheint tatsächlich einerseits umfassend gedacht zu sein: Sprache macht das Subjekt, macht Gesellschaft. Andererseits gerät die Materialisierung von Macht kaum in den Blick. Gardt (2018) führt eine interessante Diskussion zu Sprache zwischen Konstruktivismus und Realis‐ mus und deren gegenseitiger Vermittlung. Interaktionslinguist(inn)en legen ihren Studien selten Austins Werk zugrunde, weil es im Unterschied zu denjenigen von Goffman und Garfinkel und vor allem deren Weiterentwicklungen in Linguistik und Soziologie bei ihm nur um isolierte Äußerun‐ gen geht, um einzelne Sprechakte. In Wirklichkeit finden Sprechakte aber Eingang in Dialoge, in denen auf sie reagiert wird. Die linguistische Geschlechterforschung tut gut daran, sich in dialogische Traditionen einzureihen, weil hier auch die überzeu‐ genderen Zugänge zur Empirie von Diskursen und Interaktionen zu finden sind (Linell 1998). In Kap. 13 werden wir sehen, dass Reaktionen Sprechhandlungen mitunter überhaupt erst konstituieren. Auch vermag Sprache nicht das Subjekt herzustellen, 2.4 Sozial-konstruktivistische und radikalkonstruktivistische Ansätze 55 <?page no="57"?> steht sie doch vom ersten Tag an auch im Kontext außersprachlicher Handlungen und Gegebenheiten. Ob ein Kind beispielsweise in Armut oder Reichtum aufwächst, hängt mit außersprachlichen Gegebenheiten zusammen und lässt sich sprachlich-diskursiv kaum umkonditionieren. 2.4.2 Sind sexuelle Präferenzen für Identitäten immer zentral? Different fällt auch aus, wie die Butler’schen „queer studies“ und die sozialkonst‐ ruktivistische Genderforschung Identität konzipieren. Butler und Lacan setzen die geschlechtliche Identität des Menschen als zentral an. Innerhalb der Geschlechts‐ identität ist wiederum die Dimension der sexuellen Präferenz kontextübergreifend ausschlaggebend. Selten geht es darum, wie sich beispielsweise Berufe oder Tätig‐ keitsfelder in Identitäten einschreiben (ein nicht zu unterschätzender Faktor). Immer liefert das Homo- oder Heterosexuellsein anscheinend den entscheidenden Hebel zum Handeln in der Welt. Soziale Identität wird von den meisten Sozialwissenschaftler/ innen als der Teil des Selbst gesehen, der innerhalb einer soziokulturellen Lebenswelt ausgearbeitet werden kann. Persönliche Identität bezieht sich im Unterschied dazu auf die Einzigartigkeit des Individuums innerhalb einer individuellen Lebensgeschichte und ist somit so etwas wie die Kontinuität des Ich. Krappmann (1978, 39) fasst diesen Unterschied so zusammen: Obviously, identity is both simultaneously: the anticipated expectations of the other and the individual’s own answers. G. H. Mead took this dual aspect of identity into account in his concept of the self, which contains a “me” that is the adopted attitudes of the other, and an “I”, the individual’s answer to the expectations of the others. Obwohl viele AutorInnen, so auch Butler, von „Identität“ im Singular sprechen, hat sich in der Soziolinguistik längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass Menschen in der Regel unterschiedliche Identitäten aufführen und ihre Einzigartigkeit eher im speziellen Verschnitt dieser Aufführungen liegt. Levon (2021) fasst zusammen, was der konstruktivistische Ansatz des Indizierens für das Studium von „gay and lesbian speech“ bedeutet. Es gebe keine direkte Zuordnung von Homosexualität auf Arten des Redens, sondern die Zuordnungen liefen über situative Rollen, die aufgeführt würden, beispielsweise die einer „Diva“ oder einer „lipstick“. Simplistische Gegenüber‐ stellungen von hetero- oder homosexuellem Kommunizieren brauche man nicht, wenn intersektionale Ausdrucksressourcen in situativen Kontexten herangezogen werden, um Sprechpraktiken zu analysieren. Wir alle leben im Alltag mehrere Rollen (als Tochter, Mitglied eines Sportclubs etc.) und sind mit unterschiedlichen sozialen Gruppen verbunden. Individuen konstruieren ihre sozialen Identitäten auf der Basis verschiedener Parameter, darunter Nationalität, Geschlecht, Alter, Milieu, Hobby, Beruf etc. (Duszak 2002, 2). Das Konzept der sozialen Identität muss deshalb als vielschichtig und sehr dynamisch angesehen werden. Mehr‐ 56 2 Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch <?page no="58"?> fachmitgliedschaften sind ebenso der Normalfall wie sehr spezifische Zentralsetzungen einer bestimmten Kategorie. Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden verschiedene konstruktivistische Herangehensweisen an Gender vorgestellt. Weil Macharten und Relevantsetzungen von Gender in unter‐ schiedlichen Kontexten rekonstruiert werden sollen, erscheinen Ansätze wie das doing gender und das indexing gender als vielversprechend. Da uns die Analyse von Gender‐ indices in vielen Kapiteln beschäftigen wird, wurde dieser Ansatz oben schon umrissen. In der Genderlinguistik arbeiten wir mit einem fluiden Verständnis von Identität, deren lokale Kommunikation und die Verfahren ihrer Anzeige uns am meisten interessieren. Gender ist zwar eine zentrale soziale Kategorie, jedoch dominiert sie nicht unser gesamtes Handeln fortlaufend. Außerdem tritt sie in Überlappung mit anderen sozialen Kategorien wie Alter oder Status auf. Solche Ko-Artikulationen müssen empirisch nachgezeichnet werden können und vertragen keine Vorab-Einengungen. Zusammenfassung 57 <?page no="60"?> 3 Prosodie und Phonologie Landet man auf dem Frankfurter Flughafen auf einer Außenposition und wird mit dem Bus zum Flughafengebäude gebracht, macht man eine überraschende Erfahrung: Aus dem Lautsprecher des Busses ertönt - eine ganz normale Frauenstimme! Sie heißt unaufgeregt die Fluggäste willkommen und rät Weiterreisenden, sich wegen der Gates ans Flughafenpersonal zu wenden. Was im Gegensatz zu üblichen weiblichen Stimmen im öffentlichen Raum (Bahnansagen, Werbung, Filme etc.) frappiert, ist, dass die Stimme sich nicht vor guter Laune und Freundlichkeit überschlägt, dass auch kein Gesäusel oder erotisches Gehauche zu vernehmen ist: Die Frau spricht als erwachsener, kaum genderisierter Mensch. Ihre Stimme ist tief und entspannt, Sprechtempo und Stimmführung sind gleichmäßig und eben. Dies verdeutlicht, was ‚normalerweise‘ mit öffentlichen Frauenstimmen ‚passiert‘: Es wird overdoing gender betrieben. Frauenstimmen werden Kinderstimmen angeglichen, oft wirken sie emotio‐ nal und impulsiv. Männerstimmen werden monotoner inszeniert und wirken dadurch kompetenter (Kotthoff 2001). Der Einsatz weiblicher und männlicher Stimmen speziell in der Werbung wird in Kap. 14 vertieft. In Deutschland und vielen anderen Gesellschaften wird Geschlecht prosodisch (suprasegmental) an die Stimme geheftet. Damit setzt dieses akustisch wahrnehmbare Merkmal direkt am Körper an, ähnlich wie Gestik und Mimik, die visuell wahrnehmbar sind. Diese Körpernähe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Stimmen im Laufe des Lebens erworben und gestaltet werden, ebenso wie Gestik und Mimik, und dass alle drei häufig naturalisiert (für angeboren gehalten) werden. 3.1 Prosodie Die eingangs geschilderte Erfahrung macht deutlich, wie konstruiert weibliche und auch männliche Stimmen sind. Dies betrifft nicht nur Stimmen im öffentlichen Raum, auch die individuellen Stimmen enthalten mehr Kultur als Natur. Kaum etwas anderes an der Sprache hält man für so stark biologisch festgelegt wie die Stimme. Man muss sich jedoch nur in andere Gesellschaften begeben, um festzustellen, dass die Menschen dort per se höhere, tiefere, rauere, feinere, engere, sonorere, lautere etc. Stimmen bzw. modulierendere oder monotonere Stimmverläufe haben (praktizieren) können als in Deutschland. Auch ein und dieselbe Person kann an sich selbst feststellen, dass sie beim Gebrauch einer anderen Sprache (z. B. Französisch) ihre Stimme anhebt (oder senkt). Selbst innerhalb Deutschlands gibt es Unterschiede: Eine Stimme aus Bayern klingt anders als eine aus Hamburg. Niemand würde dafür Gene, Berge oder Meeresnähe verantwortlich machen. Man braucht auch nur 50 oder 80 Jahre zurückzugehen, um festzustellen, dass die Stimmen damals anders klangen. Frauenstimmen waren „nachgerade neurotisch“ hoch (Slembek 1995, 113). Diese kulturelle Stimmgestaltung <?page no="61"?> 1 Auf graf(olog)ischer Seite entsprächen dem geschlechtsspezifische Handschriften. Diese Annahme hält keiner wissenschaftlichen Überprüfung stand. Manche glauben, dass Frauen weitere, rundere Formen bevorzugen, Männer gedrungenere, kleinere und mit starken Ausschlägen nach oben und unten. umfasst ebenso die Genderisierung der Stimme (Graddol / Swann 1989, 18-40). Es deutet vieles darauf hin, dass der größte Anteil an Stimm‚beschaffenheit‘ auf das Konto des sozialen Geschlechts (Gender) geht, also erlernt wird. Da Stimmen die Sprache nicht nur begleiten, sondern maßgeblich tragen, vermelden sie beständig die Geschlechtsinformation. Mehr noch als eine genderisierte Grammatik und Lexik prozessiert die Stimme permanent die Geschlechterdifferenz. 1 Nach Geissner (1991, zit. in Slembek 1995, 110) entfallen bei der Wirkung einer SprecherIn nur 30 % auf Wörter und Sätze und 70 % auf das Wie des Sprechens. Das heißt, der Prosodie ist höchste Relevanz bzgl. der Glaubwürdigkeit des Gesagten beizumessen. 3.1.1 Die Stimmgrundfrequenz Um SkeptikerInnen gleich entgegenzutreten: Natürlich(erweise) haben Männer - kehlkopf- und stimmbandlängenbedingt - im Schnitt eine etwas tiefere sog. Stimm‐ grundfrequenz, d. h. ihr Spektrum oszilliert um ca. 100 Hz, das der Frauen um ca. 170 Hz (das heißt, die Glottis oder Stimmritze öffnet und schließt sich ca. 100bzw. 170-mal pro Sekunde; zu Details der Stimme s. Titze 1989; Moosmüller 2002). Diese Spektren variieren jedoch individuell stark, was zu Tonhöhenüberschneidungen zwischen den Geschlechtern führt: Es gibt viele Männer, deren Stimme natürlicherweise im unteren ‚weiblichen‘ Spektrum liegt bzw. umgekehrt sprechen viele Frauen im oberen ‚männlichen‘ Spektrum (ein oft vermuteter Bezug zwischen Stimme und Körpergröße besteht nicht). Außerdem praktiziert jede Person variierende Höhenspektren, womit auch gespielt werden kann (Bitten bringt man z. B. mit höherer Stimme vor). So lösen allein schon verschiedene Gegenüber höhere (gegenüber Kindern, Tieren) oder tiefere Stimmlagen aus. Wie stark der natürliche geschlechtliche Überschneidungsbe‐ reich ist (nämlich ca. die Hälfte des weiblichen und männlichen Stimmspektrums), zeigen präzise Graddol / Swann (1989, 21). Diese Überlappung ist mit der Körpergröße vergleichbar: Auch wenn (in Deutschland) Männer im Schnitt ca. 12 cm größer sind als Frauen, gibt es viele Männer, die kleiner sind als Frauen bzw. umgekehrt. Dass jedoch in die allermeisten (Hetero-)Paare eine persistente einseitige Größen- und auch Altersdifferenz eingebaut ist, hat ausschließlich mit Gender zu tun (Hirschauer 1994; 2014). Würden Körpergröße und Altersabstand nicht zur Herstellung der Geschlech‐ terdifferenz genutzt, gäbe es viel mehr Paare, bei denen die Frau größer und / oder älter ist als der Mann. Eine potentielle stimmliche Verwechselbarkeit wird jedoch gebannt, indem an die Stimme weitere, kulturell induzierte Marker geheftet werden: Frauen sprechen sehr häufig höher als natürlicherweise und Männer tiefer. Leider gibt es nicht viele 60 3 Prosodie und Phonologie <?page no="62"?> Untersuchungen dazu, wie stark Männer ihre Stimme gestalten: Sprechen sie ebenso viel tiefer wie Frauen höher? Slembek (1995) bemerkt zumindest für die Stimmen in den Medien, dass Männer (und besonders Nachrichtensprecher) ihren natürlichen Tenor absenken: „Der Tenor reicht mit seinem Sprechstimmumfang weit in die Stimmregister von Frauen, dieser Stimmtyp ist in den Medien kaum zu hören“ (111). Auch Graddol / Swann (1989) weisen darauf hin: [M]en seem to be under some kind of social or psychological pressure to make their voices sound as different as possible from women (and, perhaps, vice versa). In fact it is not immediately obvious whether one sex plays a greater role than the other. (22) In unserer Gesellschaft werden Männer mit ‚weiblichen‘ Merkmalen stärker stigma‐ tisiert als Frauen mit ‚männlichen‘ (man nehme für diese Asymmetrie nur das Beispiel von Rock und Hose). Dies liegt daran, dass beide Geschlechter sich primär und vorran‐ gig dadurch negativ definieren, nicht das andere Geschlecht zu sein. Dies ist für Männer als Inhaber des privilegierten Geschlechts von höherer Relevanz. Deshalb dürften sie ein vitaleres Interesse daran haben, ihre Stimmen vor potentieller Verwechslung zu schützen. Hinzu kommt, dass Frauen, die ernst genommen werden möchten, ihre Stimmen absenken. Interessant wäre zu wissen, ob hohe Männerstimmen (per se - denn es gibt auch Männer ohne Stimmbruch) stigmatisierender sind (oder gar pathologisiert werden) als tiefe Frauenstimmen - oder ob eine Gesellschaft dem keine oder immer weniger Bedeutung beimisst. Frauenstimmen werden in aller Regel vergeschlechtlicht (gynisiert), indem sie verkindlicht werden (Goffman 1979, 1981; Kotthoff 2001; Kap. 2). Das geht über die bloße Tonhöhe weit hinaus. Untersuchungen aus den 1990er Jahren haben erwiesen, dass Japanerinnen eine Stimmgrundfrequenz von 225 Hz, Spanierinnen von 217 Hz und Amerikanerinnen von 214 Hz pflegen. Unter 200 Hz kamen nur Schwedinnen (196 Hz) und Niederländerin‐ nen (191 Hz). Moosmüller (2002) betont den Konstruktionscharakter der Stimme: Diese kulturspezifischen Unterschiede hängen u. a. auch mit dem Frauen- und Männerbild der jeweiligen Kultur zusammen (Ohara 1999) - eine hohe Stimmgrundfrequenz bei Frauen wirkt in Japan attraktiv und wird als ‚süß, angenehm, sanft, nett, höflich, ruhig, jung und hübsch‘ eingeschätzt, während Frauen mit einer tiefen Stimmgrundfrequenz als ‚eigensinnig, selbstsüchtig, direkt, aufrichtig und stark‘ wahrgenommen werden. (125) 2017 war der Berliner Zeitung (24. 02. 2017) in einem Artikel über ein Leipziger Symposium zur Stimme zu entnehmen, dass Männerstimmen heute im Durchschnitt bei 110 Hz liegen und Frauenstimmen bei 168 Hz, während letztere vor 20 Jahren noch bei ca. 220 Hz lagen. Michael Fuchs von der Universität Leipzig hatte eine Messung bei fast 2.500 LeipzigerInnen zwischen 40 und 80 Jahren durchgeführt. Lag die Frauenstimme also früher eine Oktave höher, so ist es heute nur noch eine Quinte, die sie von der durchschnittlichen Männerstimme unterscheidet. Die Männerstimme ist dagegen gleich geblieben. 3.1 Prosodie 61 <?page no="63"?> 2 www.berliner-zeitung.de/ 25800540 (Aufruf am 27.10.2023). 3 https: / / www.swr.de/ swr2/ musik/ frauenstimmen-tiefer-gesang/ -/ id=661124/ did=21085010/ nid=6611 24/ 12kj0fu/ index.html (Aufruf am 15. 08. 2018). Es scheint also in der Tat mit dem veränderten Rollenbild der Frau zu tun zu haben […] Früher waren hohe Frauenstimmen schick - denken Sie etwa an Doris Day. Es gab viele piepsige, mädchenhafte, süße Stimmen, die nach Schutzbedürfnis klangen. Die heutige Frau steht voll im Leben. Sie muss nicht mehr beschützt werden. Deshalb klingt sie auch anders. (Fuchs 2017) 2 Michael Fuchs stellt in einem Interview 3 außerdem fest, dass sich die weibliche Stimme auch biografisch senkt, was nicht biologisch, sondern sozial motiviert sei. Mädchen nach der Pubertät starten noch mit (den alten) 220 Hz, um sie zwischen 20 und 40 Jahren, wenn sie mehr und verantwortungsvollere Rollen einnehmen, um ca. 50 Hz zu senken. Historische Stimmveränderungen: Männer verlieren sozial mit einer hohen Stimme. Frauen haben dies früher sowohl mit einer hohen als auch mit einer tiefen Stimme getan. Lange hat man sie vom Verlesen von Nachrichten abgehalten, da man die Glaubwürdigkeit derselben bedroht sah (zum Autoritätsdefizit weiblicher Stimmen, auch zur Absenkung von Margaret Thatchers Stimme s. Graddol / Swann 1989, 35-39). Dabei hat sich seit den 1960er Jahren zuerst in den USA, dann auch in Europa einiges geändert: Tiefe Stimmen werden heute auch bei Frauen als sach‐ lich, vertrauenswürdig und kompetent wahrgenommen. StimmbildnerInnen ar‐ beiten auf tiefere Frauenstimmen hin. Slembek (1995) stellt fest, dass die deutschen Synchronstimmen US-amerikanischer TV-Serien Ende der 1950er Jahre deutlich über den weiblichen Originalstimmen lagen und „extrem melodiös“ (109) waren, also modulierten: „[D]ie Stimme gelangt in solche Höhen, dass sie gelegentlich wegbricht“ und „kaum je ihren Normalsprechtonbereich“ erreicht (ebd.). Heute gibt es Hinweise darauf, dass junge Frauen ihre Stimme wieder anheben. Für die meisten Transpersonen (Transidenten) stellt die Bearbeitung ihrer Stimme ein großes Thema dar. Sie arbeiten intensiv daran, ihre Stimmen den Erwartungen an die jeweilige Geschlechtsklasse anzupassen. Transmännern kommt entgegen, dass Testosteroneinnahmen auch (lange) nach der Pubertät einen Stimmbruch verursachen, während Transfrauen vor der ungleich höheren Herausforderung stehen, ihre tiefe Stimme mit logopädischer Begleitung, durch intensives Stimmtraining und nicht selten durch eine Kehlkopfbzw. Stimmbandoperation anzuheben: „Der […] ungleiche Erfolg der Hormonbehandlung transsexueller Männer und Frauen lässt für letztere eine ‚Behandlungslücke‘ offen, an der Stimmpädagogik und Kosmetik arbeiten“ (Hirschauer 1993a, 233). Außerdem ist die Stimme mit optischen Markern wie Kleidung, Frisur und Bewegungen (und - vor allem - dem neuen Namen, Kap. 9.4) in Kongruenz zu 62 3 Prosodie und Phonologie <?page no="64"?> 4 S. dazu auch Zimman (2017). bringen, um ein ‚Missgendern‘ zu verhindern. Auch dieses Markerzusammenspiel gestaltet sich für Transmänner einfacher als für Transfrauen. Transfrauen haben einen längeren Weg zurückzulegen, den sie mit vielen Cis-Frauen teilen, indem sie sich einem anstrengenden Schönheitsdiktat unterwerfen (Hirschauer 1993a, 233-241; Lindemann 2011; Schmidt-Jüngst 2020). Dass es bei der Stimme jedoch weniger um Stimmhöhe als um erworbene Gendermerkmale geht, belegen die Äußerungen einer Stimmbildnerin, die Hirschauer (1993a) zitiert: Die Verweiblichung der Stimme bestehe nicht so sehr in einer Frequenzerhöhung, sondern darin, dass ‚schlanker und schmaler, irgendwie weicher und mehr vorne‘ artikuliert wird und die Klientinnen mehr Mut zum Spielen mit ihrer Stimme bekommen. (236) 4 Damit ist genau das angesprochen, was die folgenden Abschnitte zeigen: Die weibliche Stimme soll • mehr modulieren, • variabler werden („spielen“), • ihr Timbre verändern („weicher“), und womöglich sollen • die Wörter überpalatalisiert werden („mehr vorne“), was kindliches Sprechen imitiert. Auch Forschungen zum Englischen unterstreichen die Tatsache, dass neben der Tonhöhe weitere (kulturspezifische) Gendermerkmale über den Transitionserfolg entscheiden (s. Thornton 2008; McNeill 2006). 3.1.2 Schwankungen der Stimmgrundfrequenz An die anatomisch mitbedingten Tonhöhenunterschiede werden weitere, ausschließ‐ lich kulturell induzierte, erworbene Gendermarker geheftet, deren Hauptsinn in der Binaritätsverstärkung bzw. Ambiguitätsbannung liegt. So wurde nachgewiesen, dass deutsche Frauen auf den Äußerungssequenzen (meist: Sätze) stärkere Modulationen (Stimmgrundfrequenzschwankungen, Tonhöhenbewegungen) vornehmen als Männer. Diese Schwankungen werden durch eine stimmlose sog. Knarrstimme (creaky voice) unterstützt, bei der die Stimme auf unter 150 Hz absinkt. So wird der „Singsang“ oder auch das Zerdehnen („tschühüüüs! “), was Emotionalität und Expressivität, aber keine Autorität vermittelt und an die Impulsivität von Kindern erinnert, von mehreren Seiten her bedient und abgesichert. Diese Zutaten machen das doing gender durch Stimme besonders offenkundig. Doing gender wird schon früh erlernt und es erklärt, weshalb man auch Kinderstimmen lange vor dem Stimmbruch ein Geschlecht zuweisen kann. Hinzu kommt, dass schon kleine Mädchen erhöhte Stimmgrundfrequenzen praktizie‐ ren. Graddol / Swann (1989, 25) berichten von einer (nicht-repräsentativen) Studie über einjährige Kinder, die ihre Stimmhöhe imitierend an ihr Gegenüber anpassen, je 3.1 Prosodie 63 <?page no="65"?> nachdem, ob sie mit ihrem Vater (tiefer) oder ihrer Mutter (höher) kommunizieren. (Zu prosodischen Geschlechterunterschieden in Europa und den USA s. Graddol / Swann 1989, 12-40 und Klann-Delius 2005, 39 ff.). 3.1.3 Äußerungsfinale Tonverläufe und weitere Merkmale Normalerweise sinkt die Stimmgrundfrequenz zum Äußerungsende hin ab (terminaler Verlauf) - es sei denn, die Äußerung wird fortgesetzt, dann bleibt sie gleich oder geht leicht nach oben (progredienter Verlauf). Bei einer Frage geht sie sogar steil nach oben (interrogativer Verlauf) (Moosmüller 2002, 121). Hier eröffnet sich eine große Plattform für doing gender, indem Frauen - früher noch mehr als heute - ihre Äußerungen häufig mit steigendem Verlauf beenden, was zum einen die generelle Stimmgrundfrequenz erhöht, zum anderen eine Feststellung als Frage wirken und der Äußerung insgesamt Unsicherheit zukommen lässt („Klein-Mädchen-Stimme“ nach Moosmüller 2002, 127, die auch Diagramme für diese Phänomene liefert, u. a. für eine Frauenstimme mit max. 344, min. 220 und durchschnittlich 250 Hz). Im Berufsleben sind nach Moosmüller (2002, 128) dagegen monotonere und tiefere Frauenstimmen anzutreffen. Für das Englische liegen mehr Untersuchungen vor. In Kap. 7 thematisieren wir ein prosodisches Phänomen, das mit einem syntaktischen (der Stellung von Nebensätzen) kombiniert wird und bei Frauen die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Gegenüber den sog. Turn (die Redesequenz) übernimmt. Männer tun das weniger und sichern sich dadurch eher das Rederecht. Männliche Stimmverläufe werden deutlich monotoner gestaltet. Insgesamt manifes‐ tiert sich die Verkinderung von Frauen (Goffman 1979, 1981) sprachlich nirgendwo so deutlich wie in ihrer Stimme (zur Eltern-Kind-Metaphorisierung der Paarbeziehung in der Werbung s. Kap. 14.2.3.). Ob und wie stark durch äußerungsfinale Gestaltungen auch Männerstimmen zusätzlich genderisiert werden, ist unzureichend erforscht. An weiteren Merkmalen können Lautstärke, Sprechtempo und Wechsel des Stimm‐ verlaufs ebenfalls Gender indizieren. Dabei wird (in Europa und Amerika) die emo‐ tionalere, unsicherer bzw. kindlicher wirkende Variante mit Weiblichkeit assoziiert. Stimmqualitäten kommen ebenfalls zum Einsatz. Die oben erwähnte Knarrstimme (creaky voice) tritt bei Männern eher äußerungsfinal auf und ist dort mit Männlichkeit assoziiert. Behauchte Stimmen (breathy voice) sind dagegen bei Frauenstimmen v. a. im Fernsehen und in der Radiowerbung anzutreffen und suggerieren Entspanntheit, auch Erotik. Alles in allem liegt der Schluss nahe, dass gerade weil die Stimmen von Frauen und Männern natürlicherweise so ähnlich sind, es in geschlechtsgläubi‐ gen Gesellschaften umso dringlicher ist, sie möglichst über mehrere Verfahren des doing gender voneinander zu distanzieren, wenn nicht zu polarisieren. Alle diese geschlechtsdifferenzierenden Ausgestaltungen werden in Fernsehen, Radio und v. a. in der Werbung besonders stark dramatisiert (Kap. 14). 64 3 Prosodie und Phonologie <?page no="66"?> 3.1.4 Die Singstimme und ihre Genderisierung Lehrbücher zur Gesangspädagogik, so Grotjahn (2011), unterteilen die Singstimme zuerst nach Geschlecht. Ginge es nur um Tonhöhe, so könnte man auch ältere und jüngere Stimmen differenzieren. Da jedoch nichts für so natürlich gehalten wird wie ein stimmlicher Geschlechtsunterschied, muss der natürliche und beträchtliche Überschneidungsbereich zwischen Frauen- und Männerstimmen gebannt und die Stimmbinarität vergrößert (polarisiert) werden (boundary making). Auch unterschied‐ liche Gesangstechniken tragen zur Konstruktion des Stimmgeschlechts bei und wurden naturalisiert. Bis ca. 1800 sangen Männerstimmen in Alt- oder gar Sopranlage, entweder mit Kopfstimme (Falsett) oder als Kastraten, da es Frauen in der Kirchenmusik und teil‐ weise auch im Theater verboten war, aufzutreten. Außerdem gab es in der Barockoper, so Grotjahn (2011), keinen Unterschied zwischen Stimmhöhe und Geschlecht, denn die hohe Stimme stand weniger für Weiblichkeit als „für Göttlichkeit, Status und Jugend“ (ebd., 148). Damit war sie für männliche Sänger statthaft. Die hohe Stimme vertrat männliche wie weibliche Götter, Liebhaber, Helden. Wenn aber Ammen als fraglos weibliche, doch statusniedrige Personen vertont wurden, dann als Tenorpartien, die von Männern gesungen wurden. „Niedrige“ Stimmen (Tenor, Bass) ikonisierten „niedrigen“ Stand und höheres Alter. Die Stimme war also weniger genderisiert als stratifiziert und Index für Altersklassen. Das änderte sich im 19. und 20. Jh. gründlich. Vor allem zwischen 1830 und 1930 wurde die Stimme genderisiert - und damit galt es zuvörderst, den jetzt irritierenden Überschneidungsbereich zwischen Alt und Tenor zu trennen. Der Belcanto als beson‐ ders hoher Tenor wirkte nun unmännlich und wurde durch ein anderes, tieferes und mit Bruststimme realisiertes Tenorideal ersetzt. Im Gegenzug wurde die tiefe weibliche Stimme, die (‚kräftige‘) Bruststimme geächtet (sie kommt heute nur im Pop- und Musicalgesang vor), indem sie als zu männlich und auch als Gefahr für die weibliche Stimme erklärt wurde. Um die Trennlinie zwischen Tenor und Alt noch stärker zu profilieren, kamen klangliche Differenzierungen hinzu, und zwar vor allem die „Koloratur als Symbol für Weiblichkeit“: „Halsbrecherisches wie die Partien einer König der Nacht aus Mozarts ‚Zauberflöte‘ […] wird Tenören oder gar Baritönen und Bässen kaum abverlangt“ (Grotjahn 2011, 150). Diese neue Stimmästhetik der Beweglichkeit ist keine Frage der Stimmhöhe als vielmehr der Technik; sie konstruiert nun zunehmend die weibliche Stimme. Umgekehrt verliert der virtuose Tenor des 18. Jhs. an Bedeutung. Wenn aber (fast) nur noch Frauen Koloratur singen, lässt sich die Koloratur umgekehrt als Zeichen von Weiblichkeit verwenden. Nachdem in der Oper des 18. Jahrhunderts die - zumeist improvisierte - Verzierung eine Selbstverständlichkeit für alle Sänger/ innen war, konzentriert sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Ziergesang immer mehr auf bestimmte Aspekte von Weiblichkeit. (150) 3.1 Prosodie 65 <?page no="67"?> Solche Aspekte von Weiblichkeit waren weiblich genderisierte ‚Eigenschaften‘ wie Koketterie, Eitelkeit, Wahnsinn und Hysterie (zu Weiterem s. Grotjahn 2005, 2011). 3.2 Phonologie Ungleich schwieriger ist es, phonologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu identifizieren. Zu englischsprachigen Studien informiert Kap. 12. Moosmüller (2002) weist jedoch auf ein bei deutschen Frauen nicht selten zu beob‐ achtendes (geschlechtspräferentielles) Phänomen hin, das u. W. noch kaum untersucht wurde: Es handelt sich um linguistisch unmotivierte (Über-)Palatalisierungen, die vermutlich dem Sprechen von Kleinkindern nachempfunden sind und die Frau klein, niedlich, hilfsbedürftig und ungefährlich erscheinen lassen sollen. Die Artikulation ganzer Äußerungssequenzen wird dabei im Mundraum nach vorne verschoben (pa‐ latalisiert), die Lippen werden manchmal geschürzt, der Kopf womöglich schräg gehalten, kurzum: das gesamte Kindchenschema wird aktiviert (Kap. 14.2). Wörter wie schön [ʃ] klingen wie „chön“ [ç], schimpfen [ʃ] wie „chimfen“ [ç] etc. Solche Aussprachen, deren Konstruktionscharakter niemand bestreiten dürfte, bedienen das Klein-Mädchen-Schema und dürften insgesamt seltener vorkommen als die natural‐ isierungsfreudigen prosodischen Genderindices. Echte morphophonologische Gendermarker, die auf das Geschlecht der Sprechenden verweisen, werden für die native Sprache Koasati (USA) beschrieben, wo Männer an jedes Verb (nicht nur in der 1. Person) ein -s zur eigenen Geschlechtsmarkierung anfügen und Frauen bestimmte Vokale nasalieren (Günthner / Kotthoff 1991, 30 f.). Zusammenfassung Während weibliches und männliches Sprechen kaum phonologische Unterschiede birgt, existieren umso mehr prosodische. Die Stimme wird im Alltag zwar als natürlich und körperbezogen aufgefasst, doch hat sie als weitgehend konstruiert zu gelten, wie historische Stimmveränderungen und kulturvergleichende Unterschiede bestätigen. Natürliche Tonhöhenüberschneidungen zwischen Frauen und Männern werden - in kulturell unterschiedlichem Ausmaß - verringert, beseitigt oder gar polarisiert. Deutli‐ che Unterschiede bestehen in der ‚Melodie‘, d. h. im Tonhöhenverlauf, der bei Männern i. d. R. flacher ausfällt, bei Frauen bewegter und modulationsreicher. Frauenstimmen werden Kinderstimmen angeähnelt und wirken emotionaler. Lange Zeit waren Frau‐ enstimmen von der Bekanntgabe wichtiger Nachrichten ausgeschlossen. Mittlerweile haben sich die Frauenstimmen zahlreicher westlicher Kulturen deutlich abgesenkt. Anders in Japan, wo die höchsten Stimmgrundfrequenzen gemessen werden. Dies untermauert den Konstruktionscharakter der Stimme. 66 3 Prosodie und Phonologie <?page no="68"?> 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus Das Deutsche ist eine morphologisch komplexe Sprache. Bei den Substantiven (Nomen) praktiziert es eine zweifache sog. Nominalklassifikation: Jedes Substantiv gehört erstens einer bestimmten Deklinationsklasse (oder Flexionsklasse) und zweitens einem bestimmten Genus an. Damit ist nichts über die Wortbedeutung ausgesagt, es handelt sich um zwei rein (inner)sprachliche Klassifikationen. Während die erste Klassifikation unter der Wahrnehmungsschwelle liegt, liegt die zweite darüber: Man weiß, dass es drei Genera gibt (und macht sie meistens am Artikel der, die, das fest). Weniger bekannt ist, dass unsere Substantive unterschiedlich flektieren und dementsprechend verschiedenen Flexionsklassen angehören. Das Englische hat beide Klassifikationssysteme beseitigt, andere germanische Sprachen haben sie vereinfacht; das Deutsche hat sie erhalten, teilweise sogar ausgebaut und nutzt sie u. a. zur Markierung von Sexus und Gender. 4.1 Deklination-- Genus-- Sexus-- Gender Die Genderlinguistik behandelt allenfalls die Genusklassifikation und fragt nach möglichen Bezügen zum Geschlecht der bezeichneten Person. Ist nur das biologische, meist an den Genitalien orientierte Geschlecht gemeint (was auch für die hier ebenfalls zu berücksichtigenden Tiere gilt), spricht man von Sexus, während Gender die daran andockenden Praktiken der Geschlechterdarstellung (doing gender) meint (Kap. 1 und 2). Die linguistische Genusforschung, die hier rezipiert wird, praktiziert diese Sexus-Gender-Differenzierung jedoch kaum. Sie spricht fast ausschließlich von Sexus (engl. sex). Da viele Termini wie Genus-Sexus-Prinzip fest etabliert sind, werden wir den biologistischen Terminus in diesem Kontext beibehalten. Im Weiteren unterscheiden wir folgende Ebenen und Termini: 1. Deklination als unterschiedliche Flexionsweisen von Substantiven 2. Genus als sog. grammatisches Geschlecht, das meist an Begleitwörtern sichtbar wird 3. Sexus als biologisches Geschlecht 4. Gender als gesellschaftlich geltende (kulturell und historisch variable) Geschlech‐ tervorstellungen 5. Semantisches (oder lexikalisches) Geschlecht als festes, inhärentes Merkmal von Bezeichnungen für Tiere und Personen, das eine Geschlechtsklasse bezeichnet, z. B. ‚weiblich‘ in Mutter, Tante, Stute und ‚männlich‘ in Vater, Onkel, Hengst (die meisten sind binär organisiert, außer Lexemen wie Hermaphrodit, Intersex-Person etc., die diese Information primärsetzen; für nonbinäre Konzepte bestehen im Deutschen Benennungslücken) <?page no="69"?> Typ 1, 2 und 5 sind innersprachliche Kategorien, Typ 3 und 4 außersprachliche. Typ 3 und 4 fassen wir beim Menschen meist als Geschlecht zusammen, während wir bei Typ 2 ausschließlich von Genus sprechen und (um die Kategorien maximal distinkt zu halten) nicht von grammatischem Geschlecht. Die meisten Menschen glauben an zwei Geschlechter und praktizieren sie hinge‐ bungsvoll. So nimmt es nicht wunder, dass dieses binäre Konzept tief in die deutsche Grammatik und Lexik eingesickert ist. Diese sedimentierten Strukturen beschreiben und analysieren wir im Folgenden. Das Genus- und das Flexionsklassensystem bilden besonders tiefe Schichten der Grammatik. Da wir ständig Substantive verwenden, die immer einem Genus und einer Flexionsklasse angehören, replizieren wir auch permanent die darin enthaltenen Geschlechterunterscheidungen und -ordnungen. Wir beginnen mit dem linguistisch eher vernachlässigten Klassifikationssystem der Deklination. Hier fragen wir nach seinen Bezügen zum grammatischen (Genus), zum menschlichen und zum tierlichen Geschlecht. Da Deklination und Genus partiell interagieren, sei schon hier vorausgeschickt, dass es einen engen Bezug zwischen semantischem (oder lexikalischem) Geschlecht und Genus gibt: Fast alle Frauenbe‐ zeichnungen sind feminin und Männerbezeichnungen maskulin. Die Nominalklassifi‐ kation der Deklination wurde bislang von der feministischen Linguistik übersehen. Da diese sprachpolitisch ausgerichtet ist, nimmt sie eher solche Phänomene in den Blick, die ‚kurier-‘ oder ‚justierbar‘ erscheinen. In diesen Bereich fallen Flexionsklassen nicht. Eine Genderlinguistik muss auch diesen unzugänglichen Bereich der Grammatik beleuchten. Denn die Grammatik bildet das Zentrum, den Stoff, der die Identität einer Sprache ausmacht. 4.2 Deklination und Geschlecht Das Deklinations- oder Flexionsklassensystem stellt eine sehr alte und gramma‐ tisch tief angelegte, eher „versteckte“ Klassifikation dar, die sich Bewusstsein und Reflexion mehr entzieht als die Genusklassifikation. Deklinationsklassen manifestieren sich subtiler: Während Genus, obwohl jedem Nomen inhärent, am Nomen selbst nicht erkennbar sein muss, dafür, umso sichtbarer, auf sog. Genusträgern wie Artikeln und Pronomen (d-er Hund: m.), wird die Zugehörigkeit zu einer Deklinationsklasse am Nomen selbst markiert, aber sehr indirekt: Sie manifestiert sich (heute) in der Art und Weise, wie Substantive nach Kasus und Numerus flektieren, genauer, welche Allomorphe (d. h. Morphemvarianten, Affixe) sie hier verwenden. Sie sitzt also auf anderen Kategorien (Numerus, Kasus) auf und verhält sich damit parasitär. Beispielsweise kann man den Plural mit -e (Hunde), -en (Menschen) oder -er (Weiber) bilden, auch kommen manchmal Umlaute hinzu (Füchse), manchmal nicht (Luchse). Außerdem gibt es Nullplurale (Lehrer) und reine Umlautplurale (Väter). Diese Verteilung ist nicht willkürlich, sondern sie folgt strikt der Dekli‐ 68 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="70"?> nationsklassenzugehörigkeit des Nomens. Das Deutsche hat (je nachdem, wie man zählt) ca. acht Deklinationsklassen, während das Englische seine Deklina‐ tionsklassen beseitigt hat; letzte Zeugen sind irreguläre Plurale vom Typ men, women, oxen, mice, feet. Im Deutschen reicht es zur Bestimmung der Deklinationsklasse aus, den Genitiv Singular und den Nominativ Plural als die beiden Leit- oder Kennformen heranzuzie‐ hen, denn die gesamte restliche Flexion ist daraus ableitbar. Dabei interagiert diese Nominalmit der Genusklassifikation, wenngleich keineswegs eng oder gar eins zu eins (s. Nübling 2008). Schließlich gibt es mehr Deklinationsklassen als Genera, und manche Deklinationsklasse beherbergt Substantive mehrerer Genera und umgekehrt. Interessanterweise teilen sich Maskulina und Neutra mehrere Deklinationsklassen, während Feminina immer eigene Klassen bilden, also (fast) nie mit Maskulina oder Neutra koalieren. Das war früher nicht so und hat sich erst in den letzten Jahrhunderten so ausdifferenziert und zugespitzt (Nübling 2008). Man spricht hier von der Entstehung einer Femininum / Nicht-Femininum-Opposition (Bittner 1994, 2003; Eisenberg 2013a). Nur die relativ junge Klasse mit s-Plural umfasst alle drei Genera (Unis, Studis, Abis), wobei die Feminina keinen s-Genitiv bilden (die Kosten der Uni-Ø) und sich insofern doch von den Maskulina und Neutra abheben. Im Folgenden umreißen wir nur einige wenige Deklinationsklassen. Die Attribute stark, schwach und gemischt beziehen sich ausschließlich auf die Form der Endungen: Schwache Flexion bedeutet n-haltige Endung sowohl im Gen.Sg. als auch im Plural (des Affe-n - die Affe-n), gemischt n-haltige Endung nur im Plural (der Frau-Ø-- die Frau-en, des Ohr-s-- die Ohr-en), stark weder n-haltige Endung im Singular noch im Plural (des Mann-es-- die Männ-er). 4.2.1 Gemischte und starke Feminina Die sog. gemischten Feminina stellen eine sehr große Deklinationsklasse dar, die fast sämtliche Feminina beherbergt. Sie bildet den Gen.Sg. mit Null und den Plural mit -(e)n: die Frau Nom / der Frau Gen / die Frau-en Pl , die Dame / der Dame / die Dame-n. Endet das Nomen auf -e [ǝ], tritt nur -n hinzu, andernfalls silbisches -en. Nicht nur diese Klasse, sondern alle Feminina verzichten heute auf jedwede Kasusmarkierung. Es existiert nur eine Singular- und eine Pluralform. Auch der Artikel (und das Personalpronomen) leistet nur eine rudimentäre Kasusmarkierung: So sind Nominativ und Akkusativ durchgehend identisch (synkretistisch), ebenso Genitiv und Dativ im Singular (Tab. 4-1). 4.2 Deklination und Geschlecht 69 <?page no="71"?> 1 Auch bei den Neutra ist Belebtheit irrelevant. Diese Kasusausdrucksdefizite beklagt Pusch (2011, 98 ff.), da diese Synkretismen das Schreiben über Frauen, die mit anderen Frauen interagieren, erheblich behin‐ dern. Sie verursachen Ambiguitäten, die sich nur mit stilistisch aufwändigen, höl‐ zern wirkenden Verfahren umschiffen lassen. Ein Beispiel ist der doppeldeutige Satz Niemand kannte sie so gut wie sie, während bei zwei (ebenfalls vorgenannten) Männern die Kasusdistinktion und damit Bezugnahme eher funktioniert: Niemand kannte er so gut wie ihn bzw. Niemand kannte ihn so gut wie er. Beim femininen Satz bleibe „völlig im Dunkeln, welche der beiden ‚sie‘ die andere so gut kennt. Ich könnte Bände erzählen über diese Problematik, die sich erst dann im vollen Maße auftut, wenn wir über Frauen schreiben wollen“ (100). Abhilfe lasse sich nur „mit dem hässlichen diese“ schaffen. - - Singular - Plural Kasus Artikel gem. Dekl. (fast alle Fem.) st. Dekl. (noch 35) Artikel gem. Dekl. st. Dekl. Nom. die Frau Tante Braut die Frauen Tanten Bräute(n Dat.) Gen. der der Dat. der den Akk. die die Tab. 4-1: Die Deklination gemischter (gem.) und starker (st.) Feminina Diese gemischte Klasse wird immer größer und hat schon fast alle Mitglieder der anderen Femininklasse, der sog. starken Klasse, übernommen, die sich - bis auf den Dat. Pl. - ebenfalls keinerlei Kasusdistinktion leistet und den Plural mit Umlaut & -e bildet: die Braut / der Braut / die Bräute (gegenwärtige Klassenwechsler sind Gruft und Flucht, die den Plural neben Grüfte, Flüchte auch schon mit Gruften, Fluchten bilden). Unter den noch verbleibenden ca. 35 starken Feminina befinden sich nicht viele Lebewesen, auch erfolgt die Räumung dieser Klasse nicht belebtheitsgesteuert (Köpcke 2000a, 2000b, 2002). Der Faktor Belebtheit - man unterscheidet hier grob zwischen ME N S CHLICH > B E L E B T > UNB E L E B T - - spielt bei den femininen Klassen keine Rolle 1 - im Gegensatz zu den maskulinen Klassen. 4.2.2 Starke Maskulina Eine andere Klasse bilden die starken Maskulina und Neutra mit s-Genitiv und e-Plural. Dabei lauten die Neutra niemals um, die Maskulina unter bestimmten Bedingungen, die 70 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="72"?> 2 Die umlautlosen Maskulina gehen auf die ahd. a-Klasse zurück, die wegen a-haltiger Endungen keinen phonologischen Umlaut auslöste (z. B. Tag / Tage). Die umlautenden Maskulina gehen auf die i-Klasse zurück, deren i-haltigen Endungen Umlaut auslösten (z. B. Gast / Gäste). Im Sg. verhielten sich beide Klassen gleich. Nach ihrem mhd. Zusammenschluss zu einer Klasse fand eine Umsortierung des Umlauts nach Frequenz und Belebtheit des Nomens statt, d. h. einige frühere Umlauter haben heute keinen mehr und umgekehrt lauten heute viele Maskulina um, die nicht aus der i-Klasse hervorgehen. Dieser neue, nichtphonologische Umlaut nennt sich tertiärer, morphologischer, funktionaler oder analogischer Umlaut. viel mit Belebtheit zu tun haben. Dies ist eine junge Entwicklung, denn diese Maskulina speisen sich aus ursprünglich zwei Klassen im Ahd. (die Neutra traten erst später bei). 2 Bei den Maskulina hat anschließend (seit dem Mhd.) eine Umsortierung nach Belebtheit stattgefunden: Maskulina mit menschlichem bzw. belebtem Denotat (Ärzte, Äbte, Generäle, Füchse, Frösche, Wölfe) haben eine ungleich höhere Wahrscheinlichkeit umzulauten als solche mit unbelebtem Denotat (Tage, Farne, Gutturale, Busse, Monde, Dolche). Doppeldeutiges Bund zeigt schön, dass zur Bezeichnung von Menschengrup‐ pen (Geheimbünde, Staatenbünde) Umlaut eintritt, nicht aber von Objektbezeichnungen (Schlüsselbunde). Köpcke (1994) hat von allen einsilbigen Maskulina dieser Klasse (940 Types) die umlautfähigen (400) herausgegriffen (d. h. solche mit a, o, u oder au als Wurzelvokal), um zu erfahren, ob und wann Umlaut ausgelöst wird. Von diesen 400 lauten 48 % um. Dabei steuert eine sog. „anthropozentrische Weltsicht“ (ebd., 83) das Umlautverhalten: Menschen(gruppen) lauten zu 79 % um (Ärzte, Päpste, Köche), Säugetiere zu 66 % (Füchse, Wölfe), Vögel zu 44 % (Hähne, Käuze), Fische, Reptilien, Amphibien und Insekten nur zu 14 % (Frösche) und Pflanzen (Bäume) zu 9 %. Mit der Nähe zum Menschen nimmt also der Pluralumlaut zu. Da Frauen unter den Maskulina nicht vorkommen, kann man auch sagen: Mit der Nähe zum Mann nimmt der Pluralumlaut zu, es liegt weniger eine anthropozentrische als eine androzentrische Weltsicht vor. Die seltenen (ca. 35) Feminina mit Umlaut im Plural spezialisieren sich nicht auf Frauen (sondern auf rein phonologische Merkmale des Nomens, Köpcke 2000b, 158 f.; Nübling 2008, 304). Interessanterweise befinden sich unter den 21 % der nicht-umlautenden Menschenbzw. Männerbezeichnungen solche, die negative oder nicht ernstzunehmende, ehr‐ lose Gestalten bezeichnen: Schufte, Strolche, Protze, Prolle, Schalke, Trolle, Faune. ‚Ehrenhafte‘, d. h. sozial anerkannte und einflussreiche, handlungsmächtige (agentive) Männer wurden dagegen im Laufe der Sprachgeschichte durch analogischen Umlaut erhöht (Salienzzuwachs): Päpste, Äbte, Ärzte, Pröbste, Vögte, Herzöge, Köche, Räte. Dies zeigt: Belebtheit, Geschlecht, soziales Prestige und Handlungsmacht sind Hu‐ mankategorien, die tief in die Organisation von Flexionssystemen diffundiert sind und so häufig wie subtil reaktiviert werden. Deklinationsklassen erweisen sich als Speicher sozialer Verhältnisse (dabei durchaus historischer, siehe die an der sozialen Spitze stehende Geistlichkeit) und gleichzeitig als wirkungsvolle Repro‐ duzenten derselben. Wahrscheinlich haben die Neutra an dieser Umlautklasse des‐ 4.2 Deklination und Geschlecht 71 <?page no="73"?> wegen keinen Anteil, weil Neutra fast keine Lebewesen bzw., noch konsequenter, keine Männer bezeichnen. Darauf kommen wir in Kap. 4.3.6 ausführlich zurück. 4.2.3 Schwache Maskulina Genderlinguistisch ebenfalls aussagekräftig ist die Klasse der sog. schwachen Masku‐ lina. Diese umfasste ursprünglich (im Ahd. und Mhd.) zahlreiche Maskulina unter‐ schiedlichster Bedeutung. Sie bilden alle Formen des Paradigmas mit -(e)n außer im Nominativ Singular: der Mensch / des Menschen / die Menschen, der Kunde / des Kunden / die Kunden. Der stabilste Prototyp, der sogar noch Neuzuwächse erfährt (z. B. durch Partizipien wie der Angestellte, Behinderte, Arbeitslose), besteht aus drei- oder zweisilbigen Nominativen auf -e mit Betonung der vorletzten Silbe, also (x)X-e (Typ Matróse, Gesélle, Bóte, Schimpánse, Áffe), wobei speziell Männerlexeme die Stabilität und Produktivität maximieren. Ursprünglich war die Klasse semantisch bunt gemischt, s. mhd. der brunne, balke, schade, schwane, storche, mensche, s(ch)lange etc. Erst später hat sie sich auf männliche Lebewesen spezialisiert - und sich nach und nach der unbelebten, später auch der schwach belebten Mitglieder entledigt (Köpcke 1993, 1995). Für die unbelebten Maskulina (Objekte und Abstrakta) wurde sogar eine eigene (starke) Deklinationsklasse geschaffen: Deren Mitglieder haben auch im Nom.Sg. ein festes -n angenommen und im Gen.Sg. ein -s, womit der Plural formal mit dem Singular identisch ist (s. der Brunnen / des Brunnens / die Brunnen), wenn nicht sekundär-analogisch ein morphologischer Umlaut angenommen wurde (der Schaden / des Schadens / die Schäden). Damit wird bei den unbelebten Maskulina bis auf den Gen.Sg. keinerlei Kasus mehr unterschieden (Tab. 4-2). - - - schwache Kl. (Mhd.) > starke n-Klasse (Nhd.) Singular Nom. der brunne - Brunnen Gen. des brunne-n - Brunnen-s Dat. dem brunne-n - Brunnen Akk. den brunne-n - Brunnen Plural Nom.-Akk. die etc. brunne-n - Brunnen Tab. 4-2: Der Übergang unbelebter Maskulina von der schwachen in die starke n-Klasse Während die Inanimata in diese starke n-Klasse ausgewandert sind (Brunnen, Kuchen, Lumpen, Balken, Laden), haben schwach belebte Objekte wie Pflanzen, Insekten, Fische und Reptilien ihr Genus gewechselt (z. B. Schlange, Schnecke, Kresse, Traube): Sie wurden zu Feminina umkategorisiert und sind damit in die gemischte Klasse überge‐ gangen, die keinerlei Kasusunterscheidung leistet (Tab. 4-1), auch kaum am Artikel (die Schnecke / der Schnecke / die Schnecken), s. Köpcke (2000a). Stärker belebte, dem 72 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="74"?> 3 Bei diesem Prozess spielen auch prosodische und phonologische Faktoren eine Rolle, denn Trochäen mit auslautendem Schwa verzögern das Verlassen dieser Klasse (z. B. Rábe). Für den Verbleib am wichtigsten ist jedoch Belebtheit bzw. Menschlichkeit (s. Köpcke 1993, 1995). Menschen näherstehende Tiere wie Vögel sind zwar bei den Maskulina verblieben, aber in die starke Klasse ausgewandert-- und haben hier i. d. R. den Umlaut angenommen, da sie ja belebt sind: die Hahnen (schwach) > die Hähne (stark), Schwanen > Schwäne, Storchen > Störche. Auch Herzog (< mhd. herzoge) war einmal schwach, hat sich aber zu den Päpsten, Äbten und Pröbsten der starken Maskulina gesellt (die Herzogen > Herzöge). Derzeit schwanken Fink, Greif, Pfau und Bär (u. a. erkennbar am variierenden Gen.Sg.: des Greifen / des Greifs). 3 Das bedeutet, die Klasse der schwachen Maskulina spezialisiert sich immer mehr auf den männlichen und menschlichen Prototyp, die diachron immer enger gezogene Grenze schließt aktuell Vögel und bereits einige Säugetiere aus. Damit scheinen sich die schwachen Maskulina zu einer exklusiven Männerklasse zu entwickeln. Einige schwache Maskulina im unteren Belebtheitsbereich schwanken bis heute in Genus und Flexion (der Makak / die Makake; der Kakerlak / die Kaker‐ lake; der Mull / die Mulle), teilweise sogar zwischen zwei Genera und drei Klassen (wobei die jeweils erstgenannte am ungebräuchlichsten ist): der Kraken, der Krake, die Krake - der Socke, der Socken, die Socke - der Hode, der Hoden, die Hode. Man erkennt, dass die Feminina die phonologische Struktur des trochäi‐ schen Zweisilbers auf -e [ə] kultivieren, während die Maskulina entweder auf -en (Kraken) enden oder auf Konsonant und Akzent (Makák). Wortspielerisch kommt es zu Bildungen wie der Hyän zu die Hyäne, was zeigt, dass dieses Muster pro‐ duktiv ist. 4.2.4 Deklinationsunterschiede als sedimentierte Geschlechterrollen Fragt man nach der Ratio der hier behandelten Klassen und insbesondere der Attrak‐ tivität der schwachen Maskulina für Männerbezeichnungen, so findet man die Antwort in der materiellen Kasus- und damit Rollenanzeige. Einzig die schwachen Maskulina praktizieren im Singular einen flexivischen Unterschied zwischen Nominativ und Akkusativ, indem (der) Bote gegen (den) Boten opponiert. Historisch (im Ahd. und Mhd.) gehörten auch sehr viele Feminina dieser schwachen Klasse an (womit Masku‐ lina und Feminina in einer Klasse vereint waren), d. h. diese Feminina flektierten damals ebenso wie die Maskulina heute, also mit Nullendung im Nominativ und mit n-Endung im Nichtnominativ (s. Relikte wie auf Erden oder von Seiten). Noch bei Luther flektierte Erde im Singular wie folgt: die Erde Nom vs. der Erden Gen / Dat / die Erden Akk . Tab. 4-3 zeigt das Singularparadigma eines nhd. schwachen Maskulinums 4.2 Deklination und Geschlecht 73 <?page no="75"?> und eines gemischten Femininums. Deutlich wird außerdem, wie stark der Artikel in den Kasusausdruck eingebunden ist - auch dies bei den Maskulina stärker als bei den Feminina. Der (unmarkierte) Nominativ bezeichnet i. d. R. das Agens, d. h. den Auslöser / Aus‐ führer einer Handlung, während die (markierten) n-Formen den Mann als Rezipienten (Dativ) oder als Patiens (Akkusativ) ausweist (der Genitiv zeigt Zugehörigkeit oder Besitz an). Die unterschiedliche formale Markierung ist dabei nicht zufällig, sondern zeigt an, dass der grammatische Normalfall den Mann als Agens einer Handlung und nicht als Patiens vorsieht. Auch das Polnische ist dafür bekannt, nur bei belebten Maskulina eine flexivische Nom. / Akk.-Opposition zu praktizieren, z. B. kot Nom vs. kota Akk ‚Katze‘, aber dom Nom=Akk ‚Haus‘. In der Romania (v. a. Spanisch) ist die sog. differenzielle Objektmarkierung, eine präpositionale Markierung belebter Objekte, verbreitet; davon sind jedoch Maskulina wie Feminina betroffen (die Neutra sind abgebaut). Zentral ist hier die + / - Agens-Information, die der Hörerin sofort signalisiert, ob der vom Nomen bezeichnete Mann die Handlung selbst steuert und ausführt oder ob er von ihr betroffen (affiziert) und ihr damit ausgeliefert ist. Wie stark die Agentivität insgesamt ausgeprägt ist, hängt auch von der Dynamik der Handlung und dem Ausmaß ab, in dem das Agens sie steuert, sowie von der Zahl der (womöglich belebten) Objekte, die von dieser Handlung affiziert werden (sie friert - hustet - spricht - beendet das Gespräch-- gibt ihnen drei Euro-- rettet zehn Patienten das Leben). Kasus prototyp. sem. Rolle Artikel sw. Mask. Artikel gem. Fem. Nom. Agens der Bote die Dame Gen. Possessor des Bote-n der Dat. Rezipient dem der Akk. Patiens den die Tab. 4-3: Die nhd. Kasusflexion im Singular schwacher (sw.) Maskulina und gemischter (gem.) Feminina Generell ist eine Nom. / Akk.-Distinktion bei Animata sinnvoll, weil typischerweise belebte Objekte Handlungen ausführen (Agens), aber auch Ziel einer Handlung sein können (Patiens): Ob jemand transferiert / operiert / tötet oder ob jemand transfe‐ riert / operiert / getötet wird, ist von höchster Relevanz. Unbelebte Objekte kommen dagegen typischerweise in der Patiensposition vor, sie steuern selten eine Aktion. Seit jeher bezeichnen Neutra äußerst selten Menschen (zu Mädchen und Weib s. Kap. 4.3.6), was erklärt, weshalb sich viele indoeuropäische Sprachen hier einen (alten) Nom. / Akk.-Synkretismus (Formgleichheit) leisten, vgl. nhd. Nom. = Akk bei es / es, das Schwein / das Schwein. Auch das unbelebte Fragepronomen was, das ein altes Neutrum fortsetzt, zeigt diesen Synkretismus (was Nom läuft da? was Akk hast du gesehen? ), 74 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="76"?> 4 Auf die alte Femininform geht heutiges wie zurück. während maskulines, belebtes wer hier differenziert (wer Nom läuft da? wen Akk hast du gesehen? ). 4 Feminina hatten an der Nom. / Akk.-Distinktion ursprünglich auch teil, vgl. ahd. siu ‚sie‘ (Nom.) vs. sia ‚sie‘ (Akk.), diu zunga (Nom.) vs. dia zungūn (Akk.). Im späten Mhd. wurde diese systematische Distinktion ([dy: ] vs. [diǝ] etc.) jedoch aufgegeben - ob phonologisch oder morphologisch motiviert, ist umstritten, denn im Fall von mhd. s[y: ] (Nom.) vs. s[iǝ] (Akk.) kamen auch betonte Formen vor, die eine solche phonologische Differenzierung hätten konservieren können. Andere vertreten die Ansicht, dass mhd. / fnhd. sie, die den alten Akk. fortsetzt (zu dieser Diskussion s. Krifka 2009), die Einheitsform also morphologisch motiviert sei. It remains a problem, for either explanation, why the animates, among the feminines, did not build up sufficient resistance against this development, if the case distinction had a high functional load for them. (Krifka 2009, 153) Die deutsche Sprachgeschichte kennt durchaus Beispiele für morphologischen Wi‐ derstand gegen lautgesetzlichen Sprachwandel (so erfasst die e-Apokope zwar den Dat.Sg., nicht aber den Plural, s. dem Tag(e) vs. die Tag-e). Hier wurde jedoch eine wichtige Distinktion aufgegeben, die bei femininen Nomen (worunter sich die meisten Frauenbezeichnungen befinden) auf die Information Agens vs. Patiens verzichtet. Dass auch die feminine gemischte Flexionsklasse im Frühnhd. sämtliche Kasus aufgegeben hat, wurde bereits gesagt (Reste: mit Muttern, ich habe Muttern gesehen). Hierbei handelt es sich um keinen phonologischen (es gibt keinen n-Schwund), sondern um einen morphologischen Prozess. Krifka (2009) erklärt diese Kasusnivellierung mit der historischen Ungleichbewertung der Geschlechter, wo Frauen daran gehindert wurden, Handlungsträgerschaft zu übernehmen und damit in Agensrollen zu treten. Dieser Sexismus habe sich in die Grammatik eingefräst: One possible reason why the functional load of case distinction might have been less prominent with feminines than with masculines is that female referents are lower on the (linguistic) animacy scale than male referents. This might be an effect of a sexist speech community, or a sexist perception within the speech community, in which females are less likely to resume the agent role. There is little doubt that sexism is behind the so-called generic use of the masculine gender, as in someone left his lipstick in the bathroom, and the generic use of expressions like chairman. […] Case syncretism in feminine nouns would then be nothing else than another case of built-in sexism of language. (153 f.) This finding [keine Nom. / Akk.-Unterscheidung bei Feminina] can be interpreted straight‐ forwardly as evidence of a sexist society in which the denotation of feminine NPs occur less frequently in the agent role than the denotation objects of masculines; the need to distinguish agent and patient would then be less pressing for feminines. (165) 4.2 Deklination und Geschlecht 75 <?page no="77"?> 5 Genauer: Sie hatten im Singular keine monofunktionale Genitivendung (diese Endung hat im Ahd. meist den Dativ mitmarkiert), aber im Plural, z. B. ahd. Gen.Pl. zung-ōno ‚(der) Zungen‘. Schließlich muss man auch einen Blick auf die Genitivmarkierung werfen: Auch hier gilt, dass Feminina früher eine hatten, heute aber nicht mehr. 5 Auch der mit dem Dativ synkretistische (homophone) Artikel der (Singular) trägt dazu wenig bei. Tab. 4-3 ist zu entnehmen, dass der Genitiv typischerweise die Possessor-Rolle markiert, also i. d. R. eine Person, die etwas oder jemanden besitzt (Besitzrelation) oder der etwas oder jemand (zu)gehört (Zugehörigkeitsrelation). Damit ist der Possessor eine mächtige Instanz, die über etwas oder jemanden verfügt. Alle Maskulina (und Neutra) markieren den Genitiv sehr salient, nämlich im Singular (heute oft als noch einzigen Kasus) über -(e)s: des Mann-(e)s, des Lehrer-s, des Hund-es. Dieses Genitiv-s ist stabil und tritt auch an Fremdwörter. Auch der Artikel des markiert monofunktional (d. h. mit hoher Signalstärke) Genitiv Singular bei Maskulina und Neutra. Innerhalb der Familie werden und wurden Zugehörigkeiten über Genitivkonstruktionen mitgeteilt, wobei hier fast nur Väter und Ehemänner als Possessoren auftreten, manchmal auch Berufsausübende (Pfarrers Kinder, Müllers Vieh …). Dialektal sind solche Possessivkonstruktionen wie (s) Meiers Grete noch erhalten (Kap. 9.3). In welchem Ausmaß früher Männer häufiger als Frauen die Possessorposition innehatten bzw. noch heute besetzen, ist nicht bekannt und ein weiteres offenes Thema. Auch die Dativmarkierung erfolgt wenn, dann bei Maskulina und Neutra, aber nicht (mehr) bei Feminina. Allerdings wird sie in ihrer Form als -e kaum noch verwendet (dem Mann(e), im Wald(e)). Weitere Evidenz dafür, dass Bezeichnungen für Frauen tiefer auf der (sozial indu‐ zierten) Animatizitätsskala liegen als solche für Männer, wurde bereits genannt: Bei der Räumung der schwachen Maskulinklasse wurden unbelebte Entitäten in die neue n-Klasse überführt, schwach belebte (Pflanzen, Fische, Insekten etc.) dagegen zu den Feminina umsortiert. Stärker belebte, aber nicht-humane Lebewesen (Vögel, Säuger) bleiben Maskulina und wandern in andere Flexions-, aber eben nicht Genusklassen ab. Wie das Verhältnis zwischen Flexions- und Genusklassifikation genau beschaffen ist, wie es sich diachron wandelt und welche Hinweise auf (historische) Geschlechterord‐ nungen es uns liefert, ist noch unzureichend erforscht und verstanden. Das gesamte Flexionsklassensystem ist durchzogen von unterschiedlichen Ka‐ susdistinktionen und -markierungen und getränkt mit Geschlechtersegregation und Geschlechterrollen, die allesamt darauf hinweisen, dass Männer mächtigere, einflussreichere Rollen und Positionen innehaben als Frauen. Seit vielen Jahrhun‐ derten bis heute tradieren und verändern wir (unbewusst) dieses Klassifikations‐ system über Sprachwandel. Nur in Gestalt sog. Zweifelsfälle - synchrone Varianten (wie des Bärs / des Bären) als Ausdruck von Sprachwandel - durchbricht es die Wahrnehmungsschwelle, indem man aktuelle Umklassifizierungen zu greifen be‐ kommt. Die Ratio dahinter hat jedoch viel und diachron zunehmend mit Belebtheit, 76 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="78"?> Geschlecht, Geschlechterordnung und Bewertungen zu tun, die sich grosso modo in der Abgrenzung des agentiven Mannes von Tieren, Frauen und Gegenständen manifestiert, aber auch zu verachteten Männern (s. Nübling 2019a, 2020a, 2020b). Ein empfehlenswerter Aufsatz, der sich mit russischen Deklinationsklassen und der durch sie manifest werdenden Geschlechterordnung befasst, ist „How perva‐ sive are sexist ideologies in grammar? “ von Nesset (2001). 4.3 Genus und Geschlecht Genus ist ein jedem Substantiv inhärenter Klassifikator, dem selbst keine Semantik (Bedeutung) zukommt. Die Tafel hat nichts Weibliches an sich ebensowenig wie der Stuhl etwas Männliches, und das Fenster ist nicht ‚sächlicher‘ als die beiden anderen Objekte. Genus trägt (in aller Regel) nichts zur Bedeutung des Substantivs bei (außer beim sog. Differentialgenus, s. Kap. 4.3.2, 6.1, 6.5). Deshalb kommen Sprachen gut ohne Nominalgenus aus (man betrachte nur das Englische, Türkische, Finnische). Umgekehrt kann aber Genus mit einiger Wahrscheinlichkeit aus der Bedeutung des Substantivs abgeleitet werden (die sog. Genuszuweisung erfolgt dann semantisch): Substantive, die Frauen bezeichnen, haben eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, feminin zu sein - und solche, die Männer bezeichnen, maskulin (semantisches Geschlecht). Dabei drücken Frau, Tante, Nachbarin, Nonne bereits als Lexeme ‚weibliches Geschlecht‘ aus, ihr feminines Genus macht sie nicht weiblicher (umgekehrt ebenso bei Männerbezeich‐ nungen). Genus dockt also an die Bedeutung (Semantik) des Substantivs an und wird dadurch beherrschbarer. Es gibt ein paar weitere semantische Zuweisungsprinzipien, z. B. sind Früchte fast ausnahmslos feminin (die Pflaume, Mango, Ananas), Alkoholika sind oft maskulin (der Wein, Whiskey, Amarula), Stoffe und Flüssigkeiten oft neutral (das Eisen, Erz, Wasser, Blut). Dieses Kapitel befasst sich eingehend mit solchen Bezügen zwischen (grammatischem) Genus und (sozialem und biologischem) Geschlecht. Da auch viele Tierbezeichnungen dem sog. Genus-Sexus-Prinzip unterliegen, werden wir die biologische Kategorie Sexus nicht verwerfen. Auch die meisten Menschen identifizieren sich mit ihrem biologischen Geschlecht und sind insofern Weibchen und Männchen. Was sie durch mehr oder weniger hingebungsvolles doing gender daraus machen bzw. darauf aufsatteln, macht sie zu (eher mehr als weniger eindeutigen) Frauen und Männern (Hirschauer 1989). 4.3.1 Genussysteme und Genuszuweisung Alle Substantive im Deutschen enthalten ein festes Genus. Die indoeuropäischen Sprachen unterscheiden maximal drei Genera: Femininum, Maskulinum und Neutrum (zu Genussprachen weltweit s. den Überblick in WALS 2013 und Corbett 1991). Keinem dieser drei Genera kommt eine feste Bedeutung zu, so dass man sagen könnte: Alle Neutra (oder alle Feminina, alle Maskulina) haben eine bestimmte Funktion oder teilen 4.3 Genus und Geschlecht 77 <?page no="79"?> 6 Zur Geschichte der Sexualisierung von Genus in der Sprachwissenschaft s. Bußmann (1995). 7 Damit lässt sich ein Ur- oder Frühzustand von Genus rekonstruieren noch ohne Verweis auf Geschlecht. Hier kann man beobachten, wie ein grammatisches Verfahren zur Geschlechtsdifferen‐ zierung entsteht, wie also Geschlecht in die Sprache kommt (Hirschauer 2003). sich ein bestimmtes semantisches Merkmal. Als wichtigste Bedingung gilt, dass ihre Begleitwörter (Artikel, Pronomen, Adjektive) dieses Genus anzeigen (sog. Kongruenz). Die Genus-Definition von Hockett (1958) lautet: “Genders are classes of nouns reflected in the behavior of associated words” (231). Beim Genus handelt es sich zunächst nur um eine Nominalklassifikation um ihrer selbst willen, die aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine vor mehreren Jahrtausenden geltende quantifizierende und / oder qualifizierende Funktion zurückgeht, über die bis heute kein fester Konsens besteht. Vermutlich gab es im Urindogermanischen nur zwei Genera, das Maskulinum für belebte und unbelebte, zählbare Objekte (Individuativa) und das Neutrum für unbelebte Objekte, Handlungen und ihre Resultate (vgl. heute noch das Rauchen); es scheint aus dem Akkusativ alter Maskulina hervorzugehen bei Wörtern, die so oft als Patiens auftraten, dass ihr Akk. (s. lat. -um) zum neuen Nominativ wurde (weshalb Scholten 2017, 106, sie als sog. m-Wörter bezeichnet), z. B. lat. iugum (n.) ‚Joch‘ als ‚das Gezogene‘, ebenso verbum ‚Wort‘ < ‚das Gesagte‘, factum < ‚das Gemachte‘. Sie stehen so selten im ‚Agenskasus‘ Nominativ, dass sie sich von alters her keine formale Unterscheidung zwischen Nominativ und Akkusativ leisten (sog. Synkretismus, vgl. noch heute nhd. es / es, das / das). Das Hethitische reflektiert dieses alte Zweigenussystem. Erst sehr viel später hat sich im Gemeinindogermanischen aus Kollektiv- und Abstraktbildungen (im Sg.) ein Femininum entwickelt; noch heute sind im Deutschen sehr viele Kollektiva (die Reiserei, die Kundschaft) und Abstrakta feminin, z. B. die Liebe, Kunst und alle Wörter auf -heit oder -(ig)keit (die Weisheit, Seligkeit) (Leiss 1994; Scholten 2017; Werner 2012, 2017). 6 Die (weibliche) Personifizierung solcher Abstrakta könnte dazu geführt haben, dass das Femininum immer mehr mit weiblichen Lebewesen assoziiert wurde (vgl. dort läuft eine Schönheit). Dass es ein Stadium gab, in dem Substantive je nach Perspektivierung in allen drei Genera auftreten konnten (so wie sie heute in vier Kasus und zwei Numeri auftreten können), wird angenommen. Wichtig ist, dass die zwei bzw. drei Genera ursprünglich nichts mit Geschlecht zu tun hatten. 7 Vielmehr hat sich erst sehr spät „ein jüngeres, durch das natürliche Geschlecht bestimmter Designata [Referenzobjekte] motiviertes Genussystem“ über ein „älteres Genussystem, in dem das natürliche Geschlecht als Unterscheidungsmerkmal unberücksichtigt blieb“ (Fritz 1998, 255), gelagert. Damit stellt der Verweis von Genus auf Geschlecht die sekundäre Nutzung (Exaptation) eines alten, semantisch obsolet gewordenen Genussystems dar. Auch wenn Genus ursprünglich nichts mit Geschlecht zu tun hatte, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass heute enge und produktive Genus-Sexus-Verschränkungen bestehen, am augenfälligsten bei der Genuszuweisung von (per se genuslosen) Angli‐ zismen (die Queen, der King) und beim sog. Differentialgenus substantivierter Adjektive und Partizipien (die / der Alte, die / der Angestellte). 78 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="80"?> 8 Pronomina konservieren in aller Regel die drei Genera, weil sie als suppletive Formen einander extrem unähnlich sind, lautlich also (ungleich den Artikeln) nicht von Zusammenfall bedroht sind. Deshalb werden sie sekundär funktionalisiert, indem sie mit den wichtigsten Unterscheidungen Belebtheit und Geschlecht aufgeladen werden. Manche germanischen Sprachen haben alle drei Genera erhalten. Neben Deutsch gehören dazu Luxemburgisch, Jiddisch, Ost- und teilweise Nordfriesisch, Färöisch und Isländisch. Andere haben nur zwei Genera, meist ein Neutrum und ein sog. Utrum, entstan‐ den aus dem (lautlich motivierten) Zusammenfall von Femininum und Maskulinum. Dazu gehören Niederländisch, Westfriesisch, Dänisch und Schwedisch. Englisch und Afrikaans haben gar kein Nominalgenus mehr. Dies sind gravierende Unterschiede, die erklären, weshalb Deutsch und Englisch oder Schwedisch bzgl. des Ausdrucks von Geschlecht nicht zu vergleichen sind, auch wenn dies immer wieder gerne getan wird. Alle germanischen Sprachen unterscheiden jedoch bei den Pronomina 8 drei Genera: nhd. er, sie, es - nl. hij, zij, het - engl. he, she, it. Das Schwedische hat sogar vier Genera ausgebildet: schwed. han [männl., belebt], hon [weibl., belebt], det [Neutrum, unbelebt], den [Utrum, unbelebt]. In den Sprachen mit reduziertem und v. a. denen ohne Nominalgenus beziehen sich die maskulinen Pronomina auf Männer, Jungen und teilweise auch männliche Nutz- und Haustiere, die femininen auf Frauen, Mädchen und evt. weibliche Nutz- und Haustiere, während das neutrale Pronomen auf Unbelebtes referiert - und nicht etwa auf Menschen unbekannten oder nonbinären Geschlechts: Nl. het, engl. it und schwed. det können sich nicht auf Menschen beziehen, sondern nur auf sog. Inanimata (unbelebte Objekte). Das heißt, ihre von der Kongruenz mit dem Nominalgenus sich entkoppelnden bzw. bereits entkoppelten Pronomina wurden reanalysiert und refunktionalisiert, indem sie in den Dienst der Belebtheitsanzeige gestellt wurden (he / she vs. it) und im Fall der beiden belebten Pronomen zwei Geschlechter bezeichnen, weiblich (wl.) und männlich (ml.). Im Prinzip verhalten sich Possessivpronomen ähnlich (engl. his (ml.), her (wl.), its (unbelebt) - schwed. hans (ml.), hennes (wl.), dess (unbelebt). In Zweigenussprachen wie Niederländisch und Schwedisch kommt es zu zusätzlichen (hier irrelevanten) Entwicklungen im Pronominalsystem (s. Audring 2010). Ganz anders verhält es sich in Dreigenus-Sprachen wie dem Deutschen, wo er, sie, es in aller Regel das Genus des Nomens, auf das sie verweisen, aufgreifen (Kongruenz) und sich damit alle drei Genera sowohl auf Belebtes als auch auf Unbelebtes beziehen können. Man spricht hier von grammatischer Kongruenz: - Maskulinum Femininum Neutrum - belebt: der Durst er die Wurst sie das Maß es + belebt: der Mann (ml.) er die Frau (wl.) sie das Kind (ml. / wl.) es Tab. 4-4: Grammatische Kongruenz in der Dreigenusspache Deutsch 4.3 Genus und Geschlecht 79 <?page no="81"?> Zu unterscheiden sind also die drei Genera Femininum (f), Maskulinum (m) und Neutrum (n) und die zwei großen Geschlechtsklassen weiblich (wl) und männlich (ml). Hier besteht eine zahlenmäßige Asymmetrie, die noch von Interesse sein wird. Nonbinäre Geschlechtsklassen werden grammatisch nicht abgebildet, weder vom Genussystem noch von den Pronomen (zu Initiativen, ein viertes Genus zu kreieren, s. Kap. 6.2.2.3). Abgesehen von der Geschlechtskennzeichnung leisten Pronomen auch eine Belebtheitsanzeige. Belebt - egal welchen Geschlechts - wird mit „+ bel.“ abgekürzt, unbelebt mit „- bel.“. 4.3.2 Das Genus-Sexus-Prinzip Ähnlich wie sich eine strikte Geschlechtsbinarität nicht aufrechterhalten lässt, handelt es sich auch bei ‚+ / - belebt‘ nicht um eine Dichotomie: Menschen und Götter werden als belebter wahrgenommen als Säuge- und Kuscheltiere, diese wiederum mehr als Quallen, Pflanzen, Steine oder Hohlmaße. In der Linguistik hat sich die in Abb. 4-1 skizzierte sog. Belebtheits- oder Animatizitätshierarchie bewährt, die zahlreiche grammatische und lexikalische Strukturen zu erklären in der Lage ist. 72 Zu unterscheiden sind also die drei Genera Femininum (f), Maskulinum (m) und Neutrum (n) und die zwei großen Geschlechtsklassen weiblich (wl) und männlich (ml). Hier besteht eine zahlenmäßige Asymmetrie, die noch von Interesse sein wird. Abgesehen von der Geschlechtskennzeichnung leisten Pronomen auch eine Belebtheitsanzeige. Belebt - egal welchen Geschlechts - wird mit „+ bel.“ abgekürzt, unbelebt mit „- bel.“. 4.2.2. Das Genus-Sexus-Prinzip Ähnlich wie sich eine strikte Geschlechtsbinarität nicht aufrechterhalten lässt, handelt es sich auch bei ‚+/ - belebt‘ nicht um eine Dichotomie: Menschen und Götter werden als belebter wahrgenommen als Säuge- und Kuscheltiere, diese wiederum mehr als Quallen, Pflanzen, Steine oder Hohlmaße. In der Linguistik hat sich die in Abb. 4-1 skizzierte sog. Belebtheits- oder Animatizitätshierarchie bewährt, die zahlreiche grammatische und lexikalische Strukturen zu erklären in der Lage ist. Abb. 4-1: Die Belebtheits- oder Animatizitätshierarchie Diese Belebtheitshierarchie ist anthropozentrisch organisiert, d.h., sie speist sich primär aus der Ähnlichkeit uns umgebender Entitäten zu uns selbst (Ego). Deshalb sind Verwandte für uns belebter als andere Menschen. Da hierbei auch Agentivität und Individualität eine Rolle spielen, sind handlungsmächtige Personen wie Kanzlerinnen, Präsidenten, Politikerinnen oder Kleriker belebter als weniger agentive. Alles, was einen Namen trägt, weist ebenfalls einen hohen Belebtheitsgrad auf, v.a. dann, wenn der Referent menschlich ist (Lena). Selbstverständlich sind auch fiktive Gestalten und Artefakte, denen wir Agentivität (Götter, Helden) oder Persönlichkeit verleihen (Stofftiere, Puppen), ebenfalls als hochbelebt anzusehen. Auch Körperteile gehören dazu. ANIMAT INANIMAT ……………… ich, du, sie, Mutti Mutter, Frau Hund, Spinne Eiche Buch Salz Freude wir … Lena Bruder, Mann Bär, Aal Lilie Berg Essig Lauf, Stille Abb. 4-1: Die Belebtheits- oder Animatizitätshierarchie Diese Belebtheitshierarchie ist anthropozentrisch organisiert, d. h., sie speist sich primär aus der Ähnlichkeit uns umgebender Entitäten zu uns selbst (Ego). Deshalb sind Verwandte belebter als andere Menschen. Da hierbei auch Agentivität und Individualität eine Rolle spielen, sind handlungsmächtige Personen wie Kanzlerinnen, Präsidenten, Politikerinnen oder Kleriker belebter als weniger agentive. Alles, was einen Namen trägt, weist ebenfalls einen hohen Belebtheitsgrad auf, v. a. dann, wenn der Referent menschlich ist (Lena). Auch fiktive Gestalten und Artefakte, denen wir Agentivität (Götter, Helden) oder Persönlichkeit verleihen (Stofftiere, Puppen), sind als hochbelebt anzusehen. Körperteile gehören ebenfalls dazu. Bei den Tieren unterscheiden wir abermals nach Ähnlichkeit zu uns. Dies macht Säugetiere für uns belebter als Fische oder Insekten. Es folgen die schwach belebten, fortbewegungsunfähigen Pflanzen, danach inanimate, aber noch konturierte und damit 80 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="82"?> zählbare Gegenstände, dann nicht-konturierte, nicht-zählbare Stoffe und schließlich immaterielle Konzepte, die i. d. R. durch Abstrakta versprachlicht werden. Die Zusammenhänge zwischen Genus und Geschlecht sind bei genauerem Hinsehen komplex, doch gilt als die verlässlichste und produktivste (d. h. auch bei lexikalischen Neuzugängen wirksame) Regel, dass Bezeichnungen für weibliche Menschen feminin und solche für männliche maskulin sind. Es gibt kein anderes semantisches Genuszu‐ weisungsprinzip von solch hohem Geltungsgrad. Die linguistische Genusforschung spricht hier vom Genus-Sexus-Prinzip. Dieses Faktum ist umso bemerkenswerter, als die ursprüngliche Funktion der Genera ja nicht in der Anzeige von Geschlecht bestand. Dass aber Genus in vielen indoeuropäischen Sprachen an Geschlecht gekoppelt wurde, zeigt, dass es ein Bedürfnis gibt, Geschlecht im Genussystem und damit tief in der Grammatik zu verankern. Die Prinzipien der Genuszuweisung im Deutschen gliedern sich in formale und semantische, die Köpcke / Zubin (1984, 1996, 2009) beschreiben. So haben Einsilber eine hohe Wahrscheinlichkeit, maskulin zu sein (Stein, Job) und Trochäen, feminin zu sein (Kanne, Gruppe). Wichtiger ist das morphologische Letztglied-Prinzip, bei dem das letzte Morphem das Genus der gesamten Wortbildung diktiert; bspw. ge‐ nerieren die Diminutivsuffixe -chen und -lein Neutra und überschreiben damit das Genus der Basis: der Mann - das Männchen, die Mutter - das Mütterchen. Unter die semantischen Prinzipien i. w. S. fasst man alle nicht-formalen Prinzipien (die nicht dem materiellen Wortkörper entnehmbar sind): 1. das referenzielle Prinzip, wo der konkrete Referent Genus zuweist (gilt bei Eigennamen, vgl. die Adler als Schiffsvs. das Adler als Biername; s. Fahlbusch / Nübling 2014); 2. das pragmatische Prinzip, wo Beziehung Genus zuweist (z. B. das Anna für eine Nähe- und die Anna für eine Distanzbeziehung zwischen SprecherIn und Frau; Kap. 9.3); 3. das semantische Prinzip i. e. S., wo die lexikalische Bedeutung eines Lexems Genus zuweist. Am stärksten evozieren vergeschlechtlichte Personen- oder Tierbezeichnungen ein bestimmtes Genus („Genus-Sexus-Prinzip“ z. B. der Vater, die Mutter, der Hengst, die Stute). Auch Lexeme für Früchte steuern Genus, nämlich das Femininum (die Mango, Ananas, Kiwi etc. - Ausnahmen: Apfel und Pfirsich). Da Genus an Kongruenz gebunden ist, zieht es sich oft vielfach durch die Nominalphrasen (es ermöglicht maßgeblich die sog. Nominalklammer und entfaltet wohl darin seine Hauptfunktion) und ist es dadurch sehr präsent, man könnte sagen: omnipräsent. Abb. 4-2 zeigt, dass im linken Bereich höchster Animatizität engste Genus / Se‐ xus-Verschränkungen gelten. Von Genusarbitrarität kann hier nicht die Rede sein. Da sich die soziale Zweigeschlechtlichkeit direkt in entsprechender Genuszuweisung 4.3 Genus und Geschlecht 81 <?page no="83"?> 9 Dass in Abb. 4-2 die Pronomen weggelassen wurden, liegt daran, dass sie bis auf die 3.Ps.Sg. genuslos sind und damit kein Geschlecht bezeichnen. Dies hat gute Gründe: Die Pronomen der 1. und 2. Person (ich, wir und du, ihr, Sie) verweisen direkt auf die anwesenden KommunikationspartnerInnen, deren Geschlecht visuell und / oder akustisch (z. B. am Telefon) evident und damit mehrfach abgesichert ist. Sprachlich wäre eine Geschlechtsmarkierung redundant (was nicht heißt, dass es keine Sprachen gäbe, die hier dennoch Geschlecht markieren, z. B. span. vosotras [2.Ps.Pl.f.] vs. vosotros [2.Ps.Pl.m.]). Da dritte Personen abwesend und damit unsichtbar, ja sogar unbekannt sein können, findet hier - auch im Deutschen - am ehesten eine Genus- und damit Geschlechtsanzeige statt (sie vs. er), in manchen Sprachen auch im Plural (span. ellas [3.Ps.Pl.f.] vs. ellos [3.Ps.Pl.m.]). spiegelt, kommen auch nur Feminina und Maskulina vor und so gut wie keine Neutra (zu eingeklammertem s Anna s. Kap. 9.3, zu Weib s. Kap. 4.3.6). Man kann hier also von einer Gleichschaltung zwischen weiblichem Geschlecht und Femininum sowie männlichem Geschlecht und Maskulinum sprechen. Der Festigkeitsgrad dieser Koppelung nimmt nach rechts hin zu den Tieren etc. sukzessive ab (Kap. 4.3.3), franst immer mehr aus und löst sich schließlich auf. Personennamen als Spitze der Belebtheitshierarchie (Namen referieren auf indivi‐ dualisierte Einzelpersonen) verkoppeln Geschlecht und Genus am engsten (Rolf (m.) - Ronja (f.)). 9 Hinzu kommt, dass diese Information sogar meist am Namenkörper salient (hör- und sichtbar) verankert wird (anderen Substantiven hört man ihr Genus i. d. R. nicht an), indem etwa die Auslaute -a und -e auf Frauen und konsonantische Auslaute oder -o auf Männer verweisen (Kap. 9.1). So benötigt man zur Sichtbarmachung von Genus keine Kongruenzmittel (im Standard sind Personennamen artikellos), das Geschlecht und damit auch Genus wird der Phonologie selbst unbekannter Namen entnommen. Abb. 4-2: Genus-Sexus-Relationen bei Animata (ohne Diminutiva) ANIMAT INANIMAT Genus-Sexus-Relation: engstens eng locker nicht vorhanden/ stereotyp arbiträr benannte Verwandt- Personen Nutztiere Säugeandere Tiere Pflanzen Personen schaft tiere m: Rolf Bruder Mann, Fahrer Stier, Hahn Hund Spatz, Dorsch Sellerie f: Ronja Schwester Frau, Witwe Kuh, Henne Katze Taube, Spinne Möhre n. (s Anna) - (Weib), Kind Rind, Huhn Pferd Krokodil Kraut Abb. 4-2: Genus-Sexus-Relationen bei Animata (ohne Diminutiva) Ein anderes Prinzip, das ebenfalls die enge Genus-Sexus-Kopplung untermauert, wurde bei den Rufnamen im Germanischen, d. h. schon vor über zwei Jahrtausenden, prakti‐ ziert: Typischerweise bestanden die Namen aus zweigliedrigen, sog. programmatischen (mit Bedeutung gefüllten) Komposita (oft aus dem kriegerischen Bereich), wie sie heute 82 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="84"?> 10 Nicht zuletzt spricht für die Verweiskraft von Genus auf Geschlecht die Tatsache, dass Transpersonen Genus sehr kreativ zur Geschlechtsanzeige nutzen. So etwa wird ein Transmann von seiner Tochter seit seiner Transition der Mutti genannt (Nübling 2017b). noch in Gerhild oder Arnulf zu greifen sind. Dabei galt die strikte Regel, dass (gemäß dem Letztglied-Prinzip) das zweite Nomen bei Frauennamen ein Femininum und bei Männernamen ein Maskulinum sein musste: Ger-hild < ahd. gēr (m.) ‚Speer‘ + ahd. hiltja (f.) ‚Kampf ‘; Arn-ulf < ahd. arn (m.) ‚Adler‘ + wolf / wulf (m.) ‚Wolf ‘. Dadurch waren Neutra im Zweitglied kategorisch ausgeschlossen. Das Genus des Erstglieds spielte keine Rolle. Deutlicher kann die Gleichschaltung von Genus und Sexus kaum zum Ausdruck kommen - außer beim sog. Differentialgenus, das in Abb. 4-2 nicht enthalten ist. Vom Differentialgenus sind Substantivierungen von per se genuslosen Wortarten wie Verben oder Adjektiven betroffen, denen (als Substantiv) ein Genus zugewiesen werden muss, das jedoch variabel ist. Dabei erweist sich klar, dass Feminina ausnahmslos Frauen bezeichnen, Maskulina Männer (die Versicherte, der Versicherte)-- und Neutra referieren auf Unbelebtes: das Versicherte würde kontextlos als ‚versichertes Gut‘ verstanden und kaum als *‚versichertes Kind' (Kap. 6). Da weder die Semantik noch die Form einen Beitrag zu diesen Geschlechtsinformationen leisten, handelt es sich hier nur um einen reinen Genuseffekt. Das (produktive und oft genutzte) Differentialgenus ist der stärkste Beleg nicht nur für einen eng verzahnten Verweis, sondern auch für die sprachliche Herstellung von Geschlecht durch Genus (Kap. 6.1, 6.5). 10 Bei Verwandtschafts- und zentralen Personenbezeichnungen fällt auf, dass es zumindest im Singular keine geschlechtsabstrahierenden Oberbegriffe (Epikoina) gibt, alle enthalten in ihrer Semantik zwingend Geschlecht: weder zu Mutter und Vater (hier springt im Bedarfsfall das bürokratisch wirkende Kompositum Elternteil ein) noch zu Tante / Onkel, Nichte / Neffe, Cousin / Kusine, Oma / Opa etc., auch nicht zu Nonne / Mönch (die zu Frau / Mann geschlechtsindefiniten Ausdrücke Mensch und Person < lat. persona sind erst später entstanden; s. Kap. 5.1.12 und Kap. 8). Offen‐ sichtlich divergier(t)en soziale Verpflichtungen und Geschlechterrollen so stark, dass eine sprachliche Geschlechtsabstraktion unmöglich ist. Viele Sprachen drücken im Verwandtschaftslexem zusätzlich die geschlechtliche Linie aus, über die das Verwandt‐ schaftsverhältnis besteht - wie im früheren Deutschen, wo Oheim und Muhme Onkel und Tante mütterlicher- und Vetter und Base väterlicherseits bezeichneten. Auch weitere Personenbezeichnungen sind durch enge Genus-Sexus-Bande gekennzeichnet, besonders im Fall derer, die Geschlecht in ihrer Kernbedeutung enthalten (semantisches Geschlecht): Mann, Vater, Mönch, Schwager - Frau, Mutter, Nonne, Braut, Witwe. Sie alle fungieren niemals geschlechtsübergreifend, Geschlecht ist ihnen fest eingeschrieben. Neben Mann (geschlechtsdefinit) steht Fahrer, an dessen postulierter Geschlechtsindefinitheit sich die Debatte über die Existenz eines sog. generischen (geschlechtsübergreifenden) Maskulinums entzündet: Werden bei einem Satz wie Ein Fahrer muss immer angeschnallt sein gleichermaßen Frauen wie Männer vorgestellt? Dieser Frage widmen wir mit Kap. 5 ein eigenes Kapitel. 4.3 Genus und Geschlecht 83 <?page no="85"?> 11 Allerdings ersetzt Kuh immer mehr Rind als Oberbegriff, wahrscheinlich weil Kühe häufiger vorkommen bzw. sichtbarer sind als Bullen (Kubczak 1991). 12 Solche Stereotype manifestieren sich häufig besonders deutlich in der Literatur. So wurde festgestellt (z. B. von Leibring 2015, 58 f.), dass fiktive (literarische) Hunde männlich benannt zu werden pflegen und somit als Rüden konzipiert werden. Dies zu überprüfen (vergleichend zu Katzen), harrt noch einer sicherlich aufschlussreichen Untersuchung. Auf dieser dritten Stufe der Personenbezeichnungen kommen auch Neutra als drittes Genus ins Spiel, angedeutet mit Weib und Kind. Vor allem treten junge, nicht geschlechtsreife und damit wenig geschlechtssaliente Menschen und (Nutz-)Tiere auffällig häufig ins Neutrum, was umgekehrt das sexuierende Potential der Feminina und Maskulina unterstreicht: das Kind, Kid, Baby, Kleine, Neugeborene - Junge, Kalb, Lamm, Kitz, Fohlen, Küken, Ferkel. Zum berühmten Neutrum Weib s. Kap. 4.3.6. Nicht enthalten sind in Abb. 4-2 die sog. Epikoina, d. h. prinzipiell geschlechtsin‐ definite Personenbezeichnungen, die in allen drei Genera vorkommen, z. B. die Person, Hilfskraft, Nachtwache, Geisel, Waise - das Mitglied, Opfer, Individuum, Idol - der Mensch, Gast, Star, Vormund (s. Klein (2022); Kap. 5.1.12). Grob gesagt erkennt man Epikoina daran, dass sie keine Movierung erlauben (*Personerich, *Menschin). Auch bei den Nutztieren, wegen deren Ausbeutung durch uns deren Geschlecht von enormer Bedeutung ist, setzt sich die Genus-Sexus-Verschränkung fort, allerdings mit immer mehr Abweichungen (z. B. ist das Huhn weiblich und die Drohne männlich). Auch kommt es bei höheren Nutztieren zu geschlechtsneutralen Oberbegriffen (Epi‐ koina) im Neutrum: das Rind - die Kuh 11 - der Stier / Bulle / Ochse; das Pferd - die Stute - der Hengst / Wallach; das Schwein-- die Sau-- der Eber. Pusch (1984) schlug schon früh die konsequente Nutzung der drei Genera vor, wo‐ bei ein und demselben Lexem drei Genera zukommen sollten: das Student (geschlechtsneutral) - die Student (wl.) - der Student (ml.). Dies erspart u. a. die (Nachrangigkeit indizierende) Movierung. Doch hatte dieser Vorschlag, wie Pusch selbst einwendete, aus verschiedenen Gründen wenig Aussicht auf Akzeptanz. Da‐ her wurde die Sichtbarmachung von Frauen durch Feminisierungen zum Pro‐ gramm, was bereits zu Sprachwandel geführt hat. Einen anderen Entwurf, der Ge‐ nus aufgibt, unterbreitet Matthias Behlert, zit. in Pusch (1999, 23-27). In diesen Einheitsparadigmen werden frühere Feminin- und Maskulinformen so rekombi‐ niert, dass Kasussynkretismen beseitigt werden. Bei den Säugetieren lockert sich dieses Genus-Sexus-Band immer mehr, denn hinter einem Hund oder einer Katze können sich generell beide Geschlechter verbergen - auch wenn ein Hund stereotyp männlich und eine Katze weiblich assoziiert wird, was auch an ihrem Aussehen und Verhalten liegen dürfte. 12 Wenngleich das feminine Lexem Katze eine weibliche Schlagseite hat, ist es doch auch geschlechtsindefinit lesbar, was erklärt, dass man dazu einerseits Kätzin oder Katzenweibchen bildet, andererseits 84 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="86"?> 13 Dass humane Maskulina auch in generischer Verwendung mehrheitlich männlich verstanden werden, ist Thema von Kap. 5. 14 Allerdings ist hier Vorsicht geboten, solange Untersuchungen zu der Frage fehlen, ob die Spinne und ihr Männchen bzw. das Männchen der Spinne häufiger vorkommt / akzeptabler ist als die Spinne und ihr Weibchen / das Weibchen der Spinne. Linke (2002, 122) weist auf das Weibchen des Pottwals hin. Kater oder Katzenmännchen (ebenso bei Hund). Lind / Späth (2022) weisen jedoch nach, dass bei großen Säugern durchaus eine Genus-Sexus-Korrelierung hergestellt wird: Während eine Giraffe oder eine Katze problemlos trächtig sein oder ihr Junges säugen kann, mutiert ein Hund bzw. ein Elefant in solchen Kontexten meist zum Femininum Hündin bzw. Elefantin oder Elefantenkuh (mehr in Kap. 4.3.3). Dies zeigt: Das Genus-Sexus-Prinzip ist graduell organisiert und nicht, wie so oft missverstanden, als ein Entweder-Oder. Doleschal (1992, 25) stellt fest, dass sich tierliche Geschlechtserwartungen streichen lassen, nicht aber menschliche: Der Hund da drüben ist ein Weibchen vs. *der Lehrer da drüben ist eine Frau. Ebenso wirkt es bei Tieren nicht tautologisch, das erwartete Geschlecht zu explizieren: Der Hund da drüben ist ein Männchen (oder Rüde) vs. *der Lehrer da drüben ist ein Mann. Humane Maskulina in spezifischer Verwendung werden eher männlich gelesen im Gegensatz zu animalischen. Bei letzteren handelt es sich offensichtlich weitgehend um Epikoina (von Geschlecht absehenden Bezeichnungen). 13 Bei Nicht-Säugetieren („andere Tiere“ in Abb. 4-2) reißt das Genus-Sexus-Band schließlich ab: Feminina wie die Kröte, die Spinne oder Maskulina der Frosch, der Rochen wecken keine proto- oder stereotypischen Geschlechtserwartungen mehr, ebenso wenig Bezeichnungen von Pflanzen, Objekten, Stoffen und Abstrakta. 14 Auch wirken Neutra (Krokodil, Gnu, Kraut) hier weder degradierend noch desexuierend. Dieser gesamte Genus-Sexus-Komplex auf der Achse abnehmender Animatizität stellt noch ein wichtiges Forschungsthema dar, denn von den Rändern her lassen sich Determinanten, Geltung und Reichweite von Prinzipien am deutlichsten erkennen. Merkwürdigerweise bestreiten selbst LinguistInnen immer wieder diese evidenten Genus-Sexus-Korrespondenzen, die ausschließlich für die höhere Belebtheitsdomäne beansprucht werden (Menschen und teilweise Nutztiere). So liest man etwa in der Rubrik „grammis“ des Instituts für deutsche Sprache, verfasst von Donalies (2008): Dennoch weiß natürlich jedes Kind, dass das Genus, das grammatische Geschlecht, und der Sexus, das biologische Geschlecht, keineswegs immer übereinstimmen: ‚Oder glaubt einer, alle Igel seien männlich und alle Fliegen weiblich? Wir wissen schon Bescheid, aber es interessiert uns eben nicht‘. (Heringer 1995, 208) Belege für Abweichungen vom Genus-Sexus-Prinzip werden immer dort gesucht, wofür es keine Geltung beansprucht, nämlich bei schwach belebten Tieren und gar unbelebten Objekten. Die folgenden Kapitel zeigen aus weiteren Perspektiven, dass die vermeintliche Genusarbitrarität in der Belebtheitsdomäne geringer ist als gemeinhin vermutet. 4.3 Genus und Geschlecht 85 <?page no="87"?> Abgesehen von der Genus-Sexus-Frage machen Köpcke / Zubin (1996, 484) die wichtige Beobachtung, dass Lexeme für Menschen und menschenähnliche Tiere das Maskulinum als Default-Genus präferieren (Abb. 4-3). Sie entdecken bei Bezeichnungen für Menschen über solche für Säuger und Vögel bis hin zu Insekten und amorphen Weichtieren ein sog. ethnozoologisches (oder anthropozentrisches) Kontinuum, bei dem zunächst das Maskulinum dominiert. Dieses wird sukzessive vom Femininum abgelöst und schließlich ersetzt (dies bestätigen korpuslinguistisch auch Lind / Späth 2022; Späth 2024). Das durchaus vorhandene, aber periphere Neutrum ist nicht in Abb. 4-3 enthalten. Abb. 4-3: Das ethno-zoologische Kontinuum und sein Genusbezug (nach Köpcke / Zubin 1996) Nach Köpcke / Zubin (1996) gilt: Je menschenähnlicher das Tier, desto eher wird ihm das Maskulinum zugewiesen - je größer die Distanz zum Menschen, desto eher das Fe‐ mininum. Beim Menschen selbst manifestiere sich dieses Prinzip im sog. generischen Maskulinum, demzufolge Gattungsbezeichnungen für bestimmte Menschenklassen (Fahrer, Nachbarn, Athleten), bei denen kein Bezug auf das Geschlecht erfolgt, im Maskulinum stehen. Da das generische Maskulinum, wie wir in Kap. 5 erfahren werden, weniger Menschen als (erwachsene) Männer bezeichnet, ist dieses Kontinuum in nicht nur anthropozentrisch, sondern vorrangig androzentrisch organisiert. Schließlich gibt es auch wirkmächtige formale Genuszuweisungsprinzipien, vor allem dass Zweisilber auf -e [ǝ] feminin sind (Schnecke, Katze). Umso aussagekräftiger ist es, wenn formale von semantischen Prinzipien aus den Angeln gehoben werden, wie dies für der Affe, Löwe, Kunde gilt: Hier entscheidet die Nähe zum Menschen über die Genuszuweisung, sie überschreibt die Formregel (Klein 2022). Dass diese Skala eine kognitive und keine streng biologisch-taxonomische ist, zeigt etwa, dass die dominant femininen Schlangen von den anderen Reptilien separiert zu werden scheinen. Äußerlich können Schlangen z. B. Würmern ähnlicher sein als Krokodilen. Bemerkenswert ist die schon in Kap. 4.2.3 erwähnte Krake, die noch zwischen beiden Genera schwankt und zunehmend feminin wird. Im Fall von Gottesanbeterin ist das Femininum sogar morphologisch abgesichert. Viele Feminina gehen auf relativ 86 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="88"?> 15 Die umgekehrte Richtung scheint bei Animata kaum beschritten worden zu sein. Das Kompositum Hanswurst hat sein Genus von f. > m. gewechselt. späten (frühnhd.) Genuswechsel zurück, als sich dieses ethnozoologische Kontinuum kognitiv-linguistisch etabliert zu haben scheint. Vor allem kam es zum Wechsel maskulin > feminin, „darunter nicht wenige Bezeichnungen von niederen Tieren“ (Paul 1917 / 1968, § 55) wie z. B. bei der > die Schlange, Blindschleiche, Ammer, Schnepfe, Grille, Heuschrecke, Schnake, Schnecke, Made, Drohne (! ). 15 Auch komplett Unbelebtes wanderte zu den Feminina (Brille, Diele, Flocke). Es wurde somit kräftig umklassifiziert (Köpcke 2000a; Paul 1917 / 1968, §§ 55-66). Dass kaum bewegungs- und steuerungsfähige, inagentive, menschenunähnliche Wesen (und Gegenstände) so femininaffin sind, könnte genderstereotyp und damit sozial induziert sein. Dies könnte auf eine historisch zunehmende Polarisierung und Asymmetrisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit hinweisen. Um solche tief in die Grammatik sedimentierten Strukturen nicht nur oberflächlich zu deuten (oder abzuwehren), sondern wirklich zu verstehen, bedarf es der Kooperation von Sprach-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften. 4.3.3 Das Genus-Sexus-Prinzip bei (personifizierten) Tieren, Objekten und Abstrakta In fiktionaler Literatur oder bebilderten Kinderbüchern kommt es häufig vor, dass Tiere personifiziert und individualisiert werden, d. h. Namen bekommen, bestimmte Kleider tragen, sprechen und miteinander interagieren. Dabei wird ihnen fast aus‐ nahmslos ein Geschlecht zugewiesen. Besonders interessant sind weniger belebte Tiere wie Vögel, Reptilien, Amphibien oder Insekten, deren Geschlecht nicht sichtbar und normalerweise auch irrelevant ist. Man muss sich gar nicht in die fiktionale Welt begeben, denn häufig lässt sich beobachten, dass Wildtiere (vom Wels über die Schnappschildkröte bis hin zum Wolf und zum Bären) dann, wenn sie allzu dicht mit dem Menschen in Kontakt treten, in den Medien mit einem Eigennamen nicht nur benannt, sondern vermut‐ lich gebannt (kontrolliert) werden. Auch dabei fällt auf, dass das Substantivgenus das im Namen realisierte Individualgeschlecht zu bestimmen scheint. Durch häufige Apposition stehen Appellativ und Name sogar in direkter Kontaktstellung: Problembär Bruno, Kaiman Sammy, Killerwels Kuno, Kranich Heintje, Schildkröte Lotti. Trauerschwänin Petra hieß anfänglich Peter und war damit am Genus von Schwan ausgerichtet. Die Entdeckung ihres wirklichen Geschlechts hat neben dem Geschlechtswechsel des Namens auch den Genuswechsel des Appellativs (Movie‐ rung) bewirkt. Auch dieser Komplex harrt noch seiner umfassenden Erschließung. 4.3 Genus und Geschlecht 87 <?page no="89"?> 16 Ausgeschlossen wurden Bezeichnungen mit inhärent semantischem Geschlecht wie Erpel, Kater, Henne, ebenso geschlechtsambige Vornamen wie Flecki, Brummel, schließlich auch Tierfamilienge‐ schichten, da bei Familien meist feste, geschlechtsspezifische Rollen besetzt werden. 17 Ähnlich weisen Lötscher (1993) und Christen (2013) bei schweizerdeutschen Metaphern zur Negativbe‐ zeichnung von Menschen hin, dass feminine Metaphern sich eher für Frauen und maskuline für Männer eignen. Am eindeutigsten erweist sich das ihnen zugewiesene Geschlecht am Namen. Ad hoc drängen sich Figuren auf wie die Biene Maja, Maikäfer Sumsemann, Karl der Käfer und Hamster Oleg. Nicht selten werden auch Anredenomen verwendet wie Frau (Spinne) oder Herr (Specht). Spielt bei diesen Geschlechtszuweisungen das Genus ihres Appellativs eine Rolle? Fördert ein Femininum eine Verweiblichung, ein Maskulinum eine Vermännlichung? Liegt hier eine Genus-zu-Sexus-Steuerung vor? Dies spräche für einen massiven Einfluss des grammatischen auf das außersprachliche Geschlecht - und genau dieser Einfluss wird von der Genderlinguistik erforscht (Kap. 5 zum sog. generischen Maskulinum). Außerdem stellt sich die Frage, was mit Neutra passiert wie Schwein, Pferd, Krokodil und Rotkehlchen: Wirken hier eher Genderstereotype? Diesen Fragen sind Bickes / Mohrs (2010) nachgegangen: In „Herr Fuchs und Frau Elster - Zum Verhältnis von Genus und Sexus am Beispiel von Tierbezeichnungen“ wurden 187 Tiere (116 Maskulina, 50 Feminina, 21 Neutra) aus 74 originär deutsch‐ sprachigen Kinderbüchern untersucht (Übersetzungen wurden ausgeschlossen, da es sonst zum Einfluss von Genussystemen anderer Sprachen oder genusloser Spra‐ chen wie Englisch käme). 16 Das Ergebnis spricht eine deutliche Sprache: Bei den maskulinen Tierbezeichnungen (Hund, Hase) erfolgt zu 93 % eine damit korrelierende Sexuszuweisung, bei den femininen (Eule, Raupe) zu 82 %, d. h. insgesamt kommt es zu einer ca. 90 %-igen Übereinstimmung zwischen Genus und zugewiesenem Geschlecht. Dies bestätigt die Existenz eines Genus-Sexus-Nexus. Neutrale Tiere (Eichhörnchen, Schwein) werden zu zwei Dritteln männlich und einem Drittel weiblich sexuiert (male bias). Bickes / Mohrs (2010) geben allerdings mit Verweis auf Köpcke / Zubin (1996) zu bedenken, dass menschenähnliche Tiere per se vorrangig maskuline Bezeichnungen tragen: Dass das maskuline Genus unter Tierbezeichnungen in Tiergeschichten stärker vertreten ist, lässt sich möglicherweise mit der von Köpcke / Zubin (1996) vertretenen These zum ethno-zoologischen Kontinuum in Verbindung bringen: Als Protagonisten treten menschen‐ ähnliche Tiere weitaus häufiger auf als Echsen oder Asseln. (Bickes / Mohrs 2010, 265) Prinzipiell hat sich dies-- mit fast gleichen Prozentwerten-- auch bei Lückentextaufgaben mit 15 Tierbezeichnungen und 1.807 Nennungen sexusdefiniter Vornamen bestätigt. Hier wurden auch Maskulina mit menschenunähnlicheren Tieren wie Käfer, Maulwurf, Spatz sowie Feminina mit menschenähnlicheren Tieren wie Giraffe, Katze eingestreut. Der Abstand zum menschlichen Prototyp spielte bei der namentlichen Geschlechtszuweisung jedoch keine Rolle: Es ist primär das Genus, das über Sexus entscheidet. 17 Nur bei den Neutra scheint sich ein stereotypenbedingter Effekt abzuzeichnen, wenngleich hier zu rund 88 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="90"?> 18 Hierzu passt das fingierte Interview (F.A.Z., 29.11.2022) mit einem Frankfurter Weihnachtsbaum, der Manni (Manfred) heißt und mit „Herr Weihnachtsbaum“ adressiert wird. Auf die Frage „Sind Sie denn männlich? “ antwortet der Baum: „Ein Frauenname wäre mir auch recht gewesen. Ich bin eine Fichte“: Genau in diesem Moment mutiert der maskuline Baum (zufällig? ) zur femininen Fichte. 70 % männliche und 30 % weibliche Namen vergeben wurden. Das große, massige Nilpferd wurde zu 85 % männlich und 15 % weiblich konzipiert, das Schwein nur zu 55 % bzw. 45 %. Weitere neutrale Tierbezeichnungen waren jedoch nicht vertreten (was zeigt, dass hier noch viel Forschungsbedarf besteht). Die Autorinnen deuten diese Befunde als Evidenz gegen die Existenz eines sog. generischen Maskulinums: Wenn der Zusammenhang zwischen Genus und Sexus im Bewusstsein heutiger Spreche‐ rInnen augenscheinlich dahingehend wirksam ist, dass sogar Tieren und Gegenständen aufgrund des grammatischen Geschlechts latent ein biologisches Geschlecht zugewiesen wird - wie sollte dann ausgerechnet in Bezug auf Personenbezeichnungen, dem einzigen Feld, wo tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Genus und Sexus existiert, dieser Mechanismus ausgeschaltet sein? Die These, das angeblich generische Maskulinum der Arzt in dem Satz Ich muss unbedingt zum Arzt würde geschlechtsneutral interpretiert werden, erscheint vor diesem Hintergrund schlicht abwegig. (271 f.) Wie die Autorinnen andeuten, werden sogar unbelebte Objekte sexuiert, wenn sie personifiziert werden (s. Köpcke / Zubin 2012, die von „Genus-Sexus-Konsonanz“ sprechen). So verfasste Christian Morgenstern das Gedicht „Frau Gabel und Herr Löffel“. Heinrich Heine schrieb über die stereotyp-genderisierte Liebesbeziehung zwischen einer weiblichen Palme und einem männlichen Fichtenbaum (die feminine Fichte wurde extra in den maskulinen Fichtenbaum transformiert). 18 Frau Welt, Mutter Mosel, Vater Rhein und Gevatter Tod bestätigen ihrerseits die Macht des Genus. Auch Sonne (f.) und Mond (m.) werden im Deutschen genuskonform sexuiert - ebenso in den romanischen Sprachen, nur spiegelbildlich, da dort eine umgekehrte Genusverteilung vorliegt (la luna [f.] - el sol [m.]) (Köpcke / Zubin 2012, 390; auch Bußmann 1995, 115 ff.; Kalverkämper 1979, 61). Selbst Pfirsich und Erdbeere, Joghurt und Buttermilch, Schokoriegel und Milch, Tee und Zitrone, Wagen und Zapfsäule gehen in der Werbung geschlechterdifferente Beziehungen ein. Köpcke / Zubin (2012, 401-405) beschreiben sogar Fälle umgekehrter „Kausalrichtung“ (401), wo für genderisierte Kaufobjekte unter mehreren lexikalischen Alternativen dasjenige Lexem gewählt wird, das das zum gewünschten Objektgeschlecht passende Genus enthält, etwa die Verbindung (dargestellt von einer Frau) statt der Anschluss; die Zapfsäule (dargestellt von einer Frau) statt das Benzin. Doch auch bei nicht personifizierten Tieren wurden jüngst von Lind / Späth (2022) unter dem Titel „Von säugenden Äffinnen und trächtigen Elefantenkühen“ aufschlussrei‐ che Genus-Sexus-Bahnungen entdeckt. Anhand einer korpuslinguistischen Untersu‐ chung auf Basis der größten durchsuchbaren Textmenge (DeReKo des IDS) bestätigen sie zunächst anhand von 2.508 extrahierten Tierbezeichnungen (Tokens) empirisch 4.3 Genus und Geschlecht 89 <?page no="91"?> 19 Spezifisch männliche Aktivitäten wie befruchten, zeugen, decken kamen im Korpus zu selten vor, um den komplementären Effekt zu überprüfen. die von Köpcke / Zubin (1996) postulierte Genusverteilung (ethno-zoologisches Kon‐ tinuum in Abb. 4-3), wonach dem Menschen ähnliche Tiere - v. a. höhere Säugetiere wie Affe (m.), Hund (m.) − sehr viel häufiger Maskulina seien als dem Menschen unähnliche Tiere, z. B. Insekten, Fische, Amphibien wie Fliege (f.), Assel (f.), Unke (f.). Die Autorin‐ nen gliedern ihr Korpus in fünf sog. Belebtheits- oder Animatizitätsstufen, wonach die erste Gruppe mit Primaten und Raubtieren die menschenähnlichsten (und agentivsten, d. h. handlungsmächtigsten) Tiere umfasst. Gruppe 2 enthält ebenfalls Säuger, doch etwas kleinere wie Hunde und Katzen, Gruppe 3 Nutztiere und Kleinsäuger wie Mäuse, aber auch Raubvögel, Nr. 4 Vögel, Reptilien, Amphibien, Fische und Nr. 5 Kleinsttiere wie Insekten und Bakterien. Dabei erweist sich, dass fast 99 % der Wörter von Gruppe 1 Maskulina sind, während bei Gruppe 2 sich Maskulina und Feminina ungefähr die Waage halten. Neutra kommen erst bei Gruppe 3 ins Spiel, v. a. bei geschlechtsneutralen Nutztieroberbegriffen wie Schwein, Pferd, Rind. In Gruppe 4 dominieren die Feminina mit 50 % vor den Maskulina (44 %) und (Neutra: 6 %), in Gruppe 5 sogar mit 65 % (Lind / Späth 2022, 116-117). Eine weitere Frage war, ob typisch weibliche Tätigkeiten oder Zustände wie säugen, trächtig sein, brüten und Eier legen gleichermaßen mit femininen, maskulinen und neutralen Tierbezeichnungen vorkommen, denn bei Tieren wurde bislang vermutet, dass deren Bezeichnungen komplett geschlechtsindefinit seien (Epikoina). 19 Es stellte sich also die Frage, ob ein Hund (m.) oder ein Elefant (m.) oder auch ein Gnu (n.), ein Kaninchen (n.) gleichermaßen Junge säugen kann wie eine Katze (f.) oder eine Giraffe (f.) (selbstverständlich wurden geschlechtsspezifische Wörter wie Henne, Stute, Hengst, Hündin ausgeschlossen). Hier ergaben sich sehr deutliche Genuseffekte: Während eine Katze ohne Weiteres Junge säugen kann, mutiert der Hund zur Hündin oder Hundedame − oder zu Hundeweibchen. In all diesen drei Fällen wird (weiblicher) Sexus spezifiziert (s. Tab. 4-5). Alles in allem wird bei 53 % der Maskulina und 56 % der Neutra (weibl.) Geschlecht spezifiziert (z. B. Wal [m.] → Walkuh, Kamel [n.] → Kamelkuh) - und immerhin auch bei fast 14 % der Feminina, indem etwa eine Katze zur Kätzin wird oder eine Zecke zum Zeckenweibchen (s. die Spalten „insges.“ in Tab. 4-5). - Weiblicher Sexus wird spezifiziert insgesamt säugen trächtig Ei(er) legen brüten Fem. 14% 31% 13% 15% 3% Mask. 53% 87% 76% 34% 6% Neut. 56% 78% 55% 0% 25% Tab. 4-5: Weibliche Sexusspezifizierung im weiblichen Fortpflanzungskontext in Abhängigkeit zum Genus der Tierbezeichnung (nach Lind / Späth 2022, 119) 90 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="92"?> Tabelle 4-4 (die hell gedruckten Zahlen basieren auf geringen Belegzahlen und sind vernachlässigbar) differenziert noch weiter nach den vier weiblichen Aktivitäten / Zu‐ ständen: a) säugen setzt ein (vergleichsweise menschenähnliches) Säugetier voraus, das bereits Mutter geworden ist. Es erfordert bei den Maskulina und Neutra mit 87 % bzw. 78 % die höchsten Sexusspezifizierungsraten (hier muss Weiblichkeit also besonders deutlich markiert werden bzw. „stört“ das „falsche Genus“ am meisten). Etwas weniger trifft dies auf b) trächtig sein zu, das die Mutterschaft nur ankündigt und sich ebenfalls mehrheitlich auf Säugetiere bezieht. Hier verspürt die Sprachgemeinschaft bei Maskulina zu 76 % und bei Neutra zu 55 % einen Bedarf an expliziter Sexusspezifi‐ zierung, während bei Feminina offensichtlich deren pures Genus ausreicht, um mit Weiblichkeit kompatibel zu sein (nur 13 % Explizierung). Deutlich anders bei c) Ei(er) legen und d) brüten, was primär Nicht-Säugetiere, die dem Menschen deutlich ferner stehen, tun (und brüten tun teilweise auch männliche Vögel). Hier „stören“ maskuline Bezeichnungen deutlich weniger: Ein eierlegender Spatz oder Leguan wird nur zu 34 % verweiblicht (Spatzenweibchen / weiblicher Leguan), und brüten tun Amseln (f.), Spechte (m.) und Rotkehlchen (n.) gleichermaßen. Damit zeigt sich: Der Mensch integriert die ihm nahestehenden Säugetiere weitgehend in sein Genus-Sexus-Prinzip (je animater, desto konsequenter), während solche Genus-Sexus-Bahnungen bei Vögeln, Fischen, Amphibien, Reptilien, Insekten etc. versiegen: ein Frosch kann eher Eier legen als ein Elefant Junge säugen (zu weiteren Erkenntnissen, etwa den konkreten Verfahren der Genus-Sexus-Kongruierung, s. Lind / Späth 2022 und Späth 2024). Man erkennt an diesen neuen Forschungen, wie anspruchsvoll, ergiebig und weiterführend empirische Methoden sind und dass die bisher praktizierten Introspektionen (Selbstbefragungen) diesem wissenschaftlichen Anspruch nicht einmal nahekommen. 4.3.4 Evoziert das Genus von Objektbezeichnungen Geschlechterstereotype? Zu einigem Aufsehen hat ein Beitrag von Boroditsky et al. (2003) geführt. Hier wird ein Experiment beschrieben, dessen Befunde Evidenz dafür zu liefern scheinen, dass feminine Objektbezeichnungen (z. B. die Brücke) zu weiblichen Genderisierungen des Objekts selbst führen, entsprechend auch bei Maskulina (z. B. der Schlüssel). Knapp zusammengefasst (s. auch Köpcke / Zubin 2012, 385 ff.): Bei Deutschbzw. Spanisch-SprecherInnen wurde anhand von zwölf interlingualen Lexempaaren mit gleicher Bedeutung, aber unterschiedlichem Genus festgestellt, dass den benannten unbelebten Objekten genuskonform genderstereotype Adjektive zugewiesen wurden. Unabhängig davon waren diese Adjektive vorab durch eine andere Gruppe auf ihre Geschlechtsstereotypie und deren Ausprägungsgrad hin bewertet und eingestuft worden. Dies sei anhand eines Lexempaars illustriert: Nhd. Schlüssel ist maskulin, span. llave feminin. Während die Deutschen dem Schlüssel eher männlich genderisierte Eigenschaften zuwiesen wie hart, schwer, schroff, zackig, metallisch, beschrieb die spanische Gruppe ihren femininen ‚Schlüssel‘ als hübsch, elegant, zerbrechlich und 4.3 Genus und Geschlecht 91 <?page no="93"?> schmal. Allerdings haben Mickan et al. (2014) dieses Experiment repliziert und diese Effekte nicht bestätigen können, wie dies der Titel „Key is a llave is a Schlüssel: A failure to replicate an experiment of Boroditsky et al. 2003“ sagt: „This suggests, that the results of the original experiment [von Boroditsky et al. 2003] were either an artifact of some non-documented aspect of the experimental procedure or a statistical fluke“ (Mickan et al. 2014, 39). Somit kann die Annahme, das Genus unbelebter Objektbezeichnungen löse entsprechende Geschlechterstereotype aus, nicht als bestätigt gelten. 4.3.5 Haben Geschlechterstereotype Auswirkungen auf die Genuszuweisung? Für die umgekehrte Richtung-- Geschlechterstereotype führen zu entsprechenden Genus‐ zuweisungen-- liefern Köpcke / Zubin (1984) überraschende Evidenz. Das Substantiv Mut ist (und war immer) ein Maskulinum. Normalerweise gilt bei Komposita (und Derivata) das Letztglied- oder Kopf-rechts-Prinzip, wonach das letzte Morphem das Genus der gesamten Wortbildung bestimmt: das Haus - die Tür → die Haustür. Deshalb sollte anzunehmen sein, dass Wortbildungen mit dem Zweitglied -mut allesamt maskulin sind. Dies ist bei Unmut, Übermut etc. auch der Fall, nicht aber bei die Anmut, die Weh- und die Demut. Köpcke / Zubin (1984) haben solche sog. Affektbegriffe auf -mut zusammengestellt: Manche sind feminin, manche maskulin, manche schwanken, z. B. die / der Großmut, die / der Gleichmut (Tab. 4-6). Genusinstabilität betrifft durchaus auch solche Komposita, die hier den Maskulina bzw. Feminina zugeordnet wurden, denn die Wörterbücher liefern oft uneindeutige Hinweise (mehr in Köpcke / Zubin 1984, 38). Maskulina Feminina extravertiert („offensiv, abweisend, eigennützig“); aktiv, wild, groß, laut etc. introvertiert („fügsam, aufnehmend, selbstlos“); passiv, sanft, klein, leise etc. Lebensmut Anmut Übermut Wehmut Wagemut Demut Hochmut Sanftmut Unmut Schwermut Missmut Langmut Großmut, Gleichmut etc. Tab. 4-6: Genus- und semantische Unterschiede bei mut-Komposita nach Köpcke / Zubin (1984) Bei diesen Genusdifferenzen zwischen Feminina und Maskulina sehen die Autoren Genderstereotype am Werk, die sie grob mit (männlich assoziierter) Extraversion 92 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="94"?> und (weiblich assoziierter) Introversion etikettieren. Auch das weitere Affektlexikon und dessen Genuszugehörigkeit sehen Köpcke / Zubin (1984) „entlang der Opposition Introversion / Extroversion“ (40) gegliedert wie die Furcht, Angst, Scheu, Scham, Trauer vs. der Hohn, Wille, Ärger, Eifer, Geiz. Die heutigen Feminina Gunst, Pein, Qual und Reue konnten im Mhd. noch maskulin sein und haben ihr Genus somit der Affektqualität angepasst: „Insgesamt lassen sich bei ca. 25 % der femininen Nomen der Introversionsgruppe und bei ca. 35 % der maskulinen Nomen der Extroversionsgruppe integrative historische Veränderungen in die eine oder andere der beschriebenen Richtungen feststellen“ (42). Selbstverständlich gibt es auch Gegenbeispiele. Was die femininen mut-Bildungen betrifft, so gehen allerdings Paul (1917 / 1968) zufolge viele nicht direkt auf Mut zurück: Kein Übertritt aus dem M. ins F. liegt vor in den anscheinenden Zus[ammen]s[etzungen] mit Mut wie Demut. Im Ahd. gibt es ein Adj. Deomuoti = mhd. diemüete ‚demütig‘, daraus wird ein Substantiv abgeleitet, ahd. deomuoti F. = mhd. diemüete, […] woraus dann durch Verkürzung und Anlehnung an Mut unser Demut entstanden ist. Außer deomuoti bestanden im Ahd. noch andere ähnlich gebildete Adjektiva, aus denen dann entsprechende weibliche Substantiva abgeleitet wurden. Neben diesen standen wirkliche Zus[ammen]s[etzungen] mit muot als Maskulina. Nach längeren Schwankungen hat sich jetzt teils das F., teils das M. festgesetzt, vgl. einerseits Anmut, Großm., Langm., Schwerm., Wehm., anderseits Edelmut, Freim., Gleichm., Hochm., Kleinm., Überm., Unm., Wankelm. (Paul 1917 / 1968, § 62) Historisch liegen also apokopierte Abstraktbildungen vor (vgl. heute noch unapo‐ kopierte Bildungen wie Süße, Länge, Größe), die an maskulines Mut angelehnt wurden und dadurch eine starke analogische Beeinflussung mit entsprechender Form-, aber ohne Genusänderung erfahren haben. Regulär müssten sie heute auf -müte (z. B. Demüte) enden. Doch scheint die (Um-)Verteilung der Genera tatsächlich Geschlechter‐ stereotypen gefolgt zu sein, denn historische Wörterbücher und Lexika stellen solche Verbindungen explizit her, so z. B. bei Sanftmut das Damen Conversations Lexikon (Herloßsohn 1834-1838): Sanftmuth: Mit einem Heiligenscheine umgibt diese liebenswürdige Eigenschaft jedes Haupt. Unzertrennlich ist sie von dem Wesen des Weibes. Denn aus zarten, innigen Gefühlen und Empfindungen geht sie hervor. […]. Sie sucht den Frieden mit aller Welt, und vermittelt unter Entzweiten die Aussöhnung. Nachsichtig entschuldigt sie, wie sie großmüthig verzeiht. (Hervorhebung: DN) Nowak (2019) zitiert mehrere Werke, auch weist sie nach, dass Übermut im Ahd. ein Femininum war, das sich nach und nach zu einem Maskulinum entwickelt hat. Welche mut-Komposita heute im Genus schwanken, wäre genauer zu untersuchen (nach Nowak z. B. Groß- und Langmut). Dabei dürften die Geschlechterstereotype in Tab. 4-6 heute abgeschwächt (degenderisiert) sein. Insgesamt liegt deutliche Evidenz vor, dass außersprachliche Geschlechterstereotype grammatische Genera steuern oder zumindest beeinflussen können. 4.3 Genus und Geschlecht 93 <?page no="95"?> 4.3.6 Genus-Sexus-Devianzen beim Menschen zum Ausdruck von Gender In der internationalen Genusforschung haben die Neutra Mädchen und Weib als sog. hybrid nouns einige Berühmtheit erlangt. Obwohl Mädchen ein Diminutivsuffix enthält (allerdings hat Mädkein lexikalisches Korrelat mehr, diachron leitet es sich aus Magd ab), wird es auch darunter gefasst. Mit hybrid noun ist gemeint, dass es bei bestimmten (genusmarkierenden) Begleit- oder Kongruenzwörtern zu Genuskonflikten zwischen (in diesem Fall) Neutrum und Femininum kommen kann: Die Genus-Sexus-Regel, die bei Mädchen und Weib das Femininum erwarten lässt, ist so wirkmächtig, dass Kongruenzwörter (targets), die in größerem Abstand (linearer Dis‐ tanz) zum genushaltigen Nomen (controller) stehen, vom grammatischen Neutrum ins semantisch erwartbare Femininum umschlagen. Das semantisch weibliche Geschlecht von Weib und Mädchen dominiert über das grammatische Neutrum. Je näher umgekehrt das Begleitwort am Nomen steht, desto obligatorischer das grammatische Neutrum. Innerhalb der NP (d. h. an Artikel und Adjektiv) kommt nur das grammatische Neutrum zum Zug (ein großes Mädchen, ein großes Weib), während schon ein Relativpronomen (das Mädchen, die ich liebte) bzw. noch eher ein Possessiv- oder Personalpronomen semantische und damit feminine Kongruenz herstellen kann (Fleischer 2012; Birkenes et al. 2014). Hierzu s. Abb. 4-4, die Nübling et al. (2013, 157) entnommen ist. attributiv 1. Possessiv- Relativ- 2. Possessivanaphor. exophorisch Pronomen pronomen pronomen Pronomen grammatische Kongruenz ……………………………………………………… semantische Kongruenz Nahkongruenz Fernkongruenz n. das kleine Mädchen mit seinem Hund, das ihn füttert. Sein Hund… Es ist hier *Das Kleine f. *die kleine Mädchen ? mit ihrem Hund, ? die ihn füttert. Ihr Hund Sie ist hier Die Kleine Abb. 4-4: Die Genuskongruenzhierarchie nach Corbett (1991), ans Deutsche angepasst (*-= ungram‐ matisch / inexistent; ? -= möglich, aber selten) Dieses hybride Genusverhalten lässt sich auf der Genuskongruenzhierarchie (gen‐ der agreement hierarchy) von Corbett (1979, 1991) abbilden, die hier an das Deutsche angepasst wurde. Dass das Possessivpronomen zweimal vorkommt, ist Absicht, denn es kann sowohl im selben als auch im nächsten Satz auftreten, und von diesem (zunehmenden) Abstand hängt die (zunehmende) Wahrscheinlichkeit semantischer Kongruenz ab (s. auch Oelkers 1996; Thurmair 2006; Panther 2009; Köpcke et al. 2010, Binanzer et al. 2022). Zurück zum Neutrum Mädchen: Braun / Haig (2010) haben anhand einer Frage‐ bogenuntersuchung ihre Hypothese bestätigt, dass auch außersprachliche Faktoren wie das Alter eines Mädchens Einfluss auf seine Pronominalisierung haben: Demnach 94 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="96"?> 20 Da es häufig zu Missverständnissen kommt: Diminuierte Substantive (und Namen) führen (fast: s. u.) immer zu Neutra, und natürlich kann man auch Jüngchen, Bübchen, Männchen etc. bilden. Der Unterschied zu Mädchen und Fräulein ist der, dass diese die primären, lexikalisierten (unmarkierten) Bezeichnungen für junge Frauen darstellen (also nicht mehr auf produktive Wortbildung zurückge‐ hen, denn ein Fräulein ist keine kleine, sondern eine ledige Frau, zu Mädchen fehlt gar die Basis). Lexikalisiert sind auch Frauchen und Herrchen als Tierhalter/ innen. Dagegen sind Jüngchen, Bübchen etc. reguläre (nicht lexikalisierte) Wortbildungsprodukte zu Junge und Bub. 21 Noch nicht richtig erforscht ist die Frage nach der biografischen Reichweite der Lexeme Mädchen und Junge, wenngleich gesichert ist, dass das Mädchenstadium gesellschaftlich länger andauert. werden 18-jährige Mädchen zu 60 % feminin und 40 % neutral pronominalisiert, unter 18-jährige dagegen nur zu 40 % feminin und zu 60 % neutral. Dies verweist auf die hohe Relevanz von Heirats- oder Fortpflanzungsfähigkeit. Sehr aufschlussreich ist auch die Studie von Robinson (2010), in der er die pronominale Genuszuweisung zu jungen Frauen (sie vs. es) in Grimm’schen Märchen untersucht und u. a. zu dem Schluss gelangt: „No marriage, no sie“ (156). Ein Beispiel aus „Die sechs Schwäne“: Er tat ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd und brachte es in sein Schloss. Da ließ er ihm reiche Kleider antun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort aus ihm herauszubringen. Er setzte es bei Tisch an seine Seite, und seine bescheidenen Mienen und seine Sittsamkeit gefielen ihm so sehr, dass er sprach: ‚Diese begehre ich zu heiraten und keine andere auf der Welt‘, und nach einige Tagen vermählte er sich mit ihr. (Robinson 2010, 155; Hervorhebungen: DN) Hübner (2021) ermittelt, dass außer dem Alter auch ein sexualisierter Kontext und die Interaktion eines Mädchens mit einem Mann feminine (sog. pragmatische) Kon‐ gruenz nach Mädchen fördert. Umgekehrt werden Kinder vor der Pubertät sprachlich (und kulturell) kaum vergeschlechtlicht. Genau hierfür qualifiziert sich das Neutrum (das Kind, Baby, Neugeborene; das Mädchen, Diandl, Wicht - es) − mit Ausnahme männlicher Kinder (der Junge, Bub, Knabe - er). 20 Säuglinge beider Geschlechter und Mädchen bis ins Erwachsenenalter hinein sind also in der Neutrumklasse vereint, aus der sich der Junge ab einem bestimmten Alter verabschiedet (bei diminuierten Jungennamen kommt es dialektal sogar vor, dass sie statt im erwartbaren Neutrum ins sexuskongruente Maskulinum treten: dr Ursli; Kap. 9.3). 21 Braun / Haig (2010, 82) erwähnen das (indische) Tamil, wo Wörter für erwachsene Frauen und Männer Feminina bzw. Maskulina sind, solche für Kinder jedoch der Genusklasse der Inanimata angehören. In verschiedenen Sprachen stecken Mädchen und Töchter als noch ‚verfügbare‘ und damit prekäre Wesen in abweichenden Nominalklassen (seien es Genus-, seien es Classifier-Systeme). Oft sind sie (und / oder ihre Pronomen) Neutra, oder sie befinden sich statt in der femininen (mit Frauen gefüllten) in der animaten Klasse (zusammen mit Tieren und Inanimata), s. Corbett (1991, 25 f., 99 ff.). In manchen Sprachen sind diese devianten Mädchenklassen so ‚attraktiv‘, dass immer mehr 4.3 Genus und Geschlecht 95 <?page no="97"?> 22 Um häufigen Missverständnissen (z. B. in Meineke 2023) entgegenzuwirken: Vom Umkehrschluss ist hier nicht die Rede, d. h. nicht alle Bezeichnungen homosexueller Männer müssen umgekehrt Feminina sein. 23 So z. B. in den Duden-Grammatiken bis 1995, in Kalverkämper (1979, 60) und - besonders weit gefehlt - in Löffler (1992, 43): „Offensichtlich besteht im alltäglichen Sprachgebrauch keine zwin‐ gende Beziehung zwischen grammatischem Geschlecht und natürlichem Sexus, ja man könnte sogar den Eindruck gewinnen, dass im Alltag der soziale Geschlechtsunterschied sprachlich gar nicht wahrgenommen werden soll. Anders könnte man nicht die häufig grammatisch neutralen Personenbezeichnung[en] erklären: das Kind […], das Mädchen, ‚es‘ im Schweizerdeutschen als Pro‐ nomen für alle weiblichen Wesen. […] Das grammatische Geschlecht von Personenbezeichnungen wird jedenfalls für die Unterscheidung gesellschaftlicher Geschlechterfunktionen nicht systematisch genutzt, ohne dass deswegen die Sprache gleich als ‚patriarchalisch‘ angesehen werden muss“. Bezeichnungen für Frauen (auch von unabhängigen, sich selbst versorgenden) hi‐ neinwandern (mit durchaus positiver Bewertung), ja sogar so viele aus der Femi‐ nin-Klasse abwandern, bis dort nur noch ‚Hausmütterchen‘, d. h. ältere weibliche Familienmitglieder wie Mütter und Großmütter verbleiben (s. dazu auch das Nord‐ friesische in Nübling 2017c, 198-203, wo die Femininklasse sogar implodiert ist, nachdem sämtliche Feminina zu den Neutra übergegangen waren). Zwischen dem Konzept ‚Mädchen / ledige junge Frau‘ bis zur älteren ‚Ehefrau und Mutter‘ er‐ streckt sich ein dynamisches nominalklassifikatorisches Feld, das viel über Status und Bewertung von Frauen berichtet und noch immer seiner typologischen Be‐ stellung harrt (s. aber Aikhenvald 2016). Auch kennzeichnet Frauenreferenzen ihre Affinität zur Diminution, gegen die Männerbezeichnungen immun sein können (Kap. 6.2.2.4). Noch interessanter als diese Genuskonflikte ist die Frage, wie es überhaupt dazu kommt, dass es im Kernbereich humaner Lexik trotz der sonst so konsequenten Genus-Sexus-Verschränkungen zur Zuweisung ‚falscher‘ Genera kommen kann. In Abb. 4-2 haben wir unter „Personen“ das Neutrum Weib eingeklammert, um den Ausnahmecharakter zum sonst so engen Genus-Sexus-Nexus deutlich zu machen. Es gibt noch weitere Genus-Sexus-Devianzen, die nicht in Abb. 4-2 enthalten sind, und zwar Männerbezeichnungen im Femininum: die Schwuchtel, die Tunte, die Memme. Wir beginnen mit diesen dreien, weil sich die Ratio dahinter schneller erschließt: Die deviante Genuszuweisung (feminine Männerbezeichnungen) steht für eine soziale Normverletzung. Männer, die andere Männer begehren (Schwuchtel, Tunte) oder wei‐ teren Gendererwartungen nicht nachkommen (Memme als ‚Feigling‘), werden gram‐ matisch ‚geächtet‘; sie werden, indem man ihnen ‚weibliches‘ Verhalten unterstellt, ‚entmännlicht‘, aus der Maskulinklasse ausgeschlossen und zu den Feminina abgescho‐ ben. 22 Diese hochmarkierte, stigmatisierende grammatische Devianz kann nur vor dem Hintergrund rigider und verlässlicher Genus-Sexus-Kopplungen funktionieren. Damit bestätigen solche Genus-Sexus-Brüche (die in Verkennung dieser Fakten manchmal gar als Argument für die Genusarbitrarität herangezogen werden) 23 umso nachdrücklicher die Regel: Verstöße gegen die Geschlechterordnung (Gender) werden durch Verstöße 96 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="98"?> gegen die Genus-Sexus-Ordnung sanktioniert (ausführlicher dazu Nübling 2017a, 2019, 2020a, 2020b; Lind / Nübling 2021). Auch Eisenberg (2013b, 137) betont, dass wenn „grammatisches und natürliches Geschlecht […] auseinanderfallen“, dies „stets abwertend oder neutral, niemals aber mit einer positiven Konnotation verbunden“ sei. Köpcke / Zubin (1996) sehen hier sogar durchgehend „abwertende Muster“ (482) am Werk. Aus typologischer Perspektive bestätigt dies Aikhenvald (2016), die ausführlich auf sog. linguistic gender reversals eingeht. Während Männer ins Femininum, aber nicht ins Neutrum verschoben werden, ist es bei Frauen anders: Genus-Sexus-Diskordanzen führen nur selten zu Maskulina, was wohl mit dem höheren Status von deren Mitgliedern zu erklären ist (Nübling 2017a, 2020a, 2020b; zum maskulinen Backfisch für pubertierende Mädchen im 19. Jh. s. Nüb‐ ling 2020a, Stocker 2021). Vielmehr führen sie zum ‚unbelebten‘ Neutrum: das Mädchen, Fräulein, Weib, Frauenzimmer (Abb. 4-5). Wie erwähnt, enthält das Neutrum primär Inanimata wie v. a. Stoffe und Flüssigkeiten (Eisen, Blech, Kristall, Wasser, Öl, Blut) und Gegenstände, an Animata (neben Tieren wie Krokodil, Kamel) nur geschlechtsunreife Jungmenschen (und -tiere; Kap. 4.3.2). Schon Krifka (2009) hat gezeigt, dass Neutra die wenigsten Animata enthalten. Er hat die 600 häufigsten Substantive nach Genus und Belebtheit sortiert und festgestellt, dass 26 % der Maskulina belebt sind, aber nur 8 % der Feminina und 7 % der Neutra: „Thus, by far most animate nouns are masculine“ (Krifka 2009, 156), denn aus der Perspektive der Animata sind 69 % maskulin, 16 % feminin und 9 % neutral (der Rest entfällt auf Plurale wie Leute, Arbeitslose). Abb. 4- 6: Gendereffekte bei Genus-Sexus-Diskordanzen (soziale Fallhöhenunterschiede) Während Männer ins Femininum, aber nie ins Neutrum verschoben werden, ist es bei Frauen anders: Genus-Sexus-Diskordanzen führen nur selten zu Maskulina, was wohl mit dem höheren Status von deren Mitgliedern zu erklären ist (Nübling 2017a, im Druck). Vielmehr führen sie zum ‚unbelebten‘ Neutrum: das Mädchen, Fräulein, Weib, Frauenzimmer (Abb. 4-6). Wie erwähnt, enthält das Neutrum primär Inanimata wie Gegenstände, Stoffe und Flüssigkeiten (Eisen, Blech, Kristall, Wasser, Öl, Blut etc.), an Animata nur geschlechtsunreife Jungmenschen und -tiere (Kap. 4.2.2). Schon Krifka (2009) hat gezeigt, dass Neutra die wenigsten Animata enthalten. Er hat die 600 häufigsten Substantive nach Genus und Belebtheit sortiert und festgestellt, dass 26 % der Maskulina belebt sind, aber nur 8 % der Feminina und 7 % der Neutra: „Thus, by far most animate nouns are masculine“ (Krifka 2009, 156), denn aus der Perspektive der Animata sind 69 % maskulin, 16 % feminin und 9 % neutral (der Rest entfällt auf Plurale wie Leute, Arbeitslose). Abb. 4-5: Gendereffekte bei Genus-Sexus-Diskordanzen (soziale Fallhöhenunterschiede) Werner (2012) spricht bei neutraler Referenz auf Animata von „Asexus […], und zwar mit intendierter, starker Pejoration“ (192). Diesen Terminus haben wir in Abb. 4-5 übernommen. Das Neutrum eignet sich zur Markierung bzw. Stigmatisierung nicht-geschlechtsreifer (Mädchen) bzw. nicht-rollenkonformer Frauen (Weib). Köpcke (1993, 140) spricht von „entkräftender Bedeutung“ und führt aus: „Wichtig ist, dass Be‐ zeichnungen für Männer, Verwandtschaftsbeziehungen und für Frauen in sozial reifer 4.3 Genus und Geschlecht 97 <?page no="99"?> 24 Aikhenvald (2016) beschreibt diesen Effekt auch für andere Sprachen, etwa das (irokesische) Oneida: „a small and graceful woman will be referred to as ‚feminine‘ and a large and aggressive one as ‚neuter‘ (107). Das Neutrum wird typischerweise für Tiere verwendet. und in sexueller Funktion niemals eine Entkräftung via neutraler Genuszuweisung er‐ fahren“ (139). Dieser Aspekt wird in Nübling (2014a) anhand der Analyse neutraler das Merkel-Belege als „Deagentivierung“ (Entzug von Handlungsmacht) gefasst (Kap. 9.3), was das agentive Maskulinum genau nicht leisten könnte. Deutlich erweist sich immer wieder ein Agentivitätsgefälle von Maskulinum über Femininum zu Neutrum, das (früher noch ausgeprägtere) gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegelt und in der Abfolge (überkommener) behördlicher Anreden zur Formel Herr, Frau, Fräulein sedimentiert ist (s. auch der, die, das; er, sie, es). Köpcke / Zubin (1996, 2003) erkennen das Degradierungspotential der Neutra‐ lisierung. Sie beschreiben zwei produktive lexikalische Cluster, bei denen das Fe‐ mininum sozial unabhängigen, anerkannten Frauen gilt, die sexuell erfahren bzw. verheiratet sind, das Neutrum dagegen sexuell unerfahrenen, ledigen, sozial abhän‐ gigen Frauen, denen auch Naivität und leichte Zugänglichkeit nachgesagt werden kann (Prototyp: Mädchen, Fräulein). Auch gilt es aufsässigen, unattraktiven Frauen (Prototyp: Weib, Reff). 24 Von solchen abwertenden Neutra erfassen die beiden Autoren (über Wörterbücher) ca. 100 Types, deren Entstehung sie im 17. / 18. Jh. vermuten. Das Cluster ist weiterhin produktiv, was Anglizismen wie das Girl, Pin-up, Playmate, Model, Hottie, Bunny, Groupie belegen. Das Muster speist sich aus Metaphern, Meto‐ nymien und Diminutiven, auch aus (heute) genuinen Frauenbezeichnungen wie Weib, Mädchen, Frauenzimmer (s. dialektal abwertend das Mensch). Stocker (2021) liefert aus der sog. Backfisch-Literatur weitere neutrale Metaphern für junge Mädchen wie Ding, Wesen, Geschöpf, Herz, Quecksilber, Seelchen, Juwel, was „sie entmündigt und auf Passivität verpflichtet“ (24). Auch für zahlreiche Dialekte werden pejorative Neutra beschrieben, etwa von Dahl (1961) für das Mecklenburgische: „Solch abwertendes N. verdrängt sogar das natürliche Geschlecht: Frugensperson ist N. neben F.; Minsch, bes. Frugensminsch, hat wie das Hd. das N. für die negative sittliche Wertung ausgesondert; Unglücks‐ worm N. gegenüber Worm M. als Tier; Balg als Schelte für Kinder ist N., sonst M. […]“ (199). Historisch sind negative Neutra ebenfalls belegt: „‚Das Mensch‘ und ‚der Kerl‘ - Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700-1760)“ heißt eine soziologische Untersuchung von Gleixner (1994). Die der „Unzucht“ angeklagten Frauen wurden in den damaligen Verhörprotokol‐ len meist das Mensch oder das Weibsstück genannt. - In heutigen Schweizer Dia‐ lekten bezeichnet Fräulein im Neutrum (s Fröili) eine ledige Frau, im Femininum (d Fröili) dagegen eine Lehrerin, also die sozial unabhängige, berufstätige Frau. Auch Schirmunski (1962, 445) beobachtet, dass in bestimmten Dialekten Weib im 98 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="100"?> 25 Bei das Ekel und das Mensch erfolgt zur Abwertung ausschließlich ein Genuswechsel vom Maskuli‐ num zum Neutrum. Die eindeutige Funktion des Neutrums tritt auch bei substantivierten Adjektiven zutage: Schau mir in die Augen, Kleines! könnte weder einen Mann noch einen Jungen adressieren. 26 Damit sind referenzielle Verwendungen gemeint (da kommt das Großmaul), keine prädikativen, bei denen deutlich weniger Beschränkungen gelten (er / sie ist ein Großmaul). Fall einer ledigen Frau neutral pronominalisiert wird, im Fall einer verheirateten feminin. War mhd. wīp noch der allgemeine, wertneutrale Ausdruck für die Frau, hat es eine der klassischen Pejorisierungen zum Schimpfwort erfahren (Kap. 8.3). Andere Neutra steuern direkt die abwertende Domäne an: das Reff, Aas, Luder, Ferkel, Stück (Mist- / Weibsstück), Ding, Schaf, Biest, Klappergestell, Entchen, Ekel, Flittchen, Loch, Aschenputtel. 25 Wichtig ist, dass es neben der negativen Semantik vor allem das neutrale Genus ist, das abgeschöpft wird, denn dieses kommt bei männlichen Schimpfwörtern seltener vor. Wie eine studentische Untersuchung des Duden-Uni‐ versalwörterbuchs von 2003 im Jahr 2015 herausfand, sind hier nur sehr wenige genuin männliche Neutra verzeichnet (die den Mann als Versager ausstellen): das Muttersöhnchen, Bürschchen, Jüngelchen, Weichei. Einige andere werden überwiegend Männern zugewiesen: das Arschloch, Schwein, Mistvieh, Großmaul. 26 Dabei könnten über Metaphern und Diminution auch für Männer Neutra generiert werden. Dies unterbleibt jedoch weitgehend (was nicht heißt, dass es für Männer keine degradie‐ renden Ausdrücke gäbe, es sind nur wenige Neutra darunter). Dies erklärt umgekehrt die vielen Diminutiva für Frauen: Einerseits drücken sie Kleinheit, Unwichtigkeit und Verfügbarkeit aus, andererseits produzieren sie Neutra. Bei Mädchen ist das Diminutiv längst lexikalisiert, potentiell paralleles Jüngchen / Jünglein jedoch nicht (Ähnliches gilt für Fräulein entgegen *Herrlein / Herrchen). Wie König (2005, 166 f.) zu entnehmen ist, sind fast sämtliche Dialektwörter für Mädchen Neutra: das Mensch, Mäken / Mädle / Madl, Diandl, Wicht, Luit, Famen, Deern (bei letzterem auch di Deern). Dagegen sind alle Jungenbezeichnungen, von denen es deutlich weniger gibt, maskulin: de(r) Junge, Bua, Kerle. Auch in polnischen Dialekten sollen Lexeme für Mädchen und unverheiratete Frauen neutral und solche für verheiratete Frauen feminin sein. Der Wechsel vom Neutrum zum Femininum vollzieht sich direkt nach der Hochzeit, d. h. Heirat hebt vormals neutrale Frauen ins sexuskongruente Femininum an (Corbett 1991). Ähnliches wurde oben für die genusvariierende Pronominalisierung weiblicher Figuren in Märchen erwähnt, wo es-Mädchen zu sie-Mädchen aufsteigen, sobald sie geheiratet werden oder dies auch nur in Aussicht steht. Männer verhelfen damit Frauen in ihr kongruentes Genus (Robinson 2010, 151-170). Auch Aikhenwald (2016) bestätigt dies vielfach aus typologischer Perspektive (v. a. in Kap. 7 „Manly women and womanly men: the effects of gender reversal“ und Kap. 11, wo „social inequalitites through gender asymmetries“ (186 ff.) zur Sprache kommen). Bereits im Jahr 2000 stellt Östen Dahl fest, dass es 4.3 Genus und Geschlecht 99 <?page no="101"?> 27 Angeblich können im Amerikanischen z. B. Räuber mit it pronominalisiert werden - ein großer sprachlicher Distanzierungsgestus. 28 Geschlechtsabstrahierendes hen, das 2015 offiziell in Svenska Akademiens Ordlista aufgenommen wurde, hat sich längst etabliert, auch in Kinderbüchern. Karin Milles stellt nach einigen Jahren fest: „Hen har gått från att vara en het potatis till att bli en ljummen bulle“ [‚Hen ist von einer heißen Kartoffel zu einem lauwarmen Brötchen geworden‘] (zit. in Språktidningen 6 / 2017, 20). mit einem „downgrading“ verbunden ist, wenn Menschen ein geschlechtsdeviantes Genus oder sogar das Neutrum zugewiesen wird: In many languages, speakers may achieve various secondary effects by using the ‘wrong’ gender for a referent, thereby as it were attributing to it the properties associated with that gender. Thus, it seems to be quite common in American English […] for masculine pronouns to be used for women and vice versa or even for humans to be called it […]. 27 Such ‘upgrading’ and ‘downgrading’ may become more or less conventionalized-[…]. (Dahl 2000, 105) Das Neutrum besitzt somit das größte Degradierungspotential (Lind / Nübling 2021). Dies erklärt, weshalb das Englische bei der pronominalen Genusabstraktion im Singular (zur Vermeidung von pseudogenerischem he) auf singularisches they ausweicht oder auf Mischformen zwischen he und she, doch niemals auf it. Ebenso im Schwedischen, wo die im Jahr 2015 kreierte genus- und geschlechtsindefinite Form hen an geschlechtsdefinites han ‚er‘ und hon ‚sie‘ anschließt (und unbelebtes det und den gemieden wurde). 28 Auch diejenigen Menschen, die sich jenseits der binären Geschlechtsklassifikation verorten, empfehlen zur Vermeidung von Geschlechtsasso‐ ziationen bzw. zur Bezeichnung diverser Zugehörigkeiten nicht es, sondern kreative Mischformen aus sie und er, z. B. er_sie, si_er, sier, xier, x, ecs, they oder hen (Kap. 6 und 10.3; Lind 2024). AG Feministisch Sprachhandeln 2014 / 15). Zusammenfassung Die beiden Nominalklassifikationen Genus und Flexionsklasse sind eng mit Belebtheit und Geschlecht(ern) vernetzt. Die deutsche Grammatik ist subtil von einem Geflecht an binär strukturierten Geschlechtsindikatoren durchzogen. Indem diese Kategorien in jedem Satz mehrfach aktiviert werden, verfestigen und perpetuieren sich diese Geschlechtsverweise. Weder Flexionsklassen noch Genus dienten ursprünglich der Ge‐ schlechterunterscheidung. Dies ist vielmehr Resultat späterer Reanalysen (Exaptation): Aus sprachhistorischer Perspektive zeigt sich, dass und wie überflüssige oder obsolet gewordene Formen mit neuen Funktionen angereichert werden und diese Funktionen um sozial elementare Unterscheidungen wie Belebtheit und Geschlecht(er) kreisen. Andere soziale Unterscheidungen wie Religion, Alter, Ethnizität etc. haben keine solch tiefgehende Grammatikalisierung erfahren, sie werden lexikalisch realisiert. Das sog. Genus-Sexus-Prinzip leistet die sichtbarste Verschränkung von Grammatik und Zweigeschlechtlichkeit. Nur vor diesem Hintergrund erzielen ‚Verletzungen‘ 100 4 Nominalklassifikation: Flexion und Genus <?page no="102"?> dieser Regel besondere Effekte: Feminine Männer- oder neutrale Frauenbezeichnungen verweisen auf ‚Verletzungen‘ von Geschlechterordnungen. Das nun folgende Kap. 5 zum sog. generischen Maskulinum schließt an den Ge‐ nuskomplex an und greift eine große Kontroverse auf, indem es danach fragt, ob maskuline Personenbezeichnungen unter bestimmten Bedingungen ihre Verweiskraft auf Geschlecht außer Kraft setzen können, ob also ein Bürger, Leser oder Fahrer geschlechtsübergreifend verwendbar sind, indem damit Frauen wie Männer assoziiert werden. Diese Frage ist so zentral, dass wir ihr ein eigenes Kapitel widmen. Zusammenfassung 101 <?page no="104"?> 5 Das so genannte generische Maskulinum „Der Neandertaler - unser Bruder“ lautet der unauffällige Titel eines Buches, auf dessen Cover das Geschlecht dieses Bruders auch bildlich bestätigt wird. Obwohl hier mit dem maskulinen Nomen Neandertaler generisch die gesamte Gattung dieser Spezies gemeint sein dürfte, ‚passiert‘ ein häufig zu beobachtendes Abgleiten des Maskulinums in eine spezifisch männliche Vorstellung. Zwar weiß man, dass es zur Fortpflanzung auch weiblicher Menschen bedarf (laut Untertitel geht es immerhin um „300.000 Jahre Geschichte des Menschen“), dennoch wird der Neandertaler ganz selbstverständlich als Mann konzipiert (im Klappentext wird er auch zum „Vetter“). Dass dies kein einmaliger Ausrutscher ist, sondern häufig mit maskulinen Personenbezeichnungen besonders im Singular ‚geschieht‘, ist Thema dieses Kapitels. Es adressiert eine große Kontroverse in der öffentlichen Diskussion: Können maskuline Personenbezeichnun‐ gen wie Neandertaler, Tourist, Einwohner, Leser, Pilot oder Indefinitpronomen wie man, keiner, niemand geschlechtsübergreifend fungieren, also von Geschlecht absehen? Kann das in ihnen enthaltene Maskulinum seine (in Kap. 4 belegte) Verweiskraft auf männliches Geschlecht außer Kraft setzen oder zumindest reduzieren? Und wie verhält sich dies im Plural? Für alle Substantive gilt, dass ihr Genus im Plural unsichtbar ist, keines ihrer Begleitwörter verrät irgendetwas über Genus. ‚Vergisst‘ man im Plural das Singulargenus, fördert der Plural eine ausgewogenere Repräsentation der Geschlechter? Im Gegensatz zur öffentlichen Diskussion, die ohne Bezug zur Linguistik auszukommen pflegt, hat die (Psycho-)Linguistik diese Frage vielfach beantwortet. Die über verschiedene Untersuchungsdesigns gewonnenen Ergebnisse weisen in dieselbe Richtung und führen zu dem Schluss, dass das sog. generische Maskulinum (GM) nur bedingt funktioniert. In diesem Kapitel wollen wir die wichtigsten Tests vorstellen und relevante Differenzierungen vornehmen. Da es bislang noch kaum Untersuchungen zu nonbinären Vorstellungen gibt (sie entstehen - 2023 - gerade), beschränkt sich dieses Kapitel weitgehend auf das binäre Geschlechtsparadigma. Zunächst irritiert die genderlinguistische Verwendung des Terminus generisch, denn er wird oft anders verwendet als in der Linguistik üblich (s. Hellinger 1990, 89 f.; Heise 2000, 4; Christen 2004, 27 f.; Petterson 2011, 62-70; Ott 2017a, 16 f.). Eine generische Perso‐ nenbezeichnung bezieht sich abstrakt auf eine Gattung (Klasse) als solche und keinesfalls auf konkrete Mitglieder derselben. Generisch sind folgende Sätze: Der / Ein Mensch ist ein Säugetier. (Die) Menschen sind Säugetiere. Wie man sieht, kann man sowohl im Singular als auch im Plural, außerdem mit bestimmtem als auch unbestimmtem Artikel generisch referieren. Da sich Generika nicht auf konkrete (Referenz-)Objekte beziehen, sind sie nicht-referenziell (nicht-identifizierend). Deshalb sind sie auch nicht erweiterbar durch Zahlwörter oder durch Determinierer wie bestimmte/ r, gewisse/ r oder diese/ r. Damit würde eine spezifische, referenzielle Lesart erzeugt: Diese / Bestimmte Menschen des 15.Jahrhunderts setzt voraus, dass es sich um spezifische, vorerwähnte oder zumindest bekannte (eingeführte) Menschen handelt. Dies trifft auf Generika genau nicht zu, sie lassen sich am ehesten mit <?page no="105"?> alle oder jede/ r attribuieren (Alle Menschen sind Säugetiere). Betrachtet man die Tests zum sog. GM, wird echte Generizität in diesem Sinn nicht immer zugrundegelegt, nicht selten handelt es sich um spezifische Referenzen. Dies ändert sich jedoch, die referenzsemantische Bedeutung von ‚generisch‘ wird zunehmend reflektiert und in Tests berücksichtigt. Sehr kurz fasst sich Bußmann (2002) bei der Definition des GM: „Gebrauch masku‐ liner […] Personenbezeichnungen und Pronomina zur Referenz auf beide Geschlechter“ (245). Klann-Delius (2005) liefert einige Beispiele: Unter generischem Maskulinum werden Formen maskuliner Nomina und Pronomina verstanden, die sich auf Personen mit unbekanntem Geschlecht beziehen, bei denen das Geschlecht der Personen nicht relevant ist, mit denen männliche und weibliche Personen gemeint sind oder mit denen eine verallgemeinernde Aussage gemacht werden soll-[…]. Beispiele sind: • Die Sendung wird dem Zuschauer gefallen. • Der Japaner ernährt sich meist gesund. Fast jeder konsumiert häufig Fisch und Gemüse. • Man sollte wirklich nicht mehr rauchen. • Jeder, der raucht, kann einen frühen Tod erleiden. (26) [Unterstreichungen: DN] Generisch wird somit in der Bedeutung von geschlechtsübergreifend oder -inklusiv, geschlechtsneutral, -indifferent oder -abstrahierend gefasst und bildet die Opposition zu geschlechtsspezifisch oder geschlechtsdefinit. Wir schließen uns Pettersson (2011) an und sprechen ab jetzt von geschlechtsübergreifendem Maskulinum, das wir - nicht unintendiert - ebenfalls unter „GM“ subsumieren, der bereits etablierten Abkürzung für Generisches Maskulinum. Da die Literatur zum generischen Maskulinum in aller Regel geschlechtsübergreifende Maskulina meint, ist diese Gleichsetzung vertretbar. Dennoch behalten wir den referenzsemantischen Generizitätsbegriff im Blick. Vorab sind verschiedene Arten der Determination zu berücksichtigen (Hellinger 1990, 87-92; Doleschal 1992; Schoenthal 1998, 11; Schoenthal 2000). Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man eine Einzelperson (sprachlich) ausstellt und beleuchtet (dieser Nachbar ist besonders nett) oder ob man von einer Gruppe von Personen spricht, die womöglich nicht einmal Subjekt oder nur Objekt der Handlung ist, sondern Teil einer adverbialen Angabe (du kannst das Paket nebenan bei den Nachbarn abgeben). Dass dieser Nachbar keine Frau ist, dagegen nebenan bei den Nachbarn Frauen enthalten kann, dürfte weithin geteilt werden. Deutlich wird auch, dass der Numerus (ob Singular oder Plural) eine Rolle spielt, denn bei einer spezifischen Einzelperson (dieser Nachbar) erwartet man eine konkrete und korrekte Geschlechtsangabe, nicht aber von allen Personen einer Gruppe (meine Nachbarn). So kann der Satz Viele Nachbarn waren gekommen bei der weiteren Referenzentfaltung ohne weiteres fortgesetzt werden mit darunter Frau Müller, Frau Schmidt und Herr Meyer. Da nicht-referenzielle Gebräuche von konkreten Eigenschaften der Personen abse‐ hen, tritt in solchen Verwendungen das Personengeschlecht am ehesten zurück, es wird irrelevant (dem Zuschauer wird das gefallen). Dies gilt auch für Prädikatsnomen, d. h. Nomen, die nach einer Kopula (einer Form von sein oder werden) stehen: In mein Nachbar ist Bäcker entfaltet ‚Bäcker‘ nur die semantischen Merkmale ‚beruflich 104 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="106"?> backend‘. Ein bestimmter, konkreter Bäcker tritt dabei nicht auf. Gleiches gilt für die Kopula werden: mein Nachbar wird Bäcker. Hier stellt sich die Frage, ob das durch das Maskulinum evozierte Geschlecht soweit herausgefiltert bzw. in den Hin‐ tergrund geschoben wird, dass auch bei Frauen solche maskulinen Prädikatsnomen stehen können: ? meine Nachbarin ist Bäcker / wird Bäcker; sie ist Physiker (gemäß Duden-Grammatik 2016, § 1582 geht beides; mehr dazu korpusbasiert in Kap. 6.2.2.1). (Nicht-)Referenzialität ist ein komplexes, abgestuftes Konzept. Am referenziellsten sind Objekte (dazu gehören auch Menschen und Tiere), wenn sie sprachlich iden‐ tifiziert sind, und das leisten per se Eigennamen am besten, die wir hier ausklammern (Kap. 9). Dass gerade Vornamen fast immer Geschlecht ausdrücken (dies gilt für viele Sprachen), verwundert nicht. Objekte werden auch identifiziert, wenn man sprachlich auf sie zeigen kann, denn Referenzialität ist an den Grad der Identifizierbarkeit, ‚Sichtbarkeit‘ und Definitheit geknüpft. Dies alles nimmt in Tab. 5-1 von a) nach h) hin ab. Wir verwenden als Beispiel Rentner, worunter sich mindestens so viele Frauen wie Männer befinden dürften (wenn nicht sogar mehr). Es liegt also keine einseitig männliche Genderisierung vor. Männlich genderisierte Fälle wie Mörder, Kapitäne, Astronauten schließen wir bewusst aus, ebenso weiblich genderisierte wie Kosmetiker, Altenpfleger, Erzieher (hierzu später mehr). - Beispiele Kategorien - a Sehr geehrter Rentner! adressierend + + Referenzialität---- + + Relevanz von Geschlecht---- b Dieser Rentner bezieht gleich sein Zim‐ mer referierend: spezifisch, demonstrativ, Agens c Der Rentner sucht noch seinen Koffer spezifisch, definit, Agens d Ich habe den Rentner begrüßt spezifisch, definit, Patiens e Ich begrüße nachher noch einen [bestimmten] Rentner spezifisch, indefinit f Im Wirtshaus kommt nachher sicher noch [irgend] ein Rentner vorbei nicht-spezifisch, indefinit g Singular: Ein Rentner ist immer willkommen; Plural: Rentner sind immer willkom‐ men. generisch, Subjekt h Er ist (ein) Rentner generisch, prädikativ Tab. 5-1: Einige syntaktische und referenzlinguistische Kategorien und ihr Bezug zur Referenzialität und zur Relevanz von Geschlecht Tab. 5-1 enthält nur eine kleine Auswahl an syntaktischen und referenzlinguistischen Kategorien. Sie verdeutlicht deren Bezug zur Referenzialität und damit zur Relevanz von Geschlecht: Je referenzieller, desto obligatorischer die Geschlechtsangabe. Wir 5 Das so genannte generische Maskulinum 105 <?page no="107"?> 1 Vorschläge zu alternativen Piktogrammen finden sich hier: www.nonbinary.ch/ symbole/ (Aufruf am 08.05.2024). haben unter a) auch die sog. Adressierung eingefügt (und vom referierenden Rest abgehoben), da Personen sehr oft angesprochen (und nicht nur besprochen) werden. Bei der Verwendung von Rentner in a) scheinen Frauen sich am wenigsten angesprochen zu fühlen. Genau in dieser Adressatenfunktion werden die beiden Geschlechter am häufigsten ausgeflaggt (z. B. durch liebe Rentnerin, lieber Rentner! ). Die Konkretheit und Identifizierbarkeit (Referenzialität) des Rentners nimmt von a) bis h) sukzessive ab, und in diesem Maß vermutlich auch die Vorstellung eines männlichen Vertreters. Damit ist nicht gesagt, dass in f) bis h) beide Geschlechter gleichermaßen aufgerufen werden, sondern Geschlecht scheint zurückzutreten, irrelevant zu sein. Diese Irrele‐ vanz gilt nicht für a) bis e). Hier erbringen Tests Evidenz dafür, dass kaum Frauen assoziiert werden: Weibliche Verrentete müssen hier als movierte Rentnerin erscheinen (Doleschal 1992). Für die meisten Menschen ist es kaum möglich, sich eine geschlechtslose Einzelper‐ son vorzustellen. Daraus resultiert das Problem, auf Straßenschildern oder Ampeln geschlechtslose Figuren darzustellen. 1 Aus der experimentellen Psychologie weiß man, dass ein Mensch ohne deutlich weibliche Geschlechtsinsignien (Brust, Taille, Rock, Stöckelschuhe, Zöpfe) als Mann gelesen wird (Heintz 1993, 28). Bei jeder noch so flüchtigen Begegnung mit einem Menschen erwartet man, das Geschlecht zu erkennen (Heintz 1993; Hirschauer 2001). Bei sprachlichen Zeigegesten auf individualisierte Personen (Fälle a) bis e)) greift das sog. Genus-Sexus-Prinzip am verlässlichsten. Dies unterstreicht auch Becker (2008): „Da wir uns kaum eine geschlechtslose Person vorstellen können, ist es nahezu immer relevant, beim sprachlichen Bezug auf eine Einzelperson das Geschlecht zu erwähnen“ (66). So komme es einer Lüge gleich, wenn „ein Mann seiner Ehefrau mitteilt: ‚Heute Abend gehe ich mit einem Kollegen zum Essen‘“ (ebd.) und es sich dabei um eine Kollegin handelt. Diese Mitteilung entspricht Typ e) mit relativ hoher Geschlechtsrelevanz. In den letzten vier Fällen e) bis h) tritt der Indefinitartikel - in unterschiedlicher referenzieller Ausprägung - auf: in e) handelt es sich um einen zwar unbekannten, aber konkreten und für die SprecherIn spezifischen Referenten, der mit bestimmt oder gewiss attribuierbar ist (heute abend gehe ich mit einem bestimmten / gewissen Kollegen zum Essen). Dagegen enthält f) keinen spezifischen Referenten mehr, was das Nomen mit irgend kombinierbar macht. In g) und h) versiegt jegliche Referenzialität; in g) liegt echte Generizität (abstrakter Bezug auf die Klasse) vor, in h) prädikative Verwendung, die nur die zentralen Seme (Bedeutungskomponenten) abschöpft (Doleschal 1992, 72). Ebenso sind Determinationsglieder von Komposita in aller Regel nicht-referenzi‐ ell: Raucherabteil, Ausländeranteil, Verbraucherdienst, weshalb sich eine Movierung erübrigt (abgesehen von Ausnahmen wie Freundinnengespräch, Künstlerinnen-WG, Journalistinnenbund). Bei der Verwendung von Prädikatsnomen ist das Personenge‐ schlecht durch das Subjekt in der Regel bekannt (auch bei ich und du durch die 106 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="108"?> 2 Trutkowski (2018) überprüft die Bewertung von Ellipsen auf einer Skala von 1 (schlecht) bis 7 (sehr gut) vom Typ a) Anton ist Pilot. Peter auch. b) Anton ist Pilot. Maria auch. c) Anette ist Pilotin. Peter auch. d) Anette ist Pilotin. Maria auch. Während Typ a) und d) jeweils intern kongruent sind und bei der Bewertung 5,87 bzw. 5,88 Punkte erlangen, während die inkongruenten Typen b) und c) 4,55 bzw. - immerhin - 3,91 Punkte erhalten. Während Typ b) - obwohl mit nur 4,55 Punkten bewertet - als Beweis für das generische Maskulinum interpretiert wird, wird die nur wenig geringere Akzeptanz eines „generischen Femininums“ in Typ c) - Anette ist Pilotin. Peter auch - leider kaum problematisiert und entsprechend interpretiert. 3 Dies hat Pusch (2016, 131-136) anlässlich der Berichterstattung über die Opfer des Germanwings-Ab‐ sturzes 2015 kritisiert: Hierbei waren 16 „Schüler“ aus Haltern umgekommen, auf die die Medien so referierten. Der Ausdruck Schüler war hochreferenziell, was die Relevanz von Geschlecht steigert (Tab. 5-1) und (fast) nur männliche Schüler aufruft. Die Mehrheit dieser Gruppe stellten jedoch 14 Schülerinnen. Ihr Geschlecht wurde sprachlich verdeckt, wiewohl andere Unterscheidungen wie die nach Nationalität, Herkunft und Alter vorgenommen wurden. Anwesenheit); hier stellt sich vielmehr die Frage, ob ein maskulines Prädikatsnomen einem weiblichen Subjekt folgen kann, z. B. sie ist ? LehrerMist- / Weibsstück? Rentner‐ Mist- / Weibsstück? Nichtraucher (Kap. 5. 1. 11 und 6.1.1.2). 2 In den Fällen a) bis g) stellt sich dagegen die interessante wie relevante Frage, was Hörer- oder LeserInnen tun, wenn sie gebeten werden, solche Bezeichnungen zu konkretisieren, z. B. indem sie die assoziierten Personen zeichnen, ihnen Namen geben oder Geschichten über sie erfinden sollen. Der Einfachheit halber haben wir nur Singulare verwendet (außer in g). Allerdings dürfte die Numeruswahl relevant sein. Kontrastiert man diese Sätze mit Pluralen, schwächt sich die männliche Lesart ab. Wie bereits gesagt, ist im Plural Genus grundsätzlich unsichtbar (‚Genusneutralisierung‘). Die Frage ist nur, ob das singulari‐ sche Genus im Plural ‚vergessen‘ wird. Tatsache ist, dass Nomen, die nur im Plural vorkommen (sog. Pluraliatantum wie Leute, Ferien, Unkosten) tatsächlich kein Genus haben (aber anscheinend dennoch ein Geschlecht, zu Leute s. Kap. 5. 1. 11). Daraus re‐ sultiert die Frage: Führt die Pluralisierung von Maskulina zu einer ausgewogeneren Geschlechterassoziation? Die meisten Tests (mit Ausnahme von Massner 2010, Kusterle 2011, De Backer / De Cuypere 2012) haben die Numerusopposition nicht oder eher zufällig berücksichtigt. Grundsätzlich tritt die kognitive Geschlechtswahrnehmung bei den Mitgliedern einer Gruppe in den Hintergrund, da es eine Überforderung wäre, jeder einzelnen Person ein Geschlecht zuzuweisen, vgl. ein Tourist kam auf mich zu vs. Touristen kamen auf mich zu. Im Singular besteht eher Geschlechtsspezifizität, während im Plural auch Frauen enthalten sein können, denn im Deutschen gilt das Prinzip, dass Movierung auch dann unterbleibt, wenn sich in einer Gruppe mehr Frauen als Männer befinden: „99 Sängerinnen und ein Sänger bilden nach deutscher Grammatik 100 Sänger“ (Pusch 1984). 3 Nur reine Frauengruppen werden moviert (Touristinnen). Daher: Einige Touristen - alles MännerMist- / Weibsstück? alles Frauen / darunter auch Frauen / *darunter auch Männer - kamen auf mich zu. Doch gibt es durchaus Belege für GM vor allem im Plural, bei denen die Anwesenheit männlicher Mitglieder thematisierbar ist, Frauen somit präsupponiert sind: „Die Täter sind überwiegend Männer, viele der Taten geschehen im nahen sozialen Umfeld“ (Pettersson 2011, 15); 5 Das so genannte generische Maskulinum 107 <?page no="109"?> 4 www.badische-zeitung.de/ ringsheim/ one-woman-show-auf-kurzweil-gepolt/ (Aufruf am 08.05.2024). 5 Beiträge laienlinguistischer Provenienz suggerieren manchmal Forderungen nach Menschin, Teufe‐ lin, Personerich etc. Sie disqualifizieren sich, da ihnen Epikoina nicht bekannt zu sein scheinen. „Mit ‚Männer und andere Irrtümer‘ hat die […] Kabarettistin Simone Mutschler […] vor etwa 60 Zuhörern, darunter auch Männer, ihr Debüt gegeben“; 4 auch im Singular (aus einem Bericht über Osteoporose): „Jeder vierte Patient ist ein Mann“. Andererseits wirkt ein Satz wie ? Unter den Erziehern befinden sich immer mehr Männer tautologisch. Hierzu besteht noch Forschungsbedarf. Hinzu kommt, dass Lexeme ein sog. soziales Geschlecht haben können (genderisiert sein können), das sich aus außersprachlichen Geschlechterverteilungen oder -vorstel‐ lungen (die oft historisch befrachtet sind) speist: Piloten und Professoren werden eher männlich gelesen als Touristen, Lehrer und Patienten oder gar Erzieher, Kosmetiker und Altenpfleger. Schließlich dürften auch die syntaktischen Funktionen und die damit verbunde‐ nen semantischen Rollen von Bedeutung sein: Der Grad an Referenzialität ist z. B. eingeschränkt, wenn Rentner kein direkter Partizipant (Handlungsbeteiligter) ist - d. h. weder Subjekt (Agens) noch Dativ- (Rezipient) oder Akkusativobjekt (Patiens)--, sondern (meist innerhalb einer Präpositionalphrase) nur der räumlichen Verortung von etwas anderem dient und somit adverbiale Funktion innehat: gestern war die Heizung bei dem Rentner nicht aufgedreht; sie geht nachher in den Blumenladen neben dem Bäcker; sie ist immer noch beim Arzt. Da bislang die Abhängigkeit möglicher Geschlechtsasso‐ ziationen von den graduellen Gehalten an Referenzialität kaum untersucht ist, wird im Folgenden öfter auf solche Faktoren hinzuweisen sein. Vorab sei eine wichtige Klärung angebracht: Bei der Frage nach geschlechtsüber‐ greifender Funktionstüchtigkeit maskuliner Personenbezeichnungen interessieren nicht 1. Maskulina mit inhärent männlichem (sog. semantischem) Geschlecht, wie z. B. der Mann, Vater, Bruder, Schwager; 2. Epikoina, d. h. geschlechtsindefinite Maskulina wie der Mensch, Star, Fan, denen kein weibliches (femininmoviertes) Korrelat zukommt und die deshalb prinzipiell geschlechtsübergreifend fungieren. Epikoina können auch feminin (die Person, Fachkraft) oder neutral sein (das Individuum, Kind). Man kann problemlos sagen: Er ist eine angenehme Person, sie ist ein angenehmer Mensch etc. (s. Klein 2022 und Kap. 5.1.12). 5 Wir beginnen mit Studien zur fraglichen Geschlechtsneutralität maskuliner Personen‐ bezeichnungen (5.1.) und gehen anschließend zu (maskulinen) Indefinitpronomen über (5.2). 108 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="110"?> 6 Dass es theoretisch ja auch der Partner des Mannes sein könnte, lassen wir hier und in den folgenden Sprachbeispielen (oft den Tests entnommen) deswegen außer Acht, da wir es mit verbreiteten Alltagsannahmen zu tun haben; dazu gehört (noch) die Hetero-Ehe. 7 Graham (1975) hat amerikanische Schulbücher aus den 1960ern ausgewertet und festgestellt, dass - nur bezogen auf Personal- und Possessivpronomina - viermal so häufig männliche wie weibliche Formen vorkommen. Von den 940 he-Nennungen erwiesen sich praktisch alle als geschlechtsde‐ finit-männlich (etwa indem sie im Text durch Personennamen ‚aufgelöst‘ werden). Nur bei 32 he-Vorkommen blieb das dahinterstehende Geschlecht offen und damit eine geschlechtsübergrei‐ fende Lesart möglich (s.-auch McKay / Fulkerson 1979, Khosroshahi 1989). 5.1 Substantive Feministische Beiträge starten gerne mit einem sog. Sprachrätsel, das dem genuslosen Englischen entstammt und einfach (bzw. brachial) in die Drei-Genus-Sprache Deutsch übertragen wird. Es soll das Versagen des GM belegen und lautet in etwa so: Vater und Sohn fahren im Auto. Sie haben einen schweren Unfall, bei dem der Vater sofort stirbt. Der Junge wird mit schweren Kopfverletzungen in ein Krankenhaus gebracht, in dem ein Chef-Chirurg arbeitet, der eine bekannte Koryphäe für Kopfverletzungen ist. Die Operation wird vorbereitet, alles ist fertig, als der Chef-Chirurg erscheint, blass wird und sagt: „Ich kann nicht operieren, das ist mein Sohn! “. Frage: In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen der Chirurg und das Kind? Es ist niemandem zu verübeln, mit Chef-Chirurg nicht die hier anscheinend erwartete Mutter zu assoziieren. 6 Man muss sich auch nicht vorwerfen, bei anspruchsvollen akademischen Berufen nur an Männer zu denken. Was im Englischen funktionieren mag, muss es im Deutschen noch lange nicht: Es wird zunächst ein Chefchirurg (m.) eingeführt, der dann mit dem Definitartikel wiederaufgegriffen und identifiziert, ja sogar in die Subjekts- und Agensposition gehoben wird (der Chefchirurg sagt X). Dies entspricht Funktion c) in Tab. 5-1. Es handelt sich um eine referenzielle Verwendung, die am entgegengesetzten Pol der generischen Verwendung angesiedelt ist. Ist eine Frau gemeint, muss das Femininum Chirurgin auf den Plan treten. Ganz anders im Englischen, wo erstens kein Nominalgenus existiert und damit auch kein Genus-Sexus-Prinzip und zweitens es zu surgeon kein weibliches Wortbildungskorrelat gibt. Damit greift bei engl. surgeon, doctor, professor, driver ausschließlich das soziale Geschlecht, also Gender, das auf stereotypen Vorstellungen basiert und / oder auf der realen Geschlechterrepräsentanz der bezeichneten Tätigkeit. Das Englische erfordert einzig bei der Pronominalisierung eine Geschlechtsoffenbarung durch she oder he. Wie vielfach nachgewiesen, taugt he nicht zur Geschlechtsabstraktion, es wurde und wird geschlechtsspezifisch verstanden. 7 Genau hier setzte schon früh die feministische Sprachkritik an, die heute greifbare Erfolge vorweisen kann, indem statt pseudoneut‐ ralem he entweder he or she, s / he o. Ä. oder singularisches they verwendet wird (Bodine 1975, Graddol / Swann 1989, 105-110; Hellinger 1990). Dieses ‚Sprachrätsel‘ zeigt, wie problematisch es ist, englische Verhältnisse auf das Deutsche übertragen zu wollen (auch im öffentlichen Diskurs kommt immer wieder der naive Vorschlag auf, es im Deutschen doch so wie im Englischen zu machen). Auch eng verwandte 5.1 Substantive 109 <?page no="111"?> 8 Vergleichbar ist das Dilemma mit dem Namen Amerika, der eigentlich auf Süd- und Nordamerika referiert, oft aber - zum Ärger Südamerikas - nur Nordamerika meint (bzw. - nun zum Ärger Kanadas - nur die USA). Deshalb wird in Südamerika sprachlich konsequenter zwischen Süd- und Nordamerika unterschieden (Sichtbarmachungsstrategie). Sprachen können sehr unterschiedliche grammatische Strukturen enthalten. Eine genderlinguistisch relevante Kernfrage lautet: Unterscheidet diese Sprache zwischen Femininum und Maskulinum? Im Nominalbereich tun dies weder Englisch, noch Schwedisch, noch Dänisch (s. eingehend Hellinger 1990; zum Schwedischen Nübling 2000). Dass es jenseits von Genus dennoch zu präferiert männlichen Lesarten kommt (people = male bias), zeigt auch das Englische mit Sätzen wie „Americans of higher status have less chance of having a fat wife“ (Linke 2002, 122; mehr in Hellinger 1990). Bevor wir einige Studien zur Funktionstüchtigkeit des GM vorstellen, soll die das gesamte Deutsche durchziehende strukturelle Asymmetrie dargestellt werden, die wir bislang nur impliziert haben: Geschlechtsübergreifende und geschlechtsspezi‐ fische maskuline Personenbezeichnungen sind homophon (synkretistisch), d. h. sie unterscheiden sich formal durch nichts (Tab. 5-2). Rezipientinnen müssen somit bei jedem Maskulinum erschließen, ob sie ein- oder ausgeschlossen sein könnten, wobei Weltwissen und Kontexte diese Entscheidung unterstützen, denn Wörter sind in Texte eingebettet. Männer sind jedoch immer eingeschlossen. 8 Singular sog. generisches Maskulinum (geschlechtsübergreifend) der Student geschlechtsspezifisch die Studentin der Student Plural geschlechtsspezifisch die Studentinnen die Studenten sog. generisches Maskulinum (geschlechtsübergreifend) die Studenten Tab. 5-2: Der doppelte Synkretismus bei maskulinen Personenbezeichnungen (nach Pusch 1984, 54) Offiziell gibt es also zwei Verwendungen von der Student, eine geschlechtsübergrei‐ fende (der Student muss heute mit 735 Euro Bafög auskommen) und eine geschlechtsspe‐ zifische (der Student, der uns vorhin geholfen hat, heißt Rudi). Der erste Satz soll Frauen mitmeinen, der andere nicht, sonst spräche man von Studentin. Die gleiche Situation ergibt sich im Plural (s. die grau hinterlegten Zellen in Tab. 5-2). Fett gedruckt sind die geschlechtsmarkierenden Morpheme. Im geschlechtsübergreifenden Gebrauch soll also der Maskulinartikel der vom Geschlechtsverweis entkoppelt sein. Die Frage ist, a) ob das tatsächlich der Fall ist bzw. b) ob die unterschiedlichen Maskulinverwendun‐ gen (spezifisch versus generisch) sprecherseitig beherrscht werden. Wie zahlreiche LinguistInnen, allen voran Pusch (z. B. 1984, 27 ff.; Gorny 1995, 525 ff.), immer wieder nachgewiesen haben, stößt man oft auf vermeintliche GM, die plötzlich in die 110 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="112"?> geschlechtsspezifische Lesart umkippen - und somit vermuten lassen, dass schon die erste Nennung nicht geschlechtsübergreifend gemeint gewesen sein kann. Ein klassisches Beispiel dafür liefert die Zeitschrift „Forschung & Lehre“ des Deut‐ schen Hochschulverbands. Im Jahr 2014 beschreibt ein Artikel das neue Konzept des sog. Projekt-Professors: Die Daueraktivität des projektorientierten Professors erfordert dagegen Gewandtheit im Auftreten, gute Laune, Flexibilität und weitestgehende Verfügbarkeit. Wer sich als Familien‐ vater […] zu sehr gebunden hat, gilt schnell als inflexibel und damit unbrauchbar. (Forschung & Lehre 2014 / 11, 873) Sicher würde sich der Verfasser dagegen verwahren, Frauen beim „Projekt-Professor“ nicht mitgemeint zu haben. Trotzdem hat er sie vergessen, wenn sich der vermeintlich geschlechtsneutrale Professor im Folgesatz als Familienvater entpuppt. Dabei wäre der erste Satz generisch zu interpretieren als ‚alle Mitglieder der Klasse Professor‘. Dieses sprecherseitige Unvermögen (Fall b)), zwischen geschlechtsübergreifenden und geschlechtsspezifischen Maskulina zu unterscheiden, findet sich in allen Bildungs‐ schichten und Zeitungen, besonders häufig in der F. A. Z. Dieser Zeitung ist denn auch das zweite Beispiel entnommen, das zeigt, wie leicht dies schiefgehen kann. In dem Artikel „Revolution in Japan - Gastarbeiter willkom‐ men“ (13.10.2018) ist von „Arbeitsmigranten“, „Ausländern“, „Arbeitern“ etc. die Rede, die in Japan dringend benötigt werden für die Bereiche „Landwirtschaft, Pflegedienste, Bau und Beherbergungen“. Gegen Ende erfährt man jedoch: „Diese Arbeitsmigranten sollen auch Ehefrauen und Kinder mitbringen dürfen“. Mutmaßt man anfangs noch, dass Frauen mitgemeint sein könnten, wird man am Ende eines Besseren belehrt (der F.A.Z. darf man ein heterosexuelles Weltbild unterstellen). Die F.A.Z. besteht darauf, dass Maskulina „generisch“ gemeint seien - und widerlegt sich regelmäßig selbst. So auch im dritten Beispiel, ebenfalls aus dieser Zeitung: In dem Artikel „Können Politiker etwas von ihren Töchtern lernen? “ (F.A.S. vom 27.06.2021) werden ausschließ‐ lich männliche Politiker und deren Töchter vorgestellt. Sollte man dies für einen Zufall halten, dann klären die ersten Sätze, als wie geschlechtsgenerisch Politiker verstanden werden: „Die meisten Politiker vertrauen nur wenigen Menschen. Das ist kein Wunder, wer mächtig ist, hat viele Feinde. […]. Übrig bleiben ein paar Vertraute - und die Familie, die Ehefrau, die ihnen den Rücken freihält“. Das vierte Beispiel aus der Süddeutschen Zeitung (16. 05. 1997) wirbt für ein Vorbe‐ reitungstraining für akademischen Nachwuchs: „Für immer an die Uni - wenn nicht als ewiger Student, dann wenigstens als Herr Professor! “. Student steht im Singular und fördert kraft seines maskulinen Genus (und nicht der Unterrepräsentanz von Studentinnen) die sexusspezifisch-männliche Lesart. Gravierender und mit fatalen praktischen Konsequenzen verbunden ist das fünfte Beispiel, von dem Pusch (1999, 19) berichtet: Ein Lehrer wurde beauftragt, für einen Landkreis einen sog. Altenhilfeplan zu entwickeln. Dort spricht er, vermeintlich generisch, konsequent von der Senior, der alte Mitbürger etc. und vergisst bzw. übersieht 5.1 Substantive 111 <?page no="113"?> 9 So der Wortlaut, gemeint und linguistisch exakt: maskulin. darüber die spezifischen Belange der faktisch zwei Drittel betragenden Seniorinnen (nämlich dass sie im Schnitt weniger Einkommen als Senioren haben, dass sie häufig ihre Männer pflegen oder verwitwet sind und deshalb andere Probleme für sie gelten). Durch die Maskulina gerieten dem Lehrer die Frauen aus dem Blick. Der Altenhilfeplan musste umgeschrieben werden, da er den Lebensalltag der meisten Alten verfehlt hatte. Dieser sprachlichen Unsichtbarkeit von Frauen, so die verbreitete Forderung, kann nur begegnet werden, indem sie über Paarformen bzw. Beidnennungen (Studen‐ tinnen und Studenten), Schrägstriche (Student/ inn/ en) oder über die Schreibung mit großem I (StudentInnen) sichtbar gemacht werden. Auch wenn dies den Schreibenden Gewandtheit und Flexibilität abverlangt, so kann aus dem Unwillen, dieses Problem anzugehen, nicht - wie häufig der Fall - der Fehlschluss gezogen werden, es gebe kein Problem. Dass die Lesbarkeit durch geschlechtergerechtere Formen beeinträchtigt wird, wurde durch mehrere Studien widerlegt (z. B. Braun et al. 2007; s. Kap. 5.1.5). Da viele, die Texte verfassen, mittlerweile ahnen, dass das GM ein Problem darstellt, versuchen sie es durch eine Fußnote mit ungefähr folgendem Wortlaut zu bannen: „Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwendet die folgende Arbeit ausschließlich die männliche 9 Form. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts“. Allerdings schützen solche Absichtserklärungen nicht vor der Verwechslung geschlechtsübergrei‐ fend intendierter mit geschlechtsspezifischen Maskulina. Im Gegensatz zu männlichen Lesern, die immer gemeint sind und deshalb oft weniger Probleme mit dem Deutschen haben, gilt für die weiblichen, dass sie fast nie wissen können, ob sie mitgemeint sind oder nicht. Pusch (1984) vergleicht dies mit einer Lotterie: „Man kann also unser deutsches Sprachsystem […] mit einer Lotterie vergleichen, in dem Männer mit jedem Los gewinnen (mit beiden Lesarten gemeint sind), Frauen aber nur mit jedem zweiten“ (27). Vermutlich dürfte dies noch zu optimistisch sein, denn auch das zweite Los meint Frauen möglicherweise seltener als man glauben möchte. Diewald / Steinhauer (2022, 24-26) fassen das potentielle Mitgemeintsein von Frauen als konversationelle Implikatur, die den Rezipierenden die pragmatische Leistung der inhaltlichen Anreicherung abverlangt und die löschbar ist. Hier wird das von Grabrucker (1988) erwähnte Beispiel des Böhmischen Landtags angeführt, der sich anlässlich der Wahl einer Frau in diesen Landtag im Jahr 1912 auf das Gesetz von 1861 berief: „Als Landtagsabgeordneter ist jeder gewählt, der […]“. Angesichts dieser Maskulina berief man sich auf den Wortlaut des Gesetzes, der Frauen nicht vorsehe. Die Implikatur „ist nicht Bestandteil der Wortbedeutung und kann jederzeit negiert bzw. gelöscht werden“ (ebd., 26): Dies wurde hier getan und ist theoretisch immer möglich. Im Folgenden referieren wir nun linguistische Tests, psycholinguistische Ex‐ perimente und Textanalysen. Da kommunikativer Erfolg sich weniger aus produ‐ zentenseitigen Absichtserklärungen (wie der oben genannten Fußnote) bemisst als ausschließlich aus dem rezipientenseitigen Verständnis - was nützt der bestgemeinte Text, wenn er nicht oder falsch verstanden wird? -, befassen sich diese Studien nur 112 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="114"?> mit Hörern bzw. Leserinnen (Rezipient: innen). Mittlerweile gibt es zahlreiche Tests, von denen wir weitgehend chronologisch die wichtigsten referieren (zu weiteren s. Motschenbacher 2015, Bröder 2024, Zacharski / Ferstl 2024). Alle sind geltenden Standards verpflichtet: Die Intention der Tests wurde verschleiert, Distraktoren wur‐ den eingebaut und genügend Test- oder Versuchspersonen (Vpn) mit ausgewogener Geschlechterverteilung (oft, doch keineswegs immer, Studierende) berücksichtigt, um belastbare Schlüsse ziehen zu können. Dass sich im Laufe der Jahre immer mehr Faktoren als relevant erwiesen, die, um ihren Einfluss auf die Wahrnehmung sprachlicher Formen ermitteln zu können, separat untersucht werden (müssen), ver‐ steht sich von selbst, ebenso die Tatsache, dass die Testdesigns immer vielfältiger, differenzierter, präziser, indirekter und damit anspruchsvoller werden. Von Laien wird diese Tatsache oft kritisiert, in der Annahme, „die Linguistik“ müsse doch wissen, was Fakt ist und was nicht, wie Sprache funktioniert und wie nicht, was richtig und was falsch sei. Oft nehmen Laien Introspektionen (Selbstbefragungen) vor und verab‐ solutieren ihre Intuitionen als Tatsachen. Die zunehmend empirisch forschende und sich interdisziplinär ausrichtende Linguistik befindet sich, wie alle Wissenschaften, in ständigem Fortschritt. Schlichte Ja- / Nein-Antworten hat sie nicht zu bieten, so sehr dies von Teilen der Öffentlichkeit erwünscht ist. Wissenschaft interessiert sich für die Graubereiche, sie ist komplex, anstrengend und erfordert intrinsisches Interesse. Dafür fasziniert sie neugierige, komplexitätsaffine Menschen. 5.1.1 Maskulina verstärken männliche Vorstellungen (Klein 1988, 2004) Diese Studie bildet den Startpunkt empirischer Genderlinguistik in Deutschland. 1987 hat Josef Klein einen schriftlichen Test durchführen lassen, den er in Klein (1988) und (2004) vorstellt und wo er die Wirkung sog. GM (der Bürger) mit der von Paarformen (der Bürger / die Bürgerin) vergleicht. Klein geht von der Tatsache aus, dass bei einem Satz wie die Stadt Koblenz hat 110000 Einwohner kaum jemand daran zweifeln würde, dass darin auch alle Einwohnerinnen enthalten sind. Vielmehr stellt er die spezifischere Frage, ob das GM sog. Vorrangkonzepte für den Mann als menschlichen Prototyp fördert. Es geht also weniger darum zu fragen, ob, sondern wie stark Frauen mit Maskulina assoziiert werden bzw. umgekehrt, ob bzw. wie stark Männer durch das GM bevorzugt werden. Bei dem Beispiel Koblenz hat 110000 Einwohner müsste man tiefer gehen, etwa indem man feststellt, dass sich Einwohner im Plural und in der Objektposition be‐ findet, dass „Einwohner-Sein“ nicht genderisiert (vergeschlechtlicht) ist und dass sich darunter real ebenso viele Frauen wie Männer befinden. Die Frage ist, wie ein Einzelexemplar aus dieser diffusen Masse vergeschlechtlicht würde: mal ambig, mal weiblich, mal männlich, und letzteres beides zu ähnlichen Teilen? Die Probe 5.1 Substantive 113 <?page no="115"?> aufs Exempel (Griff ins Internet) ergibt bei „der typische Einwohner von“ zwar viele Belege dafür, dass sich dahinter beide Geschlechter verbergen könnten, aber es sind nie damit exklusiv oder präferentiell weiblich assoziierte Eigenschaf‐ ten / Tätigkeiten verbunden, sondern wenn, dann männliche - z. B. sich zu duel‐ lieren oder seine Partnerin zu taxieren: „Der typische Einwohner von Flagstaff ist glücklich, athletisch und knabbert eher an einem Müsliriegel als dass er sich mit Cowboys duelliert“ (Lonely Planet, Reiseführer USA, S. 936). - „Der typische Ein‐ wohner von L. A. sitzt in einem Hot-Tub, raucht einen Joint, schlürft an einem Glas Roséwein mit Eiswürfeln drin, und schaut sich den Körper seiner Hot-Tub Part‐ nerin an […]“ (www.mykath.de/ topic/ 13235-suche-religion/ ? page=2; Aufruf 15.08.2018). Unter dem Vorwand, neueste Anredekonventionen ermitteln zu wollen, wurden 158 Vpn gebeten, entsprechende Lücken in sechs Sätzen auszufüllen. Hier nur die Sätze 1, 2 und 4: 1. Jeder Einwohner der Stadt Aachen sollte sich zu dem Problem des hohen Ver‐ kehrsaufkommens äußern. (Anrede ________ / Vorname ________) Meier meinte dazu, dass man mehr Straßen zu Fußgängerzonen umgestalten sollte. 2. Kölner Bürger schlossen sich zu einer Bürgerinitiative zur Verkehrsberuhigung in der Innenstadt zusammen. Als einer der ersten trat (Anrede________ / Vor‐ name________) Müller der Initiative bei. 4. Immer mehr Kunden wechseln vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt, um ihre Einkäufe zu erledigen. (Anrede________ / Vorname________) Huber widersetzte sich diesem Trend und nahm Mehrausgaben in Kauf. Problematisch ist, dass ein blanker Familienname, der hier ja zunächst sichtbar wird, eine männliche Lesart fördert: Ein kontextfreier Satz wie Müller kam zu spät wird interessanterweise männlich interpretiert (Kap. 9.2). Alle sechs GM (davon vier im Pl., zwei im Sg.) beziehen sich bewusst auf Bevölkerungsgruppen mit geschlechtlich ausgewogenen Anteilen: Einwohner, Bürger, Leser, Kunden, Wähler, Schüler. Durch die erbetenen Anreden wurde eine Geschlechtsspezifikation erzwungen. Ergebnis: In keinem einzigen Fall kam es auch nur zu annähernder Gleichverteilung, es ergab sich mit knapp 70 % ein deutliches Übergewicht männlicher Geschlechtsspe‐ zifikation gegenüber 20 % weiblicher (der Rest entfiel auf Fehleinträge). Innerhalb der sechs Sätze kam es zu Schwankungen, etwa bei Satz 2, wo nur 13 % Frauen und 78 % Männer realisiert wurden. Hier könnte das overte singularische Maskulinum als einer der ersten die männliche Lesart begünstigt haben, was Anlass zu der Vermutung gibt, dass weitere Genusträger wie Pronomina, Possessiva, Artikel eine Verstärkerwirkung entfalten. Klein liefert dafür nur Evidenz, er überprüft dies aber nicht (Rothermund 1998 erwägt solche Effekte ebenfalls). Bis heute ist nicht systematisch untersucht, ob bzw. in welchem Maß sich die männliche Lesart intendierter GM im Singular mit 114 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="116"?> 10 www.cognition.uni-freiburg.de/ forschung/ forschungsprojekte-1/ Genderbezogene%20Praktiken (Aufruf am 08.05.2024). der Häufigkeit von Genusmarkern erhöht. Dieser Frage widmet sich das DFG-Projekt „Genderbezogene Praktiken der Personenreferenz“. 10 Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass mit der Anzahl maskuliner Genusträger die Wahrscheinlichkeit männlicher Vergeschlechtlichung von Maskulina (auch Indefinita wie jemand, man) tatsächlich ansteigt (Kap. 5.2). Man vergleiche ein Lehrer sollte empathisch sein mit ein Lehrer, der seinen Beruf liebt und dem seine Schüler wichtig sind, sollte empathisch sein. Pusch (1984) erfasst dies wie folgt: „Das Maskulinum legt die Referenz ‚männlich‘ nahe - je mehr grammatisch erforderliche Maskulina (er, sein, ihm, der, dessen, dem …) in seinem Gefolge auftreten, umso mehr. Frauen werden sprachlich noch weiter unsichtbar gemacht“ (60). Die Vermutung, dass maskuline Personal- und auch Possessivpronomina sich ‚generischer‘ Perzeption am meisten entziehen, also ungleich mehr zur Ge‐ schlechtsspezifikation neigen als andere genushaltige Wörter, bestätigt sich immer wieder mit Blick auf Untersuchungen zu Pronomina (die ihnen mehr ‚Geschlech‐ tigkeit‘ attestieren als z. B. Artikeln, s. Dahl 1961, 198; Frank 1992, 129; Oelkers 1996; Thurmair 2006; Köpcke et al. 2010), aber auch bei der (hochrelevanten) Rolle der Pronomen im Transgender-Kontext, s. Lindemann (2011, 221 ff.). Ein neuer (vergeschlechtlichter) Vorname wird vom Umfeld der Transperson, das diese schon vor der Transition gekannt hat, schneller erlernt als das neue Pronomen, was auf seine (höhere) Sexuiertheit hinweist (s. Schmidt-Jüngst 2020). Nur angedeutet wer‐ den kann hier, dass Transmänner schneller ‚ihr‘ Pronomen bekommen als Trans‐ frauen. In die umgekehrte Richtung schlug Satz 4 aus mit 56 % männlichen und 33 % weiblichen Einträgen. Hier könnte nach Klein der „Tante Emma-Kontext“ die weibliche Lesart gefördert haben. Auch führen Singulare zu einer leichten Polarisierung (mehr Männer, weniger Frauen). Das Geschlecht der Vpn spielt eine gewisse Rolle: Frauen haben zu 25 % weiblich spezifiziert, Männer zu 14 %. Anschließend wurde derselbe Test (mit 118 Vpn) durchgeführt, doch diesmal kon‐ sequent mit Paarformen: „Jede Einwohnerin / jeder Einwohner der Stadt Aachen …“ etc. Hier verringerte sich die männliche Assoziation von 69 % auf 61 %, während die weibliche von 20 % auf 30 % anstieg. Damit schwächte sich der Grad männlicher Prädominanz ab, sie verschwand aber nicht. Auf Probandenseite haben Frauen zu 32 % und Männer zu 27 % weiblich spezifiziert. Klein (1988) schlussfolgert, dass Genus Einfluss auf die Geschlechtswahl hat, wenn‐ gleich nicht ausschließlich. Das maskuline Genus ist nicht allein für die dominant männlichen Interpretationen verantwortlich (diese sind „in tieferen kognitiven Schich‐ 5.1 Substantive 115 <?page no="117"?> ten verankert“, Klein 2004, 305), es entfaltet aber eine Verstärkerwirkung. Konse‐ quente Beid-Nennung bewirkt keine konsequente Beid-Vorstellung, sie verringert jedoch den Grad an männlicher und erhöht den Grad an weiblicher Vergeschlechtli‐ chung. Das generische Maskulinum hat allerdings eine deutliche Verstärkerwirkung. Bei seiner Verwendung liegt der Vorsprung männlicher Geschlechtsspezifizierung - und damit der primären Assoziation ‚Mann‘ - im Durchschnitt um 18 % höher als bei der Verwendung der feminin-maskulinen Doppelform. Die Benachteiligung der Frau durch das generische Maskulinum ist also keine feministische Schimäre, sondern psycholinguistische Realität. (Klein 2004, 305) 5.1.2 Psychologie des „generischen“ Maskulinums (Irmen / Köhncke 1996) Die Psychologinnen Lisa Irmen (heute: von Stockhausen) und Astrid Köhncke gehen ebenfalls von der Beobachtung aus, dass generisch intendierte Maskulina faktisch im‐ mer wieder in die männlich-spezifische Lesart kippen, v. a. dann, wenn das Maskulinum im Singular erscheint. Sie führen dazu eine Passage aus einem Text über Gehörlose an, einer Bevölkerungsgruppe, an der beide Geschlechter gleich stark partizipieren: Die Zahl der Gehörlosen in den Vereinigten Staaten wird gegenwärtig auf nahezu 200.000 geschätzt. Der typische erwachsene Gehörlose ist mit einer hörunfähigen Frau verheiratet und hat einen festen Arbeitsplatz. (Irmen / Köhncke 1996, 153, zitiert aus Furth 1972, 32 f.-- Unterstreichungen: DN) Sobald aus dem Plural ein immer noch potentiell generischer, aber maskuliner Singular wird, ist der Gedanke an eine Frau vergessen: Der typische Gehörlose hat eine hörunfähige Frau. Die Autorinnen verwenden u. a. Reaktionszeitmessungen, da schnell erforderte Reaktionen sich am ehesten bewusster Steuerung entziehen. 45 Vpn wurden an einem Computerbildschirm 200 Sätze (76 mit Personenbezeichnungen, 124 mit Distraktoren) präsentiert. Die 76 relevanten Sätze enthielten entweder ein GM im Nom.Sg. (Ein Patient muss selber an die Genesung glauben), ein spezifisches Maskulinum ebenfalls im Nom.Sg. (Der Radfahrer fuhr gegen einen Zaun) oder ein Femininum (Eine Radfahrerin trägt zum Umweltschutz bei). Bei den Personen- und Berufsbezeichnungen wurde darauf geachtet, dass Frauen daran real hälftigen (Patient) oder überproportionalen Anteil haben (Erzieher, Kassierer), auf keinen Fall eine einseitig-männliche Genderi‐ sierung vorliegt. Die Vpn wurden angeblich auf ihre Reaktionsgeschwindigkeit hin getestet. Sie sollten diese Sätze lesen, durch Tastendruck signalisieren, dass sie sie verstanden haben, und anschließend kurz antworten, ob das unterstrichene Subjekt zur Kategorie „Frau“ oder „Mann“ (als Distraktion auch zu „Heilberuf “, „Handwerk“ o. Ä.) gehört. Die Vpn konnten nur mit einer Ja- oder einer Nein-Taste antworten (in einer zweiten, verbesserten Versuchsreihe, die zu ähnlichen Ergebnissen führte, wurden 116 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="118"?> 11 So haben Vpn des 1. Tests teilweise die Intention erkannt, was für den 2. Test ausgeschlossen wurde. Bilder gezeigt). 11 Am stärksten abgelehnt wurde zu 80 % die Kombination GM-- F R AU . Bezüglich der „Ja“-Antworten entfielen im Schnitt 90 % auf S P E ZI F .M A S K . -- M ANN , 85 % auf GM - M ANN und nur 20 % auf GM - F R AU . Am schnellsten erfolgte der Bezug S P E ZI F .M A S K . -- M ANN , gefolgt von GM-- M ANN (ob diese 20 % Ja-Nennungen eher auf das Konto der weiblich genderisierten Berufsbezeichnungen wie Erzieher, Telefonist, Kassierer im GM gehen, ist dem Text leider nicht zu entnehmen): Die ‚nein‘-Antworten zu zahlreichen Items des Typs GM-F[rau] gehen über die erwarteten Reaktionszeitunterschiede hinaus. Die Kategorie ‚Frau‘ ist nach Darbietung einer maskulinen Personenbezeichnung in einem eindeutig geschlechtsneutralen Kontext nicht nur schlechter verfügbar als die Kategorie ‚Mann‘, sie ist vielmehr mit der Vorstellung, die diese Bezeichnung hervorruft, nicht kompatibel. (Irmen / Köhncke 1996, 160) Die hier ausschließlich im Singular getesteten GM haben also eine männliche Schlag‐ seite. Wenn sie rezipientenseitig zu 85 % männlich assoziiert werden und die Kategorie ‚Frau‘ zu 80 % abgelehnt wird, kann man sie nur als pseudoneutral bezeichnen. Damit erledigt sich auch die sog. Fußnotenlösung: „Die Rechtfertigung des ‚generischen Meinens‘, also der Behauptung, das Maskulinum werde dadurch generisch, dass es generisch gemeint sei, wird hierdurch widerlegt“ (163). Allerdings sei nochmals betont, dass hier ausschließlich maskuline (genusoverte) Singulare in Subjektpositionen getestet wurden (Ein Kellner hat einen anstrengenden Beruf). Als Kontrast wäre es interessant zu wissen, wie pluralische (genuskoverte) Mas‐ kulina in Objektposition interpretiert werden (Wir geben Kellnern immer Trinkgeld; Wir schätzen aufmerksame Kellner sehr). Als einzigen Ausweg sehen die Psychologinnen die Sichtbarmachungsstrategie, also Verfahren wie die Beidnennung (Patienten und Patientinnen) oder die Verwendung des Binnen-I (PatientInnen). Wenn Maskulin- und Femininformen immer paarweise auftreten, dann schwinden langfristig die in manchen Maskulina (eher im Plural) enthaltenen Anteile an Geschlechtsneutralität. Dieser Effekt ist den Autorinnen zufolge nicht von Nachteil und erklärtes Ziel feministischer Sprachpolitik. 5.1.3 Sind Frauen mitgemeint? (Heise 2000, 2003) Heise (2000) bezieht sich kritisch auf Vorgängerstudien wie Klein (1988) und Ir‐ men / Köhnke (1996) und überprüft in einem eigenen Experiment die spontane mentale Repräsentation von Personen im GM (Vegetarier), die Schreibung mit Schrägstrich (Vegetarier/ innen) und mit Binnen-I (VegetarierInnen). Dabei setzt sie die Substantive in den Plural, um durch die Unsichtbarkeit von Genus eine geschlechtsausgewogene Interpretation zu fördern. Eingefügt werden auch Kinder und Angestellte, die nicht auf Maskulina basieren. Die Substantive kamen seltener in echt generischer (die Situation von Ausländern in Deutschland ist sehr schwierig) als in spezifischer Verwendung 5.1 Substantive 117 <?page no="119"?> vor (Zwei Vegetarier stehen vor der Metzgerei). Insgesamt 150 Vpn (105 wl., 45 ml.) bekamen (in verschiedene Gruppen eingeteilt) 8 Testsätze, die jeweils homogene Referenzformen enthielten. Die Vpn sollten zu diesen fiktiven Personen eine kurze Geschichte schreiben, wobei sie zwei Personen herausgreifen und ihnen Namen geben sollten, d. h. es wurden jeweils 16 Personen vergeschlechtlicht. Ergebnis: Es erwies sich, dass sowohl die GM als auch - erstaunlicherweise - die sog. neutralen Substantive (Kinder, Angestellte) die meisten männlichen Realisierungen (durchschn. knapp 10) erfuhren. Ausgewogen war es bei den Schrägstrichschreibun‐ gen, während bei den Binnenmajuskeln mehr Frauen (durchschn. 10) genannt wurden, was an der movierten Form mit exponiertem I liegen dürfte. Umgekehrt schließt - wie alle Untersuchungen zeigen - das GM weibliche Nennungen nicht kategorisch aus, es verringert sie nur. Die weiblichen Vpn haben im Schnitt deutlich mehr Frauen assoziiert als die männlichen. Ein solcher bias zeigt sich bei fast allen Untersuchungen. Nicht kontrolliert wurde bei dieser Studie die Geschlechtsstereotypie bestimmter Lexeme. Auch wenn es in Deutschland vermutlich ebenso viele Ausländerinnen wie Ausländer gibt, dürfte diese Personenbezeichnung männlich stereotypisiert sein (Frank 1992, 134 spricht hier vom männlichen Prototyp). Insgesamt plädiert die Autorin für Schrägstrichschreibungen (Lehrer/ innen), die gesprochen als Paarform (Lehrer und Lehrerinnen oder umgekehrt) zu realisieren sind. Offensichtlich führen nur overte (sichtbare) Feminina zum mentalen Einbezug von Frauen, sonst ließe sich nicht erklären, weshalb geschlechtsindefinite Bezeichnungen wie Kinder, Angestellte einen male bias erzeugen. Gerade hier, wo Genus nicht einwirken kann, zeigt sich das Male-as-norm-Prinzip (MAN-Prinzip) bzw. der Mann als menschlicher Prototyp umso deutlicher. Interessant wäre umgekehrt zu wissen, welche Sätze die höchsten weiblichen Assoziationen erhielten und wie es ausgegangen wäre, wenn nur eine Person (und nicht zwei) hätten konkretisiert werden sollen (dahinter steht die Vermutung, dass man bei zwei Personen eher [Hetero-] Paare bildet). Auch gäbe es weitere grammatische Variablen zu berücksichtigen. Stereotype wurden gezielt in Heise (2003) berücksichtigt, indem sie (mit ähnlichem Versuchsaufbau wie oben, jedoch ausschließlich mit GM wie Brillenträger, Amerikaner, Besucher) stereotyp weibliche und männliche Adjektive hinzufügte (deren Stereotypie vorher getestet worden war), wie z. B. einfühlsam, selbstaufopfernd, bezaubernd vs. lässig, ignorant, kräftig. Wieder waren pro Vp 16 Personenkonkretisierungen zu leisten, wieder kam es dabei zu ca. 10 männlichen Realisierungen, doch entfaltete das Adjektiv keinen signifikanten Effekt: GM ohne Adjektiv: 10,28 Männer, mit stereotyp-männli‐ chem Adjektiv: 10,89, mit stereotyp-weiblichem Adjektiv: 10,09. Im Anschluss äußerten einige Befragte, sie haben sich bei GM mit ‚weiblichem‘ Adjektiv homosexuelle Männer vorgestellt. 118 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="120"?> 5.1.4 Generische Maskulina und alternative Sprachformen im Vergleich (Stahlberg / Sczesny 2001 und Schunack / Binanzer 2022) Stahlberg und Sczesny geben einleitend zu bedenken, dass es aus psychologischer Sicht hochgradig erwartbar sei, dass GM männlich assoziiert seien, denn hinter Professoren oder Lesern befinde sich mindestens ein männlicher Vertreter, aber nicht zwingend ein weiblicher. Ist keine Frau dabei, dann kippt das GM, ohne dass sich an der Oberfläche etwas ändert, ins spezifische Maskulinum, was für männliche Rezipienten weder eine Rolle spielt noch bemerkenswert sei, da ihre Referenz in beiden Fällen abgesichert ist (dies entspricht dem Lotto-Vergleich von Pusch, bei dem Männer immer gewinnen). Der Bezug Maskulinum - Mann schlägt also niemals fehl. Dies führe zu einer entsprechenden Festigung dieser Assoziation. Die Wissenschaftlerinnen referieren mehrere Studien, zunächst die von Braun et al. (1998), wo ein und derselbe Text über einen wissenschaftlichen Kongress einmal im GM (Organisatoren), einmal mit Beidnennung (Organisatorinnen und Organisatoren) und einmal neutralisiert (z. B. die Organisation) abgefasst war. Nach der Verlesung wurden die Vpn gebeten, den Anteil weiblicher Kongressteilnehmer zu schätzen. Während sich bei den männlichen Vpn kein Effekt zeigte, nannten die weiblichen Vpn bei dem Text mit Beidnennungen signifikant mehr Frauen, doch deutlich weniger bei der GM- und der neutralisierten Version. Anschließend wird eine Studie von Irmen / Kaczmarek (2000), die auf einem nicht publizierten Konferenzvortrag zu basieren scheint, zusammengefasst: Hier wurde die Lesezeit von Sätzen gemessen, die zunächst mit einem GM (im Plural) als Subjekt beginnen und die im Folgesatz entweder „aufgelöst“ werden zugunsten einer spezi‐ fisch-männlichen (a) oder einer spezifisch-weiblichen Lesart (b), oder sie bleiben ambig, d. h. geschlechtsübergreifend (c): (a) Viele Kanadier [GM] gehen sonntags in die Kirche. Viele ziehen sich dazu ihren besten Anzug [ml.] an. (b) Amerikaner [GM] essen gerne Hamburger. Wenn sie jedoch schwanger [wl.] sind, essen sie einen Salat. (c) Japaner [GM] treten immer in Gruppen auf. Und sie fotografieren alles, was ihnen vor die Linse kommt [generisch]. Die kürzesten Lesezeiten erzielte der geschlechtsambige Typ (c), gefolgt von der männlichen Lesart (a). Die meiste Zeit benötigte die Verarbeitung von Typ (b), wo im Folgesatz (ausschließlich? ) Frauen vorkamen. Allerdings ist (b) problematisch, da „sie“ suggerieren könnte, dass alle Amerikaner schwanger und damit durchgehend weiblich sind. Das GM bezeichnet jedoch allenfalls gemischte Gruppen (wie stark bzw. ob überhaupt gemischt, das ist Gegenstand solcher Tests). Für rein weibliche Amerikaner gilt die Movierung Amerikanerinnen. Besser wäre ein Anschluss wie in (a) gewesen, der nur eine Teilmenge herausgreift, z. B. Die schwangeren essen einen Salat. Auch hier dürften sich Verzögerungseffekte ergeben, da GM so männlich aufgeladen 5.1 Substantive 119 <?page no="121"?> sind, dass Schwangerschaft immer irritiert. (Da die anderen Testsätze nicht einsehbar sind, bleibt ungeklärt, ob sie auch solche Effekte wie in (b) beinhalten.) 1987 weigerte sich Rita Süssmuth, ein Gesetz mit folgendem Wortlaut (der heute Heiterkeitsausbrüche auslösen würde) zu unterschreiben: „Wenn der Arzt im Praktikum schwanger wird, hat er Urlaub nach den Regelungen des Mutter‐ schutzgesetzes, nach Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs kann er seine Aus‐ bildung fortführen“. Gerade der Singular - hier sogar mit mehrfachen Maskulin‐ markern - aktiviert das Genus-Sexus-Prinzip so stark, dass die Verbindung mit schwanger wie eine Paradoxie wirkt. Hieran wird deutlich, dass generische Mas‐ kulina (im Singular, als Subjekt) kaum geschlechtsübergreifend verstanden werden. Hinzu kommt, dass der Arztberuf vor 30 Jahren noch männlicher genderisiert war als heute, was die entsprechende Aufladung zusätzlich steigert. Rita Süssmuth fügte dem folgendes Plädoyer hinzu: Ich vermag nicht zu erkennen, wo die heutige Rechtssprache klar, präzise und verständ‐ lich ist. In den meisten Fällen fühlen sich Frauen nicht angesprochen. Das hat etwas mit ihrem tatsächlichen Rechtsstatus zu tun; sonst würde man es anders handhaben. Dort, wo es einen erklärten politischen Willen gibt, diese Dinge abzuändern, ist dies auch machbar. […] Das meiste, was zu diesem Tatbestand vorgetragen wird, geht immer noch in Richtung der Frage ‚Wie können wir es am besten lächerlich machen? ‘, nicht in Richtung der Frage, was uns an phantasievollen Regelungen einfällt. (https: / / www.zeit. de/ 1987/ 48/ die-sprache-kann-so-nicht-bleiben; Aufruf 08.05.2024) Damals sprach man auch noch von Wahlmännern, wo heute Wahlpersonen stehen. Die Kritik hat seitdem Wirkung gezeigt (Schoenthal 2000; Samel 2000). Zu den spezifischen Problemen des sog. Genderns von Gesetzestexten (in denen es u. a. neben natürlichen auch juristische Personen gibt) sei der Beitrag von Baumann (2017) empfohlen. Schließlich resümieren Stahlberg / Sczesny (2001) vier eigene Studien, die hier nur auszugsweise wiedergegeben werden (s. auch Stahlberg et al. 2001, Braun et al. 2002). So sollten knapp 100 Vpn (geschlechtlich ausgewogen) beliebte Persönlichkeiten nennen. Vorgegeben wurde ihnen, dass es um ihre Meinungen und Vorlieben gehe, z. B. mit der (Distraktions-)Frage, was sie als ihr größtes Unglück empfunden haben. Unter den 16 Fragen waren sechs von Interesse, nämlich die nach dem Lieblingsromanhelden, dem Lieblingsmaler, -musiker, -sportler etc., einmal nur im GM (Lieblingsromanheld), einmal neutral (heldenhafte Romanfigur), einmal mit Beidnennung (Ihre liebste Roman‐ heldin / Ihr liebster Romanheld). Dabei zeigte sich, dass die sprachliche Version die Geschlechtswahl deutlich beeinflusst: Die Beidnennungen evozierten signifikant mehr weibliche Personen (mit ähnlich hohen Anteilen bei den neutralen Formen) als die Version im GM. Mit Blick auf unsere eingangs vorgenommenen Differenzierungen 120 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="122"?> handelt es sich hier jedoch nicht um generische, sondern um definite, spezifische Kontexte, denn es werden konkrete Einzelpersonen erfragt. Gerade hier dürften die von der sprachlichen Form ausgehenden Effekte besonders hoch sein. In einer ähnlich angelegten Untersuchung (90 Vpn), in der es um die Aufzählung berühmter Persönlichkeiten ging, wurde außerdem eine Version mit großem Binnen-I getestet. Hier lautete die Aufgabe: „Geben Sie zu den folgenden Fragen bitte jeweils die drei prominenten Persönlichkeiten an, die Ihnen am schnellsten einfallen: Nennen Sie drei Sportler (bzw. Sänger, Politiker, Moderatoren)“, was in drei Versionen verfasst wurde: a) Maskulinum (Politiker), b) Beidnennung (Politikerinnen und Politiker), c) Binnenmajuskel (PolitikerInnen). Wieder erzeugte die Sprachform signifikante Effekte: Hinsichtlich ausgewogener Geschlechterverteilung schnitt das GM (a) am schlechtes‐ ten ab, besser die Beidnennung (b) und am besten die Binnenmajuskel mit teilweise mehr weiblichen als männlichen Nennungen (c). Auf diese Effekte war schon Heise (2000) gestoßen. Dagegen führen Neutralisierungen (Testpersonen) und Schrägstriche im Allgemeinen zu mehr männlichen Repräsentationen. Das sog. GM schneidet bei allen Tests am schlechtesten ab. In allen vier vorgestellten Studien führte der Gebrauch des generischen Maskulinums zu einem geringeren gedanklichen Einbezug von Frauen im Vergleich zu alternativen Sprach‐ formen wie der Beidnennung und dem ‚Großen I‘. Dies zeigte sich sowohl bei direkten Maßen […] wie der Anzahl der Nennungen von Frauen als auch in eingeschränkter Form bei indirekten Maßen wie Reaktionszeiten […]. Im Vergleich zur Beidnennung führte insbeson‐ dere das ‚Große I‘ zum stärksten gedanklichen Einbezug von Frauen. (Stahlberg / Sczesny 2001, 137) Diese Benennungsaufgabe von Stahlberg / Sczesny (2001) wurde ca. zwanzig Jahre später von Schunack / Binanzer (2022) repliziert unter der Annahme, dass generell mehr Frauen genannt werden, weil der gesellschaftliche Fortschritt diesen vier Berufen deutlich mehr weibliche Repräsentanz verschafft habe. Nur wählten sie statt dem (potentiell veralteten) TV-Moderator die Bezeichnungen Schauspieler und Superheld, insgesamt somit drei nicht-genderisierte Lexeme (Sportler, Sänger, Schauspieler) und zwei männlich genderisierte (Politiker, Superheld), jeweils als GM, mit Beidnennung und mit Binnenmajuskel. 131 VP zwischen 19 und 72 Jahren (78 wl., 53 ml.) sollten pro Bezeichnung drei entsprechende Personen nennen, egal ob lebend oder verstorben, national oder international, real oder fiktional. Insgesamt wurden im Vergleich zur Original-Studie („OS“) überall mehr Frauen genannt, was mit deren höherer Präsenz heute in diesen Domänen erklärt wird. Es bestätigen sich auch die bekannten sprach‐ formabhängigen Effekte, dass das GM mit 29 % (OS: 20 %) die geringsten und die Binnenmajuskel mit 44 % (OS: 39 %) die meisten weiblichen Nennungen evozierte, dazwischen mit 36 % (OS: 22 %) die Beidnennung (mit maskuliner Form zuerst, was einen male bias verursachen könnte). Geht man in die fünf Lexeme hinein, so bestätigt sich nur teilweise ein Gender-Effekt: Am wenigsten weibliche Nennungen erfuhren (wie erwartet) Superheld und (uner‐ 5.1 Substantive 121 <?page no="123"?> warteterweise) Sportler, während Politiker (nach Sänger) die zweitmeisten weiblichen Namen erhielt; Letzteres entsprach nicht der Hypothese und wird auf die ungemein hohe Popularität von Angela Merkel in dieser Zeit (2019) zurückgeführt: Sie schlug mit 107 Nennungen alle Rekorde, wurde also nicht nur unter „Politiker“, sondern insgesamt am häufigsten genannt. Dies zeigt, dass gesellschaftlicher Wandel die Stereotypie von Wörtern verändern kann. 5.1.5 Der Einfluss sprachlicher Formen auf die Verarbeitung von Texten (Braun et al. 2007) Da alle Untersuchungen bislang gezeigt haben, dass die sprachliche Form Auswirkun‐ gen auf die mentale Repräsentation der Geschlechter hat (also eine kognitive Verknüp‐ fung zwischen Genus und Geschlecht besteht), soll nun die faktische Auswirkung sprachlicher Gleichstellung überprüft werden. Bis heute lautet der häufigste Einwand, dass Abweichungen vom GM Textqualität und -verarbeitung beeinträchtigen. Genau hiermit befasst sich dieser Test: Insgesamt 86 Vpn (44 wl., 42 ml.), verteilt auf drei Gruppen, lasen fiktive Packungsbeilagen 1) im GM (Patienten), 2) mit Beidnennungen (Patientinnen und Patienten) und sog. Neutralisierungen (Kranke, Personen), und 3) mit großem I (PatientInnen). Danach wurde der Textinhalt über Ankreuzmöglichkeiten abgefragt (z. B. Gegen welche Krankheit wirkt Medikament X? ). Auch wurde gefragt, ob der Text gut geschrieben sei (verständlich? gut lesbar? gut formuliert? ), mit einer fünfstufigen Rangskala zum Ankreuzen. Ergebnis: Bei der Erinnerungsleistung als objektivem Kriterium der erfolgreichen Informationsverarbeitung schnitten die weiblichen Vpn generell besser ab als die männlichen. Hier vermuten die Verfasserinnen, dass Frauen rollenbedingt häufiger mit Prävention, Gesundheit und Familie befasst seien. Die männlichen Vpn erinnerten die Inhalte am besten mit der Beidnennungs- und am schlechtesten mit der GM-Version. Bei der Erinnerungsleistung der Frauen war die Textfassung irrelevant. Bei der Bewertung der Textqualität als subjektivem Kriterium bewerteten die Frauen die drei Versionen als gleichermaßen verständlich, während die Männer die GM-Version als etwas verständlicher einstuften, obwohl sie diese am schlechtesten verstanden hatten (die Unterschiede waren jedoch gering). Damit zeigt sich, dass die Erinnerungsleistung unabhängig von der sprachlichen Form erfolgt. Ähnlich kommen auch Blake / Klimmt (2010) für Nachrichtentexte zu dem Ergebnis, dass Textästethik und Lesbarkeit durch geschlechterbewusste Formulierungen nicht beeinträchtig wer‐ den. Dies entledigt die FußnotenanhängerInnen ihrer Sorgen. 122 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="124"?> 5.1.6 Personenbezeichnungsmodelle auf dem Prüfstand (Rothmund / Scheele 2004) Rothmund / Scheele verzichten von vornherein darauf, GM im Singular wegen ihrer zu naheliegenden männlichen Assoziation zu untersuchen. Nur der Plural vermöge die „Genus-Sexus-Problematik“ zu entschärfen. Diese Studie vermeidet dichotomisierende Verfahren, um „neben sexusspezifischen auch sexusübergreifende Repräsentationen zuzulassen“ (42), d. h. es wurden Schätzungen über das jeweilige Geschlechterverhält‐ nis erfragt. Dabei interessiert die Autorinnen die Wirkung folgender Personenbezeich‐ nungsmodelle: 1. homogene Verwendung von GM im Plural, 2. dasselbe, aber mit Voranstellung einer Fußnote, dass mit dem GM beide Geschlech‐ ter gemeint seien, 3. wechselnde Verwendung von GM und Paarformen jeweils im Plural, 4. wechselnde Verwendung von Plural-Paarformen und Neutralisierungen mit Per‐ son, da bisherige Untersuchungen für das Femininum Person bessere Effekte zeitigten (dagegen wurden substantivierte Partizipien wie Kranke, Behinderte nicht unter Neutralisierung gefasst, da sie wie GM wirkten). Um den Einfluss des thematischen Kontextes mit einzubeziehen, wurden zwei Reiseliteraturtexte von ca. 900 Wörtern jeweils in diesen vier Versionen präsentiert, a) über ein Thermalbad in Budapest mit orientalischen Einflüssen, b) über Erlebnisbäder auf Sylt. Zu Text a), osteurop. Thermalbad: Die GM versagen in ihrer vermeintlichen Sexu‐ sabstraktion (37 ml., 7 wl., 12 neutral), wobei die „Männerlastigkeit“ durch die ange‐ brachte Fußnote noch verschärft wurde: „Dies legt die Annahme nahe, dass die Fußnote durchaus rezipiert wurde, die Vpn jedoch keineswegs dazu veranlasst hat, Frauen mitzudenken, sondern im Gegenteil davon entlastet hat, gegen eine Frauen-‚benach‐ teiligende‘ Wirkung des GM anzudenken“ (27). Doch waren die Geschlechterreferenzen der Texte mit Paarformen (31 ml., 9 wl., 16 neutral) und zusätzlichen Neutralisierungen (27 ml., 13 wl., 12 neutral) nicht viel symmetrischer. Entweder, so die Verfasserinnen, sei der prototypische Badbesucher männlich (people = male), oder der orientalische Einfluss könne-- kontextinduziert-- die männliche Schlagseite verstärkt haben. Zu Text b) Sylter Erlebnisbäder: In dieser Testreihe wurde statt Version 2) oben mit der Fußnote die Schreibung mit Binnen-I getestet. In Text b) schwächte sich die männliche Dominanz der GM ab (23 ml., 11 wl., 15 neutral), während das große I mehr Frauen assoziieren ließ (5 ml., 20 wl., 22 neutral). Als relativ geschlechtsausge‐ wogen erwiesen sich die beiden Varianten mit den Paarformen. Somit zeigt sich, dass der Kontext eine große Rolle bei der Verarbeitung von Personenreferenzen spielt: „[O]steuropäische Heilbäder orientalischer Provenienz“ (50) befördern männliche Lesarten, während „Erlebnisbäder in einem westlichen Kulturraum“ (ebd.) sich als weniger sexusorientierend erwiesen (so auch bei Braun et al. 1998; Stocker 2000; Bülow / Jakob 2017). Vorab von den Vpn erfragtes Weltwissen (etwa dass Badegäste 5.1 Substantive 123 <?page no="125"?> 12 In diesen Aufsätzen werden auch andere, hier nicht referierte Untersuchungen diskutiert wie Rothermund (1998), Braun et al. (1998), Irmen / Roßberg (2004). 13 Manche wenden hier ein, dass Frauen in diesem Satz eher dann als Teil einer gemischtgeschlechtli‐ chen Gruppe vorstellbar sind, wenn der Akzent auf Frauen liegt (und nicht auf eine; der Schreibung lässt sich die Akzentposition nicht entnehmen). Doch haben Gygax et al. (2008) diese (gemischte) Lesart in einer Pilotstudie sichergestellt: Die vorangehende Gruppe (Professoren, Sozialarbeiter etc.) wurde tatsächlich als „gender-mixed“ wahrgenommen, als „a non-exclusive interpretation of the second sentence: i.e. some, but not all, of the people were women […]“ (474). sich auf beide Geschlechter gleich verteilen) wurde bei der konkreten Interpretation der Personenbezeichnungen aus den Angeln gehoben. Angesichts der weitgehenden Wirkungslosigkeit der Neutralisierungsformen zeigte sich, dass „der gedankliche Einbezug von Frauen umso stärker ist, je expliziter die sprachliche Mitbezeichnung erfolgt […]: Offenbar lässt sich ein gedanklicher Einbezug von Frauen nur durch mehrfache Hinweise im Fließtext (beispielsweise über die Paarform) erreichen“ (50) (zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Braun et al. 1998). Am schlechtesten schnitten die befußnoteten GM ab. 5.1.7 Generisch beabsichtigt, aber spezifisch interpretiert (Gygax et al. 2008) Eine Forschergruppe hat mit Gygax et al. (2008, 2009) 12 die wohl umfassendsten und methodisch anspruchsvollsten Untersuchungen vorgelegt zu der Frage, ob maskulines Genus die Geschlechtswahrnehmung beeinflusst, und dies nicht nur im Deutschen, sondern auch im Französischen (mit zwei Genera) sowie - als Kontrollsprache - im genuslosen Englischen. Ähnlich wie die deutsche geht auch die französische Grammatikografie von der Funktionstüchtigkeit des sog. generischen Maskulinums aus. Die Autorinnen haben insgesamt 36 maskuline Rollenbzw. Berufsbezeichnungen verwendet und dabei bewusst stereotype Vorstellungen integriert und manipuliert: 12 waren stereotyp weiblich (Kosmetiker, Kassierer, Krankenpfleger), 12 stereotyp männ‐ lich (Mechaniker, Chirurgen, Ingenieure) und 12 nicht-genderisiert (Musiker, Zuschauer, Nachbarn) (die Rollenstereotypie war vorher gesondert getestet worden). Da (mask.) Plurale offiziell beide Geschlechter umfassen, sollte - so die Annahme - auch die mentale Repräsentation jeweils beide Geschlechter einschließen. Allerdings handelt es sich nicht um i. e. S. generische, sondern spezifische und definite (referenzielle) Personenbezeichnungen, die die Bekanntheit dieser Personen voraussetzen. Ähnlich wie Irmen / Kaczmarek (2000), doch methodisch besser, enthält das Subjekt des ersten Satzes eine dieser Personenbezeichnungen im Plural. Ein zweiter Satz greift eine Teilmenge heraus und geschlechtsspezifiziert sie dabei. 13 Hier zwei Beispiele: Die Professoren machten in der Sonne eine Pause. Eine der Frauen hatte einen Schirm bei sich. Die Sozialarbeiter liefen durch den Bahnhof. Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Männer keine Jacke. (Hervorhebungen: DN) 124 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="126"?> Den 36 Testsätzen folgten in ausgewogener Verteilung 18 weibliche und 18 männliche Fortsetzungen. Die VPn sollten nach der Erfassung beider Sätze am Bildschirm mög‐ lichst schnell (mit Ja / Nein) die Frage beantworten, ob der zweite Satz eine „mögliche Fortsetzung“ sei. Dies wurde in allen drei Sprachen jeweils mit MuttersprachlerInnen durchgeführt. Möglicherweise verzerrende Kontexte und andere potentielle Einfluss‐ faktoren wurden vermieden; so gehen Krankenpfleger durch die Station und tragen nicht etwa Sonnencreme auf. Dabei wurden sowohl die Ja / Nein-Antworten gezählt als auch die Reaktionszeiten gemessen. Zu den Ja-Antworten: Insgesamt wurden im Deutschen männliche Fortsetzungen mit 69 % grundsätzlich häufiger mit Ja beantwortet als weibliche Fortsetzungen mit 40 %; ähnlich im Französischen mit 78 % zu 58 %. Im Englischen gab es keine Diskre‐ panz, hier hingen die Antworten allein von der lexikalischen Stereotypie ab. Dass Deutsche und FranzösInnen also per se männliche Fortsetzungen akzeptabler finden, ist der Wirkung des Genus zuzuschreiben. Dies bestätigt sich auch, wenn man die drei Gruppen der ersten Testsätze (linke Spalte) getrennt betrachtet (Tab. 5-3): Stereotyp männliche Sätze (mit Ingenieuren, Spionen etc.) bekamen mit männlichen Fortsetzungen (manche der Männer …) 69 % Ja-Antworten und mit weiblichen Fortsetzungen (manche der Frauen …) 35 % Ja-Antworten. Auch bei den neutralen Rollen (Zuschauer, Nachbarn) klingt der männliche Anschluss mit 72 % Zustimmung besser als der weibliche mit 45 % Zustimmung. Selbst bei stereotyp weiblichen Rollen (Tänzer, Kosmetiker) wird die männliche Fortsetzung mit 65 % für besser befunden als die weibliche mit 40 %. Im Deutschen sind diese Diskrepanzen größer als im Französischen, obwohl - wie oft von KritikerInnen der Genderlinguistik eingewandt wird - der Pluralartikel die mit dem femininen Artikel homophon ist. Diese Homophonie hat somit keinerlei Auswirkung auf die Geschlechtervorstellung. Manche versteigen sich dazu, die beiden die-Artikel miteinander zu identifizieren, d. h. zu behaupten, im Plural gelte das Femininum. So behauptet Meinunger (2017): „Die Pluralform ist die weibliche! “ (95); zur verqueren Argumentation s. ebd., zur Widerlegung s. Pusch 2014, 108-112; Stefanowitsch 2017). Mit der gleichen Logik könnte man behaupten, im Femininum gelte der Plural. In Wirklichkeit geht es darum, eine angeblich verborgene und verkannte (Über-)Feminisierung der Gram‐ matik aufzuspüren: „[…] im Plural [existiert] eine weibliche Vorherrschaft - im Singular eine männliche. Es ist ausgeglichen“ (Meinunger 2017, 96). So gesehen müsste man auch den femininen Genitiv und Dativ der (Mutter) zum Maskulinum erklären, was Meinunger beschweigt (s. Pusch 2014, 108-112). Diese naive seman‐ tische Gleichsetzung (Synonymisierung) von Homophonen liegt auch manchen feministischen Ansätzen zugrunde, etwa wenn sie man und Mann miteinander identifizieren. 5.1 Substantive 125 <?page no="127"?> 14 S. aber Irmen / Roßberg (2004), die bei Feminina einen schwächeren Effekt auf entsprechende Geschlechter‐ vorstellungen feststellen als bei Maskulina und von einem people-= male bias sprechen. Erste Testsätze (je 12) Deutsch Französisch Englisch - Fortsetzung: Fortsetzung: Fortsetzung: weibl. männl. weibl. männl. weibl. männl. stereotyp männlich 35% 69% 58% 83% 66% 85% nicht-stereotyp (neutral) 45% 72% 56% 73% 81% 81% stereotyp weiblich 40% 65% 59% 77% 88% 65% Tab. 5-3: Anteil der Ja-Antworten auf die Frage „mögliche Fortsetzung? “ Im Englischen ohne Nominalgenus bestätigt sich die Erwartung, dass sich die Ja-Antworten nur Stereotypizitätseffekten verdanken: Weibliche Rollen werden eher mit Frauen und männliche mit Männern fortgesetzt; bei den neutralen herrscht Gleichstand (zu ähnlichen Ergebnissen s. Irmen / Roßberg 2004, 2006). So lässt sich der Einfluss des maskulinen Genus (feminine Substantive wurden nicht getestet) 14 nicht nur bestätigen, sondern bemessen: Overall, these results indicate a very strong effect of the masculine (intended as generic) biasing the participants’ gender representation towards a male representation. In the French and in the German speaking samples, stereotypicality had no effect in the representation. […] In a Whorfian framework, such a result provides a strong indication that language influences cognition. (Gygax et al. 2008, 478, 480) Zu den Reaktionszeiten: Hier wurden nur die Zeiten der Ja-Antworten gemessen. Insgesamt benötigten die deutschen und französischen Vpn durchweg deutlich weniger Zeit, die Ja-Taste zu drücken, wenn der erste Satz männlich fortgesetzt wurde, und zwar nicht nur dann, wenn die Personengruppe stereotyp männlich oder neutral war, sondern ebenso, wenn sie stereotyp weiblich war. Das heißt, LeserInnen sog. generischer Maskulina zögern grundsätzlich, wenn sich herausstellt, dass sich in der angeblich geschlechtsabstrahierenden (geschlechtsindefiniten) Gruppe eine oder mehrere Frauen befinden. Für das Englische gilt dies zwar auch, aber mit deutlich geringeren (insignifikanten) Zeitdifferenzen (zu Details s. Tab. 5-3 in Gygax et al. 2008, 478). Dieses Zögern geht somit auf das Konto des Maskulinums. Umgekehrt beschleunigt ein Maskulinum per se die positive Antwortzeit, wenn Männer, also Personen mit dem erwarteten „korrelierenden“ Geschlecht, folgen. Reaktionszeiten entziehen sich bewusster Kontrolle eher als Ja / Nein-Antworten. Somit erhärten beide Verfahren die enge Verschränkung von Genus und Geschlecht. Die AutorInnen schließen: „We believe that our results show that the so-called generic use of the masculine biases gender representations in a way that is discriminatory to women“ (Gygax et al. 2008, 480). Damit liegt weitere Evidenz dafür vor, dass Grammatik Wahrnehmung beeinflusst. 126 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="128"?> Dieselbe Gruppe an WissenschaftlerInnen stellt in Gabriel et al. (2008) fest, dass Ste‐ reotypizitätsbewertungen maskuliner Personenbezeichnungen dann in ihrem Männ‐ lichkeitsgehalt abgeschwächt werden, wenn man sie mit einer weiblichen Form kombiniert: „Our results are a further indication that explicitly referring to the fact that roles could be filled by women heightens women’s visibility, but only if it is done in a prominent way-- that is, by placing the feminine versions first“ (212). 5.1.8 Die Macht von Sprachformen (Kusterle 2011) Kusterle (2011) liefert einen guten Überblick über verschiedene Ausprägungen des sprachlichen Relativitätsprinzips (das von gemäßigten, sich reziprok bedingenden Ansätzen bis hin zu radikalkonstruktivistischen reicht) und über bisherige Studien zu den Auswirkungen verschiedener Referenzformen auf die Geschlechterwahrnehmung. Sie selbst hat anhand zweier Fragebögen eigene Tests in Österreich durchgeführt, bei denen den fiktiven Personen Vornamen gegeben werden sollten (Vorwand: Erhebung zur Vornamenvergabe). Die Testsätze wurden jeweils (a) in drei verschiedenen Sprachformen geliefert (1. GM, 2. Neutralformen wie Jugendliche, Studierende, Hilfskraft, 3. Alternativformen, d. h. Beidnennungen und Binnen-I), und dies außerdem (b) in jeweils drei geschlechtsstereotypen Kontexten (1. ‚männ‐ lich‘Ja- / Nein-AntwortenEishockey, 2. ‚neutral‘Ja- / Nein-AntwortenUni, 3. ‚weiblich‘Ja- / Nein-AntwortenGymnastik). Außerdem wurden Singulare und Plurale verwendet (bei den Pluralen war die Zahl zu nennender Namen vorgegeben). 204 Frauen und 204 Männer aus allen Altersgruppen, Bildungs- und Gesellschaftsschichten nahmen teil. Insgesamt kam es bei den dargebo‐ tenen Alltagssätzen zu 14 503 Namenvergaben. Dabei haben, wie Tab. 5-4 zeigt, die Sprachform und der Kontext gravierende Auswirkungen auf die Geschlechtervorstel‐ lungen (Frauenanteile von ≥ 50 % grau hinterlegt). - alle 3 Kontexte (n-= 14.503) 1. männl. Kontext (n-= 4.860) 2. neutr. Kontext (n-= 4.843) 3. weibl. Kontext (n-= 4.800) - FN MN FN MN FN MN FN MN 1. GM 34 % 66 % 11 % 89 % 37 % 63 % 55 % 45 % 2. Neutralf. 40 % 60 % 25 % 75 % 41 % 59 % 54 % 46 % 3. Alternativf. 61 % 39 % 50 % 50 % 64 % 36 % 71 % 29 % Gesamt 45 % 55 % 29 % 71 % 47 % 53 % 60 % 40 % Tab. 5-4: Geschlechterassoziationen je nach Sprachform und Kontext (FN-= Frauenvornamen; MN-= Männervornamen; Zahlen gerundet) (Kusterle 2011, 135 f.) 5.1 Substantive 127 <?page no="129"?> 15 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt Khosroshahi (1989) bzgl. der Wirkung von engl. he, they und he or she: Letztere Paarform erzielt die ausgewogensten Repräsentationen (34 % Frauen, 66 % Männer). Ähnlich wie Pinguine marginale Repräsentanten für die Kategorie Vogel seien, so stellten auch Frauen nicht-prototypische Menschen dar. Wieder zeigt sich der fraueninkludierende Effekt insbesondere bei den expliziten Alternativformen, die die Geschlechterdifferenz mobilisieren. Am männerlastigsten schneiden die Maskulina ab, nur wenig anders geschlechtsnivellierend intendierte Neutralformen. 15 Abermals bestätigt sich: Werden Frauen nicht explizit benannt, wirkt der male bias umso stärker. Kontexte als Wissensbestände tragen das ihrige dazu bei: Der männliche Eisho‐ ckeykontext verringerte deutlich den Einbezug von Frauen (durchschn. 29 %) - doppelt so viele weibliche Nennungen (durchschn. 60 %) bewirkte der weibliche Gymnastik‐ kontext. Einen erheblichen (signifikanten) Effekt hatte auch die Numeruskategorie: Bei sämtlichen Sprachformen in sämtlichen Kontexten wurden im Plural deutlich mehr Frauennamen genannt (zu Details und Zahlen s. ebd., 144 ff.). Auch spielt bei den konkreten Lexemen (z. B. Lehrkraft vs. studentische Hilfskraft vs. Buffetkraft) der reale Frauenanteil an dieser Tätigkeit hinein (Gender). Damit berücksichtigt diese Studie die meisten Faktoren (es sind noch mehr als die hier genannten). 5.1.9 Referenz- und Relevanzanalyse an Texten (Pettersson 2011) Einen anderen, realitätsnahen Zugang nutzt Pettersson (2011), indem er faktische Per‐ sonenreferenzen - GM, Beidnennungen und sog. Neutralformen vom Typ Menschen, Arbeitslose - textlinguistisch auf Basis von zehn Texten analysiert. Weil in realen Texten oft alle drei Verfahren zum Einsatz kommen, spricht er von Variationsmustern. Dabei erfasst und berücksichtigt er am differenziertesten von allen Forschenden refe‐ renzlinguistische Kategorien und unterscheidet grob zwischen spezifischer, nicht-spe‐ zifischer und generischer Referenz (was auch Tab. 5-1 abbildet). Bei der Identifizierung einer Person ist, wie gesagt, das Wissen um ihr Geschlecht von maßgeblicher Bedeu‐ tung. Pettersson macht die wichtige Feststellung, dass „überwiegend Maskulina zur nicht-spezifischen und Beidbenennungen zur spezifischen geschlechtsübergreifenden Referenz benutzt werden“ (92). Damit strukturiert und steuert Referenzialität die Wahl geschlechtsübergreifender Personenbezeichnungen: Je eher Personen konkretisiert oder gar identifiziert werden, desto eher Beidnennung, je eher sie diffus im Hintergrund verbleiben, desto eher GM und Neutralformen. Einige Texte entstammen der feministischen Zeitschrift Emma. Erwartbarerweise sind hier GM eher selten, und wenn sie vorkommen, dann in nicht-spezifischer Refe‐ renz (nicht-referenziell) und v. a. im „entschärften“ Plural, z. B. Studenten, Ausländer, Berufsberater, die für das Textthema irrelevant sind. Die über explizite Formen (Beid‐ nennungen, großes I) bezeichneten Personen sind konkretisiert sowie spezifiziert, und vor allem sind sie für das Textthema zentral („Relevanzprinzip“). Damit unterscheiden 128 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="130"?> Personenreferenzformen auch zwischen thematisch wichtig und unwichtig, zwischen zentralen und peripheren Personen, zwischen Nähe und Distanz. Außerdem zeigt Pettersson, dass appellative Textsorten - solche, die sich explizit an ihre LeserInnen wenden („Kontaktfunktion“) - am häufigsten Beidnennungen (im Sg. oder Pl.) praktizieren (Liebe Leserin, lieber Leser! ). Diese dominieren auch schon bei impliziter Zuwendung an Leser- und damit potentielle AdressatInnen (z. B. künftige Austauschstudierende) und werden als Ausdruck von Höflichkeit gewertet (s. auch Becker 2008 zur „Anrede“, ebenso Feilke 2023). Dabei stehen Frauen oft an erster Stelle. Sehr häufig kommen Beidnennungen in Stellenanzeigen, Broschüren und Werbetexten vor, wo ein besonderes inserentenbzw. produzentenseitiges Interesse daran besteht, alle einzuschließen. Die taz nutzt dabei eher die Binnenmajuskel (taz-AbonnentInnen), auch schon bei bloßer Referenz auf diejenigen, die sie unterstützen: „Die tageszeitung wird ermöglicht durch 6.758 GenossInnen, die in die Pressefreiheit investieren“ (Pet‐ tersson 2011, 116). Kommerzielle Aspekte fördern Beidnennungen am stärksten. Solche Faktoren werden ebenfalls unter Relevanz gefasst. Außerdem stellt Pettersson fest, dass durch Beidnennungen besonders bei taz und Emma Sympathie / Nähe und durch GM Antipathie / Distanz hergestellt wird: Rechtsextreme DemonstrantInnen werden als Teilnehmer, Gegendemonstrierende dagegen als TeilnehmerInnen bezeich‐ net („ideationelle Funktion“). Die Emma-Texte zeigen, dass mit Maskulina (Polizisten, Täter, Schläger, Beamte) stereotyp genderisierte Negativbewertungen vorgenommen werden. Auffälligerweise stehen die GM immer im Plural. GM-Singulare entziehen sich am meisten der Geschlechtsabstraktion. Kritisch an Petterssons Studie dürfte das sein, was er selbst „opake Referenz“ nennt, nämlich das Problem, zu entscheiden, ob ein Maskulinum im Text geschlechts‐ übergreifend oder -spezifisch ist. Maskulina, für die sich im Text keine Anzeichen für eine geschlechtsspezifische Lesart fanden, wurden zu den GM geschlagen. Das ist nicht unproblematisch und verkennt auch die Tatsache, dass es geschlechtliche Schlagseiten gibt, d. h. der Anteil imaginierter Männer und ggf. Frauen variieren kann. Pettersson hat erstmals Sprache „in freier Wildbahn“ beobachtet und ist dabei auf verschiedene Strategien gestoßen. Das sind zukunftsweisende Methoden, die auf noch längere Texte bezogen werden sollten. Nur so kann untersucht werden, wie gemischt wird und wie solche Mischverfahren tatsächlich genutzt werden (bei Kotthoff 2020 läuft dies unter „moderatem Gendern“, s. Kap. 12.10). 5.1.10 Personenbezeichnungen im Deutschen und Niederländischen (De-Backer / De-Cuypere 2012) Auf direkter Befragung von Vpn und damit ihrer Kenntnis des Forschungsthemas basiert die deutsch-niederländische Untersuchung von De Backer / De Cuypere (2012). 64 deutsch- und 64 niederländischsprachige Studierende (hälftig weiblich / männlich) bekamen einen Fragebogen mit 22 Sätzen mit maskulinen und femininen Personen‐ bezeichnungen, bei denen nach dem natürlichen Geschlecht der Referenzperson(en) 5.1 Substantive 129 <?page no="131"?> gefragt wurde mit drei möglichen Antwortoptionen: „männlich“, „weiblich“ und „männlich und / oder weiblich“ (letzteres wurde als geschlechtsneutral gewertet). Sechs Sätze enthielten movierte Personenbezeichnungen (wie Sängerin etc.), die aus der Auswertung ausgeschlossen werden konnten, da niemals ambig. Die verbleibenden 16 Sätze mit referenziellen Maskulina waren lexikalisch nicht männlich genderisiert (keine Soldaten, Piloten u. Ä.), sondern möglichst neutral gehalten. Unter diesen 16 Maskulina befanden sich acht Berufsbezeichnungen (Apotheker, Künstler etc.) und acht Rollenbezeichnungen (Zuschauer, Schüler etc.). Neben dieser lexikalischen Zweiteilung wurden Numerus (Sg. vs. Pl.) und In- / De‐ finitheit getestet, womit vier Typen (die in den Tests gemischt wurden) entstanden: a) Der Besucher aus Taiwan war an … interessiert (Sg. / def.); b) Ein Besucher … (Sg. / indef.); c) Die Besucher-… (Pl. / def.); d) Besucher-… (Pl. / indef.). Außerdem wurde das relative frequenzielle Verhältnis dieser Maskulina an ihren movierten Korrelaten ermit‐ telt: So kommt Zuschauer 85-mal so häufig vor wie Zuschauerin, Bewohner 14-mal so häufig wie Bewohnerin und Schauspieler nur dreimal so häufig wie Schauspielerin. Da im Niederländischen generell weniger moviert wird als im Deutschen, waren diese Werte dort deutlich höher. Ergebnis für das Deutsche: Numerus erwies sich als die wichtigste Variable. Mas‐ kuline Plurale wurden zu 97 % als neutral (d. h. geschlechtsübergreifend) eingestuft, maskuline Singulare dagegen zu 83 % als männlich. Die zweitwichtigste Variable war der lexikalische Typ: Berufsbezeichnungen wurden im Singular zu 92 % männlich interpretiert, Rollenbezeichnungen nur zu 74 %. Pluralische Berufsbezeichnungen wurden zu 94 % als neutral und Rollenbezeichnungen sogar zu 99 % als neutral bewertet. Numerus ist somit sehr wichtig. Doch befanden sich unter sämtlichen Pluralen immerhin 14 Berufsbezeichnungen (aber keine anderen! ), die ausschließlich männlich gelesen wurden. Berufsbezeichnungen tendieren also per se stärker zu männlicher Vergeschlechtlichung als Rollenbezeichnungen. Auch die prinzipiell geltende relative Frequenz zu Movierungen erwies sich als relevant: Je stärker die maskuline Form frequenziell über die feminine dominiert, desto mehr neutrale Lesarten erzeugte sie; je ausgewogener dieses Verhältnis, desto weniger neutrale (sondern mehr männliche) Lesarten. Ein Satz wie 45 Millionen Bürger sind zur Bundestagswahl aufgerufen hat demnach eine 97 %-ige Wahrscheinlichkeit, neutral gelesen zu werden. Dies dürfte auch für Einwohner, Zuschauer, Passanten etc. gelten. Als irrelevant erwies sich das Geschlecht der Vpn sowie die In- / Definitheit des Nomens. Dieselbe Rangfolge (Numerus, lexikalischer Typ, Frequenz) bestätigte sich für das Niederländische, wenngleich mit im Detail anderen Werten; so fanden sich dort generell höhere Werte für neutrale Interpretationen. 130 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="132"?> 5.1.11 Effekte genderbewusster Sprache auf die Zuschreibung von Kompetenz und das Prestige von Berufen (Vervecken / Hannover 2012, 2013, 2015) Vervecken / Hannover (2012) untersuchen, ob und inwieweit geschlechterbewusstes Formulieren die Kompetenzzuschreibung von Erwachsenen beeinflussen kann. 168 Vpn sollten eine Rede lesen (Experiment 1) bzw. hören (Experiment 2), die angeblich von einer Person verfasst wurde, die sich damit als Sprecher/ in bei den Vereinten Nationen bewerben will. Dieser Text verwendete in der einen Version ausschließlich GM (Ärzte), in der anderen nur Beidnennungen (Ärztinnen und Ärzte). Daraufhin sollte (u. a.) die Kompetenz der sich bewerbenden Person bewertet werden. Die Verwendung der Beidnennungen führte zu einer rezipientenseitig höheren Zuschreibung von Kompetenz und Bildung (akademischer Grad) als die Verwendung von GM. Auch die Einstellungschancen der Person mit Beidnennungsrede wurde höher eingeschätzt. Das Geschlecht der Vpn erwies sich als irrelevant, weitgehend auch das der vorgeblichen Bewerber/ innen: Bei der gehörten Rede war der Gewinn für Bewerberinnen etwas höher als für Bewerber, bei der gelesenen jedoch gleich hoch. Welche Effekte Formulierungsalternativen auf kindliche Vorstellungen von Berufen haben, ist Anliegen von Vervecken et al. (2013). 809 Grundschüler/ innen (7-12 Jahre) sollten sich vorstellen, dass sie einen Film drehen. Den dort agierenden Berufstätigen, die in GM oder Beidnennungen vorgegeben wurden (z. B. Feuerwehrmänner vs. Feuer‐ wehrfrauen und Feuerwehrmänner), sollten sie mindestens zwei Vornamen geben. Die Beidnennungen führten zu deutlich mehr weiblichen Vornamen als die GM. In einem zweiten Experiment sollten sie den Erfolg von Männern oder Frauen in den durch GM oder Beidnennungen benannten Berufen einschätzen. Im dritten war ihr eigenes Interesse an dem jeweiligen Beruf gefragt. ‚Männliche‘ Berufe in Beidnennung führten zu einem höher vermuteten Frauenanteil als solche im GM. Der geschätzte Erfolg von Frauen bzw. Männern in stereotyp männlichen Berufen fiel bei Beidnennungen ausgewogener aus bei GM. Beidnennungen führten auch dazu, dass Mädchen sich mehr für einen ‚männlichen‘ Beruf interessierten. In all diesen Fällen erweist sich die Sprachform als sehr wirkmächtig. Auf Basis der sprachlichen Bezeichnungen entwickeln Kinder, deren Geschlechtsrollenverständnis noch im Aufbau begriffen ist, geschlechtsbezogene Vorstellungen zu den jeweiligen Berufen. Beidnennungen schwächten im Gegensatz zu maskulinen PB Geschlechterstereotypen ab und erhöhten gerade für Mädchen die Zugänglichkeit dieser Berufe. In der Öffentlichkeit wird gendersensiblen Bemühungen gerne entgegengehalten, für die Gleichstellung gebe es Wichtigeres zu tun als an der Sprache herumzudoktern. Abgesehen davon, dass man das eine tun kann, ohne das andere lassen zu müssen, belegt diese Studie einen direkten Effekt zwischen inklusiven Sprachformen und der Attraktivität sog. Männerberufe für Mädchen. Dies ist Voraussetzung dafür, später auch solche Berufe zu ergreifen. Gerade weil Kinder noch wenig berufsbezogene Geschlechterstereotype ausgebildet haben, dürften sie umso stärker Annahmen über diese Berufe aus der sprachlichen Form ableiten. Ähnliche Resultate erbrachte die 5.1 Substantive 131 <?page no="133"?> Studie von Vervecken / Hannover (2015) - mit dem interessanten Nebenergebnis, dass Jungen Berufen mit Beidnennung geringere Verdienstmöglichkeiten zuschreiben. 5.1.12 Zu guter Letzt: Sind Epikoina komplett geschlechtsindefinit? Mensch und Person Um es gleich vorwegzunehmen: Epikoina wie Mensch spielen in der linguistischen Dis‐ kussion zur Geschlechtsgenerizität maskuliner Personenbezeichnungen keine Rolle, da ihnen kein weibliches (femininmoviertes) Korrelat zukommt. Paarformen lassen sich hier nicht bilden. Damit eignen sich Epikoina prinzipiell als geschlechtsübergreifende sog. „Neutralform“. Epikoina sind geschlechtsindefinite Personenbezeichnungen, die in allen drei Ge‐ nera vorkommen: der Mensch - die Person - das Individuum; der Star - die Koryphäe - das Mitglied. Sie teilen das Faktum, dass es hierzu kein geschlechtsspezifisches Gegenstück gibt und abstrahieren von Geschlecht (vertiefend s. Klein 2022, der Gra‐ dualität zwischen prototypischen Epikoina auf der einen und sog. Geschlechtsspezifika wie Macker auf der anderen Seite ansetzt). Prädikativ können alle drei Genera auf weibliche wie männliche Subjekte folgen: sie bzw. er ist ein netter Mensch / eine nette Person / ein Individuum. Die Frage ist, ob sie in referentieller Funktion ebenso geschlechtsübergreifend wirken. Hierzu hat Klein (2022) eine Online-Fragebogenstudie durchgeführt, die den Vorteil der weiten Distribution und der Erfassung vieler und unterschiedlicher ProbandInnen hat. Diese Studie führte zu überraschenden Ergebnissen. Das Studienziel war, wie immer, nicht erkennbar. An einer 1. Runde nahmen 804, an einer 2. Runde 100 Personen teil. 30 Aufgaben waren zu bearbeiten, von denen die vier in Tab. 5-5 aufgeführten von Interesse waren, um eine potentielle Vergeschlechtlichung des „genusmorphologi‐ sche[n] Quasiminimalpaar[s]“ (177) Mensch (m.) vs. Person (f.) zu überprüfen. Dabei lag je einmal spezifische definite (Nr. 1, 3) und spezifische indefinite Referenz vor (Nr. 2, 4). Bei der indefiniten Referenz wird Genus durch ein Relativ- und ein Personalpronomen mehrfach markiert. Im Freifeld sollte ein Name eingesetzt werden. 1 Der junge Mensch mit dem Fahrrad heißt [Freifeld] 2 Ich weiß da einen Menschen, der seine Termine pünktlich wahrnimmt. Er heißt [Freifeld] 3 Die junge Person am Fenster heißt [Freifeld] 4 Wir kennen da eine Person, die immer zuverlässig ihre Aufgaben erledigt. Sie heißt [Freifeld] Tab. 5-5: Die vier Stimuli der Online-Umfrage zu Epikoina von Klein (2022) Um potentielle Kontexteffekte auszuschließen, wurden in der 2. (absichtlich kleiner ge‐ haltenen) Runde die gleichen Sätze verwendet und nur die Stimuli Mensch und Person 132 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="134"?> ausgetauscht, d. h. die junge Person war mit dem Fahrrad unterwegs etc. Dies hatte für das Ergebnis keinen signifikanten Effekt, womit Kontexteinflüsse auszuschließen sind. Sehr deutlich erweist sich, dass auch bei Mensch und Person Genus-Sexus-Bahnungen vorliegen, denn Mensch wird dominant männlich und Person mehrheitlich weiblich vergeschlechtlicht, s. Tab. 5-6. - Mensch (m.) Person (f.) - ohne Pronomina mit Pronomina ohne Pronomina mit Pronomina Kontext Der junge Mensch … … einen Menschen … Er Die junge Person … … eine Person … Sie Runde 1 2 1 2 1 2 1 2 weibl. 2% 11% 17% 17% 65% 66% 74% 83% männl. 95% 87% 82% 82% 31% 32% 24% 17% unisex 3% 2% 1% 1% 4% 2% 1% 0% Tab. 5-6: Ergebnisse der Online-Umfrage zu Mensch und Person (aus Klein 2022, 177); Runde 1: n-= 804, Runde 2: n-= 100 Klein (2022) resümiert zu Mensch: Was den maskulinen Stimulus Mensch angeht, könnten die Tendenzen nicht eindeutiger sein. An Frauen dachten die Teilnehmenden in aller Regel nicht. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die NP allein referiert oder koreferentielle Pronomina, die eine Geschlechts‐ assoziation fördern könnten, zusätzlich wirken. Das spricht dafür, dass Genus bei spezifischer Referenz auf eine Einzelperson und fehlenden anderen Anhaltspunkten für Geschlechtszu‐ schreibungen bevorzugt referentiell interpretiert wird. (179) Umgekehrt wurden bei Person zu zwei Dritteln Frauennamen eingesetzt, bei den Sätzen mit den Pronomina sogar zu drei Vierteln bzw. 83 %. Hier erfolgte somit genuskonform eine mehrheitlich weibliche Vergeschlechtlichung, wobei mit ca. einem Drittel bzw. einem Viertel männlichen Nennungen ein stattlicher Männeranteil besteht, den Klein mit dem generellen MAN-Prinzip erklärt („außersprachlicher Androzentrismus“). Bei Person haben die Pronomina einen zusätzlich leicht verweiblichenden Effekt. Diese überraschend starke Bahnung zwischen Genus und Geschlecht (frei von Kontexteffekten und Genderstereoty‐ pen) veranlasst den Autor, bei Mensch und Person nur von Pseudo-Epikoina zu sprechen. Dass Menschen eher mit Männern und Personen mit Frauen gleichgesetzt werden, zeigen auch anekdotische Belege und Wörterbucheinträge. So äußerte Oskar Lafontaine: „Auch die serbischen Menschen haben Frauen und Kinder, die um sie weinen“ (D I E Z E IT , 06. 05. 1999); ähnlich Otto Rehhagel über Fußballer in Trainingscamps: „Kein gesunder Mensch kann 5.1 Substantive 133 <?page no="135"?> 16 https: / / taz.de/ die-wahrheit/ ! 5099776/ (Aufruf am 27.10.2023). 17 www.sportkomplott.de/ sprueche-zitate/ berti-vogts (Aufruf am 08.05.2024). 18 Wandruszka (1991) bestätigt dies: „[A]uch das sagen wir gern von einer Frau: eine entzückende kleine Person, eine blitzgescheite Person, […] oder auch einfach ‚diese Person! ‘. In Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ belauschen wir ein Gespräch: ‚Sie ist eine ideale Frau! ‘-- ‚Wie alt ist denn diese Person? ‘ fragt Ulrich“ (15). drei oder sechs Wochen ohne Frau auskommen“. 16 In Kafkas Urteil steht: „So geschah es Georg, daß er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen […] anzeigt“. Selbst das Pluraletantum Leute kann mit Frauen verheiratet sein, Berti Vogts mahnte: „Hass gehört nicht ins Stadion. Die Leute sollen ihre Emotionen zuhause in den Wohnzimmern mit ihren Frauen ausleben“. 17 Gibt es umgekehrt auch Leute, die Männer haben, Mütter sind oder schwanger? Solche (derzeit noch offenen) Fragen lassen sich heute mit den empirischen Möglichkeiten der Korpuslinguistik und mit Akzeptanztests beantworten. Zu Person schreibt das DWDS, sie bezeichne umgangssprachlich „ein weibliches Wesen“ bzw. eine „in schlechtem Ruf stehende, nicht geachtete Frau, Weibsperson“ (https: / / www.d wds.de/ wb/ Person). Auch Christen (2013) liefert Evidenz für eine enge Genus-Sexus-Bezie‐ hung: „Das Femininum Person lädt offenbar dazu ein, […] als weibliche Personenbezeichnung gebraucht zu werden“ (93). Dieser interessante Komplex erfordert noch systematische Forschung. 18 Um zusätzlich den Einfluss von semantisch reicheren, d. h. Tätigkeiten oder Eigenschaften bezeichnenden maskulinen vs. femininen Epikoina zu bemessen, wurden acht Stimuli hinzugenommen, allerdings ohne zusätzliche Pronomen (s. Tab. 5-7). Auch hier gab es zwei Runden, um die Kontexte Fahrrad und Fenster zu tauschen (deshalb wieder zwei Zahlen pro Lexem in Tab. 5-7). Auch hier manifestieren sich deutliche Genuseffekte - Maskulina werden mehrheitlich männlich, Feminina weiblich interpretiert -, sie werden aber durch die genderisierten Tätigkeiten bzw. Eigenschaften zusätzlich überdeckt: Die Maskulina Lehrling und Gast erhalten mehr männliche Benennungen als Neuzugang und Star (relativ ausgeglichen), die Feminina Aushilfe und Bedienung erhalten die meisten weiblichen Benennungen (Vornamen). Auch Motschenbacher (2010) stellt solche Gender-Effekte fest. - Maskulina Feminina - Lehrling Gast Neuzu‐ gang Star Berühmt‐ heit Fach‐ kraft Aushilfe Bedie‐ nung weibl. 8 8 17 27 28 41 46 29 52 63 56 63 79 78 91 89 männl. 87 87 80 71 67 58 50 68 44 32 42 34 17 22 7 10 unisex 4 4 3 2 4 1 4 3 4 5 2 3 3 0 1 1 Tab. 5-7: Ergebnisse der Online-Umfrage zu weiteren nicht-paarigen (epizönen) Substantiven (aus Klein 2022, 178) 134 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="136"?> 19 Wenn suggeriert wird, „die Gendersprache“ fordere Bildungen wie Menschin oder gar Mensch*in, so sind das Erfindungen selbsternannter Sprachpfleger, die Bemühungen um inklusive Ausdrucksfor‐ men ins Lächerliche ziehen wollen. Auch wenn sich solche reinen Genuseffekte einstellen, so sind Epikoina grundsätzlich als inklusive Formulierungsalternativen zu empfehlen. Wie bei vielen Tests, so wurden auch hier die Kontexte komplett ausgeblendet, um den Einfluss von Genus isolieren zu können. Faktisch sind Epikoina kontextuell immer eingebettet, z. B. kann man nach einem Bericht über Anna wie über Otto im Folgesatz referenziell fortfahren mit: Dieser Mensch … oder Diese Person ist beeindruckend (nach Anna aber nicht *Dieser Student ist beeindruckend). 19 Bildungen auf -ling (Säugling, Zwilling, Flüchtling), allesamt Maskulina, können nicht moviert werden, weshalb sie ebenfalls zu den Epikoina gezählt werden. Deren Vergeschlechtlichung (kontextfrei, im Sg.) durch 86 Vpn untersuchen Leonhard / Siegel (2021: „Der Häftling ist schwanger“), wobei drei (spontane) Antworten möglich waren: ‚männlich‘, ‚männlich / weiblich‘ oder ‚weiblich‘. Insgesamt ergibt sich überall ein deutlicher male bias, wobei Gender als soziale Kategorie zusätzlich insofern einwirkt, als Häftling, Feigling und Lehrling besonders oft (zu 78 %, 56 % bzw. 47 %) als ‚männlich‘ eingeschätzt wurden, der gesamte Rest entfiel jeweils auf ‚männlich / weiblich‘. Mit 20 % ‚weiblich‘ führt Liebling an (gegenüber 36 % männlich, 44 % beidem), gefolgt von Zwilling mit 12 % weiblich. Als (neben einem generellen male bias) am neutralsten erwiesen sich Säugling, Prüfling und Zwilling. Damit demonstrieren Epikoina am deut‐ lichsten den Einfluss von Genus und Gender als sozialer Kategorie. Sehr interessant ist ein Alterseffekt seitens der ProbandInnen, denn je jünger sie waren, desto häufiger haben sie diese Maskulina als männlich eingestuft. Leonhard / Siegel (2021) führen dies „auf das allgemein gestiegene Bewusstsein für gendersensible Sprache“ zurück (207). 5.1.13 Zusammenfassung, Diskussion, Desiderata Was sagen uns nun all diese Untersuchungen? Gibt es ein geschlechtsübergreifendes, sog. ‚generisches‘ Maskulinum oder nicht? Die Antwort besteht in einem dezidierten Jein. Das mag für Entweder-Oder-Gläubige unbefriedigend sein, ist aber aus sprach‐ wissenschaftlicher Sicht zutreffend. Die Tests haben ein ganzes Spektrum an Faktoren aufgedeckt, die die Ge‐ schlechtsvorstellungen beeinflussen. Manche Faktoren wurden dabei als „Beifang“, d. h. als Nebeneffekt entdeckt, die dann von nachfolgenden Experimenten gezielt überprüft werden konnten - bestes Beispiel für wissenschaftlichen Fortschritt. Abb. 5-1 fasst die wichtigsten zehn Faktoren zusammen und etabliert eine Skala von domi‐ nant männlicher Vergeschlechtlichung hin zu eher geschlechtsgemischten Resultaten (wobei wir uns im binären Geschlechtsparadigma befinden). 5.1 Substantive 135 <?page no="137"?> Abb. 5-1: Faktoren, die die geschlechtliche Interpretation maskuliner Personenbezeichnungen beeinflussen 1) Singular Plural 2) je mehr (m.) Genusmarker, z.B. Pronomen je weniger Genusmarker 3) referenziell nicht-referenziell/ generisch 4) Subjekt Prädikativ, Adverbial 5) Adressatenreferenz Drittenreferenz 6) moviertes Femininum häufig (Schülerin) selten (Chefin) 7) Berufe (Lehrer) Rollen (Einwohner) 8) sehr hoher Männeranteil (Bauarbeiter) gemischt 9) stark männlich stereotypisiert (Held) weniger stark 10) Kontext, z.B. Eishockey ………………….…… vs. ……...…………………………. Yoga dominant männlich eher gemischt 1) Singular Plural 2) je mehr (m.) Genusmarker, z.B. Pronomen je weniger Genusmarker 3) referenziell nicht-referenziell/ generisch 4) Subjekt Prädikativ, Adverbial 5) Adressatenreferenz Drittenreferenz 6) moviertes Femininum häufig (Schülerin) selten (Chefin) 7) Berufe (Lehrer) Rollen (Einwohner) 8) sehr hoher Männeranteil (Bauarbeiter) gemischt 9) stark männlich stereotypisiert (Held) weniger stark 10) Kontext, z.B. Eishockey ……………………………. vs. ………………………………………………………….Yoga dominant männlich eher gemischt Abb. 5-1: Faktoren, die die geschlechtliche Interpretation maskuliner Personenbezeichnungen beein‐ flussen Die Faktoren 1) bis 10) sowie ihre Abfolge sagen nichts über die Intensität aus, mit der sie eine männliche Vergeschlechtlichung beeinflussen. Natürlich verstärkt ihre Kombination eine entsprechende Wirkung. Zwischen einzelnen Faktoren gibt es Interdependenzen, etwa zwischen 3) und 4) oder 8) und 9). Dass 1) die Numeruswahl einen maßgeblichen Einfluss hat, darf als gesichert gelten. In jedem Test erzielen GM im Singular das schlechteste Ergebnis, während Plurale deutlich mehr Frauen einschließen. Dass Geschlecht eng mit Genus assoziiert ist, steht angesichts dieser Untersuchungen, aber auch anderer Beobachtungen (Kap. 4.3), außer Frage. Der maskuline Singular eignet sich am wenigsten zur geschlechts‐ übergreifenden Verwendung. Noch kaum beantwortet ist bei Faktor 2) die Frage, in welchem Ausmaß die pure syntagmatisch-kongruierende Markierung des maskuli‐ nen Genus (durch Artikel, Adjektive, Pronomen) die männliche Vorstellung verstärkt, zumal Genusmarker an den male-bias-verstärkenden Singular gebunden sind. Positive Hinweise auf eine solche Verstärkerwirkung liefern Klein (2022) (Kap. 5.1.12) und das in Kap. 5.1.1 genannte Forschungsprojekt. Auch bei Indefinitpronomen scheint ein solcher Einfluss vorzuliegen. Deutliche Effekte ergaben sich für unterschiedliche Grade an Referenzialität (3). Referenzsemantisch generische Verwendungen (v. a. im Plural) lassen inklusivere Vorstellungen zu als spezifische Verwendungen, selbst im Plural. Mit der Konkretion von Personen erhöht sich die Relevanz von Geschlecht. Vermutlich dürfte auch die syntaktische Position (4) bzw. semantische Rolle einwirken insofern, als das häufig agensbezeichnende Subjekt eher eine Genus-Sexus-Bahnung erfährt als dasselbe Maskulinum innerhalb eines Adverbials (vgl. der Nachbar unterhält sich vs. das Paket liegt beim Nachbarn). Hierzu muss noch geforscht werden. Dies gilt auch für 136 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="138"?> 5) die Adressatenvs. Drittenreferenz. Dass sich inklusive Formen eher in Anreden finden, dürfte neben der Sicherung der geschlechtsumfassenden Referenz (alle sollen sich angesprochen fühlen) auch der pragmatischen Tatsache geschuldet sein, dass heute ein geschlechtsübergreifend intendiertes Maskulinum (Sehr geehrte Kollegen! Liebe Mitarbeiter! Lieber Wähler! ) als unhöflich bis respektlos begriffen würde (Feilke 2023). Solche (früher üblichen) Anreden wirken mittlerweile antiquiert. Wieweit dies auch für die Drittenreferenz gilt, ist noch zu ergründen. Die Hypothese wäre, dass eine Genus-Sexus-Bahnung in der Anrede stärker wirkt als bei der Referenz auf Dritte. Inwieweit es eine Rolle spielt, wie häufig einem Maskulinum ein moviertes Femi‐ ninum zur Seite steht (6), ist auch noch nicht geklärt, auch wenn es Hinweise darauf gibt. Die Annahme wäre, dass durch hohe Movierungsfrequenz ein entsprechendes Maskulinum stärker zur männlichen Lesart tendieren könnte, da die Erwartung be‐ steht, weibliche Vertreter durch Movierung verlässlich anzuzeigen. Dies beträfe Schüler - Schülerin im Gegensatz zu Chef - Chefin. Einen solchen Effekt („Vorhandensein von Formulierungsalternativen“) legt Becker (2008, 68) nahe und weisen De Backer / De Cuypere (2012) nach: Je häufiger movierte Formen (z. B. Erzieherinnen) maskulinen Formen (Erzieher) gegenüberstehen, desto weniger eignen sich letztere als GM. Dass jedoch umgekehrt Maskulina ohne Movierungsalternative (Epikoina) kontextfrei auch einen male bias erzeugen, hat Kap. 5.1.12 gezeigt. Auch Faktor Nr. 7, Typ der Personenbezeichnung, hat sich erst im Laufe späterer Studien als relevant erwiesen: Berufsbezeichnungen sind per se eher männlich genderisiert als sog. Rollenbezeichnungen. Das DFG-Projekt „Genderbezogene Praktiken der Personenreferenz“ kommt auch zu dem Resultat, dass Bezeichnungen von Einwohnern wie Bayer, Schwabe, Franzose den male bias verstärken, auch die von Religionsgruppen (Moslem, Jude, Christ). Die Faktoren 8) und 9) betreffen die außersprachliche Reprä‐ sentanz von Männern in diesem Beruf bzw. dieser Rolle bzw. davon unabhängig existierende Stereotype (etwa dass ein Held männlich vorgestellt wird, obwohl es faktisch viele Heldinnen gibt). Als äußerst einflussreich erweist sich der engere und weitere Ko(n)text (10), der bei ein und demselben Maskulinum (Teilnehmer, Sportler) zu unterschiedlichen Vergeschlechtlichungen führen kann. Gerade dieser sehr wichtige und in der Realität immer vorhandene Faktor ist empirisch bislang noch ungenügend erfasst. Dieses komplexe Zusammenspiel von Faktoren - es ist nicht auszuschließen, dass noch weitere hinzukommen - lässt sich nicht in einfache Faustregeln oder Rezepte für geschlechtergerechtes Formulieren überführen, zumal sprachliche Geschlechter‐ gerechtigkeit absolut gesehen illusorisch ist. Eines hat sich jedoch immer wieder gezeigt: Ist man beim Texten daran interessiert, beide bzw. alle Geschlechter zu repräsentieren, dann führt kein Weg an expliziten Sichtbarkeitsverfahren vorbei, z. B. an der Beidnennung und / oder der Binnenmajuskel sowie weiteren, bislang kaum oder nicht getesteten Verfahren (wie dem Genderstern oder -doppelpunkt, substantivierten Partizipien und Adjektiven). Generische Maskulina verfehlen ihr noch so gut gemeintes Ziel. Das nachgewiesenermaßen robuste Male-as-norm-Prinzip hat 5.1 Substantive 137 <?page no="139"?> 20 Müller-Spitzer (2022) gibt zu bedenken, dass die wenigen Feminina (wie Braut, Witwe), aus denen sekundär Maskulina (Bräutigam, Witwer) abgeleitet werden, sich, da sie ja die unmarkierte Basis bilden, für den geschlechtsgenerischen Gebrauch eignen sollten - was mitnichten der Fall ist: „So müssten wir - analog zu 99 Lehrerinnen und ein Lehrer sind 100 Lehrer sagen 99 Witwer und eine Witwe sind 100 Witwen“ (39). Daran erkenne man, dass „Männer den Normalfall darstellen“ (39). auch Neutralisierungsstrategien vom Typ das Institut, die Deutschen, der Vorstand, die Arbeitslosen männliche Schlagseiten verschafft. Finden sich keine expliziten Hinweise auf weibliches Geschlecht (oder weitere Geschlechter), greift das Male-as-norm-Prin‐ zip. Sprachliches undoing gender scheint kaum zu funktionieren, die gut gemeinte Unsichtbarmachung von Geschlecht eröffnet Raum für die geltende männliche Nor‐ malvorstellung. Damit handelt es sich um ein echtes Dilemma, auch und gerade in Hinblick auf die Berücksichtigung nonbinärer Personen, die binarisierende Sichtbar‐ machungen ablehnen (s.-u.). Der maskuline Vertretungsanspruch für Menschen jeglichen Geschlechts ist Folge jahrhundertelanger männlicher Vorherrschaft, wo Philosophen, Professoren, Ärzte, Wissenschaftler, Wähler und viele mehr tatsächlich nur Männer waren aus dem einfachen Grund, weil Frauen weder studieren noch wählen durften (Gorny 1995; zur Geschichte des GM s. Doleschal 2002; Irmen / Steiger 2005). Hausen (1986) beschreibt, mit welch abstrusen (damals weithin geteilten) biologistischen Einlassungen Ende des 19. Jhs. Wissenschaftler Frauen vom Studium und erst recht von der Wissenschaft fernhielten (z. B. der Physiker Max Planck: „Amazonen sind auch auf geistigem Gebiet naturwidrig“; ebd., 34). Ähnlich wie heute die Geschlechtersegregation im Sport, so diente früher der Ausschluss von Frauen in der Wissenschaft der Herstellung von Männlichkeit, die sich am eindeutigsten negativ durch die Abgrenzung von der Frau definiert (außerdem bangten die Wissenschaftler um ihre Gehilfin zuhause). Inwieweit nun Maskulina wie Wissenschaftler, Physiker, Philosoph, Mediziner die seit dem 20. Jh. an diesen Berufen zunehmend partizipierenden Frauen einschließen, ist nur graduell erfassbar und scheint in dem Maße zuzunehmen, in dem es dem Beruf an Prestige mangelt. Es gab niemals einen (wenngleich immer wieder vermuteten) ‚unschuldigen Urzustand‘, in dem das GM geschlechtsübergreifend fungierte. Dieses Ideologem entstand, wie Doleschal (2002) anhand der frühesten Grammatiken im 16. Jh. bis heute nachweist, erst ab den 1960er Jahren, verfasst von (männlichen) Grammatikern. Es ging schnell in weitere Grammatiken über, auch in die Duden-Grammatik von 1995, während die nächste Auflage von 1998 die Einschränkung hinzufügt, dass „die Verwendung des generischen Maskulinums immer mehr abgelehnt“ werde (200). Die Behauptung der Existenz eines GM, das Frauen mitvertreten bzw. geschlechtsindefinit sein soll, ist somit jung und ohne Tradition. Sie hat von Anfang an Widerspruch erfahren. Nachfolgende Duden-Grammatiken haben diesen Passus weiter entschärft und empfehlen Alternativen (Duden-Grammatik 2016, §§ 237, 238; Duden-Grammatik 2022, §-1263). 20 Die feministische Linguistik argumentiert seit den 1970er Jahren gegen das GM. Dies kulminierte in einer Kontroverse, in der Kalverkämper (1979), ganz dem Struk‐ 138 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="140"?> 21 Schoenthal (2000, 2079) zufolge soll Angela Merkel als Ministerin Staatssekretärin Sabine Berg‐ mann-Pohl mit „geehrter Kollege Bergmann-Pohl“ angesprochen haben. turalismus verpflichtet, Linguistinnen darüber belehrte, dass das GM die Reduktion um das Merkmal ‚Geschlecht‘ leiste und deshalb geschlechtsneutral sei (zur Antwort darauf s. Pusch 1979). Dieses Diktum, das bis in die heutige Zeit wiederholt wird, basiert letztlich auf einer grammatischen Metapher und besagt Folgendes: Einerseits kann Tag die Opposition zu Nacht bilden, andererseits kann sich Tag auch neutralisierend auf die 24 Stunden beziehen, die die Nacht einschließen (in drei Tagen ist Ostern). Diese strukturalistische Gleichung wird auf die persönlichen Maskulina übertragen: Kunde könne einerseits gegen Kundin opponieren (Mann vs. Frau), andererseits (geschlechtsneutralisierend) einkaufende Menschen beiderlei Geschlechts meinen (hier ist der Kunde König). Dass die weiblichen Referenzobjekte sich (im Unterschied zu Tagen und Nächten) oft nicht gemeint fühlen (bzw. nicht wissen können, welche der beiden Gebrauchsweisen von Kunde gerade gelten soll) und oft genug faktisch auch nicht mitgemeint sind, auch dass alle Tests (mit Frauen wie Männern) dies weithin bestätigt haben, wird selbst heute noch von manchen ignoriert (Meineke 2023). Bei allen Experimenten zeigte sich aber auch, dass keines auf eine hundertpro‐ zentige ‚Maskulina evozieren nur Männer‘-Regel gestoßen ist. Da die Hypothesen üblicherweise auf den Nachweis des Genus-Sexus-Prinzips abzielen, verpasst man umgekehrt zu fragen, inwiefern sich die Hypothesen auch nicht bestätigt haben, wo und wann genau es zu weiblichen Konkretisierungen, Namenvergaben, Assoziationen bzw. Akzeptanzen kommt. Eine ernstzunehmende Genderlinguistik muss diese Frage nicht nur stellen, sie muss sie dezidiert angehen. Kaum jemand behauptet, dass mit Berlin hat 4 Millionen Einwohner nur männliche Einwohner gemeint sind und dort in Wirklichkeit 8 Millionen Menschen leben. Ebenso wird man bei dem Satz draußen warten zehn Patienten nicht von zehn männlichen ausgehen. Sinnvoll wären (Akzeptanz- oder Reaktions-)Tests vom Typ dort warten zehn Patienten, darunter fünf Männer bzw. darunter fünf Frauen. Selbstverständlich bleibt die fatale Homonymie zwischen GM und exklusiv männlichen Maskulina vom Typ „Schauspieler sind ja eine leicht verderbliche Ware. Und Frauen noch mehr! “ (Dieter Wedel, Der Spiegel 5 / 2018) bestehen. Becker (2008) spricht hier von geschlechtlicher Relevanz, die bei Einwohnern gering ausgeprägt ist (man weiß, dass sie sich hälftig verteilen), während sie bei ProfessorInnen und PolitikerInnen so hoch ist, dass deren Geschlechteranteile ein Politikum sind. Jenseits dieser hier präsentierten Untersuchungen gilt, dass die Frage, ob und wie stark Frauen mit GM assoziiert werden, auch regional variiert. So waren bzw. sind in der früheren DDR bzw. in Ostdeutschland GM üblicher und akzeptierter als in Westdeutschland, allerdings vornehmlich in prädikativer Position: sie ist Slawist (Angela Merkel sagte 1991: Ich bin Minister, ich bin Realist, s. Diehl 1992, 384). 21 In der DDR wurde die Geschlechtsneutralität von Maskulina amtlicherseits zur Tatsache deklariert und als Gleichberechtigungsmaßnahme gepriesen, indem die Frau nicht zu einem „Anhängsel des Mannes“ (Diehl 1992, 386) degradiert werden sollte (mehr in 5.1 Substantive 139 <?page no="141"?> 22 Die VerfasserInnen unterscheiden zwischen Bewertungen und Elizitierungen solcher Selbstbezeich‐ nungen. 23 Leider greifen fast alle Studien aus praktischen Gründen auf (junge) Studierende (meist der Psychologie oder der Linguistik) als Vpn zurück. Hier wäre der Einbezug möglichst vieler Bevölke‐ rungsgruppen wünschenswert, bzgl. ihres Alter, ihrer Herkunft, Bildung etc., wie dies z. B. Oelkers (1996), Klein (2022) und auch neuere Studien immer öfter tun. Kap. 6.2.2.1; Diehl 1992; ähnlich wurde auch in Schweden argumentiert). Dass diese Maskulina tatsächlich sprachpolitisch motiviert waren und damit ziemlich jung sind, zeigt jüngst Kopf (2023). So dynamisch die Forschung ist, bleiben Desiderata bzw. entstehen neue. Bereits genannt wurde die Frage nach dem Einfluss der grammatisch-syntaktischen Position und satzsemantischen Funktion von GM (Agens? Patiens? Possessor? Possessum? Teil eines Adverbials? ). Auch die Operationalisierung der in Tab. 5-1 skizzierten Referenzialitätsabstufungen eröffnet noch ein Forschungsfeld. Nicht-referenzielle Prädikatsnomen, bei denen auch nach weiblichem Subjekt Maskulina maximal erwartbar und akzeptiert sein sollten, kommen faktisch jedoch kaum vor (sie ist Linkshänder ist im Vergleich zu Linkshänderin erstaunlich selten, erst recht bei Berufen; s. Nübling / Rosar i. E.). Hier sind noch Erklärungen vonnöten. Schröter et al. (2012) haben anhand einer Online-Umfrage gezeigt, dass prädikative Maskulina im Singular mit Bezug auf eine Frau (ich [wl.] bin Physiker) deutlich weniger akzeptiert wurden als im Plural mit Bezug auf eine gemischtgeschlechtliche Gruppe (wir [wl. + ml.] sind wissenschaftliche Mitarbeiter). Hier wirken auch lexikalische Genderisierungen: Es ist akzeptabler, eine Frau prädikativ als Manager oder wissenschaftlicher Mitarbeiter zu bezeichnen denn als Konsument, Mechaniker oder Angestellter, wobei letzterer sein Genus in Gestalt der Endung -er vor sich herträgt und auch deshalb zur geringen Akzeptanz beitragen könnte. Auch bei der Elizitierung von Selbstbezeichnungen (ich [wl.] bin X) 22 scheint (soziales) Gender eine Rolle zu spielen, wobei für X drei Lexeme verfügbar waren: Student/ in, Unternehmensberater/ in und Physiker/ in. Hier dominierte Studentin zu 86 % gegenüber Student mit 14 %, mit großem Abstand gefolgt von Unternehmensberaterin mit 53 % gegenüber dem Mask. mit 47 % und Physikerin mit 51 % gegenüber Physiker mit 49 %. Die AutorInnen begründen dies mit dem höheren Anteil weiblicher Studierender im Vergleich zu weiblichen Physikern und Beratern und mit der Tatsache, dass primär Studierende an der Umfrage teilnahmen. 23 Offen ist noch die Frage, inwiefern (vermeintlich? ) semantisch geschlechtsdefinite Prädikatsnomen wie Heulsuse (wl.) oder Zappelphilipp (ml.) mit einem gegengeschlechtlichem Subjekt kompatibel sind: ? Otto ist eine Klatschbase / Heulsuse / ein Mädchen für alles - ? Anna ist ein Zappelphilipp / mein Namensvetter / unser Ersatzmann. Kaum untersucht ist die Wirkung substantivierter Adjektive und Partizipien (wie Deutsch-, Arbeitslos-, Angestellt-) ohne genuines Genus (sie wurden bislang zu den Neutralisierungsverfahren geschlagen). Genus erhalten sie gemäß ihrer konkreten Ge‐ schlechtsreferenz (Differentialgenus), es wird flexivisch am Wortstamm realisiert: F R AU → die / eine Angestellt-e, M ANN → der Angestellt-e / ein Angestellt-er. Taugt Angestellter 140 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="142"?> 24 Auch Neutra wie Individuum werden zuweilen männlich sexuiert: „Das menschliche Individuum […] sucht […] sich eine Frau, die mit ihm das Leben teilt“ (Scheele / Rothmund 2001, 88). Da Homo-Be‐ ziehungen erst seit wenigen Jahren gleichgestellt sind, betreffen solche Äußerungen Hetero-Bezie‐ hungen. ebenso zu geschlechtsübergreifendem Gebrauch wie Kunde oder Bäcker? Sind Plurale geschlechtsneutral(er)? Relativ unauffällig ist der Satz Die Deutschen verlassen immer öfter Frau und Kinder. Wäre Die Deutschen arbeiten immer mehr und vernachlässigen dabei Mann und Kinder ebenso unauffällig? Trotz des Einheitsplurals scheint es auch hier eine männliche Schlagseite zu geben. Trömel-Plötz (1984, 56) liefert ein ähnliches Beispiel: „Erwachsene 5 DM, Frauen und Kinder frei“. Gleiches betrifft Angestellte, Behinderte, Reisende, Vorsitzende, Alte, Kranke, Arbeitslose, Gehörlose, Tote, Getötete, Bekannte. Kursorische Belege bestätigen auch hier das Male-as-norm-Prinzip, so der Beleg „Einige Arbeitslose befürchten sogar, bald nicht mehr Frau und Kinder ernähren zu können“. 24 Auch hier dürfte die Genuslosigkeit ein Vakuum für das MAN-Prinzip eröffnen. Der gesamte Bereich nonbinärer Vorstellungen bei entsprechend ausgezeichneten Personenbezeichnungen (z. B. mit dem Genderstern) wurde noch kaum empirisch untersucht. Forschungsinitiativen sind im Gange (Zacharski / Ferstl 2024). Die Studie von Körner et al. (2022) ergab, dass bei (vorher sogar entsprechend angekündigten) generisch intendierten Maskulina, bei Paarformen und bei Sternformen (alle im Plural) die Paarformen die geschlechtsausgewogensten Resultate erbrachten, während die Maskulina einen male bias und die Sternformen einen female bias auslösten (wobei nur nach Frauen und Männern gefragt wurde). Mittlerweile hat die Einsicht um das nur rudimentär geltende GM politische Konsequenzen gezeitigt, etwa dass sprachliche Gleichbehandlung bzw. Gleichstel‐ lung nicht nur gefordert wird, sondern politisch erwünscht ist. So müssen Stellenaus‐ schreibungen - zumal als adressierende Textsorte - geschlechterbewusst formuliert sein. Wie man ganze Texte umformuliert, ist nach wie vor Gegenstand erhitzter Debatten. Dabei stehen vielfältige und kreative Möglichkeiten zur Verfügung, die sich nicht in stoischem Splitten oder Bestirnen ergehen müssen: Jede dogmatisch durchgeführte Strategie - seien es Splittings bzw. Beidnennungen, die Binnenmajuskel, Neutralisierungen, Substantivierungen, Sterne, Doppelpunkte - wirkt angestrengt und leserseitig ungefällig. Dabei gibt es neben den bislang erwähnten Möglichkeiten weitere Verfahren, z. B. Umschreibungen (alle / diejenigen, die Xen), Passive (es wurde diskutiert) und weitere unpersönliche Konstruktionen, die das Subjekt ausblenden (die Teilnehmer mögen pünktlich erscheinen → um pünktliches Erscheinen wird gebeten). Gegenwärtig lässt sich beobachten, dass im Gesprochenen Beidnennungen schon so stark verschliffen werden, dass daraus „liebe Bürger und Bürger“ wird. In schulischen Kontexten ist man dazu übergegangen, Schüler und Schülerinnen als SuS abzukürzen. Da die zähe Unterscheidung nach Geschlecht zunehmend an Relevanz verliert - so wie es die nach Konfession und Stand bereits getan hat - und sich langfristig ganz (ins Private) zurückziehen wird, erscheint es kontraproduktiv, permanent die Zwei-(oder 5.1 Substantive 141 <?page no="143"?> 25 S. auch Bär (2004, 157), Diewald / Steinhauer (2017, 2019, 2022). Weder substantivierte Partizipien und Adjektive noch eingestreute Feminina und Maskulina wurden bislang gezielt auf ihre Verarbeitung hin getestet. Hinweise auf eine geschlechterausgewogenere Referenz von Partizipialformen bei neutralem Kontext liefern Bülow / Jakob (2017), Bross (2023) und Zimmer (2024). Mehr-)Geschlechtlichkeit aufzurufen. Politisch wird die Geschlechterunterscheidung unterbunden. Sozial löst sie sich durch die Vervielfältigung und Hybridisierung der Geschlechtsidentitäten auf, durch die Transgression der Geschlechtergrenze (Trans‐ gender) oder die Verortung jenseits davon (‚Geschlechtsatheismus‘). Wie lässt sich auch sprachlich diese Entdifferenzierung, der sog. Konturverlust der Geschlechterdifferenz (Hirschauer / Boll 2017) realisieren? Die sprachliche Lösung all dessen ist schwierig und auch nicht Thema dieser Einführung. Sie liegt sicher nicht im Rückfall in Pseudo-GM, da hiermit kein undoing gender, sondern ein doing masculinity verbunden ist. Denn auch die Verwendung vermeintlich geschlechtsabstrahierender Maskulina resultiert letztlich in gegenderter Sprache, nur dass sie männlich gegendert ist. Dies fällt vielen nicht auf, da sie mit diese Schieflage aufgewachsen sind. Eine Lösung des Problems könnte in vielfältigen kleinen Irritationen liegen, die nicht nur die männliche Hauptlesart unterlaufen, sondern Geschlecht langfristig konterkarieren, banalisieren und vergessen lassen. Hierzu eignen sich - immer Geschlechtsgenerizität vorausgesetzt, also ohne Bezug auf konkrete Personen − sog. Streufeminina und Streumaskulina, im Singular wie im Plural: Geschlechtsübergreifend intendierte Feminina (die Hörerin, die Rentnerinnen) und Maskulina (der Hörer, die Rentner) werden gemischt, möglichst mit hälftiger Verteilung und lexikalisch ausgewogen, denn auch hier darf gelten: variatio delectat. 25 In Kap. 1 haben wir als Beispiel Kopf (2014) zitiert; Reaktionen auf ihr Buch monierten, über Gebühr an Frauen gedacht zu haben, was als Kontrasterfahrung zur männlich geprägten Normalität zu deuten ist. Allen Untersuchungen zufolge ist weniger das Vermögen als der Wille zu geschlech‐ tersensibler Sprache entscheidend: Lehnt man sprachliche Inklusion ab, dann auch jedes Mittel dazu (zu den bewusst irritierenden Sternen, Unterstrichen und Gendergaps s. Kap. 10.3). Viele betrachten es, wie erwähnt, als Gebot der Höflichkeit, beide bzw. alle Geschlechter zu repräsentieren (s. Duden-Zweifelsfälle 2011, 417; Stefanowitsch 2011; Feilke 2023). Höflich zu sein ist immer mit höheren Kosten verbunden, etwa indem man Anwesende begrüßt oder sich nach ihrem Befinden erkundigt. Gerade beim Adressieren ist es wichtig, alle Anwesenden zu erfassen. Anleitungen zum flexiblen Gendern finden sich z. B. in Diewald / Steinhauer (2017; 2019; 2022), Olderdissen (2022), Völkening (2022a) und Feilke (2023). Als Reaktion auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse ist der Online-Duden im Jahr 2020 dazu übergegangen, bei maskulinen Personenbezeichnungen wie z. B. Mieter die männliche Lesart bei der Wortbedeutung mit anzugeben, sofern ihnen eine Femininbildung wie Mieterin zukommt, die wiederum einen eigenen Eintrag erhält (Neuhaus / Kunkel-Razum 2024). So steht bei Mieter nicht mehr „jemand, der etwas gemietet hat“, sondern „männliche Person, die etwas gemietet hat“. Damit 142 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="144"?> 26 Siehe auch Weiteres unter www.duden.de/ sprachwissen/ sprachratgeber/ generische-verwendungsw eise-maskuliner-formen (Zugriff am 08.05.2024). hat der Duden aber nicht, wie ihm dies vom Feuilleton fälschlicher- und wohl auch unverstandenerweise vorgeworfen wurde und wird, „das generische Maskulinum abgeschafft“, sondern er hat es in die Pragmatik verlagert, indem er es als eine durchaus mögliche Gebrauchsform des Maskulinums sieht, z. B. bei zum Arzt / zum Bäcker gehen: Hier ist das konkrete Geschlecht irrelevant, es geht primär um eine Arztpraxis bzw. Bäckerei, in die man geht. Darüber kann man sich in dem jedem Eintrag folgenden Kasten „Verwendung der Personenbezeichnung“ informieren: „In bestimmten Situationen wird die maskuline Form (z. B. Arzt, Mieter, Bäcker) gebraucht, um damit Personen aller Geschlechter zu bezeichnen“. Weiter: Dieser geschlechtsübergreifende Gebrauch tritt insbesondere bei maskulinen Personen- und Berufsbezeichnungen auf, die auch eine feminine Form aufweisen, wie z. B. die Ärztin / die Ärztinnen zu der Arzt / die Ärzte […]. Bei der geschlechtsübergreifenden Verwendung mas‐ kuliner Personenbezeichnungen ist sprachlich aber nicht immer eindeutig, ob nur männliche Personen gemeint sind oder auch andere. Als Beispiel nennt Duden „In Kitas fehlen Erzieher“. Ob es nur männliche Erzieher sind oder weibliche wie männliche, bleibt offen. Das Maskulinum kann damit durchaus geschlechtsübergreifend funktionieren, wenn der Kontext es nahelegt: Es gibt Kontexte, in denen die geschlechtsübergreifende Verwendung maskuliner Personen‐ bezeichnungen eher akzeptiert wird als in anderen. Bei der Bestimmung dieser Kontexte spielen zwei Kriterien eine Rolle: 1. Wie hoch ist der Grad der Spezifität, d. h., wie explizit wird über konkrete Personen gesprochen und kann man sich diese unmittelbar vorstellen? 2. Handelt es sich um eine Singularform (Einzahl) oder eine Pluralform (Mehrzahl)? Wird also über einzelne Personen oder ganze Personengruppen gesprochen? 26 Kontextabhängig kann die Kernbedeutung ‚männlicher Erzieher‘ (oder Mieter, Arzt, Bäcker …) durch eine geschlechtsabstrahierende Lesart überschrieben werden. Zwei begünstigende Faktoren werden genannt: 1. geringe Referenzialität (Spezifität) und 2. Plural. Damit hat der Online-Duden das generische Maskulinum nicht beseitigt, sondern dort verortet, wo es linguistisch hingehört: In die Verwendung sprachlicher Zeichen und damit in die Pragmatik. Um die Wirkung von GM zu spiegeln, gingen einige Institutionen wie die Univer‐ sitäten Potsdam und Leipzig temporär zum generischen Femininum über, mit ent‐ sprechender Fußnote und umgekehrten Vorzeichen: „In dieser Ordnung gelten gram‐ matisch feminine Personenbezeichnungen gleichermaßen für Personen männlichen und weiblichen Geschlechts“. Hier sollen Movierungen wie Studentin, Kandidatinnen, Dekanin das leisten, wozu sonst das GM in der Lage sein soll. Die Unvergleichbarkeit 5.1 Substantive 143 <?page no="145"?> 27 Substantivierte Adjektive und Partizipien sind im Singular sogar besonders eng mit Geschlecht assoziiert, was maßgeblich die Leistung des am Wort overten Genus ist (Suffixe). So hat Pusch (1984) den Einheitseintrag „Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher“ in Pässen kritisiert (was später korrigiert wurde, s. Fußnote 9 in Kap. 6.2). Nach wie vor sind als GM intendierte, aber männlich endende Formulierungen häufig, z. B. in einem Bericht über die ETA: „Wenn es einen Toten gab, nun ja-- irgendetwas würde der Mann schon getan haben“ (F.A.Z., 18. 01. 2018). liegt darin, dass movierte Feminina nur Frauen bezeichnen, Maskulina jedoch nur oder teilweise Männer. Das generische Maskulinum versteckt also Frauen systematisch und legt ihnen die zusätzliche Bürde auf, ständig darüber nachzudenken, ob sie in einem konkreten Fall mitgemeint sind oder nicht. […] Dass die Nicht-Betroffenen ([…] die Männer) diskriminierende Sprache so schwer erkennen, liegt natürlich genau daran, dass sie eben nicht betroffen sind. (Stefano‐ witsch 2018, 36 f.) Generische Feminina liegen auch vor, wenn sog. Frauenberufe in movierter Form (Kosmetikerin, Floristin, Erzieherin, Pflegerin) geschlechtsübergreifend unter Einschluss der darin arbeitenden Männer verwendet werden. So schreibt Wikipedia unter „Erzie‐ her“: „Wegen des niedrigen Männeranteils im Berufsfeld [5,2 %] wird häufig auch nur die weibliche Form Erzieherin verwendet“ (11.12.2022). Die Untersuchung solcher geschlechtsübergreifender Feminina steht noch aus. 5.2 Indefinitpronomen Im Jahr 1998 entgleiste bei. E.chede ein ICE. Dabei starben 101 Personen, 60 Mädchen und Frauen sowie 41 Jungen und Männer. Zum 15. Jahrestag dieses Unglücks schreibt die F. A. Z. (03. 06. 2013) über Entschädigungsstreitigkeiten, da aus Sicht der Hinter‐ bliebenen das an sie gezahlte Schmerzensgeld zu gering war. In dem Artikel steht: „Das Verhältnis zu den Hinterbliebenen war lange stark belastet“, erklärte Rüdiger Grube im Interview, obwohl doch die Bahn ‚weit mehr als 30 Millionen Entschädigung gezahlt‘ habe. Richtig ist, dass die Bahn für jeden Getöteten rund 15 000 Euro Schmerzensgeld gezahlt hat (also 1,5 Millionen Euro insgesamt). Diese Summe bezeichnete Heinrich Löwen, der Sprecher der ‚Selbsthilfe Eschede‘, angesichts des Bahn-Etats als ‚einen Akt der Geringschätzung‘. Otto Ernst Krasney, der vom Bahn-Management als Vermittler eingesetzt worden war, konterte kurz, es werde keinen glücklich machen, durch den Verlust von Frau und Kind zum Millionär zu werden. Was ist hier passiert? Zum einen steht da „für jeden Getöteten“, was weibliche Opfer (s. o.) mehr oder weniger ausblendet. 27 Zum anderen und paradoxerweise ist im letzten Satz die Rede vom „Verlust von Frau und Kind“, durch dessen Entschädigung man u. U. „zum Millionär“ werde. Hier wird davon ausgegangen, dass die Hinterbliebenen alle männlich seien. Man muss ziemlich genau hinschauen, um die mögliche Ursache für diese sprachliche Entgleisung zu finden: Es scheint das negative Indefinitpronomen 144 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="146"?> 28 Vgl. auch den von Pusch kritisierten Radiobeleg, in dem Mutter und Tochter gefragt werden, wie sie zusammenleben und die Tochter antwortet: „Jeder für sich“ (Pusch 1984, 91). keinen kurz davor zu sein, Akkusativ zu keiner. Ob es dieses unscheinbare Maskulinum ist, das männlich interpretiert wurde, oder das allgemeine MAN-Prinzip, harrt empiri‐ scher Erforschung. Persönliche Indefinita sind kleine, unauffällige und überaus frequente Pronomen. Sie kommen im Singular und Plural vor: man, jemand, jedermann, niemand, wer, mancher, jeder, keiner - einige, etliche, mehrere, alle. Alle Indefinita im Singular haben ein Genus, und das ist maskulin. Damit stellt sich die Frage, ob auch hier das Genus-Sexus-Prinzip wirkt. Der eben erwähnte Fall keiner legt dies nahe. Im Nominativ unflektierte Pronomen wie jemand, niemand, man sind ebenfalls Maskulina, was sich an der Flexion des Genitivs, Dativs und Akkusativs zeigt: jemandes, jemandem, jemanden. Die obliquen Formen von man sind einem (Dativ; z. B. man kann es einem nie recht machen) und einen (Akkusativ). Auch ein folgendes Relativ- oder Possessivpronomen bestätigt dies: Der Satz Nachher kommt jemand vorbei, der seinen Schirm abholt ist unmarkiert. Die feministische Linguistik hat jemand schon früh kritisiert, indem sie Sätze wie jemand hat seinen Lippenstift vergessen zurückgewiesen hat und durch ihren Lippenstift ersetzt sehen wollte. Andererseits zeigen Alltagserfahrungen, dass es in rein weiblichen Gruppen ohne weiteres zu Äußerungen solcher Art kommt, z. B.: Wo kann man sein Kind stillen? Ist da jemand, der mir helfen kann? Kann mir einer helfen? Einer nach dem anderen! Wie wird man schwanger? Sie ist jemand, der gut vortragen kann. Man mag davon halten, was man will - solche (teilweise auch flexivisch) maskulinen Formen werden sehr oft unmarkiert von Frauen wie Männern verwendet, ohne dass man diesen unterstellen darf, grammatisch inkorrekt zu sprechen, unemanzipiert oder gar antifeministisch eingestellt zu sein. Steht das (weibliche) Referenzobjekt fest, sind solche Formen akzeptiert, weswegen sie gerade zur Selbstbezeichnung oder für anwesende Frauen verwendet werden 28 . Ist Geschlecht offenkundig, kann seine sprachliche Markierung offensichtlich zurücktreten (Breiner 1996, 130). Die feministi‐ sche Forderung „Eine Sprecherin bezeichnet sich niemals mit einem Maskulinum! “ (Pusch 1984, 104) sexuiert Genus. Die zentrale Frage ist jedoch, was passiert, wenn das Referenzobjekt unbekannt ist. Da Indefinita semantisch arm sind und deshalb auch keine Geschlechterstereotype enthalten können, kann es nur ihr Genus oder das allgemeine MAN-Prinzip sein, wenn es eine männliche Geschlechtsvorstellung auslöst. Zu jemand liefert die SZ (30. 11. 2017) einen solchen Hinweis. In einem Interview diskutiert die Zeitung mit einem Notfallseelsorger, ob Angehörige von gewaltsam ums Leben gekommenen Personen Details über deren Tod erfahren sollten oder nicht: SZ: Wann ist es besser, nichts zu wissen? Oder Details nicht zu kennen? Antwort: Es ist mir noch nie passiert, egal wo und wie jemand ums Leben gekommen ist, dass ein Angehöriger nichts wissen wollte. In Krisensituationen sollten Helfer nur die Details nennen, die abgefragt werden. Wenn sich jemand suizidiert hat, dann heißt die erste 5.2 Indefinitpronomen 145 <?page no="147"?> Information nur: „Ihr Mann wurde tot aufgefunden, er hat sich das Leben genommen.“ Erst später kommen dann die Fragen: „Wie hat er es gemacht? Hat er gelitten? “ Das Maskulinum jemand mündet unauffällig in die männliche Konkretion Mann. Während hier generische Referenz intendiert war, handelt es sich im folgenden Beispiel um spezifische, die mit Angela Merkel konkretisiert wird. Martin Schulz sagte nach seinem Fernsehduell gegen Angela Merkel (am 04. 09. 2017): Was gestern klar geworden ist: Es gibt jemanden, der will die Vergangenheit verwalten, der heißt Angela Merkel. Und es gibt jemanden, der will die Zukunft gestalten, und der heißt Martin Schulz. Der Satz erzeugt bei manchen einen schiefen, inkongruenten Eindruck, vielleicht auch, weil er mehrfach das Maskulinum aufruft, bevor es mit Angela Merkel konkretisiert wird. Mit der Anzahl maskuliner Marker scheint sich eine männliche Lesart zu verstärken, vgl. es gibt jemanden namens Angel Merkel mit es gibt jemanden, der heißt Angela Merkel (vgl. Kap. 5.1.1 und Fußnote 18 in Kap. 6.4). Becker (2008) gibt zu bedenken, dass die Akzeptanz solcher Maskulina wie jemand, jeder vom Vorhandensein von Formulierungsalternativen abhänge, d. h. ob ein entsprechendes Femininum zur Verfügung stehe. So lösten Äußerungen wie Wer hat meinen Lippenstift weggenommen? oder Jemand hat meinen Lippenstift weggenommen „nicht die verwunderte Gegenfrage aus: Was will der Kerl denn damit? “ (68), weil es zu wer und jemand kein Femininum gebe. Dass aber der Satz Jemand hat hier seinen Lippenstift liegengelassen eher befremde, liege am Possessivum seinen, zu dem das feminine Korrelat ihren existiere. Auch wenn aus Kongruenzgründen ihren nach jemand (m.) inakzeptabel wirkt, so präsupponiere seinper se männliches Geschlecht: So wie Lehrer wegen der Alternative Lehrerin männlicher aufgeladen sei als Star oder Fan, so auch seinwegen ihr-, aber nicht jemand oder man. Peripher trifft man auch auf frau, was nur weiblich interpretierbar ist (s. Zifonun et al. 1997, I, 43; Pusch 1984, 86-93). Storjohann (2004) untersucht frau korpus- und kontextbasiert und zeigt, dass es sich zwischen 1980 und 1990 zunächst in frauenpolitischen Kontexten etabliert hat und sich daraus löste. Auch wurde es in verschiedene Wörterbücher aufgenommen. Der Faktor des femininen Korrelats trifft auf das Pronomen jeder mit jede zu, s. hier die Kritik von Pusch (1984, 92) an dem Satz (eines Beipackzettels) „Die Menstruation ist bei jedem ein bisschen anders“. Zu jedem existiert der feminine Dativ jeder. Dies könnte die männliche Lesart von jedem befördert haben (die Firma, so Pusch, hat bei jedem daraufhin durch bei jeder Frau ersetzt). Als Vermeidungsstrategie von jeder wird die Pluralisierung empfohlen (jeder, der → alle, die) oder die Paarform jede und jeder: „Jede und jeder soll die Hilfe erhalten, die sie oder er braucht“ (Hermann Gröhe, zit. in Der Spiegel 5 / 2018) (mehr in Pusch 1990, 77 f.). Alle diese Beispiele zeigen, dass Indefinita im Gegensatz zu maskulinen Personenbe‐ zeichnungen kaum auffallen und dass sie mehr Forschung erfordern. Irmen / Köhncke (1996) haben einer und jemand in ihre psycholinguistischen Experimente integriert, wo nach Sätzen wie Einer ist immer noch auf der Toilette. Jemand ist gestern zu Besuch 146 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="148"?> gekommen auf Fragen wie „Frau? “ oder „Mann? “ unmittelbar mit Ja oder Nein zu antworten war (Kap. 5.1.2.). Die Sätze mit (maskulin flektiertem) einer wurden aus‐ nahmslos männlich interpretiert: „Es stellt sich die Frage, inwiefern ‚einer‘ überhaupt als Indefinitpronomen bezeichnet werden kann, da es weder formal noch semantisch unbestimmt ist“ (Irmen / Köhncke 1996, 160). Unflektiertes jemand verhielt sich anders: „Jemand wird zwar als generische Form akzeptiert, seine Verwendung bewirkt aber einen Bias in Richtung einer maskulinen Interpretation“ (ebd., 160). Ob dies mit der fehlenden Formulierungsalternative zusammenhängt, ist noch zu ergründen. Pusch (1984) plädiert für die generelle Einführung femininer Korrelate, da jegliches Maskulinum per se weibliche Referenz unterbinde, auch im Fall von wenn man sein Kind stillt. Dies ist jedoch umstritten. Zu man empfiehlt sie frau. Letzteres verhalte sich nominaler als man und könne durch sie pronominalisiert werden (ungleich man durch *er): wenn frau unterwegs ist, kann sie … vs. wenn man unterwegs ist, kann *er (sondern man)-… (ebd., 87). Nach jemand kommt es jedoch durchaus zu femininen Proformen. Dazu liegt nun mit Ellsäßer (2023) belastbare Forschung vor. Sie geht Konstruktionen vom Typ Sie ist jemand, die gerne Kaffee trinkt nach, in der das feminine Relativpronomen die nach spezifisch referierendem jemand (es bezieht sich hier auf eine weibliche Person) offensichtlich semantisch (konzeptuell) ausgelöst wird (was jemand in gewisser Weise mit hybrid nouns wie Mädchen vergleichbar macht). Auch weibliches ich kann feminine Kongruenz auslösen. Anhand eines nähespachlichen Korpus stellt Ellsäßer fest, dass in 9,2 % der Fälle, in denen jemand auf eine Frau referiert, feminines die folgt - v. a. dann, wenn die SprecherIn diese Frau kennt oder wenn man (bei unspezifischer Referenz) genderbewusst formulieren will (zu Weiterem wie etwa doppeltem der oder die, zu possessivem sein bzw. ihr und den Erkentnissen einer Online-Befragung s. Ellsäßer 2023). Wieder wird deutlich: Man muss solche Fragen empirisch und unter Einbezug von Kontexten angehen. Interessanterweise konnten früher (resthaft und dialektal auch heute noch) ge‐ schlechtsübergreifende Indefinita Neutra sein. Die Duden-Grammatik (2016, § 352) schreibt hierzu: Formen wie was, alles und beides können sexusindifferent als eine Art Sammelbezeichnung verwendet werden-[…]: (a) Früh übt sich, was ein Meister werden will. Bitte alles / alle aussteigen. Alles schaute nach oben.-[…]-- Veraltend oder regional: Den Lunch bringt jedes selber mit. Auch in den Grimm’schen Märchen finden sich solche Neutra (für Erwachsene): „Fundevogel und Lenchen hatten einander so lieb, dass, wenn eins das andere nicht sah, es traurig war“ (ebd.). - „Sie fürchteten einander nicht […], denn ein jedes wusste, dass das andere zu ihm halten würde“ (ebd., § 422; weitere Bsp. bei Paul 1919 [1968] III, 5.2 Indefinitpronomen 147 <?page no="149"?> 29 Das Neutrum nach jemand (sowie niemand und wer) scheint auf die Reanalyse eines Genitivs zurückzugehen. Regional ist auch Maskulinkongruenz möglich (jemand Fremder), was zeigt, dass jemand Fremdes als Neutrum empfunden wird (doch mit anaphorischem Mask.: jemand Fremdes, der-…). 30 Ein pluralisches und damit genusneutrales Possessiv, wie es im Englischen praktiziert wird (Who has lost their tickets? ), funktioniert im Deutschen nicht, da es mit dem Fem.Sg. homophon ist: Wer hat ihren-P L . / F E M .S G . Lippenstift vergessen? ist ambig. 185-190; Harnisch 2009, 78 f.). Alltagssprachlich üblich sind es spricht jemand anderes; dort ist jemand Fremdes / Unbekanntes / Nettes. 29 Birkenes / Fleischer (2017) untersuchen solche Neutra in hessischen Dialekten und liefern ein Beispiel aus dem Lorscher Dialekt (übersetzt): Es war keins [niemand] da. Im folgenden Beleg (Mühlheim am Main) ist auch das Relativpronomen neutral: Ich kenn kaans, des noch nie krank war. Auch gibt es Neutra bei ‚jemand‘, sofern hierfür eineintritt: Well noch äns Salz? ‚Will noch eins [‚jemand‘] Salz? ‘. Die Formen man, jemand, jedermann und niemand enthalten das einstige mhd. Nomen man ‚Mensch, Mann‘ (Paul 1917 [1968] II, § 138); jemand geht aus mhd. ieman, ahd. ioman ‚irgendein Mensch / Mann‘ und niemand aus dessen Negation hervor (mhd. nieman, wörtl. ‚nicht irgendein Mensch / Mann‘). Erst im Frühnhd. trat im Zuge verstärkter Wortsprachlichkeit ein sekundäres -d als phonologischer Wortrandverstärker hinzu, das den Abstand zum Substantiv Mann vergrößert hat (Nübling et al. 2017, 53 ff.). Für grammatikalisiertes man gilt strikte Akzentlosigkeit, es ist ein (unselbständiges) Klitikon, das zu bloßem [ma] schrumpfen kann: [ma] kann nichts machen und mit seinem Stützwort (Basis) verschmelzen kann: we[ma] ‚wenn man‘, ka[ma] ‚kann man‘. Auch in der Schreibung haben sich Mann vs. man längst dissoziiert. Auch wenn sie homophon sein können, darf man sie inhaltlich nicht einfach gleichsetzen. Interessant ist auch der Fall von wer, das als Indefinitum ebenfalls Maskulinum ist, was an Kongruenzwörtern sichtbar wird: Wer überholt wird, darf seine Geschwindigkeit nicht erhöhen (Harnisch 2016). Dass das Maskulinum in die männliche Lesart rutschen könnte, zeigt ein Zitat von Helmut Kohl: „Wer ja sagt zur Familie, muss auch ja sagen zur Frau“ (Pusch 1984, 15 f.). Die (korpusbasiert oder experimentell zu untersuchende) Frage ist, wie häufig dies faktisch geschieht. Akzeptabel sind auch weibliche Bezüge: Wer Mann und Kinder verlässt, sollte juristisch gut beraten sein. Als Interrogativ- und Relativpronomen kann sich wer auf mehrere Personen beziehen (Wer war im Schwimm‐ bad? Wir alle), ebenso auf eine Frau oder mehrere: Wer war im Schwimmbad? Luise. Dass wer Singular ist, erkennt man am Verb (Wer hat / *haben den Kuchen gegessen? ), dass es maskulin ist, am Possessivum: Wer hat seinen Lippenstift vergessen? Dies schließt-- s. o. - Frauen nicht aus, auch wenn ein feminines Possessivum vorgeschlagen wurde: Wer hat ihren Lippenstift vergessen? Wie Pittner (1998, 157) einwendet, drängt sich bei ihren die näherliegende Interpretation auf, es handle sich um den Lippenstift einer anderen Frau als von ‚wer‘. 30 Auch wer in einem linksversetzten freien Relativsatz muss wenn, dann durch die Proform der wiederaufgenommen werden (Wer nicht bezahlt, der / *die wird gemahnt), ebenso bei weiblicher Referenz: Wer schwanger ist, der / ? die 148 5 Das so genannte generische Maskulinum <?page no="150"?> 31 Harnisch (2009, 79) identifiziert noch eine ältere genusübergreifende und geschlechtsindifferente Verwendung von was mit Bezug auf Personen: Früh übt sich, was ein Meister werden will; alles, was Beine hat. bekommt Mutterschaftsurlaub (Pittner 1998, 156). 31 Die feministische Linguistik lehnt Maskulina zur (Selbst- und Fremd-) Bezeichnung von Frauen ab: „Wer glaubt, sie sei mit wer gemeint, die irrt sich! “ (Pusch 1984, 90). Der Fall wer zeigt eindrücklich, dass prinzipiell zwischen grammatischen Kategorien zu unterscheiden ist, denen eine Spracheinheit angehört, und ihrem Referenz- oder Bezugspotential (grammatische vs. referenzielle Kategorien): Ein Singular kann sich auf mehrere Entitäten beziehen und ein Maskulinum auf Frauen (Harnisch 2009 spricht bei wer von „double genericity“). Insgesamt stellt die genderlinguistische Erforschung gerade dieser Kleinwörter noch ein wichtiges und ergiebiges Forschungsfeld dar. Immer wieder stößt man auf den Pauschalvorwurf, die Genderlinguistik kenne oder beachte nicht den Unterschied zwischen Genus und Sexus. Diese Stimmen ignorieren jedoch die in Kap. 5.1. vorgestell‐ ten Befunde empirischer Forschungen, die bei Substantiven graduell unterschiedlich ausgeprägte Genus-Sexus-Verbindungen belegen, sogar bei Epikoina, bei Tier- und bei Objektbezeichnungen (Kap. 4.3), und sie ignorieren die soziale Kategorie Gender, die erheblichen Einfluss auf die Grammatik hat. 5.2 Indefinitpronomen 149 <?page no="152"?> 6 Morphologie Das Deutsche verfügt über verschiedene Möglichkeiten, Geschlecht zu markieren (Ge‐ schlechtsspezifikation), ebenso, Geschlecht zu neutralisieren (Geschlechtsneutra‐ lisation). Für die menschlichen Geschlechter sieht die Sprache verschiedene Lexeme vor. Man könnte sie, betrachtete man Geschlecht als eine linguistische Kategorie, als Suppletivformen bezeichnen: Frau vs. Mann, Mädchen vs. Junge, Mutter vs. Vater. Dabei fällt auf, dass das Deutsche (und viele andere Sprachen auch) kein altersunabhängiges Wort für weibliche und männliche Menschen besitzt. Wollen wir nur von Personen ei‐ nes bestimmten Geschlechts sprechen, sind wir immer gezwungen, auch ihr ungefähres Alter anzugeben. Dies zeigt, dass Geschlecht dem Alter subordiniert ist (mehr in Kap. 8). Hier befassen wir uns mit morphologischen und morphosyntaktischen Verfahren der Geschlechtsspezifizierung und -neutralisierung. Da wir die uns umgebenden Tiere mit einbeziehen und auch die tierliche Geschlechterunterscheidung bei Körpermerkmalen ansetzt, verwenden wir den in der Linguistik gängigeren Terminus Sexus oder einfach Geschlecht; letzteres kann Gender als menschliche Geschlechtsdarstellung einschließen. Das Kapitel befasst sich mehrheitlich mit binarisierenden Verfahren, wie sie sich über Jahrhunderte tief in der Wortbildung festgesetzt (grammatikalisiert) haben. Doch gibt es sprachpolitisch motivierte Bestrebungen zu geschlechtsneutralisierenden Suffixen, die in Kap. 6.2.2.3 vorgestellt werden. 6.1 Verfahren der Geschlechtsspezifizierung und -neutralisierung Gegenstand dieses Kapitels ist die Frage, welche Verfahren der Geschlechtsmarkie‐ rung es gibt und ob sie symmetrisch (Alt-e / Alt-er) oder asymmetrisch verfahren (Fahr-er / Fahrer-in). Die Frage ist, welches Geschlecht materiell aufwändiger markiert wird. Dies gibt uns darüber Aufschluss, was der Gesellschaft, die diese grammati‐ schen Strukturen über viele Jahrhunderte hinweg hervorgebracht und verfestigt hat, wichtig ist oder war, denn gerade die Grammatik (Genus, Flexion, Wortbildung, Syn‐ tax) tradiert besonders persistente, gehärtete Strukturen. Die ständige Reproduktion asymmetrischer Strukturen affirmiert, stabilisiert und reproduziert gleichzeitig die dahinterstehenden Rangunterschiede. Auch wenn langfristig nicht mehr Benötig‐ tes schwindet, so doch mit unterschiedlichem Tempo: Lexikalische Einheiten wie Fräulein, Muhme, Backfisch können schnell aufgegeben werden, wenn sie obsolet sind. Ungleich langwieriger und schwieriger gestaltet sich dies bei grammatischen Strukturen, die geflechtartig-subtil das gesamte Sprachsystem durchziehen können. Diese entziehen sich weitgehend unserer Reflexion (im Gegensatz zu Lexemen). Die Prägung von Lexemen ebenso wie der tieferliegenden grammatischen Strukturen ist Resultat jahrhundertelangen Sprechens, hier: über Geschlechter. Der Aggregatzustand <?page no="153"?> der Grammatik ist fester als der der Lexik. Innerhalb der Grammatik bestehen nochmals Unterschiede: Flexion ist fester als Wortbildung. Abb. 6-1 zeigt die möglichen Ausdrucksverfahren: Sie oszillieren zwischen synthe‐ tischen Lexemen (semantisches Geschlecht: Geschlecht ist untrennbar bzw. inhärent in ihnen enthalten) und analytischen Konstruktionen. Dazwischen entfaltet sich ein Kontinuum, das Thema dieses Kapitels ist. Wichtig ist die Einsicht, dass Lexeme als Fertigbauteile spezifische, besonders häufig gebrauchte Informationskomplexe bündeln und konservieren. Da sie komplett unterschiedliche Formen haben, belasten sie die menschliche Kognition. Andererseits wird sehr häufig auf sie zugegriffen - sonst wären sie ja nicht geprägt worden -, was sie wiederum gut memorier- und abrufbar macht. Abb. 6-1: Strategien der Geschlechtsspezifikation Abb. 6-1 zeigt die möglichen Ausdrucksverfahren: Sie oszillieren zwischen synthetischen Lexemen (die nicht segmentierbar sind: Geschlecht ist untrennbar bzw. inhärent in ihnen enthalten) und analytischen Konstruktionen. Dazwischen entfaltet sich ein Kontinuum, das Thema dieses Kapitels ist. Wichtig ist die Einsicht, dass Lexeme als Fertigbauteile spezifische, besonders häufig gebrauchte Informationskomplexe bündeln und konservieren. Da sie komplett unterschiedliche Formen haben, belasten sie die menschliche Kognition. Andererseits wird sehr häufig auf sie zugegriffen - sonst wären sie ja nicht geprägt worden -, was sie wiederum gut memorier- und abrufbar macht. Für alles, was weder lexikalisch noch morphologisch ausgedrückt werden kann, wählt man analytische Umschreibungen (Periphrasen). Diese Default-Lösung macht alle gewünschten Informationen kombinierbar, z.B. lesende, promovierte, 35-jährige, hochgewachsene Hundebesitzerin in blauem Hosenrock, die gelbe Rüben isst. Für solche spezifischen Informationskomplexe gibt es weder Lexeme noch morphologische Verfahren. Käme („Fertigbauteil“) SYNTHETISCH ANALYTISCH Frau Ehefrau Dänin sie, ihr die/ eine Deutsche weibliches Opfer Mann Ehemann Witwer er, sein der Alte/ ein Alter männliches Opfer jede/ r die/ der Studierende die/ der Angestellte Stute Elefantenkuh Hündin große weiblicher Wurm Hengst Elefantenbulle Enterich großer männlicher Wurm Drohne X-weibchen X-männchen Abb. 6-1: Strategien der Geschlechtsspezifikation Für alles, was weder lexikalisch noch morphologisch ausgedrückt werden kann, wählt man analytische Umschreibungen (Periphrasen). Diese Default-Lösung macht alle gewünschten Informationen kombinierbar, z. B. lesende, promovierte, 35-jährige Hundebesitzerin in blauem Hosenrock, die gelbe Rüben isst. Für solche spezifischen Informationskomplexe gibt es weder Lexeme noch morphologische Verfahren. Käme diese Kombination häufig genug vor, würde sich eine entsprechende Prägung ergeben - so wie sich für einen sonderbaren, eher männlichen Computerfreak mit Tendenz zu 152 6 Morphologie <?page no="154"?> defizitärem Sozialverhalten der Begriff Nerd etabliert hat. Periphrastisch lässt sich alles und beliebig viel ausdrücken. Hier bestehen auch Wahlmöglichkeiten: Man könnte etwa gelbe Rüben durch Karotten ersetzen. Beim lexikalischen Verfahren Nr. 1 ist man dagegen am beschränktesten. Lexikalische Lücken füllen wir durch Wortbildungen (Fräulein, Großvater), Metaphern und Metonymien (Backfisch, Frauenzimmer) sowie Entlehnungen (Nerd, Dame, Onkel, Girl). Das Kontinuum in Abb. 6-1 informiert über die soziale Relevanz bestimmter Informationskomplexe: links die kurzen, praktischen und handlichen Fertigbauteile, rechts der Baukasten, der alles zu kombinieren in der Lage ist, aber zu längeren Ausdrücken führt. Im Fall der Simplizia Frau / Mann und Mädchen / Junge ist, wie erwähnt, Geschlecht eng mit Alter verknüpft. Nach wie vor scheint es kaum möglich oder nötig zu sein, einen weiblichen oder männlichen Menschen unter Absehung seines ungefähren Alters zu konzipieren. Wahrscheinlich ist die Fortpflanzungsfähigkeit bzw. Heiratsreife eine sozial so hochrelevante Information, dass man sie der Geschlechtsinformation aufpfropft. Die bis vor wenigen Jahrzehnten noch frequenten, lexikalisierten Wortbil‐ dungen Fräulein und Jungfer nehmen eine Zwischenposition zwischen (1) und (2) ein; ihr Rückgang reflektiert die soziale Relevanzabnahme des einseitig weiblichen Virginitätskriteriums. Simplizia sind morphologisch nicht segmentierbare Lexeme wie Frau, Mann. Ob Mädchen dazugehört, ist umstritten. Immerhin enthält es das Diminutivsuffix -chen, doch kommt die Basis *Mäd- / *Madnicht mehr frei vor (historisch geht es auf Magd zurück). Mädchen ist auf dem Weg von der Wortbildung zum Simplex. Solche Grenzfälle stellen auch lexikalisierte Wortbildungen dar, deren Bedeutung sich nicht (mehr) kompositional aus denen ihrer Glieder erschließt (Jungfer, Frau‐ enzimmer, Frauchen / Herrchen). Umgekehrt kann man durchaus geschlechts- und altersneutral vom Menschen spre‐ chen. Will man jedoch ausschließlich auf Altersstadien ohne Geschlecht referieren, steht nur das Kind zur Verfügung. Erwachsene Menschen können offensichtlich nicht anders als sexuiert konzipiert werden. Sie können über eine Wortbildung (Konversion), das substantivierte Adjektiv Erwachsene, bezeichnet werden. Dabei abstrahiert nur der Plural von Geschlecht. Im Singular muss, wie bei jedem Substantiv, ein Genus zugewiesen werden, und dieses leistet gleichzeitig die Geschlechtsspezifikation: der bzw. die Erwachsene (sog. Differentialgenus, Verfahren 3). Eine Zwischenposition nimmt die Morphologie (Verfahren 2) mit Wortbildung und Flexion ein. Wir beginnen mit der Wortbildung. 6.1 Verfahren der Geschlechtsspezifizierung und -neutralisierung 153 <?page no="155"?> 6.2 Wortbildung Wir fokussieren im Folgenden die Komposition sowie die beiden derivationellen Hauptverfahren der Movierung und der Diminution. Zur Geschichte der Wortbildungs‐ modelle für Frauenbezeichnungen s. Stephan (2009). 6.2.1 Komposition Die Komposition ist ein überaus aktiver und produktiver Bereich der Wortbildung, der gerade in den letzten Jahrzehnten zu vielen Neubildungen geführt hat: Personenbezeich‐ nungen auf -mann wie Feuerwehr-, Kamera-, Kaufmann, die sich bis in die 1950er Jahren faktisch nur auf Männer bezogen, haben - nicht ohne Widerstand und Polemik - Korrelate auf -frau gebildet (Pusch 1984, 97 ff.; Haß-Zumkehr 2003). Heute sind Feuerwehr-, Kamera- und Kauffrau normale Berufsbezeichnungen geworden. Am Beispiel von Kauffrau soll deutlich gemacht werden, welche ‚Bedenken‘ selbst von Sprachwissenschaftlern aufgefah‐ ren wurden. So ‚argumentiert‘ noch 1965 Henzen in seiner „Deutschen Wortbildung“ gegen Kauffrau und für die Movierung Kaufmännin wie folgt: Aber wie kennzeichnen wir einen weiblichen Kaufmann oder Obmann? Kauffrau klingt etwas ungewöhnlich (trotz Gemüse-, Eier-, Milchfrau und ndl. koopvrouw) und könnte einen unliebsamen Nebenton haben. Vielleicht Kaufmännin, Obmännin? Sagen wir doch anstandslos Landsmännin, unbekümmert um den Widerspruch in -männin. (117) Die Sorge um den „unliebsamen Nebenton“ von Kauffrau als käufliche Frau hat sich als unberechtigt erwiesen. Gegen Henzens Vorschlag, Komposita auf -mann zu -männin zu movieren, wurde vonseiten der feministischen Linguistik die mangelnde Sichtbarkeit der Frau und die Voraussetzung der männlichen Basis Kaufmann vorgebracht. Kauffrau benennt die Frau direkt (ohne Umweg über den Mann) und salienter als über die Endung in Kaufmännin. In der DDR galt Kaufmann auch für Frauen, Barz (1985) zufolge wegen des „hohen Idiomatisierungsgrades der Konstruktion“ (192). Hieran sieht man gut, wie stark und wie schnell Gesellschaft Sprache (und Linguistik) prägt, schon innerhalb Deutschlands (s. Kopf 2023). Abb. 6-2 zeigt, wie rasant Komposita auf -frau seit den 1980er Jahren zunehmen. Kauffrau geht voran, nimmt ab 1960 an Fahrt auf und steigt ab 1980 steil auf (die nicht kartierte Kaufmännin dümpelt bis ca. 2000 vor sich hin), dicht gefolgt von Kamerafrau und Feuerwehrfrau, während die Fachfrau sich nur zögerlich vom (lexikalisierten) Fachmann emanzitiert. Einen Sonderfall stellt die Amtfrau dar. Diese Berufsbezeichnung musste gericht‐ lich erstritten werden und hat sich erst jüngst gegen Amtmännin durchgesetzt: Hintergrund war (nach Hellinger 1990, 132 f.) die 1984 erfolgte Beförderung einer Frau zur Stadtamtmännin. Ihr Antrag auf Zuteilung der angemessenen Amtsbe‐ zeichnung Amtfrau wurde zurückgewiesen: Die Movierung mit -in reiche für die 154 6 Morphologie <?page no="156"?> 1 Für die Abb. 6-3 und 6-4 gilt: Bis 2019 DWDS Referenz- und Zeitungskorpora, ab 2020 ZDL-Regio‐ nalkorpus. Herzlichen Dank an Kristin Kopf für die Erstellung der Abb. 6-2 bis 6-4. Bezeichnung von Frauen aus. Die Klägerin legte Widerspruch ein mit dem Hinweis, -männin sei kein gleichwertiges Pendant zu -mann, wirke degradierend und lä‐ cherlich, außerdem könne Amtfrau problemlos dem Muster von Kaufmann / Kauf‐ frau folgen. Ein linguistisches Gutachten bestätigte diese Argumentation, womit seit 1986 beide Bildungen (Amtmännin und Amtfrau) zulässig sind. 1987 wurde der Klägerin die Amtsbezeichnung Stadtamtfrau verliehen. Datenerhebung: Dezember 2022. Abb. 6-2 (neu! ) Abb. 6-2: Gebrauchsfrequenz der Lexeme Fachfrau, Feuerwehrfrau, Kamerafrau und Kauffrau pro Million Tokens (DWDS Referenz- und Zeitungskorpora + ZDL-Regionalkorpus, n=5.892). Abb. 6-3: Relative Häufigkeit der Lexeme Landsmännin und Landsfrau (bis 2019: DWDS Referenz- und Zeitungskorpora, ab 2020: ZDL-Regionalkorpus, n=1.258), in der Tabelle normalisierte Frequenz pro Million Tokens. 01234567 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 pro Mio Tokens Fachfrau Feuerwehrfrau Kamerafrau Kauffrau 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Landsmännin 0,41 0,27 0,13 0,22 0,11 0,43 0,21 0,19 0,23 0,16 0,12 0,09 0,02 Landsfrau 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,03 0,17 0,51 2,80 0,18 0% 20% 40% 60% 80% 100% Abb. 6-2: Gebrauchsfrequenz der Lexeme Fachfrau, Feuerwehrfrau, Kamerafrau und Kauffrau pro Mio Tokens (DWDS Referenz- und Zeitungskorpora + ZDL-Regionalkorpus, n-= 5.892) Abb. 6-3 zeigt die Entwicklung von Landsmännin zu Landsfrau, auch hier nimmt das Kompositum zuungunsten der Movierung deutlich zu. Datenerhebung: Dezember 2022. Abb. 6-2 (neu! ) Abb. 6-2: Gebrauchsfrequenz der Lexeme Fachfrau, Feuerwehrfrau, Kamerafrau und Kauffrau pro Million Tokens (DWDS Referenz- und Zeitungskorpora + ZDL-Regionalkorpus, n=5.892). Abb. 6-3: Relative Häufigkeit der Lexeme Landsmännin und Landsfrau (bis 2019: DWDS Referenz- und Zeitungskorpora, ab 2020: ZDL-Regionalkorpus, n=1.258), in der Tabelle normalisierte Frequenz pro Million Tokens. 01234567 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 pro Mio Tokens Fachfrau Feuerwehrfrau Kamerafrau Kauffrau 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Landsmännin 0,41 0,27 0,13 0,22 0,11 0,43 0,21 0,19 0,23 0,16 0,12 0,09 0,02 Landsfrau 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,03 0,17 0,51 2,80 0,18 0% 20% 40% 60% 80% 100% Abb. 6-3: Relative Häufigkeit der Lexeme Landsmännin und Landsfrau (n-= 1.258), in der Tabelle normalisierte Frequenz pro Mio Tokens 1 6.2 Wortbildung 155 <?page no="157"?> 2 Dass -leute sich für die geschlechtsinklusive Verwendung eignen würde, zeigt das Beispiel Eheleute (*Ehemänner) als Plural zu Ehefrau und Ehemann. Manche lexikalisierten Bezeichnungen auf -mann wie Zimmermann, Hampelmann haben kein Korrelat auf -frau, evt. da sich eine andere Lesart einstellen könnte (‚Zimmermädchen‘). Lexikalisierung scheint auch bei den folgenden mann-Bildungen solche mit -frau zu blockieren bzw. zu behindern: Strahlemann, Saubermann, Stroh‐ mann, Biedermann, Wassermann, Blödmann. Umgekehrt gibt es nur wenige exklusive frau-Bildungen wie Putz-, Zugeh-, Markt-, Klo- und Karrierefrau (bzw. -weib). Ein Problem der Komposita auf -frau besteht darin, dass viele mit älteren sog. matrimonialen Bildungen wie Professorenfrau, Pfarrersfrau, Direktorenfrau konkur‐ rieren, die nicht die Berufsausübung, sondern die Gattin von X bezeichnen (im 19. und 20. Jh. häufig). Heute verschwindet dieser Typus. Eine Bauersfrau übt die Tätigkeit selbst aus (funktionale Bildung), anders bei (rückläufigem) Arztfrau. Die funktionalen Bildungen mit -frau / -mann haben die Möglichkeit, einen geschlechtsneutralen Plural auf -leute zu bilden: Fach-, Feuerwehr-, Kaufleute. Wie man merkt, klingen sie teilweise ungewohnt. Bislang nicht untersucht ist, inwiefern der Plural auf X-leute tatsächlich gebildet wird oder man nicht doch auf den (alten) Typ X-männer zurückgreift. Diese Frage lässt sich korpuslinguistisch gut untersuchen, auch diachron. Im Singular käme geschlechtsübergreifend die Bildung mit -person infrage, die sich jedoch kaum zu etablieren scheint. 2 Daneben gibt es einen weiteren Kompositionstyp, den auf -herr, z. B. Schirmherr, Bau-, Dienst-, Domherr. Zwar ist das stilistische Korrelat zum Herrn die Dame, doch haftet ihr bis heute eine oberschichtige Semantik an, die sie eher als gepflegte Begleiterin eines Herrn ausweist (s. Trömel-Plötz 1982, 92 f.). Damen sind typischer‐ weise nicht berufstätig und nicht besonders agentiv (mehr in Kap. 8). Dies scheint die Substitution von -herr durch -dame zu be- oder verhindern, zumindest setzen sich eher die Movierungen Schirm-, Bau-, Dienst-, Domherrin durch (alle Funktionen bezeichnen nicht-manuelle Tätigkeiten). Gelegentlich kommt es zu Schirmfrau (Samel 2000, 118-122). Ein Dienst- und ein Bauherr können auch eine juristische Person darstellen (z. B. eine Stadt), was eine Movierung obsolet macht (s. den letzten Absatz in Kap. 6.2.2.1). Auch als Erstglied von Komposita bestätigt sich die unterschiedliche Semantik von Dame und Frau versus Herr und Mann: Sportarten, die - zumindest früher - oberschichtig waren und deren Ausübung teuer war bzw. ist, werden üblicherweise mit Damenbzw. Herrengebildet, ebenso Räumlichkeiten, die geschlechtssegregiert waren bzw. sind: Damen- / Herrentennis, -golf, -abfahrtslauf, Damen- / Herrenabteilung, -toilet‐ ten. Beim Fußball, bei Kampf- und bei Hochleistungssportarten treten eher Frauen- und Männerins Erstglied: Frauen- / Männerfußball, -leichtathletik, -schwimmen, -boxen. Dass das Kompositum Frauenfußball deutlich häufiger vorkommt als Männerfußball (s. Abb. 6-4) darf man nicht als höhere Präsenz oder Relevanz des Frauenfußballs missver‐ stehen, sondern als das Gegenteil: Der Fußballsport ist so männlich genderisiert, dass 156 6 Morphologie <?page no="158"?> 3 Bis in die 1970er Jahre wurde er als Damenfußball belächelt; als Anschauung sei der Youtube-Film „Decken! Decken! Nicht Tisch decken! “ empfohlen, wo Wim Thölke im Sportstudio im Jahr 1970 ein Spiel der Frauennationalmannschaft kommentiert und die Spielerinnen wahlweise als Dame(n), Fräulein oder Mutter bezeichnet. https: / / www.youtube.com/ watch? v=PtixlJKtaxc (Aufruf am 08.05.2024). männlicher Fußball als Norm es erübrigt, ihn durch Männerzu spezifizieren: Es gibt Fußball und Frauenfußball. 3 In dem Moment, wo Frauenfußball ein Thema wird (gemäß Abb. 6-4 zu Ende des letzten Jahrtausends), nimmt langsam auch die Frequenz von Männerfußball zu. Solche Effekte gilt es zu bedenken, wenn man Verläufe zu historisch weiter zurückliegenden sprachlichen Ausdrücken oder Mustern interpretieren will: Das ‚Normale‘ bleibt unversprachlicht, es ist nicht der Rede wert. Abb. 6-4: Gebrauchsfrequenz der Lexeme Frauenfußball und Männerfußball pro Million Tokens (bis 2019: DWDS Referenz- und Zeitungskorpora, ab 2020: ZDL-Regionalkorpus, n=5.103). 0,0 1,0 2,0 3,0 4,0 5,0 1970 1980 1990 2000 2010 2020 pro Mio Tokens Frauenfußball Männerfußball Abb. 6-4: Gebrauchsfrequenz der Lexeme Frauenfußball und Männerfußball pro Mio Tokens (n = 5.103) Historisch lassen sich noch ganz andere Komposita entdecken: In einem Korpus, das seit 1864 erschienene Jahrbücher und Zeitschriften des Schweizer Alpenclubs enthält, finden sich Damen-, Weiber- und Herrenberge, Damen- und Herrengletscher etc. Welches die anspruchsloseren Besteigungsziele sind, bedarf kaum der Erörterung. Wurden Herren-Ziele auch von Damen bezwungen, waren sie entweiht und gingen sie ihres Erstglieds verlustig. Dieses bizarre Kapitel harrt noch seiner genaueren Untersuchung. 6.2.2 Derivation Bei der Derivation gilt es drei Verfahren zu unterscheiden, die Geschlecht ausdrücken: Femininmovierung (6.2.2.1), Maskulinmovierung (6.2.2.2) und Diminution (6.2.2.4). Zur Sprache kommen in 6.2.2.3 auch neuere geschlechtsneutraliserende Verfahren. 6.2 Wortbildung 157 <?page no="159"?> 6.2.2.1 Femininmovierung (Motion) Die wichtigste, häufigste und produktivste Geschlechtsspezifikation erfolgt durch das Femininmovierungssuffix -in (Kundin, Schirmherrin, Fahrerin, Hündin), das maskuli‐ nen Personen- und manchen Tierbezeichnungen das Merkmal ‚weiblich‘ hinzufügt und sie in Feminina überführt. Historisch hat sich -in als das produktivste, unbe‐ schränkteste Movierungsverfahren entwickelt und Konkurrenten verdrängt (Stephan 2009, 364-369). Umgekehrt befinden sich echte Maskulinmovierungen im einstelligen Bereich (s. 6.2.2.2). Hier zeigt sich eine fundamentale sprachlich-gesellschaftliche Asymmetrie und Hierarchie, die Männer lexikalisch etikettiert (Koch) und Frauen daraus morphologisch ableitet (Köchin). Mit Pusch (1984, 59): „Das hochproduktive Suffix -in konserviert im Sprachsystem die jahrtausendealte Abhängigkeit der Frau vom Mann […]“. Männerbezeichnungen sind unmarkiert, Movierungen markiert und bezeichnen die Ausnahme: „Hier reflektiert die Sprache einen gesellschaftlichen Sachverhalt, bzw. eine kulturelle Konvention, derzufolge Frauen in Beziehung zu und in Abhängigkeit von Männern gesehen werden, aber nie Männer in Abhängigkeit von Frauen […]“ (Doleschal 1992, 27). Diese weibliche Abhängig- und Nachrangigkeit durchzieht das gesamte Sprachsystem: Das Deutsche hat nicht nur eine Obsession mit Geschlecht, es hat sie auch mit der Ungleichgewichtung der beiden großen Geschlechtsklassen. Movierungssuffixe dürfen als sprachliche Genitalien bzw. tertiäre Geschlechtsmerkmale begriffen werden (s. zu movierten Vornamen Kap. 9.1). Damit hat bzw. ist und zeigt die Frau das Geschlecht. Das war im (frühen) Ahd. noch anders, als die genusspezifischen Flexionssuf‐ fixe -a (f.) und -o (m.) der schwachen Deklination von Bezeichnungen für Personen noch symmetrisch auf deren Geschlecht verwiesen: ana ‚Großmutter‘-- ano ‚Großva‐ ter‘ (ebenso hērra ‚Herrin‘ - hērro ‚Herr‘, forasaga ‚Prophetin‘ - forasago ‚Prophet‘ etc.; s. Rabofski 1990; Löffler 1992). Im Zuge der mhd. Nebensilbenabschwächung wurden ana und ano zu ane eingeebnet und damit auch die Geschlechtsunterscheidung. Als Ersatz wurden die französisch beeinflussten Lehnübersetzungen Großmutter und Großvater gebildet. Daneben existiert mit der Ahn(e) - die Ahnin das Nachfolgeverfah‐ ren einseitig-weiblicher Movierung auf Basis der maskulinen Bezeichnung. Das Femininsuffix geht auf germ. *-injō zurück und hat sich (im Nom.Sg.) zu ahd. -in entwickelt (in den anderen Kasusformen lautete es -inna). Bereits im Ahd. sind Bildungen wie fiantin ‚Feindin‘, friuntin ‚Freundin‘, kuningin ‚Königin‘, forasagin ‚Prophetin‘, frenkin ‚Fränkin‘ belegt, auch affin ‚Äffin‘, hanin / hen(n)in ‚Henne‘, birin ‚Bärin‘ und wisentin ‚weibliches Wisent‘. Während der Nebensilbenabschwächung (unbetonte Vokale wurden zu [ǝ] reduziert, ebenso -in > -en) findet ein sog. Suffixer‐ satz (Verstärkung) statt, d. h. das offensichtlich für diese wichtige Funktion zu schwach gewordene Suffix -en [ǝn] wurde nach und nach durch die längere oblique Endung -inna desselben Paradigmas ersetzt (möglicherweise kamen die Referentinnen dieser movierten Formen nur selten als Agens und damit im Nominativ vor, weshalb die patientive Objektform generalisiert wurde). Es entwickelt sich im Mhd. und Frühnhd. zu -inne bzw. -in, heute gilt ausschließlich -in: ahd. kuninginna > mhd. kuninginne > 158 6 Morphologie <?page no="160"?> 4 Diese Verstärkung ist in Dialekten wie dem Alemannischen ausgeblieben, wo - mit alemannischem n-Schwund - der alte Nominativ auf -i bzw. auch -e bis heute fortgesetzt wird: Puur - Püüri ‚Bauer - Bäuerin‘, Choch - Chöchi ‚Koch - Köchin‘ etc. Auch weibliche (dialektale) Familiennamen wie die Müllern, die Schulzen enthalten reduziertes altes -in (s. Schmuck 2017). nhd. Königin (Wilmanns 1899, 310 ff.; Paul 1920, Bd. V, 53; Klein et al. 2009, 97 ff.). 4 Daher kommt es im Ahd. zu Dubletten vom Typ weberin - weberinna, beide ‚Weberin‘. Die in-Suffixe lauten das Basislexem um (Ärztin, Bäuerin, Köchin, Hündin), selbst bei Päpstin oder Rättin wird noch Umlaut appliziert - mit Ausnahmen: Botin, Kundin, Gattin, Gemahlin, Sklavin (synchron oder diachron komplexe Basen, Fremdwörter bzw. nicht-initialbetonte Basen blockieren ihn). Fast immer basieren Movierungen auf männlichen Personenbezeichnungen; bei Bedarf kommen sie auch ohne aus: Wöchnerin, Hortnerin, Lesbin, Eizellenspenderin, Kindergärtnerin etc. (Kindergärtner ist eine spätere Rückbildung). Auch Feministin kommt faktisch fast nur moviert vor, weshalb Feminist eher theoretisch als Basis fungiert. Diese ansonsten einseitige Ablei‐ tungsrichtung ist Anlass für Sprachkritik, da die Movierung den dahinterstehenden Androzentrismus (re)produziert. Begleitet wird dies von der ebenfalls einseitigen und häufigen Ableitung weiblicher Rufnamen aus männlichen (Paul → Paula). Movierung macht die weibliche Form länger und wird oft für umständlich und verzichtbar gehalten. Insgesamt nehmen die Femininmovierungen seit dem Ahd. stark zu. Nur ge‐ schlechtsinhärente Lexeme (wie Mutter / Vater, Stute / Hengst) verhindern sie (sog. Synonymenblockierung). Dabei gelten wichtige semantische Differenzierungen: Wäh‐ rend wir heute fast nur noch die funktionale Movierung kennen, bei der die Frau selbst die Handlung des genannten Basiskonzepts ausübt (Pfarrerin, Schneiderin, Direktorin), kam früher auch die sog. matrimoniale Movierung vor, die die Ehefrau eines entsprechend Berufstätigen bezeichnete. Bauer (1827) bedauert diese im 19. Jh. noch vorhandene Ambiguität, wenn er schreibt: Hierdurch wird freilich eine hässliche Unbestimmtheit veranlasst […]. Diese Unbestimmtheit nun, nach welcher man durchaus nicht wissen kann, ob das Wort Schneiderinn in einem einzelnen Fall die (vielleicht nicht schneidernde) Gattin eines Schneiders, oder eine selbst schneidernde (vielleicht unverheirathete) weibliche Person anzeigen soll, wird wohl nie aus der Sprache weggeschafft werden können. (Bauer 1827, 370 f.) Heute wissen wir, dass sie weggeschafft wurde, genauer, dass gesellschaftlicher Wan‐ del in Gestalt zunehmender weiblicher Berufstätigkeit bei gleichzeitig abnehmender weiblicher Relationalität zum Mann Sprachwandel bewirkt hat. Allerdings scheint diese „Unbestimmtheit“ nicht für (akademische) Berufe der Oberschicht zu gelten, von denen Frauen weitestgehend ausgeschlossen waren. So schreibt Bauer (1827), der Arzt zu den Epikoina fasst: „der Arzt, (mein weiblicher Arzt wollte es so; eine Ärztinn ist die Frau eines Arztes)“ (373). Die zunehmende Kritik an der matrimonialen (dialektal noch vorkommenden) Movierung hat ihren Abbau beschleunigt. Auch die früher häufige Movierung von Familiennamen (die Müllerin, die Gottschedin) diente 6.2 Wortbildung 159 <?page no="161"?> 5 Das Duden-Wörterbuch führt auch die movierte Form Gästin auf (Vermerk: „selten“), da sie immer häufiger gebildet wird (ähnlich Vorständin, Aufsichtsrätin). matrimonialer Anzeige, oder patronymischer, da solche Namen auch die Tochter eines Vaters bezeichnen konnten. Matrimoniale und patronymische Movierung kann man als relationale Movierung fassen und sie der funktionalen gegenüberstellen (zu Details s. Stephan 2009). Erstere ist heute obsolet und wird bei Bedarf mit Komposita auf -frau (oder -gattin) gebildet (Pfarrersfrau, Professorengattin); Kap. 9.2 greift die movierten Familiennamen nochmals auf. Zusammenfassend spiegelt die Entwicklung relationale > funktionale Movierung einen Zuwachs an weiblicher Agentivität wider: Bezeichnete -in früher neben ‚weiblich‘ primär ‚Zugehörigkeit zu einem Volksstamm, einer Gruppe, einem Mann‘, Typ Fränkin, Französin, Schwägerin, Gottschedin, so etabliert sich nach und nach das Agens-Konzept ‚Ausführende der genannten Handlung / Position‘ (Schneiderin, Direktorin). Sprachgeschichtlich sind heute unübliche, doch oft geforderte und bewusst gebildete Formen wie Gästin 5 oder Mitglied(er)in im Mittel- und v. a. Frühnhd. bis ins 19. Jh. durchaus belegt und in ihrer Bildung unbeschränkter als heute. Schottel (1663, 355 f.) führt u. a. Beklagtinn, Teutschinn, Unholdinn, Waisinn auf (s. auch Möller 2017, der auf Basis von Hexenverhörprotokollen weitere erwähnt wie gefangenin, verhafftin, ja sogar solche mit semantisch weiblichem Geschlecht wie Wittibin ‚Witwe‘, dochtterinne ‚Tochter‘, hexin). Stieler (1691) betont die überaus hohe Produktivität, die später wieder abzuflauen scheint. Blatz (1900, Bd. 1) stellt fest: „Neubildungen sind versucht worden, z. B. Bekanntin, Verwandtin, Beamtin, Gelehrtin, Deutschin, auch Lieblingin, Zöglingin, Beklagtin, Studentin, sind aber bis jetzt nicht allgemein angenommen“ (659). Damit war -in noch bis ins 19. Jh. hinein produktiv, wenig beschränkt und der Bedarf an solchen Bildungen hoch. Manche Movierungen gingen unter, vor allem solche von deadjekti‐ vischen bzw. deverbalen Bildungen wie Deutsche, Bekannte, Verwandte, Gelehrte, die die Geschlechtsspezifizierung flexivisch leisten (Kap. 6.3), ebenso die von morphologisch komplexen Basen wie Liebling, Zögling. Doch lassen sich Nomen-agentis-Bildungen auf -er gut movieren, sie machen den Großteil der in-Movierungen aus (Fahrer → Fahrerin). Andere bei Blatz (1900) genannte Derivate wie Beamtin (< einstiges Partizip) oder Studentin wurden vollkommen geläufig. Die Inputbeschränkungen waren im 17.-19. Jh. offensichtlich geringer als heute (Doleschal 1992, 36 ff.). Gegen solche unbeschränkte in-Bildungen sperrten sich jedoch viele Grammati‐ ker und Sprachkritiker des 19. und 20. Jhs. Dass sie es tun, belegt, dass diese Bildungen vorkamen. So entscheidet Andresen (1923): Da die Partizipialsubst. weibliche Bildung nicht gestatten, so sind Abgesandtin, Bekanntin, Beklagtin, Verwandtin […] verwerfliche Bildungen. […] Von andern Subst. gebildete Formen auf -in gehören großenteils einzelnen Schriftstellern an, wie Fremdlingin (Schiller, Voß, Platen), Lieblingin (Lessing, Voß), Geistin (Lessing, Immermann), Engelin (Goethe), Kamerädin (ders.), Heilige und Heiliginnen ( J. Grimm), der Geschmacklosigkeit andrer, die sich in minder hervorragenden Schriften finden, zu schweigen. (72) 160 6 Morphologie <?page no="162"?> 6 www.sprachlog.de/ 2015/ 12/ 17/ fluechtlinginnen-und-fluechtlinge/ (Aufruf am 08.05.2024). Ganz anders sieht dies Engel (1922), dessen Position ausführlicher zitiert sei, da die Einstellungen, die er vor mehr als 100 Jahren kritisiert, heute noch verbreitet sind, auch unter manchen LinguistInnen: Alle Welt leitet von der Beamte ab: die Beamtin. Der Büttel kommt daher und verkündet im angemaßten Namen der Sprache: ‚Von Partizipialsubstantiven - und ein solches ist auch der Beamte, d. h. der Beamtete - können keine Feminina auf in gebildet werden; niemand sagt: meine Beamtin, meine Geliebtin.‘ Also sie können nicht gebildet werden; - wie aber, wenn sie dennoch von einem Millionenvolk gebildet werden? Dann muß das ganze Volk Unrecht haben, damit der eine Sprachgewaltige Recht behalte. Hier haben wir ein Musterbeispiel grundverkehrter Beurteilung des Innenlebens der Sprache: als ob sie sich gewissenhaft wie ein Musterschüler vorhielte, hier ist ein Partizipialsubstantiv […], das sei dir heilig, also um Gottes willen keine weibliche Eigenform! Auch dann nicht, wenn ein zwingendes allgemeines Bedürfnis vorliegt, der Million weiblicher Beamten eine scharf unterscheidende Wortform zu geben? Auch nicht, wenn andre weibliche Berufe: Lehrerin, Gehilfin, Ärztin, Arbeiterin die Nebeneinanderstellung von der Beamte, die Beamtin als die natürlichste ergeben? Auch dann nicht, denn - obenan steht meine Regel von den Partizipialsubstantiven; das Sprachbedürfnis eines Volkes geht mich nichts an. Das Bedürfnis im Bunde mit dem richtigen Sprachgefühl sind über solche Besserwisserei längst hinweggegangen: die Beamtin ist heute das selbstverständliche Wort-[…]. (95 f.) Auch für Gastin spricht sich Engel (1922) aus und für die damals ebenso umstrittene Kundin: „So wurde auch die Kundin bemängelt; der Kaufmann solle nicht sagen: eine gute Kundin von mir“ (97). Auch plädiert er für Fremdlingin und Flüchtlingin (ebd., 97). Dies führt direkt in die heutige Zeit und in die Diskussion, wie man weibliche Flüchtlinge in einem Wort bezeichnen könnte. Die historischen Belege für Flüchtlingin, Neulingin, Täuflingin etc. sind bekannt (Haß-Zumkehr 2003; Fleischer / Barz 2012, 237). Flüchtling ist eher männlich genderisiert und leistet nicht, wie Becker (2008) vermutet, wegen des Fehlens einer Formulierungsalternative (Movierung) die geschlechtsübergreifende Re‐ ferenz. Wahrscheinlich enthält jede maskuline Personenbezeichnung einen MAN-Bias (male as norm), auch, wie Stefanowitsch (2015) zu bedenken gibt, die pluralisierte Ersatzform die Geflüchteten, bedingt durch die allgemeine „kognitive[n] Verzerrung, die uns immer dann, wenn von Menschen die Rede ist, davon ausgehen lässt, dass Männer gemeint sind, solange nicht explizit das Gegenteil kommuniziert wird“. 6 Damit vertritt er die konträre Position zu Becker (2008). Prädikativ (und damit nicht-referenziell) sind jedoch Maskulina auf -ling mit femininen und weiblichen Subjekten kompatibel: sie ist ein guter Prüfling, ein Lehr‐ ling, ein Sonderling, Kap. 5. 1. 11). Manche schlagen zu Flüchtling das Kompositum Flüchtlingsfrau vor, was eher die matrimoniale Lesart ‚Frau eines Flüchtlings‘ aufruft. Am eindeutigsten (und längsten) ist die analytische Bildung weiblicher Flüchtling - 6.2 Wortbildung 161 <?page no="163"?> wenn man nicht den Mut zu Flüchtlingin hat oder ganz ausweicht auf die Vertriebene, Geflüchtete o. Ä. Zurück zur Geschichte der Movierung (dazu s. auch Kopf 2024): Ende des 19. Jhs. schreibt der Sprachkritiker Wustmann (1891 / 1903): „Von Arzt hat man in letzter Zeit Ärztin gebildet. Manche getrauten sich das anfangs nicht zu sagen und sprachen von weiblichen Ärzten“ (66). Man sieht, mit welchem Befremden junge Wortbildungen aufgenommen werden und dass das analytische Verfahren der Attribution immer den Anfang bzw. Ausweg bildet. Noch 1965 schreibt Henzen: [H]eute kann man auf Buchtiteln lesen Studienrat und Studienrätin-[…]. Hier und in allen Fällen wie Spezialärztin, Direktorin, Referendarin, Verwalterin, Vertreterin stünde einem folgerichtigen Verfahren nichts im Wege, sofern nur das zartere Geschlecht es selbst wünschte. (116) Solche Formulierungen lassen das damalige Gefälle zwischen den Geschlechtern erahnen. Henzen insinuiert, es seien die Frauen, die sich gegen ihre Versprachlichung stellen. Gegenwärtig bildet die Movierung eines der produktivsten Wortbildungsmus‐ ter überhaupt, was auch als Erfolg feministischer Sprachkritik seit den 1970er Jahren zu werten ist (Wittemöller 1988; eine korpusbasierte Dokumentation und morphologische Analyse dieses Wandels steht noch aus). Damals wurde vor allem gefordert, Berufs‐ bezeichnungen zu movieren. Dies hat zu einem generellen Produktivitätszuwachs geführt, der Fremdwörter wie Headhunterin, Managerin, ja sogar Coachin weitgehend einschließt - wie umfassend und durch welche Faktoren dies (noch) beschränkt, hat Kopf (2022a) untersucht, die ein Produktionsexperiment mit Anglizismen auf -er als Prädikativum (Typ: Sie ist X) durchgeführt hat. Als movierungsförderliche Faktoren erwiesen sich hohe Frequenz (eher Trainerin als Influencerin), Kürze (eher Trainerin als Fitnesstrainerin) und bei Komposita native vs. fremde Erstglieder (eher Reiseals Tra‐ velbloggerin). An den historisch und faktisch belegten Movierungen erkennt man, dass Wortbildung immer zur Verfügung steht, wenn entsprechender Benennungsbedarf be‐ steht. Dabei werden Hürden (Inputbeschränkungen) relativ schnell überwunden. Zum Beispiel lassen sich einstige Kollektiva wie Rat (s. Ältesten-, Gemeinderat) oder Vorstand auf Einzelpersonen beziehen (Studienrat) und dann movieren (Rätin, Vorständin). Dies gilt auch für Partizipien, für die eigentlich (flexivisches) Differentialgenus gilt: die / der Beklagte, Verwandte, Bekannte (früher: Beamte), die - wie oben gezeigt - früher moviert werden konnten (die Beklagtin). Die Plansprache Esperanto hat zwar Genus über Bord geworfen (außer bei den Pronomina zur Geschlechtsspezifikation), doch enthält es als sexistisches Mit‐ bringsel aus dem Deutschen das Movierungssuffix -in-, nur um auf Basis (offiziell geschlechtsübergreifend, doch) offensichtlich männlich zu lesender Personenbe‐ zeichnungen (die übrigens wie alle Substantive auf -o enden) Frauenbezeichnungen ableiten zu können: patro ‚Vater‘ - patrino ‚Mutter‘, knabo ‚Junge‘ - knabino ‚Mäd‐ 162 6 Morphologie <?page no="164"?> 7 Auch Freund und Freundin trennt mehr als Geschlecht: Da oft im Sinn von ‚Geschlechtspartner‘ verwendet, ist es von Belang, ob sie oder er viele Freundinnen bzw. Freunde hat. chen‘, koko ‚Hahn‘ - kokino ‚Henne‘, pianisto - pianistino etc. Lexeme für Frauen, z. B. lat. mater, wurden bei dieser Gelegenheit beseitigt (*matro - *matrino) - ab‐ gesehen von (bezeichnenderweise) damo, fraulino, matrono, amazono, nimfo, furio et al. (s. Fiedler 2015, 102). Ist Geschlecht irrelevant, möge die nichtmovierte Form gelten. Dieser krude Androzentrismus, der denjenigen natürlicher Sprachen weit überflügelt, wurde kritisiert, was u. a. zu dem Vorschlag geführt hat, das mask. Movierungssuffix -ireinzuführen und / oder das explizit geschlechtsneutralisie‐ rende Präfix ge-. Auch wird nach einem neutralen Pronomen gesucht. Dieses fas‐ zinierende Thema - was passiert mit Geschlecht, wenn man(n) neue Sprachen bastelt? - wurde genderlinguistisch noch wenig gewürdigt (s. aber Fiedler 2015). Wortbildungsprodukte können lexikalisieren, d. h. sich mit Zusatzbedeutungen anreichern, die sich nicht (mehr) kompositional aus den Bedeutungen ihrer Bestand‐ teile ergeben. So kam es immer wieder dazu, dass männliche Bezeichnungen und ihre Movierungen nicht nur einen Geschlechtsklassen-, sondern auch einen Status‐ klassenunterschied bezeichneten. So verricht(et)en Sekretärin und Sekretär unter‐ schiedliche bzw. unterschiedlich angesehene und bezahlte Arbeiten. Architektinnen berichteten, man halte sie oft für Innenarchitektinnen (Schoenthal 1998, 11; Pusch 1985, 268 ff.; Pusch 1990, 49 ff., zu Autorin im 18. Jh. s. Kazzazi 1994). 7 Deshalb ziehen bzw. zogen manche Frauen die statushöheren maskulinen Bezeichnungen vor. Mittlerweile ist die Movierung so frequent und reihenbildend, außerdem die Präsenz und Akzeptanz von Frauen in den meisten Berufen so hoch, dass sich solche Degradierungen - evt. außer bei Sekretärin - zurückbilden (wie bereits bei Staatssekretärin der Fall). Anders verhält es sich mit dem französischen Suffix -euse (Friseuse, Masseuse, degradierend Regisseuse [Pusch 2011, 61]), das in offiziellen Berufsbezeichnungen durch -in ersetzt wird (Frisörin, Masseurin, Regisseurin). Vermutlich hat die Pejorisierung von Masseuse zu ‚Prostituierte‘ das Suffix -euse selbst affiziert. Auch hier erweist sich -in als wertungsfrei. In manchen Sprachen können Movierungen (die meist produktivitätsbeschränkt sind) zu Pejorisierungen führen. So im Schwedischen, z. B. bei författarinna ‚Schriftstellerin‘, der man diese Tätigkeit als Hobby unterstellt (ernstzunehmende nennen sich författare ‚Schriftsteller‘). Dies betrifft viele Berufsbezeichnungen. Bei sjuksköterska ‚Krankenpflegerin, Krankenschwester‘, nicht pejorativ, wurde jedoch die Movierung umgekehrt auf Krankenpfleger übertragen, die sich auch Syster Nils ‚Schwester Nils‘ nennen (Nübling 2000). Obwohl die schwedische Sprachbehörde lange von Movierungen abriet (mit ähnlichen Argumenten wie in der DDR, s. u.), 6.2 Wortbildung 163 <?page no="165"?> nehmen seit der Jahrtausendwende movierte Berufsbezeichnungen zu, v. a. solche auf -(er)ska (bloggerska ‚Bloggerin‘), während sich das Allomorph -inna auf tem‐ poräre (Neben-)Rollen zurückzieht (Språktidningen 7 / 2017, 37-44; Jobin 2004). Movierungen mit -in drücken neben der weiblichen Geschlechtsklasse Anthropo‐ zentrismus aus, d. h. sie eignen primär Menschen und menschenähnlichen bzw. für den Menschen wichtige Tiere mit ausgeprägtem Geschlechtsdimorphismus (sowie auch künstlichen Sprachassistentinnen wie Alexa, zu solchen Anthropomorphisierungen s. Lind 2022). Grundsätzlich besteht folgendes Spektrum an Sexusspezifikationen: 1. Elefant / Elefantin 1. Elefantenbulle / Elefantenkuh 2. Elefantenmännchen / Elefantenweibchen, auch -dame 3. männlicher / weiblicher Elefant Doch tun sich mit Blick auf die gesamte Belebtheitsskala (vom Affen bis zur Assel) große Unterschiede bzgl. der faktischen Geschlechtsspezifikation auf: Späth (2024) gelangt korpusbasiert zu dem Ergebnis, dass großen Säugern und Nutztieren eher eigene Lexeme (Kuh / Bulle) oder die in-Movierung zukommen, während der Typ X-weibchen (Krötenweibchen) und noch mehr weibliches X (weibliche Qualle) gering belebten Tieren eignet. Historisch scheint sich die movierende Geschlechtsspezifika‐ tion auf die hochbelebten Säuger zurückzuziehen. Zu den Basis(input)eigenschaften der Movierung gehört neben hoher Belebtheit auch Individuiertheit. Sonst wäre nicht erklärbar, weshalb wir zwar zu Hund die Hündin bilden, aber weniger zu Seehund die ? Seehündin, sondern Seehundweibchen − es sei denn, es handelt sich um individualisierte, benannte, somit anthropomorphisierte Exemplare etwa in Zoos: Hier kommt es (mit Seehündin als Apposition) zu Seehündin Dorle, Seehündin Evi, ja sogar zu Patenseehündin Zola. Komposita auf -männchen / -weibchen sind (ähnlich wie die Attribution mit weiblich / männlich) am unbeschränktesten. Die derzeit bestehenden Grenzen der in-Movierung (Hündin, Wölfin, Füchsin, Äffin, Löwin, ? Tigerin, ? Störchin, ? Elefantin, *Walin, *Fröschin) ist belebtheitsgesteuert: Menschenähnliche Großsäuger werden häufig moviert, nur vereinzelt Spätzin, Falterin, Hamsterin, Lurchin usw., es sei denn, diese werden durch entsprechende Kontexte stark humanisiert, z. B. durch Namenge‐ bung („Delphinin Fritzi“), Anthropomorphisierung und Empathisierung („jetzt reicht’s der Käferin“, „Krakin der Herzen“) etc. (Späth 2024 a und b). Plank (1981, 96-101) sieht tierliche Mutterschaft als Hauptmovens von Movierungen. Im Luxemburgischen ist das normale Wort für Tierweibchen Modder, wörtl. ‚Mutter‘. Pusch (2011, 93 f.) macht die interessante Beobachtung, dass auch das Neutrum Kalb movierbar ist: Eine Kalbin ist ein mehr als einjähriges Kalb, das noch nicht gekalbt hat. Hier stellt sich die Frage, inwieweit Movierung an die Geschlechtsreife oder gar Fortpflanzung gekoppelt ist. In Kap. 5. 1. 11 wurde bereits die Akzeptanz unmovierter Prädikatsnomina mit weiblichem Subjekt (sie ist Slawist / Slawistin) thematisiert mit Bezug auf die Studie von 164 6 Morphologie <?page no="166"?> 8 Schröter et al. (2012) vergleichen diesbezüglich Deutschland und die Schweiz und ermitteln leichte Unterschiede bei der Akzeptanz maskuliner Prädikatsnomina mit Bezug auf Frauen, v. a. aber zwischen älteren und jüngeren Personen. Für die Tatsache, dass Jüngere eher zum prädikativen GM greifen als Ältere, erwägen die AutorInnen ein undoing gender. 9 Pusch (1984) kritisierte schon früh bei Pässen den Einheitseintrag „Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher“. Später stand in den Pässen von Frauen „Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche“, heute steht generell „Staatsangehörigkeit: Deutsch“. So einfach und platzsparend geht undoing gender. Elegantes undoing gender betrieb 2022 auch ein Wissenschaftsverlag, der Fachzeitschriften wie Der Chirurg, Der Diabetologe etc. systematisch umbenannte in Die Chirurgie, Die Diabetologie. Der Verlag begründet dies wie folgt: „Viele Medizinerinnen fühlen sich heute von männlichen Berufsbezeichnungen nicht mehr angesprochen oder sogar diskriminiert.“ (www.springermedizin.d e/ titelupdate, Aufruf am 08.05.2024; Feilke 2023, 2). Schröter et al. (2012). 8 Dabei handelte es sich um Berufsbezeichnungen wie Manager/ in, Berater/ in, Mechaniker/ in, Angestellte/ r, auch Student/ in, Ausnahme: Konsument/ in. Je mehr Männer diese Berufe ausüben, desto eher scheint die unmovierte maskuline Form bei weiblichem Subjekt akzeptabel bzw. je mehr Frauen in diesem Beruf, desto eher wird moviert (d. h. eher ich [weibl.] bin Manager als ich [weibl.] bin Student). Bei dem hohen Wert von 86 % für Studentin gegenüber 14 % für Student erwägen die AutorInnen Folgendes: Andererseits kann in Anbetracht der Alters- und Ausbildungsstruktur der Versuchspersonen aber auch vermutet werden, dass der ausschlaggebende Unterschied zwischen den drei Personenbezeichnungen [Student/ in, Unternehmensberater/ in, Physiker/ in --DN] in der Rela‐ tion der Teilnehmenden zu den Bezeichnungen, in der persönlichen Bedeutsamkeit für sie liegt: Die Befragten […] sind in vielen Fällen tatsächlich selbst Studierende. Sie dürften die entsprechende Personenbezeichnung in ihrem Lebensalltag entsprechend häufig nutzen und sich im Durchschnitt weit mehr mit dieser Personenbezeichnung als mit den beiden anderen identifizieren. (372) Neben dem Genderisierungsgrad von Lexemen kommt hier ein Faktor ins Spiel, den man als Hauptrolle vs. Neben- oder Gelegenheitsrolle bezeichnen kann, nämlich welchen Stellenwert diese Tätigkeit oder Zugehörigkeit für die (Identität der) Person einnimmt. Eine Hypothese wäre: Je identitätsstiftender und alltagsbes‐ timmender, desto wahrscheinlicher die Movierung. Hätten die AutorInnen auch Nationalitätsbezeichnungen getestet, wären sie auf deutlich höhere Movierungs‐ raten gestoßen. Neue korpuslinguistische Studien zeigen nämlich, dass Sätze wie *sie ist Franzose / Russe / Engländer in Korpora zu 99-100 % nicht nachweisbar sind (Nübling / Rosar i. E.). 9 Nationalität ist eine sog. Masterdifferenz, eine Unterscheidung von ähnlich hoher Relevanz wie Geschlecht. Auch bei Ethnizität und Herkunft wird moviert (also nicht: *sie ist Schwabe / Bayer / Hamburger), ebenso bei Religionszuge‐ hörigkeit (*sie ist Jude / Protestant / Heide) und, wie die Daten zeigen, Berufstätigkeit per se (*sie ist Lehrer / Koch / Arzt). Temporäre und / oder persönlich belanglosere Eigenschaften bzw. Tätigkeiten mindern eine Movierung, doch überraschenderweise nur leicht, denn zu deutlich über 90 % wird auch hier moviert (selten: sie ist (ein) Linkshänder, Raucher, Kämpfer, Allergiker, Autist, Teilnehmer, Anfänger). Generell 6.2 Wortbildung 165 <?page no="167"?> 10 Referenzialität erklärt auch den in Gorny (1995, 523) zitierten und dort als willkürlich empfundenen Fall, dass die Duden-Redaktion 1991 empfahl, „Unsere Tochter lernt Auto-Mechaniker“ zu verwen‐ den, aber „Die Werkstatt leitet eine Auto-Mechanikerin“. zeigt sich, dass männlich genderisierte Eigenschaften (Kämpfer, Mörder, Kamerad) und Berufe (Offizier, Soldat) die geringsten Movierungsraten aufweisen (Nübling / Ro‐ sar i. E. wählen das nähesprachlichere Internetkorpus DECOW 16B, um lektorierte Schriftsprache zu vermeiden). Auch feste Wendungen und Metaphern movieren kaum (sie ist ein Angsthase / kein Freund von Zwiebeln). Mit kein / e negierte Prädikativa movieren weniger (im Schnitt 90 % Movierung) als assertierte (zu ca. 98 % Movierung). Interessanterweise hat die Komplexität des Prädikatsnomens kaum Einfluss auf seine Movierung (sie ist Lehrerin moviert gleich häufig wie Berufsschullehrerin). Blanke Prädikativa sind nichtreferenziell, weshalb geringe Movierung gerade hier hochgradig erwartbar wäre, fungierte das Maskulinum wirklich geschlechtsübergreifend. Auch die neutrale und gleichzeitig weibliche Subjektsbesetzung mit Mädchen [n.] führt zu (offensichtlich semantischer) Kongruenz, und zwar gemäß Nübling / Rosar (i. E.) zu 88 %: Nach Mädchen erscheinen moviert Schülerin, Studentin, Freundin, Künstlerin u. v. a. m., nicht moviert Zeuge, Feind, Anfänger, Stammhalter, Kämpfer, Richter, Jäger, Supersportler, Trainer, Teamplayer etc. Wieder erkennt man bei den Lexemen den Faktor soziales Geschlecht (Gender). Grammatiken äußern sich kaum zu diesem offensichtlich bestehenden Kongruenzverhalten zwischen Subjektiv und Prädikativum. Duden-Zwei‐ felsfälle (2011) empfiehlt auch nach Mädchen semantische Kongruenz: „Dieses Mäd‐ chen ist eine gute Rechnerin (selten: ein guter Rechner)“ (577). Gesprochensprachliche Daten (FOLK-Korpus), die geringere Tokens auswerfen, weisen deutlich darauf hin, dass die Konstruktion sie ist X mit explizit weiblichem Subjekt mehr Movierung auslöst als von Sprecherinnen, die ich [weibl.] bin X verwenden. Diese Konstruktion lag der Untersuchung von Schröter et al. (2012) zugrunde. Mehrfach wurde bereits auf das Ost- / West-Gefälle bzgl. der Verwendung movier‐ ter Formen hingewiesen. Barz (1985) thematisiert für die damalige DDR, Diehl (1992) für die Wendezeit, dass Frauen sich durchaus mit (ich bin) Jurist, Arzt, Kaufmann vorstellen. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich immer um die nicht-referenzielle Prädikatsposition. Barz (1985) stellt in ihrem Material fest, dass Uneinheitlichkeit bestehe und zitiert folgendes Beispiel: Beruflich entwickelte sie sich von der technischen Zeichnerin zum Ingenieur. Heute leitet die Ingenieurin die Gewerkschaftsarbeit (190). Sobald die referenzielle Subjektsposition besetzt wird (im 2. Satz), wird (auch im Osten) moviert. 10 Dass im 1. Satz technische Zeichnerin neben Ingenieur steht, dürfte sich dem Prinzip verdanken, dass Bezeichnungen weniger qualifizierter (Hilfs- und ‚Frauen‘-)Berufe sich leichter movieren lassen als die höher qualifizierter. Für die Wirkung der sozialen Kategorie Gender spricht auch der zweite Zeitungs‐ beleg von Barz (1985, 190): So verschieden wie das Alter sind auch die Berufe der ‚Feuerwehrmänner mit Mädchen‐ namen‘ und ihre Arbeitsstellen […]: Weberin, Küchenhilfe, Verkäuferin, Schneiderin, Lager‐ 166 6 Morphologie <?page no="168"?> 11 So bemerkt Schoenthal (2000, 2079): „Da in der früheren DDR jede Form autonomer Interessen‐ vertretung unterbunden war (Diehl 1992, 390), konnte eine unabhängige Frauenbewegung nicht entstehen“. S. dazu auch Trempelmann (1998). facharbeiter, Facharbeiter für Datenverarbeitung, Teilkonstrukteur, Gärtner in einer LPG und Kaderinstrukteur eines Betriebes. (Sächsische. Zeitung 30. 07. 1982, 7) Hier steuert offensichtlich Gender das Movierungsverhalten: Bezeichnungen einfacher Berufe mit geringerer Ausbildung und höherer weiblicher Besetzung werden moviert, statushöhere nicht. Mit geschlechtsübergreifenden („neutralisierten“) Maskulina und der oft bemühten „gesellschaftlich gegebenen Gleichberechtigung von Mann und Frau im Berufsleben der DDR“ dürfte dies weniger zu tun haben. Ebensowenig hat Gleichberechtigung damit zu tun, „der Chemiefacharbeiter Ulrike G.“ bilden zu können (1957 wurde dies noch offiziell als „besondere ‚Achtung der Frau‘“ [194] deklariert, 1973 dagegen als „Zurücksetzung“). Immerhin erfordert dieses Hybrid eine Pronominalisie‐ rung mit sie. Diehl (1992), die die Kontroverse um das GM in der DDR nachzeichnet, zitiert dagegen aus einer DDR-Zeitung folgenden Satz: „Der Bürgermeister Anna N. führte in der Sitzung den Vorsitz. Er legte dar, wie wichtig ihm die Vorlage sei“. Diese Maskulinisierung sollte aus amtlicher Sicht verhindern, „die Frau nur als ein Anhängsel des Mannes“ zu sehen (ebd., 386). Ob diese Sprachpolitik dazu geführt hat, dass im Osten maskuline Personenbezeichnungen mehr Frauen assoziieren lassen als im Westen, wurde bislang nicht überprüft. 11 Dass diese Maskulina auf Sprachpolitik zurückgehen, weist Kopf (2023) nach, indem sie als Korpus die Zeitung „Neues Deutschland“ (Zentralorgan der SED) von 1946-1990 heranzieht: Hier sind insgesamt 23 % der Prädikatsnomen (nach weiblichem Subjekt) unmoviert. Die höchsten Werte kommen in den 1970er Jahren vor, wobei insgesamt knapp ein Drittel der unmovierten Belege (300 von 941) nur auf Träger entfällt (sehr häufig sind somit Sätze wie Sie ist Träger der XY-Auszeichnung). Kopf (2023) weist auf Basis des DWDS-Kernkorpus, der Zeit und von Bundestagspro‐ tokollen nach, dass die Movierung von Prädikativa nicht nur gegenwärtig zu fast 100 % gilt, sondern (nach Ausweis des DTA-Korpus) auch historisch (17.-19. Jh.) - was man bislang nicht wusste und anders vermutet hatte. Unter den insgesamt 370 historischen Prädikatsnomen sind nur 20 (5,4 %) nicht moviert, darunter sieben schwache Maskulina (wie Zeuge, Bürge, Pate), die traditionell lange (bis ins 19. Jh. hinein) nicht movierbar (und damit Epikoina) waren (die Frage, warum diese Deklinationsklasse nicht movier‐ bar war, ist noch ungeklärt). Die anderen Ausnahmen sind männlich genderisierte, für Frauen damals unzugängliche Berufe (Arzt, Schornsteinfeger), daneben Meister, Narr, Dieb. Auch Möller (2017) stellt anhand von Hexenverhörprotokollen des 16. / 17. Jhs. hohe Movierungsraten fest: Die Tendenz, bei weiblichen Referenten das Geschlecht durch Movierung explizit zu markie‐ ren, ist jedoch sehr ausgeprägt und geht teilweise - insbesondere bei den substantivierten Partizip-II-Formen [z. B. Angeklagtin - DN] - deutlich über das Gegenwartsdeutsche hinaus. (135) 6.2 Wortbildung 167 <?page no="169"?> 12 Der Beitrag differenziert auch nicht nach Numerus (Plurale, um die es sich mehrheitlich handelt, fungieren inklusiver als Singulare) und Referenzialität. Berücksichtigt werden nur sog. (temporäre) Rollenbezeichnungen wie Zeugen, Freunde, Nachbarn, die auch heute, zumal im Plural, geschlechts‐ generisch einsetzbar sind. Berufsbezeichnungen werden dagegen ausgeklammert, „da Frauen nicht die Ausübung einzelner Berufe, sondern auch die Berufsausübung an sich über lange Zeit verwehrt wurde“ (…). Genau hier steckt aber das Problem, das Gegenstand heutiger Diskussionen ist. Die bei den Berufs- und sonstigen Personenbezeichnungen im Korpus (wie schon in älteren Quellen) erkennbare Üblichkeit der Movierung macht also deutlich, dass heute, unter dem Einfluss der feministischen Sprachkritik, ein jahrhundertelang stabiler Zustand der Sexus-Markierung im Deutschen (weitgehend) wieder hergestellt ist, von dem nur in jüngerer Vergangenheit abgewichen worden ist, als für Frauen in traditionellen „Männerberufen“ unmovierte Bezeichnungen (Rechtsanwalt, Minister) verwendet wurden. (133) Trutkowski / Weiß (2022), die die schon immer währende Existenz eines generischen Maskulinums nachweisen wollen, konzentrieren sich auf solche Ausnahmen (bei denen es sich - s. o. - auch um Epikoina handeln kann), statt die Standards korpuslinguisti‐ scher Zugänge zu beachten, nämlich alle Belege einzubeziehen, auch die, die nicht in die Zielvorstellung passen. Allerdings stellen auch sie fest, dass die Movierung historisch der Normalfall war. 12 Echte Ergebnisse sind diesbezüglich von Tanja Steva‐ nović zu erwarten, die Stadtrechte (also Rechtstexte, denen man eine besonders lange Tradition generischer Maskulina unterstellt) zwischen dem 13. und 16. Jh. systematisch untersucht und auf verschwindend wenige geschlechtsübergreifende Maskulina stößt. Die große Mehrheit fungiert geschlechtsspezifisch. Maskulina scheinen so männlich besetzt zu sein, dass, um dies aufzubrechen, überaus viele Paarformen vom Typ ein burger oder ein burgærin vorkommen (Stevanović 2023). Abschließend sei noch ein häufig zu beobachtendes Phänomen angesprochen, das viele verwundert, nämlich dass sich Movierungen (z. B. Begleiterin, Siegerin) auf unbelebte Objekte wie die FDP, die Deutsche Bank, die Bundesregierung beziehen können, die selbst natürlich nicht weiblich sind, sondern nur feminines Genus haben. Typische Kontexte sind prädikative Verwendungen (die Partei ist Repräsentan‐ tin) oder Appositionen (die Partei als Repräsentantin). Solche Movierungen gelten ausschließlich bei nicht-referenzieller Verwendung. Bei referenzieller Verwendung muss das Bezugsnomen belebt sein. Allerdings sind die unbelebten Objekte der Bezugsnomina meist mit Menschen besetzte Institutionen (Kollektiva), die sehr agentiv i. S. v. handlungsmächtig sind, womit ihnen durchaus ein höherer Belebtheitsgrad zukommt. Szczepaniak (2013, 2014) hat dies korpusbasiert anhand von als-Konstruk‐ tionen (n = 370) untersucht: Kollektiva stellen tatsächlich 68 % der Einheiten, auf die mit Movierung Bezug genommen wird (die Kirche als Arbeitgeberin), wovon immerhin 36 % einen (individualisierenden) Eigennamen tragen (die FDP, die Deutsche Bank). Es folgen mit 27 % (meist personifizierte) Abstrakta: die Hoffnung als Begleiterin, die Wissenschaft als Trägerin des Höchsten (ebd., 229). Der kleine Rest entfällt auf ein paar Konkreta (Schneeflocke) und - erstaunlicherweise - auf einige (per se neutrale! ) Städte- und Ländernamen wie Deutschland als Vorreiterin, Amsterdam als Haupterbin 168 6 Morphologie <?page no="170"?> von Utrecht. Besonders Städte und Länder sind hochagentive, belebte, individualisierte Kollektiva - nur eben keine Feminina. Sie bestätigen jedoch als Ausnahme die Regel, indem sie besonders deutlich machen, worauf es bei der Movierung ankommt, nämlich auf Belebtheit und Individuiertheit. Szczepaniak (2013, 2014) stellt fest, dass es die kollektive belebte Semantik ist, die diese Femininmovierungskongruenz auslöst (und nicht nur feminines Genus, wie von Scott 2009 behauptet). Auch die in-Bildungen selbst sind von hohem Agentivitätsgrad (Schöpferin, Siegerin, Kredit-, Arbeitgeberin). 6.2.2.2 Maskulinmovierung Maskulinmovierungen existieren, auch wenn sie sehr selten vorkommen. Es gibt genau drei vielzitierte Bildungen: Hexe → Hexer, Witwe → Witwer und Braut → Bräu‐ tigam (<-ahd. brūti-gomo ‚Brautmann‘). Die Ableitungsrichtung weiblich → männlich sagt viel über die unterschiedliche Relevanz dieser Rollen für die Geschlechter aus: Witwe, Hexe oder Braut zu sein, war für eine Frau früher von existenzieller, im Fall der Witwe und Hexe sogar existenzbedrohender Bedeutung (Witwen konnten in vorchristlicher Zeit mit ihrem Mann begraben werden; oder es wurde über sie verfügt, indem sie in einer sog. Schwagerehe mit dem Bruder des Mannes verheiratet wurden, s. Hausherr-Mälzer 1990, 87-93). Auch Braut zu sein und damit an der Schwelle zu gesellschaftlicher Vollwertigkeit und Anerkennung zu stehen, war von eminenter Bedeutung, während Männer sozial kaum von einer Frau abhingen. Einem Witwer widerfuhr nicht das gleiche wie einer Witwe, ein Bräutigam war nicht Besitz der Braut und Teil ihrer Familie, das Abhängigkeitsverhältnis war umgekehrt (Kap. 8.2). Auch die Hexe als imaginierte Bedrohung hatte wenige männliche Korrelate. Diese Simplizia sind bis heute deutlich frequenter als ihre maskulinen Derivate: Witwe kommt knapp neunmal häufiger vor als Witwer und Braut zweibis dreimal so häufig wie Bräutigam. Zu der Frage, inwieweit es sich auch beim Suffix -er nicht nur um ein maskulines, sondern ein semantisch männliches Suffix handeln könnte, sei auf Diewald (2018) verwiesen. Die Maskulinmovierungen Witwer und Hexer (sowie Puter, Ganter) legen dies nahe. Begibt man sich ins Tierbzw. Vogelreich, begegnen einige weitere Maskulinmo‐ vierungen: Ente → Enterich, Pute → Puter, Taube →Tauber, Täuberich, Gans → Ganter, Gänserich (Ad hoc-Bildungen sind Eulerich, Mäuserich, Wanzerich, s. Kalverkämper 1978, 152). Männer werden mit diesem Suffix, das Namen wie Fried(e)rich entstammt, lächerlich gemacht (Wüterich, Hexerich, Hebammerich). 6.2.2.3 Geschlechtsneutralisierende Verfahren In jüngerer Zeit werden immer wieder Vorschläge gemacht, wie man die binarisierende Wortbildung bzw. Schreibungen mit Neographemen wie dem Genderstern (und seine Verlautlichung mit Glottisverschluss) überwinden könnte. Einer firmiert unter „Ent‐ gendern nach Phettberg“, benannt nach dem österreichischen Künstler Hermes 6.2 Wortbildung 169 <?page no="171"?> Phettberg. Dieser seit 1992 verwendete Vorschlag sieht vor, das Neutrum als ‚drittes‘ Genus zu nutzen und statt genushaltiger Suffixe wie -er die geschlechtsneutrale Endung -y [ɪ] zu verwenden, der Plural wird mit -s gebildet. So wird das generisch intendierte Maskulinum der Leser zum Neutrum das Lesy, im Plural zu die Lesys. Auch Simplizia werden so verändert, vgl. das Arzty, die Arztys. Weiter gehen die sog. SYLVAIN-Konventionen, die in Sylvain / Balzer (2008) aus‐ geführt werden und nicht das Neutrum nutzen, sondern ein viertes Genus etablieren, das sog. Indefinitum oder liminale Genus. Davon abgeleitet ist Lim als entsprechende Personenbezeichnung und Anrede für queere Personen (s. auch Baumgartinger 2008). Als geschlechtsdiverses Pronomen der 3.Ps. Sg. wird nin vorgeschlagen (Korrelat zu engl. they bzw. schwed. hen), und -nin ist auch das Suffix für entsprechende Personenbezeichnungen (s. Tab. 6-1). Der Definitartikel lautet din (im Gen. dins, Dat. dim, Akk. din), der Indefinitartikel einin − mit ähnlicher Flexion (einins, einim, doch im Akk. einir). Maskulinum männliches Geschlecht der Mann der Student Femininum weibliches Geschlecht die Frau die Student-in Indefinitum liminales und / oder „drittes“ Geschlecht din Lim din Student-nin Neutrum sächliches Geschlecht das Tier - Tab. 6-1: Das vierte Genus Indefinitum und seine Morphologie nach Sylvain / Balzer (2008) Auch der „Verein für Geschlechtsneutrales Deutsch“ denkt über ein viertes Genus, das Inklusivum, nach und schlägt als geschlechtsneutrales Suffix im Sg. -e, im Plural -ne vor (Autor-e, Autor-ne). Zu weitergehenden Vorschlägen wie Lieb* Les*, * du das gerade liest (wo * als [ʃtɛɐn] auszusprechen ist), s. Baumgartinger (2008), zur Diskussion dieser Vorschläge Lind (2024). Solche vom Usus entfernte Formen verlangen eine hohe Konzentration auf die Formulierungen, was sich im Alltag vieler nicht realisieren lässt. Andere postfeministische Ansätze, die die Zweigeschlechtlichkeit kritisieren, haben ebenfalls neue Suffixe kreiert, z. B. -x oder -ecs, die für „exit gender“ stehen, d. h. für diejenigen gelten sollen, die sich weder als Frau noch als Mann verorten. Diese Endungen sollen [ɪks] ausgesprochen werden, etwa bei der geschlechtsfreien Anrede Sehr geehrtx Professx Müller. Da diese (und andere) Suffixe primär in der Schriftlichkeit existieren, werden sie in Kap. 10 behandelt. 6.2.2.4 Diminution Diminution, landläufig bekannt als morphologisches Verfahren der Verkleinerung oder Verniedlichung (im Nhd. über -chen und -lein) ist in manchen Sprachen ein Mittel, aus Männer- Frauenbezeichnungen zu gewinnen. Außerdem neigt die Diminution dazu, sich besonders häufig mit Bezeichnungen für Frauen und Mädchen zu verbinden (was 170 6 Morphologie <?page no="172"?> allein auf die entsprechende Praxis der SprecherInnen zurückgeht). Im Lexem Mädchen ist sie sogar festgebacken, es gibt dazu keine Ableitungsbasis mehr. Zur Funktion der Diminution liefert der Typologe Jurafsky (1996) anhand von 60 Sprachen interessante Einblicke. Diminution ist oft mit verschiedenen, teils wider‐ sprüchlichen Bedeutungen verbunden: Kleinheit, Partitivität (‚Teil von X‘), positiven (Niedlichkeit) und negativen Affekten (Verächtlichkeit) gegenüber dem Objekt - und auch Weiblichkeit. Anhand dieses Funktionsspektrums versucht er, die Urbedeu‐ tung(en) des Diminutivs zu ermitteln, um über bekannte semantische oder pragmati‐ sche Prozesse (wie Metaphern, Metonymien, Implikaturen) die anderen Bedeutungen abzuleiten. Als Urfunktion (Protosemantik) des indoeuropäischen Diminutivs sieht er die Bezeichnung eines Kindes. Daraus wurden in den Einzelsprachen weitere Bedeu‐ tungen abgeleitet, z. B. Kleinheit per se, außerdem positiv-affektive Wertschätzung, umgekehrt Verachtung und Geringschätzung, da Kinder geringen Sozialstatus besitzen und als etwas Unentwickeltes, Defizitäres konzipiert werden. Baumgartner / Christen (2017) sprechen hier von der „evaluative[n] ‚Janusköpfigkeit‘ von Diminutivsuffixen“ (126). - Unter „metaphors for gender“ (544 ff.) stellt Jurafsky fest, dass Wörter für ‚Mutter‘ sich zu Augmentativen entwickeln können, z. B. im Thai: mɛɛ ‚Mutter‘ + tháp ‚Armee‘ → mɛɛtháp ‚General‘ (hierzu gehören auch die uns eher bekannten Phraseoschablonen vom Typ Mutter aller Kriege / Schlachten / Bomben …). Hier liegt die Metapher U R S P RÜN G E S IND M ÜTT E R bzw. WICHTI G E D IN G E S IND M ÜTT E R zugrunde, es wird die Opposition Mutter / Kind aktiviert (Mütter sind größer / wichtiger als Kinder). Andererseits gebe es a) das Verfahren, durch Feminisierung eines Wortes (was ungefähr unserer Movierung entspricht) seine Diminution zu bewirken (z. B. Hindi ghantā ‚Glocke‘ → ghantī [-ī ist Femininsuffix] ‚Glöckchen‘); hier wirkt die Metapher F R AU E N S IND K IND E R / KL E IN E D IN G E . Umgekehrt könne b) auch Diminution weibliche Geschlechtsspezifizierung leisten auf Basis der Metapher KL E IN E D IN G E S IND F R AU E N : Hierfür liefern Vornamen aus dem Französischen, Friesischen und Nieder‐ ländischen (und weiteren Sprachen: auch dieses Thema ist noch kaum erforscht) reiches Anschauungsmaterial, denn hier kann man systematisch über diminuierte Männernamen Frauennamen gewinnen: frz. Jean (ml. / m.) → Jeanette (wl. / f.), ebenso fries. Albert → Albertje, nl. Hendrik → Hendrikje. Diese beiden ‚Frau = Kind‘-Konzepte basieren auf der soziokulturellen Opposition ‚weiblich‘ vs. ‚männlich‘, derzufolge Frauen kleiner, schwächer und machtloser seien als Männer; dies verkindlicht Frauen und qualifiziert sowohl ihre Bezeichnungen für die Diminution als auch Diminutiva für die Femininmovierung. Baumgartner / Christen (2017) liefern Hinweise darauf, dass im Berndeutschen die Diminution von Familiennamen „zu einem Weiblichkeitsmarker wird“ (124): ds Wäberli, ds Burgerli bezeichnen jeweils eine Frau. Jurafsky (1996) erwähnt auch den zweiten uns interessierenden Fall, nämlich dass Bezeichnungen von Frauen und Mädchen häufig diminuiert werden, dem sich diejenigen von Männern und Jungen eher entziehen. Neben Mädchen nennt er engl. girl, verwandt mit nhd. Göre mit erstarrtem diminutivem -l. Wie in Kap. 4.3.6 erwähnt, bestätigt sich in Dialekten die Affinität zum Diminutiv bei Lexemen für Mädchen (Mä‐ 6.2 Wortbildung 171 <?page no="173"?> 13 Auch dass die Tiergeschlechter mit Weibchen und Männchen ausschließlich über Diminution vom Menschen abgegrenzt werden, sagt viel über die hierdurch etablierte Hierarchie. Kleinheit kann nicht der Grund sein, überragen doch viele Weibchen und Männchen den Menschen. Ähnliches gilt auch für deren Halter/ innen, Frauchen und Herrchen genannt. 14 Auch das Derivat mannbar findet sich nur auf weiblicher Seite (*fraubar sucht man vergeblich), was die weibliche Relationalität zum Mann unterstreicht. dle, Mäken, Diandl etc.); nicht-diminuierte Bezeichnungen stehen auffälligerweise im ‚Diminutivgenus‘ Neutrum (das Mensch, dat Wicht, Luit, Famen, Deern). 13 Dagegen sind bei den Dialektwörtern für Jungen sowohl Diminutive als auch Neutra abwesend (de(r) Junge, Kerle, Bua; s. König 2005, 166 f.). Mehrere Jahrhunderte lang hatte das Fräulein Bestand als unverheiratete und insofern ‚unfertige‘ Frau. Das in Kap. 9.3 angedeutete Konzept der drei weiblichen Geschlechtszustände, das zwischen 1. (unreifem) Kind, 2. mannbarer 14 junger Frau und 3. Ehefrau und Mutter unterscheidet, wird flankiert durch die neutralen Diminutiva 1. Mädchen und 2. Fräulein. Letzteres entfaltet sich erst mit Heirat und Mutterschaft zur femininen Frau bzw. Mutter (Hirschauer 2015; mehr dazu in Kap. 9.3). Die sozial induzierte Affinität von Weiblichkeit zu Diminution findet sich auch in Personennamen: Es gibt viele offizielle Frauenrufnamen im Diminutiv (Bärbel, Christel, Anke, Antje, Gretchen), doch nur sehr wenige Männernamen (s. Nübling 2014c). Dammel et al. (2018) haben eine Fragebogenuntersuchung zur Genderisierung von Paar-Kosenamen durchgeführt und schreiben zu reziproken Kosenamen (das sind solche, die sich Frauen und Männer teilen, wie z. B. Schatz, Hase, Spatz), dass in Hetero-Paarbeziehungen die diminuierte Variante (Häschen, Spätzchen) eher weiblich wirke. Bei Männern gelten nur zwei Geschlechtszustände, der Junge und der Mann. Kein Stadium zwingt sie ins Diminutiv (*Herrlein, *Jüngchen, *Bübchen) oder ins Neutrum, und vor allem definiert sich keines durch Heirat oder Vaterschaft: Aus sprachlicher Sicht ist der Mann autonom und absolut, die Frau dagegen ein relationales Wesen, das nur mithilfe des Mannes zur Vollfrau heranreift. Dies erklärt auch die historisch fundamentale Ungleichbzw. Minderbewertung (Stigmatisierung) unverheirateter Frauen gegenüber unverheirateten Männern (s. die Welt der Sprichwörter in Kap. 8.4; allgemein Nübling 2019a, 2020a, 2020b). Das als diskriminierend empfundene Diminutiv Fräulein wurde erst auf Druck der Frauenbewegung abgeschafft. 1955 mussten unverheiratete Frauen noch einen Antrag stellen, wenn sie mit Frau adressiert werden wollten. Seit 1972 ist im behördlichen Sprachgebrauch Frau / Herr vorgeschrieben (Schoenthal 2000, 2069). Bezeichnender‐ weise wurde auf Adressvordrucken die (Rang-)Folge Herr / Frau / Fräulein / Firma praktiziert. Koordinierungen folgen dem Prinzip ‚Wichtiges vor Unwichtigem‘ und ‚Belebtes vor Unbelebtem‘ (Kap. 7.2). 172 6 Morphologie <?page no="174"?> 15 Nimmt man nur das (sehr produktive) Suffix -li mit der reinsten Diminutivsemantik (es gibt weitere, beschränktere Suffixe wie -el, -i, -(t)schi), dann polarisiert sich das Geschlechterverhältnis zu 91 % Frauen- und 9 % Männernamen. 16 Als sehr ergiebig würden sich Geburtsbzw. Entbindungsanzeigen aus dem 19. und 20. Jh. erweisen, wenn man sie denn (eingehender als bisher) auf Geschlechterkonstruktionen hin analysierte. Dort stehen häufig Töchterchen neben Söhnen, Knaben, Bengeln und Stammhaltern. Auch die Attribute differieren, etwa (im 19. Jh.) muntere Töchterchen neben strammen Jungen, prächtigen Bengeln, kräftigen Knaben (s. Frese 1987; Linke 2009). Pusch (2014, 130 ff.) macht die Beobachtung, dass lesbische Paare eher als Pärchen bezeichnet und so zu Paaren zweiter Klasse werden. Auch hier wären systematische Erhebungen (sind schwule Paare davon auch betroffen? ) erforderlich. Dass auch die Namen von Frauen häufiger ins Diminutiv geraten (diminuierte Namen sind zu 85 % weiblich), 15 haben Baumgartner / Christen (2017) für die Deutsch‐ schweiz nachgewiesen, ebenso, dass die Diminutive oft lebenslang an den Frauen haften bleiben und in ihre Todesanzeigen eingehen (Kap. 9.3). Wenn denn Namen von Jungen diminuiert werden, so legen sie größere Jungen ab, d. h. Männer mit diminuierten Namen sind selten (zu Details inkl. der verschiedenen Suffixe s. ebd.). Mehr noch: Diminutiva (auf -li) für Männer lassen an deren Charakter zweifeln, in einem konkreten Fall bezieht sich das Diminutiv auf einen schwächlichen, von seiner Frau abhängigen Ehemann (ebd., 124). Bislang fehlen solche Studien zu anderen Dialekten. Lameli (2018) untersucht die Diminuierung von Verwandtschaftsbezeichnungen im 17.-19. Jh. anhand des Deutschen Textarchivs (DTA). Dabei stellt er fest, dass um 1750 das -chen-Suffix das ältere -lein-Suffix ablöst. Wurden im 17. Jh. noch mehr Söhne als Töchter diminuiert, so kehrt sich dies bis zum 19. Jh. um, die Söhnchen verschwinden; ähnlich bei Bruder und Schwester, wo das Schwesterchen das Brüderchen überholt. In der Frühphase (17. Jh.) diente das Diminutiv noch dazu, bloße Zugehörigkeit (zu einer Familie) zu markieren, außerdem affektive Zuneigung, da häufig mit Attributen wie lieb, jung, klein versehen. In nur 38 % steht vor Töchterchen ein Possessivum, vor Sohn-Diminutiva dagegen zu 54 %, d. h. Söhne werden kontextuell stärker eingebunden und individualisiert: Dass die Söhne nicht nur häufiger, sondern auch eindeutiger in den Kontext eingebunden werden, führt zu einer Präsenz, die ihnen Wichtigkeit verleiht. Dies wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sie ca. dreimal so häufig mit Namen genannt werden wie die Töchter […]. (Lameli 2018, 10) In der Spätphase (19. Jh.) kommt das Lexem Sohn mehr als doppelt so häufig vor wie Tochter, diminuierte Töchterchen sind dafür dreimal so häufig wie Söhnchen. Vor Töchterchen treten häufig Attribute, die ihre äußere Erscheinung (schön, hübsch, blond) und ihr anmutiges Wesen beschreiben (brav, fromm, nett, sittsam), auch ihre „Agilität“ (flink, lebendig). Man erkennt die bürgerlichen Geschlechterideale. 16 Nun verdoppelt sich auch der töchterliche Anteil an Possessiva (von 38 % auf 73 %), die Töchter bleiben aber weiterhin namenlos. Bei ihnen geht es primär um ihre Rolle, nicht um ihre 6.2 Wortbildung 173 <?page no="175"?> 17 Im Laufe der Zeit können sich solche Konversionen zu echten Substantiven entwickeln, die dann die Adjektivzugunsten der Substantivflexion aufgeben (Kap. 4), z. B. bei Junge, Greis. 18 Dass Personal- und auch Possessivpronomen einen deutlicheren Hinweis auf Geschlecht liefern als andere genushaltige oder -kongruierende Wörter, ist bekannt. Es dürfte auch der Grund dafür sein, dass es die männliche Lesart (empirisch nachweisbar) verstärkt, wenn geschlechtsübergreifend intendierte Maskulina oder Indefinitpronomen mit er oder seinaufgegriffen werden, vgl. jemand [m.] ist hier vs. jemand [m.] ist mit seiner [m.] Katze hier; er [m.] (s. Kap. 5.2). Individualisierung. Die Söhnchen bleiben tendenziell ohne Adjektiv, ihre Diminuierung drückt weiterhin Zugehörigkeit aus. Bei den Elternbezeichnungen finden sich von Anfang an deutlich häufiger Mütter‐ chen (oder Mütterlein) als - praktisch abwesende - Väterchen (Väterlein). Mütterchen werden oft attributiv ergänzt durch lieb, gut, schön, zunehmend auch durch alt oder greis, letzteres meist abwertend im Sinne körperlicher und geistiger Defizite (einfeltig); dies verstärkt das Diminutiv. Der pater familias entzieht sich der Diminution. 6.3 Flexion Wie in Kap. 4 gezeigt, ist die gesamte Nominalflexion von Genus durchzogen: Adjektive und v. a. Artikel bringen Genus kooperativ zum Ausdruck. Im Fall eines folgenden substantivierten Adjektivs oder Partizips ohne inhärentes Genus ist der Artikel (in deutscher Terminologie Geschlechtswort) besonders stark funktionalisiert. Solche Sub‐ stantivierungen flektieren wie Adjektive weiter (der Angestellt-e, des / dem / den Angestellt-en; ein Angestellt-er, ein-e Angestellt-e, mit Angestellt-em / mit Angestellt-er etc.). 17 Hier - bei sekundären Substantiven ohne eigenes Genus und ohne Wortbil‐ dungssuffixe - wird die Flexion umso mehr mit dem Genus-Sexus-Ausdruck befrachtet (Differentialgenus). Singulare kongruieren prädikativ i. d. R. mit dem Subjekt: sie ist Angestellte / er ist Angestellter / ? sie ist Angestellter / *er ist Angestellte. Der Plural ist geschlechtsneutral: die Frauen / die Männer sind Angestellte. Einen besonders engen Genus-Sexus-Nexus drücken die Pronomina sie und er aus, die substantiviert sogar zum Synonym für Frau und Mann werden: eine Sie, ein Er. Auch die in Kap. 4.3.6 erwähnte Genuskongruenzhierarchie, die besagt, dass bei Lexemen mit Genus-Sexus-Konflikt vom Typ Mädchen das grammatische Neutrum innerhalb der NP gilt (das schlaue Mädchen) und jenseits davon das semantische Femininum greifen kann (sie war vorhin hier), bestätigt den höheren Sexusverweis von Pronomina. 18 Insgesamt sind Artikel stärker dem Genus, Pronomina dem Sexus (Geschlecht) verpflichtet. 6.4 Morphosyntaktische Verfahren Unter morphosyntaktische Verfahren der Geschlechtsspezifikation wie der -neutrali‐ sation fassen wir solche, die nicht am Lexem allein realisiert werden, sondern eines Artikelworts bedürfen, um dies im Verbund zu leisten. Wie eben gezeigt, flektieren sub‐ stantivierte Adjektive und Partizipien immer noch wie Adjektive und kooperieren 174 6 Morphologie <?page no="176"?> 19 Anders Eisenberg (2013b, 138), der auch den maskulinen Singular (der Angestellte) für ‚generisch‘ (geschlechtsneutral) hält (neben der männlichen Lesart). Speziell hierzu fehlen Perzeptionsstudien. Was der (in guter Absicht gebrauchte) Singular bewirken kann, zeigt die Überschrift eines Zeitungs‐ artikels: „Unbekannter in Wohnung eingebrochen“. Hier gerät nur ein Mann in Verdacht (zumal Einbrecher männlich genderisiert sind). 20 Eine Anmerkung in eigener Sache: In der 1. Auflage von 2018 haben wir noch Forschende, Dozierende, Helfende, Flüchtende, auch Geflüchtete zu den auffälligen Neubildungen gefasst. Sechs Jahre später hat sich der Sprachgebrauch bereits so geändert, dass solche Bildungen wegen ihrer gestiegenen Frequenz weitaus unauffälliger sind. dabei mit bzw. reagieren direkt auf den Artikel: ist er definit, dann erfolgt schwache Adjektivflexion (der / dieser Angestellt-e), ist er indefinit, dann starke (ein / manch Angestellt-er). Deshalb behandeln wir hier diese wichtige und wachsende Gruppe. Sie setzt sich zusammen aus 1. vormaligen Adjektiven (Alte, Kranke, Arbeitslose, Gehörlose, Tote), 2. Präsenspartizipien (Reisende, Studierende, Auszubildende, Vorsitzende), 3. Perfektpartizipien (Angestellte, Abgeordnete, Behinderte, Geliebte). Da allein die Flexion via Genus auf Sexus verweist, werden diese Konversionen im Singular in aller Regel geschlechtsdefinit verstanden 19 und im Plural (sofern nicht genderisiert wie z. B. Kriegsführende oder dem MAN-Prinzip verhaftet) geschlechts‐ übergreifend (s. jedoch Kap. 5. 1. 11 zu Gegenbeispielen). Da Konversionen relativ leicht aus Verben und Adjektiven gewinnbar sind, empfehlen sie Leitfäden für ge‐ schlechterbewusstes Formulieren im Plural zur Neutralisierung. Allerdings stehen diese Bildungen auch in der Kritik, da dieses Muster derzeit gedehnt, manchmal auch überdehnt wird, wenn es wahllos auf womöglich komplexe Verben angewandt wird. Solche Beispiele sind Autobahnbenutzende, Zu-Fuß-Gehende etc. 20 Wie in Kap. 5. 1. 11 erwähnt, wirkt jedes inflationär verwendete Verfahren eintönig, auf die Mischung kommt es an. Im Feuilleton wird immer wieder moniert, dass Präsenspartizipien wegen des Suffixes -end den Verlauf der Verbhandlung betonen, also die permanente Ausübung der Tätigkeit suggerieren. Dies wurde mittlerweile widerlegt, s. u. Auch bei vielen Partizipien wie Vorsitzende, Auszubildende, Kulturschaf‐ fende ist diese Verlaufslesart längst getilgt, bei Studierende ebenfalls, während sie bei jungen Bildungen anfänglich mitschwingen kann. Dies liegt am Lexikalisierungsgrad, der mit der Gebrauchsfrequenz solcher Bildungen zunimmt. Befürworter setzen auf diesen Effekt, während Gegnerinnen überall Verlaufsformen erkennen wollen, so z. B. Eisenberg (2017a): „Ein sterbender Studierender stirbt beim Studieren, ein sterbender Student kann auch im Schlaf oder beim Wandern sterben“. Ähnlich der Entertainer Bastian Sick: „Studierend“ ist nur, wer im Moment auch wirklich studiert, so wie der Lesende gerade liest und der Arbeitende arbeitet. Ein Leser kann auch mal fernsehen, und ein Arbeiter Pause machen. Der Lesende aber ist kein Lesender mehr, wenn er das Buch aus der Hand legt, und 6.4 Morphosyntaktische Verfahren 175 <?page no="177"?> 21 https: / / www.spiegel.de/ kultur/ zwiebelfisch/ zwiebelfisch-liebe-glaeubiginnen-und-glaeubige-a-293 425.html (Abgerufen am 08.05.2024). so ist auch der Studierende kein Studierender mehr, wenn er zum Beispiel auf die Straße geht, um gegen Sparmaßnahmen zu demonstrieren. (Bastian Sick; Spiegel-Online, 02.06.2004) 21 Solche Introspektionen (Selbstbefragungen), so eingängig sie sein mögen, haben mit Wissenschaft nichts zu tun. Die linguistischen Anforderungen verlangen längst korpus- oder experimentbasierte, d. h. empirisch gestützte Zugänge, die von indivi‐ duellen Einschätzungen absehen. Dies leistet Zimmer (2024), der u. a. korpusbasiert (DeReKo) nachweist, dass die Frequenz von Studierenden gegenüber Studenten seit den 1990er-Jahren ansteigt und seitdem rasant zunimmt, so dass sie heute (2019) in einem Verhältnis von fast 40 % zu 60 % stehen. Weiter belegt er, dass es schon bei Goethe Studierende gibt, und zwar durchaus in Kontexten, in denen sie nachweislich nicht studierten, sondern sich z. B. mit Stadtsoldaten auf der Straße anlegten (selbst die Bildung Student geht auf ein lat. Präsenspartizip, studens ‚studierend‘, zurück). Zimmer (2024) zeigt auch, dass faktisch nicht nur Studenten, sondern auch Studierende demonstrieren, urlauben, ausschlafen, Partys feiern usw., wenngleich hier Studenten relativ stärker vertreten sind. Doch müssen sich Studierende nicht unentwegt ihrem Studium hingeben. Hier zwei Korpusbelege: In der vorlesungsfreien Zeit wird es ruhiger im Speisesaal der Mensaria […], da viele der Studierenden im Urlaub, beim Nebenjob oder im Praktikum sind. (Mannheimer Morgen, 08.08.2018) 1200 Studierende nahmen an der Demonstration zwischen Nonntaler Brücke und Staatsbrü‐ cke Teil. (Salzburger Nachrichten, 12.03.1996) Außerdem führt Zimmer (2024) eine Online-Fragebogenstudie durch, in der Vpn die Sinnhaftigkeit bzw. Stimmigkeit von Sätzen bewerten sollten wie z. B. „Johanna trägt eine rote Jacke, die komplett weiß ist“ als Beispiel für einen unstimmigen oder „Florian streichelt gerade eine Ziege“ für einen stimmigen Satz. Dabei wurden auch Sätze mit vier Präsenspartizipien integriert, nämlich Studierende, Teilnehmende, Mitarbeitende und Forschende; daneben wurden dreimal so viele Distraktorensätze ohne solche Formen eingebaut. Die vier Präsenspartizipien („kritische Items“) wurden dabei wie folgt bzgl. des Kontexts (Verlaufslesart kompatibel vs. nicht kompatibel) und der Form (Partizip vs. Maskulinum) variiert (und auf unterschiedliche Fragebögen verteilt), hier am Beispiel von Studierende: 176 6 Morphologie <?page no="178"?> Partizip Maskulinum Verlaufs‐ lesart kompatibel 1) Im Hörsaal sitzen einige Studie‐ rende und machen sich Notizen zur Vorlesung. 2) Im Hörsaal sitzen einige Studen‐ ten und machen sich Notizen zur Vorlesung. Verlaufs‐ lesart nicht kompatibel 3) Das Wohnheim ist relativ leer, weil einige Studierende gerade im Urlaub sind und am Strand faulen‐ zen. 4) Das Wohnheim ist relativ leer, weil einige Studenten gerade im Urlaub sind und am Strand faulen‐ zen. Tab. 6-2: Abfrage der kritischen Items am Beispiel von Studierende/ Studenten 258 Personen (darunter 76 % weibliche) zwischen 18 und 89 Jahren aus allen Bundes‐ ländern und aus der Schweiz beteiligten sich, niemand durchschaute das Ziel. Von In‐ teresse waren einzig die Partizipien vs. Maskulina im Kontext ohne Verlaufslesart (also der Unterschied zwischen Satz 3) und 4) in Tab. 6-2). Wäre den vier Präsenspartizipien eine Verlaufslesart inhärent, hätten die Sätze von Typ 3 schlechter (also unstimmiger) bewertet worden sein müssen - welcher Effekt sich jedoch nicht ergab, und zwar bei keinem der vier Partizipien. Somit sind diese Präsenspartizipien komplett unauffällig und - entgegen subjektiven Behauptungen - nicht auf eine Verlaufslesart festgelegt. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt Bross (2023), der feststellt, „dass die Gleichzeitigkeits‐ interpretation von Partizipien von ihrem Lexikalisierungsgrad abhängt“ (42), ebenso von ihrer Frequenz. Nur selten vorkommende Ad-Hoc-Partizipien wie Lachende oder Bergsteigende lösen Verlaufslesarten aus. Nicht selten kommt es vor, dass Partizipien und substantivierte Adjektive im genus‐ haltigen Singular gebraucht werden, und zwar im Maskulinum: etwa bei bahn.de die Rubrik Reisender, auf Dokumenten Prüfender oder Vorsitzender, häufig der Studierende, ein Studierender (s. Harnisch 2016; Bülow / Harnisch 2015). Damit ist die intendierte Geschlechtsindifferenz hinfällig, die Formen sind wegen der Endungen sogar genus‐ markierter als bei Student. Harnisch (2016) dokumentiert (gutgemeinte) Beispiele wie der Preistragende, sein Stellvertretender, dem Schreibenden. Hierauf folgen natürlich maskulin kongruierende Pronomina: „Auf Anfrage erhält der Studierende Auskunft über den Stand seiner Leistungspunkte“ (Passauer Prüfungsordnung, zit. nach Harnisch 2016, 160). Die ursprünglich grammatische Bedingung, dass die gewünschte Genusneutralisierung nur im Plural funktioniert, gerät in Vergessenheit, und das generische Maskulinum schleicht sich, für die Verwender unbemerkt, ins Sprachsystem zurück. (Harnisch 2016, 159 f.) Harnisch (2016) sieht in dem Marker -end eine pragmatische Remotivierung zur Markierung „feministisch korrekter Sprechweise per se“ (ebd., 159), zu einem Marker für genderbewussten Sprachgebrauch: „Damit erfüllt -end ungefähr die sprachverhal‐ tensanzeigende Funktion des einmal gebräuchlich gewesenen Hinweises in offiziellen Texten, dass mit den ‚männlichen‘ Formen Angehörige beiderlei Geschlechts gemeint seien“ (ebd., 167). 6.4 Morphosyntaktische Verfahren 177 <?page no="179"?> Dass auch der genus- und geschlechtsneutrale Plural Studierende, dem MAN-Prinzip folgend, männlich gefüllt zu werden scheint, ist Belegen wie Studierenden und Studen‐ tinnen zu entnehmen. Allerdings haben Bülow / Jakob (2017) ermittelt, dass das im Singular ‚zurückgeschlichene‘ GM der Studierende bei Rezipiententests vergleichbare Ergebnisse erzielt wie der entsprechende Plural: beide evozieren ähnlich viele Frauen und Männer. Damit scheint -end als genderübergreifendes Suffix reanalysiert zu werden, was eine interessante und weiter zu beobachtende Entwicklung darstellt. 6.5 Analytische (periphrastische) Verfahren Schließlich kann man zur Geschlechtsspezifikation, v. a. dann, wenn keine morpho‐ logischen Verfahren greifen, immer eine Periphrase bilden: weibliche Flüchtlinge, männliche Geiseln. Auch die große Gruppe der Konversionen mit Differentialgenus und geschlechtsneutralen Pluralen lässt sich so im Plural vergeschlechtlichen: weibliche bzw. männliche Behinderte, Reisende, Jugendliche. Im Vergleich zu Tab. 5-2 (Student/ in) stellt sich die Situation hier wie folgt dar (Tab. 6-3). Singular sog. generisches Maskulinum (GM) (geschlechtsübergreifend) der Behinderte Genus-Geschlechtsspezifikation die Behinderte der Behinderte Plural attributive Geschlechtsspezifikation die weibli‐ chen Behinderten die männli‐ chen Behinderten Geschlechtsneutralisation die Behinderten Tab. 6-3: Einfacher Synkretismus bei Konversionen mit Differentialgenus (nach Pusch 1984, 53) In Tab. 6-3 liegt einfacher Synkretismus vor, d. h. nur im Singular kommt es zur Schieflage, wo der Behinderte einerseits als (fragliches) GM, andererseits geschlechts‐ spezifisch verwendet wird. Soll Geschlecht im Plural offenbart werden, muss zur Attribution gegriffen werden. Generell könnte man noch stärker umschreiben, z. B. durch Behinderte, die weiblich (männlich) sind. Oft werden neue (entlehnte) Personen‐ bezeichnungen oder bislang nicht movierte in einem Frühstadium periphrastisch spezifiziert. Hierzu nochmals Wustmanns (1891 / 1903) Worte: Von Arzt hat man in letzter Zeit Ärztin gebildet. Manche getrauten sich das anfangs nicht zu sagen und sprachen von weiblichen Ärzten, es ist aber gar nichts dagegen einzuwenden, und es ist großer Unsinn, wenn unsre Zeitungen immer von männlichen und weiblichen Arbeitern, männlichen und weiblichen Lehrern reden statt von Arbeitern und Arbeiterinnen, Lehrern und Lehrerinnen. (66 / 67) Mit Umschreibungen kann man alle gewünschten Informationen realisieren. Gramma‐ tische Restriktionen bestehen (im Unterschied zur Morphologie) keine, man kombiniert 178 6 Morphologie <?page no="180"?> lexikalische Bausteine so lange, bis das Ziel erreicht ist. So lassen sich männliche Krankenschwestern und weibliche Namensvetter bilden, das (lexikalische) Attribut entscheidet, nicht ein potentielles Letztglied (weiblicher Strohmann) oder ein Suffix (weiblicher Arbeiter, männliche Erzieherin). Der Nachteil des analytischen Verfahrens ist seine Länge: Periphrasen wirken oft umständlich. Außerdem zeigen sie tendenziell an, dass Frauen (bzw. Männer) in dieser Tätigkeit noch eine Rarität sind. Meist attribuiert man höherrangige Berufe wie weiblicher Marineoffizier, weiblicher Kadettenausbilder (Pusch 1985, 258). Hierdurch, so Pusch, werde Distanz zur weiblichen Teilhabe geschaf‐ fen („Antinormalität“), während Movierungen eher die Normalität weiblicher Teilhabe markieren. Umstritten ist, ob die Attribution mit weiblich eine (kongruierende) Movierung des Kernnomens erübrigt, erlaubt oder erzwingt: weiblicher Leser oder weibliche Leserin? Das muss keine unzulässige Redundanz sein (vgl. kleines Steinchen), sondern scheint dem Bedürfnis nach Kongruenz entgegenzukommen. Allerdings erfordert der Singular bei der maskulinen Form pronominale Kongruenz (der weibliche Leser - er / *sie), weswegen Sprachleitfäden das movierte Femininum empfehlen. Harnisch (2021) sieht in solchen Tautologien Effekte genderbewussten Sprachgebrauchs, indem generisch geplante Syntagmen „einem Monitoring unterzogen werden“ und an der Bruchstelle hinter weiblich das Maskulinum Leser, da politisch inkorrekt wirkend, in Leserin überführt wird. Interessant wäre zu wissen, wie das faktische Verhältnis zwischen beiden Konstruktionen ist und ob es weitere Faktoren gibt, die sie steuern. Da männliche Ärzte oder Professoren die Norm(alität) stellen, wird in aller Regel nicht symmetrisch attribuiert. Das weiß man auch aus englischen Untersuchungen, wo male / female die wichtigste Geschlechtsspezifikation leistet: female doctor kommt weit häufiger vor als male doctor, da pures doctor als männlich verstanden wird. So wie es Fußball und Frauenfußball gibt, so gibt es Soldaten und weibliche Soldaten. Deshalb zeugt die hohe Frequenz von weiblich in Korpora weniger von der Normalität weiblicher Berufsteilhabe als von dem Gegenteil (s. Kap. 6.2.1 und Abb. 6-4). Ähnlich zeugen Herrenparfüm und männliche Erzieher von deren Ausnahmecharakter. Zusammenfassung Im Deutschen gibt es zahlreiche Möglichkeiten zwischen Wortbildung, Flexion und Syntax, Geschlecht zu markieren oder zu neutralisieren. Dabei erweisen fast alle Verfahren, dass die Bezeichnung von Frauen markierter bzw. aufwändiger ist und oft aus einer männlichen Bezeichnung abgeleitet wird, diese somit voraussetzt. Dies gilt vor allem für die derzeit immer häufiger praktizierte (Feminin-)Movierung, während Komposita vom Typ Fachmann - Fachfrau symmetrisch organisiert sind. Auch sie haben durch feministische Sprachkritik an Verbreitung gewonnen. Andere Deriva‐ tionsmuster wie die Diminution lassen Genderpräferenzen erkennen. Abgesehen davon, dass manche Sprachen systematisch über die Diminution von Männernamen Frauennamen generieren (Diminution somit zur Movierung einsetzen), lässt sich für Zusammenfassung 179 <?page no="181"?> das Deutsche eine Affinität der Diminution zu Frauen- und Mädchenbezeichnungen (Appellativen wie Namen) feststellen, die teilweise sogar lexikalisiert sind (Mädchen). Sie ‚verkindern‘ Frauen als kleiner, niedlicher und geringer als Männer, deren Bezeich‐ nungen umgekehrt oft eine Resistenz gegen Diminution und die damit verbundene Neutralisierung zeigen. An sich symmetrisch strukturierte morphosyntaktische (z. B. Partizipien) und analytische Verfahren werden im Plural zur Geschlechtsabstraktion empfohlen, lassen aber nicht selten einen male bias erkennen (Offiziere und weibliche Offiziere). 180 6 Morphologie <?page no="182"?> 7 Syntax Im Deutschen gibt es keine geschlechtspräferentielle oder gar geschlechtsexklusive Nutzung morphologischer oder syntaktischer Muster. Frauen und Männer unterscheiden sich dies‐ bezüglich nicht, zumindest ist nichts darüber bekannt. Jespersen (1925, 220-238) befasste sich mit sog. Weibersprachen und unterstellte Frauen, primitiver als Männer zu sprechen, über einen kleineren Wortschatz zu verfügen sowie mehr Haupt- und weniger Nebensätze zu verwenden. Dies entbehrt jedoch jeglicher Basis und Substanz. Im (gesprochenen) Englischen ist Mondorf (2004, 2005) in einer Korpusstudie auf eine Kombination prosodisch-syntaktischer Unterschiede gestoßen: So wählen Frauen eher solche syntaktischen Strukturen, die einen Sprecherwechsel zulassen. Dies leisten z. B. nachgestellte Nebensätze („I mean they are mine because those are addressed to me“). Indem die Hauptinformation bereits genannt ist, klappt ein unterbrechungsgefährdeter Nebensatz nach. Außerdem enden solche Nebensätze mit fallendem Tonverlauf, was eine Turn-Übernahme (Redeübernahme) durch das Gegenüber erleichtert, es werden sozusagen Sollbruchstellen angeboten. Dagegen stellten Männer ihre Nebensätze eher vor den Haupt‐ satz, was den Hauptsatz ankündigt und einen Redeturnwechsel behindert („if you were within ten feet of them you singed“). Zudem endet der Nebensatz eher mit steigendem Tonverlauf als klarem Fortsetzungssignal (ohne Frageintonation). Die Fortsetzung wird somit doppelt abgesichert. Für das Deutsche fehlen solche Untersuchungen. Auch stellte man unterschiedlich häufige Verwendungen von Kausal-, Final-, Kon‐ ditional- und Konzessivsätzen fest, sowie dass Frauen ihre Aussagen eher durch hedges (Abschwächungen) und wahrheitsabschwächende epistemische Abtönungen wie maybe begleiten, wo Männer eher zu Verstärkungen wie I’m sure greifen (Coates 1993, 2003). Für das Deutsche bestehen ähnliche Vermutungen, belastbare Untersuchungen gibt es bislang keine. Für englische Intensivierer (‚sehr‘) stellen Wagner (2018) und Wagner / Stange (2018) fest, dass man in den letzten Jahrzehnten einen Wechsel von very (bad) zu really (und derzeit auch zu so) beobachten kann, der maßgeblich von jungen Frauen angestoßen wird und anschließend von Männern (weitaus verhaltener) mitvollzogen wird. Bei alledem handelt es sich allenfalls um geschlechtspräferentielle, keinesfalls geschlechtsexklusive Muster (mehr zum Englischen s. Klann-Delius 2005, 42-47). 7.1 Sprachgebrauchsmuster Im Folgenden untersuchen wir einige syntaktisch erstarrte Sprachgebrauchsmuster, die häufig verwendet werden und darin enthaltene Rangordnungen perpetuieren und reproduzieren. Dies hat mit Syntax im strengen Sinn weniger zu tun als vielmehr mit syntaktisch erstarrten oder rekurrenten Formulierungsmustern bzw. überzufällig vorkommenden Kollokationen bestimmter Wörter. <?page no="183"?> 7.1.1 Vom Fischer und seiner Frau Im deutschen Sprachgebrauch sticht ein Phänomen ins Auge, das die weibliche Relati‐ onalität zum Mann beständig (re)produziert: In aller Regelmäßigkeit beginnen Berichte über Paare mit dem Mann und machen seine Frau - auch syntaktisch - zu seinem (oft namenlosen) Appendix. So in einer DPA-Meldung zu einem verunglückten Ehepaar: „[D]er 68-Jährige und seine gleichaltrige Frau [waren] von einem Wanderweg […] in die Tiefe gestürzt“. Oder in der F. A. S. (12. 11. 2017): „Ante M.-T. und seine Frau Beatrix T., beide 53 Jahre alt, waren am 12. Juli 2016 mit ihrer elf Jahre alten Tochter auf dem Heimweg aus dem Kroatien-Urlaub“. Im S T E R N (13. 08. 2015) liest man: „Der Franzose David Steiner, 42, Kommunikationsberater aus Reims, machte sich mit seiner Frau Ornella und seinem Sohn Enzo, 9, trotzdem auf den Alkali Flat Trail. […] Der Hobbyfotograf und seine Frau […]“. Solche Personenaufzählungen, in denen der Mann vorangestellt, exponiert und individualisiert wird (voller Name, Alter, Beruf, Hobby), während seine Frau diffus in seinem Schatten verbleibt und allenfalls ihr Vorname zur Kenntnis gegeben wird (ggf. gefolgt vom Kind; vgl. Kap. 7.2), kommen unauffällig daher und sind erstaunlich häufig und persistent. Auch wer wen heiratet (Agens / Patiens), führt zu interessanten Asymmetrien (Pusch 2009, 105 f.) und verdient noch eine empirische Untersuchung. Gegenbeispiele sind selten, es sei denn, die Frau (z. B. als Kanzlerin) hat die wichtigere Rolle inne. Bislang gibt es kaum korpusbasierte Untersuchungen zu diesen asymmetrischen Mann-Frau-Kind-Referenzen (s. aber Rosar 2024). Diese soziale Belebtheitshierarchie ist in (früheren) Briefvordrucken als Herr / Frau / Fräulein (/ Firma) erstarrt. Die weibliche Relationalität zum Mann ist nicht nur in der täglichen Berichterstattung omnipräsent, sie findet sich auch in Wörter- und in Schulbüchern (Kap. 8; Ott 2017a, 2017b). Die höhere Relationalität der Frau im Vergleich zum Mann belegt auch eine Studie von Ochs (2024), die korpusbasiert Komposita auf -gatte vs. -gattin untersucht - zwei, wie man annehmen sollte, gleichermaßen relationale Ausdrücke. Hier gilt es jedoch zwei Lesarten zu unterscheiden: 1) die possessive (relationale) Lesart: Arzt‐ gattin als ‚Gattin eines Arztes‘ bzw. Merkel-Gatte / Kanzler(innen)gatte ‚Gatte von Merkel / der Kanzlerin‘ (ob das Erstglied ein Name ist, ob moviert oder nicht, spielt für unsere Frage keine Rolle); 2) die qualifizierende Lesart, bei der jemand beides zugleich ist: Autorin-Gattin ‚Autorin und Gattin‘ bzw. Dichtergatte ‚Dichter und Gatte‘. Dabei kamen Komposita mit -gattin grundsätzlich deutlich häufiger vor (11.153 Tokens) als solche mit -gatte (893 Tokens), was per se eine klare Information ist. Doch auch bezüglich der beiden Lesarten kam es zu deutlichen Divergenzen: Komposita auf -gattin sind zu beinahe 99 % possessiv (relational zum Ehemann), während die auf -gatte es nur zu 43 % sind - 57 % sind qualifizierend und damit ohne Bezug zur Frau zu verstehen. 182 7 Syntax <?page no="184"?> 1 S. https: / / malisastiftung.org/ studie-audiovisuelle-diversitaet/ zum heutigen Geschlechterbild und -verhältnis (Aufruf am 27.10.2023). 2 Quellen: https: / / info.arte.tv/ de/ fluechtlinge-salam-schlaeft-auf-der-strasse; www.savethechildren. ch/ de/ projekte/ projekte_weltweit_2/ europa/ ? 128/ ; https: / / cafebabel.com/ de/ article/ urteil-des-eugh -menschenrechte-gelten-auch-auf-hoher-see-5ae00c49f723b35a145e85d9/ (Aufrufe am 08.05.2024). Dies korrespondiert mit dem Frauenbild bspw. in Spielfilmen, wo Frauen nach wie vor Ornament und / oder Trophäen von Männern sind und nur selten sprechende, namentragende Individuen oder gar handlungsmächtige Akteurinnen. Hierfür wurde der berühmte Bechdel-Test entwickelt (von einer amerikanischen Zeichnerin), der an Spielfilme folgende drei schlichte Fragen stellt: Gibt es mindestens zwei (tragende) Frauenrollen? Sprechen zwei Frauen miteinander? Wenn ja, sprechen sie über etwas anderes als über einen Mann? Nicht einmal die Hälfte der modernen Hollywood-Filme besteht diesen Test (im 21. Jh.). Dabei besteht ihn ein Film schon dann, wenn sich zwei Frauen über Nagellack oder Stöckelschuhe unterhalten. Das Bestehen des Tests garantiert also keineswegs differenzierte Frauenrollen. Bei der Berlinale 2014 bestan‐ den von 20 Filmen drei den Bechdel-Test, spätere Berlinalen lieferten allerdings bessere Ergebnisse. Die oben genannten sprachlichen Sedimente sind Reflexe nicht nur historischer, sondern auch realer Geschlechterrollen. 1 Gängig ist es außerdem, bei der Nennung prominenter Männer ihre Frau mit bloßem Vornamen als Appendix hintanzustellen: Bundeskanzler Kohl und Frau Hannelore. Selbst wenn die Frau berühmter ist, wirkt die Umkehrung markiert: Ursula von der Leyen und Mann Heiko. 7.1.2 „…-darunter auch Frauen und Kinder“ In der medialen Berichterstattung liest man im Kontext von Kriegen und Terroranschlä‐ gen, aber auch von Unfällen und Naturkatastrophen bei der Nennung der Opfer häufig die nachklappende Wendung: „darunter auch Frauen und Kinder“. Einige Beispiele: „Immer noch schlafen Flüchtlinge, darunter auch Frauen und Kinder, unter freiem Himmel“; „Das jüngste Bootsunglück […] hat […] bis zu 700 Menschen das Leben gekostet, darunter auch Frauen und Kinder“; „Die Migranten, darunter auch Frauen und Kinder, wurden von der italienischen Küstenwache […] abgefangen“. 2 Damit wird zweierlei suggeriert: Erstens scheinen Frauen und Kinder eine eigene Spezies zu bilden, die von den Männern, die offensichtlich das Gros der Flüchtlinge, Menschen, Migranten bilden, abgesondert werden. Frauen haben mit Kindern mehr gemein als mit Männern, die üblichen Mann-Frau-Kind-Abfolgen reflektieren diese Rangordnung (Kap. 7.2). Diese kann auch gespiegelt werden, wenn kindliche Affekte im Vordergrund stehen. So zitiert Ott (2017a) den folgenden Schulbuchsatz: „Das Vogelgezwitscher macht den Kindern, der Mutter, selbst dem Vater Freude“ (231). Die Fokuspartikel selbst verstärkt die Grenze zwischen der Mutter-Kind-Dyade und dem Vater. Zweitens suggerieren die oben genannten Unfallbeschreibungen, dass das männliche Leben weniger wert oder eher verschmerzbar sei als das von Frauen und Kindern. Bei Kindern 7.1 Sprachgebrauchsmuster 183 <?page no="185"?> 3 Gibt man in Google „darunter auch Männer“ ein, dann erscheinen sie als Opfer von (sexueller) Gewalt oder als Unterstützer gleichstellungspolitischer Maßnahmen. 4 www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ weiblichkeit-in-den-medien-eine-frau-ist-kein-hulk-a-1200041. html (Aufruf am 08.05.2024). könnte man deren Wehrlosigkeit ins Feld führen (manchmal finden sich auch Alte im Nachklapp), doch begründet dies nicht die Sonderstellung der Frauen. Hier wirkt ein altes Rollenverständnis nach, wonach Frauen und Kinder männlichem Schutz (und einst männlicher Vormundschaft) unterstehen und Frauen das schwache Geschlecht sind. Heute hat sich dies zu einem sprachlichen Muster verfestigt, das Männer diskriminiert. Bei jeder Nennung wird diese Geschlechterordnung reproduziert. Mit dem Beschweigen der toten Männer wird auch suggeriert, dass nur diese Kriege führen und deshalb vermehrt fallen, d. h. ihr Tod ein Kollateralschaden ist. Auch gilt für die Berichterstattung über Verbrechensopfer, dass sie öfter über die weiblichen als über die insgesamt zahlreicheren männlichen Opfer spricht. 3 Hier ist auch die Tatsache zu erwähnen, dass ‚generische Maskulina‘ mit Bezug auf Täterschaft, Kriminalität, Delinquenz am wenigsten hinterfragt oder gar kritisiert werden. Bei Täter, Verbrecher, Dieb etc. kommt es zu den geringsten Splittingraten, hier versiegt manchmal die Forderung nach geschlechterbewusster Sprache. Bei Terrorberichten wird Täterinnen oft unterstellt, sie seien nur die Frauen oder Geliebten der Akteure und deshalb allenfalls indirekt-- „aus Liebe“-- ins Geschehen involviert. 7.1.3 Sie hat Erfolg „trotz ihrer zierlichen Figur“ In der Berichterstattung über berufstätige oder anderweitig tätige Frauen wird man nicht müde zu betonen, dass sie Erfolg haben „trotz ihrer zierlichen Figur“. Das heißt, der weibliche Körper wird bei der Leistungswahrnehmung mit in den Blick genommen (ebenso wie die Bekleidung). Vor allem wird insinuiert, dass der (weibliche) Körper ein Hindernis für Berufe darstellt, die mit körperlicher Arbeit nicht einmal etwas zu tun haben müssen. Dies bedient das Klischee des schwachen Geschlechts. So schreibt der Spiegel (13 / 2018) über eine Psychologin: „Wenngleich klein von Gestalt und eher zart von Statur, hat Benecke ihre Klienten fest im Griff “. Einem Mann würde dies, selbst wenn er klein wäre, kaum widerfahren (und keinesfalls würde er als zierlich beschrieben). Margarete Stokowski bringt dieses Phänomen in einer Kolumne auf den Punkt: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich Männer und Frauen für gleichberechtigt halten. Und trotzdem wundern sich Menschen noch immer öffentlich, dass Frauen, die etwas auf die Reihe kriegen, so aussehen, wie Frauen eben oft aussehen“. 4 Besonders bei Politikerinnen scheint die Körpergröße der Größe ihres Amtes entgegenzustehen. Unter dem Strich tun AutorInnen damit ihre Verwunderung kund bzw. markieren sie Antinormalität darüber, dass Frauen dort sitzen, wo sie eigentlich Männer erwarten würden bzw. Frauen etwas schaffen, das sie ihnen nicht zutrauen. Sie präsupponieren die Erwartung eines Männerkörpers - oder zumindest 184 7 Syntax <?page no="186"?> 5 Neben zierlich verdienen weitere Adjektive Kontextanalysen, z. B. vollschlank, ledig, blond und vor allem brünett. Dank der Korpuslingustik sind solche Forschungen heute möglich. eines Frauenkörpers, der Männerkörpern möglichst nahe kommt (was dann ebenfalls vermerkt wird). Solche und andere Muster lassen sich zuhauf entdecken. In Filmkritiken bekommen Frauen Attribute, die bei Männern redundant wären (die selbstbewusste Ermittlerin, die mutige Kommissarin). Stokowski erwähnt auch aber-Setzungen, die Gegensätzlichkeit und damit Unverträglichkeit signalisieren: „Sie spielt die attraktive, aber ehrgeizige Judith Silberstein“ (ebd.). Schönheit und Leistungsfähigkeit werden als Widerspruch empfunden. 5 7.2 Binomiale (Koordinierungen) Auch Binomiale gehören zu den Sprachgebrauchsmustern, sie sind noch fester einge‐ rastete Wortverbindungen. Bekanntlich ist es nicht möglich, in Akkorden zu sprechen. Wir sind gezwungen, ähnliche Referenten zu koordinieren bzw. serialisieren - und damit gleichzeitig zu hierarchisieren. Warum das eine Wort in die erste und das andere in die zweite Position ‚gelangt‘, ist nicht zufällig, man darf diese Ordnung als Rangordnung lesen. So heißt es im Grundgesetz, Art. 3: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Im Fall von sog. Paarformeln (Binomialen) sind solche immer wieder reproduzier‐ ten Abfolgen zu Phraseologismen erstarrt, sie sind irreversibel geworden: Katz und Maus, mit Mann und Maus, Herr und Hund, Vater und Sohn, Freud und Leid, mit Händen und Füßen. Längst hat die Phraseologie sich mit den dahinterstehenden Prinzipien befasst: Neben formalen Abfolgeregeln (phonologischen wie metrischen), wozu gehört, dass möglichst Trochäen (Betonungsstruktur: XxXx) entstehen sollten (Kind und Kegel, Zimt und Zucker), wirken auch und vor allem semantische bzw. soziale Prinzipien wie ‚Mensch vor Tier‘, ‚belebt vor unbelebt‘, ‚positiv vor negativ‘, ‚wichtig vor unwichtig‘, ‚unmarkiert vor markiert‘, auch ‚häufig vor selten‘ und - möglicher‐ weise-- ‚Mann vor Frau‘ (vgl. er, sie, es). Andere Substantivfolgen sind weniger (Hund und Katze) oder gar nicht erstarrt (Kuh und Pferd / Pferd und Kuh). Rasten sie jedoch zu einer festen Abfolge ein und schließt man die Wirkung formaler Kriterien aus, sind semantische Hierarchien am Werk. Erstarrte Paarformeln transportieren häufig frühere Werte und (Rang-)Ordnungen; so war die ahd. Abfolge gomman inti wib ‚Mann und Frau‘ sowie fater inti muoter fest. Die interessante Frage ist, ob sich die Festigkeit solcher Verbindungen lockern kann. Das gäbe Hinweise auf sozialen bzw. Wertewandel. Mit Bezug auf die Geschlechter gilt die Anrede sehr geehrte Damen und Herren als Paradebeispiel für eine Paarformel. Diese fest eingerastete Folge dramatisiert die Geschlechtsbinarität, schließt Kinder und viele andere Menschen aus (Hirschauer 2004) und transportiert alte Galanteriegebote des 19. Jhs., wonach Männer Frauen beschützen 7.2 Binomiale (Koordinierungen) 185 <?page no="187"?> 6 Dazu Hirschauer (2004, 11): „Es gilt ein ‘Ladies first’. Was wie eine Vorrangigkeit von Frauen erscheinen könnte, ist aber bekanntlich eher das Gebot einer Höflichkeit, die ihre anderweitige Nachrangigkeit kaschiert − ein Gebot übrigens, an das vor allem Sprecher sich binden, die nicht zu den Frauen gehören […]“. 7 Für die Erstellung und Verfügbarmachung von Abb. 7-1 bis 7-4 danke ich herzlich Anne Rosar. und in den Mantel helfen (die Lexeme Dame und Herr entstammen der Oberschicht, heute signalisieren sie Höflichkeit und Distanz; Kap. 8.5). Diese Abfolge privilegiert, zumindest vordergründig, Frauen. 6 Gemäß google-ngram und Rosar (2022a) geht diese Wendung als solche stetig zurück, die Abfolge bleibt aber stabil. Stattdessen nehmen degenderisierte Adressierungen zu (sehr geehrtes Publikum, liebe Anwesende). Übrigens schrumpfen gesprochene Paarformen gerne zu liebe Kollegen und Kollegen: Hier signalisiert noch die pure Dopplung den sprecherseitigen Willen, beide Geschlechter zu adressieren. Rosar (2022a; 2024) weist korpusbasiert nach, dass jenseits der phraseologisierten Damen-und-Herren-Anrede bei Herr und Frau X der Ehemann praktisch immer seiner Frau vorangeht, und zwar zu 95 % (s. auch Ott 2017a, 236). Bei Paarformen vom Typ Schülerinnen und Schüler, Bürgerinnen und Bürger tritt hingegen die weibliche Form zu 71 % bzw. 90 % vor die männliche. Das ist umso bemerkenswerter, als diese Abfolge das metrische Trochäenprinzip verletzt. Diachronisiert man den Verlauf von Schülerinnen und Schüler (Abb. 7-1), dann entdeckt man, dass das nicht schon immer so war: Die Schülerinnen stellen sich erst ab den 1970er Jahren vor die Schüler, was als Effekt feministischer Sprachpolitik zu deuten sein dürfte, die bei den Splittings die Erststellung der weiblichen Form forderte. Die angelsächsische Genderlinguistik ist auch hier um einiges weiter. Zu Binomialen mit Bezug auf Geschlecht (sog. Kompleonymen) liegen bereits mehrere Untersuchungen vor (s. Motschenbacher 2013). Wenn unterschiedliche Wortfrequenzen sowie die Metrik als Faktoren für die Serialisierung ausgeschlossen werden können, dann werden i.d.R. männliche Lexeme (husband and wife) und Vornamen (Romeo und Julia) den weiblichen vorangestellt. Dies spiegelt Vor- und Nachrangigkeit . Auch bei der Namengebung an Paare setzten Vpn in Tests den männlichen Namen vor den weiblichen, besonders dann, wenn die Paare in die 1950er oder gar 1920er Jahre situiert wurden. Bei jüngeren Paaren fiel dies weniger deutlich aus. Sozialer Wandel scheint also die Struktur von Binomialen zu beeinflussen. Motschenbachers Recherche im Britischen Nationalkorpus (Texte von 1975-1993) ergab, dass allgemeine Bezeichnungen (men & women, boys & girls) zu insgesamt 88 % den Mann nach vorne stellen, Adelsbezeichnungen sogar zu fast 100 % (lord & lady, king & queen), Berufsbezeichnungen zu 100 % (actor & actress), Anredenomen zu 78 % (dabei Mr & Mrs zu 100 %, umgekehrt ladies & gentlemen ebenfalls zu fast 100 %), Verwandtschaftsbezeichnungen zu nur 57 % (mit interessanten Unterschieden im Detail) - und Pronomina zu 92 % (him & her, he & she). Alles in allem beträgt die Serialisierung Mann vor Frau 80 %, die umgekehrte Reihung 20 %. Motschenbacher (2013) resümiert: 0 0,5 1 1,5 2 2,5 relative Häufigkeit (pMW) Frequenzverlauf im Plural: SchülerInnen Schüler vor Schülerinnen Schülerinnen vor Schüler Schüler vor Schülerinnen Schülerinnen vor Schüler Abb. 7-1: Serialisierung von Schülerinnen und Schüler von 1953 - 2016 7 186 7 Syntax <?page no="188"?> In der angelsächsische Genderlinguistik liegen zu Binomialen mit Bezug auf Geschlecht (sog. gender binomials) bereits mehrere Untersuchungen vor (z. B. Motschenbacher 2013, Dant 2013, Mollin 2014). Wenn unterschiedliche Wortfrequenzen sowie die Metrik als Faktoren für die Serialisierung ausgeschlossen werden können, dann werden i. d. R. männliche Lexeme (husband and wife) und Vornamen (Romeo and Juliet) den weiblichen vorangestellt. Dies spiegelt Vor- und Nachrangigkeit. Auch bei der Namengebung an fiktive (Hetero-)Paare setzten Vpn in Tests den männlichen Namen vor den weiblichen, besonders dann, wenn die Paare in die 1950er oder gar 1920er Jahre situiert wurden. Bei jüngeren Paaren fiel dies weniger deutlich aus. Sozialer Wandel scheint also die Struktur von Binomialen zu beeinflussen. Motschenbachers Recherche im Britischen Nationalkorpus (Texte von 1975-1993) ergab, dass allgemeine Bezeichnungen (men & women, boys & girls) zu insgesamt 88 % das Male-first-Prinzip praktizieren, Adelsbezeichnungen sogar zu fast 100 % (lord & lady, king & queen), Be‐ rufsbezeichnungen zu 100 % (actor & actress), Anredenomen zu 78 % (Mr & Mrs zu 100 %, umgekehrt ladies & gentlemen ebenfalls zu fast 100 %), Verwandtschaftsbezeichnungen zu nur 57 % (mit interessanten Unterschieden im Detail) und Pronomina zu 92 % (him & her, he & she). Alles in allem beträgt die Serialisierung Mann vor Frau 80 %, die umgekehrte Reihung 20 %. Motschenbacher (2013) resümiert: […] mixed-gender binomials in English exhibit domain-specific patterns of syntactic markedness, that is, in some lexical subfields female-male is the unmarked sequence, and in others, male-female is the unmarked order. Moreover, one finds that the coordinated constructions studied do not just construct people binarily as women and men. They also perpetuate harmful, difference-oriented discourses about ‘appropriate’ societal roles of the two sexes. It is unsurprising that these discourses echo gender images that now seem outdated (men dominating in general and in the areas of nobility, profession, heterosexual marriage; men as the preferred kind of offspring [son & daughter, DN]; women as notable when unmarried and as better parents). (226) Dant (2013) untersucht in „Mom and Dad but Men and Women“ amerikanische Perso‐ nenbezeichnungen (Korpusdaten ab 1990), bei denen die Geschlechter verschiedene Rollen ausüben (z. B. Eltern- und Partnerschaft, Verwandtschaft, Berufe). Wie im Deut‐ schen gilt auch hier das metrische Trochäenprinzip (metrical constraint: weniger vor mehr Silben), das bei abgeleiteten Frauenbezeichnungen ihre Nachstellung zu je 90 % erklären kann (man and woman, male and female). Umgekehrt (Frau vorne) wirkt es ebenso deutlich bei widow and widower, ladies and gentlemen, aunt and uncle. Ausnahme ist husband and wife (96 %). Bei Wortpaaren mit asymmetrischer Silbenzahl gewinnt der metrical constraint mit 94 % gegenüber dem sog. power constraint mit 85 %. Da bei gleichsilbigen Wortpaaren der metrical constraint nicht greifen kann, sollte hier der power constraint (männlich vor weiblich) wirken. Allerdings kommt es bei 25 metrisch-symmetrischen Paaren ‚nur‘ zu 15-maliger männlicher und zu 10-maliger weiblicher Erststellung. Letztere Gruppe erklärt sich jedoch mithilfe des family relationship constraints: Es sind Mütter, Großmütter und Bräute, die in die 7.2 Binomiale (Koordinierungen) 187 <?page no="189"?> 8 Diese ca.-Werte erklären sich durch die Berücksichtigung verschiedener Textsorten. 9 Dies bestätigt auch Ott (2017a, 231 ff.) für Schulbücher vom Ende des 19. Jhs. bis heute. Vor allem die Wendung Vater und Mutter nimmt ab und verschwindet sogar bis 1980. Sie wird durch das entsprechend zunehmende Kollektivum Eltern ersetzt (undoing gender). erste Position rücken, z. B. bride and groom (fast 100 %), mom and dad (ca. 97 %), mother and father (ca. 80 %), grandma and grandpa (ca. 70 %). 8 Innerhalb der Familie scheint die Frau als Mutter die Hauptrolle zu spielen. Ohne familiäre Rollen und metrische Zwänge gewinnt aber immer der power constraint mit dem Mann an der Spitze: Neben husband and wife und brother and sister auch boy and girl (ca. 85 %), king and queen (ca. 95 %) und actor and actress. Speziell bei den Verwandtschaftsbezeichnungen gehen McGuire / McGuire (1992) weiter, indem sie Faktoren wie Generation, Verwandtschaftsgrad und Sozi‐ alstatus hinzunehmen. Mollin (2014) berücksichtigt in ihrer diachron ausgerichte‐ ten Untersuchung zu englischen Binomialen u. a. Geschlecht und stellt eine dia‐ chrone Rückstufung (Entdifferenzierung) dieser Differenz fest durch „unfreezing“ der „male-first order“: One such explanation, sociocultural changes being reflected in reversibility changes, has been showcased through the example of gender binomials. Here there has been a general unfreezing trend away from a male-first order, for kin binomials since the beginning of the 20th century, and for general reference binomials since the feminist movement of the 1960s. (220) Auch die neueste Studie von Goldberg / Lee (2021) geht diachron vor (sie nutzt google-ngrams) und zieht als weiteren Faktor die kognitive Verfügbarkeit hinzu. Für das Deutsche schließen die Arbeiten von Rosar (2022a; 2024) diese Lücke (Korpus: Spiegel und Zeit 1953-2016, ca. 546 Mio Textwörter). Die Ergebnisse deuten ebenfalls auf eine seriell-syntaktische Abschwächung von male first (und somit der Geschlechterdifferenz) für die 2. Hälfte des 20. / den Beginn des 21. Jhs. hin, zumindest gilt dies für die nur leicht zunehmende Vater-vor-Mutter- und die 2,4-mal stärker zunehmende Mutter-vor-Vater-Präferenz (Abb. 7-2, durchgezogene Linien). 9 Im Plural (gepünktelte Linien) waren die Präferenzen schon immer schwächer, doch stellen sich ab den 1980er Jahren verstärkt Mütter vor Väter. Viel deutlicher zeigen die nähesprachlichen Kosewörter Mama / Mami und Papa / Papi, dass hier schon immer female-first gilt, und dies sogar diachron zunehmend (hier ohne Abb.; Goldberg / Lee (2021, 5) bezeichnen mother and dad(dy) als „ground zero for female-first binomials“). Auch Omas werden zu 81 % vor Opas gestellt. Innerhalb der Familie scheinen die Geschlechterrollen noch vollkommen stabil zu sein. Anders bei den Kindern: Stellten sich früher die Söhne vor die Töchter und die Jungen 188 7 Syntax <?page no="190"?> vor die Mädchen, so senken sich diese syntaktischen Vorrangstellungen im Laufe der Jahrzehnte deutlich ab (Abb. 7-3 und -4). 175 Abb. 7-2: Serialisierung von Mutter/ Vater und Mütter/ Väter von 1953-2016 Viel deutlicher zeigen die nähesprachlichen Kosewörter Mama/ Mami und Papa/ Papi, dass hier schon immer female-first gilt, und dies sogar zunehmend (hier ohne Abb.). Auch Omas werden zu 81 % vor Opas gestellt. Innerhalb der Familie scheinen die Geschlechterrollen noch vollkommen stabil zu sein. Anders bei den Kindern: Stellten sich früher die Söhne vor die Töchter und die Jungen vor die Mädchen, so nivellieren sich diese syntaktischen Vorrangstellungen im Laufe der Jahrzehnte deutlich (Abb. 7-3 und 4). Abb. 7-3: Diachron nachlassende Rigidität der Abfolge Sohn vor Tochter und Söhne vor Töchter 0 0,5 1 1,5 2 2,5 relative Häuigkeit (pMW) Frequenzverlauf im Singular und Plural: Mutter/ Vater, Mütter/ Väter Mutter vor Vater Mütter vor Väter Vater vor Mutter Väter vor Mütter Mutter vor Vater Mütter vor Väter Vater vor Mutter Väter vor Mütter Abb. 7-2: Serialisierung von einem/ einer Projektmitarbeiter/ in und Mütter / Väter von 1953-2016 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 relative Häufigkeit (pMW) Frequenzverlauf im Singular und Plural: Tochter/ Töchter, Sohn/ Söhne Söhne vor Töchter Töchter vor Söhne Söhne vor Töchter Töchter vor Söhne Abb. 7-3: Diachron nachlassende Rigidität der Abfolge Sohn vor Tochter und Söhne vor Töchter 7.2 Binomiale (Koordinierungen) 189 <?page no="191"?> 10 Jessica Nowak (pers. Information) stieß bei einer Untersuchung von Todesanzeigen im Hamburger Abendblatt noch in den 1970er Jahren auf die Ordnung, zuerst die männlichen und dann die weiblichen Verstorbenen aufzuführen. 177 Abb. 7-4: Diachron nachlassende Rigidität der Abfolge Junge(n) vor Mädchen und Serialisierungsumkehr Bei Mann und Frau regiert jedoch nach wie vor das male-first-Prinzip, und zwar mit vierbis achtmal so hoher Dominanz und ohne diachrone Lockerung. Androzentrisches Malefirst hat sich auch bei Schwulen vor Lesben mit 80 % eingestellt und existiert bei den Adjektiven männlich vor weiblich zu 73 %. Bei den Tieren rangiert das Männchen zu 90 % vor dem Weibchen. Je nach weiteren Zugehörigkeiten stoßen wir bei den Geschlechtern also auf traditionelle, syntaktisch rigide male-first-Ordnungen, bei den jüngeren Beidnennungen dagegen auf female-first-Ordnungen, und bei Kindern auf Konvergenzen, d.h. auf zunehmende Geschlechtsirrelevanz (Konturverlust). 0 0,51 1,52 2,53 3,54 4,5 relative Häufigkeit (pMW) Frequenzverlauf im Singular und Plural: Mädchen, Junge(n) Jungen vor Mädchen Mädchen vor Jungen Jungen vor Mädchen Mädchen vor Jungen Abb. 7-4: Diachron nachlassende Rigidität der Abfolge Junge(n) vor Mädchen und Serialisierungsum‐ kehr Bei Mann und Frau regiert jedoch nach wie vor das Male-first-Prinzip, und zwar mit vierbis achtmal so hoher Dominanz und ohne diachrone Lockerung. Androzentrisches male-first hat sich auch bei Schwulen vor Lesben mit 80 % eingestellt und existiert bei den Adjektiven männlich vor weiblich zu 73 %. Bei den Tieren rangiert das Männchen zu 90 % vor dem Weibchen. Je nach weiteren Zugehörigkeiten stoßen wir bei den Geschlechtern also auf traditionelle, syntaktisch rigide Male-first-Ordnungen, bei den jüngeren Beidnennungen dagegen auf Female-first-Ordnungen, und bei Kindern auf Fluidisierungen (Konvergenzentwicklungen), d. h. auf zunehmende Geschlechtsirrele‐ vanz (Konturverlust). Prinzipiell finden sich androzentristische ‚Mann vor Frau‘-Abfolgen so häufig, dass sie im Allgemeinen unbemerkt bleiben bzw. das Gegenteil auffällt. 10 Gleiches gilt für die Linguistik. So werden in der onomastischen Literatur männliche Namen in aller Regel zuerst genannt, weibliche danach. In Tabellen pflegen, der Leserichtung folgend, Männernamen links, Frauennamen rechts zu stehen (mehr zu solchem linguistischem doing gender s. in Kap. 8.7). Neuerdings verspricht die quantitative Methode des Word Embeddings zur Mo‐ dellierung semantischer Räume Einblicke in ganze Diskurse, indem auf Basis großer Textkorpora die semantische Ähnlichkeit bestimmter Schlüsselbegriffe wie z. B. Frau, Mann, Vater, Mutter, Eltern ermittelt und grafisch umgesetzt wird (Bubenhofer 2009, Rosar 2024). Über die Identifizierung der überzufällig häufig vorkommenden Nach‐ 190 7 Syntax <?page no="192"?> barwörter („engste Nachbarn“) zu diesen Schlüsselbegriffen lässt sich deren sog. Gebrauchssemantik erschließen. Diese Methode lässt sich mit historischen Korpora auch diachronisieren, womit sich Rückschlüsse auf vergangene Diskurse und den Bedeutungswandel der Schlüsselwörter gewinnen lassen. Je ähnlicher sich die nächsten Nachbarn (und damit die Verwendungskontexte) werden, desto eher nähert sich die Semantik der betreffenden Schlüsselwörter an - und umgekehrt. So stellt sich bspw. heraus, dass Frau und Mutter enger benachbart sind als Mann und Vater - und dass diachron weniger Vater als vielmehr das Kompositum Familienvater (auch Familien‐ mensch) enger an Mann heranrückt, während das Kompositum Familienmutter per se kaum vorkommt. Das Adjektiv kinderlos unterhält eine viel engere Nachbarschaft zu Mutter (und Akademikerin, Paar) als zu Vater: Kinderlosigkeit wird als weibliche Angelegenheit verhandelt. Dass Kinderlosigkeit weiblich ist, bestätigt auch Schmitt (2020) in ihrer Analyse der Verwendungskotexte von kinderlos (Korpus: D I E Z E IT von 2008-2018). Als Be‐ zugsnomen zu kinderlos kommt Frau doppelt so häufig vor wie Mann, und es treten als häufige Partner zur Akademikerin noch Politikerin, Anwältin, Karriere hinzu. Somit zeigt sich deutlich, „dass Kinderlosigkeit eher mit Frauen verbunden wird als mit Männern“ (160), die Erwartung von Nachwuchs nach wie vor an Frauen gestellt wird und sie deviant macht, wenn sie ihr nicht nachkommen („M / Othe‐ ring“ bei Schmitt 2020). Auch in Statistiken pflegen fast immer nur kinderlose Frauen erhoben zu werden und nicht etwa Männer (ebd.). Weiter zeigt Rosar (2024), dass im semantischen Raum um Eltern unter den 10 engsten Wortnachbarn Vater nicht vorkommt, dafür Kind, Mutter, Großeltern, Geschwister, Einschulung bis hin zu Pflegeltern. Generell ist Vater eher in Abkunfts- und Mutter in Beziehungsrelationen integriert. Exklusive Nachbarn von Vater sind Spross, Zögling, Sippe, Familienmensch. Auch außerfamiliäre Personen (Freund, Freundin, Kollege) bilden zu Vater enge Nachbarn: Väter interagieren stärker mit Bekannten, Mütter mit weibli‐ chen Familienmitgliedern. Schließlich entwickeln sich in den letzten 70 Jahren ledige bzw. alleinstehende Mütter (deren Ehelosigkeit stigmatisiert und als Defizit bezeichnet wird) zu alleinerziehenden Müttern. Insgesamt gleichen sich über die letzten 70 Jahre hin die Verwendungskontexte von Mutter und Vater an, was Rosar (2024) als ein Degendering von Elternschaft deutet. Zusammenfassung Wenngleich Frauen und Männer im Deutschen beim Sprechen keine syntaktischen Un‐ terschiede praktizieren, so gibt es beim Sprechen über sie einige verfestigte (eingeras‐ tete) Sprachgebrauchsmuster, die gewisse (Vorrang-)Stellungen erkennen lassen, allen voran Binomiale (Mann und Frau, Mama und Papa). Komplett erstarrt ist die Paarformel Zusammenfassung 191 <?page no="193"?> meine Damen und Herren, während andere Binomiale ihre Stellungsrigidität im Laufe der Jahrzehnte lockern können und dabei gesellschaftlichen Wandel erkennen lassen. Hier weisen erste Forschungen zum Deutschen darauf hin, dass bei statusbehafteten Rollen-, Berufs- und Standesbezeichnungen weiterhin das Male-first-Prinzip regiert, während bei Verwandtschaftsrollen (Müttern, Vätern, Söhnen, Töchtern) diachrone Lockerungen zu beobachten sind, bis hin zur Stellungsumkehr im Fall von (heute) Mädchen vor Jungen. Andere syntaktische Verfestigungen bzw. Formulierungsmuster lassen ebenfalls alte Geschlechterordnungen erkennen wie die bei Katastrophenmel‐ dungen dem Kind zugeschlagene schwache Frau im Gegensatz zum (verschmerzbaren) starken Mann (darunter auch Frauen und Kinder). Dazu gehört auch die beruflich erfolgreiche Frau, deren häufig verbalisierte körperliche (als unzureichend insinuierte) Konstitution Antinormalität zur ausgeübten Tätigkeit ausdrückt. Gleiches betrifft die bei ihr thematisierte Kinderlosigkeit. Die korpuslinguistische Methode des Word Embeddings verspricht neue Einblicke in die Gebrauchssemantik von Lexemen und deren Wandel. 192 7 Syntax <?page no="194"?> 8 Lexikon und Semantik Mit den Lexemen und ihrer Semantik gelangen wir zu den wichtigsten Bausteinen der Sprache: Hier werden diejenigen Konzepte, auf die wir ständig zugreifen, gebündelt und in eine feste Form gegossen, in welcher sie als vorgeprägte Einheit abrufbar sind. Hohe Frequenzen sichern und festigen lexikalische Prägungen und ihren Erhalt. Damit sind Lexeme (und feste Wortverbindungen wie alte Jungfer) einerseits Resultat häufig versprachlichter Konzepte, andererseits präformieren sie auch unsere Wahrnehmung, indem sie als lexikalische Schablonen diese (vor)strukturieren. Wir haben es bei dem Verhältnis zwischen Sprache und Realität mit einem komplexen gegenseitigen und flexiblen Bedingungsgefüge zu tun. Es legt uns nicht ein für alle‐ mal auf bestimmte Wahrnehmungsmuster fest. Viele Wörter ändern ihre Bedeutung (Vetter, Weib). Überkommene Konzepte lassen Wörter untergehen (Muhme, Backfisch). Neue Konzepte bewirken neue Prägungen (Latte-Macchiato-Mutter, Karriereweib) oder Entlehnungen (Kid, Nerd, Playmate, Groupie). Neue oder seltenere Inhaltskomplexe werden eher über Wortbildung oder Umschreibungen realisiert (Kap. 6). Auf der Ebene der Lexeme kann man beobachten, welche anderen Humandifferen‐ zierungen zusammen mit ‚Geschlecht‘ untrennbar in einen eigenen, festen Ausdruck gegossen werden, d. h. sprachlich maximal differenziert werden (Hirschauer 2003, 470 nennt solche Kombinationen „Flexion“): Allen voran ist dies ‚Alter‘ (Mädchen / Junge, Frau / Mann), ‚Verwandtschaft‘ und ‚Generation‘ (Tochter / Sohn, Tante / Onkel), dane‐ ben (diachron rückläufig) ‚Klasse‘ (Dame / Herr, Gattin / Gatte, Weib / Kerl), ‚Religion‘ und ‚Funktion‘ (Nonne / Mönch), ‚sexuelle Orientierung‘ (Lesbe / Schwuler). Andere Hu‐ mandifferenzierungen werden morphologisch oder periphrastisch realisiert (Kap. 6). Ein und derselbe Ausdruck kann synchron und diachron Verschiedenes bedeuten (Bedeutungswandel). Wann, wie und warum sich semantischer Wandel vollzieht, gehört immer noch zu den am wenigsten verstandenen Phänomenen der Sprachge‐ schichte. Dies liegt daran, dass die Historische Linguistik bislang nicht konsequent und systematisch die sozialen, historischen, kulturellen und v. a. die konkreten sprachlichen Kontexte berücksichtigt hat, in die Wörter immer eingebettet sind und deren Bedeu‐ tung sie langfristig wie ein Schwamm in ihre Semantik integrieren. Hier verspricht die Korpuslinguistik, die jeden Beleg inklusive Kontext in die Hand nimmt, noch große Durchbrüche. 8.1 Etymologie von Geschlecht Geschlecht als biologische Unterscheidung von Pflanzen und Tieren sowie als soziale Unterscheidung von Menschen ist ein relativ junger Begriff. Der alte, genealogische Begriff im Sinne einer adligen oder königlichen Verwandtschaftsgemeinschaft (ein adliges Geschlecht; das Geschlecht der Habsburger) ist zwar noch präsent, weniger <?page no="195"?> 1 Auch hier schon mit Erschütterungen, wie Spektrum der Wissenschaft 2 / 2018 zu entnehmen ist: „Typisch weibliches Gehirn? Neuroforscher räumen mit einem Mythos auf “. Bislang wird in langer Tradition dem weiblichen Gehirn Devianz unterstellt, das männliche bildet die Norm. Dieser männliche Standard hat in der Medizin eine besonders lange Tradition und hat bekanntlich dazu geführt, dass es in Diagnostik und Therapie zu für Frauen zu nachteiligen Effekten kam. Die Gendermedizin ist jung. aber die Kenntnis darüber, dass sich daraus erst im 18. und 19. Jh. die (heute sogar primäre) Bedeutung der biosozialen Unterscheidung entwickelt hat. Der erste Ge‐ schlechtsbegriff umfasst viele verschiedene Geschlechter, während sich der zweite auf die Etablierung und Biologisierung der Zweigeschlechtlichkeit (die sich in den letzten Jahren auflöst) konzentriert. Ahd. gislahti ist eine Kollektiv- und Abstraktbildung zum Verb schlagen ‚nach jemandem geraten‘, noch enthalten in der Wendung nach jemandem schlagen, aus der Art / aus dem Geschlecht schlagen. Ute Frevert ist 1995 dem semantischen Wandel anhand von Konversationslexika, die das Wissen ihrer Zeit bündeln, nachgegangen. Die Metaphorisierung von der genealogischen zur biosozialen Bedeutung basiert darauf, dass Geschlecht (in bei‐ derlei Bedeutung) als „natürliches Grundprinzip gesellschaftlicher Organisation“ (22) erscheint, dass es als angeboren begriffen wird, dass das Individuum seinem Geschlecht nicht entkommen kann und dieses „seine Handlungsoptionen von der Geburt bis zu seinem Tod“ definiert (ebd.) - im Fall der Frau ist es das „Mütterlich-Heimische“, im Fall des Mannes „das Zeugend-Fremde“. Mit der Anbindung der Zweigeschlechtlichkeit an die Natur ist es ein Leichtes, darauf die (sich daraus vermeintlich natürlich ergebenden) sozialen Konsequenzen aufzutürmen, die für Frauen und Männer gerade im 19. Jh. - dazu mit einem implantierten riesigen Machtgefälle - kaum unterschiedlicher ausfallen konnten und an deren Folgen wir bis heute laborieren. Zur Verfestigung dieser Ordnung wurden im 19. Jh. sogar psychosoziale Geschlechtscharaktere erfunden und reich befüllt (s. ausführlich Frevert 1995). Im 20. Jh. zieht sich der Geschlechtsbegriff sukzessive in die Biologie zurück, und zwar in immer kleinere Einheiten (Zellen und Gene), da die größeren (z. B. Schädelumfänge und Hirngewichte) nichts mehr hergaben. Selbst im 21. Jh. wird noch nach ihm gefahndet, mittlerweile in neuronalen (Hirn-) Strukturen 1 , nachdem sich die Hormone dafür disqualifiziert hatten (Fine 2012). Eine empirisch gestützte linguistische Detailanalyse, wie und ab wann genau der alte Geschlechtsbegriff zum neuen metaphorisiert wurde, steht noch aus. Ursprünglich bedeutete Geschlecht ‚Gattung, Art‘ und grenzte Ähnliches voneinander ab. So sprach man (in Abgrenzung zu Göttern) vom Geschlecht der Menschen oder (in Abgrenzung zum Menschen) vom Geschlecht der Tiere, worin auch immer eine Hierarchie einge‐ schlossen war (Adelung 1811). Ebenso unterteilt Adelung „ähnliche[n] Individua, als ein Ganzes betrachtet“ in „[d]as männliche Geschlecht. Das weibliche Geschlecht, welches bey Menschen auch das schöne Geschlecht, das schwächere Geschlecht und das andere Geschlecht genannt wird. Einen Erben männlichen Geschlechtes bekom‐ men“. Man erkennt deutlich die darin enthaltene Distanzierung und Degradierung des weiblichen als das „schwächere“ und v. a. als „das andere Geschlecht“. Die Frau wird 194 8 Lexikon und Semantik <?page no="196"?> 2 Zu der Wurzel ie. gen(ə) ‚erzeugen, gebären‘ gesellen sich auch lat. genus ‚Art, Gattung‘, schwed. kön ‚Geschlecht‘, an. kind ‚Geschlecht, Kind, Stamm‘, engl. kind ‚Art, Gattung‘ sowie nhd. Kind ‚Erzeugtes‘ und König (< mhd. kuning, vgl. engl. king) ‚Mann eines vornehmen Geschlechts‘ (Pfeifer 1997). 3 Allerdings weist Kochskämper (1999) nach, dass ahd. man faktisch nur auf Männer referiert. Auch als reihenbildendes Zweitglied ahd. Rufnamen bildet es nur Männernamen (Hermann). exotisiert und vom Normalfall Mann (der sich bis heute weniger als Geschlechtswesen und mehr Mensch als die Frau begreift) abgerückt. Der Mann bildet dagegen das Bindeglied zum alten Geschlechtsbegriff: Nur das männliche Geschlecht ist in der Lage, das Geschlecht in der alten, koexistierenden Bedeutung der Abstammungsge‐ meinschaft fortzusetzen (konserviert im sog. Familiennamen, früher Geschlechtsname genannt, der sich bis heute - trotz namentlicher Wahlfreiheit - mehrheitlich über das Y-Chromosom fortpflanzt; Kap. 9.2). Die Übertragung des alten Geschlechtsbegriffs auf die Frau / Mann-Unterscheidung pfropft letzterer einen Artunterschied auf und dissimiliert beide Geschlechter zu unterschiedlichen Spezies. Hier haben künftige historisch-semantische Forschungen anzusetzen. 8.2 Etymologie von Frauen- und Männerbezeichnungen Hausherr-Mälzer (1990) und Kochskämper (1993) gehen den ursprünglichen Bedeu‐ tungen, den sog. Benennungsmotiven von Bezeichnungen für Frau, Mann und Mensch nach. Dabei lässt sich auf weiblicher Seite feststellen, dass entweder die Relation zum Mann oder die Fortpflanzung thematisiert wird. Die Frau wird als Geschlechtswesen konzipiert. Das geläufigste Wort Frau geht auf ahd. frouwa in der standeshohen Bedeutung ‚Herrin‘ zurück und wird als Femininableitung von ahd. frō ‚Mann‘ betrachtet (dieses Lexem ist noch in Frondienst, Fronleichnam, frönen erhalten); frō ist urverwandt mit lat. pro ‚vor‘, womit ‚der Vordere, Voranstehende‘ der semantische Kern war. Für die Frau als solche galt (noch ohne Abwertung) ahd. wīb, dessen Etymologie sowie Genus‐ herkunft im Dunkeln liegt; meist wird es an Wörter angeschlossen, die ‚umwinden, -wickeln, -hüllen, bekleiden‘ bedeuten und wahrscheinlich (im allgemeinsten Sinn) auf die Bekleidung der Frau rekurrieren (ob mit einem Kopftuch umhüllt und damit ihren Status als Braut oder Ehefrau signalisierend, wird öfter erwogen [Pfeifer 1997, Hausherr-Mälzer 1990, 34 f.], bleibt aber spekulativ). Erwogen wird auch die Bedeutung als ‚die in geschäftiger Bewegung Befindliche‘ (ebd.), womit es sich um die Dienende handeln könnte. Heute ausgestorben ist das im Ahd. übliche Wort kona < quena (vgl. engl. queen ‚Königin‘, schwed. kvinna ‚Frau‘), das mit griech. gyné ‚Gebärerin‘ verwandt ist und damit eine biologische Funktion benennt. 2 Dies tut auch lat. femina mit der Ursprungsbedeutung ‚Säugerin‘. Ganz anders beim Mann, wo weder Frau noch Biologie eine Rolle spielen. Ahd. man vereinte - so wie in romanischen Sprachen bis heute - die Bedeutung ‚Mann‘ und ‚Mensch‘, was den Mann als Repräsentanten der Gattung Mensch nahelegt. 3 Das 8.2 Etymologie von Frauen- und Männerbezeichnungen 195 <?page no="197"?> 4 Genaugenommen sind es mehr, und alle definieren sich durch Bezug zum Mann, z. B. ahd. kebisa ‚Kebse, Nebenfrau, Dirne‘, ahd. huora ‚Hure‘, mhd. juncvrouwe, juncfer ‚unverheiratete Frau‘ > nhd. Jungfrau, Jungfer ‚unberührte Frau‘, nhd. Fräulein ‚unverheiratete Frau‘. Generell spielt(e) das sog. Virginitätskriterium bei Frauen eine enorme Rolle. Seit einiger Zeit kann Jungfrau prädikativ auch auf Männer bezogen werden: er ist noch Jungfrau. 5 Die Irrelevanz der Ehe für einen Mann und umgekehrt das große Interesse daran, ob eine Frau ver‐ heiratet ist und mit wem, bestätigt sich nicht nur in heutigen Wörterbüchern (Kap. 8.6), sondern auch in Porträts von Frauen vs. Männern in Zeitungen und anderen Medien sowie im Literaturbrockhaus (s. Pusch 1999, 87-92). 6 Ob, wie Hausherr-Mälzer (1990, 89) behauptet, es ungrammatisch sei, Otto ist Ernas Witwer zu bilden, während Erna ist Ottos Witwe üblich sei, ist zu bezweifeln. Wort wird über ie. *men(ə) ‚denken, geistig erregt sein‘ zu lat. mens, mentis gestellt und bedeutete ‚denkendes Wesen‘. Herr geht auf ahd. hēr(i)ro, den Komparativ zum Adjektiv hēr ‚alt, ehrwürdig‘, zurück und bedeutete ‚Höhergestellter, Gebieter, Herrscher‘. Der einstige Komparativ wurde zu hērre kontrahiert und später zu Herr gekürzt und apokopiert. Es scheint eine Lehnübersetzung aus lat. senior in gleicher Bedeutung zu sein. Herr ist auch die Anrede (und ein Synonym) für Gott und galt bis ins 18. Jh. als Anredenomen für Männer hohen Standes. Erst dann ist es zur allgemeinen höflichen Anrede inflationiert. Im Ahd. gab es noch mehr Bezeichnungen für den Mann, die immer seine gesellschaftliche Position herausstellten: ahd. truchtīn ‚Herr‘ stellt sich zu truht ‚Kriegerschar‘ und bedeutete ‚Gefolgsherr‘, später ‚Herr‘ (auch für Jesus). Ahd. wer ist urverwandt mit lat. vir (zu vis ‚Kraft‘) und bedeutete ‚der Krafterfüllte‘; heute ist das Wort noch in Werwolf ‚sich wie ein Wolf gebärdender Mann‘ enthalten sowie in Welt < Werlt < ahd. wer-alt ‚Zeitalter eines Menschen / Mannes, gesamte Schöpfung‘ (engl. world, schwed. värld). Ahd. gomman ist ein Kompositum aus gomo ‚ehrenvoller Mann‘ (zu lat. homo ‚Irdischer, aus Erde Gemachter‘) und man. Nhd. Mann und Frau entsprach im frühen Ahd. gomman inti wīb, später man unde wīb. Kochskämper (1993) schlussfolgert, dass sich der Mann nie über die Frau, sondern nur über seinen Sozialstatus definiert. Er grenzt sich von Göttern, Tieren und anderen Männern ab. Die Frau dagegen hat und ist Geschlecht und leitet sich sprachlich häufig aus dem Mann ab. Kochskämper erfasst diese strukturelle Asymmetrie mit der Formel „Mann = Mensch, Frau = Geschlecht“ (170). Zu Parallelen in der heutigen Welt der Wörterbücher s. Kap. 8.6, in der Bildwerbung Kap. 14.2.2. Zwei Lexeme eignen exklusiv der Frau, nämlich Braut als noch nicht und Witwe als nicht mehr verheiratete Frau (Witwe geht auf ‚leer sein, Mangel haben‘ zurück). 4 Beide Stadien waren für die Frau von höchster sozialer, im Fall der Witwe sogar existenzieller Bedeutung (Witwenmorde), während die soziale Stellung des Mannes nicht von einer Frau abhing (Hausherr-Mälzer 1990, 87 ff.). 5 Dies erklärt, dass Braut und Witwe Basisbegriffe (Simplizia) bilden und hieraus Bräutigam (-gam < ahd. gomo) und (später) Witwer abgeleitet wurden (Kap. 6.2.2.2). 6 Motschenbacher (2013) stellt für das Englische fest, dass es nur diese beiden Frauenexistenzen sind, die sich in binomialartigen Aufzählungen vor den Mann stellen (bride and groom, widow and widower). Für das Deutsche ergibt die Folge Witwe(n) und Witwer ebenfalls höhere Werte als Witwer und Witwe(n), ebenso Braut und Bräutigam (Kap. 7.2). 196 8 Lexikon und Semantik <?page no="198"?> 7 Frauenzimmer basiert auf einer metonymischen Verschiebung von ‚Gemach der Herrin / Aufent‐ haltsort der Frauen‘ (15. Jh.) > ‚weibliche Dienerschaft‘ (16. Jh.) > ‚Frau‘ (17. Jh.) (nach Pfeifer 1997). Noch im Ahd. hat die fehlende lexikalische Differenzierung zwischen ‚Mann‘ und ‚Mensch‘ zur maskulinen Neubildung mennisco, einem Adjektiv zu man (wörtlich ‚männisch‘), geführt, das später zu mensche, Mensch kontrahiert wurde - anfänglich in Bezug auf Jesus, um seine menschliche Natur von seiner Göttlichkeit abzugrenzen (Kochskämper 1993, 1999). Zu dieser Neubildung gesellt sich im 16. Jh. das aus dem Lateinischen entlehnte Femininum Person (Doleschal 1992, 13), welches umgekehrt (kontextenthoben) eher Frauen assoziieren lässt (Kap. 5.1.12). 8.3 Pejorisierung von Frauenbezeichnungen In der historischen Semantik stellen die Frauenbezeichnungen das Paradebeispiel für den semantischen Wandeltyp der Pejorisierung (Bedeutungsverschlechterung) dar - oft mit lexikalischen Konsequenzen, denn neue Lexeme (z. B. Dame aus dem Franzö‐ sischen) mussten die entstandenen Lücken füllen. Genauer besteht die Pejorisierung in sozialer und moralischer Degradierung, Funktionalisierung (Verschiebung in den niederen Dienstleistungsbereich) sowie Sexualisierung (Nübling 2011). Damit werden Frauen aus männlicher Perspektive evaluiert. Schulz (1975), die Pejorisie‐ rungen im Englischen untersucht, identifiziert männliches Sprechen und Bewerten hinter diesen semantischen Abwertungen, von denen Männerbezeichnungen (auch im Deutschen) ausgenommen sind. Prominentestes Beispiel ist das Schimpfwort Weib, das früher neutral die Frau bezeichnete. Diese alte, wertneutrale Bedeutung ist noch im Adjektiv weiblich kon‐ serviert: weibliche Erscheinung, weibliche Führung. Ebensowenig wurde das tierliche Weibchen degradiert, das sich nach wie vor zum Männchen stellt. Das heutige humane Pendant zu Mann ist aber nicht mehr Weib, sondern Frau: Wie in Kap. 8.2 erwähnt, bezeichneten ahd. frouwa / mhd. vrouwe die sozial hochstehende Frau, die Herrin. In‐ dem Frau heute nur noch den Oberbegriff für ‚weiblicher erwachsener Mensch‘ bildet, hat eine soziale Abstufung (Destratifizierung) stattgefunden. Die sozial hochstehende Frau wurde zunächst durch das Kompositum Frauenzimmer ersetzt. 7 Nachdem auch dieses abgewertet war, wurde im 17. Jh. Dame aus dem Französischen entlehnt. Das Mädchen war im Ahd. die diorna. Mhd. dierne bezeichnet schon die (sozial abgestiegene) Dienerin (Funktionalisierung), nhd. Dirne schließlich die Prostituierte (Sexualisierung). Der diminuierte Gallizismus Mademoiselle (anfangs standeshoch) ist als Mamsell (z. B. Küchenmamsell) ebenfalls in den niederen Dienstleistungsbereich abgesunken. Mhd. maget bezeichnete einst die Jungfrau (auch Maria). Heute verrichtet die Magd einfache Tätigkeiten. Derzeit sind von Pejorisierung betroffen: Fräulein als ‚Kellnerin‘, Dame, Mädchen, Hostess, Escort(girl) als ‚Prostituierte‘ (zu Fräulein s. Kap. 6.2.2). Untersuchungen zum Englischen und Französischen bestätigen solche Pejorisierungen (Schulz 1975). 8.3 Pejorisierung von Frauenbezeichnungen 197 <?page no="199"?> Hinter diesem historischen Leitmotiv der Pejorisierung vermutet Keller (1995) ein Paradox, das nicht etwa aus frauenfeindlicher, sondern ganz im Gegenteil aus einer besonders frauenfreundlichen Praxis resultiere: In unserer Kultur herrsche ein Höflich‐ keitsbzw. Galanteriegebot speziell Frauen gegenüber. Die ihr geltende sprachliche Sonderbehandlung äußere sich u. a. darin, dass man sie „lieber eine Stilebene zu hoch als zu tief “ (Keller 1995, 217) adressiere: Diese Strategie ist selbstzerstörend. Denn sie führt dazu, daß auf längere Sicht immer das ‚nächsthöhere‘ Wort zum normalen wird, wodurch automatisch das ehedem normale eine Bedeutungsverschlechterung erfährt. Das allgemeine Muster heißt: Wer höflich sein will, muß das Besondere wählen. Wenn aber viele das gleiche Besondere wählen, verliert es den Charakter des Besonderen und wird zum Normalen, so daß etwas neues Besonderes gewählt werden muß. Das ist immer wieder passiert mit den frauenbezeichnenden Wörtern […]. Dieser Prozeß wird so lange andauern, wie in unserer Kultur das Spiel der Galanterie gespielt wird. (Keller 1995, 217) Sprache sei damit weniger Spiegel als Zerrspiegel der Kultur. Keller wirft denen, die hier Reflexe historischer Frauenverachtung sehen, „lineares Denken“ vor: Vertreter linearen Denkens könnten latente Frauenfeindlichkeit unserer Gesellschaft hinter diesem Trend wittern, der die einzelnen Sprecher dazu führt, solch ein Wort mit der Zeit immer ‚ein bisschen pejorativer‘ zu verwenden. Aber wie macht man das, ein Wort ‚ein bisschen pejorativer‘ zu verwenden? Alma Graham [1975: 61] postuliert „the tendency in the language that I called, praise him / blame her‘“. Die Pejorisierung der Ausdrücke ‚Weib‘, ‚Frau‘ u. a. wurde jedoch […] durch die Maxime ‚praise her‘ hervorgebracht. […] Fazit: das Motiv der Galanterie auf der Ebene der Individuen führt auf der Ebene der Sprache langfristig wie von unsichtbarer Hand geleitet zur Pejorisierung. Es handelt sich dabei um eine Form der Inflation. (Keller 1990: 103 f.) Bei genauerem Hinsehen übersieht Keller einiges. Zunächst handelt es sich bei den meisten Pejorisierungen nicht um bloße Inflationierungen, denn dann fielen nur Seme (Bedeutungskomponenten) weg wie ‚adlig‘ oder ‚sozial hochstehend‘. Dies trifft nur auf Frau als heute statusindifferente Normalbezeichnung zu (Bedeutungserweiterung). Allerdings betrifft dies neben Frau auch Herr in der Anrede (was Keller übersieht), also in adressierender Funktion - und genau hier manifestiert sich ja Höflichkeit am deutlichsten. Wenn man über Menschen spricht, braucht man nicht höflich zu sein, sofern sie nicht gerade anwesend sind und zuhören, wohl aber, wenn man sie anspricht. Und schließlich hatten und haben sich natürlich auch Frauen gegenüber Männern höflich zu verhalten (ebenso Frauen und Männer gegenüber ihresgleichen) - eine Tatsache, die Keller mit dem einseitigen Galanteriebegriff ausblendet. Auch Frauen greifen „lieber eine Etage zu hoch als zu niedrig“: In der Öffentlichkeit werden nicht nur Frauen als Damen tituliert, sondern auch Männer als Herren, allerdings ohne dass dies die Pejorisierung entsprechender Männerbezeichnungen nach sich gezogen hätte. 198 8 Lexikon und Semantik <?page no="200"?> 8 Die kontrastive Genderforschung hat gezeigt, dass Pejorisierungen weiblicher Personenbezeichnun‐ gen auch in Kulturen fern jeglichen Galanteriegebots vorkommen. Croft (1997) bemerkt in einer Rezension zu Keller, dass die Abwertung der Bezeichnungen für schwarze Menschen in den USA (colored, negro, black) keinesfalls auf Höflichkeit, Galanterie oder irgendeine Art von Aufwertung zurückgehen könne (da nie vorhanden), sondern einzig auf Rassismus. Und in Kreisen, in denen man sich nach der Gattin oder Gemahlin erkundigt, erkundigt man sich ebenso nach dem Gatten oder Gemahl. Bei allen anderen Pejorisierungen versagt Kellers Inflationskonzept, denn diese be‐ stehen nicht im Verlust, sondern im Zuwachs semantischer Merkmale wie z. B. ‚sexuell verfügbar‘, ‚liederlich‘, ‚dienend‘ (rechter Kasten in Abb. 8-1). Diese zusätzlichen Seme spiegeln das Bild der Frau der vergangenen Jahrhunderte und sind direkte Reflexe soziokultureller Verhältnisse und des (männlichen) Sprechens über Frauen. 8 186 gezogen hätte. Und in Kreisen, in denen man sich nach der Gemahlin erkundigt, erkundigt man sich ebenso nach dem Gemahl. Bei allen anderen Pejorisierungen versagt Kellers Inflationskonzept. Diese bestehen nicht im Verlust, sondern im Zuwachs semantischer Merkmale, z.B. ‚sexuell verfügbar‘, ‚liederlich‘, ‚dienend‘ (rechter Kasten in Abb. 8-1). Diese zusätzlichen Seme spiegeln ziemlich exakt das Bild der Frau der vergangenen Jahrhunderte und sind direkte Reflexe soziokultureller Verhältnisse und des (männlichen) Sprechens über Frauen. 9 5F 96 Abb. 8-1: Inflationäre und nicht-inflationäre Prozesse bei der Pejorisierung (aus Nübling 2011) Mit Keller erklärbar: Nicht mit Keller erklärbar: Dieses Sprechen reflektieren auch historische Wörterbücher als Kondensat kultureller Einstellungen (welche sich auch in Sprichwörtern verfestigen; Kap. 8.4). Warnke (1993) liefert mit der „Belegung von ‚frau‘ und ‚weib‘ in […] Wörterbüchern des 16. und 17. Jhs.“, eine wichtige Studie zum lexikografischen Geschlechterbild. Er stellt fest, dass Frauen zu über 30 % mit „Ehe, Familie und Häuslichkeit“ verbunden werden und zu ca. 20 % bewertet werden. Diese insgesamt 82 bewertenden Belege erweisen nichts anderes als die durchgängig häufige Abwertung von Frauen […], finden sich doch kaum Aufwertungen oder Tugendüberhöhungen in den untersuchten Quellen. […] [B]ei 96 Die kontrastive Genderforschung hat gezeigt, dass Pejorisierungen weiblicher Personenbezeichnungen auch in Kulturen fern jeglichen Galanteriegebots vorkommen. Croft (1997) bemerkt in einer Rezension zu Keller, dass die Abwertung der Bezeichnungen für Schwarze in den USA (colored, negro, black) keinesfalls auf Höflichkeit, Galanterie oder irgendeine Art von Aufwertung zurückgehen könne (da nie vorhanden), sondern einzig auf Rassismus. Soziale Degradierung als Folge von Inflationierung (Bedeutungserweiterung durch Semverlust) Frau: ‚adlige Frau‘ > ‚Frau‘ Frau in der Anrede vor Namen Herr in der Anrede vor Namen Funktionalisierung und Sexualisierung als echte Pejorisierung (Bedeutungsveränderung durch Semzuwachs) Magd: ‚Frau‘ > ‚Magd‘ Weib: ‚Frau‘ > ‚niedrige, primitive Frau‘ Dirne: ‚Mädchen‘ > ‚Prostituierte‘ Mamsell: ‚hochstehende junge Frau‘ > ‚Küchenhilfe‘, ‚Prostituierte‘ Frauen- ‚Gefolge‘ > ‚Dame der Fürstin‘ > zimmer: ‚liederliche Frau‘ Abb. 8-1: Inflationäre und nicht-inflationäre Prozesse bei der Pejorisierung (aus Nübling 2011) Dieses Sprechen reflektieren auch historische Wörterbücher als Kondensat kul‐ tureller Einstellungen (welche sich auch in Sprichwörtern verfestigen; Kap. 8.4). Warnke (1993) liefert mit der „Belegung von ‚frau‘ und ‚weib‘ in […] Wörterbüchern des 16. und 17. Jhs.“, eine wichtige Studie zum lexikografischen Geschlechterbild. Er stellt fest, dass Frauen zu über 30 % mit „Ehe, Familie und Häuslichkeit“ verbunden und zu ca. 20 % bewertet werden. Diese insgesamt 82 bewertenden Belege erweisen nichts anderes als die durchgängig häufige Abwertung von Frauen […], finden sich doch kaum Aufwertungen oder Tugendüberhöhungen in den untersuchten Quellen. […] [B]ei Schottelius nimmt die Dequalifizierung sogar den ersten Rang ein. Bezeichnungen wie ‚närrische fraw, dumme fraw, kiefende fraw‘ etc. sind zumeist im Kontrast zu männlich positiven Attributen zu sehen. (Warnke 1993, 144) „Körper / Bekleidung“ bezieht sich ebenfalls auf das Äußere der Frau und wird zu 12 % thematisiert, dicht gefolgt von „Sexualität“ (11 %), die gemäß Warnke die Frau 8.3 Pejorisierung von Frauenbezeichnungen 199 <?page no="201"?> ausnahmslos als Verführerin, Hure und Sexualobjekt darstellt. Vor diesem Hintergrund verwundern die semantischen Entwicklungen nicht, die sich, ausgehend von solchen negativen Kontexten, nach und nach in den Bezeichnungen selbst festgesetzt haben. Einen Vergleich mit den Männereinträgen hat Warnke nicht vorgenommen, dies hat (in einer Magisterarbeit) Blankenberger (2003) getan, der sich Warnkes Methode anschließt und weitere Wörterbücher aus dem 18. und 19. Jh. einbezieht. Tab. 8-1 enthält seine Ergebnisse. Rang Bedeutungskategorie Frau / Weib Mann Belege % Belege % 1. Ehe, Familie, Häuslichkeit 181 35,2 % 36 6,1 % 2. Qualifizierung / Bewertung 69 13,4 % 173 29,2 % 3. Geschlechtsbeziehungen 56 10,9 % 14 2,4 % 4. Körper / Bekleidung 63 12,3 % 21 3,5 % 5. Sexualität 48 9,3 % 14 2,4 % 6. Sozialstellung 75 14,6 % 227 38,3 % 7. Allg. Lebensumstände 19 3,7 % 108 18,2 % 8. Theologie (Marienverehrung) 4 0,8 % - - Summe 515 100 % 593 100 % Tab. 8-1: Bedeutungskategorien von Frau, Weib und Mann in historischen Wörterbüchern nach Blan‐ kenberger (2003) Zu Tab. 8-1: Ungefähr in dem Maß, in dem die Frau dem Kontext „Ehe, Familie, Häuslichkeit“ zugeordnet wird, wird beim Mann seine Sozialstellung thematisiert (graue Zellen). Rubrik 2, „Qualifizierung / Bewertung“, betrifft zwar mit fast 30 % auch den Mann. Untersucht man jedoch die Qualität der Bewertung (was Tab. 8-1 nicht anzeigt), so wird der Mann zu 75 % positiv, die Frau dagegen zu 72,5 % negativ dargestellt. Auch die Rubrik „Sexualität“ differiert: Ist sie beim Mann von marginaler Bedeutung (2,4 %), beträgt sie bei der Frau mit 9,3 % fast das Vierfache; dabei tritt die Frau zu 50 % als Sexualobjekt des Mannes und zu 50 % als Unzüchtige bzw. Prostituierte auf. Die Bewertungen sind ausnahmslos negativ. Insgesamt erscheint der Mann kein einziges Mal als Vater, die Frau und v. a. das Weib dagegen überwiegend als Mutter. Der Familienstand ist bei Frau und Weib grundsätzlich hoch-, beim Mann irrelevant. Solche Geschlechterstereotype ziehen sich unreflektiert bis in heutige Wörterbücher des 21. Jhs. hinein (Kap. 8.6). Dieser gesamte Komplex der Pejorisierung ist noch ungenügend durchdrungen. Das Beispiel zeigt, wie vielschichtig das Thema ist und dass monokausale Erklärungen, 200 8 Lexikon und Semantik <?page no="202"?> 9 Noch nicht recht gedeutet, aber mit dem Ausdruck von Respekt verbunden ist ein dialektaler Befund, der es verbietet, Mütter und Väter zu pronominalisieren, d. h. hier kann man bei einer bereits vorgenannten Mutter (z. B.: Gestern hatte meine Mutter Geburtstag) nicht sagen, *Sie ist 45 geworden, man muss sie renominalisieren: Die Mutter ist 45 geworden. Das pure Pronomen wirkt respektlos, ähnlich wie das Zeigen mit dem Finger auf eine Person (Bellmann 1990; Busley 2021, 210). so bestechend einfach sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, unzulänglich sind. Dieser Wandel ist nur korpusbasiert über Kontext- und Kollokationsanalysen zu erklären (so fällt auf, dass weib historisch häufig mit alt, bös, hässlich, zänkisch, keifend kookkurriert). Auch scheint sich die Pejorisierung weniger im Mhd. als erst ab dem 16. / 17. Jh. vollzogen zu haben; hier wären grobe Datierungen wichtig. Einen ersten korpusbasierten Vorstoß unternimmt Szczepaniak (i. A.), die zeigt, dass sich schon im Mhd. die Attribute von (damals semantisch neutralem) wîp und man unterscheiden. Unter den 20 häufigsten Adjektiven bei wîp befinden sich elent, alt, übel, bœse, süntig. Bei man fehlen elent, übel, bœse, hinzu kommen ungetriuwe ‚treulos‘ (als Gefolgsmann) und listig. Diese Diskrepanz verschärft sich im Frühnhd., wo Szczepaniak neben Weib auch Frau berücksichtigt (die neben hässlich oft stumm ist). Grundsätzlich müssten auch Komposita berücksichtigt werden; so weisen Komposita mit -mädchen wie Haus-, Zimmer-, Kinder-, Milch-, Freudenmädchen in ein und dieselbe (untergebene, dienende, auch sexualisierte) Richtung und ‚färben‘ auf Mädchen ab. Wörter betreiben nie isolierten semantischen Wandel, vielmehr integrieren sie nach und nach ihre typischen Gebrauchskontexte in ihre Kernbedeutung. Wirft man umgekehrt einen Blick auf semantisch stabile Frauenbezeichnungen, so gelangt man zur Mutter, die seit ca. 6000 Jahren Bestand hat. Leitmotivartig zieht sich ein riesiges Gefälle zwischen der Frau als Ehefrau und Mutter einerseits, andererseits als junge, ledige, mann- und verfügbare Frau, grammatisch begleitet von einer markanten Genuszäsur. Die Mutter 9 befindet sich semantisch in einer Art Schutzhülle, bleibt kernsemantisch stabil und frei von Synonymen, wird nicht von Entlehnungen affiziert, eignet sich schlecht für Beschimpfungen (Kap. 8.4), erfährt eine frühere Großschreibung als andere Frauenbezeichnungen (Kap. 10.1) und gehört der ‚richtigen‘ Genusklasse (Femininum) an (Kap. 4.3.6), während Bezeichnungen für das Mädchen sich oft in der ‚falschen‘, unbelebten Genusklasse des Neutrums befinden, semantisch und lexikalisch instabil sind, durch zahlreiche Entlehnungen ausgetauscht und angereichert werden (Girl, Babe, Playmate, Bunny, Pin-up, Hottie etc.), häufig diminuiert und semantisch immer wieder funktionalisiert (verdienstmagdet), sexualisiert und pejorisiert werden. Der diesbezügliche Verschleiß (und Neuzuwachs) an Lexemen ist bemerkenswert. Wörter wie Fräulein, Frauenzimmer, Frauensperson, Mamsell sind verschwunden, andere bei der Bedeutung als ‚Prostituierte‘ (Dirne, Dame, Mädchen) gelandet. Sobald sich jedoch die Frau an den Mann bindet und fortpflanzt, ist sie zugriffsgeschützt. Männerbezeichnungen bleiben von all diesen Unterscheidungen lexikalisch, semantisch und grammatisch unaffiziert. 8.3 Pejorisierung von Frauenbezeichnungen 201 <?page no="203"?> 8.4 Geschlechter in Schimpf- und in Sprichwörtern Die feministische Linguistik setzte mit der Kritik daran ein, dass es angeblich mehr Schimpfwörter bzw. Negativbezeichnungen für Frauen und Mädchen gebe als für Männer. Trömel-Plötz (1982, 44) erwähnt an weiblichen Schimpfwörtern Klatschbase, Kaffeetante, Unschuld vom Lande, Nervensäge, Beißzange, Giftnudel, dumme Gans, dicke Nudel, während Männer angeblich besser wegkämen, da dumme bzw. dicke Männer nicht als dumme Gans bzw. dicke Nudel bezeichnet würden. Dies hat zu Kon‐ troversen geführt, in denen solche Beispiele mit exklusiv männlichen Schimpfwörtern verrechnet wurden (z. B. Kalverkämper 1979, 62). Empirische oder statistisch fundierte Untersuchungen sind eher selten (s. Batliner 1981). Mit dem Thema befasst haben sich auch Hausherr-Mälzer (1990) und Breiner (1996). Kein Zweifel besteht jedoch an der androzentrischen Sicht, die den meisten dieser Ausdrücke zugrundeliegt: Die Frau - wie auch der Mann - wird aus männlicher Perspektive bebzw. abgewertet und diszipliniert. Geschlechtspräferentiell-weibliche ‚Verstöße‘ sind nach Ausweis der Schimpfwörter primär • das (zu hohe) Alter der Frau (alte Schachtel), • Geschwätzigkeit (Quasselstrippe), • Klatsch- und Streitsucht (alte Giftspritze, Kratzbürste) sowie • ihre Liederlichkeit, v. a. ihre sexuelle Freizügigkeit bzw. Selbstbestimmung (Flitt‐ chen, Schlampe). Beim Mann wird primär • Homosexualität getadelt (schwule Sau), • Schwäche und Feigheit (Schlappschwanz, Waschlappen) sowie • sexuelle Zudringlichkeit (geiler Bock) (Breiner 1996, 106-111). Das heißt, (fortgeschrittenes) Alter gereicht eher der Frau zum Nachteil, ebenso Geschwätzigkeit, Widerspruch und Kritik. Beim Mann sind es Homosexualität und nicht-dominante Charakterzüge. Mit Breiner (1996): „Frauen sollen jung, still und somit gehorsam sowie sexuell zurückhaltend sein; Männer sollen heterosexuell, stark und somit durchsetzungsfähig sein und sich sexuell angemessen verhalten“ (111). Dies bestätigt auch die dialektologische Studie von Schrambke (2002) zum Aleman‐ nisch-Schwäbischen (ähnlich für die Schweiz s. Lötscher 1993, Christen 2013, Chris‐ ten / Elmiger 2015). Hier wurde (über ein Fragebuch) gezielt nach bestimmten negativ bewerteten Typen wie der dicken, herrschsüchtigen, schwatzhaften etc. Frau gefragt - nach Schimpfwörtern für Männer dagegen erstaunlicherweise nicht (Kap. 8.7). Sie tauchen jedoch - jenseits der Befragung - im sog. Spontanmaterial (im freien Gespräch) auf. Daher wird für den Frau / Mann-Vergleich nur das Spontanmaterial berücksichtigt. Hier entfallen auf die Frau 333 verschiedene Negativbezeichnungen, auf den Mann nur 131. Bei Schimpfwörtern mit Bezug auf sexuelle Freizügigkeit führen die Frauen mit 46 unterschiedlichen Lexemen, Männer kommen nur auf zwei. Die zweitgrößte Gruppe mit Frauenbezug stellt Herrschsucht & Boshaftigkeit dar (35 Lexeme für Frauen, 5 für 202 8 Lexikon und Semantik <?page no="204"?> Männer), außerdem Korpulenz (35 zu 6), danach Unsauberkeit & Unordentlichkeit, Betagtheit & Hässlichkeit sowie Schwatzhaftigkeit. Dahinter wird die Rolle der jungen, hübschen, schlanken, bescheidenen, stillen und treuen Ehe- und Hausfrau sichtbar. Bei Dummheit & Einfalt besteht zwischen Frau und Mann Gleichstand (je 29 Lexeme), gleichzeitig bildet dies das häufigste Motiv beim Mann. Der zweithäufigste männliche Makel betrifft Unehrlichkeit, danach Grobheit & Ungeschlachtheit, Ungeschicklichkeit, Sonderbarkeit und Langsamkeit: Dahinter tritt der Mann als kluger Familienvorstand sowie ehrlicher, geschickter und schneller Arbeiter hervor. Quantitativ und qualitativ deutlich asymmetrischer verhält es sich mit alemanni‐ schen Schimpfwörtern für Mädchen und Jungen (Schrambke 2002, 265 ff.). Von 51 geschlechtsspezifischen Lexemen beziehen sich 46 auf Mädchen und nur 5 auf Jungen, klar angeführt (bei den Mädchen) von sexueller Freizügigkeit, gefolgt von Dummheit & Einfalt, Magerkeit, Dickheit, Eitelkeit, Frechheit etc. Die für die Erwachsenen geltenden Rollenbilder werden von Kindern früh ein‐ geübt. Dabei gelten für Mädchen strengere Vorschriften als für Jungen. Bei letzteren werden nur Frechheit und körperliche Schmächtigkeit getadelt. Mädchen werden bzw. wurden somit von Anfang an auf ihre Rolle zugerichtet, ihre gesellschaftliche Passung erfordert(e) eine frühere Disziplinierung als beim Jungen. Sprichwörter sind Sätze, die kurz und prägnant allgemeine Lebensweisheiten oder gesellschaftliche Erwartungen formulieren: Aus Knaben werden Leute, aus Mädchen werden Bräute. Die Entstehung von Sprichwörtern liegt im Dunkeln; sie können auf Zitate zurückgehen, deren AutorIn nicht mehr bekannt ist. Da sie in gebundener Form über lange Zeit hinweg tradiert werden, konservieren sie ungefiltert oft drastisch und unverblümt formulierte Einstellungen früherer Jahrhunderte. Dies betrifft auch Geschlechterstereotype. Sprichwörter sind in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen, da sie einen Wahrheitsanspruch enthalten, ungeprüft übernommen werden und keinen Widerspruch evozieren. Ihre stereotypen Inhalte werden nicht mit eigenen Erfahrun‐ gen abgeglichen. Die meisten geschlechtsbezogenen Sprichwörter sind heute nicht mehr in Um‐ lauf, wie die in der Literatur genannten, meist alten Sammlungen entnommenen Exemplare immer wieder erweisen (z. B. Daniels 1985; Hufeisen 1993; Breiner 1996; Schipper 1996). Zu den bekannteren gehört Ein Mann, ein Wort - eine Frau, ein Wörter‐ buch, wo männliche Entscheidungsmacht weiblicher Geschwätzigkeit gegenübersteht. Das Sprichwort Aus Knaben werden Leute, aus Mädchen werden Bräute macht die in Kap. 8.2 zitierte Formel ‚Mann = Mensch, Frau = Geschlecht‘ explizit mit dem Mann im Zentrum und der Frau als relationalem Geschlechtswesen. Sprichwörter sind mehrheitlich negativ (sozial disziplinierend) und tadeln ähnliche Eigenschaften wie Schimpfwörter. Nach Breiner (1996, 135-139) und Daniels (1985) ist dies bei Frauen 8.4 Geschlechter in Schimpf- und in Sprichwörtern 203 <?page no="205"?> zu viel oder falsches Sprechen (Ist eine Frau auch dumm, so ist sie niemals stumm), Ungehorsam und List (Mannes List ist behende, Frauen List hat kein Ende), Boshaftigkeit (Gleichwie aus den Kleidern Motten kommen, also kommt von den Weibern viel Böses), Dummheit (Weiber haben langes Haar und kurzen Sinn), mangelnde Häuslichkeit (Die Frau und der Stubenofen gehören ins Haus) und Lebensfreude. Sprichwörter mit männlicher Referenz sind überwiegend positiv formuliert und legen Wert darauf, dass der Mann herrscht (Der Herr befiehlt und nicht sein Knecht), notfalls auch züchtigt (Wer am Weib den Bengel spart, ist kein Mann von rechter Art), ein Vorbild ist (Wie der Herr, so’s Gscherr) und fleißig (Bist du ein Mann, so streng dich an). Schipper (1996) hat Sprichwörter über Frauen in Europa (und darüber hinaus) gesammelt und unterteilt sie in Hinblick auf sog. Lebensphasen: Mädchen, Frau, Ehefrau, Mutter, Tochter, Stiefmutter, Schwiegermutter, Witwe, Großmutter, alte Frau. Das Gros davon wird negativ gezeichnet-- bis auf die folgende Ausnahme: Es war auffallend, dass die einzige allgemein positiv beurteilte Kategorie die Rolle der Frau als Mutter war: einzigartig, liebevoll, vertrauenerweckend, hart arbeitend. […] Geht es nicht um Mutterschaft, wird die Frau in Sprichwörtern in der Regel als eher untreu denn tugendhaft vorgestellt. […] Frauen und Mädchen müssen ständig unter Kontrolle gehalten werden. […] Die schweigsame und unterwürfige Art wird wärmstens empfohlen. (18) Wie in Kap. 9.3 ausgeführt wird, durchläuft die Frau in unserer Gesellschaft drei Geschlechtsstadien, von denen das letzte mit Ehe und Mutterschaft das wichtigste ist und die Frau zu ihrer sozialen Vervollkommnung führt (zum Genuswechsel an dieser Schwelle s. Kap. 4.3.6, zum Namenwechsel Kap. 9.2). Die anderen beiden sind bloße Durchgangsstadien, bei denen die Jungfräulichkeit zu hüten ist (Jungfern und Gläser schweben in steter Gefahr). Das ledige (‚sitzengebliebene‘) Mädchen, auch davor warnen Sprichwörter, blamiert nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Vater. Seine Haltbarkeit ist nur von kurzer Dauer. Die Ehe erlegt Frauen deutlich mehr Verhaltensregeln auf als Männern (Schipper 1996, 38; zu Reichtum und Funktion von Sprichwörtern in Wörterbüchern s. Blanck / Moshövel 2022). Wie für die Schimpfwörter gilt auch für Sprichwörter, einschließlich der männer‐ bezogenen, ihr offensichtlicher Androzentrismus: Das männliche Interesse an der zutagetretenden Geschlechterordnung ist nicht zu übersehen. 8.5 Geschlechter im Wortschatz (Lexikon) In Kap. 6 zur Morphologie wurde bereits darauf hingewiesen, dass es ein wichtiger Unterschied ist, ob ein Wort ein (morphologisch nicht segmentierbares) Simplex ist (Koch) oder eine Wortbildung (Köchin). Heutige Simplizia haben ihren Ursprung oft in früheren Wortbildungen (so Herr aus dem Komparativ von ‚hehr, ehrwürdig‘ 204 8 Lexikon und Semantik <?page no="206"?> 10 Vgl. www.dwds.de bzw. www.ids-mannheim.de/ cosmas2/ . oder Frau als Ableitung aus ahd. frō ‚Herr‘) oder in Konversionen (Jugendliche, Erwachsene als spät aufkommende geschlechtsabstrakte Altersklassen). Auch Eltern (geschlechtsinklusiv) als noch erkennbarer substantivierter Komparativ zu alt scheint ein erst spät aufkommendes Konzept zu bezeichnen, was evt. darauf hindeutet, dass Vater und Mutter zuvor so stark divergierende Rechte und Pflichten hatten, dass gemeinsame Elternschaft nicht vorstell- und benennbar war (nach Hausherr-Mälzer [1990, 72] ist unklar, ob das Idg. ein Wort für ‚Eltern‘ kannte). Andere Wörter wurden entlehnt (Kusine, Cousin, Tante, Onkel, Dame) oder lehngeprägt (Großmutter nach frz. grand-mère). Diese linguistischen Tatsachen sind aufschlussreich und noch nicht hinreichend interpretiert worden. Hinzu kommt, dass Wörter formal gleichbleiben können, doch semantischen Wandel vollziehen, den man ihnen nicht ‚ansieht‘. Von maximaler formaler und weitgehend auch (kern-)semantischer Stabilität sind die Be‐ zeichnungen der Kernfamilie (Mutter, Vater, Tochter, Sohn, Schwester, Bruder), von ma‐ ximaler Instabilität die (nicht-verwandter) Mädchen und junger Frauen. Dazwischen erstreckt sich ein großes, noch unbeackertes Feld. Wichtig ist die Frage, an welche anderen Informationen die Bezeichnung von Geschlechtern gekoppelt ist. Wie in Kap. 6 erwähnt, kann man lexikalisch nicht auf weibliche und männliche Personen zugreifen, ohne über ihr Alter Auskunft zu geben. Immerhin kann man heute, zumindest im Plural, mittels jüngerer Konversionen über Altersklassen frei von Geschlecht sprechen (Jugendliche, Erwachsene, Alte neben lexi‐ kalisch altem Kind [n.], Säugling). Umgekehrt erlaubt es nur das syntaktisch-attributive Verfahren, auf Geschlecht ohne Alter zu referieren. Bei Frauen war man bis vor wenigen Jahrzehnten gezwungen, ihren Familienstand (Frau vs. Fräulein) anzugeben. Fokussiert man nur die Simplizia, die als elementare Bausteine häufig versprachlichter Konzepte gelten dürfen, dann fällt auf, dass neben Alter und Heirat auch Elternschaft (Mutter, Vater) und Stand bzw. soziale Klasse wichtige Begleiter von Geschlecht zu sein scheinen (Dame, Herr). Schon früh hat Trömel-Plötz (z. B. 1982, 91 ff.) auf das überkommene Frauenbild der Dame als nicht ernstzunehmende Frau hingewiesen, „schwächlich, zerbrechlich, etwas älter, aber teuer herausgeputzt […], nur auf Äußeres und Oberflächliches bedacht, wohlhabend, ohne arbeiten zu müssen“ (ebd., 92 / 93). Eine Dame fordere keinen gleichen Lohn, sei mit dem Status quo zufrieden und engagiere sich nicht in einer Frauenbewegung. Man muss allerdings festhalten, dass Dame und Herr in der Öffentlichkeit und in Anwesenheit der Betreffenden höfliche Distanzformen sind (der Herr / die Dame war vor mir dran) und nicht unbedingt (mehr) standeshohe Bezeichnungen; sie fungieren eher horizontal (Beziehung) und nicht (mehr) vertikal (Schicht). In verschiedenen Recherchesystemen (z. B. DWDS, Cosmas II) 10 kann man die häufigsten Wortpartner von Frau, Mann, Dame, Herr etc. suchen und nach Häufigkeit anordnen lassen. Das DWDS liefert z. B. die häufigsten Adjektive zu diesen Lexemen bzw. die Verben, zu denen diese Subjekt sind. So gesellen sich die Adjektive schön, 8.5 Geschlechter im Wortschatz (Lexikon) 205 <?page no="207"?> blond, nackt, geschieden, verheiratet, hübsch, zierlich präferent zu Frau, während es beim Mann bewaffnet, klein, mächtigste, reichste, richtig, stark sind (Texte aus dem 20. Jh., alle Textsorten, zur Kritik s. Kap. 8.6). Bei der Frau offenbart sich der männliche Blick auf ihr Äußeres und ihre Beziehung zu ihm, während der Mann mit seinen Attributen (teilweise im Superlativ) kaum die Frau, sondern sich selbst, seine Stärke und seine soziale Position thematisiert. Dame und Herr teilen sich dagegen deutlich mehr frequente Attribute, z. B. alt, elegant, fein, vornehm, freundlich, nett, ge- / verehrt, gekleidet, während resolut nur der Dame vorbehalten ist und geistlich dem Herrn. Die Tätigkeiten (Verben) ähneln sich ebenfalls (sitzen, tragen, fragen, erzählen etc.), doch lächelt, nickt, schwärmt, plaudert, seufzt, erscheint, empfängt, tanzt, stöckelt eher oder nur die Dame, während der Herr eher antwortet, erklärt, behauptet, denkt, meint, sagt, spricht und weiß. Mit solchen Wortprofilen lassen sich neue, empirisch fundierte Untersuchungen anstellen, die - in Zeitschnitte untergliedert - diachronen Wandel sichtbar zu machen in der Lage sind; allerdings bedarf es immer der Reflexion der zugrundeliegenden Textsorten (Kap. 8.6). Gesellschaftlicher Wandel spiegelt sich in Diskursen, und diese sind linguistisch greifbar. Die nun vorhandenen, gut aufberei‐ teten und digital zugänglichen Korpora liefern die Grundlage (zu Sportarten mit Herren- / Damenbzw. Frauen- / Männerals Erstglieder s. Kap. 6.2.1). Einen ersten Versuch zum „Wandel der Rollenbilder von Mann und Frau“ hat Ackermann (2015) durchgeführt, wobei er nur die kurze Zeitspanne zwischen 1996 und 2013 betrachtet. Er untersucht sog. Kookkurrenzstärken zwischen verschiedenen Adjektiven bei Frau bzw. Mann und stellt fest, dass die Adjektive stark und mächtig zwar weiterhin häufiger mit Mann kookkurrieren, doch dass sie zunehmend auch mit Frau auftreten, deren Werte steuern dabei sogar auf die der starken und mächtigen Männer zu. Auch wird die Heteronormativität zunehmend in Frage gestellt, indem häufiger über schwule und homosexuelle Männer gesprochen werde, ähnlich häufig, wenngleich nicht zunehmend, über lesbische, doch ungleich seltener über homosexuelle Frauen, d. h. das Adjektiv homosexuell verbindet sich präferent mit Männern. Dass heterosexuell deutlich darunter liegt, ist mit der Heteronormativität zu begründen: Man verbalisiert das Außergewöhnlichere, nicht die normalisierte Hintergrundfolie. Was die äußere Erscheinung betrifft, so ist die zierliche, blonde, schöne und schlanke Frau nach wie vor hochfrequent (in dieser Abfolge), doch nimmt der muskulöse Mann an Fahrt auf (wenngleich mit noch großem Abstand zu den o. g. Frauen). Leider wurde weder der zierliche, blonde, schöne und schlanke Mann erhoben noch die muskulöse Frau. Nach wie vor wird durch die Angabe des Familienstands die weibliche Relation zum Mann relevantgesetzt-- die umgekehrte Relation ist uninteressant: Dass Frauen systematisch häufiger als geschieden, verheiratet oder alleinstehend beschrie‐ ben werden, weil sie tatsächlich häufiger geschieden, verheiratet oder alleinstehend sind, erscheint statistisch gesehen unwahrscheinlich. Stattdessen lassen die Rangdifferenzen zwischen Mann und Frau den Schluss zu, dass Frauen öfter in Verbindung zum Mann gesetzt werden als umgekehrt. Es kann also den Daten zufolge davon ausgegangen werden, dass die 206 8 Lexikon und Semantik <?page no="208"?> wahrgenommene Abhängigkeit der Frau vom Mann immer noch bedeutend größer ist als die des Mannes von der Frau. (Ackermann 2015, 14) Wenn wir schon bei Beziehungen sind, sollten auch nicht-eheliche zu Sprache kommen. Hierfür stehen die beiden Wortbildungen Geliebte/ r (patientiv) und Liebhaber/ in (agentiv) zur Verfügung. Christen (2000, 2006) geht beiden Bezeichnungen im Wör‐ terbuch und im Sprachgebrauch nach. Das Duden-Wörterbuch von 1976 und 1999 definiert Geliebte/ r symmetrisch, indem X zu einem verheirateten oder unverheirateten Y eine sexuelle Beziehung unterhält. Bei Liebhaber und Liebhaberin kommt es aber zu semantischen Asymmetrien. Zwar sind beide polysem, aber auf unterschiedliche Weise: Während Liebhaber mit Geliebter gleichgesetzt wird, ist eine Liebhaberin keine Geliebte, sondern „jemand, der [sic] an einer Sache besonderes Interesse hat“ - was zwar unter Liebhaber auch, aber nicht ausschließlich vermerkt wird. Die typische Liebhaberin ist also z. B. eine von klassischer Musik. Christen (2006) schreibt hierzu: In der Geschlechtstypik von Liebhaber/ in könnte die unterschiedliche Konzeption der weiblichen und männlichen Sexualität zum Ausdruck kommen und auch im heutigen Sprachgebrauch nachwirken: Die Agens-Rolle, die im Lexem Liebhaber/ in zum Ausdruck kommt, verträgt sich besser mit der Vorstellung von männlicher als weiblicher Sexualität, während in Geliebte/ r eine Patiens-Rolle ausgedrückt wird, die mit einer traditionellen Sicht weiblicher Geschlechtlichkeit übereinstimmt. (67) Auch faktisch (in einem Internetkorpus) kommt Liebhaber sehr viel häufiger vor als Liebhaberin. Qualitative Analysen (Liebhaber/ in von wem bzw. was? ) stehen noch aus. Das heißt also: Frauen haben einen Liebhaber oder einen Geliebten, Männer eine Geliebte. Damit sind lexikalische und semantische Asymmetrien angesprochen, die man meist nur dem Kontext entnehmen kann. So haben wir oben im Kontext der Kernfamilie Mutter und Vater als diachron stabil und nur als geschlechtsunterschieden erwähnt, was bei genauerem Hinsehen nicht zutrifft. Historisch oblag dem Vater die gesamte Verfügungsgewalt über Frau, Kinder und Sklaven und die Erziehungsgewalt über die Kinder (Hausherr-Mälzer 1990, 70), was ihn zu Schutz und Obhut verpflichtete. Diese verantwortliche Komponente konservieren Komposita wie Kirchen-, Stadt-, Landesva‐ ter, ebenso das Adjektiv väterlich. Noch heute ist ein Vater keine männliche Mutter - und umgekehrt. Väter werden wenn, dann als die schlechteren Mütter wahrgenommen und (oft von Müttern und Hebammen) durch Inkompetenzzuschreibungen daran gehindert, die volle Kindspflege zu übernehmen. In sog. Geburtserzählungen bildet der Ausschluss des Vaters bzw. seine Darstellung als deplatziert und ‚trottelig‘ ein Merkmal dieser Gattung (Tienken 2011; Rose 2017). Unterschiedliche Geschlechterrollen haben sich tief in die Semantik eingegraben, auch in die der Wortbildungen: mütterlich bezeichnet etwas anderes als väterlich; auch existiert das Verb bemuttern, aber nicht *bevatern etc. (zum Englischen s. Graddol / Swann 1989, 112 f.). Schließlich kommt es ohne logische Not zu geschlechtsspezifischen Lexemen: Obwohl auch Männer blonde (oder lange oder keine) Haare haben können, werden 8.5 Geschlechter im Wortschatz (Lexikon) 207 <?page no="209"?> 11 Im Internet kursieren sog. Warmduscher-Listen mit ca. 600 solcher Wörter, die meist Männer abwer‐ ten. Dahinter steht die als bedrohlich oder verunsichernd empfundene Besetzung oder Passierung der sozialen Mann / Frau-Grenze: Ein Mann definiert sich primär dadurch, keine Frau zu sein. Haarfarbe, -länge und -beschaffenheit eingehend bei der Frau thematisiert. Dies hat zu lexikalischen Sonderprägungen wie Blondine geführt (auch in Wörterbüchern sind Haare, Alter und Äußeres bei Frauen von größtem Interesse; Kap. 8.6). Komposita wie Karrierefrau, Emanze und Rabenmutter (ohne Korrelate beim Mann), die alle das Zeug zu Schimpfwörtern haben, berichten ebenfalls darüber, wie berufstätige, selbständige und die Kinderversorgung aufteilende Frauen bewertet werden. Umgekehrt degradie‐ ren Versager, Warmduscher oder Weichei Männer, die ihren Rollen nicht nachkommen. 11 Viele Lexeme reflektieren und reproduzieren frühere und heutige patriarchalische Perspektiven. Große Bereiche des sexuellen Wortschatzes sind männergeprägt, etwa indem er bei der Fortpflanzung Produzent ist (schwängern, zeugen), sie die passiv Teilhabende (empfangen, geschwängert / schwanger werden; s. Linke 2002, 125). Frank (1992) beschreibt das lexikalisch reich bestückte Konzept der „Frau als Loch“ (137-142). Bis vor wenigen Jahrzehnten war das Verb schänden das übliche Wort für vergewal‐ tigen (im Fall von Kindern lebt es noch heute im Kinderschänder fort). In Schande steckt Scham: Jemanden zu schänden bedeutet, jemanden zu beschämen, zu entehren, sie oder es in Schande zu versetzen (Schamhaare und Schamlippen reflektieren dies noch). Schändung betont also die Beschämung des Opfers, während der Täter ausgeblendet wird. Von der Schändung ist der Weg nicht weit zum Ehrenmord, der bis vor wenigen Jahren in den Medien ohne distanzierende Anführungszeichen verwendet wurde und dem (nicht zwingend weiblichen) Opfer unterstellte, es trage zumindest Mitschuld, da es jemandes Ehre beschmutzt habe. Dies schlug sich sogar in milderen Strafen nieder. Zur Täterausblendung gehört auch die Rede von „Gewalt gegen Frauen“. Diese Unsichtbarmachung der Verantwortlichen kritisierte ein Kommentar in der SZ ( Julian Dörr, 26. 12. 2017) mit dem Titel „Gewalt gegen Frauen ist Gewalt von Männern“: Wenn wir von sexueller Gewalt gegen Frauen reden, dann lässt die Formulierung diese Gewalt wie einen Deus ex Machina erscheinen, der aus dem Nichts auftaucht und wie ein böses Schicksal über die Frauen hereinbricht. (ebd.) Die Agensausblendung suggeriere, es handle sich nur um ein Frauenproblem, eine Ur‐ sachenbekämpfung sei nicht vorgesehen. Im gleichen Artikel wird auch die verbreitete Banalisierung von Sexualstraftätern als Sex-Täter und von Übergriffen als Sex-Attacken erwähnt; dazu gehört die Rede von Opfern als Sex-Sklavinnen (s. auch Pusch 1990, 117, die auf Sex-Strolche und Sex-Gangster verweist). Dass Sex sich üblicherweise positiv auf einvernehmliche Intimitäten bezieht, bedarf keiner Erwähnung. Als verharmlosend und verhüllend wird auch das in Polizei- und Zeitungsberichten häufige Familien- oder Beziehungsdrama kritisiert, bei dem in aller Regel Männer Frauen umbringen. Heute spricht man von sexualisierter statt sexueller Gewalt. Obwohl Gewalt beidemale Kopf der Verbindung und damit der Hauptaspekt ist, betont man damit die Gewalt, der eine 208 8 Lexikon und Semantik <?page no="210"?> sexuelle Note hinzugefügt wird. Pusch (2016) kritisiert diese Rede; sexualisiert wirkt wie ein optionaler, abgeschwächter Nebenaspekt von Gewalt. Dass die Perspektive objektifizierter Frauen ausgeblendet wird, zeigen viele weitere Komposita wie Freudenmädchen oder Trostfrauen (die japanischen Zwangsbordelle hießen Trostzentren). Schließlich reflektieren die meisten Bezeichnungen sexueller Handlungen nach wie vor den männlichen Blick (Hausherr-Mälzer 1990, 111 ff.; Brei‐ ner 1996, 57-76). Ihre Unschuld verlieren können nur Frauen, wobei der Folgezustand impliziert, dass sie Schuld auf sich geladen haben. Atavismen sind in mehr oder weniger lexikalisierten Wortbildungen ohne weib‐ liches Korrelat enthalten wie Brudervolk, Bruderkrieg, Vetternwirtschaft, Mannschaft, weltmännisch, mannshoch, sich ermannen, Herrenwitz, Herrentorte, Herrenschokolade, Herrschaft, beherrschen, herrenlos, umgekehrt Muttererde, Muttersprache, Damenkränz‐ chen, Mädchenname, Tochtergeschwulst, Tochterfirma, stiefmütterlich, bemuttern (Brei‐ ner 1996). Vandermeeren (1998) analysiert speziell Komposita mit metaphorischen Verwandtschaftsbezeichnungen im Erstglied und stellt fest, dass „weibliche Verwandt‐ schaftsbezeichnungen viel öfter als Bildspender […] auftreten als männliche“ (254). Dabei drücke Mutter-X (-konzern, -gewebe …) die Komponente ‚hervorbringen‘ und ‚betreuen‘ aus (nie *Vater-X), Schwester-X ‚ähnlich‘ und Tochter-X ‚zugehörig‘ (*Sohn-X ist inexistent). Bruder-X (-volk, -partei) drücke ‚befreundet‘ aus (also soziale / politische Verbundenheit). Sie spricht von „kognitiven Szenen“, in denen „die Mutter die Hervor‐ bringende, die Schwester die Ähnliche und die Tochter die Zugehörige“ ist (ebd.). Die wichtige Frage, weniger ob, sondern inwieweit die geschlechtsneutralen Wörter Menschen und Personen (Epikoina) gleichermaßen an Frauen wie Männer denken lassen, wurde bereits in Kap. 5. 1. 12 beantwortet. Prädikativ und damit nicht-referen‐ ziell sind Epikoina mit allen Geschlechtern kompatibel (Sie ist ein ehrgeiziger Mensch; er ist eine ehrgeizige Person). Dass jedoch referenzielle Gebräuche von Mensch bzw. Person kontextfrei eher männlich bzw. weiblich spezifiziert werden, zeigt Klein (2022). Ein male bias bei Mensch zeigt sich darin, dass „Alle Menschen werden Brüder! “ unauffällig wirkt, „Alle Menschen werden Schwestern“ (Pusch 1990) dagegen nicht; es bezieht seinen ‚Witz‘ aus der Spiegelung (Pusch 1984, 20-42; Breiner 1996, 36). Wundt (1922, 19) untersucht semantische Genuszuweisungen, u. a. dienen Genera zur „Unterscheidung menschlicher Wesen (mit Einschluss der Frauen) von anderen Gegenständen“: Dass er auch Frauen zu den Menschen zählt, bedarf expliziter Erwähnung und impliziert einen frauenfreien Menschenbegriff. Weitere Beispiele sind zahlreich: „Jede Sprache entwickelt sich […] nicht anders als jeder Mensch sich vom Kind zum Jüngling, vom Jüngling zum Mann und zum Greis entwickelt“ (Staiger 1968, zit. nach Pusch 1984, 107). Auch bildliche Darstellungen zur Entwicklung des Affen zum Menschen enden regelmäßig beim Mann (Abb. 8-2). 8.5 Geschlechter im Wortschatz (Lexikon) 209 <?page no="211"?> Abb. 8-2: Die Entwicklung vom Affen zum (männlichen) Menschen In der Wörterbuchstudie von Nübling (2009c) wurde am Rande auch der Eintrag von Mensch in Brockhaus-Wahrig (1980-1984) einbezogen, der 54 Beispiele enthält. Davon bleiben 46 geschlechtsindefinit (z. B. er ist gern unter Menschen, einen Menschen betrügen). Sieben Beispiele werden männlich spezifiziert (z. B. er ist ein sehr geistreicher, gescheiter, langweiliger, schlagfertiger, witziger Mensch) und genau eines weiblich: sie ist nur noch ein halber Mensch. Androzentrismus setzt sich auch bei Homosexuellen durch, die eigentlich Lesben und Schwule (die vormals wiederum Frauen einschlossen) überdachen. Seit einiger Zeit wird Homosexuelle immer mehr zum Synonym für Schwule (Pusch 2014, 111). Eine DeReKo-Recherche (22. 02. 2018) erbrachte 98 Belege für „Homosexuelle und Lesben“ bzw. 23 Belege für „Lesben und Homosexuelle“ (also 80 % male first). Dagegen gab es nur zwei Belege für „Schwule und Homosexuelle“ und ebenfalls zwei für „Homosexuelle und Schwule“. Damit bestätigt sich ein schon weit gediehener male bias. Derzeit lässt sich beobachten, wie Bezeichnungen für bislang sprachlich vernach‐ lässigte Geschlechtsidentitäten jenseits der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit kreiert, aber auch kritisiert und verhandelt werden. So lehnen Transpersonen die tra‐ ditionelle Bezeichnung Transsexuelle ab, da die Sexualität überbetonend. Transidentität wird von vielen Betroffenen vorgezogen. Auch was unter drittes Geschlecht gefasst wird, ist sehr uneinheitlich (meist Intersexuelle, die wiederum andere Bezeichnungen vorschlagen, u. a. Inter- oder Zwischengeschlechtliche, teilweise auch Zwitter und Herm‐ aphroditen). Das lexikalische Feld ist stark in Bewegung, viele Wörter sind umkämpft und werden diskutiert, auch und vor allem unter den Betroffenen. Bekanntlich ist es bei Facebook möglich, sich ca. 60 verschiedenen Geschlechtsidentitäten zuzuordnen. Gegenwärtig (2024) lautet der neben „weiblich“ und „männliche“ existierende dritte Geschlechtseintrag im Personenstandsregister „inter / divers“. Eine wichtige Form sprachpolitisch motivierten und intendierten semantischen Wandels besteht in der sog. Resignifizierung bislang pejorativer (Fremd-)Bezeich‐ nungen, die selbstbewusst zur Selbstbezeichnung verwendet werden, um ihnen das stigmatisierende Potenzial zu entziehen. Dies hat bereits Erfolg gezeigt bei Lesben 210 8 Lexikon und Semantik <?page no="212"?> und Schwulen (zum erbitterten Kampf um diese Begriffe s. Pusch 1999, 27-67, die den Konflikt zwischen Selbstvs. Fremdbenennung in den 1980er Jahren nachzeichnet). In jüngerer Zeit setzen sich immer mehr Akronyme durch, z. B. LGBT (< Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender), LSBTTIQ (< lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell, queer) oder LGBTQIA+ (< Lesbian, Gay, Bisexual, Trans‐ gender, Queer, Agender, + ‚alles weitere‘) für Menschen, die sich nicht der Hetero‐ normativität unterordnen. Diese Sammel-Akronyme dienen auch der sprachlichen Opakisierung (Undurchsichtigmachung) der dahinterstehenden Gruppen und nutzen die Konnotationsfreiheit, statt sich bereits pejorisierten Fremdbezeichnungen durch Aneignung entgegenzustellen - einem Prozess, der langwierig ist und viel Kraft kostet. 8.6 Geschlechter im Wörterbuch Wörterbücher gehören nach Haß-Zumkehr (2001, 6) zu den „sprachinformationsori‐ entierten Lexika“ und genießen allseits hohe Autorität. Die Bedeutung solcher zwar deskriptiv intendierten, doch als normativ rezipierten Werke kann nicht hoch genug veranschlagt werden, sie bilden die letzte Instanz bei Fragen zur Grammatik, Bedeutung und Verwendung von Wörtern. Nicht nur in den Beispielen von Wörterbuchartikeln, auch in der Bestimmung und semantischen Untergliederung der Bedeutung divergie‐ ren die Einträge von Frau und Mann überraschend stark und ohne ersichtlichen Grund. Dabei geht es hier nicht um Kritik an sprachlich verfestigten Asymmetrien (wie schwe‐ ren Jungen und leichten Mädchen), sondern um das lexikografische doing gender: Wie, mit welchen Attributen, Verben etc. werden die Geschlechter im Wörterbuch dargestellt, welche Aspekte werden bei ihnen thematisiert und welche nicht, wie ist ihr Bezug zur Realität? Das Geschlechterbild in historischen Wörterbüchern kam bereits in Kap. 8.3 zur Sprache. Hier sei die Untersuchung von Blanck / Moshövel (2022) ergänzt, die in den Wörterbüchern bis ins 19. Jh. hinein auf durchweg männliches Sprechen stoßen (alle Verfasser sind männlich). In einer Art teleologischer Männlichkeit werde „eine Orientierung ‚am Mann‘“ sichtbar „und an einer männlichen Norm als Inbegriff für den vollgültigen Menschen“ (317), die göttlicherseits so gewollt sei und entsprechend legitimiert wird. So begegnet die Frau im Wörterbuch von Henisch (1616) an keiner Stelle in der semantischen Rolle eines aktiv handelnden Agens, sondern männlich perspektiviert […] als Patiens (vgl. z. B. „Frawen schänden“ […], „Frawen besamen / fruchtbar machen“ […]), als Possessiv und Patiens (z. B. „sein frawen von jhm scheyden oder stossen“ […]), Possessiv und Benefaktiv (z. B. „bey eines andern Fraw schlaffen“ […]) sowie als Direktiv bzw. Ziel des (hetero)sexuellen Begehrens (z. B. „Hefftig nach einer Frawen entzündet sein“). (318 / 319) Außerdem seien die Frauen mit „blödigkeit“ geschlagen, gekennzeichnet „durch körperliche und / oder mental-geistige Schwäche, aufgrund derer sie sich in der Verfügungsgewalt (männlicher) Vormunde befänden“ (319) 8.6 Geschlechter im Wörterbuch 211 <?page no="213"?> 12 In der Unterhaltungsbranche ist der weibliche Anteil höher (Sängerinnen, Schauspielerinnen), in der Wirtschaft niedriger. Auch spielt das Alter bei Frauen eine entscheidende Rolle: Ältere und alte Frauen verschwinden aus der medialen Öffentlichkeit. Auch werden Frauen deutlich seltener mit ihrem Namen genannt als Männer. Zu Zahlen, die seit der Ersterhebung 1995 langsam ansteigen, s. den (deutschen) Journalistinnenbund, das Global Media Monitoring Project sowie Kap. 14.2. 13 Äußerungen wie „Sicherheit für unsere Frauen und Töchter! “ (Wahlslogan der AfD in Hessen 2018) zeugen von der Selbstverständlichkeit männlichen Sprechens über Frauen. Dies beschränkt sich nicht nur auf die AfD. 14 Diese männliche Autonomie findet sich nach wie vor in der Berichterstattung. Interessanterweise wird in Biografien berühmter Personen die Vererbung des Genius gerne im Vater verortet, er, sein Beruf und seine soziale Stellung werden regelmäßig genannt, während Mütter bei der Vererbung guter Eigenschaften, ja selbst bei der Prägung von Kindern kaum eine Rolle spielen. Die erste, klassische Analyse des Geschlechterbildes eines gegenwartssprach‐ lichen Wörterbuchs legte Luise Pusch 1983 in ihrem berühmten Beitrag „Sie sah zu ihm auf wie zu einem Gott - Das D UD E N -Bedeutungswörterbuch als Trivialroman“ vor (Pusch 1984, 135-144). Sie entnahm der 1. Auflage des einsprachigen Wörterbuchs von 1970 nur die Buchstabenstrecke A (86 Seiten) und analysierte die in den Lemmaartikeln enthaltenen Beispielsätze, die die prototypische Wortbedeutung illustrieren sollen. Dabei tritt ein Weltbild zutage, das keine Chance hätte, den ohnehin niedrigschwelligen Bechdel-Test zu bestehen (Kap. 7.1.1): Weder gibt es interessante Frauenrollen, noch tragen die Frauen Namen (bis auf eine). Außerdem sprechen oder befassen sich Frauen niemals miteinander, vielmehr kreist ihr gesamtes Dasein, Schalten und Walten um Mann und Kinder. Von den insgesamt 1.100 Personennennungen entfallen 920 (84 %) auf Männer und 180 (16 %) auf Frauen. Dies entspricht ungefähr der noch im 21. Jh. geltenden Repräsentanz von Frauen und Männern in den Printmedien (2003: 13,4 %, 2004: 18,2 % Frauen; Kap. 14.2) 12 und macht deutlich, welches Geschlecht das Sagen hat, dabei seiner Perspektive auf das ‚andere‘ Geschlecht Ausdruck verleiht und so nicht nur dem Sprechen, sondern - dies seit Jahrhunderten - der Sprache seinen Stempel aufdrückt. 13 Dies betrifft auch die Kodifizierung der Sprache, etwa anhand von Grammatiken und Wörterbüchern (Frank 1992, 124 ff.). Pusch sortiert die in den Beispielsätzen genannten Personen nach Typen und stößt einerseits auf die naive und tugendhafte Ehefrau und Mutter (Christine als einzig benannte Frau), die ihren Mann bewundert, nur Mann und Kinder kennt und sich ansonsten um ihr Aussehen kümmert. Andererseits gibt es eine gerissene femme fatale, die Männer verführt und sie um ihr Hab und Gut bringt. Weitere Modelle bilden eine schwitzende Dicke, ein affiges adliges Fräulein, ein aufgedonnertes Mädchen und ein altes Mütterchen. Der weibliche Aktionsradius reduziert sich auf das Haus. Vor allem interagieren Frauen niemals miteinander: „Die Frau aber kennt nur die Beziehung zum Manne oder zum Kinde oder zu beiden“ (Pusch 1984, 142) - während der Mann in dreifacher Ausfertigung und Benennung erscheint: als Durchschnittsmann (Ulrich), als Krimineller (Ludwig) und als gottähnliches Genie (Klaus). In allen drei Rollen spielen Familie, Vaterschaft oder Heirat keinerlei Rolle, der Mann bezieht und definiert sich niemals auf bzw. über Frauen. 14 Er interagiert mit seinesgleichen und der beruflich 212 8 Lexikon und Semantik <?page no="214"?> 15 Auch im Universalwörterbuch werden die weiblichen Formen konsequent als eigenes Stichwort gebucht mit Verweis auf die männliche Form (Eickhoff 2012). reich ausdifferenzierten, oft abenteuerlichen und auch gewaltvollen Welt, in der Ohren ab- und Zähne ausgeschlagen werden. Nicht selten treffen beide Welten in ein und demselben Lemmaeintrag aufeinander. So steht unter abbrausen: Er braust mit Vollgas ab - sie braust die Kinder in der Wanne ab. Unter annehmen: Sie haben ihn bei der Firma angenommen; sie hat sich der Kinder angenommen. Damit unverträglich ist die berufstätige Frau. An Lemmaeinträgen kom‐ men gerade einmal zwei vor, Amme und Ärztin. Innerhalb der Beispielsubstanz finden sich genau sechs weitere stereotype Frauenberufe (Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin, Sekretärin, Verkäuferin, Zeitungsfrau), in denen die Frauen auch noch versagen: „Die Sängerin fiel gegen den Sänger stark ab; die Attitüden und Gebärden der Schauspielerin sind gekünstelt; eine abgetakelte Tänzerin“ (143). Pusch resümiert, dass das Wörterbuch durch und durch vor Beschränktheit, Männlichkeitswahn und Frauenverachtung strotzt. Die 2. Auflage von 1985 hat diese Kritik kaum berücksichtigt, aber die dritte von 2002. Die gründliche Überarbeitung zeigt, dass Wortbedeutungen sich auch ohne Sexismen illustrieren lassen. Dies wurde bewirkt, indem manche Lemmata einfach gestrichen wurden (z. B. abbrausen, Ausgeburt), Personen durch Objekte ersetzt wurden ([1970] er hat ihm mit dem Schwert ein Ohr abgehauen → [2002] er hat einen Ast vom Baum abgehauen), durch Geschlechtsabstraktion ([1970] sie pflegte ihn aufopfernd → (2002) die Eltern opfern sich für ihre Kinder auf) und durch unpersönliche Konstruktionen, z. B. mit Infinitiven ([1970] sie hat den Teig ausgerollt → [2002] den Teig ausrollen). Manche Sexismen wurden gespiegelt, z. B. (1970) Sie hat sich einen reichen Mann geangelt → (2002) Er will sich eine reiche Witwe angeln. Auch wurde die Zahl weiblicher Nennungen erhöht, und die einsame Ärztin von 1970 hat große Gesellschaft bekommen, indem jeder männliche Lemmaeintrag von einer weiblichen Form begleitet wird (der Minister - die Ministerin) (zu Weiterem s. Nübling 2009c, 605 ff.). Über diese grundlegende Überarbeitung berichtet aus erster Hand Kunkel-Razum 2012). 15 Porsch (2005) spielt mit „Frau im Wörterbuch - Das Duden-Universalwörterbuch 2003 als Fortsetzung eines Trivialromans“ an Puschs Aufsatz an und findet auch dort die zum Mann aufschauende Frau. Zudem macht er die subtilere Beobachtung, dass die Frau unter dem Eintrag „Anatomie“ vom Menschen abgesondert wird: „Aufbau, Struktur des [menschlichen] Körpers: die A. des Menschen, der Frau, der Hauskatze; die weibliche Anatomie“ (man beachte die Reihenfolge). Die Frau, so folgert Porsch, stehe offensichtlich zwischen Mensch und Tier (auch bei Würde wird zwischen der des Menschen und der Frau unterschieden). Dies sieht er gestützt durch tierliches Gebaren, das man nur bei der Frau finde (eine gezielte Untersuchung dieses wichtigen Themas steht noch aus). So steht unter anwatscheln: „eine Ente, eine dicke alte Frau kam angewatschelt“, unter winseln: „der Hund winselte vor der Tür“ und „die Frau winselte, man solle sie zu ihrem Mann lassen“. 8.6 Geschlechter im Wörterbuch 213 <?page no="215"?> 16 Bußmann (1995, 127) beobachtet in Langenscheidts Wörterbuch Lateinisch / Deutsch, dass feminine Beispielsubstantive semantisch ein unspezifisches Durcheinander bilden (insula ‚Insel‘, res ‚Sache‘, oratio ‚Rede‘), während Maskulina wie folgt besetzt sind: dominus ‚Herr‘, puer ‚Knabe‘, vir ‚Mann‘, consul ‚Konsul‘, orator ‚Redner‘, rex ‚König‘ etc. 17 Auch hier böte sich eine umfassende Untersuchung darüber an, wer wen „hat“ bzw. „(sich) nimmt“ oder „heiratet“. Bei Paaren sollte man von Reziprozität ausgehen. Auffallend ist, dass im öffentlichen Diskurs meist der Mann die Agensposition besetzt, z. B. „Der Kaiser [F. Beckenbauer] sagt Ja“ (Pusch 2009, 105 f.). Auch ist die Namensnennung von Belang, vgl. „Franz Beckenbauer hat seine Heidi geheiratet“ (ebd.). Einsprachige Wörterbücher aus den 1970er bis 1990er Jahren legt auch Bär (2001) zugrunde, bei denen er Synonyme und Wortbildungen fokussiert und auf Schritt und Tritt Stereotype aufdeckt. So spielt Haarfarbe nur bei Frauen eine Rolle. Körper‐ größe, besonders stattliche, ist dem Mann zu- und der Frau abträglich. Dafür eignet ihr besondere Körperpflege. Mut, Härte, Erfolg, intellektuelle Fähigkeiten, Berufstätigkeit und Aktivität werden immer noch beim Mann verortet, ebenso Unzuverlässigkeit und Unhöflichkeit. Die Frau ist passiv, zieht viele Diminutive an und ist oft Objekt männlicher Gewalt. Alle Wörterbuchstudien stellen fest, dass die oft reich aufgeführten Sprichwörter, Redewendungen, ebenso die Zitate von als zitierwürdig erachteten Altmeistern so stark von Klischees, Plattitüden und Sexismen durchzogen sind, dass sich ihre Analyse erübrigt. 16 In Nübling (2009c) wurde ein „Streifzug durch neuere Wörterbücher um die Jahrtausendwende“ unternommen. Das „Illustrierte Wörterbuch der deutschen Umgangssprache“ von 1982 macht deutlich, wer der Illustration wert ist: Während der Mann mit vier großen, teilweise seitenfüllenden Bildern voll kriegerischer und phallischer Symbolik gefeiert wird und ihm sieben Spalten Text zugemessen werden, bleibt die Frau buchstäblich unsichtbar und bescheidet sich mit etwas mehr als einer Spalte Text, der die Welt des Bordells widerspiegelt. Die Themen kreisen um das Äußere der Frau, ihr Alter und ihre sexuelle Zugänglichkeit. Immerhin ein Viertel des männlichen (Text-)Raums wird der Frau im sechsbändi‐ gen „Deutschen Wörterbuch“ von Brockhaus-Wahrig zugeteilt. Auch hier ist der männliche Blick auf sie allgegenwärtig, ihr Eintrag untergliedert sich in „Freundin, Geliebte“ („Er hat wieder eine neue Frau“) und in „Ehefrau“, während der Mann als Staatsbürger, als Berufstätiger, Arbeits- und Fachkraft sowie als Inhaber wichtiger sozialer Positionen konstruiert wird und Eigenschaften wie Mut, Stärke, Tatkraft, Pflichtbewusstsein ausgiebig zur Sprache kommen. Nur in einer Nebenrolle tritt er kurz als Ehemann in Erscheinung. Als (analoger) *Freund oder *Geliebter kommt er nicht vor, auch sucht man vergeblich nach *Sie hat wieder einen neuen Mann. Interessanterweise tritt der Mann als handlungsmächtiges Agens auf, während die Frau entweder „ist“ (z. B. „alt, älter, schön“) oder in die Patiensposition versenkt wird (s. o. unter „Frau“: „Er hat wieder eine neue Frau“). 17 Während er auf der Suche nach einer Frau ist (er hat noch keine F. bekommen, gefunden, gekriegt; eine F. nehmen, er sucht eine F.; jmdn zu seiner F. machen; er hat eine geborene Lehmann zur F., ein Mädchen zur F. nehmen), ist sie eher in Ehezerwürfnisse involviert (ihr zweiter M. war ein Spanier; sie lebt mit ihrem 214 8 Lexikon und Semantik <?page no="216"?> 18 Zum langen Konflikt zwischen Selbstvs. Fremdbenennung von Lesben und Schwulen Ende der 1980er Jahre s. Pusch (1999, 27-67). M. in Scheidung; sie lebt von ihrem M. getrennt). Kurzum: Die Einträge sind stereotyp gendergetränkt. Auch wird das bereits erwähnte Duden-Bedeutungswörterbuch von 1985 (2. Aufl.) in den Einträgen von Frau und Mann auf die sog. sinnverwandten Wörter untersucht, die in ihrer Stereotypie dem entsprechen, was schon Pusch (1984) und Bär (2001) herausgearbeitet haben. Bemerkenswert ist, dass sich bei der Frau auch Lesbe und Lesbierin findet, während man beim Mann vergeblich *Schwuler oder *Homosexueller sucht. 18 Lexikografisch wird also kräftig gegen die Realität angeschrieben. Das gilt auch für die tierlichen Synonyme: Bei der Frau findet sich Gans, Gänschen, Glucke, Pute, Zicke, Ziege - beim Mann jedoch nicht etwa *Gockel, *Esel oder *Rindvieh, sondern Hahn im Korb, Platzhirsch und Zugpferd; als Synonym zu Stenotypistin findet sich Klapperschlange (Nübling 2009c, 614 ff.). Auch hiervon hat die 3. Auflage vieles ausgemistet (Kunkel-Razum 2012). Auch weitere Wörterbücher zeichnen die Frau als hübsche Geliebte und Ehefrau des Mannes, die immer wieder in die Objektposition abrutscht („er hat viele Frauen gehabt“ [Duden-Universalwörterbuch]), während er als „Mann der raschen Entschlüsse“ (ebd.) gezeichnet wird und seinen Mann steht. Ab den 1990er Jahren trifft man auch auf berufstätige und emanzipierte Frauen, woneben weiterhin das alte Modell der Haus- und Ehefrau existiert bzw. dominiert. Auch werden Zitate eingebaut, ebenfalls in kruder Mischung, bei denen man sich fragt, warum, d. h. wem sie in Hinblick auf welche sprachlichen Fragen behilflich sein mögen (achtbändiges Duden-Wörterbuch 1993-95 im Eintrag Frau): Regina ist eine tüchtige, beherzte F. (Waggerl, Brot 49); sie war die F. seiner Träume (sein weibliches Idealbild). Sie ist eine F. von heute (eine moderne Frau, Frisch, Gantenbein 342); […] ‚Man kommt nicht als F. zur Welt, man wird dazu gemacht‘ (der Spiegel 17, 1986, 226); Er hatte F.en umarmt unter vielen Himmeln. (B. Frank, Tage 65) Der männlich-objektifizierende Dauerblick und -griff auf die Frau mit genauester Quellenangabe der zitierten Plattitüden wird abrupt unterbrochen durch ein sog. Spiegel-Zitat. Die eigentliche Autorin ist mit Simone de Beauvoir die größte Philosophin des 20. Jhs., die unsichtbar bleibt bzw. verkannt wird. Interessanterweise durchbricht nur das „Wörterbuch der deutschen Gegenwarts‐ sprache" (1961-1977) aus der DDR mit zwei Lexikografinnen die übliche Stereotypie, indem es einige Klischees zumindest spiegelt: Hier kommen auf einmal hübsche, schöne, blonde (! ), feine, liebenswürdige Männer vor - Adjektive, die sonst exklusiv den Frauen eignen - sowie stattliche und kräftige Frauen. Die Attribute mütterlich, kinderlos und alleinstehend werden aber auch hier einseitig der Frau angehängt, der Mann hat (wie in anderen Wörterbüchern) nichts mit dem Vater zu schaffen (zu kinderlos s. Kap. 7.2). Ihm eignen dafür Attribute wie bedeutend, verdient, groß, intelligent, gebildet, gelehrt. Als 8.6 Geschlechter im Wörterbuch 215 <?page no="217"?> 19 Für Langenscheidts Wörterbuch „100 % Jugendsprache“ von 2017 kann dies jedoch kaum gelten. Auf Nachfrage verwies der Verlag diffus auf einen „Ist-Zustand der Sprachverwendung Jugendlicher“ als seine Instanz, um Sexismen wie Standgebläse als Synonym für ‚kleines Mädchen‘ zu legitimieren, weiter: Fotzen glotzen ‚Mädchen nachschauen‘, Ständerstimmung ‚gute Laune‘, Jungschwanz ‚Anrede unter Jungs‘, Einwegtussi ‚Frau, die ausschließlich One-Night-Stands hat‘ etc. Empfindlicher ist Langenscheidt bei der Wendung Dein Penis ist nur auf Englisch dick! , dies wird als „beleidigend“ markiert. Oben Genanntes scheint es nicht zu sein (Müller-Spitzer / Lobin 2022, 38-39). jüngster Beitrag empfiehlt sich „Lexikographie und Gender“ von Blanck / Moshövel (2022). Heute berufen sich LexikographInnen auf Korpusbelege, wenn sie weibliche und männliche Personenbezeichnungen ausschmücken. Dabei spielen Frequenzen eine Rolle. 19 Hierzu merken Müller-Spitzer / Lobin (2022) kritisch an, dass ein Korpus ein Korpus bleibt und nie „die Sprache“ oder „den Sprachgebrauch“ repräsentiert. „Typische“ Kollokationen und Verwendungskontexte sind hochgradig korpusabhän‐ gig, Zeitungen sind, da digital leicht akquirierbar, oft überrepräsentiert, z. B. bei Duden-Wörterbüchern und elexiko (IDS). Hieraus gewinnt man sog. Kollokationssets, die bei elexiko bei Mann die folgenden Fragen generieren: 1. Wie ist ein Mann? 2. Was macht ein Mann? (z. B. dominieren, ermorden, erschießen, lieben, schnarchen, verletzen, sterben, töten, vergewaltigen) 3. Was geschieht mit einem Mann? (z. B. ermorden, erschießen, festnehmen); Bei Frau dagegen werden primär folgende Fragen thematisiert: 1. Wie ist eine Frau? 2. Was geschieht mit einer Frau? (z. B. bedrohen, belästigen, benachteiligen, ermorden, heiraten, lieben, misshandeln, töten, unterdrücken, vergewaltigen, verletzen) 3. Wodurch werden Frauen gefördert? Der eklatanteste Unterschied ist, dass der Mann auf Platz 2 in der handlungsmächtigen Agens-, die Frau dagegen in der passiven Patiensrolle erscheint: Er handelt, sie ist Objekt (wohl) seiner wenig schmeichelhaften Handlungen, wie die Lexeme erkennen lassen. Auch was am meisten im Zusammenhang mit Mann thematisiert wird (nämlich Auto, Erektionsstörung, Feuerwehr, Fußball, Gleichberechtigung, -stellung, Handball) und bei Frau (Alter, Beruf, Brustkrebs, Emanzipation, Geburt, Kinder, Sex, Wechseljahre), ist korpus- und dabei offensichtlich zeitungsgeneriert: In Zeitungen, die gekauft werden sollen und deshalb Aufmerksamkeit erregen müssen, kommen eher „Störungen des Alltags“ (55) zur Sprache. Andere, deutlich konvergentere Ergebnisse generieren ein zum Vergleich herangezogenes belletristisches und ein Publikumszeitschriftenkorpus: „Während sich also die Kollokationssets zur Agens-Rolle von Mann und Frau in der Belletristik sehr ähnlich sind, haben sie in den Zeitungen nichts gemein“ (50 / 51). Müller-Spitzer / Lobin (2022, 54) visualisieren anhand einer Grafik, dass zwischen diesen drei Korpora die Überschneidungen an Kollokationen für die Frau deutlich größer ausfallen als für den Mann. Dies zeigt, dass die Frau generell monotoner und 216 8 Lexikon und Semantik <?page no="218"?> stereotyper dargestellt wird als der Mann. Diese (und weitere) Erkenntnisse fordern die Korpuslinguistik heraus (s. auch Müller-Spitzer 2024). Online-Wörterbücher (wie der Deutsche Wort-Thesaurus) stehen den Print-Wör‐ terbüchern in nichts nach, im Gegenteil: Sie sind teilweise noch rückständiger. Thüne / Leonardi (2006) diagnostizieren hier ähnliche Asymmetrien, u. a. die geringe Individualisierung der Frau und die Reduktion auf ihre Zugehörigkeit zum Mann; selbst Adjektive wie weiblich, fraulich, männlich sind durchzogen von Stereotypen des 19. Jhs. Blanck / Moshövel (2022) dagegen sehen bei Duden online (https: / / www.duden.de/ ), einem leicht aktualisierbaren sog. Ausbauwörterbuch, einige Fortschritte insofern, als auch die (seit 2017 mögliche) gleichgeschlechtliche Ehe zur Sprache kommt („ihre Frau“, „sein Mann“) und Frauen deutlich häufiger als bisher die Agensrolle innehaben: Duden online scheint sich insgesamt um eine sehr neutrale Darstellung von Frau und Mann zu bemühen. […] Weibliche Personen befinden sich […] nicht in der fortwährenden Objektposition […], und auch auf semantischer Ebene werden weniger Stereotype aufgerufen. (Blanck / Moshövel 2022, 349) Doch scheint dies eher auf die (vielfach kritisierten) Lemmaeinträge von Frau und Mann zuzutreffen, denn in der Beispielsubstanz ganz anderer Wörter trifft man durchaus auf alte Geschlechterbilder - z. B. beim Adverb oft, wo man erfährt: „ich habe ihr zu oft geglaubt“, „sie ist oft genug gewarnt worden“ und „so oft wie sie hat noch keine gefehlt“ (Zugriff: 17.02.22). Ohne Not, so die Autorinnen, steht hier das Pronomen sie, womit „Frauen als Personen erscheinen, die belehrt werden müssen und unzuverlässig sind“ (ebd., 350). Stereotypbefrachtet sind auch Dialektwörterbücher, die genderlinguistisch noch vollkommen unerforscht sind. Hier treten, gerade über feste Wendungen, die alten Ordnungen unverstellt zutage (Pfälzisches Wörterbuch): „Die Fraa g’heert ins Haus, un de Mann g’heert naus“. Allerdings werden Mädchen (als Kind) gelobt und positiv gesehen, dagegen sind Jungen ungepflegt und ungehobelt, sie werden auch viel ge‐ schlagen. Beim heiratsfähigen Mädchen zählt nur ihre Eignung zur Haushaltsführung, ihr Äußeres und ihr Alter, s. z. B. „E Rieb [Rübe] noch de Weihnachde, e Appel noch de Ouschdere und e M[ädche] noch de Dreißich sin nimmi begehrt“ (ebd.). Alles in allem betreiben die Wörterbücher bis zur Jahrtausendwende nicht nur doing, sondern overdoing gender: Ihr konstruiertes Geschlechterbild steht den überzogenen Klischees in Werbung, Filmen und öffentlichem Diskurs in nichts nach, gesellschaftliche Entwicklungen werden großzügig ignoriert, eine Darstel‐ lung von Frau und Mann frei von Geschlechterstereotypen scheint nur schwer vorstellbar. Die Qualität der Stereotype fußt fest im 19. Jh. mit dem Mann als (agen‐ tives) Oberhaupt und der (patientiven) Frau als seinem Besitz. Trotz einiger hie und da applizierter Modernisierungen - eher bei der Frau als beim Mann - werden die Einträge im Laufe der Jahrzehnte kaum verändert. Lexikografisch wird die alte 8.6 Geschlechter im Wörterbuch 217 <?page no="219"?> Geschlechterordnung perpetuiert, durchaus auch in Online-Versionen (Mül‐ ler-Spitzer / Lobin 2022), wenngleich für neuere Auflagen zumindest in den Ein‐ trägen von Frau und Mann ein zunehmendes Bewusstsein für die Geschlechter‐ stereotypen erkennbar ist. 8.7 Geschlechter in der Linguistik Nicht zuletzt beteiligt sich auch die Linguistik rege an der Konstruktion, Stereotypi‐ sierung und Hierarchisierung der Geschlechter. Das Ausmaß dessen ist noch wenig untersucht. Dies beginnt damit, dass man bei jedem einfachen Akzeptanztest ohne Not und vernünftige Hypothese, warum sich Geschlechter unterschiedlich verhalten sollten, nach Geschlecht fahndet. Indem man Geschlecht als feste Variable miterhebt, aktiviert man es als Kategorie und unterstellt ihm permanente Bedeutsamkeit (Hirsch‐ auer 1994, 2001). Allerdings ging dem bis in die 1970er Jahre eine lange Tradition voraus, in der vielfach nur Männer und Jungen als menschliche Repräsentanten untersucht wurden. Die Fixierung auf Geschlecht ging (und geht) sogar so weit, dass identisches kommunikatives Sprechverhalten nicht nur von Versuchspersonen, sondern auch von LinguistInnen unterschiedlich bewertet wurde, wenn man das Geschlecht der Kommunizierenden erfuhr: Geschlecht wird auch in stereotypen Wahrnehmungsweisen praktiziert. Weniger subtil geht es zu, wenn - wie lange üblich - in der Linguistik (und ähnlich noch in heutigen Wörterbüchern) sexistische Beispielsätze produziert werden. Hierfür sei die Zusammenstellung von Römer (1973) empfohlen (die auch feststellt, dass sich die beiden deutschen Staaten hierin nicht unterschieden): Beispielsätze in Lehrbüchern können Ideologie induzieren. […] [S]obald sie [die Verfasser] sich die Sätze selbst ausdenken, wird ein Weltbild offenbar, wie es sich grotesker nicht denken lässt, und zwar unabhängig davon, ob die Grammatiker mit konventionellen oder modernen, ja mit avantgardistischen Methoden der Sprachbeschreibung arbeiten. Einer ausdifferenzierten, vielfältig agierenden, namentlich oft individualisierten Män‐ nerwelt mit einem bunten Spektrum interessanter, aufregender bis abenteuerlicher Berufe und Tätigkeiten stehen kochende, putzende, nähende und rosenflechtende, in aller Regel namenlose Frauen und Mädchen gegenüber, die zwar selten Berufe (Bsp.: „Einige Sekretärinnen sind hässlich und dumm“ [73]), doch dafür umso mehr Kinder und Puppen haben: „Etwa ein Promille der weiblichen Figuren hat mit Büchern zu tun […]. Man kann guten Gewissens sagen: Die weiblichen Akteure sind Analphabeten“ (Römer 1973, 72). Allerdings vermeldet ein Lehrbuch eine lesende Mutter: „Der Vater liest. Er liest ein Buch. Die Mutter liest Erbsen“ (ebd., 78). In Römers linguistischer Beispielsammlung kommen durchaus Männer vor, die Frauen mit dem Beil erschlagen. Pusch (1984, 41 f.) stößt zehn Jahre später auf eine ähnlich geartete linguistische Ge‐ schlechterordnung. Auch hier werden (zur Illustrierung von Sachverhaltskontrasten) 218 8 Lexikon und Semantik <?page no="220"?> 20 Wie es mit der Darstellung und Repräsentation der Geschlechter in Schulbüchern früher und heute bestellt ist, ist Ott (2017a, 2017b) zu entnehmen, wie es sich damit in DaF-Lehrwerken verhält, Lutjeharms / Schmidt (2006). Frauen von Männern überfallen und erschlagen, und zwar „weil sie nicht rechtzeitig das Essen auf dem Tisch hatte“ (41). 20 Doleschal (2002) gelangt bei der Untersuchung von Grammatiken des 16. Jhs. bis heute zu dem Ergebnis, dass die Beispielsätze erst im späten 18. und 19. Jh. (mit Adelung 1782) geschlechtsstereotyp werden und im 20. Jh. in Bezug auf Frauen „die Gehässigkeit bis zu den siebziger Jahren […] immer mehr zugenommen hat“ (62). Werden grammatische Regeln vor der Aufklärung noch symmetrisch (von der Abfolge abgesehen) mit „der gelerte man, die gelerte fraw“ (Oelinger 1574, 26) oder „der Mann ist stark, die Frau ist stark, das Tihr ist stark“ (Schottel 1663, 262, beides nach Doleschal 2002, 46) illustriert, so tritt erst sehr viel später die Ausgrenzung und Abwertung der Frau grammatikografisch zutage - selbst in den Auflagen ein und desselben Werkes: Steht in „Allerhand Sprachdummheiten“ von Wustmann 1917 (7. Aufl.) zur Kongruenz von maskulinem Ausbund noch der Beispielsatz „Die jüngere Tochter ist ein Ausbund von Anmut und Gescheitheit, um den sich die tanzenden Herren förmlich reißen, wenn er in der Gesellschaft erscheint“, so erfährt man 1966 (14. Aufl.): „Die jüngere Tochter ist ein wahrer Ausbund an Häßlichkeit, der bei den Herren keine wärmeren Gefühle erwecken kann, wenn er in der Gesellschaft erscheint“. Schrambke (2002), die Schimpfwörter im Material des Südwestdeutschen Sprachatlas (SSA) untersucht, stellt fest, dass das zugrundeliegende Dialektfragebuch der 1970er Jahre nur Schimpfwörter für Frauen exploriert hat, und dies mit viel Liebe zum Detail: Gefragt wurde nach 1. einer dicken Frau, 2. unbeholfenen, 3. unordentli‐ chen, 4. auffällig gekleideten, 5. bösartigen, herrschsüchtigen Frau, 6. einer / m sexuell leichtfertigen Frau / Mädchen sowie 7. nach einer schwatzhaften Frau (ebd., 248). „Vergleichbare Fragen nach Schimpfwörtern für Männer waren nicht vorgesehen“ (249). Doch im sog. Spontanmaterial (jenseits des Fragebuchs) kamen durchaus grob‐ schlächtige, ungeschickte, dumme, einfältige, lüsterne, unordentliche, faule und eitle Männer vor (s. Kap. 8.4). Somit liegt hier ein klassischer Fall von dialektologischem doing gender vor, betrieben von (damals rein männlichen) Dialektologen, die Geschlecht bzw. die Übertretung von Geschlechterrollen nur bei der Frau wahrzunehmen in der Lage waren. Kopf (2022b) untersucht in vier aktuellen grammatischen Werken die darin enthal‐ tenen Vornamen, um die Geschlechterrepräsentanz zu ermitteln. Während in der Dudengrammatik (2009) praktisch genauso viele Frauenwie Männernamen vorkom‐ men (722 ≈ 51 % weibl., 698 ≈ 49 % ml.), sind es im IDS-Handbuch der deutschen Konnektoren (2003, 2014) nur 33 % zu 66 %, im „Grundriss der deutschen Grammatik“ (Eisenberg 2020 [1986]) 30 % zu 70 %; Schlusslicht bildet die IDS-Grammatik (1997), in der Frauen namentlich zu 20 %, Männer aber zu 80 % Raum gegeben wird. Da die Geschlechterrepräsentanz beim Verfassen der Dudengrammatik ein Thema war, wird die Gesellschaft diesbezüglich am ehesten so dargestellt, wie sie zusammengesetzt ist, 8.7 Geschlechter in der Linguistik 219 <?page no="221"?> während das Ausbleiben solcher Reflexionen zeigt, was dann ‚passiert‘. Innerhalb der Linguistik kommt bzw. kam es immer wieder vor, dass die (früher raren) Linguistinnen durch Nennung ihres Vornamens oder von Frau X als Abweichung und gleichzeitig als Geschlechtswesen markiert werden. So etwa konstatiert Breiner (1996, 91) bei der Replik von Kalverkämper (1979) auf einen Beitrag von Trömel-Plötz (1978), dass er 27-mal auf sie referiert, und zwar entweder mit Senta Trömel-Plötz, Frau Senta Trömel-Plötz oder Frau Trömel-Plötz. Doch spricht er niemals von *Herrn Coseriu oder *Herrn Trier. Hierdurch wird subtil Normalität und Antinormalität indiziert (s. auch Gorny 1995, 528 ff.). Weniger subtil verfährt ein Beispiel aus der generativen Linguistik: „Ich traf eine Linguistin. Die hagere Blondine lächelte gequält“ (Römer 1973, 74). Die Linguistik war früher, wie andere Wissenschaften auch, fest in Männerhand. Die übliche Mann-Frau-Kind-Hierarchie spiegelt sich in der ebenso üblichen Mask.-Fem.-Neutr.-Ordnung: der, die, das; er, sie, es etc. Diese hat eine lange Tradition, die aus lateinischen Grammatiken übernommen wurde. Zur Veranschaulichung von Verbformen der 3.Ps.Sg. wird in Konjugationstabellen und grammatischen Mo‐ dellsätzen vieler Lehrwerke einfach nur er gebraucht (Ott 2017a, 221 f., zeigt, dass dies in bayerischen Deutsch-Lehrwerken bis heute der Fall ist). Sehr lohnend wäre eine Analyse rein grammatikografisch induzierter Zählweisen von Genera bzw. No‐ minalklassen in nicht-idg. Sprachen, die ebenfalls sehr häufig zwischen weiblich und männlich ‚besetzten‘ Klassen unterscheiden. Dabei scheinen auf Männer referierende Klassen in aller Regel die Nr. 1 zu bekommen. Hier nur ein Beispiel aus Corbett (2013a) zur kaukasischen Sprache Lak: Lak (Daghestanian; central Daghestan highlands) has four genders […]: male rationals (I), female rationals (II), other animates (III), though this has other members too, including many inanimates, and a residue gender (IV), which also includes a few animates. Männer besetzen meistens die erste Klasse bzw. setzen sich in dieselbe, denn die Linguisten, die fremde Sprachen (erstmals) beschrieben, waren männlich. Damit handelt es sich auch hierbei um eine linguistische (und keine sprachliche) Geschlech‐ terhierarchisierung. Eine linguistische Erfindung des 18. und 19., teilweise noch des 20. Jhs. waren auch die sog. Frauensprachen mit ihren sonderbaren und (von der männlichen Normset‐ zung) abweichenden, meist primitiveren Merkmalen. Nach Frank (1992, 85) werden schon begrifflich sog. Frauensprachen zur anderen Sprachspezies verfremdet, während man dieselben ebenso gut zur Norm erheben und davon deviante Männersprachen diagnostizieren könnte. Ohnehin demontiert Glück (1997, 184) den Mythos solcher Frauensprachen mit angeblich geschlechtsexklusiver Grammatik und / oder Lexik, wenn er feststellt: Die Grundlagen der Mythen und Phantasien, die ‚das Karibische‘ umranken, sind an vielen Punkten nur mit Mitteln der Psychoanalyse zu rekonstruieren, insbesondere die ‚Frauenraub‐ these‘, in der sich die sexuellen Wunschvorstellungen ganzer Gelehrtengenerationen höchst wissenschaftlich austoben konnten (z. B. von Humboldt,-[…] v. d. Gabelentz-[…]). 220 8 Lexikon und Semantik <?page no="222"?> Gemäß Frank (1992, 85) beteiligt sich auch die Soziolinguistik an der Geschlechter‐ hierarchisierung, indem sie bei Frauen sog. hyperkorrektes, also standardnäheres Sprechen als Devianz diagnostiziert: Absurderweise wird mit diesem Begriff [hypercorrection] nicht etwa die männliche Mißach‐ tung der Norm als ‚abweichend‘ gekennzeichnet, sondern die (angebliche) Normtreue der Frauen: Das männliche Verhalten repräsentiert selbst dann noch die Norm, wenn es der Norm widerspricht. Erklärungsbedürftig erscheint daher allein das weibliche Verhalten. Auch die Feministische Linguistik befördert mit der oft einseitigen Besonderung weiblichen Sprechens diese Male-as-norm-Perspektive (ebd., 85 / 86; Tyler 1980). Die linguistische Relationierung weiblichen und damit potentiell devianten Sprechverhal‐ tens an der Normsetzung des männlichen Sprechens durchzieht fast die gesamte (angelsächsische) Soziolinguistik (Kap. 12) - abgesehen davon, dass die notorische, meist unreflektierte Berücksichtigung von Geschlecht bei jedweder Untersuchung per se eine der größten Instanzen der Herstellung von Geschlecht(ern) bildet. Oft erweist sich, dass es innerhalb eines Geschlechts zu größeren Streuungen kommt als zwischen den Geschlechtern. Dennoch wird Geschlecht als Kategorie selten hinterfragt. Ein anderes, höchst lohnenswertes Unterfangen bestünde in der Untersuchung der uns alle umgebenden Naturalisierung und Sakralisierung der Sprache als ein festes, durch Regeln fixiertes, unveränderliches System, das Wandelerscheinungen nicht duldet. Oft werden diese gar als Gewalt gegen ‚die Sprache‘ auslegt. Vor diesem Hintergrund gerät jeder Sprachwandel schnell zum Sprachverfall, seien es ‚eindrin‐ gende‘ Fremdwörter, Dativstatt Genitivrektionen, bestimmte Schreibweisen oder gar Formen, die Frauen sichtbarer bzw. die Geschlechter unsichtbarer machen. Dieses Ideologem der Unantastbarkeit des Heiligtums Sprache ist weit verbreitet und wird im öffentlichen Diskurs ohne Unterlass bemüht. Oft wird dabei ein dubioses (undefi‐ niertes) Ökonomieprinzip beschworen, das per se jeglicher Neuerung entgegensteht. Die Sprache wird biologistisch als etwas vom Menschen weitgehend Unabhängiges, Gewachsenes und Perfektes betrachtet, das man manipuliert, verletzt oder zerstört, sobald man irgendwo ‚eingreift‘ (das Ringen um die Orthografiereform hat dies gut vor‐ geführt). Gesetze, die ebenfalls geronnene Gesellschafts- und Geschlechterordnungen vergangener Jahrhunderte konservieren, erfahren zwar eine ähnliche Verehrung, doch sind sie immer noch weniger sakrosankt (und damit hinterfrag- und veränderbarer) als ‚die Sprache‘ (man weiß, dass Gesetze menschengemacht sind - was für Sprache auch gilt, wenngleich etwas anders). Dass andere Nationen (wie Schweden oder Norwegen) anders mit ihrer Sprache umgehen, ohne dass deren sprachpolitischen Reformen zum Niedergang dieser Sprachen führen, wird nicht zur Kenntnis genommen. Auch das Englische hat, z. B. durch die Verwendung von anaphorischem they bzw. their statt she / her und he / his, bereits ansehnliche, sprachpolitisch motivierte Erfolge 8.7 Geschlechter in der Linguistik 221 <?page no="223"?> 21 Allerdings kam dieses they bereits im 18. Jh. vor. Vielmehr ist die 1850 erfolgte präskriptive Festschreibung von he als einzig gültiger Form „ein bemerkenswertes Beispiel von patriarchalem normativem Eingreifen“ (Doleschal 2002, 41). vorzuweisen. 21 Die Verehrung und Verabsolutierung der ‚Muttersprache Deutsch‘ ist gespickt mit religiösen, irrationalen Zügen. Ist man mit der Geschichte der deutschen Sprache etwas vertraut, wundert man sich umso mehr über dieses Ausmaß selbst im 21. Jh. So schreibt Eisenberg (2017b) zu der movierten Form Flüchtlingin, die es (Kap. 6) vor wenigen Jahrzehnten, ebenso vor einigen Jahrhunderten, durchaus gab: „Aber die Form Flüchtlinginnen gibt es im Standarddeutschen nicht. Es kann sie auch nicht geben, ihre Bildung ist ausgeschlossen“ (67). Auch die erst seit den 1960er Jahren in Grammatiken zu findende Behauptung, es gebe ein generisches Maskulinum, gehört in diese Rubrik (Kap. 5. 1. 13). Oft werden frühere, gar Jahrtausende zurückliegende Sprachzustände als die einzig richtigen und wahren verabsolutiert, wenn es um die Ablehnung gegenwarts‐ sprachlicher Fakten geht. Paradebeispiel hierfür ist das pauschale Abstreiten sys‐ tematischer Genus-Sexus-Beziehungen mit dem Hinweis darauf, Genus habe einst (in diesem Fall vor mehreren tausend Jahren) nicht oder nur rudimentär auf Ge‐ schlecht verwiesen (Kap. 4.3.1). Auch dass es ursprünglich nur zwei Genera gab (Maskulinum und Neutrum) und evt. erst später das Femininum (zunächst zur Bil‐ dung von Kollektiva) hinzukam, wird gegen die heutige Tatsache vorgebracht, dass an die 100 % der Frauenbezeichnungen feminin bzw. Männerbezeichnungen mas‐ kulin sind (und es immer noch werden, s. entsprechende Fremdwörter). Aus sprachgeschichtlicher Perspektive gehört die Umdeutung von Formen zu den gängigsten Sprachwandelphänomenen: Man nennt sie Reanalyse. Bizarre und virtuose Züge nimmt die Verabsolutierung längst vergangener Sprach‐ perioden an, wenn man zur Legitimierung des sog. generischen Maskulinums im Deutschen gar zu anderen Sprachen greift, hier zum Lateinischen des 6. Jhs.: „Schon im Corpus Iuris Civilis des Kaisers Justinian wurde im 6. Jahrhundert für das Lateinische explizit festgestellt: ‚Pronuntiatio sermonis in sexu masculino ad utrumque sexum plerumque porrigitur‘ (Digesten 50, 16, 195). […] ‚Eine Bezeichnung mit männlichem Geschlecht erstreckt sich in der Regel auf jedes der beiden Geschlechter.‘ Dieser Satz hat bis heute Gültigkeit: Rechtstexte verwenden Maskulina generisch“ (Glück 2022). Was das Lateinische des 6. Jhs. mit dem Deut‐ schen des 21. Jhs. zu tun haben mag, bleibt rätselhaft (zu generischen Maskulina in deutschen Rechtstexten des 13.-16. Jhs. s. Kap. 6.2.2.1 und Stevanović 2023). 222 8 Lexikon und Semantik <?page no="224"?> Zusammenfassung Lexikalische Einheiten als die wichtigsten Bausteine unserer Sprache sind durchzo‐ gen von Geschlecht und Geschlechterordnungen und tragen oft noch den Ballast vergangener Jahrhunderte. Sie sind immer noch weitgehend unerforscht. Im Gegensatz zur Grammatik wird obsoletes Material (Frauenzimmer, Fräulein) aufgegeben. Seman‐ tischer und dabei häufig pejorisierender Wandel hat immer wieder zur Veränderung und Erneuerung weiblicher Personenbezeichnungen geführt (Mann-- Weib > Mann-- Frau), was entsprechende nicht-referenzielle Adjektive (männlich - weiblich) bzw. nicht-menschliche Lexeme (Männchen - Weibchen) nicht affiziert hat. Nur die Rolle der Braut, Ehefrau und Mutter ‚schützt‘ Frauenbezeichnungen vor (meist degradierendem) Wandel. Sprich- und Schimpfwörter, aber auch heutige Wörterbücher, konservieren überkommene Geschlechterrollen, die die Frau vom Mann abrücken und in die Nähe von Kindern bzw. Tieren einsortieren. Mehr als der Mann ist und hat die Frau Ge‐ schlecht, auch treten bei ihr besondere Virginitätsanforderungen zutage. Nicht zuletzt beteiligt sich die Linguistik selbst rege an der Herstellung von Geschlecht und der Asymmetrisierung der Geschlechtsklassen, bspw. indem sie weibliches Sprechen selbst dann noch als deviant zum männlichen konzipiert, wenn es normgerechter ausfällt. Durch einseitige Befragungsmethoden (z. B. nach Schimpfwörtern für bestimmte Frau‐ entypen) ist es der Dialektologie gelungen, Schimpfwörter für Männer systematisch auszublenden. Zusammenfassung 223 <?page no="226"?> 1 Teile dieses Kapitels basieren auf Kap. 7.2.4 und 7.3.3. der Einführung in die Onomastik von Nübling et al. (2015). 2 In der Onomastik spricht man eher von Rufals von Vorname, da ein Vorname auch einen Nachnamen impliziert. Es gibt jedoch Gesellschaften mit nur einem Rufnamen (Island). Daher ist es am unverfänglichsten, von Ruf- und Familienname zu sprechen. 9 Onomastik: Personennamen 1 Kaum eine andere sprachliche Einheit ist so eng mit Geschlecht assoziiert wie der Per‐ sonenname - und kaum eine andere sprachliche Einheit wurde von der (Gender-)Lin‐ guistik bislang so gründlich übersehen. Namen liegen im toten Winkel verschiedener Disziplinen, obwohl sich Menschen sehr für sie interessieren und Namen für sie von enormer Bedeutung sind. Die Onomastik (Namenforschung) befasst sich primär mit der Etymologisierung (Deutung) undurchsichtiger Orts-, Fluss- und Familiennamen. Umgekehrt klammert die Linguistik Eigennamen aus nicht nachvollziehbaren Gründen weitgehend aus. Namen verhalten sich wie der berühmte Elefant im Raum: Sie sind raumfüllend und unübersehbar, werden aber nicht thematisiert. Dieses Schweigen hat erst 2003 die Untersuchung „Naming Gender“ von Susanne Oelkers beendet. Im selben Jahr erschien in „Die Vornamen und die Moderne“ von Jürgen Gerhards das Kapitel „Geschlechtsklassifikation von Vornamen“. Seitdem etabliert sich eine Genderonomastik. Zwar hat die (Sozio-)Onomastik Geschlecht als Variable mitge‐ führt, doch nie als eigenes Erkenntnisinteresse in den Mittelpunkt gerückt (dies leistet der Band „Namen und Geschlechter“ von Nübling / Hirschauer 2018). Dieses Kapitel kann die zahlreichen, weitgehend immer noch brachliegenden genderonomastischen Themenfelder nur skizzieren. Eigennamen sind Ausdrücke, die sich (idealerweise) auf genau ein Objekt in der Welt beziehen (sog. Monoreferenz), ohne dass sie eine wörtliche Bedeutung entfalten (Paris, Australien, K2, Mao Tsetung, Angela Merkel). Selbst wenn sie scheinbar eine enthalten, so aktivieren sie nicht das Bedeutungspotential: Heidelberg bezeichnet eine Stadt, Düsseldorf ist kein Dorf, und Herr Schäfer kann Lehrer sein, ohne dass wir uns darüber wundern-- eher wäre das Gegenteil der Rede wert. Personennamen beziehen sich im Idealfall auf eine Einzelperson. Doch gibt es viel mehr Menschen als Namen. Gerade in Städten, wo viele Menschen aufeinandertreffen, kann dies zu Problemen führen. Deshalb hat sich in Deutschland ein zweinamiges System herausgebildet: Jede Person hat offiziell mindestens einen Vor- oder Rufnamen (die Ausdrücke sind synonym) und einen Nach- oder Familiennamen (dito). 2 Mögliche inoffizielle Namen (Beinamen, Kosenamen, Spottnamen) kommen hinzu. Andere Länder haben drei Namen ausgebildet (z. B. Russland; Dänemark ist auf dem Weg dazu), Island kennt bis heute nur einen. Wir beziehen uns auf Deutschland und behandeln erst den Ruf-, dann den Familiennamen und anschließend das Genus von Namen. <?page no="227"?> 9.1 Luca und Eurone-- Rufnamen und Geschlecht Im Sommer 2017 ging durch die Presse, dass eine syrische Flüchtlingsfamilie ihrem neugeborenen Mädchen als Dank an die Bundeskanzlerin die beiden Rufnamen Angela Merkel geben wollte. Während Angela als Vorname akzeptiert wurde, bereitete Merkel ein Problem - nicht etwa, weil Merkel ein Familienname ist, sondern weil Merkel vom Standesamt als Jungenname eingeordnet wurde. Auch wenn Merkel im „Lexikon der Vornamen“ von Kohlheim / Kohlheim (2013) nicht enthalten ist, so scheint man ihn als Diminutiv zum alten Rufnamen Markwart (aus dem der Familienname historisch auch hervorgegangen ist) aufgefasst zu haben. Auf -el enden prinzipiell sowohl weibliche (Bärbel, Friedel) als auch männliche Namen (Wenzel, Hänsel); der Namenklang, der im Deutschen geschlechtlich aufgeladen ist, half also auch nicht weiter. Letztlich verständigte man sich darauf, Merkel als Mittelname, wie ihn Amerikanerinnen oder Dänen oft tragen, zu werten. Man erkennt an diesem Beispiel die Obsession deutscher Namen mit Geschlecht: Warum ist es nicht egal, ob Merkel ein Mädchen- oder ein Jungenname ist? Warum kann man ihn nicht als Unisex-Namen (seit 2009 erlaubt) verwenden? Prinzipiell ist es in Deutschland auch erlaubt, Kindern einen erfundenen oder fremden Rufnamen zu geben, solange er „seinem Wesen nach“ (so der gesetzliche Wortlaut) als Vorname zu erkennen ist (was für Heidelberg, Bello oder Müller nicht gilt). In einem anderen Fall wollten Eltern ihre Tochter Euro nennen. Auch hier war es nicht die Währung, die dem entgegenstand, sondern der als männlich empfundene Klang des Namens: Man einigte sich auf Eurone. Dass Rufnamen Geschlecht transportieren, ist so selbstverständlich, dass ‚Nichtpas‐ sungen‘ immer wieder ein Thema für die Medien sind. Rufnamen sind wie tertiäre Geschlechtsorgane: Sie werden dem Menschen ähnlich wie ihr Geschlecht zugewie‐ sen und haften lebenslang an ihm. Die erste und gravierendste Menschenklassifikation ist die Bestimmung des Kindsgeschlechts, die Vergabe eines geschlechtsspezifischen Namens und der Eintrag all dieser Informationen ins Geburtenregister. Wie Transgen‐ derpersonen mit dieser genital orientierten Klassifikation umgehen, behandelt Kap. 9.4. Bei intergeschlechtlichen Kindern kam es 2013 zur Aussetzung der Geschlechts‐ erfassung: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen“ (P[ersonen]st[ands]G[esetz] § 22.3). Im August 2018 wurde neben dieser Negativinformation auch der positiv formulierte Eintrag „divers“ erlaubt. Wie ein geschlechtsuneindeutiges Kind jedoch benannt werden soll, wenn das Nameninventar binär angelegt ist, war zunächst unklar und wurde auf Nachfrage (Schmidt-Jüngst 2013) wie folgt beschieden: Da das Namengesetz die Information über das Geschlecht des Kindes gar nicht verlangt (dies praktizieren nur die Standesämter), werden androgyne Namen (die beide Geschlechter aufrufen) wie Lisa Erik oder Noah Christina empfohlen oder geschlechtsneutrale Namen (weder noch) wie Eike oder Kim. Damit wird die bislang harte onymische Geschlechtergrenze durchlässig. Auch Namen von MigrantInnen brechen diese fragwürdige Dichotomie auf. Hierfür ist das sog. Kiran-Urteil von 2008 von Bedeutung: Einer indischstämmigen Familie wurde 226 9 Onomastik: Personennamen <?page no="228"?> vom Standesamt zunächst untersagt, ihrer Tochter den in Indien geschlechtsneutralen Namen Kiran zu geben. Das Standesamt argumentierte interessanterweise rein pho‐ nologisch, denn es erklärte den Ausgang -an in Analogie zu anderen Namen wie Julian und Christian als männlich. Die anschließende Verfassungsbeschwerde der Eltern war erfolgreich: Mit dem geschlechtsneutralen (Unisex-)Namen Kiran wurde keine Beeinträchtigung des Kindeswohls sowie der Entfaltung der kindlichen Identität und Individualität mehr erkannt. Das ist ein wichtiger Durchbruch, der seit 2009 Unisex‐ namen wie z. B. Eike, Toni oder Ulli erlaubt - von denen es aber bislang kaum welche gibt, da die Tradition dazu fehlt (zu einer kleinen Liste s. Kohlheim / Kohlheim 2013, 409). Nach wie vor vergeben die meisten Eltern ihren Kindern geschlechtsspezifische Namen. Zur Benennung intergeschlechtlicher Personen werden weitere kreative Lö‐ sungen praktiziert. So berichtete die F. A. Z. (30. 07. 2017) von einer Inter-Person, die chirurgisch als Mädchen vereindeutigt und unter dem Namen Sandra erzogen wurde, sich später aber in Sandrao umbenannt hat. Noch schwieriger ist die Pro‐ nomenwahl: Sandrao akzeptiert mangels Alternativen es (was viele andere ableh‐ nen). Öfter sieht man sier als Kreuzung. Unisexnamen spielen in Deutschland keine große Rolle, wohl aber in Ländern wie in den USA. Hier haben Barry / Harper (1982, 1993) Entstehung und Wandel untersucht: Die meisten Unisexnamen ent‐ stammen ursprünglich Männernamen, die vermehrt an Töchter vergeben werden, um langfristig als reine Frauennamen zu enden, d. h. ab einem bestimmten Durch‐ mischungsgrad meiden Eltern solche Namen für ihre Söhne. Barry / Harper (1993) deuten dies wie folgt: “Many of the unisex names […] support the conclusion […] that names tend to evolve from masculine to unisex to feminine. This evolution may be attributable to a greater willingness to give a traditional masculine name to girls than to give a traditionally feminine name to boys. Ashley [1989, 244] notes that a unisex name is usually avoided for boys once it is clear that it is being given to girls also“ (236) (s. auch Lieberson et al. 2000; Schmuck 2018; Nübling 2018a) In Deutschland ist es nur verboten, Kindern einen gegengeschlechtlichen Vornamen zu geben: Ein Mädchen darf nicht Frank, ein Junge nicht Angela heißen. Als einzige Ausnahme kann man zum Ausdruck katholischen Glaubens Jungen den Zweitnamen Maria geben (Guido Maria Kretschmer). Auch universell ist Geschlecht eine onymisch sehr häufig vermeldete Information: „One of the most common pieces of information contained in a given name is the sex of the named person“, stellt der Soziologe Richard Alford (1988, 65) in seiner kulturvergleichenden Untersuchung zur Namengebung weltweit fest. Von 52 diesbezüglich untersuchten (nichtindustriellen) Gesellschaften markieren 37 (72 %) das Geschlecht der benannten Person immer oder üblicherweise 9.1 Luca und Eurone-- Rufnamen und Geschlecht 227 <?page no="229"?> am Namen, sieben manchmal und acht nie. Damit kann Geschlecht durchaus onymisch irrelevant sein. Alford erkennt hierbei eine Korrelation zwischen Gesellschaft und namentlicher Geschlechtskennzeichnung: Je größer und komplexer, desto eher ge‐ schlechtssegregierte Namen. Humandifferenzierungen (nach Geschlecht, Alter, Haut‐ farbe, Ethnizität, Religion) dienen der Reduktion der Wahrnehmungskomplexität (man teilt unbekannte Menschen sofort in ähnlich und nicht-ähnlich) und liefern die Vorlage für Bewertungen, auch für Stigmatisierungen bis hin zu Diskriminierungen. Prinzipiell gibt es nach Alford (1988, 66) drei Möglichkeiten, Geschlecht am Namen zu markieren: semantisch, formal und konventionell. a) Beim semantischen Prinzip handelt es sich um „sprechende Namen“, die von normalen Substantiven, Adjektiven, Verben etc. Gebrauch machen. Früher gehörten die germanischen zweigliedrigen Rufnamen, die man auch „programmatische Namen“ nennt, zu diesem transparenten Typ, da sie Wunschvorstellungen an das künftige Leben des Kindes ausdrückten. So bedeutete oben erwähntes Markwart ‚Grenzschützer‘. Eberhard ist noch heute noch verständlich (‚hart, kräftig wie ein Eber‘). Der Frauenname Mechthild enthält ahd. maht ‚Macht, Kraft‘ und hiltja ‚Kampf‘, drückt also den Wunsch nach einer starken Kriegerin aus (ähnlich auch Hedwig, Kohlheim/ Kohlheim 2013). Man erkennt erstens, dass sich bei den germanischen Benennungsmotiven, die meist von Krieg, Kampf, Verteidigung, Schutz, Waffen und Raubtieren handeln, kaum Geschlechterunterschiede erkennen lassen; man geht gerne davon aus, dass die heutigen Geschlechterstereotype auch - oder sogar noch mehr - vor 2000 Jahren gegolten haben, was diese Namen widerlegen. Zweitens sind sich diese Namen phonologisch sehr ähnlich, d.h. man konnte ihnen keinen Geschlechtsunterschied „anhören“ (wie dies heute meist der Fall ist). Drittens ist aus Sicht der Genus/ Sexus-Debatte von höchster Relevanz, dass schon damals ein enger Konnex zwischen grammatischem Genus des Namens und dem Geschlecht des Kindes bestanden hat: Das Zweitglied von Mädchennamen musste feminin sein (z.B. ahd. hiltja [f.] ‚Kampf‘ > -hild) und das von Jungennamen maskulin (z.B. ahd. -wart [m.] ‚Schützer‘) (Kap. 4.2.2). Später wurden diese Namen undurchsichtig und unverständlich, vielfach gekürzt, kontrahiert, diminuiert oder anderweitig verändert, so dass man ihnen ihre germanische Herkunft oft nicht mehr ansieht, vgl. Gerda < Gertrud, Gerd < Gerhard, Otto < Ot[mar, -fried], Hedda < Hedwig. Heute gehört das Deutsche Typ b) und c) an. Dem semantischen Prinzip gehören viele Sprachen an, z.B. Chinesisch, Japanisch, Arabisch, Türkisch. Hier wirken meist soziale Geschlechtsrollenzuschreibungen (Gender), je nachdem, welche Stereotype oder (erstrebenswerte) Eigenschaften Abb. 9-1: Die drei Prinzipien der Geschlechtsmarkierung an Personennamen a) Beim semantischen Prinzip handelt es sich um „sprechende Namen“, die von Substantiven, Adjektiven, Verben etc. Gebrauch machen. Früher gehörten die germanischen zweigliedrigen Rufnamen, die man auch programmatische Namen nennt, zu diesem transparenten Typ, da sie Wunschvorstellungen an das künftige Leben des Kindes ausdrückten. So bedeutete oben erwähntes Markwart ‚Grenzschützer‘. Eberhard ist noch heute verständlich (‚hart, kräftig wie ein Eber‘). Der Frauenname Mechthild enthält ahd. maht ‚Macht, Kraft‘ und hiltja ‚Kampf ‘, drückt also den Wunsch nach einer starken Kriegerin aus (ähnlich auch Hedwig, s. Kohlheim / Kohlheim 2013). Man erkennt erstens, dass sich bei den germanischen Benennungsmotiven, die meist von Krieg, Kampf, Verteidigung, Schutz, Waffen und Raubtieren handeln, kaum Geschlechterunterschiede identifizieren lassen; man geht gerne davon aus, dass die heutigen Geschlechterstereotype auch - oder sogar noch mehr - vor 2000 Jahren gegolten haben, was diese Namen widerlegen. Zweitens sind sich diese Namen phonologisch sehr ähnlich, d. h. man konnte ihnen keinen Geschlechtsunterschied „anhören“ (wie dies heute meist der Fall ist). Drittens ist aus Sicht der Genus / Sexus-Debatte von höchster Relevanz, dass schon damals ein enger Konnex zwischen grammatischem Genus des Namens und dem Geschlecht des Kindes bestanden hat: Das Zweitglied von Mädchennamen musste feminin sein (z. B. ahd. hiltja [f.] ‚Kampf ‘ > -hild) und das von Jungen‐ namen maskulin (z. B. ahd. -wart [m.] ‚Schützer‘) (Kap. 4.3.2). Später wurden diese Namen undurchsichtig und unverständlich, vielfach gekürzt, kontrahiert, 228 9 Onomastik: Personennamen <?page no="230"?> diminuiert oder anderweitig verändert, so dass man ihnen ihre germanische Herkunft oft nicht mehr ansieht, vgl. Gerda < Gertrud, Gerd < Gerhard, Otto < Ot[mar, -fried], Hedda < Hedwig. Heute gehört das deutsche Vornamensystem Typ b) und c) an. Das semantische Prinzip praktizieren viele Sprachen, z. B. Chinesisch, Japanisch, Arabisch, Türkisch. Hier wirken meist soziale Geschlechtsrollenzuschreibungen (Gender), je nachdem, welche Stereotype oder Eigenschaften man den Geschlech‐ tern zuweist. Türkische Frauennamen entstammen semantischen Feldern für Gefühle (Özlem ‚Sehnsucht‘), Blumen (Çiğdem ‚Krokus‘), Gerüche, Licht, Sanft‐ heit, Zierde (Oya ‚Häkelspitze‘), Männernamen handeln von Mut, Kühnheit, Kraft und Raubtieren (Yilmaz ‚furchtlos‘, Erdinç ‚kräftiger Mann‘; s. Zengin 2006; Aydin 2016; 2020). Außerdem gibt es Unisexnamen, meist aus Naturbegriffen, wie Deniz ‚Meer‘ und Güneş ‚Sonne‘. b) Das formale Prinzip operiert nur am Namenkörper (die wörtliche Bedeutung des Namens ist irrelevant) und enthält geschlechtsexklusive Affixe oder Segmente, z. B. Movierungssuffixe wie im Deutschen, die aus männlichen Namen weibliche generieren (die umgekehrte Richtung ist blockiert) und damit das weibliche Ge‐ schlecht vor sich her tragen: -ina / -ine (Wilhelmina, Bernhardine), -e (Christiane), -a (Michaela). Besonders stark setzt das Italienische auf geschlechtsindizierende Endungen: 95 % der Frauennamen enden auf -a (Claudia), 4 % auf -e. Dagegen lauten 77 % der Männernamen auf -o aus (Claudio), 14 % auf -e (Gabriele) und immerhin 4 % auf -a (Luca, Nicola), die uns später noch begegnen werden, da sie in Deutschland derzeit beliebt sind. c) Konventionell organisierten Namen hört und sieht man ihr Geschlecht nicht an. Man weiß es einfach, d. h. man hat es gelernt. Dass Almut eine Frau und Helmut einen Mann bezeichnet, hat man gelernt, ebenso Doris vs. Boris. Gerade die zahlreichen Namen germanischer Herkunft gehören heute zum konventionellen Typ (Oelkers 2003, 45-56; 2004). Die Pfeile in Abb. 9-1 zeigen, dass sich diachron - wie im Deutschen geschehen - semantische zu formalen oder konventionellen Systemen entwickeln können, aber nicht umgekehrt. Zwischen „formal“ und „konventionell“ besteht ein beidseitiges Spannungsverhältnis, das ebenfalls fürs Deutsche gilt: Formale Geschlechtskennzei‐ chen können erodieren (wie z. B. durch die Nebensilbenabschwächung im Mittelhoch‐ deutschen, die alle unbetonten Vollvokale zu -e [ǝ] homogenisierte). Umgekehrt können konventionelle Namen zur Verdeutlichung formale Merkmale annehmen - wie ebenfalls bei vielen deutschen Namen geschehen, u. a. auch durch die Entlehnung der frz. Femininendung -ine. Solche sekundären Geschlechtsmarker liegen auch bei Gerda (weibl.) vor oder bei Oda (weibl.) vs. Odo, Otto (männl.). Diese vollvokalischen Endun‐ gen wurden aus dem Lateinischen entlehnt und widersetzen sich der geschlechtsnivel‐ lierenden Nebensilbenabschwächung, d. h. die bedrohte Geschlechtergrenze wurde 9.1 Luca und Eurone-- Rufnamen und Geschlecht 229 <?page no="231"?> wieder errichtet (boundary making). Zurecht bewertet dies Steche (1927, 141) als große Besonderheit: So wurden aus den mhd. Formen brune, huge, otte, berte, eve, gisele die nhd. Namen Bruno, Hugo, Otto, Berta, Eva, Gisela; bei einigen weiblichen Namen blieben die mhd. Formen mit abgeschwächtem Endlaut neben den neuen erhalten: Else und Elsa, Marie und Maria. Diese Wiederbelebung klangvoller Endsilben ist ein ganz außergewöhnlicher Vorgang in der deutschen Sprachgeschichte. Hieran erkennt man das offensichtliche Bedürfnis, schon am Namen erkennbar zu machen, ob er eine Frau oder einen Mann bezeichnet. Keine andere Information wird so zuverlässig markiert, auch wenn wir dem Namen durchaus Alter entnehmen (Lara - Hedwig), Ethnizität / Nationalität (Dilek - Leonie - Urs - Sheila - Ahmed) oder die regionale Herkunft (Josef - Sören - Mandy). Darauf ist jedoch kein Verlass, man ist allenfalls kurz irritiert, wenn sich die Erwartung nicht bestätigt. Ganz anders bei Geschlecht, dessen onymische Fixierung viele Gesellschaften sogar vorschreiben. Deshalb kommt Personennamen der Status tertiärer Geschlechtsorgane zu. In Deutschland wird selten hinterfragt, ob Rufnamen Geschlecht kodieren sollen. Einer der wenigen, der eine solche Notwendigkeit bezweifelt, ist der Jurist Michael Coester: Der Durchgriff der Kennzeichnungsfunktion auf Eigenschaften des Namenträgers muss nicht beim Geschlecht halt machen, er kann auch ethnische, rassische oder religiöse Zugehörigkeiten erfassen. Die Diskriminierungsgefahr ist offensichtlich, ein legitimes staatliches Interesse, schon durch das äußere Etikett des Namens Daten sichtbar werden zu lassen, um Klassifizierungen zu schaffen, ist nicht ersichtlich. (Coester 1986, XLVII) Diskriminierungen wurden durchaus nachgewiesen: Dass Frauen nur aufgrund ihres Namens im Wissenschaftsbetrieb schlechtere Ein- und Aufstiegschancen als gleichqualifizierte Männer hatten, belegen für das Schweden der 1990er Jahre Wennerås / Wold (1997) und für die USA Moss-Racusin et al. (2012) sowie Bruning et al. (2000). Für Deutschland gibt es dazu keine Untersuchungen. Die phonologischen Strukturunterschiede zwischen Frauen- und Männernamen sind so fest internalisiert, dass man in der Lage ist, auch unbekannten Namen sofort und zuverlässig ein Geschlecht zuzuschreiben (s. den Test von Lieberson / Mikelson 1995 für die USA und den von Gerhards 2003 für Deutschland). Extrahiert man die faktisch bestehenden Strukturunterschiede zwischen den 250 häufigsten Frauen- und den 250 häufigsten Männernamen in Deutschland (der lebenden Bevölkerung, Stand 2014), dann ergeben sich teilweise gravierende Divergenzen: Erstens sind Frauengegenüber Männernamen mit durchschnittlich rd. 2,6 gegenüber 2,0 Silben deutlich länger, zweitens sind sie seltener erstsilbenbetont, drittens enthalten sie deutlich mehr 230 9 Onomastik: Personennamen <?page no="232"?> 3 Die erwähnte intergeschlechtliche Person Sandrao kombiniert diese beiden jeweils geschlechtsex‐ klusiven Endungen (Androgynisierung). Vokale, und viertens - hier sitzt der größte Unterschied - enden sie zu 78 % auf einen Vokal, Männernamen dagegen, fast invers dazu, zu 74 % auf einen Konsonanten (s. Oelkers 2003; Nübling et al. 2015, 128-137; Nübling 2018a, 2018b) (Tab. 9-1). Damit ist der Auslaut die geschlechtssalienteste Position. - Frauennamen Männernamen 1. Silbenzahl Ø 2,56 Ø 2,02 2. Hauptakzent erste Silbe: 64 % erste Silbe: 94 % 3. Konsonanten- / Vokalanteil K < V: 24 % K-= V: 38 % K > V: 38 % K < V: 6 % K-= V: 22 % K > V: 72 % 4. Auslaut auf Vokal: 78 % auf Kons.: 22 % auf Vokal: 26 % auf Kons.: 74 % Tab. 9-1: Wichtigste Unterschiede der jeweils 250 häufigsten Frauen- und Männerrufnamen (transkri‐ biert) in Deutschland Nicht entnehmbar ist Tab. 9-1, dass Einsilbigkeit (Gerd, Jan, Hans) der exklusivste Männlichkeitsmarker ist (es gibt fast keine weiblichen Einsilber). Dagegen gehen drei- und viersilbige Namen meist aufs Konto der Frauennamen. Der exklusivste Weiblich‐ keitsmarker ist auslautendes -a: Das trifft für ca. die Hälfte der 250 Frauennamen zu, dagegen nur für sieben der Männernamen. Ein auf -a auslautender Name hat eine 95 %-ige, ein auf -e [ǝ] auslautender eine 88 %-ige Wahrscheinlichkeit, eine Frau zu bezeichnen. Wenn Männernamen vokalisch auslauten, dann dominant auf -o (Leo) 3 oder -[ɐ], dem Korrelat von grafischem -er (Dieter). Dies erklärt, weshalb der oben genannte Name Euro nicht als Mädchenname akzeptiert wurde. Damit ist Geschlecht in die tiefste grammatische Ebene, die Phonologie, sedimentiert: Vornamen enthalten genderisierte Phonologie. So verhält es sich zumindest bei offiziellen Namen als onymischem Ausweis gegenüber fremden Menschen. Sind sich Menschen jedoch vertraut und bilden sie Familien, Freunde oder Paare, dann ereignet sich etwas auf den ersten Blick Paradoxes, aber auf den zweiten Blick gut Nachvollziehbares: Kosenamen (als inoffizielle Namen der Nähe) werden oft aus dem Rufnamen der vertrauten oder geliebten Person abgeleitet, z. B. Gabriele > Gabi, Wolfgang > Wolfi. Dabei können sogar identische Namen entstehen, z. B. Ulrike / Ulrich > Uli, Antonia / Anton > Toni. Oft werden die Namen nur verkürzt, auch dabei können identische Formen entstehen: Alexandra / Alexander > Alex, Chris‐ tian / Christiane > Chris. Was also bei offiziellen Namen tunlichst vermieden wird, wird hier vernachlässigt: Geschlecht wird gleichgültig. Interessanterweise ist es genau der geschlechtssalienteste Auslaut, der bearbeitet wird, entweder indem er durch hypo‐ 9.1 Luca und Eurone-- Rufnamen und Geschlecht 231 <?page no="233"?> koristisches (kosendes) -i überschrieben oder einfach gekappt wird. Hierdurch können Frauennamen plötzlich einsilbig werden und Männernamen mehrsilbig. Überhaupt verringern sich ihre phonologischen Genderunterschiede kräftig (s. Nübling 2014c, 2017a, u. a. auch zum Vorschlag eines sog. Genderindexes). Dieses Faktum kennt die Geschlechtersoziologie und erklärt sie wie folgt: In engen Beziehungen weiß man um das Geschlecht des oder der anderen, die namentliche Geschlechtsanzeige ist überflüs‐ sig; wichtiger ist das kosende Einheits-i oder -chen am Ende, das Zuneigung ausdrückt. Mehr noch: Das Geschlechterspiel stört eine erfolgreiche Paarbeziehung, die auf Dauer darauf angelegt ist, das Gegenüber als Individuum wahrzunehmen. Führt man ständig ein Geschlecht auf (doing gender), behindert dies die Personenwahrnehmung. Zwar spielt in heteronormativen Gesellschaften das (unterschiedliche) Geschlecht bei der Paarbildung eine Rolle, es tritt aber im Laufe der Paarbeziehung in den Hintergrund (ebenso auf anderen Zeichenträgern wie Kleidung, Schmuck, Attitüden). Ebenso treten Hautfarbe, Ethnizität oder Religionszugehörigkeit in den Hintergrund, sobald man einen Menschen als Individuum erfasst (Hirschauer 2013). Hinzu kommt, dass Kose- oder gar Intimnamen für Dritte unbekannt oder tabu sind. Die Vertrauten sprechen mit diesen Namen nicht über-, sondern zueinander. In dieser face-to-face-Situation, wo der Kosename der Adressierung dient, ist das Geschlecht des Gegenübers ohnehin sichtbar. Dieses onymische Degendering bestätigen auch sog. Koseübernamen vom Typ Liebling, Schatz(i), die ebenfalls reziprok und damit geschlechtsübergreifend vergeben werden, genauso die Anredepronomen du, ihr und Sie im Gegensatz zur 3. Person Singular sie vs. er, womit üblicherweise auf abwesende Personen referiert wird. Eine solche Referenz leisten auch offizielle Rufnamen. Beobachtet man die Auswahl offizieller Vornamen über die Jahrzehnte hinweg, so lässt sich etwas Weiteres feststellen: 1945 war der phonologische Unterschied zwischen den jeweils 20 häufigsten Mädchen- und Jungennamen beträchtlich größer als heute (s. Nübling 2009a, 2009b, 2012). Im Laufe der Zeit haben sich die Vornamen bezüglich ihrer Länge angeglichen (Abb. 9-2), aber auch bzgl. ihrer Akzentposition und ihrer vokalischen Füllung. Offiziell sind Jungen- und Mädchennamen nach wie vor in einem Maße segregiert, wie dies in räumlicher Hinsicht heute nur noch für öffentliche Toiletten und Gefängnisse gilt. Außerdem sind, wie bereits erwähnt, Unisexnamen erlaubt, d. h. die Grenze trennt nicht mehr rigide, vielmehr wird sie besiedelt. 232 9 Onomastik: Personennamen <?page no="234"?> 4 Was der Griff ins „falsche“ Nameninventar verursachen kann, besingt Johnny Cash in dem Lied „A boy named Sue“, das das Leid eines so benannten und verhöhnten jungen Mannes schildert, der dafür Rache an seinem Vater nehmen will. Inspiration für das Lied war ein Richter namens Sue Kerr Hicks aus Tennessee, dessen Mutter bei seiner Geburt starb und deren Namen er deshalb bekam. 5 Dies gilt jedoch nicht für a-Ausgänge mit morphologischem Status (Movierungssuffixe). Solchen Namen ist ein männliches Korrelat inhärent: Martina oder Paula dürften im Gegensatz zu Luca oder Elia nie eine Chance haben, an Jungen vergeben und damit degenderisiert zu werden. Abb. 9-2: Veränderungen in der Silbenzahl von 1945 - 2015 Doch nach wie vor darf kein Kind einen Namen mit dem „falschen“ Geschlecht tragen. 4 Die Geschlechterrollen haben sich allerdings seit dem Zweiten Weltkrieg einander angeglichen, was sich ziemlich präzise in der Namenwahl niederschlägt. Durch diese „Verähnlichung“ (Lea, Leo, Lara, Luca) findet ein onymisches Degendering hinter den Kulissen (im phonologischen Material) statt. Diese Relevanzabnahme von Geschlecht hat seit der Jahrtausendwende eine neue Qualität erreicht: War (und ist noch) auslautendes -a, wie oben erwähnt, der verlässlichste Weiblichkeitsindikator, so verliert dieser Auslaut derzeit sein Geschlecht. 5 Seit 2000 befindet sich Luca als Jungenname in den Top 10 (er ist genaugenommen ein Unisexname, darf also auch an Mädchen vergeben werden, was jedoch kaum geschieht). Wenig später kam Noah hinzu (2016 auf Platz 7, 2022 auf Platz 1), und an Fahrt nehmen auch Jona(h), Mika, Joshua und Elia(h) auf. Damit kommen endgültig (noch) sehr weibliche klingende Jungennamen auf, die die phonologische Distanz zwischen den Geschlechtern verringern (mehr in Nübling 2018a, 2018b). Interessanterweise hat ein Teil dieser Namen „Partner“, die auf -s auslauten und die auch tatsächlich den vokalisch auslautenden zeitlich vorangehen: Bevor Luca / Luka die Top-Positionen eroberte, hatte einige Jahre zuvor schon Lukas / Lucas diesen Weg geebnet, wie Abb. 9-3 zeigt (2022 besetzt Luca / Luka Platz 8, Lu). Seit 2015 haben Jonas und Elias bereits die Top 10 erreicht - und ihre „entsiegelten“ Pendants weisen rasante Zuwächse auf (s. Nübling 2018a mit entsprechenden Abbildungen). 9.1 Luca und Eurone-- Rufnamen und Geschlecht 233 <?page no="235"?> 6 In den Niederlanden segregiert die Schreibung noch stärker als in Deutschland: Noa wird ausschließ‐ lich an Mädchen vergeben und nahm 2012 Rang 15 ein, während der homophone, aber heterografe Name Noah an Jungen vergeben wird und 2012 auf Rang 17 stand (s. hierzu Schmuck 2018). Abb. 9-3: Die Karriere der Spitzenreiter Luc|kas und Luc|ka (1976 - 2015) Interessanterweise vergeben Eltern diese a-Namen immer seltener an ihre Töchter. Noch 2004 mutmaßte Oelkers, dass Luca (bzw. Luka), obgleich italienischer Männer‐ name, in Deutschland als reiner Mädchennamen enden werde, so wie einige Jahrzehnte zuvor Andrea und Gabriele. Heute wissen wir, dass das Gegenteil eingetreten ist. Die Mädchen bzw. ihre Eltern meiden Luca / Luka sogar von Jahr zu Jahr mehr, was wiederum zeigt, dass echte Unisexnamen wenig erwünscht sind. Einige dieser Namen (Jonah, Eliah) haben eine Schreibvariante mit finalem -h, das phonologisch stumm ist. Wie Nübling (2018a) zeigt, konzentrieren sich allein zwischen den Geburtsjahrgängen 2011 und 2015 diese rein grafischen Varianten mit pseudokonsonantischem h-Auslaut noch stärker auf die Jungen als es die h-losen Vari‐ anten tun: Wenn schon Jungennamen weiblich klingen, so lässt man sie immerhin noch wie Jungennamen aussehen. Dies eröffnet ein noch brachliegendes Forschungsfeld: Die Schreibung von Namen und deren Bezug zur Geschlechterordnung. 6 So weiß man etwa aus amerikanischen Studien, dass das englische Kosesuffix [ɪ], das sich häufig an Namenkurzformen heftet, bei Frauen eher <ie> und bei Männern <y> geschrieben wird: Bobbie vs. Bobby (Wierzbicka 1992). Die Schreibung wird genutzt, um bei homophonen Namen das Geschlecht zumindest sichtbar zu machen (Kap. 10). 234 9 Onomastik: Personennamen <?page no="236"?> 7 In vielen Sprachen werden Familiennamen noch heute moviert, z. B. im Russischen, Bulgarischen und Polnischen, auch im Litauischen. In Litauen waren Frauen bis 2003 sogar verpflichtet, über ein spezifisches Suffix ihren Familienstand, d. h. ihre Verfügbarkeit und auch ihr ungefähres Alter zu vermelden. Dem entsprach in Deutschland bis in die 1970er Jahre präponiertes Fräulein, das lange verteidigt und mit deutscher Tradition begründet wurde. 9.2 Die Lutherin und Frau Thomas Mann-- Familiennamen und Geschlecht Familiennamen scheinen vordergründig nicht viel mit Geschlecht zu tun zu haben. Zumindest markieren sie in Deutschland kein Geschlecht, und Männer können Mutter oder Dame und Frauen Herr oder Mann heißen. Wie eingangs gesagt, ist bei Namen eine wörtliche Bedeutung blockiert, sie sind bloße Ausdrücke mit Referenz auf ein Objekt. Zunächst ist zu betonen, dass Familiennamen selten blank, d. h. ohne Vorname(n) oder das Anredenomen Frau bzw. Herr erscheinen. Dies geschieht allenfalls in Protokollen oder Zeitungen („Scholz mahnt an …“). Interessanterweise assoziiert man bei einem kontextlos geäußerten Familiennamen (Müller kam zu spät) eher einen Mann als eine Frau. Dies steckt weniger im Namen als in unseren Köpfen. In der Presse werden Frauen, z. B. Politikerinnen, immer noch etwas häufiger durch Voranstellung ihres Vornamens oder durch Frau als das (andere) Geschlecht markiert, was sich jedoch über die Jahre hinweg auszugleichen scheint (s. Rollnik 2014). Frauen sind insofern das Geschlecht, als dieses immer wieder explizit gemacht wird. Dies gilt auch für das folgende Phänomen. Wie Schmuck (2017) zeigt, war es in früheren Jahrhunderten durchaus üblich, Familiennamen von Frauen zu movieren. Man unterscheidet dabei die patronymische (oder parentale) Movierung zur Bezeichnung der Tochter von der matrimonialen Movierung zur Bezeichnung der Ehefrau. In beiden Fällen wird der Name des Vaters bzw. Ehemanns deriviert (z. B. die Lutherin), und in beiden Fällen wird die Frau als relational zum Mann begriffen. Die Ursprungsbedeutung aller Movierungssuffixe ist letztlich Zugehörigkeit, also die Zugehörigkeit einer Frau zu einem Mann (Werth 2021). An Formen kommen hauptsächlich -in und -sche vor (regional verteilt), weitere dialektale Varianten kommen hinzu (Steffens 2014, 2018; Werth 2015, 2021, 2022; Roolfs 2016; Möller 2017; Schmuck 2017). 7 Beiden ging immer der Femininartikel voran. Dialektal (pfälzisch, hessisch, bairisch) kommt es noch heute zu Namenmovierungen, die oft als derb, wenn nicht sogar als pejorativ empfunden werden. Manchmal konnte sogar der Rufname des Mannes als Ableitungsbasis herangezogen werden (die Paulin, die Dietmarin). Im 16. / 17. Jh. betrug die Rate movierter Frauennamen in Österreich über 90 %, in Bayern und im Ostmitteldeutschen über 80 % (s. Schmuck 2017, 39). Die Namenmovierung bildete sich zügig in der 2. Hälfte des 18. Jhs. zurück (Werth 2022). Werth (2021) sieht darin mit Bezug auf Rolker (2014) eine Reaktion auf die veränderte soziale Stellung der Frau: Frühere weibliche Mehrnamigkeit diente - je nach sozialem, rechtlichem und ökonomischem Belang - dazu, die Zugehörigkeit der Frau zur Abstammungs- (Vater) oder Haushaltsfamilie (Ehemann) zu markieren, je nachdem, welche Besitzansprüche geltend zu machen waren: Waren es die zum 9.2 Die Lutherin und Frau Thomas Mann-- Familiennamen und Geschlecht 235 <?page no="237"?> Elternhaus, erfolgte patronymische Movierung, waren es die zum Ehemann, wurde matrimonial moviert (was besonders relevant im Fall mehrfach verheirateter Witwen war und deren Mehrnamigkeit steigerte). Veränderte ökonomische Absicherungen der Frau sowie des Witwenrechts machten die multiplen Movierungen, das „Spiel der Namen“, obsolet (nicht aber die Praxis der Übernahme erst des väterlichen und danach des ehemännlichen Familiennamens, die bis heute nachwirkt, s. u.). Zu weiteren (möglichen) Gründen des Movierungsabbaus s. Werth (2021). Da der Movierungsabbau beim Adel begann, d. h. von der Oberschicht ausging, dürfte sich erklären, weshalb heutige Movierungen degradierend wirken (die Becker‐ sche). Weil diese Movierungen immer vom Definitartikel begleitet waren (sche-Bildun‐ gen sind eigentlich Zugehörigkeitsadjektive), hat sich bis heute der Usus erhalten, dass Familiennamen von Frauen öfter als die von Männern den Artikel mit sich führen (die Kneef, die Merkel). Schmuck (2017) weist korpusbasiert anhand der Benennung von PolitikerInnen (z. B. Gerhard Schröder, Angela Merkel) in heutigen Zeitungstexten nach, dass der Typus die Merkel / Ø Schröder zu 56 % dominiert (was plausibel macht, weshalb obiger Satz Müller kam zu spät männlich gelesen wird). Symmetrische Artikelsetzung (die Merkel / der Schröder) besteht zu 35 %, während der Typ Ø Merkel / der Schröder nur zu 9 % vorkommt (Setzungen des Anredepronomens und / oder des Vornamens wurden ausgeklammert). So sieht man, dass heutige Besonderheiten der Artikelsetzung sich nur historisch erklären lassen. Dass Geschlecht auch bei der dialektalen Konstruktion F AMILI E NNAME VO R R U F NAME einwirkt, indem bei der Referenz auf Frauen häufiger der Genitiv vorkommt als bei Männern - (de)s Bachmanns Anna vs. der Kaufmann Dieter -, zeigt Schweden (2021, 2023; s. Kap. 9.3). Ein großes, erst unlängst beforschtes Thema bildet die Ehebzw. Familiennamen‐ wahl bei Heirat. Bis weit ins 20. Jh. hinein hatten Frauen einen Teil ihrer Identität, als deren integraler Bestandteil der eigene Name fungiert, ihren Familiennamen abzugeben und den des Mannes anzunehmen, was dem dahinterstehenden Konzept entspricht, dass die Frau von der Vorherrschaft (früher: Vormundschaft) des Vaters in die des Ehemannes übergeht und damit die alte Familie verlässt (in Stammbäumen werden die weiblichen Linien oft gekappt). Dieses Prinzip war noch steigerbar, denn komplett unsichtbar wurden Frauen, indem sie sogar unter dem Rufnamen ihres Man‐ nes firmierten. Katharina Pringsheim, die sich ganz in den Dienst ihres Mannes stellte, nannte sich und unterschrieb mit Frau Thomas Mann (so auch der Titel einer Biografie über sie). Geht man über Friedhöfe, künden (ältere) Inschriften vom Typ „Eheleute Heinrich Müller“, „Familie Horst Schulz“ von vielen namenlosen Ehefrauen. Diese Tradition der namentlichen Unsichtbarmachung ist lang. Im Jahr 1797 philosophiert Johann Gottlieb Fichte über ‚die Frau‘: Ihre eigene Würde beruht darauf, das sie ganz, so wie sie lebt, und ist, ihres Mannes sey, und sich ohne Vorbehalt an ihn und in ihm verloren habe. Das geringste, was daraus folgt, ist, daß sie ihm ihr Vermögen und alle ihre Rechte abtrete, und mit ihm ziehe. Nur mit ihm vereinigt, nur unter seinen Augen, und in seinen Geschäften hat sie noch Leben, und Thätigkeit. Sie 236 9 Onomastik: Personennamen <?page no="238"?> hat aufgehört, das Leben eines Individuum zu führen; ihr Leben ist ein Theil seines Lebens geworden, (dies wird treflich dadurch bezeichnet, daß sie den Namen des Mannes annimmt.) (Fichte 1797, 169 / 170) Auch wenn diese Einstellung einige Jahrhunderte alt sein und überkommen wirken mag, so ist es diese patriarchale Welt, die tief in die Strukturen des Deutschen diffundiert ist und an denen wir uns noch heute abarbeiten (s. das sog. generische Maskulinum in Kap. 5). In diesem Fall ist es die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen den ehemännlichen Namen übernehmen bzw. der Legitimationsbedarf, den eine davon abweichende Praxis erfordert. Bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg waren Frauen gezwungen, bei Heirat den ehemännlichen Familiennamen gegen ihren sog. Mädchennamen einzutauschen: Es ist eine natürliche Folge der Innigkeit und der das ganze Leben umfassenden Bedeutung der ehelichen Gemeinschaft, daß beide Ehegatten denselben Ehenamen führen. […] Die Stellung des Mannes bringt es mit sich, daß die Ehefrau seinen Familiennamen erhält, und zwar ist sie diesen Namen zu führen nicht nur berechtigt, sondern […] auch verpflichtet. (BGB 1949, § 1355) Auch wenn sich das Ausmaß dessen, was damals zur Natur erklärt wurde, nur graduell von heutigen Naturalisierungsbemühungen unterscheidet, so wird die Schieflage offenbar - inklusive der Formulierung, dass dies als ein Recht der Frau aufzufassen sei, für das Dankbarkeit die angemessene Reaktion wäre. Insinuiert wird, dass die Frau die „Innigkeit der Beziehung“ aufs Spiel setzt, wenn sie sich dem widersetzt. Dieses ‚Argument‘ findet sich als Topos bis heute. Aus Studien zur Ehenamenwahl geht hervor, dass die onymische Unterordnung der Frau bis in die Gegenwart andauert (Matthias-Bleck 2000; Rosar 2021, 2022b): Noch im 21. Jh. nimmt die Mehrheit der Frauen (72 % im Jahr 2016) bei der Heirat den Namen des Ehemannes an - und dies ohne juristische Not, denn seit 1994 ist (nach mehreren Anläufen und Zwischenetappen) die Ehenamenregelung symmetrisiert worden. Es gilt a) Beibehaltung des eigenen Geburtsnamens (gewählt von 16 % im Jahr 2016), b) Annahme des Namens des / der EhepartnerIn ohne (72 % / 6 %) oder c) mit angekoppeltem Geburts- oder Begleitnamen (Bindestrich; 6 % im Jahr 2016). Bei den Begleitnamen sind es überwiegend die Frauen, die ihn tragen (ca. 90 % gegenüber 10 % bei Männern). Unterschiede zwischen Groß- und Kleinstädten, ost- und westdeutschen Städten sowie in Abhängigkeit zum Bildungsgrad sind Rosar (2021) zu entnehmen. Die diachrone Entwicklung von 1976-2016 dokumentiert in Zehnjahresschnitten Abb. 9-4. 9.2 Die Lutherin und Frau Thomas Mann-- Familiennamen und Geschlecht 237 <?page no="239"?> 8 Darunter lebten nur zwei Personen in gleichgeschlechtlicher Ehe. Nonbinäre Personen waren nicht dabei. Abb. 9-4: Die Ehenamenwahl von 1976-2016 aus Rosar (2021, 160); Basis: 219 Standesämter, 185.097 Eheschließungen Die Namengesetzgebung ist somit progressiver als die Einstellung der meisten Heiratenden. Eine 2019 durchgeführte (anonyme) Onlinebefragung von 277 Eheleuten 8 nach den Gründen für ihre Namenwahl liefert interessante Argumentationstopoi. Für das traditionelle Muster ‚Männer behalten ihren Namen, Frauen wechseln ihn‘ fielen die Antworten am kürzesten aus und war „Tradition“ der häufigste Grund. Daneben äußerten insbesondere die Frauen, nicht auffallen bzw. sich normgerecht verhalten oder, ebenfalls sehr häufig, die Familie nach außen als Einheit repräsentieren zu wollen (doing family). Auch die Liebe wird von ihnen als Grund genannt. Dabei fiel auf, dass Frauen ihren Namenwechsel eher aus der Ich-, Männer dagegen aus der Wir-Perspektive schildern („Wollten es beide so“). Nicht selten treten männliche Befragte auch ganz in den Hintergrund, indem sie die Entscheidung der Partnerin zuschreiben („Meine Frau wollte es so, mir war es egal“) oder die Subjektfüllung vermeiden durch Gebrauch von Passiv- oder unpersönlichen Konstruktionen („[…] weil übereinstimmend der Name des Mannes als Familienname gewählt wurde. Die Möglichkeit, es anders zu tun, wurde in Betracht gezogen, aber es wurde anders entschieden“). Auch die Verweigerung einer Antwort („k.A.“ oder „abc“) kam nur auf männlicher Seite vor. Besonders aufschlussreich und bizarr ist der Ästhetiktopos 238 9 Onomastik: Personennamen <?page no="240"?> 9 www.bundestag.de/ dokumente/ textarchiv/ 2023/ kw46-de-namensrecht-976592 (Aufruf am 08.05.2024). 10 Der Begriff Personenname (und nicht Menschenname) macht bereits deutlich, was Namen leisten: Die Personalisierung von Menschen zu vollgültigen, anerkannten Mitgliedern der Gesellschaft (s. hierzu Debus 2015, Hoffmann 2018). seitens der Frauen, der den Männernamen wahlweise als schöner, attraktiver, hübscher, gut klingend, einfach (auszusprechen), kurz, verständlich, seriös oder gar cool erscheinen lässt, auch als außergewöhnlich oder selten, während Männer bzgl. des Frauennamens Attribute wie kompliziert, schwierig, wird oft falsch geschrieben, nicht schön, Allerwelts‐ name, zu gewöhnlich, zu weit hinten im Alphabet verwenden. Zur Rarisierung des Männernamens kommt hinzu, dass er öfter vom Aussterben bedroht zu sein scheint, weshalb die Wahl auf ihn fallen musste (Zitate aus Rosar 2021, 2022b, s. dort weitere Ergebnisse). Alles in allem sind der Phantasie beider Geschlechter bei der Vermeidung des Eindrucks, man verhalte sich traditionell, kaum Grenzen gesetzt. Die Ehenamenwahl wurde bislang schon im Vorgriff auf Kinder getroffen, denn spätestens dann musste ein gemeinsamer Familienname gefunden werden. Dies wurde im April 2024 geändert. In Kraft tritt das neue Gesetz am 01.05.2025, ab da können Doppelnamen auch an die Kinder vergeben werden. 9 Der Name ist wichtiger Bestandteil der Persönlichkeit, Namenentzug bedeutet Beschädigung und Aberkennung derselben (dies wird und wurde als gewaltsamer Akt bei Gefangenen und SklavInnen angewandt, oft tritt eine Nummer an die Stelle des Namens). In der deutschen Onomastik wird dieser Aspekt der Identitätsbeschädigung oder Depersonalisierung kaum thematisiert oder problematisiert, doch durchaus in der angelsächsischen. Die Einführung „The study of names“ von Frank Nuessel (1992) enthält sogar ein Kapitel „Sexism in names“, in dem er schreibt: The society’s naming practices are inherently sexist. […] The act of shedding one surname for another is a symbolic gesture of submission through the loss of one’s identity and the acceptance of another personality […]. This custom requires a female to participate in the process of renaming herself. This is a burdensome procedure that involves the completion of many changes of name forms (insurance, driver’s license, notification of friends, relatives, and acquaintances, etc.). Auch in seiner typologischen Namenstudie „Naming and Identity“ schreibt Alford (1988), dass Namenwechsel Identitätswechsel bewirke: „Most people identify so strongly with their names that a name change almost inevitably affects their sense of self “ (86). Bei der Heirat haben Frauen weltweit ein doppelt so hohes Risiko wie Männer, ihren Namen zu verlieren. Dass Frauen auch Gefahr laufen, überhaupt nicht benannt zu werden, also komplett an-onym zu bleiben, kommt der Auslöschung ihrer Person bzw. einer onymischen Burka gleich. 10 9.2 Die Lutherin und Frau Thomas Mann-- Familiennamen und Geschlecht 239 <?page no="241"?> 11 http: / / www.spiegel.de/ politik/ ausland/ buerokratie-in-den-usa-wo-frauen-nur-noch-bessere-haelfte n-sind-a-783783.html (Aufruf am 08.05.2024). 12 https: / / www.waz.de/ panorama/ tina-turner-berichtet-von-ihrer-ehe-hoelle-id212375027.html (Auf‐ ruf am 08.05.2024). 13 https: / / thefeministani.wordpress.com/ 2017/ 07/ 31/ an-afghan-woman-speaks-call-me-by-my-name/ (Aufruf 01. 02. 2024). Anlass für diesen Artikel der afghanischen Schriftstellerin Somaia Ramish war die unerhörte Tatsache, dass der Präsident in einer Rede seine Frau namentlich erwähnte. Was der Entzug des Namens mit der Person macht, war am 02. 10. 2011 in Spiegel Online zu erfahren 11 : Die Journalistin Katja Ridderbusch, die in Atlanta verheiratet ist, empört sich darüber, dass sie häufig, v. a. bei offiziellen Anlässen, zu Mrs. James J. Bauser (dem vollen Namen ihres Mannes) und damit „zum Ap‐ pendix ihres Mannes“ mutiere: „Es befremdet mich, wenn ein Name, dieser erste und klarste Ausdruck der Identität, so hartnäckig missachtet wird“ (ebd.). Tina Turner wurde als Anna Mae Bullock geboren. Ihr wurde von ihrem früheren, gewalttätigen Mann Ike Turner nicht nur der Familienname, sondern auch der neue Rufname Tina verpasst. In einem Interview sagt sie: „Er besaß mich - raubte meine Identität, indem er meinen Namen Anna Mae zu Tina änderte. […] Ich sollte immer seinen Namen tragen, selbst wenn ich wegrenne“ 12 . Besitz des Na‐ mens symbolisiert Besitz der Person. 2017 ging die Meldung durch die Presse, dass es in Afghanistan namenlose Frauen gebe. 13 Der Artikel beginnt mit dem Satz: „Stellt euch vor, ihr würdet in einer Welt leben, in der ihr keinen Namen hättet, sondern lediglich die Tochter von oder Ehefrau von wärt …“. Solche definiten Beschreibungen (die keine Namen sind) konzipieren die Ehefrau als Besitz des Mannes, Gebärerin seiner Kinder, Teil seines Körpers oder Objektbesitzes (Mutter meiner Kinder, mein schwächeres Glied, mein Haushalt) bzw. degradieren sie zum Haustier (mein Huhn, meine Ziege - man beachte die Possessiva). Damit wird Frauen die individuelle Benennung und Wahrnehmung als Person (bzw. Mensch) versagt. Das Konzept dahinter sieht den Frauenkörper als männlichen Besitz, der für alle sichtbar wird, sobald der Name genannt wird. Dies zeigt, dass der Burka-Vergleich nicht überspitzt ist. Mütter können auch ein sog. Teknonym bekommen, indem sie nach ihrem Sohn als ‚Mutter von Ahmad‘ benannt werden. Dies treibt ihre Invisibilität und Relationalität zu einem Mann auf die Spitze. 9.3 Das Heidi und das Merkel-- (Frauen-)Namen im Neutrum ‚Normalerweise‘ ist das Genus von Frauennamen feminin und das von Männernamen maskulin. Umso bemerkenswerter sind Devianzen von diesem Prinzip. In diesem namengrammatischen Kapitel geht es weniger darum, dass diminuierte Namen - so wie alle diminuierten Substantive - zu Neutra werden, wie es das sog. Kopf-rechts-Prinzip erfordert: das Frauchen - das Männchen, das Mariechen - das Hänschen. Vielmehr 240 9 Onomastik: Personennamen <?page no="242"?> 14 www.namenforschung.net/ weibliche-rufnamen-im-neutrum/ projektvorstellung/ (Aufruf am 08.05.2024). handelt es davon, dass volle Rufnamen - und zwar vornehmlich die von Mädchen und Frauen, auch von weiblichen Haustieren - in einigen deutschen Dialekten und im gesamten Luxemburgischen ins Neutrum treten: et Tanja, es Doris, s Anna (neutrale Familiennamen behandeln wir weiter unten). Dabei handelt es sich um ein sog. soziopragmatisches Genus. Dieses Neutrum-Areal erstreckt sich vom Westfälischen und Ripuarischen (mit einem östlichen Ausläufer ins Thüringische) den Rhein hinauf (mit Schwerpunkten im Saarland, der Pfalz, Luxemburg) über das Niederalemannische bis in die Schweiz (zu einer Verbreitungskarte s. Busley 2021, 16). Von außen betrach‐ tet wirkt dies für viele befremdlich, da die Neutralisierung oft als objektifizierend empfunden wird. Frauen, die damit aufgewachsen sind, müssen diese Neutra jedoch nicht ablehnen. Gerade im Westmitteldeutschen und Niederdeutschen wirken sie vertraut, freundlich und familiär. Betreffende Mädchen und Frauen stellen sich selbst im Neutrum vor. Eher abgelehnt wird es im Alemannischen, v. a. in der Schweiz, was soziolinguistische Gründe hat (Baumgartner 2021). Dieser Abschnitt soll zeigen, dass es sich historisch - die Entstehung ist im 17. / 18. Jh. zu vermuten - ebenfalls um die Zu- und Unterordnung der Frau handelt: als Tochter unter den Vater, als Ehefrau unter den Ehemann und als Magd unter das Familienoberhaupt. Die grammatische Neutra‐ lisierung beschneidet ihre Handlungsmacht (Agentivität) und ihren Belebtheitsgrad, denn Neutra bezeichnen in aller Regel unbelebte Gegenstände (Fenster), Stoffe (Eisen, Wasser) und Kinder (Kind, Baby, Neugeborenes) (Kap. 4.3.6). Dass ein enger Konnex zwischen grammatischem Genus und persönlichem Ge‐ schlecht besteht, der sich am deutlichsten bei Personen- und ausnahmslos bei Verwandtschaftsbezeichnungen erweist, wurde in Kap. 4 gezeigt (sog. Genus-Se‐ xus-Prinzip). Da Personennamen und Pronomen mehr noch als Verwandtschaftsbe‐ zeichnungen die Spitze der linguistischen Belebtheitshierarchie besetzen, sollte man gerade hier feste Genus-Sexus-Verschränkungen vermuten, die das Neutrum (immer von Diminutiva abgesehen) ausschließen. Im Zusammenhang mit den zweigliedrigen germanischen Rufnamen (Kap. 9.1) wurde deutlich, dass Frauennamen früher auf ein feminines und Männernamen auf ein maskulines Zweitglied endeten. Neutra wie ahd. hross ‚Ross‘ kommen deshalb in Namen nicht vor. Das Forschungsprojekt „Weibliche Rufnamen im Neutrum“ 14 befasste sich mit der Frage, woher diese Neutra kommen, was sie leisten, welche Frauen (und ggf. auch Männer, z. B. im Wallis) sie bezeichnen und wie sie entstanden sind - Fragen, die die Dialektologie bislang übersehen hat und kaum noch zu beantworten sind, da die onymischen Neutra v. a. in den Randgebieten des Areals rapide abgebaut werden. Doch konnten Online-Umfragen und Explorationen vor Ort Licht auf dieses universell seltene Phänomen werfen (Busley 2021, Busley / Fritzinger 2018, 2020, 2021; Fritzinger 2022; Baumgartner et al. 2020). Zunächst gibt es Dialekte, in denen die Neutra grammatikalisiert sind, die bloße Nennung eines weiblichen Rufnamens also das Neutrum auslöst (z. B. im Ripuarischen und Luxemburgischen). Aufschlussreicher sind 9.3 Das Heidi und das Merkel-- (Frauen-)Namen im Neutrum 241 <?page no="243"?> Dialekte, in denen neben dem Neutrum auch das Femininum gilt. Dabei bestehen interdialektal große Unterschiede. Als gemeinsamer Nenner kristallisiert sich für das Neutrum heraus, dass es Mädchen bzw. junge, meist unverheiratete Frauen sind, auch weibliche Verwandte (in manchen Dialekten müssen sie jünger als die SprecherIn sein, in anderen nicht), in jedem Fall bekannte und vertraute Frauen, die man duzt, Nachbarinnen, die schon lange im Dorf leben und Dialekt sprechen. Im Femininum stehen umgekehrt eher fremde, zugezogene, sozial hochstehende Frauen, die nicht (den gleichen) Dialekt sprechen. Ein und dieselbe Frau kann somit im Neutrum oder im Femininum stehen, abhängig von der SprecherIn, von der AdressatIn und deren Beziehung zueinander (duzen sie sich bspw.? ) sowie, natürlich, von der bezeichneten Frau, die in der Regel abwesend ist (welche Beziehung haben SprecherIn und AdressatIn zu ihr? ). Hinzu kommt die Gesprächssituation (zuhause oder bei der Arbeit? ). Dies macht die Beschreibung ungemein komplex und qualifiziert diese Genuszuweisung als sozio-pragmatisch. Insgesamt reflektiert und konstituiert die Verteilung von Femininum und Neutrum mehrfach verzahnte Beziehungen (primär: Nähe / Distanz) sowie Altersabstände. Unfreundlich oder degradierend müssen diese Neutra nicht sein. Etwas anders verhält es sich im Alemannischen: Hier drücken die Neutra manchmal Mitleid aus, bezeichnen hilflose, ältere Frauen, kurz: sie referieren insgesamt mehr von oben nach unten und werden auch von potentiellen Referentinnen so empfunden und abgelehnt. Hier schimmert das ältere System eines sozial verortenden Genus durch: Prototypische Neutra waren ursprünglich Töchter, Ehefrauen und Mägde, also die von einem einst mächtigen Familienoberhaupt abhängigen Frauen, wobei ‚Familie‘ früher das gesamte Haus bezeichnete und nicht nur Verwandte. Bei der Ehefrau ist von Bedeutung, dass sie für ihren Mann als ihren ‚Besitzer‘ Neutrum war (und teilweise noch ist), für Außenstehende aber Femininum, da verheiratet. Dieses alte, vertikal-ständische System, das, wie oben beschrieben, in nördlicheren Dialekten eher in ein horizontales, beziehungsanzeigendes Nähe- / Distanzsystem umgeschlagen ist (sog. Pragmatikalisierung), ist in älteren Grammatiken und Wörterbüchern noch gut sichtbar (Busley 2021; Busley / Fritzinger 2018, Fritzinger 2022). So schreibt Schirmun‐ ski (1962) mit Bezug auf das Westfälische: „Das Weib, besonders das unverheiratete, heißt in der Volkssprache et ‚es‘, während die verheiratete meist sai ‚sie‘ genannt wird“, teilt für das Westfälische Jellinghaus mit. Wenn der Mann von seiner Frau spricht, nennt er sie ebenfalls ęt ‚es‘. Davon kommt der Ausdruck dat s håi un suin ęt ‚das ist er und sein es‘ (=-das ist er und sein Mädchen). (445) Zum Ripuarischen schreibt Münch (1904): In Betreff der geschlechtigen Fürw[örter] ist zu bemerken, daß zeī nur von verheirateten oder doch angesehenen Frauen, von Mädchen aber, auch wenn sie schon erwachsen sind, nur ət gebraucht wird-[…]. (161) 242 9 Onomastik: Personennamen <?page no="244"?> 15 Das lat. Wort für ‚Ehe‘, matrimonium, verweist auf die zu erwartende Mutterschaft. Auch sei auf Corbett (1991, 2013b) verwiesen, der in seinem typologischen Überblick bei Devianzen sprachlicher Klassenzugehörigkeit öfter auf unverheiratete Nicht-Mütter stößt. Umgekehrt fügen sich verheira‐ tete Frauen und Mütter am ehesten in ihre ‚Frauenklasse‘ (meist Fem. oder Klasse II, denn Klasse I ist in aller Regel dem Mann vorbehalten, Kap. 8.7). Am ergiebigsten ist die typologische Studie „How gender shapes the world“ von Aikhenvald (2016), in der sie in vielen Sprachen sog. linguistic gender reversals nachgeht und auf ähnliche Pfade der Devaluation stößt. 16 Dücker et al. (2020) und Szczepaniak (2022) stellen in Hexenverhörprotokollen aus der Frühen Neuzeit fest, dass Mutter deutlich häufiger großgeschrieben wird als Tochter, Weib, Mädel, Mägdlein. Dies reflektiert unterschiedliche Belebtheitsgrade, die sich u. a. aus (sozial bemessener) Agentivität speisen (s. Kap.-10.1). Neben der gesellschaftsständischen spielt auch die familienständische Position eine Rolle, also ob die Frau zur Ehefrau und Mutter aufgestiegen ist. Die Heirat markiert den Start in die Reproduktion bzw. nach Hirschauer (2015) in ihren dritten Geschlechts‐ zustand, welches Konzept hier kurz vorgestellt sei. Vor dem Hintergrund der gender- und paarsoziologischen Erkenntnis, dass Elternschaft nicht nur genderisiert, sondern gynisiert ist - was Väter und Mütter mit unterschiedlichen Erwartungen befrachtet und Retraditionalisierungen genau in diesem Stadium erklärt - stellt Hirschauer ein sog. M / Othering der Frau fest: Für die Frauen ist M / Othering einerseits ein kontinuierlicher Prozess der Vermutterung, der sie schon lange vor ihrer Pubertät unter Schwangerschaftserwartung stellt. […] Ande‐ rerseits gibt es aber eine andere Zäsur, die uns werdende Mütter als Aufnahme in eine geschlossene Gemeinschaft geschildert haben, in der ein neuer Geschlechtszustand gilt.-[…] Die Mutterschaft gilt kulturell als ein in den Frauen schlummernder Geschlechtszustand - so wie zuvor das Frausein im Mädchen ( Jungfer) schlummerte. In einer reproduktiven Teleologie entpuppt sich die Mutter aus der Frau wie diese aus dem Mädchen. Auf dem Gendering weiblicher Menschen sitzt also ein M / Othering von Frauen auf. Es schiebt sie in einen dritten Geschlechtszustand, der Feminitätsanforderungen absenkt, aber ihre Fraulichkeit irreversibel zur Entfaltung bringt. (12) Während Männer in unserer Kultur nur zwei Geschlechtszustände ( Junge → Mann) durchschreiten und dabei von Anfang an durchgehend er sind, sind es bei der Frau drei: Mädchen → Fräulein (unverheiratet) → (Ehe-)Frau / Mutter (Heirat war mit Fortpflanzung verknüpft, s. Abb. 9-5). 15 Die ersten beiden Phasen sind neutrumaffin (Feminina wie Jungfrau kommen durchaus vor), während sich in Phase drei ein Genuswechsel von geschlechtsdiskordantem es zu geschlechtskonformem sie vollzieht (und außerdem ein Namenwechsel, s. Kap. 9.2). 16 Das Stadium davor ist bzw. war lexikalisch reich bestückt (Jungfer, Fräulein, Frauenzimmer, Girl, Braut etc.), auch das danach wird benannt (Witwe). Die Frau entpuppt sich mit Mann und Kindern zu ihrem voll entwickelten, ‚richtigen‘ Geschlecht, sie transitioniert vom sozial unfertigen, neutralen Fräulein zur sozial vollwertigen, femininen Frau. Grammatisch hatten einige ihrer Lexeme bis dahin nicht etwa ein falsches (Maskulinum), sondern ein deviantes Objekt-Genus, da Neutra primär Unbelebtes (Inanimata) und nicht-sexuiertes Belebtes („Asexus“) bezeichnen in Gestalt junger Menschen und Tiere vor der Geschlechtsreife, 9.3 Das Heidi und das Merkel-- (Frauen-)Namen im Neutrum 243 <?page no="245"?> 17 Dass es primär Heirat und nicht Mutterschaft ist, legen Protokolle aus dem 18. Jh. zu Gerichtsver‐ fahren über Mütter nahe, die ihr Kind getötet hatten. Solange die Unehelichkeit unbekannt ist, verwendet das Protokoll das Femininum („Von wem sie schwanger? “), doch sobald klar wird, dass der Kindsvater nicht ihr Ehemann ist, kippt die Mutter ins Neutrum: „Warum es keinem Menschen seiner Schwangerschaft gesagt? “ (Pestalozzi 1783, 248; s. auch Klein / Nübling 2019, 54; Nübling 2020b, 25; Busley 2021, 54). deren Geschlecht somit kaum erkennbar bzw. irrelevant ist: das Kind, Neugeborene, Kleine - das Junge, Kalb, Lamm, Fohlen etc. (Kap. 4). Auf dieser grammatischen Stufe verharrt die Frau, bis sie (ge)heiratet und Mutter wird. 17 Die neutralen Geschlechtszu‐ stände 1 und 2 werden durch entsprechende Lexeme gestützt und dramatisiert (Kap. 8), die ebenfalls - oft durch Diminution - Neutra sind: das Mädchen (vs. der Junge), das Fräulein (lexikalisiert als ‚unverheiratete Frau‘), das Frauenzimmer, das Mensch (dialektal als Freundin eines Mannes, historisch auch als ‚Unzucht treibende‘ Ledige, s. Gleixner 1994), das Flittchen und, hier bis heute produktiv, Anglizismen wie das Girl, Pin-up, Playmate, Model, Hottie, Bunny, Groupie etc. (Nübling 2019a, 2020a, 2020b). Auf Seiten des Mannes besteht konsequente Maskulinzuweisung (schon bei kleinen Jungen) und Meidung des Neutrums (*Herrchen). Die bei der Frau sichtbar werdende Virginitätsanforderung ist beim Mann ohne Belang. Abb. 9-5: Mädchen Fräulein (Ehe-)Frau, Mutter Jungfrau/ Jungfer Frauenzimmer etc. → viele Lexeme → wenige Lexeme H EIRAT Phase I Phase II Phase III N E U T R U M Genus-Sexus-Diskordanz F E M I N I N U M Genus-Sexus-Konkordanz Genuswechsel Namenwechsel Abb. 9-5: Weibliche Geschlechtsphasen und ihre lexikalisch-grammatischen Reflexe (aus Nübling 2020, 25) Da Neutra mit Unbelebtheit assoziiert sind, treten sie selten in die grammatische Subjektposition, die ja meist das Agens (Träger, Verursacherin einer Handlung) enthält. Hier finden sich überwiegend (belebte) Maskulina und einige Feminina (Kap. 4.1 zu flexionsmorphologischen Reflexen dieser syntaktisch-semantischen Funktionen). Dagegen findet man Neutra überdurchschnittlich häufig in der (Akkusativ-)Objektpo‐ sition, die das Patiens, also das Ziel einer Handlung bezeichnet, z. B. ein transferiertes Objekt: sie gibt dem Hund das Futter. Futter wird durch die Handlung affiziert, sie 244 9 Onomastik: Personennamen <?page no="246"?> dagegen steuert und kontrolliert sie. Damit leistet die Neutralisierung noch mehr, nämlich eine Deagentivierung bzw. Patientivisierung. All diese aus der heutigen Grammatik extrahierten Geschlechterordnungen erfahren an Explizitheit kaum zu übertreffende Bestätigungen, wenn man Wörterbücher des 18. und 19. Jhs. konsultiert - wie etwa das Damen Conversations Lexikon aus dem frühen 19. Jh. (Herloßsohn 1834-1838), das zur Jungfrau (Phase II), Gattin und Mutter (beide Phase III) folgende Einträge vermeldet (Fettdruck: DN; Sperrung im Original): Jungfrau: Die Stellung der Jungfrau zur Welt ist eine andere als die des Mädchens, das noch für ein Kind gehalten wird. Sie tritt plötzlich aus der Kinderstube in die geselligen Kreise des öffentlichen Lebens. […] Sie lernt ihr Betragen regeln […]. Die Welt macht von nun an Ansprüche an sie; man verlangt Zierlichkeit des Benehmens, Liebenswürdigkeit, Grazie, aber Alles innerhalb der Grenzen der Jungfräulichkeit. Sie soll sich nicht blöde wie ein Kind, und doch auch nicht mit der Zuversicht einer Frau benehmen. Es ist ein provisorischer Zustand, dessen schönster Reiz aber in dem zarten Blüthenstaube besteht, welcher ihn bedeckt. Jede unzarte Hand streift ja den Farbenschmelz von den Flügeln des Papilloten und noch leichter verweht der Duft zarter Jungfräulichkeit. Gattin: Wenn die Ringe gewechselt, wenn das bindende Ja verklungen, wenn die Kirchen‐ glocken verstummt und der Kranz aus den Locken gefallen, dann heißt die Jungfrau Gattin. Eine neue Periode ihres innern und äußern Lebens beginnt. Sie ist geschieden aus dem lachenden Kreise der Gespielinnen, in den Blüthenstraus ihres jugendlich schwärmerischen Daseins flechtet sich der Lebensernst als dunkle Schattirung; die Liebe Vieler: der Eltern, Verwandten, Freundinnen, opfert sie der Einen Liebe zum Gatten, das Herz, das liebevoll für Viele schlug, darf jetzt nur für Einen schlagen. […] Das äußere Band, was sie an ihre Eltern und Geschwister gebunden, zerreißt […]; sie legt ihren Familiennamen ab und trägt von da an zum Zeichen der engsten Verschwisterung ihres Lebens mit dem des Gatten, auch seinen Namen. Mutter: Die junge Gattin ist Mutter geworden, sie hat ein Anrecht auf die künftige Generation erlangt […]. Ein neues Dasein öffnet sich ihr mit neuen Pflichten, neuen Freuden, Schmerzen und Entbehrungen. Aber das gerechte Schicksal flicht in die Leiden der liebenden Mutter duftige Blüthen der Mutterfreude, die schlaflosen Nächte belohnen sich durch ein einziges Lächeln des Säuglings; in jeder Aufopferung liegt ein Lohn […]. Sie hat mit einem Male ihren Beruf erfüllt, den Gipfel ihrer erhabenen Bestimmung erreicht. An den Gatten fesselt sie nun das Band des Blutes, an sein Leben ein drittes […]. Jedes Weib, das ein Kind geboren, wird edler, erhabener, vollkommener und klarer in seiner Seele. Es ist erst als „Mutter“ v o l l e n d e t e s Weib. Hatten wir bislang betont, dass das morphologische Prinzip der Suffigierung das Genus eines Lexems überschreibt (sog. Letztgliedprinzip: der Hund → das Hündchen), so belehren uns Dialekte auch hier eines Besseren: In manchen Dialekten verharren Männernamen auch dann im Maskulinum, wenn sie diminuiert sind, z. B. alem. dr Peterle, dr Ursli (s. „Dr Hansjakobli und ds Babettli“ von Baumgartner / Christen 2017). 9.3 Das Heidi und das Merkel-- (Frauen-)Namen im Neutrum 245 <?page no="247"?> 18 Es haben sich sogar speziell für solche „femineutralen“ Namen (und Substantive) dialektale Sonder‐ pronomen entwickelt (z. B. alem. ääs im Nom. und ihns im Akk.), was zeigt, dass die historische Geschlechterordnung tief ins grammatische System sedimentiert ist (s. Klein / Nübling 2019). Obwohl es sich beim Letztgliedprinzip um das rigideste und verlässlichste Genuszu‐ weisungsprinzip handelt, kann es - nur bei diminuierten Männernamen - gebrochen werden. Dies beleuchtet von der anderen Seite die offensichtliche Brisanz des Neutrums für Menschen: Frauen werden ins Neutrum hineingeboren und entkommen ihm, wenn überhaupt, erst spät, während es bei Männern tunlichst vermieden wird, selbst wenn das Neutrum nur durch die morphologische Wortform erzwungen wird. Damit zusammenhängen dürfte auch, dass Männernamen per se seltener diminuiert werden als Frauennamen (und wenn, dann zur Bezeichnung kleiner Jungen), vermutlich um dem degradierenden Neutrum zu entgehen. Baumgartner / Christen (2017) haben hierzu Recherchen durchgeführt, die zeigen, dass Frauen mit 85 % (gegenüber 15 % Männern) die bevorzugten TrägerInnen diminuierter Rufnamen sind. Diminuierte Rufnamen bleiben oft lebenslang an ihnen haften. Dies bestätigt auch Roedder (1936) für das Neckar-Odenwald-Gebiet: Nur ein Wort über die Namen der Kinder selbst. Auch sie erscheinen meist deminuiert [sic] […]; die Knaben aber verbitten sich den Gebrauch dieser Formen in der Anrede, sobald sie in die Schule gehen, während die Mädchen bis zur Heirat und oft darüber hinaus die Koseform beibehalten und die daraus entsprungene sächliche Form beim Namen wie beim Fürwort-- s’anaa, s marii, s’emaa, s griʃdinәn-- sogar bis ins Greisenalter. (151) Damit ist eine Quelle der weiblichen Namenneutra vom Typ s Anna genannt: Frauennamen werden so häufig diminuiert, dass das Neutrum generalisiert wird, d. h. auf weibliche Namen per se übergeht, und von dort auch auf die Pronomen. 18 Diese Hypothese kann jedoch nicht für alle Dialekte und kaum für das Luxemburgische veranschlagt werden (Nübling et al. 2013, Nübling 2017c; Martin 2019). Weitere Neutrumquellen bestehen in den zahlreichen neutralen Appellativa für Frauen (allen voran das Weib, dial. das Mensch; Kap. 4.6) sowie in patronymischen Namenkonstruk‐ tionen im Genitiv, wo der reduzierte Genitivartikel s < des als Neutrumartikel (‚das‘) reanalysiert wurde: s Müllers Anna (des Müllers Anna = Anna Müller) scheint neutral umgedeutet zu werden (Pronomen: es), während Söhne solche missverständlichen Genitivkonstruktionen eher meiden: selten s Müllers Otto, sondern de Müller(s) Otto (s. Schweden 2021, 2022, 2023; Christen / Baumgartner 2021). Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf neutrale Familiennamen geworfen. Auch hiervon sind Nübling (2014a) zufolge Frauen - v. a. mächtige Politikerinnen wie Angela Merkel - ungleich häufiger betroffen als Männer, wenngleich auch Männer als Versager neutralisiert werden können (z. B. das Diepgen für den gescheiterten Berliner Bürgermeister). Wenn für die Rufnamen über die Jahrhunderte hinweg eine Abschwächung des Neutrums vom sozialen Platzanzeiger hin zum Beziehungsanzeiger (Busley / Fritzinger 2018) stattgefunden hat, so enthalten die jüngeren und nur in bestimmten sozialen Gruppen üblichen neutralen Familiennamen ein hohes Maß an 246 9 Onomastik: Personennamen <?page no="248"?> 19 Hier einige Originalbelegauszüge: Das Merkel „hat keine Ahnung, weiß nicht, was es tut, begreift nichts, kann sich nicht entscheiden, handelt nicht, bezieht nie Position, zaudert und zögert, merkt es nicht, kann sich nicht durchsetzen, verpasst Chancen, veranstaltet eine Sauerei, rotiert, trifft sich mit mächtigen Staatschefs und redet ihnen nach dem Mund, kriecht ihnen hinten rein, lässt sich über den Tisch ziehen, knickt ein“ etc. (mehr in Nübling 2014a, 2017c). Eine Aktualisierung dieser Studie steht aus, ebenso der systematische Vergleich des Neutrums mit dem Femininum, ebenso der Artikelsetzung mit der Nichtartikelsetzung, der Vornamensetzung mit der Vornamenauslassung etc. Aggressivität: Wie anhand von Korpusbelegen aus dem Internet gezeigt wird, sind alle das Merkel-Belege negativ, indem sie der Kanzlerin Entschluss- und Handlungsfä‐ higkeit sowie Kompetenz absprechen, was Sexismen bzgl. ihres Äußeren einschließt. 19 Sehr deutlich erweist sich hier der Effekt der Deagentivierung, Desexuierung und Dehumanisierung / Inanimatisierung (manche Diskurse konzipieren das Merkel als geschlechtslosen Wurm). Das Neutrum dient der Disziplinierung einer Frau, die sich aus Sicht von SchreiberInnen zu viel Handlungsmacht anmaßt und v. a. das Gebot verletzt, das der Linguist Tore Nesset (aus Sicht der russischen Grammatik) wie folgt auf den Punkt bringt: „Woman’s place in man’s world is at home“ (Nesset 2001). 9.4 Weitere genderonomastische Forschungsfelder Der eingangs beklagte tote Winkel zwischen Linguistik und Onomastik sowie die man‐ gelnde Rezeption anderer Disziplinen wie der soziologischen Geschlechterforschung hat dazu geführt, dass noch viele genderonomastische Themen brachliegen (s. aber Nübling / Hirschauer 2018). Wir skizzieren einige solche Forschungsfelder. Bis auf allgemeine Beobachtungen ist bislang nicht bekannt, wie oft bei Aufzählun‐ gen Männervor Frauennamen stehen (zur Relevanz der Serialisierung s. Kap. 7.2): Adam und Eva, Romeo und Julia, Hänsel und Gretel. Absichtlich sind hier Namen gleicher Länge und Betonung gewählt, um die Wirkung metrischer Prinzipien (kürzere vor längeren Namen, Erzeugung von Trochäen) auszuschalten. Whright et al. (2005) haben dies für das amerikanische Englisch untersucht, wofür sie feststellen, dass Phonologie einschließlich Metrik (sie sprechen von „gendered phonology“), Frequenz und Geschlecht die entscheidenden Serialisierungsfaktoren sind. Indem sie den Faktor Phonologie kontrollieren und damit ausschließen können, stoßen sie auf einen gender bias, der Männernamen in die salientere erste Position rückt: „[W]hen phonology is controlled […], an independent gender bias still exists: subjects prefer male names before female names“ (558). Beim öffentlichen Reden über (junge) Frauen scheint häufiger mit ihrem Rufna‐ men auf sie referiert zu werden als im Fall von (jungen) Männern. Als Beispiel sei die 2014 getötete Studentin Tuğçe Albayrak erwähnt, deren Familienname bei der medialen 9.4 Weitere genderonomastische Forschungsfelder 247 <?page no="249"?> 20 In den USA herrscht ein sehr liberales Namengesetz, das auch erlaubt, Familiennamen als Rufnamen zu verwenden - doch mit geschlechtlicher Schlagseite: Hough (2000) stellt fest, dass Familiennamen häufiger zu Jungenals zu Mädchenrufnamen werden (wie T(a)ylor, Jackson, Hunter). Berichterstattung kaum eine Rolle spielte (vgl. auch die Rede von Hillary and Obama in den USA). Ebenso pflegt man auf Sportlerinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen mit ihrem Rufnamen zuzugreifen. Hierzu fehlen belastbare Studien. Generell bildet die konkrete Referenz auf Personen beiderlei Geschlechts noch ein Desiderat (Löffler 2002; Gyger 1991, 1995; Lenk 2002; Rollnik 2014; Schmuck 2017). Verwandtschaftsnamen sind monoreferente familiäre Referenzformen wie Papa, Mutti, Tante Erna, Opa Rudi. Hier stellt sich die Frage, ob von solchen Anreden bzw. von deren Rückgang beide Geschlechter gleichermaßen betroffen sind. Christen (2006) liefert für die Deutschschweiz Hinweise darauf, dass Mütter eher - was ihre Anrede be‐ trifft - in den Familienrollen verbleiben, während Väter häufiger mit ihrem Vornamen genannt werden. Dabei sind es eher Söhne als Töchter, die im Laufe der Zeit auf diesen Vornamen umsteigen. Auch was die (Voll- / Kurz-)Form des Verwandtschaftsnamens betrifft (Vater - Vati, Papa, Papi), so kann Symmetrie bestehen (z. B. Vati / Mutti). Wenn es jedoch zu Asymmetrien kommt, dann kontrastiert die väterliche Vollmit einer mütterlichen Kurzform, z. B. Vater / Mami, Vater / Mueti (und seltener Vati / Mutter). Spitznamen (inoffizielle Namen) basieren in Deutschland meist auf dem Ruf- oder auf dem Familiennamen. Hier scheint der Usus zu bestehen, dass bei Frauen eher auf den intimeren Rufnamen zugegriffen wird (Franzi < Franziska van Almsick, Steffi < Stefanie Graf), weniger bei Männern, bei denen oft der distanziertere Familienname zum Einsatz kommt (Poldi < Lukas Podolski, Gorbi < Gorbatschov). Dies wurde für die Spitznamen von SportlerInnen belegt. Kürschner (2014) hat die Spitznamen von 635 Personensteckbriefen regionaler Sportmannschaften analysiert: Von den 317 Frau‐ enspitznamen basieren nur 19 % auf dem Familiennamen, von den 318 Männerspitz‐ namen dagegen 81 %. Eine Erklärung steht noch aus. Vermutlich wirkt hier die generell geringere Distanz gegenüber Frauen, wie beim Fall Tuğçe angedeutet. Möglicherweise wollen sich männliche Sportfans durch Zugriff auf den Familiennamen ihres Idols dem ‚Verdacht‘ der Homophilie entziehen. 20 Homophobie ist im Sport und im Militär am ausgeprägtesten. Eine interessante Studie legt Wierzbicka (1992) zu englischen Hypokoristika (Kosenamen) auf Basis von Rufnamen vor. Je nach Bildungsart stößt sie auf unter‐ schiedliche Gendergehalte. So werden häufiger Männer- und seltener Frauennamen von zwei (oder mehr) Silben auf eine reduziert (Robert > Bob, Pamela > Pam). Bei Männernamen erhöht dies den Gehalt an Männlichkeit, während er bei Frauennamen weiblichkeitsverringernd wirkt und sich eher auf erwachsene Frauen bezieht. Stark markiert sind diminuierte Kurzformen wie Bobby, Pammie, die infantil wirken und eher kleinen Kindern gelten. Eine andere Gruppe an (häufiger weiblichen) Rufnamen wird zwar auch gekürzt, aber gleichzeitig suffigiert: Terrence > Terry (ml.) - Deborah > Debbie (wl.). Diese Technik wirkt mit Bezug auf Frauen verweiblichend und verkindlichend. Bei Referenz auf Männer wirken sie dagegen entmännlichend (degenderisierend), und 248 9 Onomastik: Personennamen <?page no="250"?> hieraus entstehen häufig Unisexnamen, d. h. diese büßen dann ihr Geschlecht ein. Damit handelt es sich um spiegelbildliche Effekte: Der Wirkung purer Namenkürzung bei Männern entspricht die Diminution bei Frauennamen. Das eine Geschlecht meidet jeweils das Verfahren des anderen Geschlechts (zur Schreibung -y vs. -ie s. Kap. 9.1). Bei Transgenderpersonen, deren Geschlechtsidentität von dem bei Geburt zu‐ gewiesenen Geschlecht divergiert, spielt im Zuge des Geschlechtsklassenwechsels (Transition, Passing) der Austausch des Rufnamens eine enorm wichtige Rolle. Heute ist für den offiziellen Geschlechtswechsel im Mindestfall nur noch ein neuer Rufname erforderlich, denn auch Transpersonen dürfen keine gegengeschlechtlichen Namen tragen. Noch vor wenigen Jahren bestanden höhere Hürden. Im sog. Transsexuellenge‐ setz gab es mehrere Änderungen. Noch 1981 waren eine Hormonbehandlung und eine Operation verpflichtend, die sogar zur Fortpflanzungsunfähigkeit führen musste. Eine bestehende Ehe wurde annulliert. Nach und nach sind diese und weitere Bedingungen gefallen, was indirekt die Relevanz des Namensfür den Geschlechtswechsel erhöhte: Der neue Name leistet die Transition. Oft wird der Namenzum Synonym für den Geschlechtswechsel schlechthin: Beiträge und Bücher über Transpersonen nennen sich „Aus Yvonne wird Balian“, „Aus Bradley wird Chelsea Manning“, „Anne wird Tom - Klaus wird Lara“ (Schmidt-Jüngst 2018, 2020). Manche Transpersonen bemerken erst anhand des falschen Namens das falsche Geschlecht und verhandeln den Namenwech‐ sel in direktem Kontext von Hormontherapie und geschlechtsangleichender OP. Immer wieder erweist sich, dass der Name wie ein Körperteil begriffen wird: Insofern ist der Name dem Körper vergleichbar, denn es ist die Wortmaterie selbst - das Schriftbild bzw. der Klang […] -, die mit einer geschlechtlichen Bedeutung aufgeladen ist. Der Name ist, wie der Körper, ein objektiviertes Geschlecht; das gleiche gilt für die Personalpronomen. Die Nennung des Namens kann so den gleichen Effekt haben wie das Sichtbarwerden des nackten Körpers. (Lindemann 2011, 158 f.) Das Ziel der meisten ist es, unauffällig in der neuen Geschlechtsklasse aufzugehen und das Transgenderthema hinter sich zu lassen. Daher sucht man sich meist unauffällige, ‚normale‘ und zum Alter passende Namen mit klarer Geschlechtskennzeichnung. Denn bei der langen Transition, bei der der physische Geschlechtseindruck ambig sein kann, wird am Namen gerade die unzweideutige Geschlechtskennzeichnung, die klare Binari‐ tät, geschätzt. Viele wählen auch mehrere Rufnamen, um sich Testmöglichkeiten offen‐ zuhalten. Bei der Auswahl spielen geschlechtsindizierende phonologische Merkmale, wie sie unter 7.1 zur Sprache kamen, eine wichtige Rolle. Der alte Name wird i. d. R. abgelehnt und nicht selten ausgelöscht (Zeugnisse und Urkunden werden geändert). Befragte Transpersonen äußern bei der Namenwahl auch den Gesichtspunkt, dass dem neuen Namen das alte Geschlecht nicht einmal inhärent Namen das alte Geschlecht nicht einmal inhärent sein darf. Dies zeichnet z. B. Tom als reinen Männernamen aus (es gibt keine Frauennamen mit Tom) bzw. Anna als reinen Frauennamen. Manchmal konfligiert es mit der ebenfalls von vielen empfundenen Aufgabe der eigenen Identität und Kontinuität, wenn man den Namen komplett wechselt. Daher wird oft nur das 9.4 Weitere genderonomastische Forschungsfelder 249 <?page no="251"?> onymische ‚Genital‘ (die Namenendung) bearbeitet, indem aus Michael Michelle wird oder aus Andreas Andrea (Lindemann 2011; Schmidt-Jüngst 2015, 2020; Nübling 2017b). Weitere Themenfelder sind andere Gesellschaften und ihr ent- oder angespann‐ teres Verhältnis zur onymischen Geschlechtskennzeichnung. So hat in Schweden eine Deinstitutionalisierung von Geschlecht stattgefunden, indem es (seit 2009) erlaubt ist, ins gegengeschlechtliche Nameninventar zu greifen: Frauen dürfen Sven und Männer Birgit heißen. Wieviele das tun oder (auch dies ist erlaubt) sich umbenennen, ist unbekannt. Man kann auch Namen beider Inventare kombinieren, etwa zu Klaus-Heidi. Dies hat sich 2013 die Lufthansa zunutze gemacht: In einem Preisausschreiben wandte sich das Unternehmen an SchwedInnen, denen attraktive Preise in Aussicht gestellt wurden, wenn sie sich in Klaus-Heidi umbenannten. Tatsächlich haben 42 Personen ihren Namen gewechselt. Besonders interessante Verhältnisse tun sich in Ostfriesland im 16.-19. Jh. auf, wo es zu inversen Namenvergaben kam, d. h. persönliches und onymisches Geschlecht gekreuzt wurden (crossing): Frauen konnten Claas, Peter oder Jacob und Männer Grete, Hedwig oder Frauke heißen. Es sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Frauen Männernamen trugen, meist den ihres Großvaters oder Vaters, und dies anscheinend dann, wenn keine Söhne vorhanden waren und die Tochter damit erbfähig gemacht werden sollte. Der umgekehrte Fall war seltener: Söhne bekommen meist dann den Namen ihrer Mutter, wenn diese bei der Geburt verstorben war. In beiden Fällen scheinen exzessive intrafamiliale Nachbenennungen dieses cross gender naming zu motivieren und die onymische Geschlechtergrenze erodiert zu haben (Nübling 2019b). Noch heute kommen die meisten Unisexnamen aus dem Friesischen. Schließlich spielt Geschlecht auch bei anderen Namenarten eine Rolle. Ruf- und auch Familiennamen können z. B. in Produktbzw. Markennamen „recycelt“ wer‐ den, was Ronneberger-Sibold / Wahl (2017: „Die Zeitschrift Brigitte und der Kaiser Wilhelm Sekt“) thematisieren. Häufiger gehen männliche, seltener weibliche Namen in Markennamen ein, wobei sie spezifische Funktionen erfüllen und unterschiedliche Produktklassen bezeichnen: Frauennamen wandern eher in die Namen von Kosmetika, Reinigungs- und Lebensmitteln (auch von Mineralwässern und Fruchtsäften). Die Namen von Alkoholika bestücken eher Männernamen. Letztere stammen öfter von Unternehmern oder Prominenten ab und spielen auf konkrete Persönlichkeiten an (Kaiser Wilhelm). Weibliche Namen beziehen sich selten auf konkrete Personen und wirken assoziativ (Brigitte). Die Namen von Frauenzeitschriften und deren Wandel seit 1930 analysiert Ronneberger-Sibold (2020). So stellt sie fest, dass die Segregation in Alters(ziel)gruppen stark zugenommen hat, ablesbar an den Vornamen in den Titeln und an zielgruppen‐ spezifischen, oft englisch veredelten Appellativa (Miss, Girl, Woman). Zeitschriften für Jüngere enthalten generell viel fremdsprachliches, v. a. englisches Material (IN, OK! , touch, Couch, cosy, hygge), für Übersechzigjährige dagegen ausschließlich deutsche Lexik, z. B. Mein schönes Blatt, Zeit für mich, Meine Familie und ich. Besonders interes‐ sant ist die Tatsache, dass das Lexem Frau sich zunehmend aus den Zeitschriftentiteln 250 9 Onomastik: Personennamen <?page no="252"?> 21 S. https: / / equalstreetnames.eu/ (Aufruf am 27.10.2023). verabschiedet und v. a. seit 2011 durch phonologisch gleich anlautendes Freizeit ersetzt wird, dies v. a. bei der Zielgruppe 60+ (denn bei den jüngeren Zielgruppen wird Frau, das offenbar mit Alter negativ assoziiert ist, gemieden): Frau mit Herz wurde 2012 zu Freizeit mit Herz, Frau im Leben zu Freizeit im Leben, Frau von heute zu Freizeit heute. Auch dass − immer altersassoziierte − Vornamen bei der Gruppe 60+ abwesend sind, ist der Abwertung von Alter geschuldet (und führt bei ‚jüngeren‘ Zeitschriften zu viel Neubenennungsbedarf). Der Zeitschriftenpreis ist für die Gruppe der bis 40-Jährigen am höchsten, um nach und nach deutlich günstiger zu werden. Ähnliches gilt für die Inhalte: Schönheit, Lifestyle und Gesundheit nehmen mit steigendem Alter ab, Unterhaltung (Klatsch) legt deutlich zu, Kochen bleibt in etwa gleich (damit wäre auch schon das weibliche Themenspektrum umrissen). Als Prototyp für das Segment 60+, welche Zielgruppe sich am stärksten von allen anderen Zielgruppen abhebt, scheint nach Ronneberger-Sibold eine „Leserin mit relativ beschränkten Fähigkeiten in der Verarbeitung schriftlicher Texte“ mit einem „geringen Wortschatz“ (391) auf und ohne Fremdsprachenkenntnisse. „Inhaltlich ist sie vor allem an der Welt der Reichen und Schönen interessiert, womit sie einerseits […] ihrer eigenen, in vielerlei Hinsicht beengten Lebenssituation entflieht, andererseits ihre eigene Person aufwertet [durch häufiges ich und mein im Titel − DN]“ (391). Geschlechtsspezifische Produkte verkaufen sich besser, was nicht nur an rosa und hellblauen Überraschungseiern deutlich wird. Genderisierte Produktnamen un‐ terstützen das gender marketing. Ackermann (2011) hat in „Aloe Vera vs. Click“ die phonologische Kodierung von Geschlecht bei Deodorantnamen untersucht und u. a. festgestellt, dass die in Kap. 9.1 für Rufnamen festgestellten phonologischen Strukturmuster sich auch in den meist englischen und oft sprechenden (transparenten) Deodorantnamen wiederfinden. Deos für Frauen enthalten mehr Silben, mehr Vokale und mehr Auslautsonorität (Aloe Vera, Magnolia, Heavenly), Namen von Männerdeos sind kürzer, konsonantenreicher und hinten geschlossen (Click, Boost, Kick-off, Cobalt). Genderstereotype Unterschiede in den Namen von Parfüms und Anti-Aging-Produkten für Frauen vs. Männer untersucht Montes Fernández (2012), s. auch Cassidy et al. (1999) und Klink (2009). Auch bei Toponymen (Örtlichkeitsnamen) fördert die Genderperspektive Erstaun‐ liches zutage. So ehren Straßennamen Männer über Männer, oft auch solche von zweifelhaftem Ruf, während Frauen dort ähnlich selten anzutreffen sind wie in den Printmedien. Das Beispiel Hamburg zeigt, dass von insgesamt 2908 der nach Personen benannten Straßen 2511 (86 %) Männern gelten und 397 (14 %) Frauen. In Leipzig beträgt das Vehältnis 94 % zu 6 %, in Berlin 89 % zu 11 %. Für Bern wurde außerdem ermittelt, dass nach Männern benannte Straßen, Wege und Plätze zentraler und wich‐ tiger sind, nach Frauen benannte bezeichnen dagegen „Klein- und Verbindungsstraßen, Fahrrad- und Fußwege“ (Der Bund, 25.05.21) 21 . 9.4 Weitere genderonomastische Forschungsfelder 251 <?page no="253"?> Schließlich erweisen sich auch Tiernamen als genderonomastisch hochinteressant. Haustiere wurden früher nicht oder selten benannt. Später bekamen sie deskriptive Be‐ nennungen nach äußeren oder nach Verhaltensmerkmalen wie Rasse, Fellfarbe, Mus‐ terung, Haar- oder Hornstruktur, Lautäußerungen, Temperament. Nachdem Hunde anfangs hundespezifisch und geschlechtsübergreifend Lumpi, Bello oder Fifi geheißen hatten, öffnete der Mensch nach und nach sein Nameninventar für seine Vierbeiner, die er außerdem von der Hundehütte bzw. Straße auf sein Sofa geholt und als vollwertiges Familienmitglied ‚angesippt‘ hat. Im Zuge dessen bekommen Hunde (Katzen, Kaninchen etc.) zunehmend nicht nur Menschen-, sondern sexuierte Namen (derzeit typische Kindernamen). Heute gibt es kaum noch Hunde mit Unisexnamen. Auch kann es passieren, dass ein Hund einer Kindsgeburt zuvorkommt und den für das Kind vorgesehenen Namen erhält. Oder er wird nach einer Großmutter der Familie benannt. Neuerdings erscheinen Hund und Katze in Traueranzeigen unter den Hinterbliebenen. All diese Tier-Mensch-Grenzüberschreitungen vollziehen sich gegenwärtig und verdienen interdisziplinäre Aufmerksamkeit (s. Schaab 2012; Kraß 2014; Holzschuh 2015; Dammel et al. 2015a, 2015b). Zusammenfassung Personenamen bilden eine der wichtigsten Instanzen der Geschlechtsher- und -darstel‐ lung. Obwohl Unisexnamen seit 2008 erlaubt sind, spielt sich onymisches Degendering (noch) eher auf den phonologischen Strukturen der Vornamen ab. Diachron werden vermehrt Mädchennamen mit bislang männlich assoziierten Strukturen gewählt, umgekehrt (und in größerem Umfang) Jungennamen mit bislang weiblich klingenden Strukturen (Luca). Früher zeigten auch (weibliche) Familiennamen Geschlecht an (oder Frauen wechselten zum Namen des Ehemanns). Zunehmend kodieren auch die (meist menschlichen) Namen unserer Haustiere Geschlecht. Grammatisch sind in manchen Dialekten neutrale Mädchen- und Frauennamen (und im Substandard auch Familienna‐ men) von großer Bedeutung, da diesen Frauen damit bestimmte soziale Positionen und Bewertungen zugewiesen werden, die disziplinierend und / oder degradierend wirken. Der Effekt dieses Neutrums wird am besten durch den Begriff der Deagentivierung erfasst. Diese Genusverschiebungen adressieren die soziale Kategorie Gender. 252 9 Onomastik: Personennamen <?page no="254"?> 10 Schreibung Auch Schreibungen können an der Indizierung von Geschlecht teilhaben, besonders dann, wenn ihnen kein lautliches Korrelat entspricht. Dies haben wir in Kap. 9.1 für Vornamen festgestellt: Frauennamen auf [ɪ] werden (eher in den USA als in Deutschland) vorzugsweise mit -ie (Bobbie) verschriftet, Männernamen mit -y (Bobby). Dort kam auch zur Sprache, dass deutsche Unisexnamen auf -a mit der Schreibvariante auf -ah (wie Jona / h, Elia / h) geschlechtspräferentiell vergeben werden, indem Mädchen eher die graphematisch offenen Namen auf -a erhalten und Jungen die geschlossenen auf -ah. Im Folgenden betrachten wir in einem sprachhistorischen Exkurs Hinweise auf die Tatsache, dass die Entstehung der Substantivgroßschreibung nicht nur belebtheits-, sondern auch gendergesteuert verlief (Kap. 10.1). Anschließend befassen wir uns mit der grafischen Bearbeitung von Personenbezeichnungen, um zwei Geschlechter sichtbar zu machen (Kap. 10.2) bzw. weitere Geschlechtsidentitäten jenseits der Zwei‐ geschlechtlichkeit (Kap. 10.3). Auch wenn für manche dieser grafischen Sonderausstat‐ tungen spezielle phonologische Realisierungen vorgeschlagen werden, operieren diese Verfahren primär auf visueller Ebene. 10.1 Entstehung der Substantivgroßschreibung Die linguistische Belebtheitshierarchie hat (wie in Kap. 4 gezeigt) weniger mit biologischer Belebtheit zu tun als mit sozial geformten Wahrnehmungen, bei denen Ego im Zentrum steht. So stehen Götter über den Menschen, Verwandte sind (immer aus Sicht von Ego) ‚belebter‘ als andere Menschen. Artefakte wie Puppen und Stofftiere haben ebenfalls Eigenschaften, die sie als belebter wahrnehmbar machen als Ziegel‐ steine oder Stofftaschen (dazu gehört, dass sie benannt und angesprochen werden). Die Belebtheitshierarchie setzt sich aus unterschiedlichen Parametern zusammen, dessen wichtigster die Ähnlichkeit des fraglichen Objekts zum Menschen selbst (Ego) ist, aber auch die ihm zukommende Empathie (Ego > Verwandtschaft > andere Menschen > Tiere …), Individuation und vor allem Agentivität im Sinne von Handlungsmacht (Agens > Rezipient > Patiens). Es gibt viele Hinweise darauf, dass Männer früher wegen ihrer mächtigeren sozialen Positionen als belebter wahrgenommen wurden als Frauen. Diese Vorrangstellung des Mannes schlug sich in unterschiedlichem Sprechen über die Geschlechter nieder, sedimentierte in Sprachgebrauchsmuster und schließlich ins Sprachsystem (Grammatik und Lexik). Dazu gehört nicht zuletzt auch die Substantivgroßschreibung. Die Substantivgroßschreibung hat sich ungefähr zwischen 1500 und 1700 her‐ ausgebildet. Als wichtigste steuernde Kraft wurde der Belebtheitsgrad identifiziert (s. Nübling et al. 2017, 263-267; Szczepaniak 2011; Schutzeichel / Szczepaniak 2015; <?page no="255"?> Hartmann 2018, 303 ff.): Per se individualisierende Eigennamen gehen voran, es folgen die sog. Nomina sacra (Bezeichnungen für Gott, Bibelgestalten, Klerus), Personenbe‐ zeichnungen, dann Konkreta und schließlich (Anfang des 18. Jhs.) auch die Abstrakta. Anhand der Auswertung sog. Hexenverhörprotokolle aus dem 16. und 17. Jh. (Macha et al. 2005) stellen Dücker (2020), Dücker et al. (2020) und Szczepaniak (2022) fest, dass Lexeme für Frauen (inkl. Weib, Tochter, Schwester etc.) und Männer (inkl. Sohn, Vater, Bruder etc.) sich bezüglich ihrer Großschreibung unterschiedlich verhalten. Gender ist die Variable, die die Großschreibung der Personenbezeichnungen am besten vorhersagt: Frauen werden im SiGS-Korpus insgesamt seltener großgeschrieben als Männer. (Dücker 2020, 47). [SiGS = Satzinterne Großschreibung] Nach Szczepaniak (2022) werden Bezeichnungen von Männern (n = 332) statistisch hochsignifikant häufiger großgeschrieben als die von Frauen (n = 251), und zwar zu 69 % gegenüber 48 % (bei Dücker 2020, deren Hexenverhörkorpus noch größer ist, sind es 73 % gegenüber 42 %). Hier ein Beispiel aus einem Münchner Protokoll von 1600: Hab bej seinem weib .11. Kinder gehebt, darunder aber nur drey Söhn noch im leben, wolte das diese auch gestorben wären, weil Sy Ine yezt sambt seinem weib, in vnglikh bringen. (Hervorhebungen: DN) Nicht nur nominale, auch pronominale Bezüge auf Männer werden großgeschrieben; ebenso Kinder, von denen aus direkt auf die Söhne verwiesen wird. Interessanterweise macht das Lexem Mutter eine Ausnahme, indem es mehrheitlich großgeschrieben wird im Gegensatz zu tochter, weib, wittib ‚Witwe‘. mägdlein etc., was die soziale Sonderstellung der Mutter bestätigt (Kap. 8.3 und Kap. 9.3). Hinzu kommt ein weiterer interessanter Aspekt: Da Verhörprotokolle von negativ (Angeklagten) und positiv bewerteten Personen (KlägerInnen) berichten, hat Dücker (2020) auch diesen evalua‐ tiven Faktor berücksichtigt. Angeklagte Frauen (sog. Hexen) werden dabei seltener großgeschrieben (nur zu 34 %) als Klägerinnen (93 %), die an der Hexenverfolgung teilhaben, während diese Prozessrollen bei Männern keine Rolle spielen. Damit gibt es Hinweise darauf, dass Geschlechter und ihre Bewertungen den Verlauf der Substantiv‐ großschreibung beeinflusst haben. Weitere Quellen müssen diesbezüglich noch ausge‐ wertet werden. Die Sprachgeschichtsforschung hat bislang zu wenig nach solchen Faktoren Ausschau gehalten. Vermutlich dürfte die konsequente Berücksichtigung der Geschlechter noch weitere belebtheitsgesteuerte Sprachwandelprozesse aufdecken. 10.2 Binnenmajuskeln, Schrägstriche, Klammern: Binarisierende Verfahren Das Splitting, die Beidnennung oder die Paarform, die immer voll ausgesprochen wird (Studentinnen und Studenten oder umgekehrt), lässt sich auch voll ausschreiben. Dies kann auf Dauer sehr raumgreifend werden. Deshalb haben sich verschiedene grafische Kürzungsverfahren herausgebildet (sog. integrative Paarformen): StudentIn‐ 254 10 Schreibung <?page no="256"?> nen (Binnenmajuskel), Student/ inn/ en (Schrägstriche), Student(inn)en (Klammern). Dem Schrägstrich folgt oft auch ein Bindestrich (Student/ -innen). Die Einklammerung des Movierungssuffixes wird eher abgelehnt, da Klammern Verzichtbarkeit signalisieren, das Suffix wird in die Optionalität verschoben. Das soll vermieden werden. Deshalb findet man am häufigsten die Schrägstrichvariante und die (orthografisch nicht zugelassene) Schreibung mit Binnenmajuskel. Da sich in den letzten Jahrzehnten jedoch generell Binnenmajuskelschreibungen trotz ihres Normverstoßcharakters ausgebreitet haben (<BahnCard, JodSalz, SpeiseEis>), plädieren viele dafür, diese Schreibung voranzutreiben. Folgende Argumente wurden vorgebracht: 1. erfolgt Sprach- und damit auch Schreibwandel nur, indem bestimmte Neuerungen an Frequenz und Umläufigkeit gewinnen. Im Alltag ist man nicht zu orthogra‐ fischen Schreibweisen gezwungen (das sind z. B. LehrerInnen im Dienst und Behörden). 2. signalisiert das große I im Unterschied zum kleinen, dass nicht nur Frauen gemeint sind. 3. umgeht die Binnenmajuskelschreibung viele Probleme, die bei der Genus‐ kongruenz entstehen, und zwar indem feminine Kongruenz besteht und auch keine Wörter ‚zerstückelt‘ werden, z. B. jede neue StudentIn, eine StudentIn im Gegensatz zu jede/ r Student/ in, der/ die Student/ in, ein/ e nette/ r Student/ in. Der Movierungsumlaut wird beibehalten (ÄrztInnen). 4. integriert diese Form grafisch die volle männliche Form (StudentInnen), diese wird also nicht marginalisiert (im Unterschied zur weiblichen Form im GM). 5. lässt diese Hervorhebung des Movierungssuffixes nachweislich mehr Frauen assoziieren als bei anderen Verfahren (Kap. 5.1). Dass die Binnenmajuskel eher mit linken oder (alt)feministischen Kreisen assoziiert wird, hält manche davon ab, sie zu verwenden. Je häufiger ein Verfahren praktiziert wird, desto eher entledigt es sich solcher Zuschreibungsmöglichkeiten. Jede sprachliche Neuerung beginnt mit sozio- oder areallinguistischen Markierungen (regionalen, dialektalen, jugendsprachlichen, ethnolinguistischen) und baut sie im Laufe ihrer Expansion ab (zur Verbreitung s. Haß-Zumkehr 2003, 175 f.). Bei der Aussprache dieser Formen setzen viele einen Knacklaut vor das i (Student[Ɂ]innen), um die Beidnennung auch mündlich abzukürzen. Ob bzw. inwiefern sich dieser Knacklaut in das phonotak‐ tische System fügt und er den phonologischen Wortcharakter des Suffixes [Ɂɪn] stärkt, diskutiert Völkening (2022) anhand der ebenfalls glottalen Realisierung des Gendersterns. Haider (2023) sieht den Glottisverschluss „auf dem Weg, phonemisch (gemacht) zu werden“ (59). Über die Geschichte der Binnenmajuskel informieren Schoenthal (1998, 18 ff.), Ludwig (1989) und Eickhoff (2012). 1981 hat sie Christoph Busch in einem Buch verwendet (in HörerInnen). Einige Jahre später schreibt er, dass das große I aus der häufigen Schrägstrichverwendung hervorging: „Um den Geschlechtern Gerechtigkeit 10.2 Binnenmajuskeln, Schrägstriche, Klammern: Binarisierende Verfahren 255 <?page no="257"?> und mir Bequemlichkeit anzutun, ließ ich es zum großen „I“ kommen: Trennung und Verbindung auf einen Streich in einem Strich“ (zit. nach Ludwig 1989, 82). 1983 erschien die Binnenmajuskel in der Schweizer Wochenzeitung WoZ und wurde dann über die Berliner Tageszeitung (taz) nach Deutschland getragen. Mittlerweile hat sie einige Verbreitung auch in offiziellen Texten erfahren, s. Abb. 10-1 (aus DeReKo, primär Zeitungen und Zeitschriften, s. Krome 2020, 68). Hier wird deutlich, dass sich der Anteil der Binnenmajuskelschreibung an anderen Verfahren geschlechterbewusster Schreibungen von 60 % im Jahr 2012 auf 44 % im Jahr 2019 verringert hat. Im Jahr 2020 ‚überholt‘ der Stern sogar die Binnenmajuskel (Krome 2021, 25). Auch ausgeschriebene Paarformen gehen zurück, ebenso die Schrägstrichvarianten. Konkurrenz erfährt die Binnenmajuskel durch Unterstriche, Gendersterne und neuerdings den Doppelpunkt (s. Kap.-10.3; Ferstl / Nübling 2024). Pusch (2016) machte den Vorschlag, das große I durch eine Ausrufezeichen (als ein auf dem Kopf stehendes kleines i) zu ersetzen (Leser! n, Student! nnen) und so auch die Queer-Community einzuschließen: „Das Ausrufungszeichen soll unser gemeinsames Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit sichtbar machen, es ersichtlich mit einem Ausrufungszeichen zu versehen“ (45). Dieser Vorschlag hat sich nicht durchgesetzt. Eickhoff (2012) berichtet aus der Duden-Redaktion, dass in den 1990er Jahren Fragen zum großen I „eines der wichtigsten Themen der Duden-Sprachberatung“ (195) war. 1995 wurde am Frauentag die Forderung an die Dudenredaktion gestellt, die I-Schreibung in das Regelsystem des Duden aufzunehmen. Dem wurde zwar bis heute nicht stattgegeben, da dies nicht mit den geltenden Rechtschreibregeln in Einklang stünde (obwohl Binnenmajuskeln in vielen anderen Wörtern sprießen, z. B. BahnCard). Doch widmet sich Duden Band 9 (Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle) seit 1997 ausführlich der „Gleichstellung von Frauen und Männern in der Sprache“, wo u. a. die Einklammerung (mit Marginalisierung bzw. Optionalisierung) des Movie‐ rungssuffixes im Plural (Student(inn)en) oder der Schrägstrich mit Ergänzungsstrich (Assistent/ -in) empfohlen werden, ansonsten neutralisierende Ersatzformen (Professur statt Professorin oder Professor) oder Umschreibungen. Von Auflage zu Auflage des sog. Rechtschreibdudens (Band 1) nimmt der Duden bzgl. der Binnenmajuskelschreibung eine zunehmend deskriptive Position ein („in bestimmten Kontexten gebräuchlich, aber nicht Gegenstand der amtlichen Rechtschreibregelung“). Gleiches gilt im Prinzip auch für den Genderstern, nur zeitlich versetzt. 256 10 Schreibung <?page no="258"?> Abb. 10-1: Diachronie geschlechterbewusster Schreibgebräuche von 2012-2019 (aus Krome 2021, 25) 10.2 Binnenmajuskeln, Schrägstriche, Klammern: Binarisierende Verfahren 257 <?page no="259"?> 10.3 Sterne, Doppelpunkte, Unterstriche: Nicht-binarisierende Verfahren Die postfeministische Kritik an sämtlichen Verfahren des Splittings bzw. sprachli‐ cher Sichtbarmachung von Frauen lautet, dass diese die Zweigeschlechtlichkeit (oder ZweiGenderung) betonen, wenn nicht gar verabsolutieren, und somit Menschen, die sich dieser Binarität nicht zuordnen, unterschlagen. Deshalb werden andere Verfahren vorgeschlagen, die beanspruchen, nonbinäre Personen sprachlich-visuell einzuschlie‐ ßen. Die in 10.2 genannten Verfahren werden abgelehnt. Stattdessen wird zu Verfahren geraten, die die Morphemgrenze zwischen Stamm und Movierungssuffix durch sog. Neographeme deutlicher voneinander abheben (Kritiker/ innen sagen: Geschlechter voneinander entfernen und / oder besonders betonen), sei es durch Unterstrich (Gendergap: Student_innen), Stern (Student*innen), Doppelpunkt (Student: innen) oder den sog. Mediopunkt (Student•innen). Ihnen allen ist gemeinsam, einen Raum zwischen den beiden Geschlechtern eröffnen zu wollen, die Zweigeschlechtlichkeit in Frage zu stellen und andere Geschlechtsidentitäten einzuschließen (s. AG Feministisch Sprach‐ handeln 2014 / 15; Ängsal 2011). Dabei handelt es um mehr als intergeschlechtliche Personen. Sexuelle Orientierungen oder Desinteressen (queerness, Asexualität), die bislang grammatisch ohne Belang waren, sollen hierdurch ebenfalls eingeschlossen werden - was eine immense Weiterung und Aufladung bedeutet und für viele nicht nachvollziehbar ist. Diese Neographeme werden dabei ikonisiert. So sagt der Leitfaden „Feministisch Sprachhandeln“ zum Gendergap: „Die Lücke soll vielfältige Möglichkei‐ ten und Gestaltungsspielräume symbolisieren“, wohingegen der Stern „letzteres [die Spielräume] stärker herausstellen [kann], da das Sternchen viele unterschiedliche Strahlen hat und damit noch mal stärker symbolisch ganz Unterschiedliches meinen kann“ (ebd., 20). Damit wird produzentenseitig eine sprachpolitische Absicht bekundet, deren rezipientenseitiger Effekt bislang noch kaum erforscht ist: Ob sich der / die Lesende dann meinetwegen bei der Referenz Leser_in der FAZ einen Crossdresser vorstellt, ist bis heute nicht nachgewiesen, aber sehr unwahrscheinlich, da die huma‐ nen Prototypen, die wir bei Referenzen flüchtig vor unserem inneren Auge vorbeispazieren lassen, eher einer alltäglichen Lebenswelt entstammen als einem impliziten Appell, der von Sonderzeichen ausgeht. (Kotthoff 2017b, 100) Neben der Sichtbarmachung weiterer Geschlechter gibt es auch die Auffassung, dass Neographeme dazu auffordern, von Geschlecht abzusehen und inklusiv alle Personen unabhängig von ihrem Geschlecht zu bezeichnen. In jedem Fall ist ihre Bedeutung gesetzt und wird sie weiterhin verhandelt. Kotthoff (2017b) vertritt den plausiblen Ansatz, dass diese graphischen Verfahren als „Emblem von Gruppenzugehörigkeit“ (100) zu interpretieren sind, als Möglichkeit, Zugehörigkeit zu einer ingroup herzustellen, „die sich darüber hinaus selbst eine besondere und überlegene Sprachsensibilität bescheinigt“ (105). Feilke (2023) schreibt dem Stern eine pragmatische Signalfunktion als Respektzeichen zu und als Indiz dafür, wo und wie man sich selbst im Genderdiskurs verortet. 258 10 Schreibung <?page no="260"?> Wie Abb. 10-1 zeigt, nimmt die Verwendung zumindest des Gendersterns zu, der 2012 in offiziellen Texten noch nicht nachweisbar war, ab 2016 zulegt und 2019 auf 30 % angestiegen ist. Der Gendergap hat sich dagegen nicht durchgesetzt. Der erst jüngst aufgekommene Doppelpunkt wurde noch nicht erfasst, doch deuten derzeit laufende Korpusuntersuchungen auf eine starke Zunahme hin, besonders im Plural (Ferstl / Nübling 2024). Zu der Frage, ob oder inwieweit sich nonbinäre Personen durch Verwendung von Neographemen repräsentiert fühlen, äußert sich die Studie von Löhr (2021; 2022). Sie hat 2019 eine anonyme Online-Befragung von 324 nonbinären Personen durchgeführt und sie u. a. nach ihrer Präferenz alternativer Formen (auch ohne Neographeme) gefragt. Interessanterweise wurde von 92 % der Befragten (Mehrfachantworten waren möglich) neutralisierenden Formulierungen wie Präsenspartizipien (Studierende, Stu‐ dentenschaft) der größte Vorzug gegeben, gefolgt von Neographemen wie Genderstern (74 %) und Gendergap (56 %). Spezielle Endungen wie -ecs, -x (s. u.) erfuhren den geringsten Zuspruch, ebenso Maskulina, die Binnenmajuskel und der (2019 noch seltene) Doppelpunkt. Auch selbst praktizieren die Befragten am häufigsten neutrali‐ sierende Verfahren oder Umschreibungen. Viele wollen nicht durch Sonderzeichen ausgestellt werden. Der Anspruch, der sich aus dem sprachlichen Radikalkonstruktivis‐ mus Butler’scher Prägung speist (nämlich dass es angeblich keine sprachunabhängige Wirklichkeit gebe), besteht darin, durch solche Markierungen wirklichkeitsverändernd zu wirken (Kap. 2). Andere Ansätze, die von einer Wirklichkeit jenseits sprachlicher Äußerungen ausgehen und hier eher interdependente (sich gegenseitig bedingende) Verhältnisse sehen, werden strikt abgelehnt. Auch die Geschlechtsidentitäten sind diesem Ansatz nach ausschließlich Produkte diskursiver Handlungen. Damit wird Sprache bzw. Sprachhandlungen Allmacht zugewiesen. Diese sprachkonstruktivis‐ tische Position erfordert eine große Portion Glaubensbereitschaft und hält vielen linguistischen Einwänden nicht stand. Umgekehrt ist nicht abzustreiten, dass sprachli‐ che Äußerungen handlungs- und wirklichkeitskonstituierend sein können (man denke an performative Sprechakte). Es kommt auf den Ausschließlichkeitsanspruch an. Pusch (2016) kritisiert an den morphemgrenzbetonenden Schreibweisen, dass wir Frauen optisch allerdings wieder genau da gelandet [sind], von wo wir seit Beginn der feministischen Sprachkritik […] wegstrebten: auf dem Abstellgleis der Femininendung: Ob Abtrennung durch Klammern, Schrägstrich, Unterstrich oder Genderstern […], für Frauen wird durch diese Mannipulationen (sic) nichts erreicht: Uns vermitteln diese Schreibweisen, eine wie die andere, die Botschaft: Die Frau ist zweite Wahl. Dem Normalgeschlecht gebührt der Wortstamm, dem abweichenden Geschlecht die abgeleitete Form. (43) Durch die Entfernung des Suffixes vom Stamm „wird der Status weiblicher Zweitran‐ gigkeit betont“ (44). Man erkennt hier, dass sich neue Konfliktlinien zwischen den Interessen von Frauen und nonbinären Personen auftun, was manche auf nonbinärer Seite zu dem Vorschlag veranlasst, zu den „generischen Maskulina“ zurückzukehren, nicht wissend, dass hiermit ein Rückschritt zu mehrheitlich männlich geprägten 10.3 Sterne, Doppelpunkte, Unterstriche: Nicht-binarisierende Verfahren 259 <?page no="261"?> 1 S. https: / / www.dbsv.org/ gendern.html (Aufruf am 08.05.2024). Formen verbunden ist. So erfuhr bei der Befragung nonbinärer Menschen die sog. männliche Form (Studenten) immerhin einen Zuspruch von 17 % (das Binnen-I von 6,5 %; s. Löhr 2022, 363). Eine alle zufriedenstellende Lösung gibt es nicht, doch sind die Duden-Ratgeber zum Gendern bedenkenswert, die als gemeinsames Ziel die Abkehr von sog. generischen Maskulina empfehlen und davon ausgehen, „dass gendergerechte Sprache in erster Linie die Berücksichtigung von zwei Geschlechtern, Männern und Frauen, sicherstellen muss“, da sich die Zweigeschlechtlichkeit als Standardsituation „aus der prototypischen Alltagswahrnehmung vieler Menschen und sprachlichen Fakten“ speist (Diewald / Steinhauer 2019, 7). Sich gegenseitig auszuspielen oder ausspielen zu lassen, führt nicht weiter. Neuerdings wird von konservativer Seite gegen geschlechterbewusstes Formulieren vorgebracht, es stehe leichter Sprache und leseschwachen Personen entgegen. Auch hier erfolgt primär ein Gegeneinander-Aus‐ spielen. Paarformen und im Fall von Kurzformen der Stern sind gut zu verarbeiten und werden vom Blinden- und Sehbehindertenverband am ehesten empfohlen. 1 Ein wichtiger Aspekt, an dem auch Pusch gelegen ist, besteht darin, dass die gesamte Grammatik bis in die tiefsten Schichten hinein (Genus, Flexionsklassen, Morphologie, Syntax) von der Geschlechtsbinarität durchzogen ist und man diese Strukturen offenlegen muss, um entweder Geschlecht unsichtbar oder die ohnehin an‐ gelegte Zweigeschlechtlichkeit in ihrer Asymmetrie umso sichtbarer zu machen. Doch haben sich in der Grammatik keine asymmetrischen Queer- oder Trans-Strukturen verfestigt, ebenso wenig rassistische oder migratistische (anders als in der Lexik). In die obligatorische Unterscheidung zwischen sie und er ist ausschließlich die fundamentale Unterscheidung in zwei Geschlechtsklassen eingelassen. Keine andere Differenz - weder Hautfarbe, Religion, Alter etc. - wurde grammatikalisiert: „Die Grammatik, das Fundament unserer Sprache, kennt keinen Rassismus. Sie kennt nur Sexismus […]“ (Pusch 2011, 59). Zu den im Leitfaden der AG Feministisch Sprachhandeln (2014 / 15) beklagten Diskriminierungen, denen man durch veränderte Sprache begegnen wolle, schreibt Pusch (2016): Sie [diese Diskriminierungen] unterscheiden sich allerdings grundsätzlich von Sexis‐ mus / Genderismus, weil sie sich nicht in der Grammatik niedergeschlagen haben, dem tiefsten und dem Bewusstsein unzugänglichsten Teil der Sprachstruktur. Um Ableismus, Rassismus, Klassismus und Migratismus zu bekämpfen, muss ich nicht die Grammatik ändern, sondern ‚nur‘ bestimmte Sprechweisen und Elemente des Wortschatzes. (40) Auch Pusch (2014, 62) kritisiert das Aufbrechen von Wörtern: „Sprache funktioniert anders, als Queer-TheoretikerInnen sich das vorstellen“ (62). Da PostfeministInnen in Schreibungen wie Leser_in mit statischem Unterstrich das ‚zweigendernde‘ Risiko erkannten, mit dem Unterstrich aber auf weitere Identitätskategorien (wie Hautfarbe, Herkunft, Nationalität) und deren Konstruiertheit aufmerksam machen wollen, wird auch - zur bewussten Irritation beim Lesen - die Dynamisierung des Unterstrichs 260 10 Schreibung <?page no="262"?> empfohlen: „Der dynamische Unterstrich will vielmehr zum Ausdruck bringen, dass die Infragestellung von Zwei- und CisGenderung ein dynamisches, nicht festlegba‐ res Modell ist, das sich kontinuierlich verändert“ (AG Feministisch Sprachhandeln 2014 / 15, 23). Er kann auch nach dem Wortstamm erscheinen (Sprech_erinnen) oder jenseits jeglicher Morphemgrenzen (sog. wandernder Unterstrich: Au_torin, Geg_ne‐ rinnen), schließlich auch dort, wo ohnehin ein Spatium steht (rumänische_Roma) (Hornscheidt / Nduka-Agwu 2010, 36 ff.; AG Feministisch Sprachhandeln 2014 / 15, 23 ff.). Mündlich zu realisieren ist er „mit einer sehr kurzen Pause“ (ebd., 23). Hinzu kommen Kursivierungen, Binnenmajuskeln etc. Auch andere Wörter als Personen‐ bezeichnungen (Ver_Ant_W_Ortungen) und andere Wortarten als Substantive (re_pro‐ duzieren, kei_ne, i_hr, di_e) können mit dem Unterstrich bearbeitet werden. Seine übergreifende Funktion ist die Anzeige konzeptueller „Leerstellen und Brüche in dem hegemonial vorgestellten System von Zweigeschlechtlichkeit“, „das Brechen konven‐ tionalisierter Lesarten“ (ebd.). Menschen, die sich dem nicht anschließen, werden Ängste, Verweigerungen, sich mit Neuem auseinanderzusetzen, Ignoranz, doppelte Ausgrenzung anderer, Machterhalt etc. attestiert (ebd.). Dieser Diskurs zeichnet sich durch ein hohes Maß an Polarisierung und Unterstellungen gegenüber Andersdenken‐ den aus. So zitiert die AG Feministisch Sprachhandeln (2014 / 15): „Die anmaßende Idee, alle könnten einem, und nur einem Geschlecht zugeteilt werden, ist an Irrsinn nicht zu überbieten! Die Annahme, es gäbe nur zwei Geschlechter, ist absurd und aberwitzig zugleich“ (53). Ängsal (2011) und andere geben zu bedenken, dass nicht viele Menschen diesen ideologisch-akademischen Diskurs nachvollziehen können, somit die Schreibbeson‐ derheiten nicht zu deuten geschweige denn selbst zu praktizieren wüssten. Diese schließen die meisten aus und führen „eher zu Unverständlichkeit und Leseverdruss“ (Pusch 2014, 62). Kotthoff (2017b) geht noch einen Schritt weiter, indem sie darin primär die Herstellung von Gruppenzugehörigkeit sieht, diese Schreibpraktiken seien „Gruppenindexe“: Ein Unterstrich stellt keine Referenz her, wohl aber einen Bezug zum Wissen einer Diskurs‐ gemeinschaft, die sich mit Heteronormativität kritisch auseinandersetzt. […] Der Sinn liegt in einer Identitätspolitik der Schreibenden selbst (91). Textpraktiken verweisen auf ihre Produzent(inn)en und inszenieren deren Identitäten und Zugehörigkeiten. (104) Eine weitere sprachpolitische Maßnahme, die dominierende Zweigeschlechtlichkeit sprachlich (und in diesem Fall nicht nur schriftlich) zu überwinden, besteht in der Schaffung neuer Suffixe, z. B. -x, das für „exit gender“ stehen soll, als [ɪks] auszu‐ sprechen ist und Menschen, die die Geschlechtskategorie gekündigt haben (d. h. ohne geschlechtliche Verortung), zu bezeichnen. Im Plural wird -s angehängt (gesprochen [ɪksəs]): die Teilnehmxs, Lehrxs, Lesxs. Andere Personenbezeichnungen werden zu Dok‐ tox, Präsidx, Studierx, auch wer zu wex. Der definite Artikel wird zu dix, der indefinite zu einx. Kasusflexion unterbleibt weitgehend: „[…] wenn ich gemeinsam mit einx Freundx unterwegs bin und immer x gefragt wird, was wir vorhaben […]“ (AG Feministisch 10.3 Sterne, Doppelpunkte, Unterstriche: Nicht-binarisierende Verfahren 261 <?page no="263"?> 2 Zu weiteren Verfahren, etwa alle -er-Endung durch -a zu ersetzen (Türöffna) und dadurch eine „Frauisierung“ (27) zu erwirken, s. AG Feministisch Sprachhandeln (2014 / 15). Sprachhandeln 2014 / 15, 9). Später wurde die Endung -ecs empfohlen (Lesecs für alle, die lesen), da X Namenbestandteil des schwarzen Bürgerrechtlers Malcolm X war und die Übernahme von X als Vereinnahmung der antirassistischen Strategie kritisiert wurde (auch das Personalpronomen soll ecs lauten). 2 Mittlerweile ist dem die Endung (und das Pronomen) -ens (als Teil von Mensch) gefolgt. Da alle diese Verfahren tief in Grammatik, Aussprache und Schriftbild einwirken (sollen), stellt sich die Frage nach ihrer Durchsetzbarkeit. Auch Pusch (1984) hatte einige Reformideen, die die Gram‐ matik stark affiziert hätten und die sie wegen mangelnder Realisierbarkeit nicht weiter verfolgt hat. Gemeint ist z. B. die konsequente Nutzung aller drei Genera: Neutrum zur Geschlechtsabstraktion, Femininum (ohne Movierungssuffix) und Maskulinum ausschließlich zur Geschlechtsspezifikation: das Lehrer - die Lehrer - der Lehrer (zu weiteren Vorschlägen, z. B. von Matthias Behlert, s. Pusch 1999, 23-27). Während Pusch bereits Vorhandenes anders (symmetrischer) gestalten und verwenden will, gehen die Vorschläge der AG Feministisch Sprachhandeln deutlich weiter, indem neues, dazu schwer artikulierbares Sprachmaterial kreiert wird. Natürlich wären komplett geschlechtsabstrahierende Formen im Interesse aller, doch muss betont werden, dass das Deutsche eine Genussprache ist und Genus eng an Geschlecht gekoppelt hat. Wenn das Englische auf Verfahren der (multiplen) Geschlechtsspezifikation verzichten kann, dann aus dem einfachen Grund, weil es kein nominales Genus hat. Das Englische zum Vorbild für das Deutsche zu nehmen, wird zwar immer wieder vorgeschlagen, bleibt aber naiv. Die genderlinguistischen Probleme des Englischen sind bedeutend geringer und reduzieren sich weitgehend auf die Pronomen der 3. Person Singular. Dies kann mit singularischem they mittlerweile als gelöst betrachtet werden. Zusammenfassung Sprache wird sehr stark visuell wahrgenommen. Daher sind die Bemühungen um geschlechtergerechte Schreibweisen besonders salient und entsprechend umstritten, besonders dann, wenn exzessiv auf nur ein einziges Verfahren gesetzt wird. Tests haben erwiesen, dass Strategien zur Sichtbarmachung von Frauen zu deren stärkerem gedanklichen Einbezug führen. Gegenwärtig wird dem vermehrt durch verschiedene Verfahren, die jeweils mit bestimmten sozialen Gruppierungen assoziiert werden, Rechnung getragen. Dies führt - wie jeder sprachliche Wandel - zu ablehnenden und befürwortenden Reaktionen. Ob diese leserseitigen Effekte des vermehrten ge‐ danklichen Einbezugs auch für (durch Sterne, Unterstriche etc. markierte) andere Geschlechtsidentitäten gelten, ist noch zu überprüfen. Doch favorisieren viele, die sich der Geschlechtsbinarität entziehen, diese durch Sonderauszeichnungen besonders auffälligen, oft bewusst irritierenden Mittel der Sichtbarmachung. Dies führt derzeit zu einer Pluralisierung von Schreibweisen. 262 10 Schreibung <?page no="264"?> 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation „Sag mal Andrea, weshalb spielst du eigentlich nicht mehr mit Oskar? “ - „Würdest du mit jeman‐ dem spielen, der dich beim kleinsten Streit im‐ mer gleich verhaut? “-- „Nein, natürlich nicht.“-- „Siehst du, das sagt Oskar eben auch.“ Dass die Forschung zu diesem Themenkomplex interdisziplinär ist, wird im Kapitel deutlich. Zwar geht es in allen beteiligten Disziplinen immer um Kommunikation, allerdings mit unterschiedlichen Methoden. 11.1 Gender kommt von außen Seit über 40 Jahren beschäftigen sich SoziologInnen, PädagogInnen und LinguistInnen mit der Frage, wie sich Gender bei Kindern äußert, wie sie sich Gender aneignen, ob und wie sie in differente Gendermuster hineinsozialisiert werden. Die Relevantsetzung von Geschlechterunterschieden ist bereits für die Wahrnehmung von Embryos und Säuglingen von Bedeutung, daran richtet sich die heteronormative Namengebung aus (Kap. 9) und prägt vom ersten Tag an die Interpretation ihres Verhaltens und Aus‐ sehens. So wird das Schreien eines als männlich vorgestellten Babys von Erwachsenen beiderlei Geschlechts eher als Ausdruck von Aggression gehört. Als den Erwachsenen in dem vielzitierten Experiment erzählt wurde, dass ein kleines Mädchen schreie, interpretierten sie dasselbe Schreien desselben Kindes eher als Ausdruck von Angst (Condry / Condry 1976). Ein anderes Experiment zeigte, dass die gleichen Säuglinge, wenn sie als weiblich vorgestellt wurden, von den Proband/ inn/ en als zart, feingliedrig, zerbrechlich und niedlich beschrieben wurden, und so sie als männlich ausgegeben wurden, als groß, kräftig und stark (Bilden 1991). In solchen experimentellen Studien kann die Wahrnehmung großer Populationen getestet werden. Kinder lernen durch eine solche Sicht auf sie indirekt ihre Selbstwahrnehmung. Mädchen empfinden sich selbst irgendwann als ängstlich und niedlich, wenn sie so gesehen werden, und präsentieren sich dann auch so - Jungen entsprechend. Jüngst hat eine BBC-Dokumentation (2017) erneut gezeigt, dass Erwachsene als Junge bzw. Mäd‐ chen vorgestellte Kinder mit dem stereotyp-gegenderten Spielzeug versorgen (dazu auch Becker et al. 2018), das im Raum vorhanden war. Sie waren im Nachhinein selbst erschrocken darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit sie den Jungen Autos und den Mädchen Puppen gaben. Im Zusammenhang ihrer jeweiligen Spielformen bilden Kinder die entsprechenden Interaktionsformen und Gefühle aus, die beim Puppenspiel anders sind als beispielsweise bei Wettrennen mit Spielautos (Cook-Gumperz 1989; Kyratzis 2001): Hier Dialoge mit Stimmenvielfalt von Eltern-Kind-Rollen, dort Anfeu‐ <?page no="265"?> ern und Gewinnwunsch. In dieser Art von Forschung werden verschiedene Spielszenen unter Kindern, die sich eigeninitiativ zum Spielen im Kindergarten zusammenfinden, aufgezeichnet, transkribiert und dann interpretiert. Die bearbeiteten Datenmengen sind kleiner als bei Experimentalstudien. Nach Mead (1968) entsteht Ich-Identität durch das Erfühlen der Haltung des Anderen gegenüber sich selbst; damit tritt der einzelne Mensch in seinen Umweltbe‐ reich ein. Dieses Selbstbewusstsein löst eine Sicht im Individuum aus, die es auch in anderen auslöst, und es entwickelt damit insoweit eine Identität, als es die Haltung anderer einnehmen und sich selbst gegenüber so wie gegenüber anderen handeln kann. Selbstbewusst und identitätsbewusst sein heißt im Grunde, dank der gesellschaftlichen Beziehungen zu anderen für seine eigene Identität zum Objekt zu werden. Auch Gender tritt von außen an das Kind heran und wird erst ganz allmählich vom älteren Kindergartenkind an die Differenz der Genitalien rückgekoppelt, die zunächst nur den Sortiervorgang begründen (Goffman 1977). Die geschlechterbezogenen Normen der Gesellschaft werden inkarniert und inkorporiert und in ein Selbstkonzept integriert (Macha 2011, 32 ff.). 11.2 Dimensionen des Genderkonzepts Wenn Gesellschaften die soziale Kategorie Gender so stark institutionalisieren, wie es kulturübergreifend der Fall ist, liegen dem Typisierungsschemata zugrunde, die im Sozialisationsprozess weiter tradiert werden. Dietzen (1993, 73) fasst unter Rückgriff auf Ausführungen von Gerhardt / Rose (1978) die Geschichte der Geschlechtertypisie‐ rung so zusammen, dass im Zentrum des Weiblichen „Mutterhandeln“ mit all seinen Facetten angesiedelt worden ist. Sie nennen Gebären, Nähren, Pflegen und Lehren als Formen, „bezogen auf die Person des anderen“, in der vorausgesetzt sei, dass solche „Hingabetätigkeit zur Herstellung oder Wiederherstellung eines organischen, psychischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Menschseins dient; dies wirke sich auf vielen, darunter symbolischen, Verhaltens- und Handlungsebenen aus im Sinne einer Beziehungsorientierung. Im Zentrum des Männlichen ist hingegen das Einnehmen und Verteidigen von Positionen angesiedelt worden und in Verbindung damit Risiko‐ handeln, Kampf- und Kompetitionsbereitschaft (Connell 2001; Behnke / Meuser 2001; Böhnisch 2004). In jeder Gesellschaft existiert ein System von Genderglauben, d. h. Überzeugungen über geschlechtsangemessene Verhaltensweisen, Persönlichkeitseigenschaften, Inter‐ essen, Werte, vor allem äußere Attribute, die eine synthetische Qualität gewinnen. Sobald Kinder die kognitive Selbstkategorisierung der eigenen Person als weiblich oder männlich vornehmen können (mit ca. 2-3 Jahren), eignen sie sich in einem Prozess der Umwelt beobachtenden Selbstsozialisierung diese gesellschaftlichen Skripte an (mit allen Flexibilitäten, die sie erfahren und beobachten): Mädchen wollen ungefähr so sein, wie Mädchen (oder Frauen) sind, Jungen so wie Jungen (oder Männer). Das aufkommende Selbstkonzept einer Männlichkeit oder Weiblichkeit bringt ein 264 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="266"?> Kind in Interaktion mit Erwachsenen dazu, bestimmte Interessen und Persönlichkeits‐ merkmale stärker auszubauen, die seiner unbewussten Wahrnehmung nach zur Ge‐ schlechtsidentität passen. Bem (1981) erfasst diese differenten semiotischen Komplexe als kognitives „Genderschema“. Schon im Kindergartenalter können Kinder einen Teil des Spielzeugs, einige Kleidungsstücke, Gegenstände und Aktivitäten danach sortieren, ob sie eher „für einen Jungen oder Mann“ oder „für ein Mädchen oder eine Frau“ sind. Damit einhergehend tritt eine Neigung zur kognitiven Konsistenz auf: Werturteile sowie Auswahl von Modellen und Aktivitäten werden in Übereinstimmung mit der entstehenden Geschlechtsidentität und dem entsprechenden Schema (mehr oder weniger flexibel vermittelt durch Umgebung, Eltern, ErzieherInnen, Peergruppe und Medien) getroffen (Kasüschke 2008). Dabei ist das kindliche Vorgehen beobachtungs‐ geleitet und auf Merkmale fixiert, die ihm im Alltag als different auffallen. 3-jährige benennen Haare, Bart oder Ohrringe als Unterscheidungskriterien (Volbert / Homburg 1996). Das Alltags- und Erfahrungswissen besteht zwar meist aus vagen Vorstellungen (Dölling 2003, 18), ist auch nur teilweise bewusst und individuell nicht gleich ausge‐ prägt, naturalisiert aber doch Ungleichheiten. Susan Ervin-Tripp (persönl. Komm.) berichtet, dass sie zweieinhalbjährige Kinder gefragt habe, ob die nackt in einem Swimmingpool spielenden Kinder Jungen oder Mädchen seien. Das könne man nicht sagen, kam als Antwort. Die hätten ja nichts an. Am Anfang steht die Erfahrung, dass die unterschiedlichen Menschentypen, denen das Kind begegnet, wohl in „Papa“- und „Mama“-Typen aufgeteilt werden können (Cahill 1986). Diese Erfassung einer differenten Semiotik kann das Kind zunächst nicht an biologische Faktoren rückbinden. Die Rückbindung verdeutlicht ihm erst später, dass die soziale Gendertypologie als vom Körper ausgehend gedacht werden soll und so Stabilität gewinnt. Klann-Delius (2004) kritisiert zu Recht die zu starke Rigidität, die der Gen‐ der-Schema-Theorie zunächst eigen war (die wir oben aufgelockert haben) und fasst andere Theorien zusammen, die neben den in diesem Kapitel stark gemachten inter‐ aktions- und kognitionsorientierten Ansätzen in der Gesamtdebatte von Bedeutung sind (z. B. auch evolutionsbiologische und neurokognitive Ansätze und auch Sigmund Freuds Sicht). Aus der psychoanalytischen Tradition scheint uns Chodorows (1994) Gedanke interessant, dass Jungen und Mädchen sich auf andere Art von der Mutter ablösen. Dem Jungen gelingt die Ablösung von der Mutter, indem er die Differenz zu ihr betont. Sie ist oft weniger problematisch als die von Mädchen. 11.3 Aneignung der Gendersemiotik Das Sprechenlernen stellt den wesentlichen Schritt zum Hineinwachsen in die Kultur dar als sich selbst regulierendes Mitglied dieser Kultur. Unterschiede wie die der Geschlechter funktionieren nur, wenn sie von der Mehrheit in ähnlicher Form als „natürlich“ angenommen werden, d. h. wenn sie unhinterfragt praktiziert werden, begleitet von dem Gefühl „ich bin richtig“. Cahill (1986) stellte dazu, wie dieses Hin‐ einwachsen in eine weibliche und eine männliche Identität in der US-amerikanischen 11.3 Aneignung der Gendersemiotik 265 <?page no="267"?> Kultur vonstatten geht, Beobachtungen in zwei amerikanischen Vorschulen an. Die Kinder spielten von sich aus gern „Superhero“ und „Haus“. Sie lernten zunächst, ihre Rollen äußerlich anzuzeigen. Wir erwarten von den Mitgliedern unserer Kultur eine Übereinstimmung von Äußerem und Verhalten. Kinder lernen zunächst diesen Zusammenhang. So legten Mädchen sich beim Mütter-Spielen Schmuck an. Man verge‐ genwärtige sich, was das bereits für eine imponierende Umweltbeobachtung der Kinder zeigt, spielt doch die Ornamentierung des Körpers eine zentrale Rolle im semiotischen Anzeigen von Weiblichkeit. Er beschreibt, wie zuerst für das Kind das Sich-Absetzen vom Baby-Status dominant wurde und dann die Mädchen / Junge-Klassifikation im Zusammenhang damit erfolgte. („Du bist ja noch ein Baby“ als Diskriminie‐ rung, „Du bist ja schon ein großer Junge / ein großes Mädchen“ als Kompliment der Erwachsenen). Beim Spielen erkennen die Kinder zunächst den fundamentalen Zusammenhang von sozialer Identität und Demonstration / Anzeige der Identität. Dann merken sie allmählich, dass sie nicht beliebigen Zugang zu Identitäten haben. Sie werden auf vielfache Weise durch Verhaltensweisen der Erwachsenen entmutigt, gängigen Geschlechtervorstellungen zu widersprechen. Mit vier bis fünf Jahren haben sie eine geschlechtsdifferente Selbstwahrnehmung und den entsprechenden Verhal‐ tensstil in der Regel erworben (Cahill 2003). In diesem Bereich hat sich einerseits Flexibilisierung ereignet, andrerseits versuchen Spielzeug- und Kleidungsindustrie eine massive Gegensteuerung in Richtung einer extremen Heteronormativität. Görgen (2017) bringt es für Mädchen so auf den Punkt: Vom Sandkasten in den Beautysalon. Abb. 11-1: Schokoladen-Osterhase für Mädchen (Quelle: https: / / www.amazon.de/ Ferrero-Kinder-Schok oladen-Osterhase-M%C3%A4dchen/ dp/ B00SA7S8QI; Aufruf am 08.05.2024) Eine Studie der kalifornischen Soziologin Sweet (2013) kommt zu dem Ergebnis, dass Spielzeug heute geschlechtsspezifischer ist als noch vor 50 Jahren. Sie untersucht dafür in ihrer Doktorarbeit exemplarisch Werbeanzeigen für Spielzeug aus dem Katalog des amerikanischen Kaufhauses „Sears“, das bereits über ein Jahrhundert existiert. Noch nie war schon allein die farbliche Unterteilung all der Plüschtiere und sonstigen Spielsachen so stereotyp unterteilt wie heute. Weiter unten führen wir aus, dass heutige Kindergartenstudien keine starke Gender‐ differenzierung in Interaktion und Verhalten der Erzieherinnen gegenüber den Kindern 266 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="268"?> belegen. Gleichzeitig ist „Gender Marketing“ zu einem unübersehbaren Faktor ge‐ worden. Man hat den Eindruck, dass in der Konsumsphäre genderegalitäre Tendenzen besonders stark konterkariert werden. Die Produktwelt besonders für Kinder ist in den letzten Jahren einer absurden Zweiteilung ausgesetzt worden, gegen die die rosa und blauen Strampelhosen von vor 50 Jahren harmlos aussehen. Die Organisation „Pink stinks“ (https: / / pinkstinks.de/ tag/ gender-marketing; Aufruf am 27.10.2023) kämpft beharrlich dagegen an, dass wir z. B. mittels unterschiedlicher Cola-Flaschen daran erinnert werden, dass wir ein Geschlecht haben und wie dies zu sein hat. Menschen sind ja vielerlei, sie gehören zu allen möglichen Kategorien und Gruppierungen, sie haben Haut- und Haarfarben, Körpergrößen, Berufe, Interessen, Sprachen, Nationalitäten, Herkunftsregionen und so weiter (Schrupp 2017). Wir stimmen Schrupp zu: Die meisten dieser Kategorien haben wir nicht ständig im Kopf. Wir würden z. B. nicht auf die Idee kommen, Kugelschreiber für Leute über 1,70 Meter Körpergröße und solche für Leute unter 1,70 zu bewerben. Größe ist als Kategorie nicht omnipräsent, Gender schon. Im Puppenspiel ist es durch den Wechsel der Kind-Puppen hin zur Frau-Puppe Barbie zu einer frühzeitigen Ausrichtung der Mädchen auf extreme Erotikanforderungen an die später zu erwartende Körperinszenierung gekommen (Sichtermann 2006). Dieser Wechsel markiert für die gesellschaftliche Frauenrolle eine Ablösung der Indexikali‐ sierung von Mutterschaft als hohem Wert hin zur Erotiktauglichkeit. Der Barbie-Wahn wirkt sich auf Magerkeitsideale aus, die bei jungen Frauen omnipräsent sind. Greta Gerwig hat vom Barbie produzierenden Konzern Mattel 145 Millionen Dollar für einen Spielfilm rund um die hypersexualisierte Puppe erhalten, der auf eine leicht ironische Art Werbung sowohl für die konsumfixierte Puppe als auch für den Konzern macht (Salmon 2023). Früher war Barbie nur blond und schön, ihr Partner Ken war naiv und stark, dann diversifizierte der Konzern Mattel die Modelle ohne grundsätzlich von den Normen der Schönheitsindustrien und Glitzerwelten abzulassen. Der sehr erfolgreiche Film ist ein Beispiel dafür, dass mit leichter Ironisierung eine Party-Welt umso stärker als Norm verkauft werden kann. Kinderkleidung ist nach wie vor signifikant gegendert. Die Süddeutsche Zeitung hat 2022 Shorts und Shirts von Online-Anbietern wie H&M, Zalando und About You für Kinder zwischen zwei und zehn Jahren ausgewertet (insgesamt 20.000 Kleidungs‐ stücke, s. Sablowski / Timcke 2022, 52). Bei den Mädchen ist beinahe jedes zweite Kleidungsstück rosa, lila oder rot, während diese Farben für Jungen kaum angeboten werden. Mädchen-Shirts haben zehn Mal so viele Zierschleifen wie die der Jungen. Selbst Tiere sind klar zugeordnet: Tiger und Dinosaurier für Jungen, Schmetterlinge und Einhörner für Mädchen. Vorsamer (2022) betont, dass Gendermarketing nach wie vor ein Umsatzbringer sei. Die mittlere Hosenlänge für Mädchen erinnere eher an Hotpants, die der Jungen mit längeren Hosenbeinen an Cargo-Shorts. Für Jungen gibt es insgesamt weniger Auswahl. Die Mädchenkleidung inszeniert die Trägerin in Richtung süß und sexy, die der Jungen in Richtung funktional bis wild. 11.3 Aneignung der Gendersemiotik 267 <?page no="269"?> 11.4 Eltern-Kind-Interaktion Gleasons (1987) Analysen zum Gesprächsverhalten von Müttern und Vätern zeigten vor knapp 40 Jahren, dass Väter sehr viel mehr Befehle geben (doppelt so viele), als Mütter dies tun, vor allem an ihre Söhne. 38 % aller väterlichen Äußerungen am Familientisch an die Kinder fanden in Befehlsform statt (ähnliche Befunde bei Malone / Guy 1982). Die Mütter verstanden ihre Kinder generell besser, da sie auch mehr Kontakt mit ihnen hatten. Sie verwendeten ihnen gegenüber ein reichhaltige‐ res Vokabular. Väter adressieren ihre Söhne häufiger als ihre Töchter mit groben Anredeformen wie „nutcake“. Klann-Delius (2004, 125 f.) fasst Studien zusammen, die bei Vätern einen fordernden Stil feststellen, d. h. sie äußern Erklärungen, Mei‐ nungskundgaben, deskriptive Feststellungen und Nachfragen; sie riskieren dabei auch vorübergehende Gesprächspausen, wenn das Kind dem nicht nachkommen kann. Das väterliche Konversationsverhalten scheint einen Effekt auf dasjenige der Kinder zu haben. Klann-Delius (2004, 126) referiert Beobachtungen, dass die 2-jährigen sich dem direktiven Stil der Väter anpassen und den Vätern gegenüber auch ein differenzierteres Vokabular zeigen. Auch Ochs / Taylor (1992) haben etwa vierzig videoaufgezeichnete Gespräche zwi‐ schen Eltern und Kindern bei gemeinsamen Mahlzeiten analysiert. Dabei ist ein Ritual dominant, das sie „telling your day“ nennen. Sehr oft fordern Mütter ihre Kinder auf, dem Vater zu erzählen, was sie am Tag erlebt haben. Die Väter fragen die Kinder in‐ teressanterweise kaum selbst. Nachdem die Kinder erzählt haben, was ihnen widerfuhr, reagieren die Väter meist mit Bewertungen der Handlungen und Gefühle der Kinder. In dieser Art einer ethnografisch-gesprächsanalytischen Forschung wird die gesamte Essensituation transkribiert, um die verschiedenen Sprechaktivitäten interpretieren zu können. Die ganze Konstellation der Erzählsituation am Tisch konstruiert für alle den Eindruck „Father knows best“, wodurch dem Vater die Rolle der Autorität zugeschrieben wird. Für die Mütter und mit den Müttern wird eher die Rolle einer Mittlerin zwischen Vater und Kind konstruiert. Die ForscherInnen interessieren sich für längerfristige Effekte interaktiver Muster. Tannen (2003, 181) betont, dass solche Interaktionsrituale in der Familie einem „power / connection grid“ folgen. Sie fasst verschiedene Interaktionsstudien zusammen, die darauf hinweisen, dass Mütter mit ihren Sprechaktivitäten Verbundenheit mit den Kindern demonstrieren und herstellen. Mit solchen Erzählaufforderungen an die Kinder, dem Vater zu erzählen, was sich am Tag abgespielt hat, bringen sie Vater und Kind in Verbindung. Sie machen den Vater gleichzeitig zum Letztbeurteiler der kindlichen Handlungen und bringen ihn so auch in eine Rolle der Macht, die er mühelos wahrnimmt. Verständlich wird das Handeln der Mütter nur, wenn wir davon ausgehen, dass in Beziehungen dauernde Balancen von Nähe und Macht stattfinden. Tannen (2003) kritisiert zu Recht, dass der Machtdimension in der Interaktionsforschung höhere Priorität zugeschrieben wurde im Vergleich zur Verbundenheitsdimension. Es gibt aber inzwischen doch ethnografische Interaktionsstudien aus Familien, die darauf hindeuten, dass Väter sich in den heutigen Familien stärker in der Verbunden‐ 268 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="270"?> heit mit den Kindern engagieren, sich somit ein Rollenwandel vollzieht. Goodwin (2021) trägt Feldbeobachtungen aus afroamerikanischen, latinoamerikanischen und weißen Familien unterschiedlicher Schichten in den USA zusammen, die Väter zei‐ gen, wie sie zärtlich Sorgeaktivitäten mit ihren Kindern ausführen (Begrüßungs- und Verabschiedungszeremonien, Ins-Bett-Bring-Rituale, Krankheitsbetreuungen). In Deutschland deuten Berichte aus psychotherapeutischen Praxen (Deggerich 2021) daraufhin, dass die Nähe-Distanz-Verhandlungen zwischen Mutter und Vater im Um‐ gang mit den Kindern Konfliktpotentiale in sich bergen. Verschiebungen im familiären „power / connection grid“ gehen mit Konflikten zwischen Müttern und Vätern einher, die besser erforscht werden müssen. Macha (2011, 389) trägt Zahlen zusammen, die belegen, dass in Familien in Deutsch‐ land keine grundsätzliche Strukturveränderung stattgefunden hat. 2 / 3 der Müt‐ ter würden sich bei der ersten Geburt für ein „Drei-Phasen-Modell“ entscheiden, bei dem einer Ausbildungsphase mit ersten Berufserfahrungen eine Familienphase folgt und danach eine unterschiedlich gelingende Reintegration in den Arbeitsmarkt. So le‐ ben die meisten Eltern ihren Kindern konservative Handlungsmodelle vor. Die Gründe dafür sind vielfältig, von Planungsmängeln und Zufriedenheit mit traditionellen Rollen bis zum unzureichenden Vorhandensein von Kindergärten. Neben dem Elternhaus sind auch Kindergarten und die Kinderclique entscheidend für das Verhaltensrepertoire und die konversationellen Stile (dazu später mehr), die Kinder ausbilden. Kinder erwerben ein mehr oder weniger weitgefächertes Stil-Repertoire. In den letzten Jahren wurde oft konstatiert, dass sich das Verhaltensspektrum von Mädchen viel stärker erweitert hat als das von Jungen (Kasüschke 2008). Viele Eltern begrüßen es eher, dass die Tochter sich den Chemiebaukasten vorknöpft als der Sohn die Puppenküche. Nehmen wir neue Trends unter die Lupe. Vor gut zehn Jahren begann die wissenschaftliche Beschäftigung mit Dynamiken in Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern und auch mit Konstellationen mit einem Trans-Elternteil (Moore / Stambolis-Ruhstorfer 2013). 2011 erzogen in den USA 19 % der gleichgeschlechtlichen Paare Kinder. Etwa 220 000 Kinder wuchsen mit LGBT-Eltern auf. Trotz tendentiell hoher Armut haben 40 % der afroamerikanischen homosexuellen Eltern ein Kind; die Zahl übertrifft andere Elternpaare auf demselben finanziellen Niveau weit. Homosexuelle Paare können mittels unterschiedlicher Stra‐ tegien zu einem Kind kommen: Kinder sind oft aus heterosexuellen Konstellationen, in die ein Elternteil involviert war, sie wurden adoptiert oder mittels künstlicher Befruchtung gezeugt. Moore (2008) betont in ihrer mit Ethnografie kombinierten Interviewstudie, dass homosexuelle Eltern sich stark mit der Verhandlung von Eltern‐ rollen, mit dem Einbezug der weiteren Verwandtschaft und der Entwicklung elterli‐ cher Identität beschäftigen. Auf Zeremonien von Zusammengehörigkeit würde sehr geachtet (Familienfeiern, gemeinsame Ausflüge mit der Großfamilie usw.). Gleichge‐ schlechtliche Eltern gingen unbekümmerter mit Gendernormen um. Vor allem werden Mädchen weniger zum traditionell Mädchenhaften beeinflusst. Bei lesbischen Paaren kommuniziere die biologische Mutter die Hauptzuständigkeit für das Kind. Daraus 11.4 Eltern-Kind-Interaktion 269 <?page no="271"?> resultieren Familienkonflikte. Moore (2013) sieht die Hausarbeit unter lesbischen Müt‐ tern gleich verteilt. Die Trennungsraten seien in den USA bei gleichgeschlechtlichen Eltern etwas höher als bei heterosexuellen. Kinder aus solchen Familien berichten vom Aufgezogenwerden in der Schule. Andere Kinder hänselten sie damit, dass sie komische Eltern hätten, schließen sie auch aus, ärgern und beleidigen sie. Die Eltern verbringen zu Hause viel Zeit damit, mit den Kindern Strategien des Umgangs mit solchen Herausforderungen zu entwickeln. Ward (2010) beobachtet ethnografisch und erhellt auch durch Interviews, dass das Zusammenleben mit einem Transmann eine traditonell gegenderte Haushaltsarbeitsteilung mit sich bringe. Die Frauen der Transmänner bestätigen deren männliche Identität, indem sie diese von Hausarbeit entlasten. Wie bei Garfinkels Agnes ist ja immer das ganze Umfeld in die Bestätigung der Geschlechtsidentität involviert. Inzwischen liegt eine familiensoziologische Studie zu queerer Elternschaft vor. Dionisius (2021) hat 21 qualitativ durch einen Leitfaden vorstrukturierte Interviews erhoben und lesbische Mittelschichtspaare, die Eltern wurden, rund um ihre Familien‐ politik befragt. An den Interviews nahmen beide teil. In den Interviews wird eine Verflüssigung traditioneller Vorstellungen von Familie und Verwandtschaft nachge‐ zeichnet. Die Interviewten hatten sich für eine privat organisierte oder über eine Samenbank bezogene Samenspende entschieden. Eine der Frauen trug dann das Kind aus. Dionisius arbeitet sowohl Ausrichtungen am traditionellen Familienmodell ab, als auch vor allem Erweiterungen und Neugestaltungen der familiären Systeme. Die Paare rekonstruieren in den Interviews einen teils spielerischen, teils lustvollen lesbischqueeren Zeugungsakt, bei dem die Partnerin der Partnerin den Samen einführt. In der ersten Zeit mit dem Kind geht es um Verhandlungen des Kümmerns um das Kind und der Verantwortung und es wird kundgetan, dass die Unterscheidung von leiblicher und nicht-leiblicher Mutterschaft durchaus an Bedeutung verlieren kann, wenn sich beide darin einig sind, die Elternschaft gleichberechtigt leben zu wollen. 11.5 Kindergarten Kuger et al. (2011, 269) fassen die Forschung zu Gender und Bildungslaufbahn so zusammen, dass heute nicht mehr die „katholische Arbeitertochter vom Land“ im Fokus potentieller Benachteiligung stehe, sondern der „Migrantenjunge in der Stadt“ (ähnlich auch Macha 2011). Speziell im frühpädagogischen Bereich sei die Forschung trotz einer Vielfalt an Ratgeberliteratur zur Verminderung genderstereotypen Umgangs mit Kindern (s. o.) allerdings lückenhaft. Da dies auch auf die interaktionslinguistische Forschung zutrifft, sei hier das pädagogische DFG-Projekt BiKS in seinen Ergebnissen knapp zusammengefasst (ohne Angaben zur statistischen Auswertung). Das geht der Frage nach, ob sowohl Mädchen und Jungen selbst als auch pädagogisches Fachperso‐ nal sich gegenüber Mädchen und Jungen unterschiedlich verhalten. Im ersten und letzten Kindergartenjahr wurden 547 Kinder und ihre Familien aus 97 Kindergärten mit mündlichen und schriftlichen Befragungen, standardisierten Beobachtungen so‐ 270 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="272"?> wie Tagebüchern und der sogenannten Zielkindbeobachtung erfasst. Im ersten und letzten Kindergartenjahr ergeben sich bei den kindbezogenen Einschätzungen der Erzieherinnen (fast nur Frauen) keine geschlechtsbezogenen Unterschiede bezüglich der Einschätzung mathematischer und sportlicher Stärken und Schwächen. Allerdings schreiben sie den Mädchen leichte Stärken im sprachlichen, sozialen, künstlerischen und musikalischen Bereich zu, den Jungen dagegen eher im Tüfteln und Experimentie‐ ren. Die Mädchen lassen eine Vorliebe für eher weniger Spielpartner/ innen erkennen, spielen auch mehr in Dyaden. Bezüglich der mit den jeweils ausgeführten Aktivitäten angesprochenen Förderbereiche lassen sich wenige Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen feststellen. Mädchen werden in den von ihnen selbst initiierten Aktivitäten insgesamt etwas mehr im Sozialverhalten, in Phantasie, in mündlicher Sprache, im gestaltend-bildnerischen Bereich und tendenziell auch in Aspekten von Hygiene und Vorläuferaktivitäten des Schreibens unterstützt als Jungen. Nach Ruble / Martin / Berenbaum (2006) festigt sich im Verlauf der Kindergartenzeit die Geschlechtsidentität und genderpräferentielles Verhalten tritt immer häufiger auf. Kuger et al. (2011, 281) stellen allerdings kaum Veränderungen fest. Auch sechsjährige Mädchen spielen bereits mehr in Dyaden als sechsjährige Jungen. Bezüglich der Aktivitätsbereiche, die die Kinder initiieren, gibt es fast keine Unterschiede, nur eine leicht höhere Beschäftigung der Mädchen mit Printmedien. Bei der Analyse der untersuchten Beobachtungskategorien zeigen sich in den von den Erzieherinnen initiierten Aktivitäten für sechsjährige Kinder nur wenige Unterschiede, z. B. eine leicht häufigere Vorleseaktivität gegenüber den Jungen. Die Gemeinsamkeiten im pädagogischen Verhalten gegenüber den Kindern überwiegen. Insgesamt schreibt die Forschergruppe dem Kindergarten somit eher eine genderegalisierende Tendenz zu. Im Unterschied zu diesem rekonstruktiv-befragend und beobachtend angelegten Großprojekt BiKS geht die beratende Genderpädagogik von allgemeinen queertheore‐ tischen Überlegungen aus. Kinder möglichst wenig genderdifferent einzuengen, ist überall zu einer neuen pädagogischen Norm avanciert. Die nordrheinwestfälische Fachstelle Gender NRW (www.gender-nrw.de) bearbeitet verschiedene Arbeitsfelder der beratenden Gender‐ pädagogik http: / / www.gender-nrw.de, von denen sie 2018 zwei im Internet so vorstellt: • Die geschlechtshomogenen Bereiche der Mädchen- und der Jungenarbeit gehören mit ihrer inzwischen ca. 30bzw. ca. 20-jährigen Entwicklungsgeschichte in der Sozialen Arbeit zu den beiden etabliertesten Arbeitsbereichen. • Die gemischtgeschlechtlichen Felder der reflexiven Koedukation, die als Weiter‐ entwicklung der koedukativen Angebote eher dem schulischen Kontext zugeord‐ net werden kann und dem gegengeschlechtlichen Feld des Cross Work, also der pädagogischen Arbeit von Fachmännern mit Mädchen und Fachfrauen mit Jungen. Es heißt dort auch, dass die queeren Ansätze die „Norm der Zweigeschlechtlichkeit“ thematisierten und kritisierten. Sie richten sich u. a. an homo-, trans- oder intersexu‐ 11.5 Kindergarten 271 <?page no="273"?> elle Kinder und Jugendliche (LSBTTI), fänden sich mit ihren dekonstruktivistischen Grundlagen aber auch z. T. in den hier genannten genderpädagogischen Arbeitsfeldern wieder. Wie relevant solch neue Normen im alltäglichen Umgang mit Kindern sind und ob sie mitunter sogar zu einer Überbetonung möglicher sozialer Differenzen führen, muss kritisch hinterfragt werden (wie und warum ordnet man Kindern sexuelle Präferenzen zu? ). Bei aller Unterschiedlichkeit dieser verschiedenen Ansätze verfolgt die genderpädagogisch ausgerichtete Arbeit nicht nur dieser Fachstelle zwei Ziele: auf der individuellen Ebene Mädchen und Jungen die Entwicklung von Geschlechterrollen‐ vielfalt zu ermöglichen und auf der gesellschaftlichen Ebene für mehr Geschlechterge‐ rechtigkeit zu stehen. So ähnlich lauten viele Leitfäden entsprechender Fachstellen und vor allem der Ausbildungsinstitutionen. Familienministerien wollen auch schon lange mehr Männer für den Erzieherberuf gewinnen. Doch 2014 liegt die Quote bei mageren 3,4 %. Vor allem auf dem Land bleiben Männer den Kindertagesstätten weitgehend fern (Astheimer 2014). Wir müssen also noch heute davon ausgehen, dass sich in den ersten Lebensjahren dem Kleinkind eine genderdifferente Sozialwelt zeigt, mit der es seine sozialen Kategorisierungen kurzschließt. 11.6 Kindercliquen-- zwei Kulturen? In Kindercliquen wird Junge-Sein zunehmend stärker über körperliche und geschick‐ liche Anstrengung und offene Situationsbeeinflussung agiert und Mädchen-Sein über Sich-Ausschmücken und indirekte Situationsbeeinflussung. Jungen pflegen mehr als Mädchen Spiele, in denen Aggression und Kompetition ausagiert werden (Gebauer 1997; Kyratzis 2002). Gefühle unterliegen der Gestaltung und diese ist schon in der Kindheit vielfältig genderisiert. Gesprächsthemenunterschiede sind bei Mädchen und Knaben etabliert. Buben reden viel über Sport und Mädchen über Schule, ihre Wünsche, Beziehungen und Bedürfnisse (Breitenbach 2010). Maltz / Borker (1988) haben ihren sog. „Zwei-Kultu‐ ren-Ansatz“ der Genderkommunikation vor allem mit Verhaltensunterschieden in geschlechtsseparaten Kindercliquen begründet. Dieser auch von Tannen (1991) favo‐ risierte Ansatz betont, dass sich schon in Kindercliquen so unterschiedliche Konven‐ tionen für das Sprachverhalten der Geschlechter herausbilden, dass es in gemischten Kontakten zu einer Art von Missverständnissen kommt, die wir aus interkulturellen Begegnungen kennen (mehr dazu in Kap. 12). Goodwin (1988, 1990) hat in ihrer Studie über das Sprachverhalten von afroame‐ rikanischen Kindern in Philadelphia, die sie monatelang bei ihren Spielen auf der Straße beobachtet und audioaufgezeichnet hat, festgestellt, dass Jungen und Mädchen sehr häufig unter sich spielen und sich ihre alltäglichen Interaktionen untereinander stark unterscheiden. Jungen verwenden sehr viel mehr unabgeschwächte Imperative. Die Mädchen hingegen bevorzugten inklusive oder fragende Aufforderungen vom Typ „Wir könnten jetzt die Ringe aufsammeln“ oder „sollen wir nicht mal die Ringe aufsammeln? “. In der Sozialstruktur der Jungen gab es kleine Bosse, die über längere 272 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="274"?> Zeiträume hinweg das Sagen hatten, in den Gruppen der Mädchen war diese Rolle nicht von Bedeutung. Ihre Sozialstruktur organisierte sich eher horizontal über Nähegrade (beste Freundin), weniger über Statusunterschiede. Wir können uns vorstellen, dass Jungen sich mit ihrem Imperativ-Stil besonders gegenüber Mädchen gut durchsetzen können, da diese an ein Kontern im gleichen Stil untereinander nicht gewöhnt sind. Dann mag es durchaus zu Konflikten kommen, die denen aus interkulturellen Begegnungen ähneln. Dabei ziehen Mädchen dann den Kürzeren. Goodwin betont aber, dass alle Kinder im Prinzip alle Sprachverhaltenswei‐ sen beherrschen. Im Umgang mit sehr viel jüngeren Kindern sprachen die siebenbis zwölfjährigen Mädchen auch in direkter Befehlsform. Die Kleinen sollten ihnen gehorchen, und die Mädchen beherrschen auch die Art der Rede, welche Gehorsam nach sich zieht. Auch Jungen passen sich in Spielen mit Mädchen teilweise an deren höflichere Redeweisen an; sie verwenden diese auch gegenüber Autoritäten. Beide Geschlechter beherrschen eine ganze Bandbreite an Stilen, jedoch verwenden sie sie nicht gleich häufig und kontextuell unterschiedlich. Goodwins Studie führt deutlich über ein Konzept von „Jungen machen A, Mädchen machen B“ hinaus. Zum einen betont und zeigt sie die stilistische Vielfalt der Kinder; zum anderen wird auch ein Wissen um die kontextuelle Wirkung von Gesprächsstil deutlich. Günthner (1992) führt weitere Argumente gegen den Ansatz ins Feld, weib‐ liche und männliche Kommunikationsformen als separate Kulturen zu sehen. Auch Thorne (2002) hat in ihren Schulhofstudien zu Tage gefördert, dass die Kinder nicht dauernd geschlechtsseparat spielen. Bestimmte Spiele führen sie separat aus, andere wiederum gemeinsam. Es herrscht ein dauerndes Verhandeln von Gruppenbildungen. Goodwin (2006) beobachtet außerdem, dass die Mädchen bei Konflikten nicht stets harmonisch miteinander umgehen. Die Mädchen stritten nicht weniger häufig als die Jungen und beherrschten im Prinzip das gleiche Repertoire an Streit-Strategien. Exklusiv für die Mädchen ist jedoch eine Strategie, die sie „he said - she said“ nennt. Sie beziehen nicht direkt involvierte Mädchen in Konfliktbearbeitungen ein. Diese nicht Involvierten sollen Mädchen B von Konfliktpartei A etwas ausrichten. Über dieses Ausrichten kommen komplexe Allianzen unter den Mädchen zustande. Lösungen werden in die Zukunft vertagt und möglichst viele Personen sind dann daran beteiligt. Jungen führen ihre Dispute hingegen direkt mit ihren Widersachern. Unter Mädchen fallen Goodwin (2006, 2013) außerdem Strategien des Schneidens (der Gesprächsverweigerung) auf. Sie zeigt Praktiken des Ausgrenzens und Hie‐ rarchisierens, die bislang kaum im Zentrum der Mädchenforschung standen (2006, 2013). Sie fasst einige Studien zusammen, die unter Mädchen dominante Ethiken und Praktiken von Kooperation beschrieben haben, zu denen ihre Befunde im Wider‐ 11.6 Kindercliquen-- zwei Kulturen? 273 <?page no="275"?> spruch stehen. Auf kalifornischen Schulhöfen konnte sie eine multiethnische Clique beobachten (vom vierten bis sechsten Schuljahr), die in der Beliebtheitsskala der SchülerInnen oben stand. Diese Mädchen setzen untereinander Unterschiede der sozialen Klassenzugehörigkeit relevant. Sie erzählen beispielsweise Geschichten, in denen sie die anderen mit Hinweisen auf den Reichtum der eigenen Eltern oder Großeltern zu übertreffen versuchen (Angebergeschichten, wie sie ähnlich auch unter Jungen verbreitet sind). Konversationelle Formate wie beispielsweise „X thinks she is y“ werden als gemeinsame Abgrenzungspraktiken von der so Entlarvten diskutiert. Gesichtsbedrohungen praktizieren die Schülerinnen mitunter direkt, sogar expliziten Ausschluss von Mädchen aus bestimmten Aktivitäten. Goodwin (2013) verdeutlicht, wie sehr Kinder (und auch Mädchen) im Übergang zum Jugendalter im Einklang mit gesellschaftlichen Statusindexen diese für eigene Positionierungen nutzen und auch für die Abgrenzung und Herunterstufung von anderen. Hier zeigt sich das starke Ineinandergreifen von Gender und Schichtenzugehörigkeit und Graden an Armut / Reichtum. Arme Kinder werden häufiger von anderen diskriminiert. 11.7 Schule Die Studien PISA 2000 und 2015 (Reiss et al. 2016, neue Ergebnisse werden erst Ende 2023 publiziert) zeigen Mädchen in Deutschland als wesentlich leistungsstärker im Lesen und Textverständnis, Jungen etwas stärker in Mathematik. In Neuseeland übertreffen die Mädchen die Jungen auf allen Sektoren. Umgekehrtes findet sich in den OECD-Ländern seit der Jahrtausendwende nicht mehr. Schulischer Erfolg ist grundsätzlich einem komplexen Bedingungsgefüge geschul‐ det. Faktoren wie Elternhaus, materielle Ressourcen, ermöglichte Freizeitaktivitäten, akzeptierte und geförderte Sprachen, Berufsperspektiven und vieles mehr spielen hinein. Und in einigen Bereichen werden Mädchen heute stärker gefördert als früher. Über die wechselseitige Wirkung von sozialem Hintergrund und Ge‐ schlechtszugehörigkeit forschen z. B. Lühe et al. (2017). Sie untersuchen 3.935 Schü‐ lerinnen und Schülern aus der sechsten Klasse von knapp 90 öffentlichen Berliner Grundschulen im Rahmen der BERLIN-Studie, der langjährigen Begleituntersuchung der Berliner Schulstrukturreform. Die Forscherinnen und Forscher konzentrierten sich auf die Ergebnisse von Leistungstests in Lesen, Mathematik und Englisch sowie auf die Angaben der Eltern zu ihrem sozio-ökonomischen Status in Fragebögen. Das Team errechnete anschließend mittels statistischer Regressionsanalysen die Beziehung zwischen den Variablen. Die Ergebnisse bestätigen zunächst die bekannten Befunde, dass Mädchen im Lesen und in Englisch, Jungen in Mathematik besser abschneiden. Der Effekt der Geschlechtszugehörigkeit wird jedoch durch den sozio-ökonomischen Status der Jungen und Mädchen moderiert. Das bedeutet, dass die Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern je nach sozialem Hintergrund unterschiedlich ausfallen - in allen drei getesteten fachlichen Bereichen. Ein weiterer Befund: Im Vergleich mit den Mädchen ist bei den Jungen der Zusammenhang zwischen der sozialen 274 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="276"?> Herkunft und der Leistung größer. Ihre Leistungen steigen also bei einem höheren sozio-ökonomischen Status stärker an und fallen umgekehrt bei einem niedrigeren Status deutlicher ab. Swann (2003) diskutiert ähnliche Befunde aus England und die geradezu panischen Reaktionen der Presse auf die These, dass vor allem der Sprach- und Literaturunterricht sich zu sehr an den Interessen von Mädchen ausrichte. Elsen (2020, 206 f.) fasst die reichhaltige Schulbuchforschung zusammen, die bis vor 25 Jahren in Text und Bild sehr starke Einübungen in klischeebehaftete Geschlech‐ terbilder produzierte. Männliche Wesen tauchten häufiger auf und übten in höheren Positionen die interessanteren Tätigkeiten aus. Verschiedene Lehrbuchstudien fanden in den letzten Jahren deutliche Rückgänge stereotyper Beschreibungen von Frauen und Männern. Elsen referiert eine eigene Studie, die 2016 im Bereich der Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache weitere Fortschritte belegt hinsichtlich der Menge an auftauchenden Frauen und Männern. Aber Chefs und Titelträger seien meist männlich und die Themen wie etwa Fußball oder Shoppen stereotyp zugeordnet. Sie fasst auch Otts (2017a) Analysen zu 88 Deutsch- und Rechenschulbüchern der siebten Klassen zusammen, die vor allem in bayrischen Mathematiklehrwerken nach wie vor eine Überpräsentation männlicher Charaktere fand. In den Büchern der nördlichen Bundesländer seien in den letzten Jahren konsequentere Veränderungen passiert. Ott bezieht sich auf verschiedene Größen, von Beispielsätzen über Textaufgaben bis zu semantischen Gesichtspunkten. Nach wie vor böten Schulbücher Mädchen und Jungen keine vergleichbaren Identifikationsangebote. 11.7.1 Ein Blick zurück Vor über 40 Jahren hat die Interaktionsforschung herausgearbeitet, wie die Schule dazu beitrug, Mädchen einzuschränken. Erinnern wir uns: Spender (1982) lenkte die Aufmerksamkeit auf den Befund, dass Lehrpersonen Mäd‐ chen an weniger Beachtung als Jungen gewöhnten und somit an die selbstverständliche Einnahme von Plätzen im Hintergrund. Verschiedene Studien zum Lehrverhalten zeigten, dass Lehrer/ innen den Jungen weitaus mehr Zeit widmeten und Raum zum Sprechen gaben als den Mädchen. Die Ergebnisse vieler Untersuchungen zeigten, dass Jungen signifikant öfter aufgerufen wurden als Mädchen, wenn sie sich melden (Fuchs 1993). Auch wenn Jungen sich nicht meldeten, wurden sie tendenziell häufiger aufgerufen. Durchschnittlich wurden sie auch etwa doppelt so oft gelobt. Allerdings bekamen sie häufiger Rüffel wegen ihres Betragens. Dafür durften Mädchen öfter laut vorlesen. In Punkto eigenständiger Kontaktinitiierung mit den Lehrern oder Leh‐ rerinnen waren die Mädchen genauso rege wie die Jungen. Das Jungen begünstigende Verhalten zeigten nicht nur die Lehrer, sondern auch die Lehrerinnen. Swann (2004) fasst zusammen, dass seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhun‐ derts viel Forschung erhellt hat, dass Mädchen und Jungen andere konversationelle Stile pflegen, dass Jungen mit ihrem eher selbst- und kompetitionsorientierten Stil im Klassenzimmer dominieren. Schulbücher enthielten mehr männliche Charaktere 11.7 Schule 275 <?page no="277"?> und diese führten die interessanteren Tätigkeiten aus. Seit Aufkommen der neuen Frauenbewegung sind in westlichen Gesellschaften solche und ähnliche Befunde überall (z. B. in LehrerInnenfortbildungen) stark diskutiert worden und haben zu einer Sensibilisierung und zu Veränderungen geführt. Engagierte LehrerInnen haben sich der Mädchen angenommen, organisieren besondere Veranstaltungen für sie usw. Das gesamte schulische Umfeld wird Mädchen heute eher gerecht als vor vierzig Jahren. Wie es derzeit in der Schule um die Jungen bestellt ist, ist durchaus umstritten (Swann 2004, 632; s. auch https: / / www.derneuemann.net/ jungs-schule-benachteiligt/ 9749; Aufruf am 08.05.2024). Auch in England gelten seit den neunziger Jahren die Mädchen als etwas leistungsstärker, was Teile der Presse von einer großen Krise der Jungen schreiben ließ und die Schule als zu mädchenfreundlich hinstellte. 11.7.2 Problemgruppe Jungen? Nicht zuletzt durch die Vergleichsstudie zum Bildungsstand PISA 2000, die u. a. länderübergreifend schlechtere schulische Leistungen der Jungen zutage förderte, rücken Jungen verstärkt als Problemgruppen ins Zentrum. Schon 1993 zählten nur 25 % der Jungen zu den Viellesern, aber 42 % der Mädchen (Bonfadelli / Fritz 1993, 130). Damit hängt der textuelle Kompetenzerwerb zusammen, der sich in allen Schulfächern auswirkt. Der kindliche Zugang zu Büchern scheint auch durch die Tatsache beeinflusst zu werden, dass Mütter mehr Bücher lesen als Väter (Hurrelmann et al. 1995). Daneben hat sich der Trend zum Verschwinden männlicher Lehrpersonen in nichtgymnasialen Schularten verstärkt. Rund 71 % der Lehrkräfte in Deutschland waren im Jahr 2013 weiblich, an den Grundschulen waren es sogar 90 % (Kramer 2016). Helbig (2010), der verschiedene Studien zum Thema ausgewertet hat, meint, die Haupterklärung für schlechteres Abschneiden der Jungen seien Rollenbilder der Jungen und ihr Verhalten im Unterricht. Ähnlich argumentieren nach Kramer (2016) auch die Pisa-Forscher in ihrer Studie von 2013 und führen zum besseren Abschneiden der Mädchen verschiedene Kennwerte an: • Mädchen strengen sich mehr an: In Deutschland verbringen 15-jährige Mäd‐ chen im Durchschnitt 5,5 Stunden pro Woche mit Hausaufgaben. Die Jungen investierten nach eigenen Angaben nur 3,8 Stunden. • Lesen bildet, aber Jungen meiden es: 72,5 % der befragten Mädchen in Deutsch‐ land gaben an, dass sie zum Vergnügen lesen-- aber nur 45,1 % der Jungen. • Jungen schätzen den Wert der Schule geringer ein als Mädchen: 93,7 % der Mädchen in Deutschland lehnen die Aussage ab, die Schule sei Zeitverschwendung. Unter den Jungen weisen nur 85 % diesen Satz zurück. Sich für die Schule anzustrengen, vermuten die Forscher, gilt in Jungen-Cliquen häufiger als uncool. Erfolg in der Schule hat man oder eben nicht - sich darum zu bemühen, passt offenbar nicht zum häufig vorherrschenden Männlichkeitsideal. Ein richtiger Junge soll Lehrer eher infrage stellen, statt ihren Anweisungen zu folgen. 276 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="278"?> Unter Mädchen scheint die Vorstellung dagegen weitaus akzeptierter zu sein, dass gute Noten auch mit Mühe und Arbeit zu tun haben. Weitere lebensweltliche Hintergründe spielen mit dem Faktor Gender zusammen. So schneiden Jugendliche aus migrierten Arbeiterfamilien im deutschen Schulsystem beispielsweise schlechter ab als solche aus einheimischen Familien (Hofmann 2007; Bierbach / Birken-Silverman 2004), die Mädchen aber tendenziell besser als die Jungen. Derzeit bilden die TürkInnen mit den Russlanddeutschen die größten MigrantIn‐ nengruppen in der Bundesrepublik: Wir gehen hier nur kurz auf Zusammenhänge zwischen Gender und Bildung der türkisch-deutschen Population ein. 2010 lebten rund 2,5 Mio Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. Vor über 60 Jahren wurde das so genannte Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei geschlossen. In vielen Großstädten Deutschlands haben sich in der Folge Migrantenwohngebiete gebildet, in denen die Kinder in mehrkulturellen Lebenswelten aufwachsen. In deutschen Schulen und Kindergärten treffen sie dann auf deutsch‐ sprachige Anforderungen, auf die sie schlecht vorbereitet sind. Eine erschreckend hohe Anzahl scheitert schulisch. Keim (2013), Cindark (2010) u. a. liefern auf der Basis ethnografisch-soziolinguistischer Untersuchungen Einblick in die Lebenswelt türkischstämmiger Migrant/ innen und in die Vielfalt der Sprachformen, die in mehr‐ sprachigen Lebenswelten entstehen. Sie stellen das ungesteuert erworbene Deutsch der Elterngeneration vor und Keim zeigt auf der Basis von Gesprächsbeispielen die Sprechweisen der Kinder und Jugendlichen und ihre Virtuosität im Umgang mit sprachlichen Ressourcen, die in der Schule nicht berücksichtigt werden. Vor allem aber macht Keim deutlich, dass die Kinder und Jugendlichen durchaus über mündliche und schriftsprachliche Deutschkompetenzen verfügen, und sie zeigt, in welchen Bereichen sie Unterstützung brauchen, damit sie in Schule und Beruf erfolgreich werden. Im Zen‐ trum ihrer Studie von (2008) steht eine Gruppe heranwachsender junger Türkinnen in Mannheim, die sich selbstbewusst als „türkische Powergirls“ bezeichnet. Diese Selbst‐ bezeichnung (die dem Buch den Titel gibt) pointiert die Schlüsselproblematik der Mäd‐ chen zwischen dem Deutschen und Türkischen und den damit verbundenen kulturellen Rollenerwartungen sprachlich-stilistisch eine eigene Identität zu entwickeln. Keim zeichnet im Forschungsparadigma der interaktionalen Soziolinguistik die soziosti‐ listische Entwicklung der Gruppenmitglieder nach, die sich als permanenter Versuch darstellt, im Spannungsfeld zwischen türkischer Tradition, geschlechterspezifischer Rollenerwartungen und Stigmatisierung bzw. Ausgrenzung von Seiten Deutscher (einschl. der Lehrenden in den Bildungseinrichtungen) eine eigene deutsch-türkische Identität zu entwickeln. Mit Hilfe einer engagierten Sozialpädagogin und durchaus auch der Eltern verzeichnen die Mädchen große schulische Erfolge. Im Schnitt sind auch in der deutsch-türkischen Population Mädchen schulisch erfolgreicher als die Jungen, die u. a. in ihrer Peergruppe und oft auch der Familie mit problematischen Männlichkeitsentwürfen konfrontiert sind ( Jantz 2007): … mit dem steten Mythos einer männlichen Überlegenheit. Ehrkonzepte haben dementspre‐ chend nicht nur bei Migrantenjungen Konjunktur. Dabei spüren alle Jungen, dass sie den 11.7 Schule 277 <?page no="279"?> 1 https: / / www.news4teachers.de/ 2017/ 03/ tatort-schulhof-kommissarin-berichtet-schulleitern-von-kr assen-faellen-sie-sagt-schule-ist-ein-krimineller-mikrokosmos/ (Aufruf am 08.05.2024). (überhöhten) Anforderungen niemals gerecht werden können. Etwaige Versagensängste werden dementsprechend maskiert, was zu den bekannten Phänomenen des jeweiligen männlichen Habitus führt (raumgreifende Selbstdarstellung, Provokation, grenzverletzender Ausdruck in Körper, Mimik und Sprache, Coolness, Gruppendominanz). Sexuelle Beleidigungen sind inzwischen auf den meisten Schulhöfen in den deutsch‐ sprachigen Ländern an der Tagesordnung 1 . Die Jungen geben in dem Bereich den verachtenden und meist sexualisierten Ton an. 11.7.3 Interaktionale Genderarrangements in der Schule Soziale Differenzen existieren nicht an sich, sondern werden im Tun durch die Handelnden mehr oder weniger relevant gesetzt. Welche Praktiken wenden nun Kinder an, um Geschlechtergegensätze zu inszenieren? In der Schule lässt sich ein Oszillieren zwischen Zusammen- und Getrenntsein von Jungen und Mädchen zeigen (Breidenstein / Kelle 1998; Thorne 2002), wobei auch die Kinder in der Lage sind, „jede laufende soziale Aktivität nach den Mitteln abzusuchen, die der Darstellung des sozialen Geschlechts dienlich sind“ (Goffman 1994, 149). Die Peergruppe stellt eine besondere „Gesellungsform“ (Krappmann / Oswald 1995, 20) und stiftet einen Rahmen, in dem Interaktionen, Inszenierungen und Aushandlungen stattfinden können. Die Kinder konstruieren dabei im aufeinander bezogenen Tun gemeinsam Bedeutungen und Regeln und vergewissern sich gegenseitig der Richtigkeit ihres Tuns. Durch eine solche „Ko-Konstruktion“ (ebd., 21) entsteht ein Geschlechterarrangement, das oft von Differenz bestimmt wird. Nicht nur das einzelne Kind ist daran aktiv beteiligt, sondern der situative Kontext, aufgespannt durch die anwesenden Mitschüler/ innen, bestimmt den Verlauf der Interaktion und steuert die Darstellung und das Verhalten des einzelnen Kindes. Die Aushandlungen der Geschlechterarrangements sind oft spielerisch: Sie sind durch aktive Beteiligung aller gekennzeichnet, aber auch als Aufführung gedacht, in der verschiedene Elemente (wie Geschlechterstereotype oder körperliche Inszenierungsformen) zur Geltung gebracht werden. Schließlich ermögli‐ chen diese Aushandlungen auch Darstellungsformen von Brüchen mit traditionellen Vorstellungen (Kelle 1999, 139). In einigen ethnografischen Studien zeigen sich beispielsweise „Ärgern und Ne‐ cken“ als Aktivitätstypen, in denen Geschlechtergrenzen zum wichtigsten Inhalt gemacht werden. Beim spielerischen Ärgern werden Eigenarten der anderen Ge‐ schlechtergruppe aufs Korn genommen, wobei das Wissen der Beteiligten um die zugrunde liegenden Klischees vorausgesetzt wird. Ein Beispiel: Essenssituation auf einer Klassenfahrt. Es gibt Hähnchen. Die Jungen fangen an, sich über das Schlachten von Tieren zu unterhalten und malen eklige Details genüsslich aus. Zwei 278 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="280"?> anwesende Mädchen halten sich die Ohren zu, schnauben und empören sich: „Voll eklig! “ (Breidenstein / Kelle 1998, 206 f.) Die Anwesenheit der Mädchen gibt die Richtung für die Konversation vor. Es geht in dieser kurzen Szene nicht um den Realitätsgehalt des Wissens, sondern um dessen Brauchbarkeit für die Stilisierung und die Kontrastierung von männlich gegenüber weiblich, wie Breidenstein / Kelle ausführen. Die Buben bedienen sich ebenso wie die Mädchen bekannter Klischees für die Rolleninszenierung (harte Männer - emp‐ findliche Frauen) und setzen diese in spielerischer Form ein. Zum Necken gehören auch Verfolgungsjagden: Breidenstein / Kelle (ebd., 39-40) beschreiben das Spiel „Knutschpacken“; bei Thorne (1993, 68) finden sich folgende Bezeichnungen für ähn‐ liche Praktiken: „girls-chase-the-boys“, „boys-chase-the-girls“, „kiss or kill“, „catch-and kiss“. Die Rahmung und der Sinn solcher Spiele bekräftigen eine binäre Geschlech‐ terklassifikation, denn die Geschlechtszugehörigkeit bestimmt die Zugehörigkeit zu einer der beiden Spielparteien. Die Aufmerksamkeit bei solchen Verfolgungsjagden gilt der anderen Geschlechtsgruppe; gleichzeitig schmiedet man die eigene Gruppe zu‐ sammen. Dabei werden Grenzen ausgetestet, aber auch körperliche Berührungen und Möglichkeiten des Küssens stehen zur Disposition, wobei die sexuellen Untertöne mit dem Alter der Kinder zunehmen (Krappmann / Oswald 1995, 195). Breidenstein / Kelle (1996) zeigen die Aushandlungen des „Wer geht mit wem“ in Schulklassen und das gemeinsame Phantasieren von Paarbildungen der Schulkinder, die z. B. inszeniert werden, wenn ein Mädchen und ein Junge zusammen an der Tafel eine Aufgabe lösen. Faulstich-Wieland / Weber / Willems (2004) problematisieren in einer ethnografi‐ schen Studie über verschiedene norddeutsche Schulen, dass einige Lehrerinnen durchaus mit einem Mädchen protegierenden Anspruch handeln und dabei allerdings weder den Absichten der Schülerinnen noch denen der Schüler gerecht werden. Häufig werde Verhalten der Jungen dramatisiert (im Sinne Goffmans 1986 gemeint, der darun‐ ter starke Beachtung und In-den-Vordergrund-Rücken versteht), oder sie würden mit bestimmten Verhaltensweisen unter einen gegenderten „Pauschalverdacht“ gestellt, den sie selbst nicht entkräften können. Hier greife ein Dilemma: Denn entweder sie erfüllen die Stereotypen und bekräftigen so das Bild der Lehrerin, oder sie verweigern die geschlechtliche Inszenierung, verlieren dann gegenüber ihren Mitschülern ihren Status, indem sie als „Streber“ entwertet werden und bleiben von der Lehrerin zusätzlich unberücksichtigt. Bei jenen Lehrern, die sich besonders um die Jungen kümmern, herrsche häufig ein ironisch-kumpelhafter Ton vor, dem sich die Schüler aufgrund des Hierarchiegefälles nur schwer widersetzen könnten. Wenn beispielsweise ein Lehrer einen Jungen damit neckt, er sei wohl in ein Mädchen vom Schulhof verknallt, konstruiere er somit verdeckte geschlechtliche Stereotype. Hier handelt es sich laut Budde (2005) um eine Art Doppelstruktur: Zum einen interagieren sie mit den Schülern auf einer männersolidarischen Ebene. Zum anderen etablieren sie Hierarchie (der Schüler kann den Lehrer kaum damit zurücknecken, in eine Kollegin verknallt zu sein) als Ausei‐ nandersetzungsform, die wiederum anschlussfähig an gängige Männlichkeitsbilder ist. 11.7 Schule 279 <?page no="281"?> Beides führt im Unterricht häufig zu einem ‚In-den-Vordergrund-Rücken‘ von Geschlecht (Kap. 2), was eher negative Auswirkungen hat: bspw. die Kennzeichnung des Sitzplatzes eines Schülers zwischen den Mädchen als ‚Versteck‘ durch eine Lehrerin oder die Grenzüberschreitungen durch ironische Kommentierung von Schüleräuße‐ rungen durch den Lehrer. Bei beiden Mustern, so engagiert, humorvoll oder ‚schüler‐ nah‘ sie auch gemeint sein mögen, verhindert dieses In-den-Vordergrund-Rücken auf der Basis der heterosexuellen Matrix laut Budde eine mögliche Enthierarchisierung: Jungen wie Mädchen werden auch in heutigen Schulen oft als wesensmäßig anders behandelt. Auch bei ausgleichenden Absichten kann aber eine Differenzbetonung kontraproduktiv sein. Die Lehrkräfte scheitern in ihren Bemühungen nicht, weil sie nicht engagiert genug sind, sondern weil ihre geschlechtlichen Stereotypen zu wenige Auswege bieten (Budde 2005, 2006). Schule perspektivieren wir als einen komplexen Handlungsraum, in dem nicht nur auf spezifische Kompetenzen zugeschnittenes Lernen und optimaler Input über den tatsächlichen Bildungserfolg entscheidet, sondern beispielsweise auch Identitätsver‐ handlungen unterschiedlicher Art und Voraussetzung (Wortham 2006; Budde / Rißler 2017) von hoher Relevanz sind. Im Zuge der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit Gegenstandsbereichen und des Lernens unterschiedlicher Gebiete in Gruppen (Unterricht) kristallisieren sich auch soziale Schülertypen heraus, deren Identifikation die Leistungsebene tangiert. Dem Werden eines stillen Mädchens oder einer Überfliegerin oder eines Querulanten oder Klassenclowns liegen bestimmte Interaktionsgeschichten zu Grunde, die auch über genderbezogene Verfestigungen und Verflüssigungen entscheiden und die me‐ thodisch zu rekonstruieren sind, wenn man verstehen will, wie soziale Differenzierung abläuft. Wortham (2006) geht in einer mehrmonatigen Interaktionsstudie an einer amerika‐ nischen Schule den Interaktionen nach, durch die sich genderisierte Schüleriden‐ titäten verfestigen. Im Aufeinanderbezug mehrerer auffälliger Interaktionsepisoden zeigt er, wie der Schüler William zuerst als unengagierter Junge angesprochen wird und dann allmählich durch mehrere Szenen dieser Art zum Typus des „unpromising boy“ heranreift (Beispiel aus Wortham 2006, 30 f.). Die Klasse beschäftigt sich mit griechischen Göttern und Göttinnen. Die Lehrerin fragt nach der Notwendigkeit der Letztgenannten und die SchülerInnen spekulieren dazu. Das Gespräch hatte schon leicht erotische Konnotationen angenommen, als William mit der Anmerkungen „We don’t usually hear from William“ aufgerufen wird. Damit gibt sie über William schon eine Verhaltensbewertung ab, die für seine Äußerung einen kritischen Kontext kreiert. William reagiert nur unverständlich, was für alle Beteiligten die vorab geleistete Typisierung zu bestätigen scheint, die somit über den Kontext hinausweist. Wortham beschreibt, wie für den afroamerikanischen Jungen in der obigen Szene auf ein in der US-Gesellschaft bereits kursierendes soziokulturelles (in dieser anthropologischen Tradition „metapragmatisch“ genannt) Modell zurückge‐ griffen wird. Im Fall von William beteiligen sich auch Mitschüler/ innen am Entstehen 280 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="282"?> 2 http: / / www.fallarchiv.uni-kassel.de/ 2012/ methoden/ ethnographie/ juergen-budde/ doing-gender-inder-schule-%e2%80%93-we-dont-want-insulting-questions/ (Aufruf 15. 08. 2018). einer Interaktionsgeschichte, die den Jungen zunehmend stärker ungünstig abstempelt. Im Buch werden einige Interaktionsepisoden rund um bestimmte Schülerinnen vorge‐ stellt, für die mehr Erfolg versprechende interaktionale Fährten gelegt werden. Auch diese Studie belegt mehr Diskriminierung von Jungen als von Mädchen. Budde / Willems (2006) gehen auf methodisch ähnliche Weise der allmählichen Verfestigung von Identitäten im Kontext Schule nach. Diese fallen in den letzten Jahren für Jungen durchaus häufig ungünstig aus. Wir zitieren aus ihrem ethnografi‐ schen Protokoll einer Unterrichtseinheit im Fach Englisch, in der sich die SchülerInnen gegenseitig aufrufen: Nun ist Marianne dran. Sie sagt: „Knut“. Sie erntet Gelächter. Sie fragt: „How long do you have this …“. Zuerst fragt sie die Lehrerin, was schreckliche Frisur auf Englisch heißt. Lehrerin: „Horrible hairdress“. Sie stellt nun Knut die Frage: „How long do you have this horrible hairdress? “ Wieder großes Gelächter. Knut ironisch: „I have this horrible hairstyle …“. Er setzt an, seine Nachbarin kommt ihm noch zuvor und sagt: „Halbes Jahr“. Knut nickt zustimmend und sagt: „For three months“. Er sagt: „Marianne“. Die Kids lachen und neugierige Spannung entsteht, was seine Rückfrage ist. Er sagt: „Ich weiß nicht ob das jetzt richtig ist: Since when do you have look like a horse? “ Marianne, die einen langen Pferdeschwanz trägt, zuckt mit den Achseln, bevor sie jedoch irgendwie weiter reagieren kann, interveniert die Lehrerin. Sie schaut wieder zu Knut und sagt: „We don’t want insulting questions! “ Knut sagt, leicht ironisch: „Sie hat mich hier vorgeführt, so dass ich mich morgen nicht mehr in die Schule traue, und …“. Die Lehrerin ironisch: „Yes, I know, because you are so shy! “ Einige fragen, was „shy“ bedeutet, die Lehrerin übersetzt es mit schüchtern. 2 Budde und Willems führen zu der Episode aus, dass Marianne und Knut die Aufgaben‐ stellung nutzen, um sich über die Geschlechtergrenzen hinweg zu necken und zur Un‐ terhaltung der Mitschüler/ innen beizutragen. Die Lehrerin hilft Marianne bei der Suche nach der richtigen Vokabel, mit der sie Knut durch eine spaßig-kritisierende Frage große Aufmerksamkeit entgegenbringen kann. Knut geht auf gleicher spielerischer Ebene darauf ein und kontert anschließend ebenso frotzelnd. Knuts Beitrag jedoch wird von der Lehrerin reglementiert und unterbunden, ebenso wie seine ironische Beschwerde darüber. Die Lehrerin geht auf Knuts Frotzeln viel kritischer ein als auf dasjenige von Marianne. Wir werden ZeugInnen einer Genderstereotypisierung, die die Mädchen bevorteilt. Ähnlich wie Budde 2005, Budde / Willems 2006 und Wortham 2006 favorisieren wir auch in der linguistischen Interaktionsforschung eine praxis- und hand‐ lungstheoretische Perspektive, die über eine Rekonstruktion von Aktivitätsty‐ pen erst einmal Herstellungen von Zugehörigkeit nachzeichnet und Selbstver‐ 11.7 Schule 281 <?page no="283"?> ständlichkeiten dann hinterfragt. Die oben vorgestellten Kombinationen von Ethnografien und Gesprächsanalysen suchen nicht primär eine Praxis zu verbes‐ sern, sondern entdecken zunächst soziale Praktiken jenseits der Akteursmotive beobachtend und beschreiben sie. Nur so können die Beobachtenden die mit einer Beobachtung stets einhergehende Selektion und Auswahl einer Blickrichtung un‐ ter vielen denkbaren systematisch reflektieren. Vermeintlich Bekanntes muss un‐ bedingt hinterfragt und methodisch auf Distanz gesetzt werden (Amann / Hirsch‐ auer 1997). Oft wird deutlich, dass die soziale Kategorie Gender auch im schulischen Alltag im Verbund mit anderen Kategorien wie Schicht, Alter, Attraktivität und Ethnizität an Kontur gewinnt. 11.7.4 Scherzverhalten Eher selten gehen Schul- und Kindergartenstudien im deutschsprachigen Raum auf Scherzverhalten ein. Ältere US-amerikanische Großstudien sahen zwischen drei und sechs Jahren große Unterschiede in der aktiven Humorinszenierung entstehen und dann noch einmal eine Differenzverstärkung zwischen Mädchen und Jungen beim Schuleintritt (McGhee 1979). Über die Ursachen herrscht keine völlige Klarheit und es gibt sicher verschiedene Faktoren, die hier zusammenwirkten. Es mag sein, dass Verrücktspielen, Faxen machen, Herumalbern usw. schon früh von den Erwachsenen bei Mädchen eher eingeschränkt wurde, da es als jungenhaft empfunden wurde. Mit etwa sechs Jahren sind Kinder intellektuell fähig, sprachliche Doppeldeutigkeit wahrzunehmen, was eine Voraussetzung darstellt für viele Arten verbalen Humors (McGhee 1980). In diesem Alter zeigten Jungen mehr „silly rhyming, naughty words, (playful) untrue or incongruous statements, and so forth“ (McGhee 1980, 209) und sie übten sich mehr als Mädchen im Witzeerzählen. Jungen konkurrieren auch mit Witzen, in späterem Alter auch mit sexuellen Witzen (Fine 1990). Auch nonverbale Späße wie Verrücktspielen und Clownspielen kamen in McGhees Studien signifikant mehr von Jungen. Auf der Feindseligkeitsskala rangiert der Humor der Jungen ebenfalls im Durchschnitt höher; auch Oswald et al. (1986) und Huuki et al. (2010) bestätigen diesen Trend für deutsche und finnische Schulhöfe. Bönsch-Kaukes (2003) ethnografisch-entwicklungspsychologische Studien zeigen insgesamt schwache Unterschiede im Scherzverhalten von Mädchen und Jun‐ gen unter ihresgleichen und die humorstilistische Anpassung aneinander ist im gemischtgeschlechtlichen Kontext eher wechselseitig (Lampert / Ervin-Tripp 1998, 2006). Bönsch-Kauke (2003) entdeckt im Humor von Schuljungen oft kämpferische Themen und Fantasiegestalten, sowie viele obszöne Wörter. Bei Mädchen fand sie viele humoristische „Chaostechniken“, z. B. „solange reden, bis man Recht hat“, bzw. sein Gegenüber durch Nonsens u. ä. verwirren. Ihre Scherzthemen drehen sich oft um Liebesangelegenheiten und das Äußere (ähnlich auch Branner 2003; Spreckels 2006). 282 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="284"?> Sie beobachtet auch Geschlechterunterschiede in der Rezeption von herausforderndem Humor. Jungen stecken verletzende Humorbemerkungen eher weg, während Mädchen leichter schmollen. In gemischter Gesellschaft frotzeln amerikanische Mädchen mehr als unter sich und Jungen zeigen mehr Scherzformen auf eigene Kosten (Lampert 1996). Frotzeln oder Aufziehen ist ein unernster Aktivitätstyp mit Angriffskomponente (Walther 2014). Bei beiden Geschlechtern nehmen im Kontakt miteinander Verhaltens‐ weisen zu, die in gleichgeschlechtlichen Gruppen eher typisch für das jeweils andere Geschlecht sind (Ervin-Tripp / Lampert 2006). Huuki et al. (2010) zeigen in einer sieben Jahre lang an finnischen Primar- und Sekundarschulen durchgeführten, groß angelegten Interaktionsstudie, dass für Jungen riskante verbale und nonverbale Humorformen eine Ressource für die Aushandlung von kultureller Männlichkeit darstellen. Vor allem statushohe Jungen überschreiten mit ihrem Humor oft allgemeine Akzeptanzgrenzen. Sie machen andere Kinder offensiv lächerlich und haben die Lacher auch bei Grenzen überschreitendem Humor noch auf ihrer Seite. Die Studie vermittelt Einsichten in die komplexen Zusammenhänge von Humorformen, Gender, Gewalt, Alter und sozialem Status. Vor allem Gewalt wurde oft in einen spaßigen Rahmen gekleidet, was den Widerstand für die Opfer der Späße besonders erschwerte. Jungen, die auf humoristische Angriffe hin nicht kontern konnten, schmälerten ihren Einfluss in der Gruppe (ähnlich auch Fine 1990). Zusammenfassung In diesem Kapitel stand der kommunikative Aneignungs- und Entäußerungsprozess von Gender in der Kindheit im Zentrum. Dabei haben wir wie auch sonst in diesem Buch eine ko-konstruktive Perspektive verfolgt. Wir haben keinen Beitrag zur „na‐ ture-nurture“ Debatte geliefert, da besonders für die Kindheit davon ausgegangen wer‐ den muss, dass körperliche Differenzen innerhalb einer Geschlechtsgruppe genauso groß sind wie die zwischen den Geschlechtern. Wir konstatieren für den Umgang mit Kindern mindestens genauso große Ungleichzeitigkeiten, die auch sonst die westlichen Geschlechterverhältnisse in den letzten zwanzig Jahren prägen (Wetterer 2003, 288): Im Kindergarten sind Angleichungen des Umgangs mit Jungen und Mädchen voran‐ geschritten, wie quantitativ und qualitativ ausgerichtete Studien belegen. In der Schule können unterschiedliche Relevantsetzungen beobachtet werden. Mädchen zeigen sich als leistungsstärker und im Lernen engagierter, was viele Gründe hat (auch den unterstützenden Umgang mit ihnen durch Lehrpersonen). Die Kinder selbst kreieren mitunter geschlechtshomogene Gruppen und dramatisieren stereotype Gendermuster, auch bei Lehrpersonen kann dergleichen beobachtet werden, neuerdings oft zugunsten von Mädchen, manchmal von Jungen. In Kindergarten und Primarschule sind über‐ wiegend Frauen tätig, was auch mit der bescheidenen Bezahlung und der Struktur des Arbeitsplatzes zu tun hat. Das wirkt sich natürlich in Richtung des Entstehens binärer Geschlechterschemata der Kinder aus. Wir stimmen Macha (2011) in der Diagnose zu, Zusammenfassung 283 <?page no="285"?> dass vor allem die Familien in den deutschsprachigen Ländern nach wie vor ein Hort traditioneller Geschlechterverhältnisse sind. Eine genderfaire Pädagogik hat dafür gesorgt, dass im Kindergarten heute egalitäre Praktiken überwiegen. Spielzeug- und Modeindustrie setzen aber massiv darauf, mit arbiträren Unterschieden eine Genderdichotomie am Leben zu erhalten, die mehr finanziellen Gewinn verspricht als eine Überwindung derselben. 284 11 Gender, Sozialisation, Kommunikation <?page no="286"?> 12 Gender in der Soziolinguistik Die Soziolinguistik geht der Frage nach, wie Sprechweisen mit sozialen Kategorien, Typen und Gruppen zusammenhängen. Sie kann einzelne Phänomene wie etwa die Aussprache eines Wortes unter die Lupe nehmen oder auch Sprechaktivitäten. Jahr‐ zehntelang galt in der Soziolinguistik der Befund, dass Frauen sich in ihrem Sprechen mehr an den offiziellen Sprachnormen orientieren als Männer. In diesem Kapitel gehen wir zuerst der Geschichte der sog. „korrelationalen“ Soziolinguistik einiger westlicher Länder nach, dann widmen wir uns der Rekonstruktion von Geschlechterverhältnissen in der interaktionalen Soziolinguistik. Wir müssen uns mehr in der anglistischen Soziolinguistik bewegen als in der germanistischen, weil erstere besser erhellt hat, warum Menschen zu bestimmten Sprechweisen neigen und welche Identität sie damit herstellen. 12.1 Varietäten und ihr Prestige Jede lebendige Sprache existiert in mehreren Varietäten. Eine Standardsprache (ver‐ altet: Hochsprache) ist eine Varietät, die sich als auf einer großräumig verfügbaren Sprachnorm fußend einordnen lässt (Dittmar 1996). An ihr ist die Schriftsprache ausgerichtet. Die Soziolinguistik unterscheidet standardisierte Varietäten (kodifi‐ zierte und genormte Standards einer Einzelsprache, die gleichzeitig ein Dach für ihr zugeordnete Varietäten bildet) und weniger standardisierte Varietäten (Regio‐ nalsprachen oder Regiolekte, Dialekte / Mundarten, Soziolekte, Umgangssprachen, Fachsprachen, die „überdacht“ werden von einem Standard). Die meisten Sprecher/ in‐ nen des Deutschen können sich mehr oder weniger standardorientiert ausdrücken. Große Nord-Süd-Unterschiede liegen in der Anerkennung und dem Einsatz von Dialekten und dialektnahen Regionalsprachen. Wir sprechen nicht in jeder Situation gleich, sondern nutzen die Varietäten zu Situationsdefinitionen. Am Fahrkartenschalter der deutschen Bahn spricht der Punker anders als am Tresen seiner Stammkneipe, und die gepflegt sprechende Ärztin aus Hannover befleißigt sich im Kreise ihrer Freundinnen womöglich einer saloppen Jugendsprache. Bewusst oder unbewusst trägt die Sprechweise einer Person sowohl zu ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Bewertung bei als auch zur Gestaltung der Situation, denn nicht alle Sprechweisen sind gleich angesehen und haben das gleiche Potential zur Herstellung von (In)Formalität. In vielen Gesellschaften wird die Standardvarietät gleichermaßen mit Formalität und Prestige verbunden und entsprechend stigmatisiert man Dialektsprecher/ innen einerseits mehr oder weniger, andererseits attribuiert man ihnen Lockerheit. In der Schweizer Diglossie-Situation sehen die Verhältnisse anders aus (Siebenhaar / Wyler 1997). Hier besitzt die Standardsprache in der mündlichen Kommunikation den Status des Besonderen. <?page no="287"?> Wenn man herausgefunden hat, dass eine bestimmte Sprechweise in vielen Kontex‐ ten mit hohem Prestige verbunden ist, kann man oft einen dahin tendierenden Sprach‐ wandel prognostizieren (Wardhaugh 1986 / 2002, 189 f.). Das vornehmste Arbeitsfeld der sogenannten „korrelationalen“ Soziolinguistik besteht in der Erforschung von Sozio- und Dialekten (schichtenspezifischen, regional-, geschlechts- und altersspezifi‐ schen Sprechweisen), mündlich und schriftlich und dem Inbezugsetzen dieser Sprech- und Schreibweisen zu sozialen Kategorien wie Schicht, Alter oder eben dem sozialen Geschlecht. Damit war die an der Variable Geschlecht interessierte Soziolinguistik von Beginn an intersektional orientiert, ohne jedoch spezifische „Sektionen“ in ihrer Bedeutung für den Sprechausdruck schon vor der Untersuchung festzuhalten. Klasse, Gender und Ethnizität gelten z. B. in der Pädagogik als die großen „Sektionen“, die Unterschiede in Macht und Ohnmacht generieren und bei einer Person Überschnei‐ dungen bei einer möglichen Unterdrückung ergeben. Ähnlich wie Budde (2013) lehnen wir eine solche Festlegung der sozialen Kategorien, die Wirkfaktoren von Macht oder Ohnmacht bereits definieren, bevor ein Aktionsfeld überhaupt gesichtet wurde, ab. Die Gründe dafür werden im Laufe dieses und des nächsten Kapitels deutlich. Vor nicht allzu langer Zeit wurden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Soziodialektologie noch als „Störvariable“ und „Unruhe im Tabellenbild“ bezeichnet: Sprachliche Unterschiede, die durch das Geschlecht des Sprechers bedingt sind, finden sich so gut wie die landschaftlichen in fast allen Erscheinungen − dabei läßt sich die „Gerichtetheit“ dieser Unterschiede nicht leicht bestimmen, am ehesten vielleicht dadurch, dass man die Kategorie Geschlecht als die „Hauptstörvariable“ bezeichnet: Wenn sich bei den Männern in allen Landschaften dieselbe Tendenz zeigt, dass etwa in der Sprachschicht I mehr X erscheinen als in II, dort mehr als in III, so kann das bei Frauen (im ganzen oder teilweise) gerade umgekehrt sein − in allen oder einigen Landschaften. Das gleiche gilt für beliebige andere Kombinationen von Faktoren, wo häufig sehr gleichgerichtete Ergebnistabellen immer nur für die Männer stimmen, für die Frauen nicht, bei denen (partiell) gegenläufige oder unbestimmte Tendenzen auftreten, da offenbar oft andere Kategorien unvorhersehbar stärker wirksam werden als in der Vergleichsgruppe der Männer. Handelt es sich nur um einander entgegengesetzte Tendenzen, so könnte man nicht von „abweichenden“ Ergebnissen nur bei den Frauen sprechen. Tatsächlich sind sie es aber, die bei Gleichartigkeit im Sprachverhalten der Männer oftmals Unruhe ins Tabellenbild bringen durch unerwartete Gegenströmungen und uneinheitliche Gerichtetheiten. (Ruoff 1973, 245) Zunächst halten wir fest, dass die Sprechweisen der Männer im Zitat den Orientie‐ rungsrahmen definieren (Kap. 8). Tendieren die Männer in Richtung hü, dann neigen die Frauen manchmal zu hott und umgekehrt. Meist spielen Alter und Schicht eine Rolle in der Wahl bestimmter Variablen der Varietät, und eben die soziale Kategorie Gender - und das alles in Verquickung. Und es ist noch komplizierter, wie wir später sehen werden. Die linguistische Genderforschung sieht schon lange bestimmte Vorgehensweisen und Interpretationen der Soziolinguistik kritisch. Zum Beispiel entstammten sozio‐ 286 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="288"?> logische Schichtkriterien mit ihrer Orientierung am Beruf (früher meist dem des Vaters oder Ehemannes) lange Zeit der männlichen Welt (Kotthoff 1992b; Cameron 1998). Nicht zuletzt deshalb wurden viele soziolinguistische Befunde zu Geschlechter‐ verhältnissen in den letzten 40 Jahren neu diskutiert, und die Erhebungen wurden differenzierter. 12.2 Die klassischen Studien In der Soziolinguistik ist vielfach belegt worden, dass Frauen sowohl auf der phone‐ tisch-phonologischen als auch auf der morphosyntaktischen Ebene mehr zur Standard‐ varietät neigen (u. a. Trudgill 1972; Mattheier 1980; Feagin 1980 etc.). Aber nicht alle Studien förderten diesen Befund zutage. Betrachten wir eine der ersten soziolinguistischen Studien, die Geschlecht berück‐ sichtigt haben, etwas genauer. Wir gehen auf eine amerikanische Studie ein, weil diese schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den Blick nahm, dass mit Sprechweisen Identitäten kommuniziert werden, die spezifischer sind als die Frau-Mann-Unterscheidung. 12.2.1 Die englische Variable -ng Fischer hat 1958 im amerikanischen Neuengland eine Studie zur Realisierung der Aussprachevariable von -ng durch 12 Mädchen und 12 Jungen zwischen drei und zehn Jahren durchgeführt. Die Aussprache der Variable -ng unterscheidet bis heute englische Soziolekte voneinander und blickt darin auf eine lange Geschichte der Anzeige von sozialer und situativer Distinktion zurück (Wardhaugh 1986 / 2002, 160). In formellen Tests realisierten die Kinder meist die volle Aussprache: singing, dancing, fishing. In informellen Gesprächsphasen neigten viele Kinder jedoch zu simplen Realisierungen des Endkonsonanten auf „n“ wie in huntin’, singin’. Die Jungen realisierten durchgän‐ gig mehr -in’-Formen als die Mädchen. Letztere sprachen also standardorientierter. Fischer sah bereits, dass Aussprachen spezifischen Genderinszenierungen dienen können. Er verglich den Einsatz der [ng] und der [n]-Variable eines von ihm so genannten Modelljungen und eines typischen Jungen. Den Modelljungen hatten die Lehrer/ innen als beliebt, vernünftig und rücksichtsvoll beschrieben, den „typischen“ Jungen als stark, mit schlechtem Benehmen und nicht schulorientiert. Wie nicht anders zu erwarten, produzierte der eher brave Modelljunge fast nur Verbformen mit -ing-Endung; bei dem anderen tauchten beide Formen auf. Wir sehen hier, dass Sprache an Selbstinszenierung teilhat und sich Nichtstandardaussprachen dafür eignen, Draufgängertum und Unangepasstheit herauszustreichen. Als sich die Kinder im Kontakt mit dem Forscher dann mehr entspannten, nahmen die--in’-Endungen bei allen weiter zu. Die Kinder beherrschen formelle und informelle Varianten. Fischer stellte auch fest, dass alltägliche Verben wie hit, chew, swim und punch mit höherer Wahrscheinlichkeit 12.2 Die klassischen Studien 287 <?page no="289"?> auf -in’ beendet wurden als formellere Verben wie criticize, correct, read und visit. Daraus schließt er, dass die Wahl der Varianten mit Geschlecht, Klasse, Persönlichkeit (kompetitiv oder kooperativ) und Stimmung (angespannt oder entspannt) zusammen‐ hängen. Damit hat er in seiner kleinen Studie schon einige Faktoren erkannt, die auch heute als relevant erachtet werden, obwohl in der germanistischen Soziolinguistik nach wie vor kaum zu einer so differenzierten Intersektionalität vorgedrungen wird. Viele Jahre später studierte Kiesling (1998) erneut den Einsatz der -ng-Variable unter amerikanischen Burschenschaftlern. Deren Realisierung der -in’-Form hing mit ihren Aktivitäten zusammen. Beim geselligen Zusammensein realisierten sie zu 75 % die Nichtstandardform und bei formellen Treffen nur zu 47 %. Bei drei jungen Männern fand Kiesling einen besonders hohen Einsatz der Nichtstandardform. Diese gaben sich besonders rebellisch, unangepasst und schätzten harte Arbeit und den Einsatz von Körperkraft. Kiesling argumentiert, die Ausrichtung am Sprechstil von Arbeitern sei Teil der Identitätspolitik dieser Studenten. Damit ging er einen Schritt weiter in der Interpretation der besonderen Selbststilisierungen, die wir über unser Sprechen bewirken. Für die Genderlinguistik ist dieser Schritt sehr bedeutsam. Nichtstandardformen eignen sich dafür, sich als unangepasst zu zeigen. 12.2.2 Labovs Kaufhausstudien Labovs Arbeiten haben innerhalb der Soziolinguistik großen Einfluss ausgeübt, z. B. seine Studie zur r-Aussprache. In New York herrschten in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zwei Arten vor, das / r/ nach einem Vokal auszusprechen: • als stummes r ersetzt durch Vokaldehnung, wie etwa in [ka: ] • gespannt, wie etwa in [kaʴ] Labov (1966, 1972a) startete eine raffinierte Studie, mit der er herausfinden wollte, wie verschiedene soziale Schichten das / r/ artikulierten. Er hatte beobachtet, dass es an Wortenden eher auftaucht (floor) als vor Konsonant (fourth) und dass die höheren Schichten dem r eine stärkere Bedeutung beimaßen. Er schickte also seine Studierenden in drei unterschiedlich teure Kaufhäuser, die Einkaufende mit unterschiedlichem Portemonnaie, Bildungsgrad und Milieuhintergrund anzogen: Das Saks (damals höchs‐ ter Status), das Macy’s (damals mittlerer Status) und das Kaufhaus S. Klein (damals niedrigster Status). In dem Wissen, dass sich z. B. die Spielzeugabteilung im vierten Stock befand, fragten die StudentInnen Verkäuferinnen: „Excuse me, where are the toys? “ („Entschuldigen Sie, wo finde ich Spielzeug? “). Die Antwort lautet „Fourth floor“ („Vierter Stock“). Als hätten sie nicht richtig verstanden, fragten die Studenten noch einmal nach und erhielten dieselbe Antwort, diesmal allerdings deutlicher. Labov bekam damit für seine Studie jeweils ein / r/ im Wortinneren bei fourth, am Wortende in floor und beides einmal eher unachtsam und einmal genau artikuliert; die linguistische Variable war also die r-Aussprache an verschiedenen Stellen im Wort. 288 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="290"?> Nach Auswertung der insgesamt 264 Antworten stellte Labov fest, dass die Aus‐ sprache tatsächlich je nach sozialer Schicht variierte. Das / r/ wurden in den teureren Kaufhäusern öfter ausgesprochen. Außerdem bemerkte er, dass alle Schichten das postvokalische / r/ am Wortende häufiger artikulierten als vor Konsonant (in Wörtern wie guard). Daneben fiel auf, dass vor allem die Angestellten des mittleren Kaufhauses das / r/ bei der zweiten Antwort besonders korrekt aussprachen, ein Phänomen, das er als Hyperkorrektur bezeichnete. Die obere Mittelschicht sprach das / r/ nach der ersten Frage schon in der Hälfte der Fälle und nach der Nachfrage noch häufiger deutlich als die obere und niedrige Arbeiterklasse. Am häufigsten wurde es nach Nachfrage von der niedrigen Mittelschicht korrekt ausgesprochen, die allerdings bei der ersten Frage weniger Gebrauch davon gemacht hatten als die obere Mittelschicht. Labov sah darin eine sprachlich demonstrierte soziale Aufwärtsmobilität, ein Befund, der später oft den Frauen unterstellt wurde. 12.2.3 „Unruhe im Tabellenbild“ Die Arbeitsweise der quantitativen und korrelationalen Soziolinguistik ist so, dass zunächst verschiedene linguistische Variablen zu bestimmen sind, die in verschiedenen Varietäten unterschiedlich realisiert werden. Eine Variable existiert also in mehreren Varianten. Später werden diese Varianten mit soziologischen Parametern korreliert. In der Regel werden dabei nach Beruf, Einkommen und Bildungsgrad vier Schichten unterschieden. Macaulay hat z. B. in seiner Untersuchung der sozialen Stratifikation des Pho‐ nems / i/ in Glasgow gefunden, dass die Frauen der unteren Mittelschicht die Standard‐ aussprache [ɪ] mehr verwenden als die Männer der höheren Schicht. Als „vernacu‐ lar“-Aussprache gilt [ʌ] (vernacular-= Nonstandard). Bezüglich dieser Variablen gilt, dass die Frauen aller Schichten mehr zur Standard‐ aussprache neigen als die Männer. Der Sprung ist besonders deutlich zwischen den Frauen der oberen Arbeiterschicht und der unteren Mittelschicht. Dieser Schicht wurde insgesamt schon von Labov (1972a) eine besondere Sensitivität für Prestigeformen bescheinigt, die er mit deren erhöhter Anpassung an die Mittelstandsnormen erklärte. Für Frauen sei dieser Druck besonders stark, weil sie Sprechweisen an die nächste Generation weitergeben würden. Auch Trudgill untersuchte (1974) die Realisierung der -ng-Variable in Norwich. Im britischen Standard-Englisch wird -ng ebenfalls als velarer Nasal [ŋ] realisiert. In Norwich wurde oft talkin’ gehört (mit einfachem [n] am Ende wie in den Aufnahmen von Fischer 1958). Die starke Nutzung der Variablen für Varietätenunterschiede sah Trudgill (1974, 93 f.) so: Nearly everywhere in the English-speaking world we find this alternation between hig‐ her-class / formal ng and lower class / informal n. It goes back to the fact that in Old English (and later) there were two forms, a gerund ending in -ing (walking is good for you) and a 12.2 Die klassischen Studien 289 <?page no="291"?> present participle ending in -end (he was walkend). The -end form was the ancestor of -n’ and -ing (obviously) of -ing. Die zwei Formen haben sich im Laufe der Sprachgeschichte verbunden, aber die Zuordnung des Prestiges zu -ing ging sehr langsam vonstatten. Die Edward’sche Oberschicht sprach noch huntin’, shootin’ und fishin’. Trudgills Studie förderte folgende Erkenntnisse zu Tage: • In allen Schichten sprechen die Leute bei hoher Aufmerksamkeit eher walking statt walkin’. • In den Unterschichten findet sich die walkin’-Variante häufiger. • Diese Nonstandard -in’-Form taucht im Sprechen der Männer aller Schichten häufiger auf bei den Frauen. • Wenn Frauen nach ihrem Sprachgebrauch gefragt wurden, attribuierten sie sich schichtenübergreifend mehr die Realisierung der Standard-Aussprache als sie diese tatsächlich nutzten. • Wenn Männer nach ihrem Sprachgebrauch gefragt wurden, attribuierten sie sich schichtenübergreifend mehr die Realisierung der Nonstandard-Aussprache als sie diese tatsächlich nutzten. 12.2.4 Offenes und verdecktes Prestige, auch unter historischer Perspektive Die Zuordnung von „Standard = Prestige“ wurde bald in dieser Schlichtheit für unzulässig gehalten. Den Nichtstandardformen kommt auch eine Art von Prestige zu, ein eher verdecktes Prestige. Standard- und Nichtstandard-Varietät sind aber nicht in jedem Fall mit „overt“ und „covert prestige“ gleichzusetzen, wie es in der korrela‐ tionalen Soziolinguistik (z. B. Labov 1966) zunächst üblich war. Informelles Prestige beschrieb Trudgill als „covert“. Besonders in Subkulturen der unteren Schichten könne „verdecktes Prestige“ gerade durch Standardverletzungen entstehen. Die Sprecher der Nonstandardvarietäten grenzen sich sprachlich von den Mittelschichten ab. Sie verwenden die Soziolekte als „ingroup“- und Solidaritätsmarkierungen. Wer „fein“ spricht, gehört nicht dazu. Und was ist mit den Frauen, die „fein“ sprechen? Die mit dem Nonstandard verbundenen informellen Prestigeformen wurden in vielen Untersuchungen stärker bei Männern gefunden (Bach 1934; Labov 1966, 1972a; Trudgill 1974; Macaulay 1978; Mattheier 1980; Brouwer 1986 etc.). Verschiedene Un‐ tersuchungen, wie z. B. die von Bach aus den 1930er Jahren, zeigten allerdings bereits beide Trends. Bei den ländlichen Hausfrauen beobachteten die Forscher konservative Dialektsprechweisen und bei den Städterinnen starke Neigung zum Standard. Es ergibt sich oft der Eindruck, dass situationsunabhängig die als grob geltenden Sozio- und Dialekte in den modernen Gesellschaften eher mit Männlichkeit und die als fein geltenden Standardsprechweisen eher mit Weiblichkeit assoziiert werden. Die Varia‐ ble Geschlecht verkompliziert in der Tat die schichtenspezifischen Unterschiede. Frauen 290 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="292"?> 1 Dabei wird gefragt, wie die Sprecher/ innen ihre Sprechweise selbst beschreiben würden. der unteren Mittelschichten zeigen eine stärkere Neigung zur Prestigevarietät; Männer der Mittel- und Oberschichten hingegen integrieren auch vom Standard abweichende Formen in ihren Sprechstil. Trudgills (1972) Selbstbewertungstests 1 zeigten bereits, dass Frauen sich die Standardsprechweise sogar dann attribuieren, wenn sie sich dieser kaum befleißigen; bei den Männern zeigte sich Umgekehrtes. Selbstbewertungen ergeben somit einen weiteren Einblick in Präferenzen. Trudgill nahm also an, dass die Geschlechter verschiedene Varietäten favorisieren und dass dem Nonstandard auch eine besondere Art von Solidaritätsprestige zugesprochen werden kann, zumindest unter Männern. Auch in Hofmanns (1963) Untersuchungen zum Sprachverhalten in Hessen standen die subjektiven Äußerungen der ungelernten Arbeiterinnen, die real mehr Dialekt sprachen als die Arbeiter, im Gegensatz zu ihrem objektiven Verhalten. Sie behaupteten von sich, hauptsächlich Hochdeutsch zu sprechen. Für die Geschichte der deutschen Sprache gibt Mihm (2022) Einblick in ganz andere soziosemantische Konstellationen. Er rekonstruiert die Sprachdifferenzen in stadtsprachlichen Quellen des 16. Jhs., besonders in 172 Briefen des Nürnberger Ehepaars Paumgartner aus den Jahren 1582-1598, das dem städtischen Patriziat angehörte. Gebildete Frauen bevorzugten in der Zeit eine dialektalere Sprachlage als die Männer. Nachweisbar ist, dass diese gebildeten Damen der gehobenen Gesellschaft sich der Hochsprache durchaus zu bedienen wussten, dies aber in Briefen an ihre Ehemänner unterließen, Mihm (2022: 537) findet eine Erklärung für die dialektalen Ausdrucksweisen der Adligen und Bürgerinnen in den kulturgeschichtlichen Gege‐ benheiten des Mittelalters, die eine Verpflichtung der Frauen zur Demut gegenüber den Männern als gottgewollt mit sich brachten. Erst im Zuge der Aufklärung wurde sprachliche Richtigkeit auch für Frauen zum übergreifenden Ziel. Vorher dienten dialektale Ausdrucksweisen der Indizierung von Demut im Geschlechterverhältnis, somit zum Indizieren von Gender. 12.2.5 Prestigeorientierung in Berlin Schlobinski (1987, 1988) erhob in einer Studie zur Stadtsprache von Berlin sowohl subjektive als auch objektive Sprachdaten in Stadtteilen von West-Berlin und Ost-Ber‐ lin. Er führte Tiefeninterviews mit 37 InformantInnen über ihre Sprechweisen und erhob 504 Wegauskünfte, die er auf sechs phonologische Variablen hin untersucht, die möglichst auffällig, eindeutig und unbewusst produziert sein sollten. Er wählte • [g] in Alternation mit [j] (gemacht-- jemacht), • [au], das zu [o: ] monophthongiert wird (auch-- ooch), • auf (Monophthongierung zu [u]), • [aɪ], das zu [e: ] monophthongiert wird (klein-- kleen), • [ç] in Alternation mit [k] (ich-- ick), und • [s] am Wortende in Alternation mit [t] (was-- wat). 12.2 Die klassischen Studien 291 <?page no="293"?> Eine seiner Hypothesen besagt, dass dialektale Varianten von Männern häufiger gebraucht werden als von Frauen. Dies trifft auf vier der sechs Variablen ([g], [aɪ], [au], [s]) zu mit einigen wenigen lexikalischen Ausnahmen (beispielsweise glaub bei [au] − Frauen favorisieren [o: ]) zu. Auch Schlobinski erklärt diese Tendenz anhand der sozialen Stellung der Frau und ihrer daraus resultierenden Prestigeorientierung. Da Frauen ein niedriges gesellschaftliches Prestige innehätten, nutzten sie Sprache, um dieses aufzuwerten. Damit bleibt seine Erklärung sehr allgemein. Diese Annahme, dass Frauen eher zu overten Prestigeformen neigen und Männer zu denen des „covert prestige“, sollte in dieser Schlichtheit nicht stehen bleiben. Wenig berücksichtigt wurde z. B., dass in der Spracherhebungssituation für die Frauen mit dem männlichen Forscher vermutlich eine andere Situation kreiert wurde als für die Männer. Die stärkere Standardsprechweise der Frauen könnte damit zusammenhängen, dass sie mit dem Wissenschaftler mehr Distanz kommunizierten als die Männer dies taten (Kotthoff 1992b), denn Standard und Nonstandard leisten u. a. die Herstellung von Nähe- und Formalitätsgraden. 12.3 Netzwerkstudien Die Milroys (Milroy / Milroy 1978; L. Milroy 1980; Coates 1986) haben linguistische Variation in drei traditionellen Arbeitergemeinden im irischen Belfast untersucht: Ballymacarett (ein protestantischer Stadtteil von Ost-Belfast), Hammer (ein protes‐ tantischer Stadtteil von West-Belfast) und Clonard (ein katholischer Stadtteil von West-Belfast). Sie vertraten die Hypothese, dass das Ausmaß der Verwendung der Dialektvarietät mit der Intergration der Sprecherin / des Sprechers in enge soziale Netzwerke zu tun haben müsste. Je enger und multiplexer (verschiedenartig verbunden, z. B. durch Verwandtschaft, Nachbarschaft, Arbeit usw.) das Netzwerk, umso eher könnten eigene Normen gelebt werden. Die Untersuchung basierte auf teilnehmender Beobachtung und Aufzeichnung von Gesprächen. Lesley Milroy entwi‐ ckelte eine Skala der Netzwerkdichte. In Ballymacarett und Hammer rangierten die älteren und die jungen Männer hoch in dem „Network Strength Score“, das auf fünf Faktoren basiert. In Ballymacarett arbeiten die Männer traditionell zusammen im Hafen und im Schiffsbau. In Hammer und Clonard gibt es mehr männliche Arbeitslosigkeit. Dort erreichten auch die Frauen recht hohe Netzwerkwerte. Der Grad an Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sollte in Zusammenhang gebracht werden mit der Sprechweise des Individuums. Die ForscherInnen nahmen an, dass diejenigen, die in enge Netzwerke integriert sind, mehr Nonstandard sprechen. Varia‐ blen des Nichtstandards werden also zu Indexen für eine bestimmte soziale Identität. Da vergleichbare soziolinguistische Studien zum Wert von deutschen Varietäten für das Gruppenleben nicht bekannt sind, widmen wir uns weiterhin der anglistischen Forschung. Eine linguistische Variable stellte das intervokalische th dar, wie in brother. In der Umgangsprache wird das th ausgelassen. Alle drei Stadtteile zeigen, dass die Männer 292 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="294"?> die Auslassung mehr betrieben als die Frauen. In Ballymacarett, einem Gebiet mit traditioneller geschlechtlicher Rollenverteilung, sind die Unterschiede am radikalsten. Die jungen Frauen (18−25) sprechen das th und damit Standard, die jungen Männer sprechen es fast überhaupt nicht. Bei der älteren Generation der 40bis 55-jährigen ist der Geschlechterunterschied geringer ausgeprägt. Auf diesen interessanten Befund kommen wir später noch ausführlicher zurück. Die Variable a zeigt andere Tendenzen. In Wörtern wie hat sind für das a fünf Aussprachen möglich, wobei die stärkste Nonstandardaussprache fast wie ein schwaches, diphthongiertes e klingt. Interessan‐ terweise zeigte sich, dass die jungen Frauen aus Clonard die Nonstandardform „backing of a“ mehr verwendeten als die jungen Männer. Bei den älteren Leuten fanden sich die üblichen Unterschiede, wie in Ballymacarrett insgesamt. In Hammer zeigten die jungen Leute bezüglich der a-Variablen gar keine Unterschiede. Besonders interessant aber ist das Ergebnis aus Clonard. Innerhalb einer Generation hatte sich die geschlechts‐ spezifische Verwendungsweise der Variablen a verändert. Clonard ist ein Bezirk mit hoher Männerarbeitslosigkeit. Familienstrukturen sind hier starken Veränderungen unterworfen; der Prozentsatz der im gemeinsamen Arbeitsleben stehenden Frauen ist stark angestiegen. Hier gehören die Frauen engen sozialen Netzwerken an. Sie hatten diesbezüglich die höchsten Werte; ihr Sprachverhalten hatte sich also geändert. Sie sprechen eher so wie die Männer aus Ballymacarrett als wie die Frauen aus den anderen drei Stadtteilen. Aber es wird dem Sprachverhalten der Männer nicht völlig gleich; die Frauen machen die th-Tilgung nicht mit. Dieser Sachverhalt, dass die jungen Frauen aus Clonard sich sowohl von den älteren Frauen als auch von den Männern unterscheiden, findet sich häufiger in der Literatur, ohne dass er besondere Beachtung erführe. Wenn man Sprechweisen aber im Lichte von Identitätskonstruktionen sieht, wird der Befund sehr interessant. Die jungen Frauen aus Hammer üben typische Kommunikations- und Sozialberufe aus, im Unterschied zu den zum Nonstandard neigenden jungen Frauen aus dem Belfaster Stadtteil Clonard. Die Lehrerinnen, Krankenschwestern und Verkäuferinnen interagieren über alle Netzwerkgrenzen hinweg. Die jungen Frauen unterscheiden sich auch hier sprachlich sowohl von den jungen Männern als auch von der Generation ihrer Mütter (Kotthoff 1992b). Einen ähnlichen Befund diskutiert Ammon (1973). Er stellte im schwäbischen Raum starke Unterschiede in den älteren und mittleren Jahrgängen zwischen Hausfrauen und berufstätigen Frauen fest. Letztere neigen stark zum Standard. Es wird hier weniger als bei Nichols oder Milroy / Milroy spezifiziert, welche kommunikativen Anforderungen der Beruf stellt. Alle diese Studien legen aber nahe, dass mit einer gewissen Zwangs‐ läufigkeit gerade die berufstätigen Frauen sich der Standardsprechweise zuwenden. Wir müssen danach fragen, ob eventuell die enorme Veränderung innerhalb des Frauenlebens, die in den letzten 50 Jahren vonstatten gegangen ist, einen Einfluss auf den starken Sprachwandel zwischen alten und jungen Frauen hat. 12.3 Netzwerkstudien 293 <?page no="295"?> 2 Sie besagt, dass wir uns im Sprechen tendenziell aneinander anpassen. 3 Verschiedene Arbeiten in Hinnenkamp / Selting 1989 und Auer / di Luzio 1987 untersuchten dies. 12.4 Sprache als Abgrenzungsverfahren-- vor allem zwischen Müttern und Töchtern Die Sprache der Frauen gleicht sich zwar der der Männer an, wird ihr aber interessan‐ terweise nicht ganz gleich. Es muss innerhalb der Varietäten und Situationen weiter differenziert werden, wenn man in den teilweise inkonsistenten soziolinguistischen Untersuchungsergebnissen mit der Kategorie Geschlecht doch Konsistenz erkennen will. Verschiedene Studien zeigen (z. B. Nichols 1983; Milroy / Milroy 1978), dass dort, wo die Frauen auch Nichtstandard sprechen, dieser in manchen Variablen vom männ‐ lichen Nichtstandard abweicht. In den Studien von Milroy in Belfast zeigte sich, dass die Clonard-Frauen die zum Nonstandard gehörende th-Tilgung nicht mitmachten. Ihr Nonstandard spielte sich also in anderen Bereichen ab wie der männliche. Wir sehen also wieder, dass ein Sprechstil symbolisch genutzt werden kann. Wenn ein Stil für Männer subkulturelles Prestige symbolisiert, können Frauen diese stilisti‐ schen Konnotationen verwenden, um gleichfalls Gruppenzugehörigkeit oder Härte zu kommunizieren. Sprechweisen, die irgendwo angesiedelt sind auf der Standard-Non‐ standard-Achse, lassen sich für verschiedenartige Stilisierungen nutzen und damit zur Indexikalisierung von Identitätskategorien. Wenn mit den älteren Frauen und ihrem Dialekt Nichtmodernität verbunden wird, laufen die Frauen Gefahr, durch zu starken Dialektgebrauch eine Wahrnehmung in dieser Richtung nahezulegen. Persönliche Eigenart lässt sich also am besten kommunizieren über Abgrenzungen und Anleihen in beide Richtungen. Es gibt geschlechtsspezifische und geschlechtsübergreifende Prestigezuordnungen, die die Geschlechter stilistisch einsetzen können. So kann Konvergenz (gleiche Schicht, gleiche Gruppe etc.) und Divergenz (anderes Geschlecht, andere soziale Rollen) kommuniziert werden (zur Akkommodationstheorie 2 s. Giles / Smith 1979), je nach Situation und Intention. Welche sprachlichen Mittel dazu eingesetzt werden, ergibt sich aus den Stilisierungspotentialen dieser Mittel. Soziolinguist/ inn/ en haben herauszufinden, welche Variablen zur Markierung von Geschlechterdifferenz und wel‐ che zur Schichtendifferenz und / oder Formalitätsmarkierung herangezogen werden können. Im deutschsprachigen Raum fehlen solche Studien. Die Zugehörigkeit zu einer Schicht scheint tendenziell eher bei Männern bestimmend für ihr Sprachverhalten. Die „Unruhe im Tabellenbild“ ist viel weniger beängstigend, wenn man sich Frauen und Männer als Subjekte vorstellt, die Sprache zwar hauptsächlich unbewusst, aber doch zielgerichtet zur Situationsdefinition und Identitätskategorisierung verwenden. Man kann dann allerdings nicht mehr dabei stehenbleiben, Schicht und Geschlecht mit Sprachvariablen einfach zu korrelieren, sondern müsste in bestimmten Situationen prozessual den Einsatz der sprachlichen Mittel nachzeichnen. 3 Auffällig ist, dass nur eine Studie bis heute den Versuch unternommen hat, Sprach‐ wandel in weiblichen Lebenswelten zu untersuchen. In der Regel wurde implizit 294 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="296"?> unterstellt, die Kategorie „Frau“ sei vielsagend genug. Die einzige uns bekannte Arbeit, eine primär textlinguistische und am Rande auch phonetisch-phonologische Untersu‐ chung von Wodak (1981, 1982, 1985) und Moosmüller (1984) zum Sprachverhalten von Müttern und Töchtern, förderte interessante Ergebnisse zutage. Für das Wienerische ist u. a. typisch, dass das geschlossene [i: ] diphthongiert wird (lieb klingt dann wie liap) und der schließende Diphthong [oi] angehoben wird (Heu klingt dann wie Hei), der Diphthong ei als a-Monophthong gedehnt wird (weiß klingt wie waaß), der Konsonant l vokalisiert wird (Karl klingt wie Kau). In ihrer Untersuchung der Sprache von Müttern und Töchtern in Wien zeigte sich in verschiedenen Erhebungsverfahren, dass Familienmerkmale, Persön‐ lichkeitscharakteristika, Beziehungsmuster, Konfliktstrukturen u. a. ebenfalls die Va‐ riation innerhalb der Wiener Umgangssprache bestimmen. So wurde eine Theorie der sozio-psychologischen Variation begründet (Wodak 1982; Dressler / Wodak 1981; Wodak / Moosmüller 1981). Es zeigte sich, dass gerade die Sprachvariation der Frauen zwischen dialekt- und standardorientiertem Sprechen neben den soziologischen Para‐ metern noch durch psychologische bestimmt wird. Die Mutter spielt für Söhne und Töchter eine andere Rolle. So wissen wir aus der psychoanalytischen Literatur, dass Söhne den Trennungskonflikt mit der Mutter anders erleben; bei den Töchtern ist er mühsamer. Die Forschungsinteressen lauteten: Nutzen Töchter Sprache zur Markierung der eigenen Identität? Grenzen sie sich womöglich sprachlich stärker als Söhne von den Müttern ab? Kommt es zu sprachlicher Variation in Abhängigkeit von der Mutter-Beziehung, der Familienstruktur und der angestrebten neuen Identität der Kinder (sozialer Aufstieg / Abstieg, anderes Geschlechtsrollenbild usw.)? Inwieweit können wir durch die Untersuchung der Sprache der Mütter und ihrer Töchter Einblick in den Prozess der Geschlechtsidentifikation gewinnen, wie auch in die Entstehung geschlechtspräferentieller Unterschiede? In einer ersten Pilotstudie wurde versucht, der Mutter-Tochter-Beziehung anhand eines interdisziplinären theoretischen und methodischen Ansatzes gerecht zu werden (Wodak 1981). Im Rahmen dieser Untersuchung wurden Aufsätze zwölfjähriger Schü‐ ler/ innen zum Thema „Meine Mutter und ich“ qualitativ und quantitativ analysiert. Des Weiteren wurden mit den Kindern und den Müttern Interviews durchgeführt, die danach phonetisch transkribiert und nach sozio-phonologischen Indikatoren durch‐ kämmt wurden. Mit Wodak (1985, 204) fassen wir die Gesamtergebnisse der Aufsätze zusammen: • Es gibt „Mutter-Tochter-Stile“, die nicht mit der allgemeinen Schichttendenz übereinstimmen. • Berufstätige Frauen sprechen formaler und standardorientierter als Hausfrauen, in allen Schichten und Altersklassen. • Bei einer konfliktreichen Mutterbeziehung zeigen sich große Unterschiede zwi‐ schen den Sprechstilen von Mutter und Tochter: Selbst wenn die allgemeine 12.4 Sprache als Abgrenzungsverfahren-- vor allem zwischen Müttern und Töchtern 295 <?page no="297"?> Tendenz dahingehend verläuft, dass die Jugend informeller / dialektnäher spricht, kann dies gegenläufig sein (s. auch Wodak / Moosmüller 1981). • Die Unterschiede im Sprechstil zwischen Mutter und Tochter, selbst bei einer relativ guten Mutter-Tochter-Beziehung, sind größer als bei Mutter und Sohn, da die Tochter ihre eigene (Sprach)Identität durch die Trennung von der Mutter etablieren muss. • Sozial aufsteigende und absteigende Töchter sprechen in unterschiedlicher Rich‐ tung „hyperkorrekt“ (mehr als Söhne), wobei zwei Faktoren hier zusammentreffen: die Verleugnung der Herkunftsschicht und die gleichzeitige Trennung von der Mutter, die - unter anderem - die Werte und Normen der ursprünglichen Schicht vertritt. Die Anpassung an Peergruppen dürfte ebenfalls eine große Rolle spielen. • Das Thema des Gesprächs beeinflusst zusätzlich die Stilvariation, wobei die Gewichtung derselben Themen bei den einzelnen Familienmitgliedern verschieden sein kann (emotionale Besetzung eines Themas, Tabuisierung, Ideologiekonflikte). Besonders auffällig ist auch, dass die Töchter der unteren Mittelschicht in dieser Studie die meisten Dialektmerkmale verwendeten, was den bisherigen Annahmen über Aufsteiger/ innen widerspricht. Wodak et al. erklären dieses Verhalten mit deren „Oppositionshaltung“, die sich stark gegen die wenig dialektal sprechenden Mütter richtete. Insgesamt war der Schichtfaktor bei den Töchtern nicht so wichtig wie bei den Müttern und den Männern insgesamt. 12.5 Habitus und Geschlechtsindizien Die starke Orientierung der korrelationalen Soziolinguistik am Mann als Prototyp zeigen vor allem die herkömmlichen Stratifikationsverfahren (Kotthoff 1992b; Romaine 2003). Einkommen, Beruf des Familienvaters und Bildungsstand sind zur Erklärung des Sprachverhaltens der Frauen unzureichend. Wodak und ihre Mitarbeiter/ innen haben gezeigt, dass es sinnvoll ist, auch das Verstehen von Beziehungsqualitäten heranzuziehen. Wichtig erscheint auch, wie kommunikativ die Berufstätigkeit sich gestaltet. Eine Frisörin redet mehr mit Kund/ inn/ en unterschiedlicher Art als ein Maurer und neigt auch deshalb schon zu überregionalen Varietäten. 12.5.1 Habitus bei Pierre Bourdieu Weiterhin hat es sich inzwischen als sinnvoll erwiesen, den Bourdieuschen Habi‐ tus-Begriff für die Soziolinguistik fruchtbar machen. Bourdieu sieht Sprache in einem Zusammenhang mit anderen habituellen Äußerungsformen: Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz. In den Dispositionen des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung 296 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="298"?> einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamentalen Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben / unten, reich / arm etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturierungsprin‐ zipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmung durch. (Bourdieu 1987, 279) Sprache sieht er ähnlich wie Kleidung, Wohnformen, Essen, Autos, Hobbys etc. als symbolische Verkörperung sozialer Werte (Bourdieu 1976, 1982, 1987). Frauen und Männer heben sich in den meisten Kulturen habituell voneinander ab. Männlich / weiblich gehört zu den fundamentalen, kulturell ausgestalteten Differenzpaaren, gekoppelt meist an Alter und Schicht. Inter- und Transmen‐ schen inszenieren ihre Identität über Anleihen an den verschiedenen Semiotiken (Kulick 1999, s. auch Kap. 2). In den westlichen Kulturen heben sich Frauen und Männer in ihrem gesamten Verhalten am stärksten in dem Alter voneinander ab, in welchem gesellschaftlich sanktionierte sexuelle Aktivitäten eine wichtige Rolle spielen, nämlich zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Mattheier (1980) diskutiert verschiedene Erhebungen zur Dialektverteilung im deutschsprachigen Raum. Er kommt trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen Statistiken aus Gebieten der DDR und der BRD zu einer Reihe tendenzieller Überein‐ stimmungen in den Werten. Er stellt fest, dass mit zunehmendem Alter Differenzen in der Dialektnutzung bei Männern und Frauen abnehmen. Besonders in süddeutschen Regionen mit starker Dialektverbreitung führe das sogar dazu, dass die älteren Frauen mehr Dialekt sprächen als die Männer, wenn erstere dies vorher nicht taten. 12.5.2 Selbststilisierung und Attraktivität Die zweite durchgehende Tendenz sieht er bei der Altersgruppe der 20bis 40-Jähri‐ gen. In diesem Alter unterscheiden sich die Geschlechter im Dialektgebrauch am stärksten voneinander. Frauen verwenden in dieser Zeit erheblich weniger Dialekt als Männer. Mattheier sieht diese relativ geringe Dialektneigung der jungen Frauen im Zusammenhang mit ihrer Beschäftigung in der Kindererziehung. Kotthoff (1992b) vermutet, dass außerdem die habituelle Geschlechtsmarkierung in diesem Alter die größte Rolle spielt. In Kulturen, in denen der Nonstandard eher mit Männlichkeit assoziiert wird, werden Frauen ihn gerade in dem Alter am stärksten vermeiden, wo der gesellschaftliche Druck, sich feminin zu geben, am größten ist und vermutlich auch der eigene Wunsch, sich feminin zu stilisieren. Auch im körpersprachlichen Bereich gibt es Beobachtungen dazu, dass sich die älteren Unterschichtsfrauen stärker dem von den Medien nahegelegten weiblichen Habitus entziehen als die jüngeren. Marianne Wex (1980) hat in ihrer Studie über die „weibliche“ und „männliche“ Körpersprache gezeigt, dass Männer in ihrer Bein- und 12.5 Habitus und Geschlechtsindizien 297 <?page no="299"?> Fußhaltung, in ihren Arm- und Handhaltungen, im Sitzen und im Stehen mehr Raum einnehmen als Frauen. Nur ältere Unterschichtsfrauen fand sie ebenfalls breitbeinig sitzend vor, ohne die Arme am Körper zu halten. Wenn wir sprech- oder körpersprachliche Variablen als Indizierung einer bestimm‐ ten Selbststilisierung sehen, können wir die soziale Verortung der Individuen inter‐ pretieren. Die Kommunikation von Zugehörigkeit zu einem sozialen Typus basiert auf semiotischem Wissen. SoziolinguistInnen wie Eckert (2000) bleiben nicht dabei stehen, nur sprachliche Variation auszuweisen und mit soziologischen Faktoren zu korrelieren, sondern möchten genauer herausfinden, was über die Unterschiede kommuniziert wird. Interessanterweise hatten z. B. die standardorientierten jungen schwarzen Frauen in Nichols’ Studie sog. „white-collar“-Berufe wie Lehrerin, Krankenschwester, Verkäufe‐ rin, Sekretärin usw. Diese Berufe sind, wie Nichols sagt, sehr kommunikationsintensiv im Unterschied zu denen der Männer, die als Schreiner, Maurer, Anstreicher usw. mehr unter sich arbeiteten (und dabei mehr Geld verdienten). Die Frauen kommen mit vielen und verschiedenen Menschen in Kontakt. Standardvarietäten sind als Kommunikationsmittel mit Fremden eher geeignet als lokale Varietäten. Aber die Tätigkeiten der Lehrerinnen und Verkäuferinnen gehen in der Regel auch mit einem anderen Habitus einher. Auch im nichtsprachlichen Verhaltensbereich orientieren sich die in diesen Berufen Tätigen an symbolischen Formen, die Kultiviertheit zum Ausdruck bringen. Auf mehreren Ebenen kommunizieren sie einen „feinen Stil“. Die „klassisch weiblichen“ Berufe beinhalten auch Kontakte zur Oberschicht und zur oberen Mittelschicht. 12.5.3 Cheshires Studie zu Jugendcliquen Die Untersuchungen von Cheshire (1982a, 1982b) in Reading stützen die These, dass der Habitus-Begriff nützlich ist. In diese Untersuchung wurden habituelle Fak‐ toren ansatzweise integriert (wenngleich nicht in ein Habitus-Konzept einbezogen). Cheshire untersuchte (neunmonatige teilnehmende Beobachtung, Aufzeichnung auf Abenteuerspielplätzen) das Sprachverhalten von zwei männlichen und einer weibli‐ chen Jugendgruppe in Arbeitervierteln von Reading, speziell die Verwendung von zwei syntaktischen und morphologischen Non-Standard-Variablen, z. B. non-standard -s (they calls me all names), non-standard has (you has to do what the teachers tell you), non-standard was (you was with me) usw. Bis auf die Variable do (3. Ps.Sg. unflektiert) verwandten die Jungen die Nonstan‐ dard-Varianten konsistenter und häufiger als die Mädchen. Ähnlich wie die von Labov untersuchten jungen Männer waren diese ebenfalls in festen Cliquen organisiert, die Mädchen wesentlich weniger. Auch in dieser Studie geben die Jungen die Folie ab für die Interpretation des Mädchenverhaltens. Cheshire fand durch Soziogramme und deren Korrelation mit den linguistischen Variablen bestätigt, dass die zentralen, statushohen Cliquenmitglieder stärker Substandard sprachen als die Randfiguren der Gruppen. 298 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="300"?> 4 Keine Flexion nach Person: I was, you was-… 5 Doppelte Verneinung: it ain’t no good. Aber nicht alle Variablen wurden gleichermaßen genutzt, um hohen Cliquenstatus mitzuteilen. Sie konstruierte, um die prestigeträchtigen Variablen zu ermitteln, einen „Index der Vernakularkultur“, der auf folgenden Faktoren basierte: • Waffentragen • physische Kampfkraft und -bereitschaft • berufliche Tätigkeit • Stil (Kleidung, Haare-…) • Fluchen Jeder Junge wurde nach diesen Merkmalen auf einer Skala eingeschätzt. Cheshire konnte zeigen, dass sechs Nonstandard-Variablen eng mit der Identifikation des Jungen mit den Gruppenwerten zu tun hatten: nonstandardsprachliches has, was, never, what, do und negative concord. Mit Bourdieu kann man hier von Habitusphänomenen sprechen. Auf die Mädchen treffen diese habituellen Präferenzen nur zum Teil zu. Sie waren eher als kurzlebige Freundinnenpaare organisiert. Mit ihrem Interesse an Popmusik, Filmen und Mode standen sie der gesellschaftlichen Hauptkultur näher. Man erfährt leider auch bei Cheshire wenig über die mädchengruppeninterne symbolische Wertestruktur (was für die Soziolinguistik typisch war). Cheshire (1982b) unterteilte die Mädchen in Gruppen („gute Mädchen“ und „schlechte Mädchen“) je nach ihrer Identifikation mit den Cliquennormen (der Jungen). Die „guten Mädchen“ stahlen und fluchten z. B. nicht. Die Mädchen nahmen an kriminellen Delikten zwar teil, gaben aber damit nicht so an wie die Jungen. Die Untersuchung zeigt wieder viel mehr, woran sich die Jungen orientieren. Die Mädchen bleiben im Vergleich blasser. Für den deutschsprachigen Raum fehlen vergleichbare Studien. Die Autorin schließt, dass die jungen Frauen und Männer das Sprachsystem in unter‐ schiedlicher Weise nutzen. Manche Variablen markieren für beide Geschlechter Loyali‐ tät zur Subkultur (non-standardsprachliche Präsensformen, non-standardsprachliches was 4 , und doppelte Verneinung 5 ), manche nur für die Männer (non-standardsprachli‐ ches never und what) und non-standard come (ohne s in der dritten Person) und ain’t nur für Frauen. Cheshires Arbeit zeigt die Fruchtbarkeit eines Habitus-Ansatzes für die Sozio‐ linguistik. Die hohe Kunst des Sich-Unterscheidens hat sie gesehen. Aber es bleiben Fragen. Die Mädchen werden zu den Jungen in Bezug gesetzt. Wir erfahren, dass sie einiges, was für die Jungen typisch ist, weniger tun. Auch hier liefern die Jungen die Orientierungspunkte. Oberflächlich betrachtet erhält man das Bild, dass die Jungen sich stark von der offiziellen Standardkultur abgrenzen und die Mädchen weniger. Cheshire korreliert nicht nur Sprachmerkmale mit Schicht oder Geschlecht, sondern interpretiert auch den Platz der Sprecher/ innen innerhalb der Clique. Wir sprechen 12.5 Habitus und Geschlechtsindizien 299 <?page no="301"?> deshalb von einer interpretativen Herangehensweise. Durch andere Arbeiten aus der „interpretativen Soziolinguistik“ und Gesprächsforschung (s. Kap. 2 und 13) wissen wir aber, dass bezüglich der Interaktionsnormen die Jungen den offiziellen Verhal‐ tensstandards der Gesellschaft weniger entsprechen als die Mädchen, dafür aber den inoffiziellen. Jungen errichten unter sich Hierarchien, setzen sich offen gegen andere durch und verwenden hohe Direktheitsformen bei verschiedenen Sprechhandlungen (Tannen 1991). Mädchen organisieren sich in kleineren Gruppen, die wenig hierar‐ chisch aufgebaut sind. Für sie spielt die relative Nähe zueinander eine bedeutende Rolle. Sie verwenden mehr Höflichkeitsmarkierungen und kommunizieren mehr miteinander. Die Welt der Mädchen, so zeigt sich in diesen Arbeiten ganz deutlich, ist keine Minuswelt im Vergleich zu der der Jungen. Sie ist qualitativ oftmals anders und folgt eigenen Regeln, die insgesamt ein anderes System ergeben. Die Relevanz der variationslinguistisch untersuchten Kategorien wurde oft in männlichen Gruppen gewonnen und dann auf die weiblichen Gruppen übertragen. Die Soziolinguistik hat sich lange zentral mit dem Varietäteneinsatz von Männern beschäftigt und Frauen als Abweichung gefasst (Romaine 2003). Es bleibt auch bei Cheshires Arbeit der Verdacht, dass diese Perspektive nicht gänzlich überwunden wurde. Trotzdem hat sie Sprachvariablen in größere Verhaltenskomplexe einbe‐ zogen und Bezüge zu Gruppenwerten wie physischer Kampfbereitschaft, Klei‐ dungsstilen und Fluchen hergestellt und damit den Weg dahin geebnet, sich mit Sprechrealisierungen innerhalb von Handlungsgemeinschaften zu beschäftigen, mit denen eine spezifische Identitätskonstruktion einhergeht. Heute besteht auch der Anspruch, sich stärker mit dem Sprachverhalten derjenigen zu befassen, die sich geschlechtlich nicht eindeutig verorten wollen. In der früheren Soziolinguistik spielten queers lebensweltlich keine Rolle (in der späteren dann doch, wie später deutlich wird). 12.6 Situationsbezogenes Sprechen Wenn man sich verschiedene Daten, die in der Forschung diskutiert werden, genauer anschaut, wird deutlich, dass die Ergebnisse oft inkonsistent interpretiert werden. Dies ist dadurch verschuldet, dass die weibliche Gruppe nur im Vergleich zur männ‐ lichen betrachtet wird und man sich wenig um die Erkenntnis der Eigendynamik weiblichen Verhaltens kümmert. Wir schauen uns im Folgenden eine Tabelle von Heuwagen (1974) an, die auch Mattheier (1980) diskutiert. 300 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="302"?> 6 Pepe Droste wies darauf hin, dass Heuwagen nur Befragungsdaten interpretiert, somit Meinungen von Menschen über ihr Sprechen. Dank an ihn. 16-29 30-44 45-59 über 60 In der Familie - Männlich 75,0 75,6 81,3 87,8 Weiblich 85,7 80,6 81,1 88,5 Im Freundeskreis - Männlich 76,5 77,9 79,2 81,1 Weiblich 68,3 63,1 73,1 75,0 Bei der Arbeit - Männlich 58,3 59,3 65,6 (44,4) A Weiblich 42,9 39,8 40,5 (34,4) A Tab. 12-1: Dialektgebrauch nach Alter und Verwendungssituation in der BRD. A = teilweise im Renten‐ alter (Quelle: Heuwagen 1974) Tab. 12-1 zeigt, dass die Frauen sich in einer Befragung zuschreiben, in der Familie durchweg mehr Dialekt zu sprechen als die Männer. Dieser Befund schwächt die oft zitierte Hypothese, dass die Kindererziehung Frauen dazu bringe, stärker Standard zu sprechen. Denn nach der Hypothese müsste eine solche Statistik für die Verwen‐ dungssituation „Familie“ genau das Gegenteil zeigen. Im Freundeskreis meinen die Frauen weniger Dialekt zu sprechen, während die Männer dort fast genauso sprechen wollen wie in der Familie 6 . Bei der Arbeit wollen beide Geschlechter mehr Standard pflegen, die Frauen aber viel stärker. Die Frauen switchen möglicherweise mehr. Diese Tabelle bestätigt die These, dass das typisch weibliche Berufsbild zumindest in den Selbstzuschreibungen eine wichtige Rolle für das Sprachverhalten liefert. Auch in den Untersuchungen von Trudgill (1974) in Norwich zeigten die Frauen der unteren Mittelschicht den stärksten Kodewechsel zwischen informeller Substan‐ dardsprechweise und formeller Standardsprechweise. Verschiedene Untersuchungen stellten in der unteren Mittelschicht generell das größte Stilspektrum fest und die größte themenspezifische Variation (Labov 1966; Leodolter 1975). Das wird mit der sozialen Aufwärtsmobilität der Frauen erklärt. Das Kriterium ist aber einer an Männern ausgerichteten Stratifikationstheorie entnommen (somit androzentrisch; Kap. 8). Stattdessen liegt es viel näher, dass je öffentlicher die Situation ist, umso höher auch der Druck auf die Frauen ist, dem gesellschaftlichen Weiblichkeitsbild zu entsprechen. Dazu gehört allemal ein kultivierter Habitus, der eben gepflegtes Sprechen einschließt. Zu Hause verhält sich frau dann entspannter. Interessant ist auch, dass bei den jungen Frauen (bis 44) der Wechsel zwischen Familie und Freundeskreis so viel 12.6 Situationsbezogenes Sprechen 301 <?page no="303"?> deutlicher gekennzeichnet ist als bei den Männern, deren Sprache sich in diesen beiden Situationen gar nicht zu unterscheiden scheint. Sicher streben die Frauen im Freundeskreis nicht der höheren Schicht zu. Wahrscheinlicher sind folgende Gründe, die sich gegenseitig nicht ausschließen: • Frauen stilisieren sich sprachlich feminin; möglicherweise wird der Geschlech‐ terunterschied im Freundeskreis betont, da dies die Geschlechter füreinander interessant macht. • Der Freundeskreis ist den Frauen fremder, da er oft nicht ihr Kreis ist, sondern eher der der Ehemänner. Durch höheren Standard wird mehr Formalität kommuniziert. • Soziolinguistische Untersuchungen erlauben den Schluss, dass die Geschlechter die Skala der Codes, die sie beherrschen, als Kontextualisierungsmittel (Gumperz 1982; Auer 1986, 2007) und zur sozialen Selbstdarstellung nuanciert nutzen. Über Sprache wird signalisiert, wie die Situation zu definieren ist, wie man zueinander steht und welches Selbstbild man von sich hat. So konnte Gal (1978, 1984) für die bilinguale Gemeinde Oberwarth in Österreich feststellen, dass die jungen Frauen das mit dem Bauernstatus assoziierte Ungarisch stark zugunsten des Deutschen aufgaben. Sie, die auf das harte Leben als Bäuerin keinen Wert legten (und keinen Bauern heiraten wollten) und deshalb die möglich gewordene Identität als Arbeiterin oder Arbeiterfrau schnell annahmen (was nicht unbedingt einem Aufwärtstrend entspricht, ihnen aber trotzdem ein anderes Leben ermöglicht), drückten dies auch durch einen starken Wechsel zur deutschen Sprache aus. 12.7 Befunde aus dem heutigen Deutschland und Österreich Braun et al. (2000) sind in der Stadt Kiel, deren sprachliche Verhältnisse typisch für norddeutsche Städte sind, der Realisierung einer lautlichen Variable nachgegangen, nämlich der phonetischen Realisierung von / g/ , orthografisch <g>, wenn es Bestandteil der Wortwurzel ist wie in Weg oder Tag. Im Standarddeutschen wird hier auslautverhär‐ tet. Die norddeutsche Realisierung sieht nach vorderem Vokal [ve: ç] und nach hinterem [ta: x] vor. Üblicherweise gehört zur Regionalsprache auch eine Vokalkürzung, die aber nicht untersucht wurde. 1997 wurden in der Kieler Innenstadt 99 Frauen und 93 Männer von zwei Intervie‐ werInnen nach einem Weg gefragt. Eine schätzte jeweils das Alter der Auskunftgeb‐ enden. Insgesamt halten sich plosivische Standardaussprache und nichtplosivische Regionalaussprache bei Weg etwa die Waage. Jüngere Befragte zwischen 20 und 40 Jahren bevorzugen deutlich die Standardaussprache, Männer mehr als Frauen. Bei den Männern ist der Alterseffekt hochsignifikant. Bei den Frauen gilt: je älter, desto weniger Standardaussprache. Zwischen den weiblichen Altersgruppen besteht nur ein 18 %-iger Unterschied, bei den Männern ein 45 %-iger. In zwei von drei Altersgruppen überwiegt bei den Männern die Standardorientierung. Bei der Aussprache von Tag 302 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="304"?> 7 Beteiligt sind die Universitäten Kiel, Hamburg, Potsdam, Bielefeld, Frankfurt (Oder) und Münster. Mein Dank an Elena Gritzner für ihre Mitarbeit an diesem Passus. wurden 763 Realisierungen durch 34 Personen erfasst. Die Standardlautung ist bei den Frauen stärker vertreten als bei den Männern (nicht signifikant). Insgesamt neigen aber beide Geschlechter zur Regionalaussprache. Jüngere realisieren allerdings etwas mehr Standardaussprache als Ältere. Zusammengenommen sprechen die Ergebnisse gegen eine Hypothese, die bei Frauen mehr Standardorientierung erwartet. In beiden Studien fiel auf, dass die Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen jeweils größer waren als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Anlage der Studie erlaubt leider keine über Geschlecht und Alter hinausgehende, weitere soziale Differenzierung. Sprachvariation in Norddeutschland ist auch im Rahmen des SiN-Projekts 7 gut zehn Jahre später wieder ein Thema. Zwischen 2008 und 2010 wurden weibliche Gewährspersonen im Alter von 40-55 Jahren aus 36 Orten in 18 dialektgeografischen norddeutschen Teilregionen (4 Personen pro Ort) in ihrem Sprachgebrauch in ver‐ schiedenen Kontexten untersucht. Dazu gehörten ein leitfadengestütztes Interview mit einem/ einer Projektmitarbeiter/ in, das Vorlesen zweier standarddeutscher Texte, eine freie Erzählung, die je nach Kompetenz der Sprecherin auf Standard- oder Nieder‐ deutsch stattfand, ein informelles Tischgespräch mit Verwandten und engen Freunden, sowie bei niederdeutschkompetenten SprecherInnen eine Übersetzung von Testsätzen aus dem Standardins Niederdeutsche. Auch dieses Projekt strebt keine Untersuchung der sozialen Bedeutung des Varietäteneinsatzes in konkreten Alltagskontexten an und zielt auch nicht darauf ab, den Sprachgebrauch im Rahmen einer sozialen Identität zu erhellen. Aus dieser Datenbasis wählte Twilfer (2014) das informelle Tischgespräch als Korpus für ihre Studie aus, da hieran nicht nur Frauen, sondern auch Männer betei‐ ligt waren. Aus den 144 Gesprächen des SiN-Projekts wählte sie zwölf Gespräche. Alle Versuchspersonen waren zwischen 40 und 55 Jahren, gleichmäßig auf beide Geschlechter verteilt, ortsgebunden und hatten nicht studiert. Auch geografisch war eine gleichmäßige Streuung gegeben. Twilfers Teilergebnisse lassen sich in zwei Hauptgruppen gliedern. Zunächst fand sie heraus, dass Frauen auf phonologischer Basis stärker zum Standard tendieren als Männer (2014, 149). Zwölf der 15 Frauen sprechen weniger Dialekt als die Männer. Im Falle, dass die Aussprache der Frauen standardferner war als die der Männer, war die Differenz zwischen den Geschlechtern deutlich kleiner. Im Allgemeinen zeigt die männliche Sprache mehr phonologisch auffällige und standardferne Merkmale. So kamen hier Varianten vor, die bei Frauen gar nicht auftraten. Ein Beispiel dafür ist die Variable g vor oder nach Vokal, die nur von Männern in den Varianten [x] und [ç] be‐ ziehungsweise als Glottisverschluss realisiert wird ([gəmaxt] vs. [xəmaxt], [Ɂəmaxt]). Daraus folgert Twilfer, dass sich Frauen stärker an Sprachnormen orientieren. Sie schließt außerdem, dass entweder Männer generell auffälligere Merkmale bevorzugen oder dass Frauen klarer zwischen verschiedenen Sprechlagen unterscheiden können, 12.7 Befunde aus dem heutigen Deutschland und Österreich 303 <?page no="305"?> da beide Geschlechter Niederdeutsch gleich gut beherrschen. Hierfür liefert Twilfer mehrere dürftige Erklärungshypothesen. Zunächst bezieht sie sich auf den traditio‐ nellen Gedanken, dass Frauen bei der Kindererziehung Vorbildfunktion hätten und sich deshalb eher am Standard orientieren. Die häufig genannte Vermutung, dass Frauen eher in kommunikativen Berufen arbeiten oder ihre gesellschaftliche Position kompensieren wollen, weist sie hingegen ohne Diskussion zurück. Twilfer stellt anhand ihrer Ergebnisse jedoch auch klar, dass beide Geschlechter vom Standard abweichen. Damit unterstreicht sie die Forderung nach individuelleren Studien. Sie stellt auch fest, dass Frauen und Männer unterschiedliche nichtstan‐ dardsprachliche Merkmale gebrauchen (Twilfer 2013, 154). Es wird dabei deutlich, dass Frauen hauptsächlich bekannte und übliche Dialektvariablen verwenden, die vorhersagbar und im allgemeinen Bewusstsein verankert sind, wie beispielsweise das Ersetzen von [g] durch [j] im Wortanlaut. Männer hingegen, wie oben schon erwähnt, bevorzugen eher auffällige oder ungewöhnlichere Merkmale. Für dieses Ergebnis liefert Twilfer jedoch keine Interpretation. Ihre Ergebnisse stimmen mit Studien zu subjektiven Präferenzen überein (Twilfer 2013, 163). Demnach stehen Männer Dialektvarianten weniger kritisch gegenüber als Frauen; die Verwendungssituation spiele eine entscheidende Rolle, die Selbsteinschät‐ zung schwanke von Region zu Region, und es sei sehr wichtig, wer Adressat/ in oder Zuhörer/ in ist, da die Frauen mit ihren Kindern in der Erhebung fast immer Standard‐ sprache sprächen. Twilfer erläutert, dass die Rolle als Mutter in der Kindererziehung entscheidend für den Sprachgebrauch sei. Derzeit findet in Österreich unter der Leitung von Alexandra Lenz und Lars Bülow ein großes Forschungsprojekt statt zu Variation und Wandel im Spektrum von Standard, Bairisch und Alemannisch in den österreichischen Regionen. Sprachdaten werden mit vielfältigen Methoden erhoben, mit Interviews im Dialekt, Fragebögen zur Syntax und Experimenten zur Sprachproduktion. Ein Phänomenbereich, der im österreichischen Bairisch und Alemannisch auffällt, sind Relativierer (Pronomen und Partikeln), die typischerweise attributive Relativsätze einleiten, aber auch frei sein können. Der, die, das sind übliche Relativpronomen im Standarddeutschen und welcher, welches … gelten als sehr formell. Beispiel für einen freien Relativsatz: Der Hotelpage macht, was die Gäste verlangen. Dann gibt es noch die nicht integrierten: Der Hotelpage raucht, was nicht besonders gesund ist. Für die oberdeutschen Dialekte gilt hier eine große Bandbreite an Realisierungen 2023, 245 (Bülow / Wittibschlager / Lenz 2023: 245): a) des Haus, des i kauft hob, b) des Haus, wos i kauft hob, c) des Haus, des wos i kauft hob, d) des Haus, des wo i koft hon, f) die Frau wos meine Haare geschnitten hat. Varianz zeigt sich nicht nur regional, sondern auch diastratisch und diaphasisch. Bülow, Wittibschlager und Lenz fassen die variationslinguistische Forschung zu dieser Frage zusammen. In alemannisch sprechenden Regionen findet sich häufig der wo-Anschluss (und der hybride die, wo), im österreichischen Bairisch vor allem der was-Anschluss. Die generelle Zuordnung von wo-Relativierern zum alemannischen Sprachraum und von was zum bairischen Sprachraum wird für das Mündliche bestätigt. Immer ist auch 304 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="306"?> 8 https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Inland_Northern_American_English (Aufruf am 27.10.2023). der jeweilige Antezedent bedeutsam. In den face-to-face-Interviews und den Fragebö‐ gen verwenden die Sprecherinnen die standardsprachlichen d-Pronomen signifikant häufiger als die Sprecher (ebd., 269). Gleichfalls wird diese Sprechweise von den Älteren im Mündlichen mehr praktiziert als von den Jüngeren, bei denen die hybride Strategie der / die / das, wo stärker vertreten ist. Die älteren Sprecherinnen würden sich mit ihrer standardorientierten Ausdrucksweise dem Sprechstil der Interviewer anpassen (ebd., 43). Wir sehen also den Nonstandard als Männlichkeitsindex und vermutlich auch tauglich zur Anzeige von jugendlichem Nonkonformismus. Die Kombination von der / die / das, was wird eher von wenig Gebildeten verwendet. 12.8 Sprache und soziale Semiotik 12.8.1 Sprachliche und soziale Stile in Detroiter „Handlungsgemeinschaften“ Besonders in der neueren Forschung zu Jugendsprachen zeigt sich ein breiteres Bemühen, soziale Selbststilisierungen besser zu erfassen. International hat vor allem Eckert (2000) die Sicht auf Sprechstile (hier von Ju‐ gendlichen) theoretisch neu konturiert, weil sie ihre Beobachtungen zur soziophone‐ tischen Variation an einer Schule in Detroit (Belten High) in den Kontext anderer Stilphänomene gestellt hat, die vor allem die reiche Semiotik der Jugendzeit speisen: Kleidung, Frisur, Sportvorlieben, sonstige Freizeitbeschäftigungen und Sprechstile, denen wiederum Besonderheiten in der Lexik, der Prosodie, der segmentalen Phonetik, der Morphologie, der Syntax, und dem Diskurs eigen sind (in Kap. 2 gestreift). Eckert untersucht im sprachlichen Bereich die unterschiedliche Beteiligung der Jugendlichen am „Northern Cities Chain Shift“ 8 mit fünf vokalischen Variablen: • der Anhebung von / æ/ (wie in rat [ɹæt]), • dem Vorschieben des ungerundeten, offenen Hinterzungenvokals von / ɑ/ (wie in calm [kʰɑːm]), • dem Absenken und Vorschieben des offenen / ɔ/ , • dem Nach-hinten-Schieben von / ʌ/ (wie in blood [blʌd]), und • der Monophthongierung von / ay/ zu / ɛ: / Außerdem beachtet sie die syntaktische Variable der doppelten Verneinung („negative concord“, z. B. ain’t no good). Viele Soziolinguist/ inn/ en zielten auf Statistiken zu auffälligen Sprachausprägungen ab und ihre Korrelation mit sozialen Daten, ohne viel weitere Energie für die Interpre‐ tation stilistischer Besonderheiten aufzuwenden, wie wir oben gesehen haben. Eckert hat hingegen alle Daten zur Sprache der Schüler/ innen in einer sozialen Landschaft 12.8 Sprache und soziale Semiotik 305 <?page no="307"?> 9 Laut Wikipedia steht „jock“ im Amerikanischen für den sozial und erotisch erfolgreichen und beliebten athletischen Highschoolschüler (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Jock_(Slang); Aufruf am 27.10.2023). verortet, in der Gruppen gebildet werden. „Jocks“ 9 and „burnouts“ (Ethnokategorien der Jugendlichen aus Detroit) - diese sozialen Zuordnungen einer schulischen Gemein‐ schaft haben mit der Klassengesellschaft zu tun, Mittelschicht vs. Arbeiterschicht, mit unterschiedlichen Pfaden und Verbindungen zur Erwachsenenwelt, die aber nicht streng mit Herkunftsschichten der Jugendlichen korrelieren. Die Sprechweisen der Jugendlichen lassen sich nicht einfach vom sozioökonomischen Status der Eltern ableiten, sondern eher von ihrer eigenen Platzierung innerhalb der schulischen Sozialwelt, einer „community of practice“. Die „jocks“ orientieren sich nicht lokal und verwenden ein Englisch, das dem Standard und neuen Wandelbereichen nahe steht. Sie schieben / ʌ/ und / ɛ/ (wie in let [lɛt] oder men [mɛn]) auffällig stark nach hinten. Die Aussprache kippt fast zum o. In den sehr komplexen Ausspracheverhältnissen wird deutlich, dass sich Jugendliche nicht nur von Erwachsenen abgrenzen, sondern auch sehr stark untereinander. Die „burnouts“ begeben sich in Opposition zur Schule und ihren Normen, die „jocks“ hingegen orientieren sich auf die Welt der Schule und der universitären Weiterbildung in anderen Städten hin. Die männlichen „Ausgebrannten“ zeigen aber nicht einfach insgesamt hohe Werte aller Substandard-Varianten, sondern sehr spezifische. Sie verwenden auffällig viele doppelte Verneinungen und monphthongieren / ay/ zu / ɛ: / . Damit zeigen sie exakt gegenteilige Werte zu den Jock-Mädchen, die in den Bereichen standardorientiert bleiben, aber beispielsweise das offene / ɔ/ vorschieben und / ʌ/ nach hinten. Sie bedienen sich einer sehr spezifischen Auswahl an standardisierten und nichtstandardisierten Realisierungen und grenzen sich so auch von den weiblichen „burnouts“ ab, die die genannten Phänomene genau unterlassen. Die „Ausgebrannten“ bleiben der lokalen Szene verbunden. Globale und lokale Orientierungen werden auch über sprachliche Differenzen markiert; innerhalb dieser semiotischen Grenzziehungen spielt auch die Herstellung von Weiblichkeiten, Männ‐ lichkeiten und „Dazwischen“ eine Rolle. Viele Jugendliche stilisieren sich nicht klar als „jock“ oder „burnout“, bedienen sich also sprachlich nicht der salienten Merkmale. Sie zeigen ihre Identitäten über eine reichhaltige Semiotik an. Rauchen und das Essen von „Junk-Food“ gehören beispielsweise zur Anzeige der Zugehörigkeit zu den Ausge‐ brannten. Dabei unterscheiden sich die Mädchen wiederum in beiden Gruppen von den Jungen. Männlichkeit kann, wie nun schon oft gezeigt, über Anleihen an den weniger braven Verhaltensweisen der straßensmarten Draufgänger der schulfernen Schichten kommuniziert werden, Weiblichkeit hingegen u. a. durch bestimmte Gestaltungen des Äußeren, besondere Aktivitäten und Sprechweisen. Dabei verwenden manche „burnout-girls“ mehr Standard-Variablen als die Jungen beider Gruppen, machen sie so zum Index für Weiblichkeit. Einstellungen zum Rauchen, zu Freundschaft, zu dem Ort bewirken zusammen mit dem Sprachverhalten eine Identitätsanzeige. „Jock“ oder „burnout“ zu sein, will permanent über soziale und kommunikative Praktiken 306 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="308"?> 10 Auch deutsche Schulethnografien zeigen, wie ältere Kinder untereinander aushandeln, wer mit wem „geht“ (Breidenstein / Kelle 1998). angezeigt sein. „In-betweens“ gibt es reichhaltig; diese nehmen wiederum semiotische Anleihen an beiden Gruppen vor und verdeutlichen so, dass sie sich nicht an den Enden der Skalen der Schichten- und Genderdynamik positionieren. Mittlerweile wurde Eckerts Ansatz auch zur Untersuchung von Sprechstilen Jugendlicher und Erwachsener im europäischen Sprachraum angewandt (mehr dazu in Kap. 2). Bestimmte sprachliche und verhaltensmäßige Praktiken werden zur Anzeige, zum Index von Gender-, Schichten- und Altersstilisierung innerhalb einer Hand‐ lungsgemeinschaft, deren Ausprägungen nur innerhalb der Gemeinschaft mit ih‐ ren sozialen Positionierungen voll verstanden werden. Dadurch können sie in den Dienst der Selbststilisierung gestellt werden, die wir als ForscherInnen rekonstru‐ ieren müssen. Bestimmte Phänomene weisen auf eine Identitätsfacette hin, werden also zum sozialen Index (Kap. 2.3). Mit Agha (2007) und Droste (2017) sprechen wir auch von einem „metapragmatischen Modell“, wenn eine bestimmte Sprechweise als typisch „registriert“ und dann sozial zugeordnet wird. 12.8.2 Kinder inszenieren den Übergang ins Jugendalter In Eckert (2014) stehen jüngere Altersgruppen an zwei Schulen im Zentrum und die Frage, wie Kinder sich miteinander in schichten- und gendergebundene Identitäten und Semiotiken hineinsozialisieren. Drei Jahre lang hat die Verfasserin in der Detroiter Gegend unter Fünftbis SiebtklässlerInnen Ethnografie und Datenerhebung durchge‐ führt. Im sechsten Schuljahr bildet sich in den Schulen jeweils eine Gruppe, die den Ton angibt und die anderen aus den Normen der Kinderwelt hinausführt zu denen der Adoleszenten. Die Etablierung des heterosexuellen Marktes ist dafür konstitutiv. Die jeweilige führende Gruppe ist zwar noch nicht sexuell aktiv, aber dauernd mit Paarbildung beschäftigt. 10 Das gilt als „cool“. Wer nicht „cool“ ist, wird noch als „baby“ gesehen und auch so bezeichnet. Mädchen betreiben und dramatisieren die kurzlebigen Paarbildungen, die von allen verfolgt werden. An der ethnisch gemischten Steps-Schule führen Mädchen mexikanischer Abstammung („chicanas“) die Paarakti‐ vitäten an und bestimmen auch, was dort als „cooles Englisch“ gilt, nämlich eines mit Chicano-Elementen. An der von Weißen dominierten „Fields“-Schule übernehmen einige Jungen Elemente des Chicano-Englisch. Für die Kinder wird die Anzeige von Haltung immer wichtiger, auch über Sprache. Man zeigt sich gegenseitig die ablehnende Haltung zu Kinderprogrammen und zu allem, was semiotisch mit Kindern assoziiert wird. Bestimmte Sprechweisen gelten gruppenspezifisch als „cool“, so z. B. 12.8 Sprache und soziale Semiotik 307 <?page no="309"?> unter den Chicanos ein alveolares Klicken, das im Kontext negativer Beurteilung auftritt, sowie Vokal-Nasalisierungen. „Coole“ Weiße sprechen ähnlich. 12.8.3 Junge Leute in Barcelona Auch Joan Pujolar (2001) hat in seiner Studie zum Sprachverhalten von zwei Cliquen in Barcelona Ethnografie, korrelationale und interaktionale Soziolinguistik verbunden. Die 25 etwa zwanzigjährigen Cliquenmitglieder sprechen kastilisch (Standardspanisch) und katalanisch (die Varietät Barcelonas, auch der Oberschicht). Sie gehören einer Handlungsgemeinschaft an, in der alle Verhaltensbereiche adäquat interpretiert wer‐ den können. Die meisten entstammen eingewanderten Arbeiterfamilien aus anderen spanischen Regionen, haben aber höhere Schulabschlüsse erreicht oder studieren oder sind erwerbstätig. Zunächst interessierte sich Pujolar dafür, warum so wenige Jugendli‐ che in Barcelona schichtenübergreifend das prestigereiche Katalanisch sprechen. Dann wurde die Studie aber zu einem Portrait von Klassen- und Geschlechterverhältnissen in der Jugendkultur von Barcelona. Pujolar zeigt zunächst, wie über musikalische, politische und Freizeitpräferenzen auch Genderindices erzeugt werden, interpretiert vor dem Hintergrund der Bourdieu‐ schen Habitustheorie. Zum betont maskulinen Gebaren der „Ramblero“-Männer (sie hängen oft auf den berühmten Ramblas, dem Boulevard in Barcelona, herum) gehört z. B., viel Alkohol zu trinken und zu schnell mit dem Auto zu fahren. Dann widmet er sich den Sprechweisen der Jugendlichen, zu denen auch der Einsatz eines stilisierten andalusischen Dialekts gehört, der als ein Index von Männlichkeit gilt (assoziiert auch mit Flamenco). Die beiden Cliquen unterscheiden sich graduell und situationell im Einsatz der in Spanien gesprochenen Sprachen. Die „Rambleros“ führen die meisten ihrer Aktivitäten im Standardspanischen aus, obwohl sie in anderen Kontexten auch katalanisch sprechen. Die Ramblero-Frauen orientieren sich an kulturell dominierenden Formen von Weiblichkeit, legen Wert auf Intimität, Kümmern und Ordnung; sie stehen dem Katalanischen positiver gegenüber als die Männer. Sie sitzen gern in kleinen Gruppen zusammen und tauschen Vertrau‐ lichkeiten aus (auch mit dem Forscher). Pujolar sah die Männer eher als Zentrum der Clique. Die Männer schätzen Direktheit, Spontaneität und Ungekünsteltheit. Er findet unter ihren Gesprächsaktivitäten auch ritualisierte Formen von Aggressivität, z. B. in spielerischen Frotzelangriffen. Sie bewerten Katalanisch als gekünstelt, snobistisch, formell und weichlich und nutzen dagegen Züge des andalusischen Dialekts als Männlichkeitsindex. Zu den „Trepas“ gehören auch einige Katalanen und Angehörige der Mittelschicht. Sie zeigen sich politisch und auch in Geschlechterangelegenheiten progressiv und sprechen oft einen Argot aus dem Zentrum von Barcelona. Vor allem dadurch unterscheiden sie sich von den Rambleros. Beide Cliquen werten Katalanisch als snobistisch und unmännlich ab, auch weil die Sprache institutionell gefördert wird. 308 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="310"?> Die politischeren Trepas integrieren Personen, die sowohl von traditionell weiblichen als von traditionell männlichen (Sprach)Verhaltensstandards abweichen. Die Studie zeigt überzeugend, wie bestimmte (Sprach)Verhaltensweisen mit Index-Funktionen aufgeladen werden und sich Cliquenmitglieder daran orientieren, um sich im gesell‐ schaftlichen Gefüge zu positionieren. Pujolar analysiert nicht nur phonetische und grammatische Variablen, sondern auch kommunikative Praktiken wie Frotzeln oder das Erzählen von Vertraulichem jeweils mit ihrer sozialen Indexikalität, die auf einem Wissen um soziale Typisierungen beruht. 12.9 Interaktionale Soziolinguistik Gemäß Roberts et al. (2001, 56) zielen die Untersuchungsinteressen der interaktionalen Soziolinguistik darauf ab, wie Kommunikationsstile eine soziale Identität indizieren und welche Methoden man dafür benötigt. Auf der einen Seite ging es ihr um das Auf‐ decken selbstverständlicher Präsuppositionen in der interpersonellen Kommunikation. Auf der anderen Seite konnte sie besonders mit ihren Analysen kommunikativer und sprachlicher Stile rekonstruieren, wie soziale Identitäten kommuniziert werden. Das Projekt „Kommunikation in der Stadt“ (Leitung: Werner Kallmeyer) steht beispielsweise in der Tradition der interaktionalen Soziolinguistik. Die in vier Bänden publizierte Studie leistet vor allem eine überzeugende Verbindung von städtischer und gruppenkultureller Ethnografie und Interaktionsanalyse. Die in diesem Rahmen von Schwitalla (1995) durchgeführte Studie zum Vergleich der Kommunikationsstilistik zweier Frauengruppen vergleicht deren Sprachverhalten in Bezug auf das Variations‐ spektrum von Standard und Dialekt, ihre Phraseologie, ihre Themenpräferenzen und Formen der Höflichkeit, des Scherzens, der Herstellung von Gemeinsamkeit und der Konfliktaustragung. Damit eröffnet Schwitalla ein Untersuchungsspektrum, das im Unterschied zur korrelationalen Soziolinguistik kommunikative Praktiken mit einschließt. Die Analyse der kommunikativen Stile der beiden Frauengruppen bezieht sich also auf verschiedene Ebenen von Phonologie (dies allerdings nur knapp) bis Pragmatik. Schwitalla basiert seine kommunikative Stilistik einer sozialdemokratischen Gruppe von Arbeiterinnen und kleinen Angestellten und einer Literaturgruppe aus der Mittelschicht auf die Konzepte: • des „face-work“ („Gesichtsarbeit“ oder „Beziehungsarbeit“) in Anlehnung an Goffman 1967 und Brown / Levinson 1987, • eine kommunikative Theorie der Gefühlsprozessierung und • den Begriff der „Modalisierung“ des Sprechens. Unter Stil versteht Schwitalla analog zu Sandig / Selting (1997) „überindividuelle Form‐ gebungen von Äußerungen sowie Realisierungsweisen sprachlicher Handlungstypen,“ deren Sinn innerhalb der Gemeinschaft verstanden wird ( 283). 12.9 Interaktionale Soziolinguistik 309 <?page no="311"?> Schwitalla findet in vielen Bereichen auffallende Stil-Unterschiede zwischen den beiden Gruppen aus Mannheim und stellt mit der sozialdemokratischen Frauengruppe eine vor, die traditionell weiblichen Verhaltensstandards nicht entspricht. In der Gruppe werden z. B. Zorn und Unmut direkt geäußert. Eine Beziehungsarbeit der Dis‐ tanzwahrung spielt eine ganz besondere Rolle, da es thematisch in der Gruppe oft um bedrohte Selbstbestimmungsrechte der Frauen geht und sich das Gemeinschaftsgefühl stark über den gemeinsamen Kampf um diese Rechte bildet. Des Weiteren kommuni‐ zieren die Sozialdemokratinnen ihre geteilten Einstellungen häufig in Konfrontations‐ erzählungen und lustigen Grotesken. Es herrscht starke emotionale Expressivität. Die Literaturgruppe spricht modalisierter, eher andeutend und ironisiert inhaltli‐ che Betroffenheit. Auch im Bereich des Rederechtsmanagements zeigt die Studie sozialstilistische Unterschiede dahingehend, dass in der Literaturgruppe die Überlap‐ pungen beim Reden viel kürzer sind als in der Arbeiterinnengruppe, die sich weniger rücksichtsvoll gibt. Insgesamt finden sich im Sprachverhalten der Literaturgruppe mehr stilistische Merkmale, die in der feministischen Linguistik als typisch weiblich beschrieben wurden, als in dem der Arbeiterinnengruppe. Im Rahmen der interaktionalen Soziolinguistik wurde auch erforscht, wie ethnolek‐ tales Sprechen zu einem Soziolekt wurde, dessen sich alle Jugendlichen bedienen können, die sich als Mitglieder multikultureller Solidargemeinschaften fühlen und geben (Dirim / Auer 2004). Inwiefern Gender im Einsatz von „Kiezdeutsch“ (Wiese 2012) eine Rolle spielt, ist gegenwärtig unklar. In einem Forschungsprojekt zur interaktionalen Soziolinguistik schulischer Lehr‐ person-Eltern-Gespräche, das an allen Schultypen in Deutschland zwischen 2009 und 2018 Audioaufnahmen erheben konnte, stellt Kotthoff (2020, 2022) zunächst fest, dass deutlich mehr Mütter als Väter allein die Elternseite vertreten. Viele geben dabei narrativ Einblicke in Geschehnisse rund um den zur Debatte stehenden Schüler/ die Schülerin zu Hause. Wenn man solche Erzählungen, die viele Redeanimationen enthal‐ ten, mit den wenigen Auftritten einiger Väter in diesem institutionellen Gesprächstyp vergleicht, treten Unterschiede zu Tage, die Gender relevant werden lassen. Vor allem Mittelschichtsmütter führen sich in narrativen Fragmenten häufig mahnend und das Kind unterweisend vor; Kinder oder Jugendliche werden in diesen Geschich‐ ten von zu Hause zunächst als widerständig inszeniert, später den Rat der Mutter berücksichtigend. Väter inszenieren in diesem Kontext hingegen kaum schulbezogen besonders relevante Rollen. Für die Rekonstruktion dieser indirekten Relevantsetzung von Gender (als spezifische Form mütterlichen Handelns) arbeitet das Projekt mit dem im zweiten Kapitel dargelegten anthropologisch-interpretativen Ansatz der Inde‐ xikalisierung, der auch nicht-exklusive und hintergründige Beziehungen zwischen stilistischen Merkmalen, Sprechaktivitäten und sozialen Kategorien erfassen kann und eine rekonstruktive Rückbindung an gesellschaftliche Verhältnisse erlaubt. Die Gespräche liefern Einblicke in die deutsche Schulkultur, die sehr stark auf eine Elternmitarbeit setzt, und die in den Elterngesprächen auch von den schulaffinen Eltern (vor allem von Müttern) konversationell zum Anschlag gebracht wird. In einem 310 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="312"?> 11 Meineke 2023, 141, lehnt es vehement ab, einen Stil, der Personenreferenzen durch geschlechter‐ übergreifend gemeinte Maskulina ausdrückt, überhaupt als Stil oder Register einzuordnen. Dabei übersieht er, dass eine solche Einordnung tatsächlich nur für Individuen vorgenommen wird, die die Varianten im soziosymbolischen Kosmos kennen. Selbstverständlich gibt es im deutschsprachigen Raum Gruppen, die sich einfach traditionell ausdrücken ohne damit eine soziosymbolische Selbst‐ verortung vorzunehmen. Teil der schulischen Sprechstundengespräche wird auf diese Weise ein Einblick in ein bildungsorientiertes Elternhaus gestattet, das sich stark an vielen schulischen Angelegenheiten (bis hin zur Sitzordnung) beteiligt, in dem die Schüler/ innen Mitarbeit bei den Hausaufgaben erfahren und Mütter verschiedene Ratschläge zur Optimierung des Lernverhaltens parat haben. Sie zeigen sich fast als Ersatz-Lehrerinnen. Mit der deutschen Schulwelt vertraute Mütter (und einige Väter) präsentieren ihre eigenen Perspektiven auf Leistung und Verhalten ihres Kindes und gehen damit punktuell durchaus auch einmal in Konfrontation zur Lehrperson. Wenngleich dies sicher nicht als bewusst gewählte Strategie einer optimalen Präsentation des schulaffinen Zuhauses gesehen werden kann, fällt diese habituelle Praxis aber doch auf, vor allem in Distink‐ tion zu Eltern, die sie nicht betreiben (können). So zeigt sich die Kombination von Gender und Milieu / Bildungshintergrund in diesem Gesprächstyp als sehr bedeutsam. Es zeigt sich ein „indexing“ von mittelschichtig-bildungsaffiner Mutterschaft. Auch in diesem Kapitel haben wir uns einer Betrachtung sprachlicher Variablen und Praktiken im Rahmen einer sozialen Semiotik angenähert. Dabei steht im Vordergrund, dass Sprechweisen in den Dienst individueller und gruppenspezifischer Selbststilisie‐ rung gestellt werden, die es in der Wissenschaft auch mit ihrer Genderdimension nachzuzeichnen gilt. Im Kap. 13 setzen wir das letzte Unterkapitel zur Gesprächsstilis‐ tik fort. 12.10 Gendern wird soziolinguistisch relevant In den letzten Jahren laufen rund um Gendern Registerkreationen ab. Von Registerbil‐ dung spricht die Soziolinguistik, wenn ein bestimmter Sprech- oder Schreibstil mit einer sozialen Gruppierung und Kontexten assoziiert werden kann (Agha 2007). Derzeit ist bezüglich Gendern von einer Vielfalt der Schreib- und Sprechmethoden auszuge‐ hen, die von den kompetenten Agent/ innen in einem sozialsymbolischen Kosmos verortet und mit kulturellen Wertungen versehen werden können (z. B. als konservativ, fortschrittlich, feministisch, queer, Kotthoff 2020) 11 . Schreib- oder Sprechstile, die ohne Gendern auskommen, finden sich beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Neuen Zürcher Zeitung und werden (sprach)konservativ zugeordnet oder sogar politisch rechts (Lobin 2021). Wenn auf diese Weise unterschlagen wird, dass die Haltungen dazu auch im linken Spektrum keineswegs eindeutig sind (s. z. B. Pfaller 2019), kommt eine zu starke Polarisierung zustande. In Zeitschriften wie Missy oder auf Internetplattformen von Fridays for future wird mit Asterisk vor dem Femininmorphem gegendert und viel Wert darauf gelegt, über dieses Graphem nonbinäre Personen 12.10 Gendern wird soziolinguistisch relevant 311 <?page no="313"?> mental aufzurufen. Solche Setzungen von nicht transparenten Bedeutungszuordnun‐ gen werden über Leitfäden kommuniziert, eine pädagogische Textsorte, die im Zuge der Bemühungen um gender-explizite Ausdrucksformen sehr an Relevanz gewonnen hat (Schneider 2022). Eine solche, bei jeder Plural-Personenreferenz mit Unterstrich oder Asterisk auftauchende mentale Repräsentation von drei Personentypen ist eher unwahrscheinlich (Körner et al. 2022), aber der Schreibstil leistet eine Verortung in einem queer-feministischen, progressiven Bildungsmilieu. Texte signalisieren durch ihre Stile immer auch milieuspezifische Zugehörigkeiten im Hinblick auf Bildungs‐ hintergrund, Progressivitätsgrad, Altersassoziation und einiges mehr. Sie sind im Sinne Bourdieus ein Habitusphänomen (Bourdieu 1987). Das sog. „nonbinäre Register“ wird laufend angereichert und verändert. Neue Zeichen vor dem Femininmorphem werden propagiert, deren Semantik über das Erläuterungsschrifttum der Leitfäden gesetzt und verbreitet wird (derzeit an vielen Universitäten Doppelpunkt vor dem Femininmorphem). Damit wird Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe kommuniziert, die diese Trends überhaupt mitbekommt, praktiziert und unterweisungsaffin handelt. Wie diejenigen die personenreferentiellen Schreibmethoden verorten, an denen die Binnendifferenzierung mit ihren jeweilig salienten Merkmalen vorbeigeht, wird derzeit über qualitative, leitfadengesteuerte Interviews an der Universität Freiburg mit einer nichtakademischen Klientel erhoben (Kotthoff 2023). Es zeigt sich, dass viele die neue Graphie an der Morphemgrenze (Schüler*_: innen), die ja nonbinäre Personen aufrufen soll, nicht so verstehen, wie es über Leitfäden der Städte, Hochschulen und Firmen verbreitet wird. Die Mehrheit der bislang 30 Interviewten äußert sich skeptisch zum Gendern, betreibt aber dabei durchaus Binnendifferenzierung. Substantivierte Partizi‐ pien vom Typ Studierende akzeptieren sie häufiger als mündliche Pluralbezugnahmen mit Glottisschlag vor dem Femininsuffix. Insgesamt werden die personenreferentiellen Stile im deutschsprachigen Raum sehr flexibel gehandhabt. In der deutschen taz und der schweizerischen WOZ wird fast immer gegendert, wenn auch mit unterschiedli‐ chen Zeichen, die Süddeutsche Zeitung und der Standard gendern moderat und flexibel, verwenden oft Beidnennungen und neutrale Personenbezeichnungen wie Lehrkraft oder Lernende. Die Zeitschrift EMMA bleibt dem groß geschrieben Binnen-I treu. Viele der von uns Interviewten subjektivieren ihre Meinungen zum Gendern stark, indem sie beispielsweise sagen, für sie persönlich sei Gendern nicht wichtig, aber wem es wichtig sei, der / die solle es doch betreiben. Die meisten erzählen auch, dass in ihren Familien und Bekanntenkreisen im herkömmlichen Stil mit einem übergreifend gemeinten Maskulinum über Personengruppen gesprochen werde. Im großen Unterschied zu den sehr kontroversen Mediendebatten zu diesem Thema, gehen sie auch auf ihr eigenes Sprachgefühl ein, dass sie bei einer Plural-Referenz auf Touristen beispielsweise an gemischte Gruppen denken lässt. Sie äußern sich auch zu ihrer subjektiven Sprachästhetik, in der von Asterisken durchzogene Texte selbst bei Pro-Gendern-Eingestellten nicht gut wegkommen. Es zeigt sich die Notwendigkeit, dass in Zukunft neben die experimentelle Kurztextforschung (siehe Kap. 5), die auf die Erfassung von Erstassoziationen abhebt, eine soziopragmatische Forschung treten 312 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="314"?> sollte, die Haltungen, Sprachgefühle und auch soziale Zuordnungen von personenre‐ ferentiellen Stilen besser erfasst. Sczessny et al. (2015) unterstellen denen, die ihre Aussagen in den von ihrer Forschungsgruppe durchgeführten Experimenten nicht gendern, Sexismus. Mit einer solchen abwertenden Moralisierung kommen sie den tatsächlichen Gründen für traditionelle personenbezogene Sprechweisen nicht auf die Spur. Aussagekräftigere Stilüberlegungen finden sich beispielsweise in einem Dialog der Übersetzerinnen Olga Radetzkaja und Katharina Raabe (2021, 1) zum „narcissistic turn“ in der Sprache. Raabe formuliert ihren Eindruck heutiger Sprechsituationen so: Neuerdings geht dieses Zögern aber über das Taktgefühl, das für höfliches und umsichtiges Miteinander selbstverständlich ist, weit hinaus. Es antizipiert die Reaktion auf Markierungen, die ich setze oder unterlasse, bevor ich überhaupt einen Satz zu Ende gebracht habe. Das betrifft etwa Genderstern, Unterstrich, Binnen-Doppelpunkt und Glottisschlag, aber auch ethnische und andere Identitätsmarkierungen, wie sie „politisch korrektes“ Sprechen erwarten lässt. Ich antizipiere mithin eine kränkende, befremdende, irritierende oder sogar provozierende Wirkung meiner Ausdrucksweise. Ich unterstelle, dass diese Wirkung stärker ist als die des Gesagten selbst. Was natürlich unsinnig ist, denn noch, so scheint mir, erreiche ich die Adressaten auch ohne derlei Identitätsmarkierungen. Doch dieses Zögern ist unangenehm, weil es die Konzentration auf etwas Äußerliches umlenkt. Die Sache ist sogar noch komplizierter - in dem kurzen Innehalten meldet sich die Sorge, wie ich in meinem Sprechen und Schreiben von den anderen wahrgenommen und verortet werde. Welche Rück‐ schlüsse auf meine politische Haltung zu bestimmten Fragen lege ich durch Übernahme oder Ablehnung dieser Markierungen unwillentlich nahe? Auf einmal sind Distinktionsmerkmale im Spiel, die dem Anspruch des Sprechens, Unterschiede zu überbrücken, im Weg stehen. Gendern hat auf jeden Fall Einzug gehalten in symbolische Distinktionspolitiken, die es weiter kritisch zu beobachten gilt. Pfaller (2019, 44) bemängelt, dass der behauptete Zusammenhang, eine veränderte Sprache wirke sich auf die Realität aus, durchaus auch stattdessen zu einer Verselbständigung der Sprachebene führen kann: Statt Kinderbetreuungseinrichtungen bekamen wir das Binnen-I, statt Chancengleichheit bot man uns „diversity“, und anstelle von progressiver Unternehmensbesteuerung erhielten wir erweiterte Antidiskriminierungsrichtlinien. Das entspricht dem Grundprinzip neoliberaler Propaganda: Alle Ungleichheit beruht demnach lediglich auf Diskriminierung. Sie ist nur ein Vorurteil, das sich durch liberale Gesinnung überwinden lässt; und nicht etwa ein Effekt starrer oder sich gar noch verhärtender Eigentumsverhältnisse. Verselbständigungen der Sprachebene sind jedenfalls häufig zu beobachten. Wenn man sich anschaut, dass auch Sender wie RTL sich neuerdings auf ihren Social-Media-Ka‐ nälen sprachlich diskriminierungssensibel geben, dann markiert dies einen krassen Widerspruch zu den zahlreichen Entwürdigungen in ihren Trash-Formaten vom Typ „Ich bin ein Star - holt mich hier raus! “ (Achterberg 2023). Ehemalige Teilnehmer/ innen von Reality-Shows und Models nehmen etwa am Essen von Känguruh-Hoden teil und lassen sich vor der Kamera vielfältig erniedrigen. Wie andere Fernsehsender 12.10 Gendern wird soziolinguistisch relevant 313 <?page no="315"?> 12 Die Transkription bewahrt Phänomene des Mündlichen und orientiert sich auch an der Orthografie. auch pflegen RTL und Pro Sieben aber im Internet ein progressives Image und RTL gibt Instagram-Nutzenden Regelkataloge, wie beispielsweise über Transpersonen zu sprechen sei. In der Sendung auftretende Transpersonen halten sich auf erfrischende Weise nicht daran. Auch deutsche Autohersteller schmücken laut Achterberg ihre Web-Seiten hierzulande mit Regenbogenfarben, nicht jedoch im arabischen Raum, wo dies nicht verkaufsfördernd ist. Längst wurde in verschiedenen Leitfäden das, was die neuen Grapheme an der Morphemgrenze leisten sollen, überfrachtet (s. auch Kap. 5 und 10). Verschiedene Städte publizierten für die Verwaltungen inzwischen bereits die dritte Version von Richtlinien für geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Nicht nur die Kampagne der Freiburger Gleichstellungsstelle in Sachen Unterstrich (2021) zeigt, dass die Neographie sich nicht nur auf nonbinäre Personen beziehen soll, sondern auch auf sexuelle Präferenzen. Sexuelle Präferenzen sind aber in der Grammatik nicht kodiert (Kap. 10). 2022 wurde diese Schreibpraxis mit dem Unterstrich in Freiburg schon wieder geändert, nun hin zum generischen Femininum, dem ein (a) zugefügt wird, dass „alle“ bedeuten soll. Stellen der Stadt werden derzeit mit einem übergreifend gemeinten Femininum ausge‐ schrieben. Es verwundert nicht, dass viele Menschen mit einer solchen Sprachpolitik Probleme haben, was sich auch entsprechend in den sozialen Netzwerken kundtat (dazu Freiburger Wochenbericht 26.1.2022). Hier ein kurzer Ausschnitt aus einem verschrifteten Interview zu Spracheinstellun‐ gen mit einer Verwaltungsangestellten, das Anna Gluhov 2022 geführt hat 12 : Einer Angestellte äußert sich zum Gendern (I-= Interviewerin, B-= Befragte) I: …ist da vielleicht eine Kategorie, die dir besonders aufgefallen ist, oder vielleicht etwas, das du ungewohnt findest? B: Ooh ja, die neue, die neue, ehm, wie man männlich, weiblich, divers überall verwenden darf, soll oder muss. Ich bin natürlich tagtäglich davon betroffen und weiß, dass da jetzt nicht überall richtige Regeln bestehen. Und viele Nutzer auf Medien sind sich nicht sicher, wie man es richtig verwendet, selbst ich, die es benutzen soll. Ich weiß, was es für Möglichkeiten gibt, einen Teil, jetzt nicht alles, und ich benutze es halt, weil ich möchte, dass sich jeder angesprochen fühlt und nicht ausgeschlossen fühlt. Also auch, dass man sich 314 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="316"?> zugehörig fühlt, von dem Aspekt find ich‘s sehr wichtig, aber es ist auch schade, was es mit unserer Sprache macht. Also es macht es viel komplizierter, den Lesefluss. Das finde ich leider ein bisschen schade. I: Hast du gewusst, dass die Stadt einen Leitfaden hat für das Gendern? B: Also ich hab da erst letztens was gehört, bei einer Stellenausschreibung was gelesen. Dann irgendein a oder ein d, so ein kurzer Buchstabe, da stand, was man wohl nehmen könne. Es war wohl irgendwie, ach, ich kann mich leider nich mehr erinnern, fand ich irgendwie amüsant und dacht aber, das ist ja wieder was, wo man neu dazulernen muss und dachte, wieso umschreibt man das nicht einfach, die Wörter. Wieso sagt man nich einfach Kollegium oder guten Morgen zusammen, das hab ich mir zum Beispiel angewöhnt, ohne jetzt zu betiteln Kollegen oder innen. Die Angestellte soll gendern und ist prinzipiell gar nicht abgeneigt, sieht aber auch Nachteile durch die Kompliziertheit. Eine solche Art von abwägendem Überlegen durchzieht viele der bislang von uns erhobenen Interviews (Kotthoff 2023). Hier ist in Bezug auf die abermals neuen Leitlinien der Stadt, in der die Befragte arbeitet, inter‐ essant, dass sie kundtut, gar nicht mehr mitzukommen bei all den nach Berufsnennung bei Stellenausschreibungen aufgeführten Initialen vom Typ (m, w, d) oder jetzt eben (a). Erst in den letzten Jahren konnten Leser- und Hörer/ innen der Öffentlich-Rechtli‐ chen Sender mit Texten Erfahrungen sammeln, die durchgängig gegendert wurden. Die Wirkung von durchgängigem Gendern (sei es mit Beidnennung oder Pluralreferenzen mit Neographie oder Glottisschlag) in mehrseitigen oder mehrminütigen Texten wurde bis dato nicht erforscht. Jedoch zeigt Jäckle (2022), dass sich die jeweiligen Zu- oder Abneigungen bezüglich sehr salienter geschlechterbewusster Schreib- und Sprechweisen milieuspezifisch zuordnen lassen. Er hat über 10.000 Befragte eines großen Online-Politikpanels aus Deutschland mit breiter Abdeckung verschiedener Altersgruppen, Bildungsgrade, ökonomischer (Un)Zufriedenheiten und Stadt-Land-Verteilungen vor einer Umfrage entscheiden lassen, ob sie die Personenbezugnahmen im Befragungstext lieber ge‐ schlechterbewußt mit dem Genderstern oder mit einer formal maskulinen Referenz lesen wollten. 21 % der auf diese Weise zum Einsatz einer salienten Form des Genderns indirekt Befragten entschieden sich für die Texte mit geschlechterexpliziter Aste‐ risk-Variante und 75 % für die traditionelle Schreibart. Mit binär-logistischer Regressi‐ 12.10 Gendern wird soziolinguistisch relevant 315 <?page no="317"?> onsanalyse zeigt Jäckle, dass dieses gute Fünftel, das die gegenderte Schreibweise lesen möchte, tendentiell eher weiblich ist, jung, wohlhabend, hochgebildet und im urbanen Umfeld lebt. Wer politisch in Richtung CDU / CSU, AfD oder FDP neigt, lehnt Gendern eher ab. Bei der Beobachtung des Bundestagswahlkampfs 2021 stellt Jäckle fest, dass bei Wähler/ innen der SPD, den Linken und der FDP starke Unterschiede bezüglich des Genderns hervortreten. Die AfD macht sich die mehrheitliche Ablehnung oder Distanz zum salienten Gendern geradezu zu Nutze, indem sie dies häufiger als andere Parteien thematisiert und damit sogar auf Stimmenfang gehen kann. Solche Polarisierungen werden auch dadurch befördert, dass die im Rahmen von Institutionen veröffentlichten Sprachleitfäden erstens zahlreich sind, zweitens oft aktualisiert werden und drittens sehr akribisch vorgehen. Zustimmung zum auffälligen Gendern mit Asterisk geht laut Jäckle (2022) signifikant auch mit Zustimmung zu staatlicher Regulierung einher. Klein (2024) nennt mit Stand 18.4.2023 die Zahl von 2.102 Leitfäden zum Gendern, die von Institutionen im deutschsprachigen Raum für ihre Verwaltungen festgesetzt und ihrer Klientel empfohlen wurden. Er selbst nimmt etwa vierzig Leitfäden aus Universitäten, Ministerien, Stadtverwaltungen und Firmen genauer daraufhin unter die Lupe, wie sie das Ziel einer geschlechtergerechten Sprache erreichen wollen und welche Sicht auf Sprachwandel sie kommunizieren. Oftmals würden diese von Gleichstellungsbüros herausgegeben, die mit dem Fach Linguistik wenig in Berührung seien, mehr mit Pädagogik und Psychologie. Er sieht hier eine Laienlinguistik am Werk, die viel mehr als in der Linguistik üblich präskriptiv vorgeht. Die Leitfäden oder Handreichungen zum Gendern arbeiten mit Fahnen- und Stigmakonzepten, also programmatisch und moralisch positiv oder negativ besetzten lexikalischen Ausdrü‐ cken und Phrasen. Ein solches Fahnenkonzept ist beispielsweise die explizite Nennung der gemeinten Personen, die oft als Strategie der „Sichtbarmachung“ von Frauen und nonbinären Menschen firmiert. Statt solch hoher Explizitheitsanforderungen, die auch noch moralisch aufgeladen werden, geht man in der linguistischen Pragmatik hingegen eher davon aus, dass das konkret Gemeinte im Kontext inferiert werden kann und wird. Nicht nur die seit langer Zeit diesseits und jenseits der Wissenschaft diskutierten lexi‐ kalischen Referenzen vom Typ „der Bürger“, sondern auch Pronomen wie niemand oder jemand geraten in den Leitfäden unter die Stigmatisierung des dominant Maskulinen und es gibt spezifische Anweisungen zu Formulierungsalternativen (Frauen mögen mit „ich bin eine, die …“ statt mit „ich bin jemand, der…“ auf sich selbst Bezug nehmen), nicht nur zur Vermeidung übergreifend gemeinter formal maskuliner Personenreferenzen. Alles in allem bezeichnet Klein das sprachthematisierende Profil der Leitfäden als „ambitioniert“, weil sie das Gefüge der Sprache ehrgeizig und top down zu verändern trachten. Das Herausgreifen der Pronomen soll hier zeigen, in welche Details die Leitfäden vordringen und wie anspruchsvoll die von ihnen betriebene Pädagogik vorgeht. Nicht umsonst findet Jäckle die Präferenz für mit Asterisk gegenderte Texte eher in städtischen Kreisen junger Leute mit hohen Bildungsabschlüssen. Es ist also in den letzten Jahren rund um Gendern ein schichtenspezifischer Sprachgebrauch entstanden. 316 12 Gender in der Soziolinguistik <?page no="318"?> 12.11 Arbeitet die soziolinguistische Genderforschung intersektional? Knapp (2008) setzt sich mit der Frage auseinander, ob die zu dem Zeitpunkt seit zehn Jahren als neu proklamierte „intersektionale Geschlechterforschung“ tatsächlich neu sei. Für die Linguistik lässt sich dies klar verneinen. Von Beginn an wurde Gender nicht isoliert untersucht, sondern immer in lebensweltlicher Verschränkung mit anderen sozialen Kategorien. Oftmals stellt sich in der rekonstruktiven Forschung die soziale Schicht als wichtige Überschneidungsfläche heraus, aber nicht Klassenzugehörigkeit im Marxschen Sinne. Alter ist meist eine relevante Größe, sehr oft der berufliche Status, manchmal Ethnizität. Kelle (2008, 55) fordert zu Recht ein, an der Komplexität der Anforderung nicht zu verzweifeln. Denn immer drängt sich die Frage auf: Intersektion von was? Im Kontext der Intersektionalitätsdebatte gehe es fast immer um die Trias Geschlecht, Klasse, Ethnie, was deterministisch wirke (ähnlich auch Buddes Kritik 2013). Stattdessen sollte Intersektionalität als heuristische Kategorie gedacht und nicht als monolithisch gesetzt werden. So ist die linguistische Genderforschung an der Überlappung verschiedener Identitätskategorien zur Erklärung differenter Verhaltens‐ weisen schon lange interessiert, allerdings im Sinne einer offenen Rekonstruktion von deren Relevanz in bestimmten lebensweltlichen Ausschnitten (dazu auch Levon 2021). Es verwundert nicht, dass sich Genderstilisierungen in Katalonien anders gestalten als in Detroit oder Mannheim. Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden soziolinguistische Studien dargestellt, die mehr leisten, als Sprechweisen zwischen Standard und Nonstandard mit Schicht und Geschlecht zu kor‐ relieren. Solche Korrelationen werden seit den 1960ern vorgenommen. Viele Forsche‐ rInnen im englischsprachigen Raum sind darüber hinausgegangen, um spezifischere soziale Selbst- und Gruppenstilisierungen zu erfassen. So zeigen sich Sprechweisen als soziale Indices, die nicht nur auf Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Großgruppen verweisen. Daher rührt aber durchaus eine primäre Assoziation. Mädchen wie Jungen können sich mit Substandardsprechweisen als widerständig und cool inszenieren. Das bei Frauen in vielen Kontexten gefundene standardorientierte Sprechen resultiert nicht nur aus der Mutterrolle, sondern aus einem Gesamtkomplex der Semiotik von Feinheit, der sich auch in der Gestaltung des Äußeren und in Hobbys usw. zeigt. Genderisiertes Sprechen tritt immer in spezifischen Koartikulationen in Erscheinung. Meist verwenden junge und alte Menschen verschiedene Register und setzen sie mehr oder weniger unbewusst zur Prägung situativer Identitäten ein. Im deutschen Sprachraum wurden so weitgehende Rekonstruktionen einer sozialen Stilisierung am ehesten im Rahmen der interaktionalen Soziolinguistik erforscht. 12.11 Arbeitet die soziolinguistische Genderforschung intersektional? 317 <?page no="320"?> 1 Damit sind keine wissenschaftlichen Methoden gemeint, sondern Handlungsprinzipien, auf deren Verstehbarkeit wir uns in der Interaktion mit anderen verlassen. 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus 13.1 Dominanz und Unterordnung In der linguistischen Gesprächsanalyse, deren Beitrag zur Geschlechterforschung den Fokus dieses Kapitels bildet, sind viele Forscher/ innen an der Frage interessiert, wie sich in Gesprächen (a)symmetrische Beteiligungen herstellen. Ungleiche Rederechte oder Chancen, eigene Themeninitiativen auszugestalten, sind in bestimmten Kontex‐ ten beobachtbar. Eine solche Herstellung von Dominanz und Unterordnung kann unterschiedliche Gründe haben: Kompetenz- und Zuständigkeitsunterschiede bei den Interagierenden, Temperament, Alter oder auch Gender (und Kombinationen solcher Parameter). Die Gesprächsforschung wurde von der Ethnomethodologie und dem Sozialkonstruktivismus stark beeinflusst (wie auch in Kap. 1 und 2 dargelegt). In dieser Tradition geht man mit analytischen Interessen möglichst offen an Gespräche und andere Kommunikationsformen heran und versucht zu rekonstruieren, wie in einem Gesprächsausschnitt Mitglieder einer Gesellschaft im Alltag „methodisch“ 1 miteinander handeln, welche Aktivitäten dort mit bestimmten Beteiligungsstrukturen stattfinden und welche lokalen Identitäten die Interagierenden dabei relevant setzen. Gender kennzeichnet zunächst eine globale Identitätskategorie, die nicht per se ein bestimmtes Sprachverhalten nach sich zieht. Die Konversationsanalyse (dazu z. B. Gülich / Mondada 2006 und Birkner et al. 2020) beschreibt seit fast 50 Jahren Abläufe und Strukturen in Gesprächen. Rückgriffe auf die Arbeiten von H. Garfinkel oder E. Goffman durchziehen die Studien von Beginn an, auch die gesprächsanalytische Geschlechterforschung (z. B. West 1979; Trömel-Plötz 1982), wenngleich oft nicht sehr konsequent. Die genderorientierte Erforschung des Gesprächsverhaltens hat verschiedene Sta‐ dien durchlaufen. Robin Lakoff (1973) hat als erste darauf hingewiesen, dass die Art, wie viele Frauen reden würden, sie leicht unterdrückbar mache. Sie beschrieb introspektiv einen „weiblichen Stil“, der von Vorsicht, Höflichkeit, demonstrierter Unsicherheit und Bescheidenheit gekennzeichnet sei. Frauen würden eher Fragen stellen (auch mit Hilfe von Intonation und „question tags“) statt mit Behauptungen aufzuwarten, sie modalisierten ihre Äußerungen mit Adverbien wie irgendwie und oder so oder subjek‐ tivierenden Einleitungen von Typus Ich finde / meine / denke. Später folgten empirische Untersuchungen zur Überprüfung ihrer Hypothesen. Manches wurde bestätigt, viele Hypothesen jedoch nicht (dazu auch Günthner / Kotthoff 1991). Da sie meinte, der Stil der Männer sei durchsetzungsstärker, wurden ihre Ausführungen auf den Nenner einer „Defizithypothese“ gebracht. Frauen wurden in der Folge verschiedentlich auf‐ gefordert, ihren zurückhaltenden Stil aufzugeben. Zahlreiche „assertiveness trainings“ <?page no="321"?> entstanden, in denen Frauen Gesprächsstile des Erfolgs lernen und praktizieren sollten. Diese richteten sich am vermeintlich männlichen Verhalten aus (Weatherell 2002, 66). Allerdings ging Lakoff nicht davon aus, ein bestimmtes Geschlecht determiniere ein bestimmtes Gesprächsverhalten. Mit Determinationsmechanismen von „sex“ auf „gender“ wurde in der feministischen Gesprächsforschung nie argumentiert. Essenti‐ alistische Positionen dergestalt, dass aus einer a priori gegebenen geschlechtlichen Identität heraus ein bestimmtes Sprachverhalten erwachse, werden ihr erst später manchmal unterstellt (z. B. von Becker 2013, 5). Schon die feministische Linguistik der ersten Phase nahm an, dass Gesellschaften mit starker Geschlechterhierarchie diese auch auf der Ebene der Kommunikation absichern und als normal einspielen und dass Individuen in Gesprächen auch kulturell übermittelte Geschlechterstilisierungen zu erkennen geben. In Studien zu Fernsehdiskussionen (Trömel-Plötz 1984; Gräßel 1991), Paargesprä‐ chen (Fishman 1983) und Gruppengesprächen (West 1979) kam schnell der Befund auf, dass Männer sich häufig dominant verhalten. In kleinen Korpora hatte sich z. B. gezeigt, dass Männer Frauen mehr unterbrechen als umgekehrt und stärker ihre Themen durchziehen als Frauen. Weiterhin wurde angenommen, die Dominanz des Mannes stelle sich in der Kom‐ munikation kontextübergreifend immer auf ähnliche Weise her. Heute sehen wir hingegen deutlich, dass es kaum Gesprächsverhaltensweisen gibt, die kontextüber‐ greifend so oder so von Frauen und Männern unterschiedlich ausgeübt werden (Crawford 1995; Kotthoff 2006c). Jedes Geschlecht beherrscht eine ganze Bandbreite von Gesprächsstilen, die aber je nach Kontext unterschiedlich angewendet werden und den Kontext als solchen auch mitproduzieren (Hancock / Rubin 2015). Wir sprechen deshalb schon lange nicht mehr von einem „genderlect,“ da keinem Geschlecht ein bestimmter Gesprächsstil stabil anhaftet (Klann-Delius 2005, 11). Wenn in einem Kon‐ text Geschlechterunterschiede inszeniert werden, müssen diese empirisch-analytisch rekonstruiert werden können, d. h. an Phänomenen festmachbar sein. Mit Kreuzungen mit anderen sozialen Klassifikationen wie Schicht und Alter usw. rechnen wir von vorn herein (wie auch die Soziolinguistik, dazu Kap. 12). Kulick (1999) fasst einige Befunde dahingehend zusammen, dass Transgen‐ der-Personen sich stark an Lakoffs Introspektionen orientiert hätten. Männ‐ lich-zu-weiblich-Transidente (Transfrauen) würden in vielen Ratgebern den auf La‐ koffs Hypothesen zurückgehenden Hinweis erhalten, sich durch hohen Einsatz von Frage-Anhängseln und leeren Adjektiven wie lovely weiblich zu geben. In Autobiogra‐ fien von Transfrauen würde lang und breit auf die Mühe, auch im Sprachverhalten weiblich zu klingen, eingegangen. Dazu gehöre neben dem Einüben höherer Stimm‐ lagen auch das Praktizieren einer bewegten Intonation (Kap. 3). Diese Forschung deute an, dass solche Bemühungen um Genderstilisierung bei Transgender-Personen möglicherweise mitunter stereotyper ausfallen, als dies im sonstigen Alltag der Ge‐ schlechter der Fall ist. Zimman (2017) arbeitet mittels ethnographischer Forschung in transmaskulinen Gruppen in Kalifornien heraus, dass im Bereich der Stimme auch 320 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="322"?> 2 https: / / www.swr.de/ -/ id=20082186/ property=download/ nid=660374/ 1fc1x84/ swr2-wissen-2017 0921.pdf (Aufruf am 15. 08. 2018). bei Transpersonen von größerer kontextueller Vielfalt ausgegangen werden muss als sowohl Ratgeber und auch heteronormativ inspirierte Diskurse suggerieren (siehe Kap. 3). Stimmenrealisierungen gehen in Gesprächsstile ein, die von mehreren Parametern geprägt werden. Am Schluss des Kapitels gehen wir auch auf die Gestaltung des Äußeren ein, tritt doch der Mensch in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht mit der gesamten Semiotik seiner Selbststilisierung in Erscheinung. 13.2 Gesprächsstile und ihre Bewertung Über Verhaltensstile nehmen wir verschiedene Kategorisierungen und Selbstkategori‐ sierungen vor, die wir innerhalb einer Kultur angemessen interpretieren können. Stile sind Gestaltphänomene. Die Selbststilisierung der Geschlechter verläuft zunächst stark über die Gestaltung des Äußeren (Posch 1999; Eckert 2000). Das männliche Geschlecht stilisiert sich funktionsbetont, das weibliche Geschlecht nutzt Ästhetisierungsspiel‐ räume stärker. Normalerweise verfügen Männer und Frauen über ein gewisses stilisti‐ sches Repertoire, auch sprachlich und kommunikativ. Die stilistischen Repertoires der Mitglieder von Gesellschaften sind aber unterschiedlich und hängen primär von den ihnen zugänglichen Praxisfeldern ab, auch von den Praxisfeldern, worauf sie schon in ihrer Sozialisation vorbereitet werden. Auf kulturvergleichende Studien müssen wir verzichten und verweisen auf Günthner (1994) und Günthner / Kotthoff (1991). Die interaktionale Soziolinguistik (z. B. Gumperz 1982; Auer 2007; Lieberknecht 2012; Kotthoff 2012a) betont immer wieder, dass unterschiedliche Situationen auch sprach‐ lich von den daran Beteiligten durch den verwendeten Kommunikationsstil inszeniert werden. Wenn ein Kommunikationsstil beispielsweise sehr durchsetzungsstark ist, kreiert er den Kontext als einen hierarchischen. Bevor wir zu konkreten Phänomenen kommen, möchten wir auch darauf hinweisen, dass Verhaltensstile immer vor dem Hintergrund bereits existenter Erwartungen interpretiert und bewertet werden. Die im Folgenden referierten Untersuchungen zu gesprächsstilistischen Phänomenen zeigen in Bezug auf Gender nur schwache Konsistenz. Sehr hohe Konsistenz zeigen leider die auf der Folie der ersten Impressionen und Studien entstandenen Rhetorikratgeber, die sich primär an Frauen wenden, da sie deren Gesprächsstilistik zunächst als defizitär ausweisen. Titel wie „Das Führungsbuch für freche Frauen“ (Topf / Gawrich 2002) oder „Schlagfertigkeit für Frauen: Schnell, angemessen und intelligent kontern“ (Lüdemann 2007) sprechen für sich. Wir stimmen hier Hornscheidt (2012) zu, dier dazu in einem Interview im SWR 2 sagt: Diese Rhetorikkurse sind ein ganz wichtiges Medium, um Frauen kontinuierlich in diesem Gefühl zu halten, sie müssen noch mehr lernen, weil die wirklichen Normen sind, die werden 13.2 Gesprächsstile und ihre Bewertung 321 <?page no="323"?> dann auch nicht als männliche Normen bezeichnet, sondern das sind dann neutrale Normen, denen Frauen aber dann nicht gehorchen oder die Frauen dann nicht erfüllen. Frauen sind kontinuierlich in die Situation gebracht, immer mehr lernen zu müssen, sich immer ein bisschen mangelhaft oder ungenügend zu fühlen. Das postulierte „Defizit-Modell“ weiblichen Sprachverhaltens lässt sich kontextfrei kaum unterfüttern; es ist aber ein Geschäftsbereich entstanden, der sich für die Veranstalter/ innen solcher Unterweisungen zu lohnen scheint. 13.3 Unterbrechungen und andere Interventionen Unterbrechungen galten in der frühen feministischen Linguistik als kompetitiver Eingriff in das Rederecht von anderen (West 1979), als Zeichen von Machtausübung. Generell wird in der Konversationsanalyse die Überlappung von der Unterbrechung unterschieden, welche tiefer in die Struktur der laufenden Sprecheräußerung eingreift und darum als Verletzung des Sprecherwechselmechanismus betrachtet werden kann. Wenn eine Äußerung, deren Ende bereits syntaktisch, semantisch und prosodisch angebahnt wird, vom nächsten Sprecher überlappt wird, handelt es sich konversati‐ onsanalytisch betrachtet nicht um eine Unterbrechung. West / Zimmermann (1983) haben versucht, die Kontextsensitivität des „turn-ta‐ king“-Mechanismus vorzuführen, vor allem zur Herstellung von Rangordnungen zwischen Frauen und Männern. Generell folgen in Gesprächen die Redezüge aufein‐ ander und alle Beteiligten hören den aktuellen Beitrag auf einen eigenen Einsatz hin. Sacks et al. (1974) haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich in diesen generellen Ablauf Besonderheiten einschreiben können, die z. B. damit begründet sein können, dass die Interagierenden unterschiedliche Rederechte beanspruchen und auch zugebilligt bekommen. Generell ist unbestritten, dass das System des Sprecherwechsels zur Herstellung von Statusgefälle nutzbar ist. In ihrer Studie von 1983 fanden West / Zimmermann bei zufällig aufgenommenen, gemischtgeschlechtlichen Paaren 48 Unterbrechungen ihrer Definition. Davon kamen 46 von Männern. In ihrer zweiten Studie bei fünf Paaren von Unbekannten in einem Laborsetting fanden sie 75 % der 28 Unterbrechungen von Männern gemacht. Aus heutiger Sicht erscheint es allerdings unzureichend, Interventionen, welche nur zwei-drei Silben vom Äußer‐ ungsende der Vorrednerin entfernt sind, d. h. die Prognose auf eben jenes Ende zulassen, als Unterbrechung zu werten. Dazu kommt, dass die Intonation in den Studien von West / Zimmermann beinahe völlig ausgespart worden ist und es auch keine Angaben zu den Gesamtredezeiten der Beteiligten gibt. Es ist aber sehr wichtig, ob die Tonhöhe / Intonation einer Äußerung steigt oder fällt, weil im Zusammenhang mit Syntax und Semantik damit das baldige Ende der Äußerung signalisiert wird. In den Definitionen von West / Zimmerman ist auch nicht enthalten, ob die Unterbre‐ chung erfolgreich war; es wird nicht zwischen turnbeanspruchenden Signalen und Unterbrechungen unterschieden. Dies ist auch problematisch, denn wir praktizieren 322 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="324"?> in Gesprächen oft bestätigende Einwürfe wie „das ist ja kaum zu glauben,“ die gar kein weitergehendes Rederecht beanspruchen. Ihre Ergebnisse, dass die Männer in den Gesprächen durch ihre vielen Unterbrechungen so dominant gewesen seien, könnte man auch relativieren durch die Frage, ob die Frauen ihre Beiträge eventuell so gut expandiert haben, dass die Männer nur durch viele Versuche der Rederechtsanbahnung zu Wort gekommen seien. In den vielen Studien zu Unterbrechungen herrschen leider keine einheitlichen Definitionen derselben. Bevor Unterbrechungen quantifiziert werden, muss aber deutlich sein, was als solche überhaupt gewertet wird. Kotthoff (1993a) hat zum Oberbegriff „Intervention“ Subkategorien entwickeln, die man unterscheiden sollte, bevor Strategieinterpretation und Quantifizierung aus der Forschungsperspektive sinnvoll sind. Ihr Vorwurf an den Großteil der quantifizierenden Arbeiten betrifft eine unzureichende Kategorienentwicklung und zu vorschnelle Interpretation. Sie schlägt vor, drei Ebenen der Analyse von Interventionen zu unterscheiden: 1. eine rein technische Analyseebene, 2. eine Ebene erweiterter Lokalität und 3. eine globale Ebene der Diskursstrategien insgesamt. Sie vertritt die These, dass Interventionen nur unter Berücksichtigung anderer lokaler und globaler Kontextparameter interpretiert werden können. Arbeiten aus der Geschlechterforschung haben Dominanzverhältnisse oft zu schnell einzig an der Quantität unzureichend entwickelter Interventionstypen festgemacht. In ei‐ nem Korpus einiger Fernsehgespräche kann sie die These der Genderlastigkeit des Unterbrechens nicht bestätigen. Auch Ahrens (1997) arbeitet eine Binnentypologie von Unterbrechungen heraus, die nicht alle als Strategien der Dominanzherstellung gefasst werden können. Es spielt z. B. für die Interpretation eine große Rolle, ob man mittels Unterbrechung Zustimmung oder Ablehnung des vorherigen Beitrags ausdrückt. Bereits ein kritischer Einwurf vom Typ „das sehe ich aber anders“ meldet ein starkes Redeinteresse an im Unterschied zum bestätigenden Einwurf. James / Clarke (1993) haben alle zwischen 1965 und 1991 durchgeführten Untersuchun‐ gen zum Zusammenhang von Unterbrechung und männlicher Dominanzherstellung durchgeforstet und kommen zu dem Schluss, dass die meisten weder in gleichnoch in gemischtgeschlechtlichen Gesprächen einen signifikanten Unterschied in der Zahl der Unterbrechungen gefunden haben. Tannen (1993) betont außerdem, dass nicht jede Unterbrechung als Dominanzsignal gewertet werden kann. Im Kontext anderer Verhaltensformen müssen bestimmte Unterbrechungstypen z. B. als Signale von hoher Involviertheit interpretiert werden. In diesem Bereich liegt ein beträchtliches interkulturelles Irritationspotential. Das‐ sieu (2012) geht solchen interkulturellen Unterschieden nach. Sie analysiert deutsche 13.3 Unterbrechungen und andere Interventionen 323 <?page no="325"?> 3 Man muss sich solche Operationalisierungen in jeder Studie genau anschauen. Aus Platzgründen können wir das hier nicht leisten. und argentinische Gespräche und solche von argentinischen Lernenden des Deutschen in Bezug auf Unterbrechung und Überlappung (die Hälfte der Teilnehmenden war je‐ weils männlich und weiblich). Sie prüft die Hypothese, dass im argentinischen Spanisch eine höhere Toleranz für Überlappungen herrscht als im Deutschen und dass dieses Gesprächsverhalten auf die Fremdsprache übertragen wird. An den fünf einstündigen Gesprächen nehmen argentinische Studierende teil, die noch nie in Deutschland waren, bei denen also ein argentinisch geprägtes Sprachverhalten erwartet werden kann, dann Gruppen mit SprecherInnen der Vergleichssprachen (Kontrollgruppen) und Gruppen mit mehr Kontakt nach Deutschland. Sie kreiert einen informellen Gesprächsanlass, der vergleichsgeeignete Gespräche verspricht. Vier Arten von Überlappung wurden untersucht (Unterbrechung, Einwurf, Rezipienzsignal, Simultanstart). Sie quantifiziert dann nach den angeführten Kategorien und kann ihre Hypothesen bestätigen. In der deutschen Gruppe findet sie in dem Zeitraum nur wenige Überlappungen, in den beiden argentinisch geprägten hingegen viele; die Lernergruppen mit viel Kontakt nach Deutschland liegen im Mittelfeld. Unterbrechungen sind also kulturell unterschiedlich stark als normal eingespielt oder sind sogar Ausdruck hoher Involviertheit (dazu auch Ulijin / Li 1995). Unterbrechen ist deshalb nicht immer als Machtstrategie zu werten. Im Zusammenhang der traditionell hierarchischen Ärztin-Patient-Kommunika‐ tion sind sehr viele Studien zum Unterbrechen durchgeführt worden (Cerny 2010). Pe‐ ters’ (2008) Untersuchung von 100 aufgezeichneten Praxiskonsultationen in Deutsch‐ land zeigt, dass die Ärzte und Ärztinnen ihre PatientInnen sehr oft unterbrechen (etwa doppelt so oft wie umgekehrt). Dies schreiben sie nicht nur dem Macht- und Kompe‐ tenzgefälle zu, sondern auch dem hohen Zeitdruck der MedizinerInnen. Ärzte hätten oft ein starres Anamneseschema im Hinterkopf und würden Patientenausführungen unterbrechen, weil sie die geschätzte Ursache der Symptome gezielt erfragen wollten (Peters 2008, 94). Lalouschek (2002, 170) fand in ihren Aufnahmen von Arzt-Patient-Ge‐ sprächen viele Überlappungen bei gleichzeitigem Redebeginn (Simultanstarts), was sie so interpretiert, dass die Ärztin ihr Frageschema durchbringen möchte und die Patientin sich über ihr Leiden und dessen Konsequenzen äußern möchte. Trotzdem sehen Peters (2008) und Lalouschek (2002) die so inszenierte Dominanz sehr kritisch. Cerny (2010) untersucht 50 medizinische Interviews aus dem British National Corpus auf Unterbrechungen hin und fand 290. Er unterscheidet neutrale, kompetitive, engagierte und Macht demonstrierende (ebd., 5) 3 . Am stärksten ist der Typus vertreten, der engagiert wirkt und Verbundenheit ausdrückt. Die Ärzte haben 12 Macht demons‐ trierende Unterbrechungen verwendet und die Patienten nur zwei. Insgesamt betont Cerny am Schluss des Artikels, dass die Dominanzstrategien in den medizinischen Konsultationen in den letzten Jahren abgebaut wurden. Er fasst auch einige andere und frühere Studien zu Unterbrechungen zusammen, deren Ergebnisse unterschiedlich sind. Hancock / Rubin (2015) testen in einem Korpus von 20 männlichen und 20 weibli‐ 324 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="326"?> chen Teilnehmenden in dreiminütigen Gesprächen mit einem Partner / einer Partnerin verschiedene Hypothesen zum genderisierten Sprachverhalten, darunter auch die in den Anfängen der feministischen Linguistik aufgekommene These der hohen Unterbrechungsfrequenzen aus männlichem Mund, besonders gegenüber Gesprächs‐ partnerinnen. Sie fanden keine starken Sprachverhaltensunterschiede, allerdings doch, dass Männer und Frauen Gesprächspartnerinnen etwas mehr unterbrachen als die jeweiligen Partner. In Verhandlungen vor dem Obersten Gericht der USA stellen Jacobi und Schweers (2017) deutlich mehr kompetitive Unterbrechungen gegenüber Richterinnen und Staatsanwältinnen fest als gegenüber den männlichen Juristen. Hier geht es um Sieg oder Niederlage der verhandelten Rechtsfälle; der Kontext ist somit hochkompetitiv. Gender interagiert hier mit der ideologischen Verortung der Jurist*innen. Republikaner unterbrechen oft den Demokraten nahestehende Juristinnen. Langjährige Berufserfah‐ rung zeigte sich als weiterer Faktor des genderlastigen Unterbrechens, das weibliche Berufsneulinge besonders stark trifft. Je kontroverser der Fall, umso mehr wird unterbrochen. Abschließend bleibt festzuhalten, dass doing masculinity kaum durch häufiges Un‐ terbrechen bewirkt wird. Insgesamt belegen diese Studien, dass Unterbrechungen nicht über einen Kamm geschlagen werden können. Sie können Status und Domi‐ nanz ausdrücken, aber auch hohe Involviertheit ins Gespräch. 13.4 Redezeiten Ein gängiges Stereotyp in der westlichen Welt sieht Frauen als redseliger als Männer („Ein Mann, ein Wort, eine Frau, ein Wörterbuch“). Verschiedene Studien haben hingegen herausgestellt, dass in öffentlichen Zusammenhängen eher die verbale Selbstdarstellung der Männer Zeit raubt. James / Drakich (1993b) haben 63 Studien dazu ausgewertet, die zwischen 1951 und 1991 erschienen sind, der Großteil davon in den USA. Für formale, aufgabenzentrierte Interaktionen bestätigte sich, dass Männer höhere Redezeiten belegen, nicht jedoch für private Kontexte der Unterhaltung. In den formalen Zusammenhängen hatten die Männer häufig einen höheren beruflichen Status inne als die Frauen. Dieser wird durch hohe Redezeiten, die u. a. der Kompe‐ tenzdarbietung dienen, bestätigt. Der Faktor Geschlecht interagiert wie so oft mit dem Faktor Status. Verschiedene Forscher/ innen (Holmes 1992; Kotthoff 1992a; 1993b) zeigen, dass in Seminaren, Fernsehdiskussionen, Konferenzen - dort also, wo das Reden statu‐ saufbauend ist - Männer hohe Redezeiten beanspruchen, oft in Form expositorisch dargelegter Beiträge. Frauen hingegen tragen mehr bei in weniger formellen Kontexten und ihre kürzeren Beiträge erleichtern exploratives Sprechen (Edelsky 1984; Holmes 13.4 Redezeiten 325 <?page no="327"?> 1992). Ihr Redestil dient eher der kooperativen Erarbeitung von Themen, an der auch die Gesprächspartner teilhaben. Tannen (1991) geht deshalb von der idealtypischen Unterscheidung von männlich assoziierter Statusorientierung vs. weiblich assoziierter Beziehungsorientierung aus, die sie fortlaufend am Werk sieht. Da sie beiden Stilen Berechtigung zuschreibt, werden ihre Interpretationen auf den Nenner „Differenzhy‐ pothese“ gebracht. Die Redezeit der Frauen wird stärker als die der Männer mit vielen Hörersignalen, Modifikationen beim Widersprechen und unterstützenden Kommenta‐ ren ausgefüllt; sie dient somit eher der Dialogsicherung als der Selbstdarstellung. Gräßel (1991) hat in der Untersuchung von fünf Fernsehgesprächen, bei denen Männer und Frauen annähernd gleich vertreten waren (es dauerte ein halbes Jahr, solche zu finden), festgestellt, dass mehr Redezeit, eine größere Anzahl von Redebei‐ trägen, Unterbrechungsversuchen und Unterbrechungen eher statusbedingt waren als im schlichten Sinne geschlechtsbedingt. Hier gilt wie so oft: Gender interagiert mit anderen sozialen Kategorien. Das trifft auch auf die von Peters (2008) belegte höhere Redezeit der Ärzte und Ärztinnen in ihren Anamnesegesprächen zu. Im großangelegten neuseeländischen Wellingtoner „Language in the Workplace Project“ (Holmes / Stubbe 2003) wurden Redezeiten bei Arbeitsbesprechungen und Sitzungen nach Status und Geschlecht verglichen. Auch hier korreliert Status mit langen Redezeiten während der Treffen. Die Gruppe um Janet Holmes verglich auch Team-Besprechungen in weiblich und männlich dominierten Arbeitsfeldern und fand keine signifikanten Unterschiede in den Redezeiten weiblicher und männlicher Vorsitzender. 13.5 Fragen und Rezeptionskundgaben 13.5.1 Fragen Seit Robin Lakoff in ihrer Abhandlung zu „Language and woman’s place“ (1973) die These vertreten hatte, Frauen würden mehr Fragen stellen und Männer mehr Behauptungen, Feststellungen und Aufforderungen aussprechen, wurde dieser These verschiedentlich nachgegangen. Fragen sind aber zu komplex, um ihrem Einsatz eine schlichte Geschlechterpräferenz zu unterstellen. Sie können im Sinne von Satzmodus bzw. Satzart nicht nur in Fragefunktion, sondern auch in anderen Funktionen wie z. B. Aufforderungen oder Vorwürfen eingesetzt werden (Rost-Roth 2011). Umgekehrt können Fragefunktionen auch durch andere Satzarten und Modi wie z. B. Aussagemodus (etwa über Formulierungen wie ich möchte fragen, …, ich weiß nicht, ob-…) realisiert werden. Aufgrund der Komplexität des Form-Funktions-Verhältnisses sind Genderpräferenzen in diesem Bereich von vorne herein kaum erwartbar. Lakoff hatte die Neigung zum Fragen mit einem Mangel an Selbstvertrauen in Verbindung gebracht. Indirekte Sprechakte in Frageform wie „Kannst Du mal die Tür schließen? “ und Äußerungen mit Rückversicherungspartikeln vom Typ „Das war ein guter Film, nicht wahr? “ seien höflicher und eher typisch für Frauen, 326 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="328"?> 4 Auch bei diesem Thema ist die Komplexität zu hoch, um hier adäquat eingeführt werden zu können. In Becker (2013) finden sich weitere Diskussionen des Forschungsstandes. direkte Aufforderungen der Art von „Schließ die Tür“ seien eher typisch für Männer. Fishman (1983) konnte den wenig binnendifferenzierten Befund in ihrer Studie zur Paarinteraktionen bestätigen. Von 370 Fragen, die in zwölfeinhalb Stunden gestellt worden waren, stammten 263 von Frauen. Fishman meinte, Frauen würden Fragen zur Themeneinführung nutzen, da diese unbedingt eine Reaktion elizitieren. Ihre sonstigen Themeneinführungen würden oft übergangen. Auch in Schmidts (1988) Analysen des Gesprächsverhaltens in studentischen Arbeitsgruppen stellten die Studentinnen mehr Fragen als die Studenten, u. a. als Formen expliziter thematischer Bezugnah‐ men. Holmes (1992) stellt klar, dass auch Fragen mit Rückversicherungspartikeln viele verschiedene Funktionen erfüllen. Außerdem unterscheiden sich die Funktionen sprachspezifisch. Anhängsel der epistemischen Modalität zeigten durchaus oft Unsi‐ cherheit, während es aber auch sehr herausfordernde Fragetypen mit „question tags“ gebe und auch einfach solche, die dem Hörer eine Reaktion nahelegten. Coates (1993) schreibt über Gespräche unter Frauen, dass auch hier Fragen mit unterschiedlichen funktionalen Implikationen gestellt würden: um Informationen einzuholen, um eine Person ins Gespräch zu ziehen, um eine Aussage abzuschwächen, ein neues Thema einzuführen und Expertenstatus zu vermeiden. All diese verschiedenen Funktionen spielen generell im Bereich des Fragens eine Rolle. 13.5.2 Rezeptionskundgaben Von Beginn der interaktionslinguistischen Genderforschung an gab es auch die These, Frauen würden ihrem Gegenüber mehr kundtun, dass sie seiner Rede folgen. Diese im Englischen oft „backchanneling“ genannten Kundgaben eines aktiven Zuhörens sind für die RednerInnen in der Regel positiv. Mit solchen Hörersignalen wird kein Redezug beansprucht, meist sind diese kurz (mhm, okay, ja, ach so usw.). 4 Schmidt (1988, 58-71) hat im Rahmen ihrer Studie zum geschlechtsspezifischen Sprachverhal‐ ten eine Formtypenunterscheidung vorgestellt. Rückmeldungspartikeln (mh, ja …), idiomatische Zeichenkombinationen (ach so, ah ja …), komplettierende Zeichen und Zeichenkombinationen (Gleiches zur gleichen Zeit sagen, Worthilfen, nicht gefor‐ derte Wortergänzung, vorgezogene Wortergänzung, modifizierende Wortergänzung, gedanklich weiterführende Ergänzung) und Satz-Zeichen (wertende Kommentare und metakommunikative Äußerungen - z. B. das find ich gut). In ihrem Korpus studentischer Examensvorbereitungsgruppen bekundeten die Studentinnen ihre aktive Rezeption tatsächlich stärker. Reid (1995) hat in Australien weibliche, männliche und gemischte Paare von jungen SoldatInnen video- und audioaufgezeichnet. Insgesamt findet sie tatsächlich bei den Soldatinnen im Gespräch miteinander den höchsten Einsatz von Rezeptionskundga‐ ben, unter den Soldaten den geringsten. Im gemischten Gespräch gleichen sich die 13.5 Fragen und Rezeptionskundgaben 327 <?page no="329"?> Geschlechter aneinander an. Sowohl die Soldaten als auch die Soldatinnen gaben am meisten Hörersignale von sich, wenn sie mit der statushöheren Autorin Reid sprachen. Der Faktor Status stellte sich hier wieder neben Gender als gewichtig heraus. Becker (2013) hat in einer kleinen Studie 12 mehrminütige Dialoge untersucht, in denen eine Person (Studierende) Wege auf einer Karte zu erläutern hatte. Insgesamt verwendeten die Studentinnen etwas mehr Rezeptionskundgaben (etwa ein Signal mehr pro Minute). Die Studentinnen unterstützen die männlichen Instruktoren stärker mit ihren Hörersignalen als die weiblichen. Männliche Zuhörer einer Erläuterung durch eine Studentin bestätigten diese weniger durch Rezeptionskundgaben als gleichgeschlechtliche Kollegen. Das kleine Korpus erlaubt zwar keine statistische Auswertung; die Ergebnisse sind aber interessant. 13.5.3 Das Modell der kulturellen Differenzen Die beiden oben vorgestellten Bereiche des Fragens und der Signalisierung von Rezeption wurden von Maltz / Borker (1982) zum Anlass genommen, eine typisch männliche Gesprächsstilistik und eine typisch weibliche voneinander nicht nur zu unterscheiden, sondern weiterhin davon auszugehen, dass in der Begegnung der Geschlechter Missverständnisse produziert würden, die denen aus interkulturellen Begegnungen glichen (s. auch Kap. 11). Gumperz (1982) hatte darauf aufmerksam gemacht, dass Mitglieder unterschiedlicher Kulturen ihre Verhaltens- und Interpreta‐ tionsgewohnheiten in der Regel beibehalten. Wer daran gewöhnt ist, Widerspruch direkt auszudrücken, nimmt unter Umständen den sehr indirekt ausgedrückten gar nicht wahr. Ähnlich meinten Maltz / Borker, Männer würden die starke weibliche Rezeptionskundgabe für inhaltliche Zustimmung halten. Sie, die unter Männern so viel vermeintlichen Zuspruch nicht gewöhnt sind, fühlen sich dann von Frauen thematisch stark unterstützt und okkupieren gleich mehr Redezeit, weil das weibliche Gegenüber ihre Ausführungen offenkundig für sehr interessant hält. Schon liegt ein interkulturelles Missverständnis vor. Die Frau wundert sich, warum der Mann so viel redet und bemerkt nicht, dass er sich von ihr angestachelt fühlt. In ihrem populärwissenschaftlichen Buch „Du kannst mich einfach nicht verstehen“ (1991) vertrat auch Tannen diesen Ansatz. Der Ansatz setzt allerdings eine viel zu starke Se‐ paratheit gleichgeschlechtlicher Kommunikationssituationen voraus (Günthner 1992; Weatherall 2002, 70). Außerdem sind die Befunde zur Frequenz der meisten gesprächs‐ stilistischen Verfahren gar nicht besonders different und vor allem variieren sie stark mit dem Faktor Status, wie Frank (1992, 143 ff.) und Crawford (1995) bereits gezeigt und argumentiert hatten. Crawford (1995) und Ayaß (2008) weisen darauf hin, dass gerade dieser Ansatz ein populäres Denken über Gendermythen befördert hat, worauf Bestseller wie Grays (1992) „Men are from Mars, women are from Venus“ ihre Sicht der extrem differenten Verhaltens- und Sichtweisen von Frauen und Männern basieren können. 328 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="330"?> 13.6 Direktheitsstufen bei Direktiva Als Direktiva gelten Sprechhandlungen, mit denen versucht wird, jemanden zu veran‐ lassen, etwas zu tun. Die linguistische Pragmatik geht davon aus, dass wir besonders bei Aufforderungen und Anordnungen Direktheitsstufen unterscheiden können - vom unabgeschwächten Imperativ (Mach das! ) bis zur Bitte in Frageform mit Modalpartikel (Kannst Du das mal machen? ) oder Andeutung (Das Geschirr steht noch herum.) ( Brown / Levinson 1987). Des Weiteren geht sie davon aus, dass die eingesetzten Direktheitsstufen mit der sozialen Beziehung der Interagierenden zu tun haben, mit dem Rang der Interagierenden, dem Gewicht der Zumutung und der Vertrautheit der Interagierenden. Goodwins bereits erwähnte Studie (1990) basiert auf Audioaufnahmen zwischen afroamerikanischen Jungen und Mädchen aus der Arbeiterschicht (zwischen 9 und 14 Jahren) beim Spielen in einer städtischen Nachbarschaft. Ihre Analyse zeigt, dass die Jungen wesentlich höhere Direktheitsformen bei Aufforderungen verwenden, sehr oft reine Imperative vom Typ: Gib die Schere her oder Hau da ab. Im Gegensatz dazu finden sich bei den Mädchen mehr modalisierte Formen mit let’s x, Modalverben im Konjunktiv („we could / you could“) und abschwächende Adverbien vom Typ perhaps. Die Jungen errichteten auf diese Weise unter sich eine eher hierarchische Sozialstruk‐ tur, die Mädchen eher eine egalitäre. Einer direkten Aufforderung wird oft ebenso direkt widersprochen. Schon entsteht ein kleiner Machtkampf. Die unter den Mädchen verbreiteten modalisierten Arten des Aufforderns laden stärker zu Aushandlungen ein. West (1993) hat sich mit Anordnungen von Ärzten und Ärztinnen gegenüber Pati‐ ent/ inn/ en beschäftigt. Die Daten zeigen, dass erstere hauptsächlich unabgeschwächte Imperative, Notwendigkeitsaussagen, Willensbekundungen und andere starke Direk‐ tiva verwenden. Sie erreichen damit aber nur eine schwache Kooperation der Patien‐ tInnen, was in der Studie auch erfragt wurde. Die Ärztinnen äußern eher Vorschläge, woraufhin die PatientInnen oft Formen von Einverständnis zeigen. Die Ärztinnen erreichen mit ihren höflicheren Vorschlägen insgesamt die bessere Kooperation mit den Patient/ inn/ en. McCloskey / Coleman (1992) finden in einer Studie über 8bis 9-jährige Kinder aus der Unterschicht beim Schachspiel mehr unmodalisierte Direktiva von Jungen gegenüber Mädchen. Klann-Delius (2005, 110) fasst weitere Studien zusammen, die in unterschiedlichen Kontexten belegen, dass Jungen Aufforderungshandlungen direkter vollziehen. Das scheint also ein Genderindex zu sein. Gleason (1987) findet bei der Beobachtung mütterlichen und väterlichen Verhaltens zu Hause, dass die Väter doppelt so viele direkte Imperative produzieren, und dies besonders gegenüber ihren Söhnen (195). Die Metaanalyse von Leaper (2014a) bestätigt, dass Mütter gegenüber ihren Kindern weniger unmodalisierte Direktiva einsetzen als Väter. In der Arbeitswelt sind die Ergebnisse der Studien allerdings gemischter. Mullany (2007) untersucht in zwei großen englischen Firmen die Art, wie die männlichen und weiblichen Angestellten auf unterschiedlichen Stufenleitern der Hierarchie Direktiva äußern. Normalerweise setzen sie dabei eine große Bandbreite an Abschwächungs- 13.6 Direktheitsstufen bei Direktiva 329 <?page no="331"?> und Modalisierungsstrategien ein. In 70 Gesprächsausschnitten kann sie zeigen, dass vor allem Statushöhere beim Auffordern eher ein traditionell mit Frauen assoziiertes, herunterspielendes Verhalten zeigen, das mit Humor und Subjektivierungen durchzo‐ gen ist. Gehen wir über zur Betrachtung größerer Verhaltenskomplexe. Wir halten fest, dass bei den bislang betrachteten Phänomenen nur für die Direk‐ tiva in den meisten untersuchten Kontexten eine Genderpräferenz nachweisbar zu sein scheint. Verstärktes Unterbrechen und Einnehmen von viel Redezeit gehen oft mit der Kommunikation von Status einher; Rezeptionskundgaben und Unter‐ stützung der Themeninitiativen der Gesprächspartner zeigen einen dialogorien‐ tierten Gesprächsstil, der nicht durchgängig genderisiert ist. An keinem dieser Einzelphänomene kann doing gender direkt festgemacht werden. Im nächsten Un‐ terkapitel wird deutlich, dass zum einen größere Verhaltenskomplexe wie die Kommunikation von Expertenstatus genderisiert sind und zum anderen gleiches kommunikatives Handeln von Frauen und Männern für die Erstgenannten un‐ günstiger bewertet wird. 13.7 Rahmung von Autorität, Expertentum und Kompetenz Interaktionen in der Berufswelt und im öffentlichen Leben sind in hierarchische Strukturen eingebettet. Bis auf den heutigen Tag sind Männer in allen Gesellschaften innerhalb dieser Hierarchien höher platziert. Die Arbeitswelt stellt für Frauen eine besondere Herausforderung dar, da sie erst seit dem letzten Jahrhundert prinzipiell dort alle Hierarchieebenen erreichen können. Die feministische Forschung ist sich darüber einig, dass Aufstiegsschwierigkeiten von Frauen u. a. mit Kommunikationsweisen und deren Bewertung zu tun haben. Die Zuschreibung von Kompetenz und Autorität ergibt sich nicht von selbst, sondern hat mit der kommunikativen Selbstdarstellung von Menschen zu tun und mit Traditionen der Wahrnehmung derselben. Erste Studien zur Rahmung von Kompetenz und Expertentum förderten auffällige Geschlechtermuster zutage. Leet-Pellegrini (1980) hatte mehrere Zweiergruppen zu dem Thema „Gefahren des Fernsehens für Kinder“ diskutieren lassen. Jeweils eine Person aus der Konstellation hatte sie vorher zum Experten für das Thema gemacht. Sie hatte ihr vorher Informationsmaterial zum Lesen gegeben. Typischerweise wirkte sich das Kompetenzgefälle in den Gesprächen so aus, dass die informierte Seite mehr redete, mehr Unterthemen einführte und mehr unterbrach. Die uninformierte Seite stellte mehr Fragen und gab Hörersignale von sich. Experten bekommen klassischerweise mehr Redezeit und sie definieren Themen und Standpunkte und vermitteln diese. Dieses Muster zeigte sich in der Frau-Frau-Konstellation und in der Mann-Mann-Kon‐ stellation. Die Asymmetrie war sehr auffällig, wenn der Mann der Experte war und 330 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="332"?> die Frau die Laiin. Interessanterweise zeigt sich das typische Muster einer Laien-Ex‐ perten-Interaktion nicht, wenn die Frau die Expertin war und der Mann der Laie. In dieser Konstellation entwickelten beide Seiten Aktivitäten zum Ausgleich des Gefälles. Das Expertin-Laien-Gefälle schien zur Frau-Mann-Konstellation nicht zu passen. Die Frau trat dem Mann gegenüber nicht deutlich als Expertin auf. Er bestätigte sie auch nicht in der Rolle, indem er ihr kaum Fragen stellte, sie somit also nicht zur Ausbreitung ihres Wissens einlud. Sie teilte sich mit ihm die Redezeit mehr oder weniger gleich. In den achtziger und neunziger Jahren zeigten viele weitere Studien, dass Männer eine stärkere Kompetenzdarstellung betreiben und sich mehr als Autorität inszenieren (Schlyter 1992; Kuhn 1992). Tannen (1994) fasst Studien zu Kommunikationsformen von Managern und Manage‐ rinnen zusammen, die den Stil der Managerinnen als persönlicher und unterstützender, den der Manager als autoritärer, mehr auf Status und auf Durchsetzung bedacht, charakterisieren. Offenes Konkurrieren, Aggression, Slang-Ausdrücke, Fluchen und Witzeln spielen im Sprechstil der Manager eine wichtige Rolle. In verschiedenen großen Firmen stellt sie fest, dass Frauen und Männer ihre Redebeiträge anders rahmen. Die Männer benutzen für die Diskussion ihrer Ideen eher Oppositionsformate, die Frauen verbinden ihre neuen Ideen eher mit solchen, die bereits im Raum sind. Auf die Redebeiträge der Männer wird von anderen mehr Bezug genommen. Anschlüsse an Vorredner/ innen über Widerspruch scheinen mehr Prestige zu generieren. Die Ergebnisse der bereits genannten Untersuchung von Schmidt (1988) zum geschlechtstypischen Kommunikationsverhalten in studentischen Arbeitsgruppen belegen ebenfalls ein unterschiedliches Umgehen mit Vorgängeräußerungen. Die Kommunikationsteilnehmerinnen berücksichtigen in weitaus stärkerem Maße als die männlichen Teilnehmer die thematische Ausrichtung der jeweils vorhergegangenen Äußerungen. Der Effekt einer stärkeren Kohäsion zeigt sich besonders ausgeprägt in den gleichgeschlechtlichen Diskussionsgruppen. Die in den Studien zu Tage geförderten Unterschiede verweisen darauf, dass Männer im öffentlichen Raum traditionell schon immer zu Hause waren und sich von Kindesbeinen an gegenseitig in den dort herrschenden Stil von Selbstdarstellung und Kompetition hineinsozialisieren. Verschiedene Analysen von Fernsehdiskussionen im deutschsprachigen Raum zei‐ gen, dass bei unterschiedlichen Themen für Frauen eher Betroffenenrollen hergestellt werden und für Männer die statushöhere Rolle des Experten für die anstehenden Fragen, auch bei ähnlicher Kompetenz im Gegenstandsbereich (Kotthoff 1992a, 1997). Die Herstellung dieser Asymmetrie ist folgenreich für die entstehende soziale Mikro‐ ordnung der Diskussion. Experten bekommen klassischerweise mehr Redezeit und sie definieren Themen und Standpunkte und vermitteln diese. Die Herstellung des geschlechterbezogenen Gefälles ist durch und durch interaktiv, d. h. Männer agieren von vorn herein als Experten, indem sie z. B. ihr Wissen ausführlich darlegen. Frauen erzählen eher von ihren Beobachtungen oder persönlichen Erfahrungen. Beiden 13.7 Rahmung von Autorität, Expertentum und Kompetenz 331 <?page no="333"?> Geschlechtern werden diese Rollen aber auch von anderen Teilnehmenden nahegelegt, z. B. von ModeratorInnen. Auch als Patient/ inn/ en gestalten Männer und Frauen den Arztbesuch nicht gleich. Menz et al. (2002) berichten, bei Männern diene die Darstellung von chronischem und vielfältigem Krankheitserleben häufig einer Selbstdarstellung als „Experte“, also als gut Informierter über das Krankheitsthema, Medikationen und therapeutische Maßnahmen, sowie der Selbstdarstellung als „Insider“, also auf Augenhöhe mit dem Personal und erfahren mit den Abläufen in Krankenhäusern. Die Relevantsetzung des Schmerzerlebens diene Männern ebenfalls öfters zu ihrer Selbstdarstellung als gut informierte Patienten, stärker aber der Darstellung des Besonderen und des Ernstzunehmenden ihrer Erkrankung. Frauen zeigen sich eher als von einer Krankheit betroffen. Ladegaard (2011) hat das Sprachverhalten von Managern und Managerinnen in zwei großen dänischen Mineralunternehmen miteinander verglichen. Er stellt zuerst heraus, dass in der Wirtschaftswelt das Stereotyp eines CEO männlich assoziiert sei. Er stellt dann vor allem die konversationellen Stile von zwei weiblichen und zwei männlichen „General Managers“ in verschiedenen Kontexten einander gegenüber, in denen er Interaktionen aufzeichnen konnte. Auch die beiden Männer geben nur selten unabgeschwächte Imperative von sich. Alle vier verwenden hochfrequent ein inklusives „wir“, wenn sie Anweisungen erteilen (also Direktiva äußern), stellen Fragen und setzen Modalverben und modalisierende Adverbien ein (Ihr könntet das vielleicht mal kopieren statt Kopiert das). Beide Geschlechter präferieren diesen modalisierten Stil, der sich konziliant gibt. Bedeutsame Unterschiede sieht Ladegaard aber in den Reaktionen der untergeordneten Angestellten darauf. Er zeigt an Transkripten, wie männliche Angestellte die modalisiert vorgebrachten Aufforderungen der Managerin‐ nen herausfordern und hinterfragen. Paradoxerweise sind die beiden Manager mit ihren modalisierten Anweisungen sehr erfolgreich, jedenfalls erfolgreicher als die Kolleginnen. Hier komme ein „double bind“ zum Tragen, auf das in der Forschung oft hingewiesen wird (z. B. bei Holmes 2006a, 210). Wenn sich die Frauen sehr durchsetzungsstark geben, hält man sie für unweiblich, geben sie sich wenig autoritär, wird ihre Autorität auch tatsächlich herausgefordert und angezweifelt. Uns sind keine ähnlichen Untersuchungen aus der deutschen Firmenwelt bekannt. Lieberknecht (2012) hat das Sprachverhalten in kommunalpolitischen Gremien untersucht, vor allem auch Themenverhandlungen und Kommunikationsstilistik der Kommunalpolitikerinnen einer sog. „Frauenliste“ bei deren Treffen. Sie arbeiten sich an Diagnosen über ihr eigenes Verhalten ab z. B. Frauen sind immer so vornehm und analysieren gemeinsam, worin ihre als „falsche Zurückhaltung“ bezeichnete Verhal‐ tensstrategie in den offiziellen Gremien besteht. Zuschreibungen von Diskriminierung an die männlichen Politiker (113) und selbstkritische Bestandsaufnahmen, die Frauen ließen den Männern nicht nur den Vortritt, sondern würden ihnen auch noch zum Aufstieg verhelfen, werden in der Gruppe debattiert. 332 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="334"?> Aus Universitäten ist bekannt, dass die Professorinnen auf allen Ebenen im Durch‐ schnitt niedrigere Gehaltsforderungen stellen (Bohnet 2017). Dazu gibt es zwar keine gesprächsanalytischen Studien, aber solche von VerhaltensökonomInnen wie Bohnet, die zum einen die wenig erbaulichen Vergleichszahlen präsentieren und zum anderen auf die oftmals zu bescheidene Selbstpräsentation in den Gehaltsverhandlun‐ gen hinweisen. Fordernde Frauen würden an Sympathiewert einbüßen, heißt es bei Bohnet (2017). Sie gibt praktische Tipps, wie sich damit institutionell besser umgehen ließe. Sie schiebt also den schwarzen Peter von den Frauen weg hin zur Institution. Denn die Institutionen müssen Wege des gerechten Einbezugs von Frauen auf allen Hierarchieebenen finden. Wir finden bis heute in Studien unterschiedlicher Machart eine Glorifizierung des Konkurrierens. Niessen-Ruenzi / Ruenzi (2018) fassen experimentelle Studien zusammen, die für Frauen Zurückhaltung in Wettbewerbssituationen belegen, bzw. für Männer eine höhere Wettbewerbsbereitschaft. Das ist zweifelsohne schon für die Kinderkommunikation belegt (s. Kap 11). Die weniger ausgeprägte Konkurrenzpräfe‐ renz der Frauen wird als Schwäche behandelt, an der die Frauen (wieder einmal) arbeiten sollen. Da zeigt sich durchaus eine ideologische Voreingenommenheit dieser Studien aus dem Fach „Corporate Governance.“ Dabei kennen wir neurobiologische und psychosomatische Forschung wie die von Bauer (2015), die herausarbeitet, wie dramatisch sich das Unterschätzen von Kooperationsprinzipien besonders in der Arbeitswelt auswirkt. In der Geschlechterforschung kommen wir mit unreflektierten Übernahmen neoliberaler Grundeinstellungen nicht weiter. In der Linguistik wissen wir, dass Kooperation die Grundlage der Kommunikation ist. In Sachen Einschätzung von Expertentum ist derzeit Forschung aus dem an‐ gelsächsischen Raum zu universitären Evaluationen von Lehrveranstaltungen sehr aufschlussreich, die belegt, dass die studentischen Beurteilungen von Veranstaltungen jenseits von Sachkriterien zu Ungunsten der weiblichen Lehrenden ausfallen (Boring et al. 2016): Gender matters too. Boring finds that SET are affected by gender biases and stereotypes. Male first-year undergraduate students give more excellent scores to male instructors, even though there is no difference between the academic performance of male students of male and of female instructors. Experimental work by MacNell et al. finds that when students think an instructor is female, students rate the instructor lower on every aspect of teaching, including putatively objective measures such as the timeliness with which instructors return assignments. Damit wird in den letzten Jahren erneut deutlich, dass bei heutigen Studierenden ein Genderbias in der Beurteilung der Veranstaltungen von Lehrenden vorhanden ist, der sich bei der Beurteilung der Veranstaltungen durch Fachleute nicht gezeigt hat. Frank (1992) hatte bereits darauf hingewiesen, dass gleiches oder ähnliches kommunikatives Auftreten von Männern und Frauen trotzdem unterschiedlich wahrgenommen wird. Das Problem existiert nach wie vor. 13.7 Rahmung von Autorität, Expertentum und Kompetenz 333 <?page no="335"?> 13.8 Das Gestalten von Beziehungen der Nähe Jenkins (1985) konnte in einer Studie zu Interaktionen bei Freizeittreffen junger Mütter in Kalifornien zeigen, dass die Erzählungen unter den Frauen in auffälliger interaktiver Koproduktion konstruiert wurden. Vor allem Problemgeschichten der anderen wurden fortlaufend aktiv durch Rezeptionssignale unterstützt. Die Frauen schlossen sich explizit thematisch aneinander an. Aries / Johnson (1983) haben in einer Befragung herausgefunden, dass Frauen die privaten Gespräche mit anderen Frauen für ihr persönliches Leben sehr viel wichtiger finden als Männer die Gespräche mit Männern. Bei Treffen mit Freundinnen bevor‐ zugten die befragten Frauen unterschiedlichen Alters das Reden über persönliche Probleme, über eigene Erfahrungen und das Einholen von Bestätigung. Als bestäti‐ gend wird empfunden, wenn andere Frauen ähnlich empfinden und ähnliche Probleme kennen und davon erzählen. Den Gesprächen wird eine informelle, therapeutische Funktion beigemessen. Man kommt sich näher über das Zeigen von Schwächen. Vor allem beim Reden über Probleme legen die Frauen Wert darauf, dass nicht nur eine Frau ein Problem erzählt, sondern dass dieses eine Problemrunde eröffnet. Wenn eine Frau beispielsweise von Schlafstörungen erzählt, schlössen sich die anderen mit ähnlichen Geschichten an. Sie machten damit deutlich: Dein Problem ist eines von uns. Vergleichbare Selbstöffnungen spielen in Männergruppen keine wesentliche Rolle. Auch Tannen (1991) weist darauf hin, dass es unter Männern weniger üblich sei, auf eine Problemerzählung mit ähnlich gelagerten Problemgeschichten zu reagieren, sondern eher konkrete Ratschläge zu geben. Der Hörer wird somit interaktionell zum Experten für die Lösung des Problems und kann dem Sprecher / der Sprecherin eine kleine Lektion erteilen. Problemerzählungen spielen in Frauen- und Männerrunden tendenziell eine andere Rolle und werden konversationell anders behandelt. Dies mag auch damit zu tun haben, dass gemeinsames Beklagen der widrigen Umstände des Lebens eher Bestandteil weiblicher Freundschaftsrituale ist (Tannen 1990, 1991). Kotthoff (2012a) fand in ihrer Studie über telefonierende 15bis 17-jährige Freundinnen gemeinsames Psychologisieren als reichhaltig vertretenen Aktivitätstyp. Dies bein‐ haltet ein Ausdeuten der eigenen und der Verhaltensmotive der Umwelt. Auch Holmes (2006, 174 ff.) hörte in Arbeitsweltkontexten Neuseelands einerseits von Männern mehr Erfolgsgeschichten, die eigene Initiativen und mutige Entscheidungen herausstrichen, andrerseits konnte sie aber zeigen, dass auch von statushohen Männern verschie‐ dene Beziehungsaktivitäten, die für Abläufe im Betrieb und die Arbeitszufriedenheit förderlich waren, ausgeübt wurden. Fletcher (1999) hatte solche hintergründigen Beziehungsaktivitäten als typisch weiblich verortet. Auch Lieberknecht (2012) rollt ein großes Repertoire an konversationellen Beziehungsaktivitäten einer „Frauenliste“ auf, mit denen sich die Frauen gegenseitig unterstützen und ermutigen. Holmes (2006, 80 f.) stellt viele Transkripte vor, in denen männliche Manager Meinungen der Mitarbeiter/ innen einholen und diese unterstützen. An weiblich dominierten Arbeitsplätzen fand sie jedoch außerdem viel mehr „small talk,“ dem sie auch eine teamförderliche Funktion zuschreibt. 334 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="336"?> Zur Gestaltung von Beziehungen der Nähe gehören auch sexuelle Sprechhandlun‐ gen. Motschenbacher (2020) nähert sich diesen über die Analyse von Geschichten, die schwule Männer sich in USA und England darüber erzählen, denn es ist kaum möglich, Sprechhandlungen des Coming out, der Verführung und des Flirts im freien Feld in situ aufzuzeichnen. Der ganze Bereich von „doing sexual things with words“ (frei nach Austin 1972) ist in der Forschung unterbelichtet. Mit Austin (1972) unterscheidet Motschenbacher (257) hier die Ebenen der Illokution (mit der Intention, eine sexuelle Botschaft zu kommunizieren) und Perlokution (bezogen auf Effekte). Motschenbacher unterscheidet außerdem „identity related speech acts“ (z. B. des Coming out) und „desire related speech acts“ (z. B. des Flirts). Letztere integrieren nonverbale Formen der Annäherung. Im Kontext der Narrationsanalyse gelingt jeweils auch ein Eingehen auf Kontexte der sexuellen Kommunikation und der Reaktionen des Gegenübers, so wie sie eben in Erzählungen gestaltet werden. 13.9 Gender, Humor und Lachen Humor ist ein oft übersehener, aber sehr machtvoller Modus der Kommunikation, der traditionell mehr mit Männern assoziiert wurde (Crawford 1995). Unterschiedliche Di‐ mensionen sind dabei genderisiert, denen wir im Folgenden nachgehen. Humor in Text und Gespräch kann kulturelle Asymmetrien sowohl bestätigen als auch unterlaufen (vgl. Holmes 2000, 2006), er kann sexistisch sein (Mulkay 1988), traditionellen Sexismus aber auch karikieren (vgl. Kotthoff 2006a, b). Große internationale Witzsammlungen belegten bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, dass ein großer Teil der Witze auf Kosten von Frauen ging (Dundes 1965, 1987; Legman 1968; Fine 1976). Das wurde inzwischen genderpolitisch analysiert und problematisiert (Huffzky 1979); ein männerkritisches Witzrepertoire ist entstanden (Bing 2007; alle Web-Seiten mit Witzen im Internet, wie z. B. witzuniversum.de, beinhalten auch männerkritische Witze). Scherzkommunikation hat immer eine psychologische Dimension. Viele Witze sind so komplex, dass in der Rezeption unterschiedliche Dimensionen an ihnen goutiert werden können. Stocking / Zillmann (1988) haben in psychologischen Experimenten gezeigt, dass Frauen in der Rezeption von Witzen, die sowohl niedliche Figuren beinhalten (wie etwa Hasen) als auch aggressive Tendenzen haben, ihren Humorgenuss eher mit dem Niedlichen verbinden als Männer. Für den Humorgenuss spielt es gemäß der Dispositionstheorie (vgl. Zill‐ mann / Cantor 1976) eine Rolle, welche Einstellung / Disposition der / die Rezipient(in) in Bezug auf die humoristische Zielscheibe unterhält. Solidarisiert er sich mit dem Angreifer und hegt eine Abneigung gegen die Zielscheibe, wird er / sie den Witz genießen. Cantor (1976) konnte nachweisen, dass Frauen und Männer die gleichen Witze lustiger fanden, wenn sie auf Kosten einer weiblichen Person gingen. In einer Versuchsreihe über verbale Aggression verändert Cantor das Geschlecht der „heruntergeputzten“ Person (also des Opfers) und das Geschlecht der austeilenden 13.9 Gender, Humor und Lachen 335 <?page no="337"?> Person (also des Siegers), sonst blieb alles gleich. In der Mann = Sieger / Frau = Opfer-Version übertrumpfte ein Mann die Provokation einer Frau mit folgender Schlagfertigkeit: Ein Schauspieler, dessen Autobiografie soeben veröffentlicht worden war, wurde auf einer Party von einer Schauspielerin mit den folgenden Worten angesprochen: „Ich habe Ihr neues Buch gelesen … Wer hat es für Sie geschrieben? “ „Ich freue mich, dass es Ihnen gefallen hat,“ kam als Antwort, „Wer hat es Ihnen vorgelesen? “ In dieser Version hatte der Schauspieler das letzte Wort und trug den Sieg über die Schauspielerin davon. Diese Version fanden damals alle spaßiger. Männer soli‐ darisierten sich also in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit ihren Geschlechtsgenossen, Frauen sich aber nicht mit ihren. Drucker et al. (2014) haben mit experimentellen Rezeptionsstudien inzwischen gezeigt, dass heutige Männer (die Studie wurde in Israel durchgeführt) sarkastische Bemerkungen witziger finden als Frauen. Dieser Befund deckt sich mit ähnlichen von vor dreißig Jahren. Heutige Frauen finden in den Experimenten sarkastische Bemerkungen allerdings am lustigsten, wenn Frauen sie auf Kosten von Männern äußerten. Heutige Frauen sind somit besser als die Generation ihrer Mütter in der Lage, sich mit ihrem Geschlecht im Humorgenuss solidarisch zu zeigen. Der Wandel der Geschlechterverhältnisse erfasst die Ebene der Gefühle. 13.9.1 Humor und Status Wer witzig ist und andere zum Lachen bringt, hat, wie Coser (1960, 1988) sagt, für einen Moment die Situationskontrolle. Mit witzigen Bemerkungen kann man die gesamte Szene umdefinieren, wenigstens für kurze Zeit. Insofern ist Scherzen in offiziellen Situationen an einen gewissen Situationsstatus gebunden und kann diesen Status auch kreieren. Scherzkommunikation funktioniert dann eher als Machtbestätigung denn als Subversion. Grundsätzlich kann man im Scherz die soziale Rangordnung sowohl bestätigen als auch unterlaufen. Verschiedene Studien zum Scherzen in Institutionen und in der Arbeitswelt zeigen: Je statusniedriger die Witzrezipienten, umso eher würdigen sie den Witz von Statushöhe‐ ren mit dem erwarteten Gelächter (Pizzini 1996). Humor, Witz und Gelächter sind durch und durch soziale Phänomene. Formen von Scherz sind als Instrumente sozialer Einflussnahme verschiedentlich behandelt worden (Nietz 1980; Groth 1992; Schnurr 2008). Zumindest partiell gilt soziale Einflussnahme sowohl für das Witze-Erzählen als auch für spontan kreierte witzige Bemerkungen als einer der Gründe neben anderen. Viele kennen die Situation, wo der Chef eine komische Bemerkung macht und alles brüllt vor Lachen, obwohl kaum jemand den Scherz wirklich gut fand. Solche Szenen reproduzieren das soziale Gefälle. Die meisten Scherze erfüllen mehrere Funktionen gleichzeitig. Statusniedrige dürfen am ehesten witzig sein, wenn dies auf eigene Kosten geht, wenn sie sich also selbst als Zielscheibe anbieten. Scherzkommunikation kann geradezu zum Indikator für das Ausmaß an Hierarchie werden. Chefs und Chefinnen, 336 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="338"?> 5 Diesen Befund bestätigt der Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ von Regisseur Torsten Körner (2021) über Politikerinnen in der Bonner Republik, die um Teilhabe an politischen Entscheidungs‐ prozessen kämpften. die an einer flachen Hierarchie und an symmetrischen Beziehungen mit den unter ihnen Stehenden interessiert sind, können dies indizieren, indem sie Anweisungen scherzhaft modalisieren und eigene Schwächen bewitzeln (Schnurr 2008). Bis in die 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein gibt es viele sehr deutliche Befunde zu Asymmetrien in der Scherzkommunikation aus der Arbeitswelt und 1992 immerhin noch eine Studie, die zumindest hierarchische Tendenzen in der Scherzkommunikation eines Orchesters bestätigt (Schütte 1992). Spradley / Mann (1975) studierten beispielsweise die Scherzkommunikation der Angestellten in einer amerikanischen Bar mit den ethnografischen Methoden der Beobachtung im Feld des Handelns. Die Frauen waren alle Serviererinnen, die Männer Barkeeper. In der Welt der Bar wurde ihnen ein höherer Status zugeschrieben, aber gleichzeitig waren die Männer auch auf die Frauen angewiesen. Spradley / Mann kennzeichnen den Humor der Barkeeper als stark auf Kosten der Serviererinnen gehend. Oft bewitzelten sie anzüglich und herablassend das Äußere der Serviererinnen. Sie schafften es auch, Bestellungsfehler, die sie selbst gemacht hatten, scherzend den Frauen in die Schuhe zu schieben. Mulkay (1988) kommentiert den Humor der Barkeeper als verachtend in Bezug auf die Serviererinnen. Diese redeten unter sich viel über die gemeinen Scherze der Kollegen, sahen sich aber nicht in der Lage, diese zu verhindern. Auch spätere Studien aus Bereichen der Arbeitswelt zeigen, dass die in der Hierar‐ chie am höchsten Stehenden sich gegenüber unter ihnen Stehenden bestimmte Formen von gewagtem Scherz mehr herausnehmen. So verdeutlicht z. B. Schüttes Arbeit zur Scherzkommunikation unter Orchestermusikern (1991), dass sich der Dirigent das Recht nimmt, Musikeraktivitäten mit sarkastischen Bemerkungen zu bewerten. Sar‐ kasmus ist eine aggressive Form der Ironie und indiziert ein bestehendes Machtgefälle (Schütte 1991, 336 ff.). Für den Dirigenten ist Sarkasmus aber trotzdem ein Verfahren der Vermeidung eines offenen Konfliktes und der Sicherung der Kooperation bei divergenten Ansprüchen und Interaktionserwartungen. Immerhin gibt es schärfere Formen von Kritik als sarkastische. In dem von Schütte untersuchten Orchester sind Musikerinnen in der absoluten Minderzahl. Sie treten scherzend anscheinend nicht in Erscheinung. Jedenfalls erwähnt Schütte sie mit keinem Wort. Allerdings begegnen wir hier auch dem Umstand, dass in der deutschen Forschung ein Blick auf Geschlechterverhältnisse oft schlicht fehlt. Burckhard (1992) stellt fest, dass im deutschen Parlament gerade gegenüber Frauen unernste Zwischenrufe häufiger gemacht werden. Diese Zwischenrufe enthalten oft, wie auch die präsentierten Beispiele, Anspielungen an die sexuelle oder physische Iden‐ tität der Frauen. Die Herren ergehen sich daraufhin in Gelächter. 5 Die humorspezifische Inkongruenz liegt darin, dass für die Frauen im Bundestag z. B. ihr Äußeres relevant gemacht wird, was es im politischen Kontext eigentlich nicht ist. Goffman diskutiert in 13.9 Gender, Humor und Lachen 337 <?page no="339"?> 6 Transkription hier und im Folgenden nach Holmes 2000. „Forms of talk“ (1981) ein ähnliches Beispiel, wo Präsident Nixon unter dem Gelächter aller Reporter eine Journalistin fragt, warum sie Hosen trüge; Röcke gefielen ihm besser. Goffman (1981, 124) schreibt, hier werde „gender politics“ gemacht. Für die Journalistin oder unsere weiblichen Bundestagsabgeordneten wurden Eigenschaften fokussiert, die jenseits von Beruf und Arbeitswelt liegen und dem Image von beruflicher Kompetenz abträglich sind. Erinnern wir uns an den Aufruhr, den die erste Frau im Hosenanzug im Bundestag erzeugt. Scherze auf Kosten von Frauen können subtile Ausschlussmechanismen darstellen. Janet Holmes hat 1996-2010 in Neuseeland im Rahmen ihres Projekts „Language in the Workplace“ 330 Interaktionen in Ministeriumsabteilungen aufgezeichnet (vgl. Holmes 2000, 2006; Holmes / Marra 2002). Im Rahmen einer interaktionalen Sozio‐ linguistik wurden die Besprechungen in den Abteilungen aufgezeichnet. Ihr Team unterscheidet repressive und subversive Formen von Humor; erstere werden von Höhergestellten eingesetzt, um ihre Macht abzusichern. Die Zweitgenannten verwenden Untergebene, um die Autorität der Statushöheren herauszufordern. Sie unterscheiden weiterhin Grade in der Kollegialität von Humor, dem sich keine spezifische Machtkomponente einschreibt (Holmes 2006). Ohne genaue Zahlenver‐ hältnisse anzugeben, bringt Holmes (2006) doch viele Beispiele, in denen Frauen als Chefinnen und auch als Untergeordnete scherzen. Chefinnen verpacken z. B. Kritik und Aufforderungen in Scherzform. Holmes (2000) zeigt, dass in asymmetrischen Arbeitsbeziehungen der Humor sehr oft von den Mächtigeren eingesetzt wird, um die Kontrolle zu behalten und gleichzeitig kollegial zu wirken. Neil, ein Manager, erinnert in Beispiel 1 (ebd., 179) seinen Assistenten Ken daran, dass er bereits zu spät zu einem Meeting kommt. Ken arbeitet noch an seinem Computer: Scherzhafte Kritik eines Managers 6 Neil: hate to drag you away when you’re obviously having so much fun but it IS after ten Ken: [laughs] some fun Neil, der Vorgesetzte, kritisiert seinen Untergeben Ken nur sehr indirekt, dass er sich noch nicht zu dem Meeting aufgemacht habe, das bereits läuft, indem er ihm unterstellt, gerade viel Spaß zu haben. Ken wiederholt das lachend. Die Kritik ist durchaus bemerkbar, steht aber nicht im Zentrum der Interaktion. Untergebene erlauben es sich hin und wieder, Marotten ihrer Chefs und Chefinnen, wie z. B. deren übertriebene Computerbegeisterung oder ihr dauerndes Zu-Spät-Kom‐ men humoristisch zu attackieren. 338 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="340"?> In Beispiel 2 (Holmes 2000, 170) wird Managerin Sheila plötzlich sehr direkt und beendet damit ein langes Problemgespräch darüber, ob die Abteilung eine bestimmte hohe Summe an eine Firma zahlen solle. Vorher äußerte sie sich lange problembezogen und diplomatisch. Scherzhafte Kritik einer Managerin She: how are we gonna get this thing resolved if she’s saying no and we’re saying no we might as well say no forever Val: so shall we just She: pay the bloody money [Alle lachen] Der humoristische Ton der übertrieben informellen Aussage, die auf Deutsch etwa mit „zahl das Scheißgeld“ übersetzbar wäre, verschleiert ihre Ungeduld damit, wie umständlich die Mitarbeiterinnen mit der Situation umgehen. Mit dem plötzlich sehr informellen Gesprächsstil zeigt sich Managerin Sheila als „eine aus dem Team“, gleichzeitig aber auch als diejenige mit Entscheidungsbefugnis. Gerade die Forschung der Gruppe um Holmes deutet an, dass erstens die weibliche Zurückhaltung in Sachen Scherz in der Arbeitswelt der Mittelschicht nachlässt, und dass zweitens auch auf Kosten anwesender Höherstehender gewitzelt wird (Holmes / Marra 2002), sich also subversive Formen von Humor in der Arbeitswelt durchaus finden, wenn auch nicht sehr häufig. Ob dies auf deutsche Arbeitsweltkon‐ texte auch zutrifft, wissen wir nicht. Schnurr (2008) beschäftigt sich anhand der Aufnahmen aus dem neuseeländischen Projekt mit zwei Fallstudien von Abteilungsleiterinnen. Diese beiden statushohen Frauen minimieren mit ihrem Humor Statusdifferenzen, was tendenziell ihre Autorität gefährden kann. Sie spielen oft witzelnd ihr Wissen und Können herunter, lassen aber auch Frustration mit Humor heraus. Insgesamt hilft ihnen ihr Humorstil, den Balanceakt zu vollbringen, Kriterien heutiger kultureller Weiblichkeit und beruflicher Anforderungen als Chefin zu genügen. Holmes / Stubbe (2003) weisen auf Unterschiede im Scherzverhalten der Geschlech‐ ter an geschlechtsseparaten Arbeitsplätzen hin. Weibliche Vorgesetzte sind sogar besonders aktiv darin, längere Scherzsequenzen zu entwickeln, die die Gruppe und eine kollegiale Arbeitsatmosphäre bestätigen. In klassisch männlich geprägten Kontexten von Fabrikarbeit fanden sie herausfordernde, angreiferische Humorformen, die aber trotzdem dem Teamgeist und dem sozialen Zusammenhalt förderlich waren. Rees / Knight (2010) haben die Interaktionen zwischen ÄrztInnen, Studierenden und PatientInnen am Krankenbett gesprächsanalytisch in Bezug auf die Konstruktion von Gender und Identität durch Lachen analysiert. Am Krankenbett führen die 13.9 Gender, Humor und Lachen 339 <?page no="341"?> Studierenden der Medizin ihr Können am Patienten vor und werden dabei von den ÄrztInnen begutachtet und begleitet. Sehr oft inszenieren die drei Parteien einen spielerischen Rahmen (Kotthoff 1998); die PatientInnen necken die Studierenden oder umgekehrt. In ihrem Artikel diskutieren sie Frotzelszenen, in denen die Ärzte die Studierenden aufziehen (und dabei ihre professionelle Überlegenheit kommunizieren) und auch solche von sexuell konnotiertem Necken der Medizinstudentinnen durch männliche Patienten, die sich so mit männlichen Doktoren oder Studenten symbolisch verbinden und Gender relevant setzen. In einer Szene sagt beispielsweise der Arzt zum Patienten, dass die Studentinnen jetzt sein Herz untersuchen werden und „wenn sie etwas anderes tun, lassen Sie mich das wissen.“ Der Patient antwortet: „Da wäre ich ja froh“ ( Rees / Knight 2010, 3389, Übersetzung von H. K.), was eine sexuelle Anspielung darstellt und von Doktor und Patient mit Lachen quittiert wird. Die beiden Autorinnen analysieren die spezifische Identitätspolitik solcher Interaktionssequenzen. 13.9.2 Scherzen auf eigene Kosten Humor hat immer eine sozialindikative Potenz. Den Humor auf Kosten anderer assoziieren wir mit sozialer Überlegenheit, den auf eigene Kosten mit Unterlegenheit - es muss aber die längere Interaktionsgeschichte berücksichtigt werden. Mit solchen Assoziationen spielen Interagierende im Alltag. Sie werden nicht unbedingt geradlinig umgesetzt. Als die Humorforschung vor etwa vierzig Jahren anfing, sich mit Geschlechterbeson‐ derheiten zu beschäftigen und z. B. Unterhaltungen bei Müttertreffs und Kaffeeklatsch unter Frauen mit Männer-Stammtischkommunikation verglich, wurde deutlich, dass das Bewitzeln eigener Schwächen sich unter Frauen großer Beliebtheit erfreut (vgl. Jenkins 1985). Viele Frauen sind wahre Meisterinnen darin, eigene Schwachstellen amüsant zu verpacken (Kotthoff 2000). Mit einem solchen Humor kommt man sich näher. Er ist aber nicht geschlechtsexklusiv. In auf Kompetition setzenden Kontexten der Arbeitswelt ist er vergleichsweise selten. Der Chef allerdings, der sich als gleich‐ berechtigter Kumpel zu erkennen geben möchte, kann dies genau dadurch bekunden, indem er zum Lachen über sich einlädt, sei es, dass er seine Unfähigkeit, einen Fotokopierer zu bedienen, zelebriert, sei es sein häufiges Zuspätkommen oder andere Missgeschicke (Holmes 2006a, b; Kotthoff 2006b). Lampert / Ervin-Tripp (2006), die in Kalifornien Humorstile junger Leute miteinander vergleichen, schreiben, bei jungen Männern nähme das Witzeln auf eigene Kosten signifikant zu, sobald sie mit jungen Frauen in Kontakt wären. Untereinander witzeln sie eher auf Kosten von anderen. Das ist statusaufbauend. Sie hätten aber gemerkt, dass der Scherz auf eigene Kosten auf Frauen sympathisch wirke. Wer über sich witzeln kann, kommt nicht als Macho herüber. Der Herr muss dann nicht Herr der Lage sein und das indiziert Rollendistanz zum patriarchalen Männerbild. Holmes (2006a, b) stellt viele Episoden aus der neuseeländischen Arbeitswelt vor und zeigt dabei auch, wie Frauen sich durch Humor in der Rolle der Chefin gleichzeitig 340 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="342"?> als Autorität inszenieren können und doch Rollendistanz kommunizieren (2006a, 59). Managerin Clara ergeht sich beispielsweise in einer Szene explizit und deutlich in einem Monolog über ihre Verantwortlichkeiten. Insofern inszeniert sie einen eher männlich assoziierten Führungsstil (Holmes 2006, 61). Gleichzeitig lässt sie es zu, von den Teammitgliedern lachend als „Königin“ bezeichnet zu werden und lacht mit. Sie weist diese Zuschreibung nicht von sich, sondern lässt sie souverän auf sich beruhen. Insofern erlaubt sie ihren Untergebenen riskante Sprechaktivitäten und gibt sich damit nahbar. Dunbar et al. (2012) können beispielsweise zeigen, dass Frauen in experimentell manipulierten Settings humoristisch aktiver sind als Männer, wenn es in einer Gruppe mit einem Fremden darum geht, im Rahmen einer Aufgabe ein neues Problem zu lösen. Dem Humor dieser Frauen schreiben die ForscherInnen eine Verbindungsfunktion zu. Diese Funktionszuschreibung findet sich oft zur Scherzkommunikation in reinen Frauengruppen (vgl. Kalcik 1975; Makri-Tsilipakou 1994; Hay 2000, 2001). 13.9.3 Spott, Frotzeln, Humor mit Biss Humoristische Aggression, die Bestandteil vieler Arten von Frotzeln, Sich-Mokieren, Parodie, Verarschen und Lächerlich-Machen ist, ist geschlechtsrelevant. Wir können auf Kosten von Leuten witzeln, sie geradezu herunterputzen oder ihre Schwächen vor Publikum preisgeben. Während direktes Herabsetzen von Menschen den Höflich‐ keitsnormen der meisten Gesellschaften widerspricht, sind humoristische, indirekte Scherzangriffe viel schlechter greifbar. Der Scherzangriff erlaubt schließlich generell den Rückzug darauf, dass wir den Angriff nicht ernst gemeint hätten. Diese Mehrdeu‐ tigkeit des Scherzhaften bedeutet aber nicht, dass Menschen nicht trotzdem Grade an Aggressivität unterscheiden können (Kotthoff 1996c). Je deutlicher die aggressive Tendenz im Scherzen ist, umso weniger wurde die Aktivität von Frauen betrieben. Apte (1985, 70) fasst die ethnologische Forschung aus vorindustriellen Gesellschaften so zusammen, dass die Frauen sich an den Scherzgat‐ tungen mit aggressiv-sexueller Färbung, wie z. B. dem „verbal duelling“ nicht betei‐ ligten. Muster humoristischer Angriffe wurden in vielen Gesellschaften ritualisiert und als verbale Angriffsspiele (verbal duellings) eher unter Männern praktiziert (Labov 1972b; Dundes et al. 1972; Gossen 1976; Tertilt 1997). In Männer- und Jungencliquen spielt auch heute der witzige Schlagabtausch eine größere Rolle als in Mädchen- und Frauencliquen (Branner 2003; Deppermann / Schmidt 2001a, 2001b). Kotthoffs Forschung zu scherzhaften verbalen Duell-Ritualen in Georgien weist diese auch eher als männliches Terrain aus (1995a). Folb (1980) hat für die USA gezeigt, dass Frauen öffentlich keine verbalen Duelle betreiben; unter sich praktizierten sie aber sehr wohl ähnliche Formen. Der Faktor Öffentlichkeit ist wie so oft zentral für die konversationelle Selbstinszenierung von Frauen und Männern. Gerade der Humor mit Biss wird von unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft nicht auf gleiche Weise praktiziert. Was sich von Gruppe zu Gruppe unterscheidet, 13.9 Gender, Humor und Lachen 341 <?page no="343"?> sind Angriffsniveau, Frotzelthemen, Arten des Reagierens und der Bezug zur sozialen Hierarchie. Aus Gruppen junger Männer aus unteren Schichten wird verschiedentlich von einem sehr hohen Angriffsniveau beim Aufziehen berichtet. 12bis 14-jährige Baseball-Spieler, wie die von Fine (1990) in USA über Jahre hinweg beobachteten, zogen sich offensiv mit Defiziten ihres Äußeren auf, machten schlechte Spieler vor aller Augen lächerlich, bewitzelten auch die Freundinnen von einigen mit lächerlich machenden Bemerkungen. Dies ging so weit, dass Jungen, deren Freundin dauernd verspottet wurde (z. B. als nicht schön genug), sich auch von diesen Mädchen trennten. Das heißt, dass die mokanten Scherze ziemlich tief in deren Leben eingreifen. Einige dieser Phänomene finden sich auch in einer Gruppe junger, männlicher Skater in Deutschland (Hartung 2000; Deppermann / Schmidt 2001a, b). Interessant ist in Jun‐ gengruppen allerdings auch, dass schlagfertige Gegenangriffe und gezieltes Kontern hoch geschätzt werden (Schmidt 2004). Wer diese Fähigkeiten beherrscht, kann in der Cliquenhierarchie aufsteigen. Scherzhafte Angriffe und Gegenangriffe finden in vielen Gesellschaften auch ritualisiert statt, mit immer denselben Themen, meist obszöner Art; oft sind auch gleiche Reaktionen erlaubt, die dann natürlich nicht mehr sonderlich originell sind. Oft ist auch die Hierarchie in der Scherzkommunikation akzeptiert. Mächtige Jungen bewitzeln dann machtlose immer wieder in derselben Konstellation. Die Themen drehen sich oft um Sexualität, das Hereinlegen von Leuten, das Verspotten von Autoritäten, Kämpfe mit anderen Jungen, Sport. ‚Dissen‘ ist eine neue Kommuni‐ kationsform der spielerischen verbalen Aggression (Deppermann / Schmidt 2001a): Rülps-Tiraden scheinen immer wieder Spaß zu machen, grobe Anreden an die ganze Gruppe wie ‚ey Ihr Fotzen‘ (womit männliche und weibliche Wesen angesprochen werden können, durchaus auch in freundschaftlicher Manier) oder ‚Du druffes Stück Scheiße‘ (ebd.; Schmidt 2004) können, je nach Kontext, auch beim 50sten Mal noch mäßige Heiterkeit erzeugen, wobei darin auch bemerkbar ist, dass sich der amüsante Tabubruch darauf verlässt, dass es Tabus in der Ausdrucksweise und in Themen (z. B. Ausscheidung, Drogen, Sexualität) noch gibt. Scherzkommunikation ist nicht notwendigerweise originell. Wolfers (2020) führte eine ethnografische und interaktionsanalytische Studie über Humor in zwei deutschen Fußballmannschaften durch, eine davon aus dem Profibe‐ reich (56 Stunden Gespräch). Sie interessiert sich dafür, wie die Mitglieder vor, während und nach Fußballspielen und dem Training miteinander kommunizieren. Necken und Frotzeln ist die am weitesten verbreitete und am häufigsten verwendete Art von Humor in dieser Praxisgemeinschaft. Wolfers sieht das Necken als ein Kontinuum an, das vom freundlichen, verbalen Zwicken bis zum Beißen reicht (ebd.: 279). Konversations‐ teilnehmer fordern sich gegenseitig heraus, wollen sich übertrumpfen und bleiben dabei scherzhaft. „Beißen“ bedeutet, einen Adressaten scherzhaft herunterzuputzen, der zurückbeißen könnte. Der verbal Attackierte (das Frotzelopfer) unterstützt in der Regel die Frotzelattacke nicht und wird vorübergehend einer outgroup zugeordnet. Aber im Großen und Ganzen bewahren die Fußballmannschaften mit diesem wettbe‐ werbsorientierten und angriffslustigen Humor den Zusammenhalt der Mannschaft. 342 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="344"?> Beispiele für Humor auf eigene Kosten spielen in den Fußballmannschaften ebenfalls eine Rolle und tragen zur Solidarität bei. Sogar rassistischer Humor spielt in den beiden Gruppen manchmal eine Rolle. Dabei werden Unterschiede in der Nationalität, Kultur oder Ethnizität vorübergehend in den Vordergrund gestellt. Die Spieler scherzen zum Beispiel über die Überlegenheit der sportlichen Fähigkeiten und der Muskulatur ihrer schwarzen Kollegen, und es hängt vom Kontext und der Entwicklung des Diskurses über längere Zeiträume ab, ob eine solche Art von Scherzen zu einer Ingroup / outgroup-Differenzierung führt. Wenn muslimische Spieler beispielsweise Witze darüber machen, wie kurz die Verabredungszeit für junge Menschen in der muslimischen Welt ist, bevor eine Heirat erwartet wird, wecken sie Sympathie für ihre Probleme. Übertriebene Stereotypen werden oft als Quelle der Unterhaltung genutzt, womit sie letztlich zurückgewiesen werden. 13.9.4 Milieuunterschiede in der Privatwelt Unter erwachsenen Männern und Frauen in Deutschland spielen auch in der Ge‐ sprächsstilistik schichten- und altersspezifische Unterschiede eine große Rolle, die aber in der Soziolinguistik bislang wenig erforscht wurden. Gesprächsaufnahmen aus zwei Mannheimer Frauengruppen (eine Mittelschichts- und eine Unterschichtsgruppe) zeigten insgesamt starke Unterschiede in den konver‐ sationellen Stilen dieser Frauen (Keim / Schwitalla 1989), die sich auch im Bereich des Scherzens auswirken. Sie berichten, dass die Unterschichtsfrauen beim Auffordern und Insistieren viel direkter vorgehen als die Mittelschichtsfrauen, welche auch im Durchschnitt etwas jünger waren. Komplimente wurden auch unterschiedlich gehandhabt (Schwitalla 1995); die Mittelschichtsfrauen spielten Komplimente in ihren Reaktionen eher herunter und die älteren Unterschichtsfrauen reagierten eher mit spielerischer Selbstüberhöhung im Stile von „immer isch, die so gut ist“, gesprochen im Mannheimer Dialekt. Diese witzigen Reaktionen können auch als Elemente eines Humorstils gesehen werden. Die Frauen aus der Arbeiterklasse verwendeten viele spaßige Routineformeln und bildliche Wendungen in ihren Gesprächen. Diese sind mitunter nicht besonders freundlich. So nennen sie bekannte Männer aus ihrem Viertel, die oft Verhältnisse mit Frauen haben, z. B. „Beddflasch mit zwei Ohre“ und die Bewohner der Altstadt nennen sie „Wanzeburger“, was auf die ihnen unterstellten Hygienedefizite anspielen soll (Keim 1995, 387). Phrasen, wie „bei denne kumme die Meis mid verheilde Aache die Trebbe runner“ besagen, dass diese Leute so arm seien, dass nicht einmal die Mäuse Nahrung fänden. Solch kurze soziale Kategorisierungen werden von allen Mitgliedern der Gruppe auf Anhieb verstanden und werden häufig von Gelächter begleitet. Heiterer Klatsch ist eine zentrale Aktivität in dieser Gruppe. Die Mittelschichtsfrauen verwenden solche frechen, formulaischen Charakterisierun‐ gen überhaupt nicht. Ältere Mannheimer Seniorinnen (zwischen 60 und 75), deren Runden in der gleichen Studie zu Kommunikation in der Stadt aufgezeichnet wurden, erzählten einander auch 13.9 Gender, Humor und Lachen 343 <?page no="345"?> derbe Sexwitze. Streeck (1988) analysierte eine solche Witzrunde, welche bei einem Freizeittreffen im Seniorenheim von den Frauen aus der Unterschicht präsentiert wurde. Auf den ersten Blick ist man sehr verwundert. Solche Witze erzählen sich ältere Damen? Viele Witze drehen sich außer um Sexualität auch noch um Krankheiten, Ärzte, Altern und den als defizitär empfundenen Körper. Frau N.: Altes Ehepaar, hochbetagt, schon jahrlang nix mit Sex. Uff einmal liegt der Alde im Bett, da is ihm halt des wieder einmal eingefallen, gell? - „Hab schon lang gefickt nimmer …“ Dann hat er an seiner Alten en bißl rumgemacht, dann hat die gsagt: „Hör uff, ich hab’s im Kraiz! “ Un der war e bißl schwerhörig, dann hat er gesacht: „Is gut, dass du mir das gesacht hast, ich hätt se noch an der alten Stell gesucht.“ (Streeck 1988, 60) Manchmal werden wir beim Lesen ZeugInnen dessen, wie diese älteren Frauen indirekt das negative soziale Image der alten Frau unterlaufen. Witze, welche Lust auf Identifikation weckten, ernteten das stärkste Gelächter. In dieser Gruppe wurden sexuelle, partnerschaftliche und finanzielle Probleme nie offen diskutiert; aber in ihren Witzen und witzigen Anekdoten vermittelten sich die Frauen ihre Erfahrungen, Werte und Widerstandsformen und hielten dadurch auch die Gruppe zusammen. Die Forschung über diese Mannheimer Frauengruppen zeigt, dass es recht starke Unterschiede gibt im Scherzverhalten der Frauengruppen. Auch bei erwachsenen Män‐ nern ist von einer Milieuspezifik auszugehen, die nicht einfach einem Schichtenmodell entspricht, sondern mit der Kreation von Lebensstilen zu tun hat. Humor kann für symbolische Distinktion genutzt werden. Insgesamt wurde der Zusammenhang von Humor und Lebensstil in der Soziolinguistik bis heute selten erforscht, auch nicht in den Gender Studies. 13.9.5 Sexualität und romantische Interessen Vor allem auf dem Gebiet des sexuellen Humors hatten Männer in der Geschichte kulturübergreifend größere Freiheiten (Apte 1985). Noch heute laufen Frauen, die in gemischter Runde Sex-Witze von sich geben, Gefahr, als ‚leicht zu haben‘ eingeschätzt zu werden (vgl. Bing 2007). Frauen erzählen sich untereinander durchaus Sex-Witze (Nardini 2000), die sie einem gemischten Publikum nicht darbieten würden. Nardini hat ihre Studien in einem Chicagoer Club italienischer Damen betrieben. Sie genießen untereinander die Performance des Witzes ebenso wie seine Doppeldeutigkeiten und Tabuverletzun‐ gen. Auch Barrecca (1991, 151) berichtet von der weiblichen ‚Untergrundaktivität‘ des Erzählens und Genießens von Sex-Witzen. Bing (2007) hält für Witze aus der Frauenbewegung fest, dass sie neben einer amüsanten Pointe fast immer auch noch Einsichten in gesellschaftliche Machtverhältnisse mitliefern. Sie thematisieren nicht nur Sex, sondern auch Sexismus. Dazu ein deutsches Beispiel: Sie war bei der neuen Gynäkologin und schwärmt ihrem Ehemann vor: „Das ist eine sehr patente und sympathische Frau. Sie hat mir gesagt, ich hätte ja eine Haut wie eine 344 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="346"?> Dreißigjährige.“ Er daraufhin: „Und was hat sie über Deinen fünfzigjährigen Arsch gesagt? “ Sie: „Ach. Über Dich haben wir gar nicht gesprochen.“ Vor allem in der Psychologie beschäftigen sich ForscherInnen auch mit Zusammen‐ hängen von Humor und Partnerwahl. Lippa (2007) führte unter NutzerInnen des BBC Internets (119 733 männlich und 98.462 weiblich, 53 Nationen) eine Befra‐ gungsstudie durch, welche von 23 genannten Merkmalen sie in der Partnerwahl für primär bedeutsam, sekundär oder tertiär bedeutsam hielten. Übergreifend ergaben sich folgende Nennungen als primär: Intelligenz, Humor, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, gutes Aussehen, schönes Gesicht, Werte, Kommunikationsfähigkeit und Anhänglichkeit. Im Durchschnitt gaben Männer gutes Aussehen und hübsches Gesicht häufiger an als Frauen (d = 0.55 und 0.36 entsprechend); Frauen platzierten Ehrlichkeit, Humor und Anhänglichkeit als gewünschte Partnereigenschaften höher als Männer (d = 0.23, 0.22, 0.18, und 0.15). Die Geschlechterunterschiede zeigten sich auch bei homosexuellen Partnerwünschen. In den Listen der gewünschten Partnereigenschaften platzieren Männer Humor generell weiter unten als Frauen. Für Frauen gehört kulturübergreifend Humor zu den besonders erwünschten Eigenschaften des Partners / der Partnerin. Solche Befragungsbefunde interpretieren Psychologen manchmal in einem darwinis‐ tisch-biologistischen Licht, z. B. wenden Wilbur / Campell (2011, 919) die „sexual selection theory“ auf Aussagen von Frauen an, die sich als Partner aktive Humoristen wünschen. Die Produktion von Humor sehen sie als Fitness-Indikator, der es Männern erlaube, andere persönliche Qualitäten mitzuvermitteln. In ihren Studien zu „online dating advertisement“ (Wilbur / Campell 2011, 923) fanden sie Belege dafür, dass grö‐ ßere humoristische Aktivität von Männern in der Kontaktanbahnung an eine Frau von Interesse sei. Bei Frauen belegen sie mehr „appreciation of humor as a signal of interest“ (924). Wenn Frauen sich besonders amüsiert über den Scherz eines Mannes zeigten, deute dies gleichzeitig auf ihr Interesse an diesem Mann hin. Für beide Geschlechter spiele Humor in der Anbahnung sexueller und romantischer Kontakte eine bedeutende Rolle; Männer würden bei Interesse des Gegenübers die aktiv-humoristische Seite, Frauen die rezeptiv-humoristische verstärken. Diese Forschung geht nicht auf andere mögliche Gründe für einen Geschlechterunterschied ein, der früher oft gefunden wurde, etwa den, dass humoristische Aktivitäten eventuell sehr souverän wirken und Männer auf eine solche Ausstrahlung der Partnerin wenig Wert legen. Wir haben noch viel zu tun, simple Biologismen zurückzuweisen, wie sie in der oben ausgeführten Theorie aufscheinen. 13.9.6 Lachen Menschen nutzen das Lachen vielfältig als Ressource zur Gestaltung von Interaktionen (Mulkay 1988; Partington 2006; Sistenich 2010). Es war zunächst der Konversations‐ analyse vorbehalten, diesen initiativ-kreativen Potenzen von Lachen empirisch auf die Spur zu kommen ( Jefferson 1979, 1984). 13.9 Gender, Humor und Lachen 345 <?page no="347"?> Einige empirische Interaktionsstudien (Duncan / Fiske 1977; Provine 2010) zeigen, dass Frauen in ganz unterschiedlichen Situationen mehr lachen als Männer. Spreche‐ rseitiges Initiallachen wird in vielen Kontexten als Aufforderung zum Mitlachen interpretiert. Frauen zeigen diese unterstützenden Reaktionen auf initiales Lachen hin häufiger als Männer ( Jefferson 2004). Darüber hinaus integrieren sie Lachpartikeln in verschiedenste Äußerungstypen, so auch in Kritik. Einer lachend vorgebrachten Kritik wohnt ein Abschwächungspotential inne (Kienzle 1988). Derart doppelkodierte Botschaften ergeben durchaus Sinn und sollten nicht vorschnell als weibliche Unter‐ ordnung, Unsicherheit oder Höflichkeit interpretiert werden. Insgesamt hat Lachen für die Gestaltung von Interaktionen eine große Bedeutung (Kotthoff 1998; Glenn 2003; Merziger 2005). Sistenich (2010) differenziert das Lachen der Teilnehmer/ innen an drei Fernsehdiskussionen nach folgenden Umgebungen: Initiallachen, Ausdruck von Coolness, begleitendes Lachen (z. B. bei Entwürfen), aggressives Lachen, überdeckendes Lachen, Lachen bei heiklen Themen, Lachen im Kontext von Frotzeln und das in den Sendungen nur einmal auftretende „große Gelächter“ (ebd., 138) mit Herausplatzen. Im ersten Unterkapitel ihrer Studie hält sie fest, dass Frauen signifikant häufiger lachen als Männer und dass Männer „initiativ“, Frauen aber mehr „reaktiv“ lachen (62). Die Männer bleiben in den Fernsehgesprächen „cooler“, erzählen lustige Geschichten „ohne eigenes Lachen“ (76), sie äußern „mehr scherzhafte Einwürfe“ (81), Frauen dagegen unterstützen männliche Wortbeiträge eher durch begleitendes Lachen (86). Abschließend unterstreichen wir den Befund, dass der am stärksten vertretene Lachtyp im Alltag nicht das herausplatzende Amüsiergelächter ist, sondern das soziale Lachen, welches die unterschiedlichsten Funktionen erfüllt und meist als eine Art soziales Schmiermittel betrachtet werden kann (Hay 2001; Provine 2010). Initiales Lachen im Kontext von Problemdarstellungen kommuniziert, dass die Erzählerin gewillt ist, die Probleme leicht zu nehmen. Reaktionslachen ist in diesem Kontext in der Regel nicht präferiert, sondern eher inhaltliches Eingehen auf die erzählten Probleme ( Jefferson 1984; Kotthoff 2000). Provine (2010) zeigt für sein großes Korpus aus einer Ethnografie vieler Alltagsinteraktionen in den USA, dass SprecherInnen viel mehr la‐ chen als HörerInnen. Das widerspricht völlig der Alltagsannahme, wir würden lachen, wenn jemand etwas Witziges gesagt habe. Witzige Geschichten und Witze werden oft lachend erzählt und evozieren schon Mitlachen, bevor die Geschichte abgeschlossen ist (Kotthoff 1998). Beim Necken und Frotzeln lachen zwar die AngreiferInnen, aber die im Scherz Angegriffenen rechtfertigen sich oft erst ernsthaft für das ihnen attribuierte Fehlverhalten, bevor sie mitlachen und die witzige Potenz goutieren. Es kann auch sofort witzig gekontert werden, wodurch andere interaktionale Sequenzen entstehen. Jefferson (1984) hat beobachtet, dass Obszönitäten oft durch Lachpartikeln geradezu versteckt werden. Sie werden aber durch dieses indexikalische Verfahren auch als solche noch einmal kenntlich gemacht. Sprecherinnen lachen zu 70 % mehr als die Hörerin in einem Gespräch mit einer Hörerin und doppelt so oft als der Hörer, wenn sie sich mit einem Mann im Gespräch 346 13 Gender im Gespräch und darüber hinaus <?page no="348"?> befinden (Provine 2010). Initiativ geben sie dem Gespräch eine leichte und amüsante Note; dieser Trend gerät viel stärker im Gespräch mit Männern. Wer, wann, wie und mit wem lacht liefert interessante Hinweise auf die Sozial- und Geschlechterordnung. Von großer Bedeutung ist, ob und wie die Interagierenden Hu‐ morinitiativen goutieren. Lachend vorgebrachte oder witzig formulierte Äußerungen legen nahe, dass diese Interaktionsmodalität in der Reaktion bestätigt wird, wenn die Äußerung positiv beziehungsorientiert ist. 13.9.7 Humor und indexing gender Im Rahmen von Scherzkommunikation amüsieren wir uns nicht nur, sondern betreiben auch Imagearbeit, stellen soziale Ordnung her und vieles mehr. Dabei gibt es heute keine einfachen Verbindungen von Scherzpraktik und sozialem Geschlecht mehr, da keine Scherzpraktik exklusiv nur von einem Geschlecht ausgeübt wird. Wir können aber weiterhin verfolgen, dass soziale Stilisierungen hier auf Grund‐ lage sehr spezieller Wissensbestände verwendet werden, um sich selbst als einen be‐ stimmten Typus (Aghas „metapragmatisches Modell“ s. Kap. 14) zu präsentieren oder in Performances soziale Typen zu erzeugen. Für die Rekonstruktion der Relevantsetzung von Gender lässt sich mit dem interpretativen Ansatz der Indexikalisierung gut arbeiten (Kap. 2, 11 und 12), der auch nicht-exklusive und indirekte Beziehungen zwischen stilistischen Merkmalen, Sprechaktivitäten und sozialen Kategorien, z. B. derjenigen von Gender, erfassen kann. Das Konzept des „indexing“ ist in der