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Poetik der Kürzung

Studien zu Kurzfassungen in der mittelhochdeutschen Epik

0902
2024
978-3-3811-0652-3
978-3-3811-0651-6
A. Francke Verlag 
Julia Frickhttps://orcid.org/0000-0002-2938-5667
10.24053/9783381106523
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Die vorliegende Studie gilt dem poetischen Prinzip der Kürzung, das zu einem Kernelement literarischer Praxis schlechthin gehört. Sie bietet erstmals eine gattungsspezifische Bestimmung einer historischen Abbreviationspoetik, wie sie sich in Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen konstituiert. Ausgehend von einem zeitlichen Spektrum vom 12. bis zum 15. Jahrhundert und anhand modellhafter Konstellationen wird ein für das Verfahren der Kürzung systematisches Profil erarbeitet. Ziel ist es, formale Strukturen und ästhetische Spielräume sichtbar zu machen, die sich zwischen unterschiedlichen Überlieferungssymbiosen, wechselnden literarhistorischen und mediengeschichtlichen Kontexten ergeben. Literarische Kürzung erscheint damit als historisch spezifische poetische Praxis, die es erlaubt, eine Präzisierung des für die Germanistische Mediävistik einschlägigen Konzepts der >Kurzfassung< vorzunehmen.

<?page no="0"?> Die vorliegende Studie gilt dem poetischen Prinzip der Kürzung, das zu einem Kernelement literarischer Praxis schlechthin gehört. Sie bietet erstmals eine gattungsspezifische Bestimmung einer historischen Abbreviationspoetik, wie sie sich in Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen konstituiert. Ausgehend von einem zeitlichen Spektrum vom 12. bis zum 15. Jahrhundert und anhand modellhafter Konstellationen wird ein für das Verfahren der Kürzung systematisches Profil erarbeitet. Ziel ist es, formale Strukturen und ästhetische Spielräume sichtbar zu machen, die sich zwischen unterschiedlichen Überlieferungssymbiosen, wechselnden literarhistorischen und mediengeschichtlichen Kontexten ergeben. Literarische Kürzung erscheint damit als historisch spezifische poetische Praxis, die es erlaubt, eine Präzisierung des für die Germanistische Mediävistik einschlägigen Konzepts der ›Kurzfassung‹ vorzunehmen. ISBN 978-3-381-10651-6 Frick Poetik der Kürzung BIBL. GERM. 80 Julia Frick Poetik der Kürzung Studien zu Kurzfassungen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="1"?> Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, SUSANNE KÖBELE UND HENRIKE MANUWALD 80 <?page no="3"?> Julia Frick Poetik der Kürzung Studien zu Kurzfassungen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. PD Dr. Julia Frick Seminar-Oberassistenz Ältere deutsche Literaturwissenschaft Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich https: / / orcid.org/ 0000-0002-2938-5667 DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783381106523 © 2024 · Julia Frick Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-381-10651-6 (Print) ISBN 978-3-381-10652-3 (ePDF) <?page no="5"?> 7 1 9 1.1 11 1.2 27 1.3 41 1.3.1 41 1.3.2 45 1.3.3 54 1.4 61 1.4.1 61 1.4.2 67 1.4.2.1 71 1.4.2.2 73 1.4.2.3 75 1.4.3 77 1.5 81 2 85 2.1 87 2.1.1 90 2.1.2 97 2.1.3 117 2.1.4 133 2.2 139 2.2.1 143 2.2.2 154 2.2.3 165 2.2.4 173 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen . . . . . . Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Abbreviationspoetiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike: Rhetorische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lateinische Dichtungslehren des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische Qualitäten literarischer Kürzung. Historische ›Arbeit am Text‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkssprachige Kürzungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interferenzen: Poetische Muster und narrative Strukturen . . . . Syntagma und Paradigma: Kürzung und Erweiterung . . . . . . . . Temporalisierung: Kürzung, Kürze und Zeit(-regie) . . . . . . . . . . Begründungsmaximen: Quantitative und qualitative Relationen Mittelhochdeutsche Epik im Zeichen der Kürzung. Zu einer Neubewertung des Forschungsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsspektrum: Paradigmatische Konstellationen literarischer Kürzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik . . . . . . . . . Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung: Herborts von Fritzlar Liet von Troye . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . abbreviatio-Programmatik: Der Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . brevitas-Topik und abbreviatio. Zum narratologischen Potential eines rhetorisch-poetischen Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textuelle Reproduktionspraktiken: Konturen einer frühen Kurzfassung *SK (die Skokloster- und Krumau-Fragmente) . . . . Poetische Form und narrative Struktur. Diskursive Interferenzen abbreviierender Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J . . . . . . . . . . Textphilologische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus und Funktion der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reduktion der Referenzhorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.2.5 180 2.2.6 186 2.3 189 2.3.1 190 2.3.2 196 2.3.3 207 2.3.4 219 3 223 3.1 225 3.1.1 226 3.1.2 237 3.1.2.1 240 3.1.2.2 243 3.1.2.3 247 3.1.2.4 251 3.2 263 4 271 297 297 297 297 299 299 301 335 Synergieeffekte der Kürzung. Nibelungenlied und Klage im Überlieferungsverbund (Hs. I/ J) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematische Kürzung. Poetische Überformung erzählter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selektion und Amplifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternative Anfänge. Kürzung als Strukturelement (n-1-20) . . . Die Potentialität des Textes. Kohärenz durch Summenbildung . Texttypenspezifische Eigenlogiken. Dichtegrade von Kürzung und Vollständigkeit im heldenepischen Kontext . . . . . . . . . . . . . Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung Befund und Deutung. Emergente Kürzungsphänomene in der Münchener Tristan-Handschrift M (Cgm 51) . . . . . . . . . . . . . . . . Typologische Vielfalt redaktioneller Kürzungsverfahren . . . . . . Heteronome Reproduktionsstrategien. Werkstattkontexte und Überlieferungsverbünde (Rappoltsteiner Parzifal) . . . . . . . . . . . . Situative Logiken redaktioneller Kürzung (Hartmann von Aue, Iwein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transpositionen. Kürzung im chronikalischen Paradigma (Nibelungenlied a; Heinrich von Veldeke, Eneasroman) . . . . . . . . Mediale Umstrukturierungen (Vers-Prosa; Handschrift-Druck) Spezifika einer Poetik der Kürzung. ›Kurzfassungen‹ in der mittelhochdeutschen Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitschriften, Buchreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexika und Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editionen, Quellen und Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register: Autoren, Werke, Namen, Sachen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort Ὅti Καλλίμαχος ὁ γραμματικὸς τὸ μέγα βιβλίον ἴσον ἔλεγεν εἶναι τῷ μεγάλῳ κακῷ (511 [465 Pf.]) Der Grammatiker Kallimachos pflegte zu sagen, das große Buch sei einem großen Unheil gleich. Was der alexandrinische Gelehrte und Dichter Kallimachos als Richtschnur für die hellenistische Literatur seiner Zeit formuliert haben soll, kondensiert eine historische Position, die Kürze in Form und Stil als ästhetischen Gegenpol dem allzu Weitschweifigen vorzieht. Diese wissensgeschichtliche Grundopposition lässt sich weit über die Antike hinaus in unterschiedlichen Feldern und Segmenten der Literatur, der Medien, der Kultur beobachten. Sie ist Teil eines historischen Bezugssystems, das sich über die Aushandlung von Kürze-Länge-Postulaten, deren Erscheinungsformen, Funktionen und Konzeptualisie‐ rungen ausdifferenziert. Einen Beitrag zur Erschließung dieser komplexen Gemengelage mit Blick auf einen spezifischen literarhistorischen ›Ort‹, die mittelhochdeutsche Epik, zu leisten, ist Gegenstand und Ziel der vorliegenden Studie. Sie wurde am 24. Februar 2022 an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Habilitationsschrift eingereicht und im Frühjahrssemester 2022 angenommen. Für die Publikation wurde sie in geringfügigem Ausmaß überarbeitet. Mein größter Dank gilt Susanne Köbele, die die Arbeit von Anfang an mit Augenmaß begleitet und intensiv gefördert hat. Ihre fachliche Expertise hat über methodische Klippen und argumentative Fallstricke den Weg geebnet, um Fragen der Überlieferungsphilologie und einer sich form- und problemgeschichtlich öffnenden, historischen Hermeneutik zusammenzuführen. Insbesondere die Lehrstuhlkolloquien in Frauenwörth (Chiemsee) haben hier wegweisende Impulse gesetzt und boten die Möglichkeit, die Thematik in inspirierenden Gesprächen zu vertiefen. Ein Forschungsstipendium der Universität Zürich für das akademische Jahr 2020/ 21 gewährte den nötigen Freiraum für die Abfassung. Auch von der regen und konstruktiven Diskussionskultur am Deutschen Seminar der Universität Zürich hat die Arbeit reich profitiert. Dazu gehören maßgeblich Christian Kiening und Mireille Schnyder, die mich stets unterstützt und mir in fachlichen Gesprächen wichtige Anregungen gegeben haben. Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Ebenso - auf fakultärer Ebene - Carmen Cardelle de Hartmann und Sebastian Scholz, die zusammen mit den Genannten die Habilitationskommission unter der Leitung von Alexandra M. Freund gebildet haben. Für die externen Gutachten danke ich Henrike Manuwald und Michael Waltenberger. Sie haben dazu beigetragen, die Arbeit an wesentlichen Stellen zu präzisieren. Pia Selmayr gebührt Dank für ihre Offenheit zur Diskussion fachlicher Details wie zum persönlichen Austausch; meinen Kolleginnen und Kollegen Tim Huber, Eva Locher, Andrea Möckli, Claudio Notz, Lena Oetjens, Thomas Poser und Coralie Rippl-Uhlenhut für die gemeinsame Zeit am Lehrstuhl in freundschaftlicher Atmosphäre; Oliver Grütter für das kollegiale Weiterdenken am größeren Horizont literarischer Kürzung (abbreviatio); Anouschka Mamie für die Durchführung quantitativer Vergleichsstudien und kritischer Lektüren. <?page no="8"?> Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ›Bibliotheca Germanica‹ danke ich den Her‐ ausgeber: innen Susanne Köbele, Henrike Manuwald und Udo Friedrich; vom Verlag Narr Francke Attempto Tillmann Bub sowie Sariya Sloan für die reibungslose Kommunikation und einwandfreie Betreuung bei der Drucklegung. Der Schweizerische Nationalfonds hat die Publikationskosten großzügig übernommen. Ohne die Unterstützung meiner Familie wäre Vieles nicht möglich gewesen. Andreas hat nicht nur immer wieder Kernpunkte der Arbeit mit mir diskutiert, sondern auch über die Zeit ihrer Entstehung hinweg entscheidend dazu beigetragen, neben der wissenschaftlichen eine persönliche ›Geschichte‹ zu schreiben. Danke! Zürich, im August 2024 Julia Frick 8 Vorwort <?page no="9"?> 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="11"?> 1 In der germanistisch-mediävistischen Forschung sind gleitende Synonymiken bei der Verwendung des ›Technik‹-Begriffs zu beobachten: Die einen verstehen ihn, unter Rückgriff auf die historische ars-Konzeption, im Sinne einer ›Kunst(-fertigkeit)‹ (z. B. Worstbrock, Wiedererzählen und Über‐ setzen [1999], S. 128-142; Stotz [Hg], Dichten als Stoff-Vermittlung [2008]), andere im Sinne eines ›mechanisch-technischen‹ Verfahrens (z. B. Lieb, Die Potenz des Stoffes [2005], S.-356-379). Es gilt, bei der Verwendung des Begriffs je nach Kontext zu differenzieren. 2 Am Beispiel der Ilias latina Reitz, Verkürzen und Erweitern (2007), S. 334-351; Reitz, Homer in Kürze (2021), S.-45-65, sowie unter Beiziehung der Homerkritik Reitz, Homer kürzen? (2010), S.-289-305. 3 Mit Bezug auf das Geschichtswerk des Livius exemplarisch Chaplin, The Livian Periochae (2010), S.-451-467; Bessone, The Periochae (2015), S.-425-436. 4 Vgl. Zimmermann, Art. ›Hypothesis‹ (1998), Sp. 819f. Mit Bezug auf die Komödien des Aristophanes Möllendorff, Werbende Dichtung? (2010), S. 269-287. - Zu den Wirkungskalkülen des antiken Dramen-Konzepts Fuchs, Dramatische Spannung (2000). 5 Zur Abgrenzung der einzelnen Typen vgl. den Überblick bei Opelt, Art. ›Epitome‹ (1962), Sp. 944-973. Siehe ferner Horster / Reitz (Hg.), Condensing Texts (2010); Horster / Reitz, Handbooks, Epitomes, and Florilegia (2018), S.-431-450. 6 Zu Epitomai antiker Geschichtsdichtung als ›Bändigung‹ des »information overload« vgl. Sehl‐ meyer, More Publicity through Very Short Books (2020), S. 316. Viertieft dargestellt in Sehlmeyer, Geschichtsbilder für Pagane und Christen (2009). 7 Dazu Elm (Hg.), Literarische Formen des Mittelalters (2000). - Zur Epistemik solcher spezifisch ›wissenschaftlich‹ ausgerichteter Sammlungsformate te Heesen / Spary (Hg.), Sammeln als Wissen (2001); Büttner / Friedrich / Zedelmaier (Hg.), Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen (2003). - Zum literarischen Charakter S. Schmidt (Hg.), Sprachen des Sammelns (2016). 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen Das Verfahren literarischer Kürzung gehört zu den grundlegenden Modalitäten der Arbeit an tradiertem Textmaterial. Schon in der Antike lässt sich die Herausbildung der abbreviatio als elementarer ›Technik‹ im Sinne einer literarischen ars beobachten. 1 Sie gewinnt Kontur in den zahlreichen ›Kurz-Versionen‹ eines als Bezugspunkt fungierenden Narrativs, sei es in Form kürzender Bearbeitungen (Epitomai), 2 bündiger Zusammenfassungen (Periochai) 3 oder pointiert-verdichtender Inhaltsangaben (Hypotheseis griechischer Dramen). 4 Dabei markieren die verschiedenen Textsorten und -formate jeweils unterschiedlich nuancierte, typologisch differenzierte, stets aber kürzende Zugänge in Bezug auf ihre umfangreicheren Referenztexte. 5 Die auf der phänomenologischen Ebene vorliegenden Befunde verweisen auf spezifische Funktionskontexte, in denen Kürzung als prozessorientierte Kategorie jeweils distinkte, aus einer diachron-vergleichenden Perspektive heraus zu beobachtende ›Resultate‹ der Verdichtung bedingt. Nähert man sich etwa dem historischen Umgang mit einer als schwer überschaubar empfundenen Informationsbzw. Wissensfülle, 6 so ist damit die Frage nach dem Status der Kompilation und des Neu-Arrangements der kondensierten Wissensinhalte unmittelbar verbunden: Ziel ist jeweils die Konservierung der als zentral erachteten Bestände in prägnanter (Kurz-)Form und deren Gruppierung nach charakteristischen Gesichtspunkten mit der Intention thematisch einschlägiger Ver‐ fügbarkeit. 7 Darunter fallen primär ›handwerklich-technisch‹ orientierte Operationen zur didaktischen Aufbereitung und memorativen Vermittlung des vorliegenden Wissensfundus 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen 11 <?page no="12"?> 8 Mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung McGill / Watts (Hg.), A Companion to Late Antique Literature (2018); Dusil / Schwedler / Schwitter (Hg.), Exzerpieren - Kompilieren - Tradieren (2016); Eigler, Lectiones vetustatis (2003); Elm (Hg.), Literarische Formen des Mittelalters (2000). - Zur latei‐ nisch vermittelten Bildungskultur im deutschen Mittelalter vgl. Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte (1988). 9 Exemplarisch Andres u. a. (Hg.), Formen des Wissens (2017). - Inwiefern die Technik der Kompilation in historischer Perspektive als eine genuin literarische, ja poetische gelten kann, ist Gegenstand aktueller Forschung. Zum Konzept der compilatio als literarisch-ästhetischer ›Technik‹ vgl. Hoder, Kompilation und Kreativität (2021), S.-9-25. 10 In Bezug auf die Form des antiken Epyllions und dessen Rezeption Baumbach / Bär (Hg.), Brill’s Companion to Greek and Latin Epyllion (2012). 11 Frick, Literarische Kürzung (2021), S.-12. 12 Reitz, Homer in Kürze (2021), S.-46. 13 Grundlegend zum Material Munk Olsen, L’étude des auteurs classiques latins, bes. Bd.-2: Catalogue des manuscrits classiques (1985), S. 686-687 (zu den Hss. S. 698-826). - Zur Aneignung der lateinischen argumenta-Tradition im Kontext deutschsprachiger Übersetzungen antiker Klassiker vgl. Frick, argumenta (2017), S. 231-260. - Zum Bild als ›Kurzform‹ des Wissens im Kontext der Klassikerillustrierung (Ovid, Metamorphosen) siehe Huber-Rebenich, Visuelle argumenta (2004), S.-989-1023. 14 Terminus nach Griese / Henkel, Funktionen und Leistungen des Lesens (2015), S. 719-738, bes. S. 723. Vgl. zu diesem Aspekt eingehender Kap.-1.3. 15 Zu dieser Konstante des mittelalterlichen Bildungsbetriebs (mit weiterführender Literatur) grundle‐ gend Stotz, Dichten als Schulfach (1981), S.-1-16; Stotz (Hg.), Dichten als Stoff-Vermittlung (2008). (z. B. durch Exzerpte, Florilegien, Breviarien etc.), die in der institutionalisierten histori‐ schen Bildungspraxis fest verankert sind. 8 In konzeptueller Hinsicht lässt sich das Funktionsspektrum der Komprimierung im Rahmen der Wissensliteratur von solchen Kürzungspraktiken unterscheiden, die nicht auf das Herauslösen und eine je neue Strukturierung wie Instrumentierung der ›Kernelemente‹ bzw. ›Kernsätze‹ in bestimmten Sammlungskontexten zielen, sondern sich als spezifisch literarische Verfahren beschreiben lassen, die sich sowohl in inhaltlichen als auch beson‐ ders formalen Aspekten niederschlagen. 9 Damit bilden sie die Basis für eine produktive Aneignung des zugrundeliegenden Prätextes gemäß den Interessen und Erfordernissen der jeweiligen kulturellen und literarischen Kontexte, in die die kürzende Arbeit am Text eingelassen ist. 10 Ihren genuinen Ort haben viele dieser Kürzungsverfahren im Bereich gelehrter Lektürepraktiken, innerhalb derer sie »Prozess[en] des Ordnens, Klassifizierens und Abstrahierens« 11 der relevanten epistemischen Bestände dienen und insofern als dezidiert »intellektuelle[ ] Phänomen[e]« 12 anzusprechen sind. Gerade ein Blick auf die reiche Tradition der argumenta zu den lateinischen Epen, insbesondere zu Vergils Aeneis, 13 demonstriert die ungebrochene Kontinuität des Instrumentariums eines solchen ›studie‐ renden Lesens‹. 14 Es handelt sich um einen produktiven Umgang mit dem Bezugstext im Sinne von dessen konziser, vorlagengebundener wie eigenständiger Reformulierung, der weit in die (Frühe) Neuzeit hinein praktiziert worden ist. 15 Das Phänomen literarischer Kürzung ist im Bereich lateinischer Schriftlichkeit daher so ubiquitär wie unübersehbar: In fast allen Perioden des Mittelalters hat man Kurzfassungen, Breviarien, Abbreviationes, Brevi‐ logia, Epitomae, Periochae, Argumenta, Exzerpte und Florilegia aus längeren Werken erstellt. […] 12 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="13"?> 16 P. G. Schmidt, Die Kunst der Kürze (2008), S. 28 u. 36 f. Ähnlich argumentiert auch Henkel, Kurzfassungen (1993), bes. S.-40; Henkel, Reduktion (2017), S.-27-55. 17 Die Annahme der »Verkürzung […] als Degenerationssignal« im Hinblick auf die literarische Leistungsfähigkeit einer Epoche diskutiert Reitz, Homer in Kürze (2021), S. 46. Das Hauptanliegen spätantiker Epitomai, ein Basiswissen in römischer Geschichte zu vermitteln, beschreibt Sehlmeyer, More Publicity through Very Short Books (2020), S.-316-344. 18 Aktuelle Ansätze im Bereich latinistischer Forschung fokussieren v. a. den Bereich antiker bzw. spätantiker verkürzender Textproduktion (Epitomai, Florilegien, Kompilationen etc.) als gleichwer‐ tige Konstante zum zeitgenössischen Literaturbetrieb. Vgl. dazu die Beiträge in Horster / Reitz (Hg.), Condensing Texts (2010). Diese Entwicklung spiegelt sich symptomatisch im steigenden Interesse an der Ilias latina, dokumentiert im Neuansatz von Falcone / Schubert (Hg.), Ilias Latina. Text, Interpretation, Reception (2022). 19 In bildungsgeschichtlicher Perspektive (v. a. Klerikalbzw. Laienbildung) vgl. Knapp, Grundlagen (2011), bes. S.-85-144. 20 Zu den Bildungsvoraussetzungen deutschsprachiger Literaten Henkel, Litteratus - illiteratus (1991), S.-334-345, hier: S.-336; Huber, Der gebildete Dichter (1996), S.-171-189. 21 Die Latinität als Bezugsrahmen für die volkssprachige Schriftlichkeit im mittelalterlichen Bildungs‐ system ist konturiert in Copeland / Sluiter (Hg.), Medieval Grammar and Rhetoric (2009), bes. Kap. 3: ›Sciences and Curricula of Language in the Twelfth Century‹, S.-368-541. 22 »Kurzfassungen begegnen in der lateinischen Literatur des Mittelalters ebenso oft wie in der französischen.« Bumke, Retextualisierungen (2005), S.-28. 23 »Sowohl in der lateinischen Dichtung des Mittelalters als auch hier, in den französischen Romanen ihrer Vorlagen, konnten Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach die Leitbilder ihrer Reim- und Verstechnik finden.« Henkel, Wann werden die Klassiker klassisch? (2005), S. 464. - Der adaptierende Umgang mit fremdsprachigen Texten und Stoffen ist exemplarisch erfasst in Bußmann u. a. (Hg.), Übertragungen-(2005). Die Forschung hat sich bisher weder mit dem Vergleich von Kurz- und Langfassungen befasst, noch das Stilideal der brevitas mit seinen Auswirkungen auf die mittelalterliche Literatur untersucht. 16 Zum Gegenstand einer sich von diskursgeschichtlichen Propositionen (wie z. B. der Epigo‐ nalität und vermeintlichen Komplexitätsdefizite insbesondere der spätantiken Epitomai) 17 zunehmend distanzierenden Forschung avanciert das Phänomen literarischer Kürzung jedoch erst allmählich. 18 Aus kulturhistorischer Perspektive gewinnt die Kürzungs-›Technik‹ ihr Profil als eine der Grundkompetenzen poetischen Gestaltens, die als Kernelement gelehrter Bildungs‐ strukturen ganz selbstverständlich zum Erfahrungsraum literarischen Schaffens der in der lateinischen Schriftlichkeit sozialisierten Autoren gehören. 19 Insofern können auch die Verfasser volkssprachiger Werke, die an der lateinischen Kulturtradition partizipieren, als Akteure im literarischen Kontinuum gelten, die ihrerseits im »professionelle[n] Um‐ gang« 20 mit den tradierten Formen geschult und in der Lage sind, diese im Hinblick auf jeweils aktuell dominante Problemkomplexe und diskursbzw. mentalitätsgeschichtliche Tendenzen zu adaptieren. Insbesondere für das Früh- und Hochmittelalter zählt diese Komponente zu den entscheidenden Parametern für eine historisch adäquate Einschätzung der volkssprachigen Literaturproduktion. 21 Für den deutschsprachigen Raum um 1200, der den Ausgangspunkt der folgenden Reflexionen bildet, aber auch (und nicht nur) für die französische Literatur des Mittelalters, 22 hat die Forschung die prinzipielle Zweibzw. Dreisprachigkeit der einschlägig bekannten Autoren festgehalten. 23 Eine solche, in jedem Fall bilinguale Kompetenz ist konstitutiv für unterschiedlich gerichtete Transferprozesse: 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen 13 <?page no="14"?> 24 Vgl. Knapp (Hg.), Die Rezeption lateinischer Wissenschaft, Spiritualität, Bildung und Dichtung aus Frankreich (2014). 25 Zu ›Rückübersetzungen‹ aus den Volkssprachen ins Lateinische vgl. Fery-Hue / Zinelli (Hg.), Habiller en latin (2018); Fery-Hue (Hg.), Traduire de vernaculaire en latin (2013); Kunze, Lateinische Adaptation (1989), S. 59-99. Siehe zusammenfassend das programmatische Plädoyer von Frick, Rekursive Sprachlogiken (2024) sowie den Sammelband von Wolkenhauer / Heideklang (Hg.), The Wrong Direction (2024). 26 »Insofar as they have been studied at all, these texts, in particular the translations of literary classics such as Dante, Ariosto, Tasso, Cervantes, Camões or Milton, have been treated as curiosities, simple exercises of ingenuity.« Burke, Translations into Latin (2007), S. 65. - Zum Konzept der ›Reichweite‹ kultureller Phänomene Henkel / Noll / Rexroth (Hg.), Reichweiten. Dynamiken und Grenzen kultureller Transferprozesse (2020). 27 Am Beispiel der strukturellen Muster antiker Epen Henkel, Vergils Aeneis und die mittelalterlichen Eneas-Romane (1995), S. 123-141. - Vgl. grundsätzlich Grubmüller, Über die Bedingungen volks‐ sprachlicher Traditionsbildung (2011), S.-147-160. 28 Worstbrock, Wiedererzählen und Übersetzen (1999), S. 128-142. Zu dem in der Forschung vieldis‐ kutierten Verhältnis von materia und artificium siehe eingehender Kap.-1.4.2. 29 Bumke / Peters (Hg.), Retextualisierung (2005). Der Ansatz ist neu aufgegriffen und diskutiert in Glasner / Zacke, Text und Textur (2020), S.-3-44. 30 Vgl. schon grundlegend Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S. 1-30. Zu den Parametern des Kürzens und Ausweitens in der lateinischen Literaturtradition des Mittelalters siehe Kap.-1.3. 31 Einschlägig Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S. 419-439; Henkel, Kurz‐ fassungen (1993), S.-39-59; Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-47f. u. 297. Siehe dazu Kap.-1.2. 32 Vgl. Grubmüller, Verändern und Bewahren (2001), S. 8-33. - Siehe exemplarisch: zur Lyrik Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit (1995); Henkel, Vagierende Einzelstrophen (2001), S. 13-39; zur Versno‐ vellistik Ridder / Sappler / Ziegeler, Die Materialität des Textes (2010), S. 429-442; Dimpel / Wagner für die Bewegung aus dem Lateinischen in die Volkssprachen sowie, innerhalb des volks‐ sprachigen Bezugssystems, für die Bewegung aus der Romania in den deutschsprachigen Kulturraum. 24 Aber auch entgegengesetzte Phänomene, d. h. Übertragungen volksspra‐ chiger Texte ins Lateinische, sind gleichermaßen Teil der gelehrten zeitgenössischen Kommunikation. 25 Aufgrund ihrer vergleichsweise beachtlichen Quantität und bildungs‐ geschichtlichen Reichweite dokumentieren sie die fundamentale Mehrdimensionalität des Umgangs mit szientifischen wie literarischen Modellen. 26 Es gehört zu den literar- und wissenshistorischen Grundannahmen, dass deutschspra‐ chige Autoren, zumal solche, die am Beginn einer Ausdifferenzierung des Literatursystems in der Volkssprache stehen, für die Etablierung des Erzählens in der epischen Großform auf tradierte, anhand lateinischen Materials erlernte und eingeübte Muster sprachlichen Gestaltens zurückgreifen und diese adaptierend aktualisieren. 27 Das für die volkssprachige Literaturproduktion als Beschreibungskategorie etablierte Prinzip des ›Wiedererzählens‹ 28 basiert auf einem mitunter spannungsvollen Verhältnis von stofflicher Kontinuität und artifizieller (ars, techne), nicht rein ›mechanisch-technischer‹, sondern immer auch seman‐ tische Qualitäten integrierender Formgebung (artificium). Es konkretisiert sich - mit explizitem Fokus auf der schriftliterarischen Produktion - im Begriff der ›Retextualisie‐ rung‹. 29 Eine zentrale Möglichkeit im Hinblick auf die makrostrukturelle Organisation der zu bearbeitenden materia besteht dabei darin, diese kürzer oder länger zu fassen. 30 Die Forschung hat dieses Phänomen am Beispiel von Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen beschrieben. 31 Es zeichnet sich darüber hinaus in einer je spezifischen Realisierung auch in anderen literarischen Kontexten deutlich ab. 32 Auch wenn die Erscheinungsformen 14 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="15"?> (Hg.), Prägnantes Erzählen (2020); zum chronikalischen Genre Wolf / Ott (Hg.), Handbuch Chroniken des Mittelalters (2016). 33 Vgl. die jeweils unterschiedliche Phänomene der Kürzung akzentuierenden Beiträge in Frick / Grütter (Hg.), abbreviatio (2021). 34 In Bezug auf die französischen mises en prose Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S.-67-83. 35 Den relationalen Charakter der Kürzung (am Beispiel des antiken Epyllions) besprechen Baum‐ bach / Bär, A Short Introduction to the Ancient Epyllion (2012), S.-ix-xvi. 36 Bezugspunkt sind hier nicht die von Eberhard Lämmert entwickelten ›Bauformen des Erzählens‹ (Lämmert, Bauformen [ 5 1972]), die sich als gattungsübergreifende »zeitunabhängige Möglichkeiten dichterischer Werksetzung« verstehen (ebd., S. 14). Die Begriffsverwendung folgt vielmehr einem für die antike Epik angesetzten Konzept, das ›Bauformen‹ nicht im Sinne von universalistischen Standards, sondern in struktureller, gattungsgebundener Hinsicht als genuin poetische Elemente und Gestaltungsmuster im Bereich epischen Erzählens fokussiert. Vgl. dazu die Grundlegung und Übersicht in Reitz / Finkmann, Introduction (2019), S. 1-21. »Our notion of the bauform or ›epic structure‹ is more capacious than that of the established concept of the ›type-scene‹ and goes far beyond the conceptual scope of epic formulae. […] We aim at achieving an mode of speaking that is both theoretically grounded and practicable, and that required us as scholars to engage with the material in its structural form and to attend to the dynamic process of its reception and imitation.« (Ebd., S.-2f.). 37 Zum Konzept der Verdichtung vgl. Linden, Lyrische Verdichtung (2011), S. 359-386. Anwendung auf mystische Lieder bei Suerbaum, Geistliche Lieder (2021), S.-213-228. 38 Zu den Prinzipien lyrischer Sinnbildungsverfahren Köbele u. a. (Hg.), Lyrische Kohärenz (2019); zu Formen und Strategien lyrischen Sprechens zusammenfassend Kellner, Spiel der Liebe im Minnesang (2018). 39 Zur ›Textur‹ als einer jeweils variablen Art der Formgebung im Rahmen des Wiedererzählens Glasner / Zacke, Text und Textur (2020), S.-3-44. 40 Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003), S.-12. und -funktionen der Kürzung bzw. Erweiterung vor dem Hintergrund von Gattungs- und Diskursinterferenzen zum Teil erheblich differieren, lässt sich in der Zusammenschau dieser Phänomene ein gemeinsamer Referenzhorizont rekonstruieren, hinter dem eine (rhetorisch-poetische, narrative) Aushandlung der jeweils normbildenden Formationen des Erzählens sichtbar wird. 33 Für diese Problemkonstellation erscheint insbesondere die folgende Frage aus heuris‐ tischer Perspektive zentral: Wie lang ist eigentlich ›kurz‹ bzw. ›kürzer‹? 34 Sie ist nur unter Rekurs auf textimmanente Strukturen zu beantworten, 35 da sich kürzende Versionen stets relational zu den als modellhaft anzusprechenden literarischen ›Standards‹ einer Gattung im Sinne charakteristischer, strukturbildender ›Bauformen‹ verhalten. 36 Lyrische ›Verdichtung‹ 37 operiert etwa tendentiell mit einer Reduktion sprachlich-syntaktischer Kohäsionsmechanismen und daher mit einem weitaus höheren Abstraktionsgrad, als dies beispielsweise im erzählerischen Genre umgesetzt werden kann, in dem ein Sinngefüge narrativ entfaltet wird. 38 Gerade die Narrativierung, genauer: die je neu ansetzende Arbeit an der ›Textur‹ als Repräsentationsmedium des jeweils referentialisierten Zeichengefüges, 39 generiert »historisch variable Momente von Differenz«. 40 So bewegen sich z. B. in der Lyrik oder Versnovellistik die Referenzpunkte aufgrund der spezifischen historischen Überliefe‐ rungsbedingungen in der Regel auf einer synchronen Ebene (Simultaneität der kürzeren und umfangreicheren Versionen desselben ›Textes‹). Sie sind nur in den seltensten Fällen in direkte Abhängigkeitsverhältnisse zu bringen im Sinne einer Hierarchisierung, d. h. 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen 15 <?page no="16"?> 41 Zur prinzipiellen Varianz mittelhochdeutscher Texte in gattungsübergreifender Perspektive Stein‐ metz, Bearbeitungstypen (2005), S. 41-64. - Für die breite z. T. monographische Forschung zum Umgang mit Varianzphänomenen innerhalb mittelalterlicher lyrischer Texte siehe exemplarisch J.-D. Müller, Einzelstrophen - Florilegien - Autorprinzip (2012), S. 49-62; Holznagel, Retextualisierungen in der deutschsprachigen Lyrik (2005), S. 47-81; Lieb, Umschreiben und Weiterschreiben (2005), S. 143-161; Wenzel, Textidentität und Überlieferungsvarianz (2005), S. 347-370; Henkel, Vagierende Einzelstrophen (2001), S. 13-39; Hausmann, Reinmar der Alte (1999); Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit (1995). 42 Für die Versnovellistik schon Hanns Fischer (1983), S. 19f.: »Mären werden nämlich vielfach nicht […] als tote Fossilien überliefert, sondern unterliegen einer tradition vivante, die infolge sich überlagernder Degenerations- und Regenerations- (zum Teil aber auch redaktioneller Erweiterungs- und Kürzungs-)Vorgänge ein stark oszillierendes Textbild hervorbringt, das im Nachhinein nicht mehr zuverlässig aufzulösen ist. Wieviel Verse besaß das Original eines Märes, dessen durch die Überlieferung vertretene drei Fassungen mit 84, 136 und 216 Versen aufwarten? « - Zur historischen Differenz unterschiedlicher Überlieferungszustände im Bereich der Lyrik exemplarisch Worstbrock, Der Überlieferungsrang der Budapester Minnesang-Fragmente (1998), S.-114-142. 43 Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-408. 44 Begriff nach Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-39. 45 Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-408. 46 Am Beispiel der ›Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften‹ (Konrad von Würzburg, Herzmaere) vgl. Dahm, Versnovellen im Kontext (2018). 47 Zu dieser Art des ›Weiter-‹ bzw. ›Wiedererzählens‹ vgl. am Beispiel der Bearbeitungen des Alexan‐ derromans Stock, Fluid Texts (2017), S. 101-108; Stock, Kombinationssinn (2002); Cölln, Arbeit an Alexander (2000). - Zur Tradierung der späten Heldendichtung siehe Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik (1978). J.-D. Müller konstatiert diesbezüglich (Varianz [2023], S. 31): »Im Vergleich mit der aventiurehaften Dietrichsepik ist der Unterschied zwischen traditionsbasiertem Erzählen und traditionellem Erzählen ablesbar.« 48 Köbele, Registerwechsel (2017), S.-172. 49 Köbele, Registerwechsel (2017), S.-167. der Rekonstruktion eines wie auch immer gearteten ›Archetypus‹, 41 und können trotzdem nicht immer schon als historisch ›gleichwertig‹ gelten. 42 Kürzung und Erweiterung bilden in diesem Bereich gleichgewichtige Konstanten des »produktiven Umgang[s] mit literari‐ schem Material« 43 und begründen unterschiedliche »Aggregatzustände« eines Textes, 44 bei denen »ein klares ›Vorher-Nachher‹ auf der Basis der Überlieferung kaum bestimmbar ist«. 45 Die Beschreibung von Kürzung und Kürze muss hier, da der einer bestimmten Version konkret zugrundeliegende Bezugstext zumeist eine unsichere Größe ist, vor allem auf der Grundlage sowohl textimmanenter literarischer Strategien als auch vor dem Horizont der für das jeweilige Gattungskontinuum spezifischen Sinnbildungsverfahren und nicht zuletzt in Bezug auf die Sammlungsprofile der entsprechenden Überlieferungsträger erfolgen. 46 Ein anderes Bild bietet die mittelhochdeutsche Epik. Zwar gibt es auch in diesem Bereich unterschiedliche Bearbeitungen eines Stoffes bzw. ›Textes‹, die hinsichtlich Entstehungs‐ zeit, narrativem Fokus und auch der jeweiligen quantitativen Dimension verschiedene, nicht auf eindeutige Relationen von Vorlage und Bearbeitung rückzuführende, zum Teil auf unterschiedliche schriftliche bzw. mündliche Erzähltraditionen rekurrierende Versionen bieten. 47 So bewegt sich auch die volkssprachige Bibelepik als dezidierter »Sonderfall mittelalterlichen Wiedererzählens« 48 zwischen den Polen einer religiös ›verbindlichen‹ materia und ihrer historisch variablen Form- und Sinngebung. Dabei bleibt die an spezifisch poetischen Sprach- und Erzählregistern orientierte ›Remythisierung‹ dem »unantastbar ›heiligen‹ Prätext« 49 verpflichtet, den es im Modus sprachlicher Übersetzung, kultureller 16 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="17"?> 50 Vgl. Bumke, Retextualisierungen (2005), S.-27f. 51 So die von Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S. 422, vorgeschlagene Definition im Sinne einer ersten Vorverständigung. 52 Ein solcher exzeptioneller Fall liegt mit der Abschrift des Rappoltsteiner Parzifal im Codex Casana‐ tensis vor. Vgl. Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S. 345-347; Fasching, Original und Kopie (2020), S.-145-271. - Dieses Phänomens ist diskutiert in Kap.-3.1.2.1. 53 Für das Nibelungenlied Haustein, Siegfrieds Schuld (1993), S. 377 (mit Bezug auf Brackert): Hinter den unterschiedlichen Fassungen stehen »›in ihrer relativen Einheitlichkeit‹ nicht etwa ›Varianten der Mündlichkeit‹, sondern ›ein geschlossenes Buchwerk individueller Prägung‹«. - J.-D. Müller (Vulgatfassung? [2016], S.-261) spricht vom »Rahmen« einer Nibelungendichtung, der »aufs Ganze der Überlieferung gesehen, klammert man einzelne konzeptionelle Eingriffe aus, erstaunlich stabil« ist. 54 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-422. Aneignung (Mediävalisierung) und mit den Mitteln höfischer Erzählkunst transformiert. Der relationale Charakter des bibelepischen Erzählens ist daher stets in einer Doppelper‐ spektive zu sehen, weil er sowohl auf die biblischen bzw. apokryphen Narrative als auch auf die volkssprachigen Adaptationen derselben zugleich rekurriert - und sich insofern funk‐ tionstypologisch von dem hier im Sinne der klassischen Textkritik fokussierten Phänomen der (quantitativen) Fassungenvarianz einer konkreten Textvorlage unterscheidet. Denn insbesondere im Bereich der weltlichen Epik existieren zahlreiche auf schriftli‐ terarischer Grundlage konzipierte, kürzende Bearbeitungen längerer Versepen, die sich gegenüber dem jeweiligen Prätext gemäß der klassischen Textkritik als sekundäre Bear‐ beitungen erweisen lassen: Kurzfassungen höfischer Epen kommen schon im 13. Jahrhundert vor und können sogar bis in die Zeit der Autoren zurückreichen. […] In vielen Fällen handelt es sich dabei um spätere Bearbeitungen von Texten, die zum Teil Jahrhunderte früher entstanden sind. 50 Kennzeichen solcher in der germanistisch-mediävistischen Forschung unter dem Stich‐ wort ›Kurzfassungen‹ bzw. ›Kurzredaktionen‹ bekannten Texte ist der im Kernbestand nachweisbare Rückgriff »auf den Wortlaut des gekürzten Textes« sowie die Wahrung von dessen metrischer Form - Merkmale, die zugleich einhergehen mit Eingriffen in die vorliegende »Erzähl- und Sinnstruktur«. 51 Der umfangreichere Bezugstext kann zwar nur ausnahmsweise im exakten Verhältnis von Bearbeitung und Vorlage, 52 in der Regel jedoch durchaus in seiner stemmatologischen Position bestimmt werden. Weil er damit auf einer makrostrukturellen und insbesondere sprachlich-formalen Ebene fassbar ist, 53 lassen sich die kürzenden Operationen als redaktionelle Verfahren klassifizieren, die in einer vergleichenden Perspektive »historisch interpretierendem Verständnis zugänglich« sind. 54 Für Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen ist also die Arbeit an einem schriftlich fixierten Text konstitutiv. Sie schöpfen aus dem direkten Wortlaut der ihnen jeweils voraufgehenden ›Langversionen‹, nicht aus einem gattungsbzw. stoffhistorisch domi‐ nanten Erzählkontinuum, das in jeweils neu und anders perspektivierendem Zugriff und in divergierender sprachlicher Verfasstheit mal umfangreicher, mal kürzer erzählt wird. Eine solche heuristische Grenzziehung erlaubt es, ein homogenes Untersuchungsfeld abzustecken, um die historische Spezifik der Kurzfassungen im Blick auf prozesshaft und resultativ orientierte Parameter zu erfassen: 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen 17 <?page no="18"?> 55 Zur Forschungsdiskussion siehe Kap.-1.2. 56 Zu den Verfahren rhetorischer brevitas einschlägig Kallendorf / Gondos (Übers.), Art. ›Brevitas‹ (1994), Sp.-53-60. Zur Basisunterscheidung von brevitas und abbreviatio siehe Kap.-1.3. 57 Frick, abbreviatio (2018), S.-47. 58 Ebd. 59 Bumke, Retextualisierungen (2005), S.-28. 60 Vgl. Kablitz, Kunst des Möglichen (2013). 61 ›Skalierung‹ wird in der aktuellen Debatte als »ästhetischer Grundbegriff« konzeptualisiert, mit dem sich die (quantitativen und qualitativen) Veränderungen von Systemeigenschaften analytisch erfassen lassen. Vgl. das Plädoyer von Spoerhase, Skalierung (2020), S.-5-16, Zitat: S.-5. 1. Produktionsprinzipien (im engeren Sinne literarische Verfahren des Kürzens); 2. rezeptionsorientierte Kriterien (im Zusammenhang mit Kürze der Darstellung etwa Verschiebungen im narrativen Progress, alternative Akzentuierungen der Figuren, Handlungsteile etc.). Auf dieser Basis soll eine Heuristik des ›kürzenden Erzählens‹ im epischen Kontinuum, pointiert: eine Poetik epischer Kürzung, formuliert werden. Sie konzentriert sich nicht - wie dies in der Forschung bisher weitgehend Usus ist - auf überlieferungsbzw. textge‐ schichtliche und editionsphilologische Aspekte, 55 sondern fragt über diese grundlegenden Einsichten hinaus nach übergreifenden rhetorisch-poetologischen und erzähltheoretischen Voraussetzungen und Eigenheiten der Kurzredaktionen als Texten von eigenständigem Profil. Denn die aus dem Vorgang der Reduktion resultierende ›kürzere‹ Form ist nicht als absolut zu veranschlagen, d. h. sie ist nicht ›kurz‹ im Sinne einer zwangsläufig als Resultat einer auf der Basis der Stilkategorie der Kürze (brevitas) formulierten Größe. 56 Vielmehr manifestiert sich im Verfahren der Kürzung (abbreviatio) symptomatisch ein poetisches Konzept, das von Beginn der schriftliterarisch sich ausprägenden Gattungsgeschichte der mittelhochdeutschen Epik an präsent ist und das insofern »einen eigenständigen Typus höfischen Erzählens« dokumentiert. 57 Zusammen mit den Verfahren der Ausweitung wird so eine gattungsimmanente »Gleichzeitigkeit narrativer Entwürfe« 58 greifbar: Kurzfassungen waren nicht ein besonders zu motivierender Sonderfall der mittelalterlichen Literaturpraxis, sondern eine Erfüllung der Grundregel der Poetik, wonach es dem Dichter freistand, bei der Bearbeitung der materia entweder zu erweitern oder zu kürzen. 59 Die hier vorgeschlagene Heuristik setzt an unterschiedlichen Systemstellen an, die für eine analytische Erfassung historisch signifikanter, integraler ›Gesamtzustände‹ Grenzzie‐ hungen notwendig machen. Sie führt Ansätze der Überlieferungsphilologie und einer sich form- und problemgeschichtlich öffnenden historischen Hermeneutik zusammen. Damit ist zugleich die Frage nach der Textualität mittelalterlicher Literatur adressiert: text‐ theoretische Grundsatzannahmen über eine Bestimmbarkeit des Verhältnisses zwischen explizit Gesagtem und implizit Mitgemeintem, 60 nach historischen Kriterien für Art und ›Skalierung‹ textueller Kohärenzen wie auch für Integritäts- und Einheitspostulate. 61 Damit geht die für die Analyse angelegte Heuristik - wie jede wissenschaftliche Abstraktion - ein gewisses Risiko ein, indem sie eine trennscharfe standpunktgebundene Aufspaltung von Gegenstands- und Beobachtungsebene suggeriert. Verhandelt wird diese an Text-Kon‐ 18 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="19"?> 62 Zum Emergenzbegriff in der literaturwissenschaftlichen Forschung siehe Traninger, Emergence as a Model (2012), S.-67-82; Theisen, Zur Emergenz literarischer Formen (2000), S.-211-227. 63 Huss, Diskursivierungen von Neuem (2016), S.-8. 64 Zur methodischen Annäherung siehe Kap.-1.4 sowie, abschließend, Kap.-3.2. 65 Die Beschreibungskategorien sowie die fokussierten Gegenstände differieren dabei z. T. erheb‐ lich. Vgl. das Forschungsprogramm des Berliner Graduiertenkollegs 2190 ›Wissensgeschichte kleiner Formen‹, das mit den Praxisfeldern Literatur, Wissenschaft und Populärkultur Klein‐ formen des Schreibens (v. a. Kurzprosa, aber auch moderne Medien) thematisiert: [http: / / www.kleine-formen.de/ forschungsprogramm/ ] 15.01.2024. Vgl. die Sammelbände Jäger / Matala de Mazza / Vogl (Hg.), Verkleinerung (2020); Müller / Ritter / Selbig (Hg.), Barock en miniature (2020). - Zum Konzept der ›einfachen Form‹ einschlägig schon Jolles (1930). - Zu kleinen literarischen Formen des deutschsprachigen Mittelalters vgl. Holznagel / Cölln (Hg.), Die Kunst der brevitas (2017); Haug / Wachinger (Hg.), Kleinstformen der Literatur (1994); Haug / Wachinger (Hg.), Kleinere Erzählformen (1993). 66 Dimpel / Wagner (Hg.), Prägnantes Erzählen (2019). 67 »Prägnanz ist nicht als Entität explizit in einem Text vorhanden, sondern sie wird einem Text vom (historischen wie rezenten) Interpreten zugeschrieben - aufgrund spezifischer Texteigenschaften.« Wagner / Dimpel, Prägnante Kleinepik (2019), S.-3. 68 Zu dieser Problematik auch Waltenberger, ›Bedeutungsschwangerschaften‹ (2019), S. 29: »Der Begriff dürfte demnach analytisch weder als Formel eingesetzt werden, um dem Textganzen von text-Verhältnissen, die im Zusammenspiel von Handschrift (Textgruppen), dem Werk als solchem (Makrostruktur) und seinen Einzelszenen (Teil-Ganzes), bis hin zur Strophen- und Versstruktur (Mikrostruktur) stehen. Indessen will sich die Ebenendifferenzierung nicht ›einfach‹ abarbeiten lassen: Die systematisch begrenzte Reichweite des mehrschichtigen Zugangs offenbart in der Emergenz ›überschüssiger‹ Elemente stellenweise Momente der Transgression, 62 die ein Spannungsverhältnis zwischen dem »Ganzen und seinen konsti‐ tuierenden Teilen« 63 evozieren. Solche Beobachtungsparadoxien erscheinen als Symptom für die Komplexität der mit der literarischen Kürzung verbundenen Phänomene, deren adäquate Beschreibung eine methodisch produktive Herausforderung darstellt. 64 Wie verhält sich der Ansatz zur wissenschaftlichen Diskussion? Die germanistische Forschung fokussiert mit ›kleinen Formen‹ vorzugsweise in sich geschlossene, einen Sachverhalt, ein Thema etc. je eigenständig (re-)textualisierende Formate unterschiedli‐ chen quantitativen wie qualitativen Zuschnitts. 65 Im Gegensatz dazu richtet sich der hier vorgelegte Ansatz auf eine Referentialisierbarkeit kürzender Versionen mit den umfangreicheren Bezugstexten. Er versteht Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen als Ergebnisse gezielter alternativer Strukturierungs- und Narrativierungsprozesse von vorliegendem Textmaterial, die, wie eingangs dargelegt, auf kulturhistorisch relevanten, gattungsspezifischen Praktiken literarischer Sinnbildung aufruhen. Insofern steht das hier veranschlagte Forschungsfeld quer zu einem Konzept ›prägnanten Erzählens‹, 66 das die narrativen Verfahren der mittelalterlichen Versnovellistik als Formkonstanten der ›Kürze‹ begrifflich konturiert, weil dieses einer dezidiert umgekehrten Logik verpflichtet ist: Wo eine a priori postulierte Formsemantik als absolute Qualität die methodische Grundlage bildet, mündet ›Prägnanz‹ als »Wahrnehmungsmodus« in ein literaturwissen‐ schaftliches Rezeptionsphänomen ein. 67 Als problematisch hinsichtlich ihrer analytischen Funktion innerhalb der Textinterpretation erweist sich die Begriffsbildung deshalb, weil sie nicht primär anhand der historischen Gegenstände selbst gewonnen ist, sondern diesen gleichsam vorausliegt 68 - »eine prekäre Beziehung zwischen Modellbildungen der 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen 19 <?page no="20"?> vornherein eine unmittelbar anschauliche Gegebenheit des Sinns in der Form zu unterstellen, noch wäre die Prägnanz erzählender Rede schlicht mit logisch-rationaler oder begrifflicher Präzision gleichzusetzen.« 69 In anderem Zusammenhang Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003), S.-9. 70 Vgl. Wagner / Dimpel, Prägnante Kleinepik (2019), S.-1-13. 71 »Die Verknappung der Worte geht dabei nicht mit semantischer Reduktion einher; vielmehr soll das Gesagte möglichst viele Sinnaspekte im Ungesagten mit sich führen.« Waltenberger, ›Bedeutungs‐ schwangerschaften‹ (2019), S.-30. 72 Dazu in einer systematischen Perspektive Kap.-1.2. 73 Zum Konzept maßgeblich Bumke, Die vier Fassungen (1996). Zu dessen Rezeption vgl. die einschlä‐ gigen Rezensionen von Strohschneider (1998), S. 102-117; Haustein (1999), S. 442-445; Stackmann (2001), S.-11-17; Henkel (2001), S.-137-144. 74 Basierend auf älteren Überlegungen (Baisch, Autorschaft [2004], S. 93-102) nachdrücklich Baisch, Überlieferung und Ambiguität (2020), S. 337f. - Mit Bezug auf die Ansätze der ›New Philology‹ Nichols, Dynamic Reading (2015), S.-19-57. 75 »Eine Werkinterpretation, die nicht auf der Grundlage des Überlieferungsbefundes steht und diesen als konstitutiven Faktor einbezieht, bleibt ohne Evidenz.« Henkel, Rez. Bumke (2001), S. 139. - Zur Forderung nach einer stärker überlieferungsbezogenen Lektüre mittelhochdeutscher Texte Baisch, Textkritik (2006), bes. S.-56-66 u. 75-93. 76 Die dominierende Rolle der Romania im Rahmen des literarischen Kulturtransfers erschließen die Bände der von Classens / Knapp / Pérennec herausgegebenen Reihe ›Germania Litteraria Me‐ diaevalis Francigena‹ (2010-2015). - Zur Symbolstruktur mittelalterlicher Erzähltexte vgl. die gesammelten Aufsätze von Haug, Strukturen als Schlüssel zur Welt (1989). 77 Vgl. Bauschke, adaptation courtoise (2005), S.-65-84. Forschung und der Eigenart der historischen Objekte«. 69 ›Prägnanz‹ kann durchaus als Beschreibungskategorie für bestimmte narrative Modalitäten plausibel sein, jedoch nicht als Parameter für das (im Falle des Ansatzes von Dimpel u.a.: ›kleinepische‹) Erzählen als solches. 70 Vielmehr wäre, in Anlehnung an den Vorschlag von Michael Waltenberger, von einem historischen Verständnis (lat. praegnans) auszugehen, demgemäß die Reduktion der Worte mit einer semantischen Dichte korreliert, die unterschiedliche implizite, narrativ nicht realisierte Deutungsoptionen auf engstem Raum bindet. 71 Kurzredaktionen höfischer Epik bilden ein von der Forschung noch immer weitge‐ hend vernachlässigtes Feld mittelhochdeutscher Literaturproduktion. 72 Das liegt einer‐ seits daran, dass der editionswissenschaftlich geprägte Fassungen-Diskurs aufgrund der fachspezifischen Ausrichtung mit Annahmen überlieferungshistorischer Abhängigkeiten, binären Perspektiven von Vorlage und Bearbeitung sowie textgeschichtlichen (Re-)Kon‐ struktionsversuchen eines Archetypus bzw. - eine Stufe darunter - einer Fassung operiert. 73 Im engeren Sinne interpretierende Ansätze bleiben dabei (notwendigerweise) eher im Hintergrund - was allerdings in beide Richtungen gilt: Das zunehmend zu beobachtende Auseinanderdriften des editorischen vom literaturwissenschaftlichen Diskurs adressieren wiederholte Plädoyers, 74 die für eine adäquate Berücksichtigung der mit der textkritischen Methode erzielten Ergebnisse in hermeneutisch verfahrenden Analysen eintreten. 75 Andererseits spielten lange Zeit Fragen nach der Etablierung eines deutschsprachigen romanhaften Erzählens, genauer: nach stofflich-formalen bzw. inhaltlich-strukturellen Transferprozessen eine entscheidendere Rolle. 76 Gerade die um 1200 im deutschsprachigen Raum entstandenen, an französischen Vorbildern orientierten Versromane lassen eine Art und Weise der Adaptation erkennen, 77 die sich vorrangig nicht (oder allenfalls nur 20 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="21"?> 78 Vgl. Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S. 1-30. - Am Beispiel des Umgangs mit der Heldensage (Waltharius) im lateinischsprachigen Kontext Kragl, Dilatatio materiae? (2020), S. 267-313.- Zum adaptierenden Erzählverfahren in Heinrichs von Veldeke Eneasroman vgl. Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007); zum lateinisch-romanischen Kontext deutschsprachiger Antikenromane Masse / Seidl (Hg.), ›Texte dritter Stufe‹ (2016). 79 In systematischer Perspektive Linden, Exkurse (2017). 80 Vorüberlegungen zu einer methodischen Modellbildung bieten Kap.-1.3 u. Kap.-1.4. 81 Linden, Exkurse (2017), S.-68. 82 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-431. 83 Vgl. zu dieser Diskussion eingehender Kap.-1.2. 84 Vgl. das Programm des Sammelbandes von Erdbeer / Kläger / Stierstorfer (Hg.), Literarische Form (2018), der, anknüpfend an die Analysekategorien von Burdorf (Poetik der Form [2001]), unterschied‐ liche Verfahren literarischer Modellierung sowie die sich darin konstituierenden Formepistemolo‐ gien in den Blick nimmt. 85 Vgl. Andersen u. a. (Hg.), Literarischer Stil (2015); Frick / Rippl (Hg.), Dynamiken literarischer Form (2020). punktuell) der Technik des Kürzens, sondern umgekehrt des Ausweitens bedient. 78 Freilich bietet das Verfahren der dilatatio materiae tendentiell ein weitaus reicheres Reservoir an unterschiedlichen Erzählpraktiken (z. B. descriptiones, Exkurse oder Digressionen im weiteren Sinne, verbunden mit Erzählerkommentaren bzw. -reflexionen), 79 aus denen sich Rückschlüsse auf eine inhaltliche Profilbildung und narrative Akzentuierung ableiten lassen - Rückschlüsse, die für Auslassungen in der Regel nicht in derselben philologischen Plausibilität zu gewinnen sind. Daher bedarf die Analyse von abbreviationes, die solchen Plausibilitätseinbußen begegnen will, einer genauen historisch-poetischen Referentialisie‐ rung, sowohl um die hinter den gekürzten Reprodukten stehenden Praktiken sichtbar zu machen als auch um diese an deren literarischem Ort zu verankern. 80 Das Risiko, Sinnpotentiale gerade dort auszuloten, wo textuelle Explikation reduziert wird, muss sich - anders als beim Phänomen der dilatatio - auf eine methodisch kontrollierte Beobachtung und hermeneutisch kalkulierbare Reflexion stützen, um heikle Spannungsverhältnisse ausbalancieren zu können. Denn unhintergehbar bleibt: Spezifisch rhetorisch-poetische Strukturierungs- und Ordnungsmuster können auch hinter einem abbreviierenden Zugriff auf den Prätext aufscheinen, der gleichermaßen an der »Simultaneität verschiedener Ebenen der Sinnbildung« 81 partizipiert. Insofern gehört literarische Kürzung zu einem für die mittelhochdeutsche (Groß-)Epik grundlegenden Verfahren der Retextualisierung. Eine systematische Untersuchung steht gleichwohl weitgehend aus und ist deshalb - mit Peter Strohschneider - noch immer als »folgenreiches Desideratum der Forschung zum höfischen Roman« zu bezeichnen. 82 Der gewählte systematisch-analytische Fokus schließt an aktuelle - disziplinär wie interdisziplinär geführte - Diskussionen über die Rolle der poetischen Faktur für die Bedeutungskonstitution von Texten an, 83 z. B. Fragen nach der Herausarbeitung einer ›Theorie der Form‹, um diskursive, kulturelle und intertextuelle Bezugsfelder literarischer Produkte sichtbar zu machen. 84 In historischer Perspektive und mit Fokussierung auf die Literatur des Mittelalters wird dieser Ansatz für die volkssprachige Literatur erprobt. 85 Dabei erscheint eine historisch adäquate Annäherung an die Kategorie der Form - in der germanistischen Forschungsdebatte »um die Ästhetik und Artifizialität mittelalterlicher 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen 21 <?page no="22"?> 86 Reuvekamp, Perspektiven mediävistischer Stilforschung (2015), Zitate S. 3 u. 1. - Vgl. schon grund‐ legend Gumbrecht / Pfeiffer, Stil (1986). Der literaturwissenschaftliche Stil-Diskurs ist aufgearbeitet in Geulen / Haas (Hg.), Stil in der Literaturwissenschaft (2021). 87 Vgl. z. B. das Postulat eines ›Autorenstils‹ in der frühen Textkritik und die auf stilistische ›Korrekt‐ heit‹ zielende Divination durch den Editor. Exemplarisch Kocher, Crux und frühe Textkritik (2010), S. 39-52; Schubert, Das Kreuz mit der Crux (2010), S. 97-106; Spoerhase, Konjektur, Divination etc. (2010), S. 107-115. - Zur Diskussion des Stil-Begriffs in der Romanistik vgl. die Beiträge in Huss / Wehr (Hg.), Manierismus (2014). 88 Vgl. die Vorüberlegungen in Frick, Historische Abbreviationspoetik (2023), S. 9-45. Konkretisiert in Kap.-1.3 u. Kap.-1.4. 89 Zur systemtheoretischen Konzeptualisierung der Kommunikation durch Luhmann siehe den Über‐ blick von Markewitz, Art. ›Anschlusskommunikation‹ (2013). Literatur« oftmals auf »mediävistische[ ] Stilforschung« 86 hin perspektiviert - methodisch heikel. Die Rekonstruktion historischer Stil-Diskurse bleibt nämlich in der Beschränkung auf das vorgefundene ›Phänomen‹ einerseits reduktionistisch, weil ihr die notwendige je zeitgenössische Relationierung fehlt; andererseits ist ›Stil‹ zugleich eine hermeneutische Kategorie, der wie kaum einer anderen zahlreiche forschungsgeschichtliche ›Hypotheken‹ anhaften. 87 Wie bei allen historischen Abstraktionen, so schlagen auch hier Risiko und Chance ineinander um. Angesichts der von Silvia Reuvekamp aufgezeigten fehlenden Grundlage für die Erfassung einer spezifisch historischen ›Poetologie der Form‹ könnte die Analyse von Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epik neue Impulse bieten: Indem die gekürzten Texte, die ein alternatives Erzählmodell gegenüber den besser bekannten Modalitäten der Ausweitung offerieren, immer schon relational situierbar sind, geben sie den Blick frei auf historisch signifikante Form-Konstanten (was mutatis mutandis für das Modell der Ausweitung gleichermaßen gilt). Wesentliche Merkmale scheinen - so eine erste Arbeitshypothese - sich dort abzuzeichnen, wo hinter den kürzenden Versionen die Technik der abbreviatio als eines integralen, die Semantik des Textes mitkonstituierenden Verfahrens sichtbar wird. 88 Zusammengefasst: In einem die Ebene der Textproduktion wie des Textverstehens betref‐ fenden Sinne repräsentiert die Kürzung einen Prozess referenzbezogener literarischer (Re-)Modellierung voraufgängiger Texte, der sich als je unterschiedlich perspektivierte und arrangierte ›Anschlusskommunikation‹ in einem Gattungskontinuum epischen Er‐ zählens lesen lässt. Die so beschriebenen präbzw. intertextuellen Relationen wären in einer systemtheoretischen Hinsicht als Kommunikationsakte zu verstehen, insofern sie textintern einer Diskursivierung thematisch grundgelegter Qualitäten zuarbeiten und auf Verschiebungen innerhalb der übergeordneten Verstehensakte reagieren. 89 Damit sind 22 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="23"?> 90 In Bezug auf das Zusammenspiel von ›Form und Sinn‹ im höfischen Roman Kropik, Gemachte Welten (2018). 91 Vgl. Braun (Hg.), Das fremde Schöne (2007). - Zu einer Neubewertung vormoderner ästhetischer Kategorien im Sinne einer ›anderen Ästhetik‹ Gerok-Reiter u. a. (Hg.), Ästhetische Reflexionsfiguren (2019). 92 Vgl. mit weiterführender Literatur Haferland / Meyer (Hg.), Historische Narratologie (2010); Bleumer, Historische Narratologie (2015), S. 213-274; von Contzen / Tilg (Hg.), Handbuch historische Narratologie (2019). 93 Zum Kriterium des ›Gestaltungswillens‹ grundsätzlich schon Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-53, 82, 289, 311 f. et passim; diskutiert von Baisch, Textkritik (2006), bes. S. 17. - In Bezug auf das Konzept ›Kurzfassung‹ problematisiert in Kap.-1.2 u. 3.2. 94 Zur Historisierbarkeit des Kohärenzbegriffs Köbele, Einleitung (2019), S. 9-22. -Zur Neubewertung der ›Komplexität‹ als analytischer Beschreibungskategorie vgl. Gebert, Wettkampfkulturen (2019), bes. S.-97-109. 95 Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S.-92. 96 Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S.-89. 97 Zu dieser grundsätzlichen Problematik am Beispiel der Münchener Tristan-Handschrift Cgm 51 vgl. Kap.-3.1.1. 98 Die Gleichzeitigkeit von abbreviatio und amplificatio ist Gegenstand von Kap.-2.3. sowohl Fragen nach der ›Gemachtheit‹ 90 der Texte und ihrer ästhetischen Qualität 91 als auch nach der Tragweite historisch-narratologischer Fragestellungen berührt. 92 Wegen der problematisierten Fluidität integraler Kategorienbildung verbinden sich mit dem gewählten Ansatz und Forschungsfeld offene Fragen und methodische Herausforde‐ rungen. Weil Kürzung sich als solche immer nur in einer synoptisch-konstellierenden Lektüre manifestiert, tendieren quantitativ relationierbare Prozesse dazu, im Rahmen der wissenschaftlichen Analyse allzu rasch in axiologische Bewertungsrelationen umzu‐ schlagen: Etwa im Hinblick auf funktionsanalytische Aspekte wie die Intention eines jeweils hinter dem Text vermuteten Redaktors, die infolge einer festgestellten Abweichung von der ›Norm‹ die Annahme eines ›Gestaltungswillens‹ zeitigt. 93 Oder - gewissermaßen als Korrelat zur ›schrumpfenden Form‹ - der Ansatz reduzierter Kohärenzbzw. Komplexi‐ tätskriterien, 94 der die Kurzfassung als (im qualitativen Sinne) ›unterkomplexes‹, nachran‐ giges Konstrukt gerade auf die Auslassungen als ›Lücken‹ verpflichtet. Ferner birgt auch die Konzentration auf Kürzungs-Effekte die Gefahr, »die bekannten hermeneutischen Fallen der Rezeptionsästhetik« zu reproduzieren. 95 Weil solche qualitativen (funktionalistischen, formalistischen) Evaluationskriterien auf inhaltlich relevante Interpretations-Paradigmen rekurrieren, scheint Vorsicht geboten bei der Operationalisierbarkeit der bisher in der Forschung diskutierten Ansätze in Bezug auf den Umgang mit Kurzfassungen mittelhoch‐ deutscher Epik. Die Frage nach der Funktion der Kürzung stößt vor allem dort an Grenzen, wo histo‐ risch-axiologische Voraussetzungen mit unsicheren Implikationen und Wertungsbilanzen ins Spiel kommen: Lässt sich der Status der infrage stehenden, oftmals »überdetermi‐ nierte[n], historisch ferne[n] Formsemantiken« 96 auf eine dominante Deutungsperspek‐ tive festlegen - jenseits der Konstatierung ›bloßer‹ Reduktion? 97 Wie ist die in den Kurzfassungen häufig zu beobachtende Ambivalenz zwischen Versabbau auf der einen und Hinzufügungen auf der anderen Seite einzuschätzen? 98 Wie die komplexe Spannung zwischen ausgestelltem Kürzungsprogramm und tatsächlich (oder gerade auch nicht) vor‐ 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen 23 <?page no="24"?> 99 Vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), S.-353-378. 100 Diese Sinndimension akzentuiert Waltenberger, ›Bedeutungssschwangerschaften‹ (2019),-S. 21-43. 101 Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S.-90. 102 Emergente Phänomene der Kürzung nimmt Kap. 3.1 in den Blick. - Synergieeffekte der Kürzung analysiert Scheuer, Das Heilige im Gebrauch (2021), S.-229-260. 103 Zum narrativen Schema des repetitiven bzw. iterierenden Erzählens einschlägig Warning, Wieder‐ holungsstrukturen (2015), S. 11-33; Warning, Erzählen im Paradigma (2001), S. 176-209; Kiening, Ästhetik der Struktur (2019), S.-303-328. 104 Vgl. für die Frage nach dem ›einfachen‹ bzw. ›hymnischen‹ Stil-Paradigma der Legende Köbele, Die Illusion der ›einfachen Form‹ (2012), S. 365-404. Vgl. auch die Beiträge in Köbele / Notz (Hg.), Die Versuchung der schönen Form (2019). 105 Baisch, Fassungenbildung (2021), S.-332. 106 Scheuer, Faltungen (2017), S.-61. liegender Kürzungspraxis? 99 Mit anderen Worten: Betrachtet man Kürzung im historischen Kontext im positiven Sinne als ›Gewinn‹ an prägnanter Sinnentfaltung 100 oder aber als ›bloße‹ Vermeidung von Redundantem und Vernachlässigenswertem? Wo lässt sich in me‐ thodischer Hinsicht die Grenze ziehen, um interpretatorischen »Kurzschlüssen zwischen quantitativen Prozessen (dem Abbau von Versen) und qualitativen Prozessen (dem Abbau inhaltlicher Voraussetzungen« zu entgehen? 101 Oder erweisen sich die jeweiligen Textope‐ rationen nicht gar als Formkalkül, das sich axiologischer Festlegung durch die Dynamik aus unterschiedlich gelagerten Synergieeffekten und Emergenzphänomenen entzieht? 102 Inwieweit wäre z. B. der Vorzug eines stringenteren, strukturell einsträngigeren, repetitive Elemente reduzierenden Erzählens historisch adäquat - und nicht vielmehr an modernen Rezeptionsgewohnheiten gemessen? 103 Noch einmal anders gefragt: Was gilt gemessen woran als ›überflüssiger‹ oder ›notwendiger‹ im jeweiligen (medialen, kultursprachlichen) Paradigma? 104 Aufgrund der Interferenz von Gattungs- und Diskursfragen lassen sich Verfahren literarischer Kürzung - das ist unstrittig - nicht unproblematisch auf fixe Funktions- und Wertzuschreibungen festlegen. Vielmehr bestätigt sich das ›Risiko‹ solcher Axiologien gerade darin, dass das jeweils charakteristische, sei es gattungspoetologische, sei es narrativ-strukturelle oder diskursive Potential der Kurzfassungen nicht in uniformen, d. h. auf eine ganzheitliche Erfassung zielenden Kriterien aufgeht, sondern sich jeweils nur über die Verknüpfung unterschiedlicher Ebenen angemessen beschreiben lässt. Diese Ver‐ knüpfung ist freilich keineswegs immer ›geordnet‹ möglich: Irreduzible Emergenzeffekte und Beobachtungsparadoxien, z. B. das Umschlagen von kürze-induzierten Phänomenen und scheinbar gegenläufigen Ausweitungstendenzen, bilden eine Herausforderung für die Rekonstruktion eines »historischen Index« 105 epischer Kürzung. Wir können festhalten: Die Frage nach der abbreviatio muss immer auch als Frage nach Relation und Perspektive verstanden werden. Denn mitnichten konstituiert sie eine »einfach abzählbare Reduktion der Erzählmasse einer Bearbeitung gegenüber ihrer Vorlage«. 106 So wie sich ihre quantitativen Spezifika erst aus einem Vergleich der Kürzung mit den Bezugstexten der jeweiligen Gattung ergeben, erfordert die Veranschlagung von qualitativ orientierten Kohärenz- oder Komplexitätskriterien eine Lektüre, die die 24 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="25"?> 107 Zur Relation von Text und Prätext im handschriftlichen bzw. gattungshistorischen Zusammenhang vgl. Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S. 345-375; Kropik, Kürzung und Zusammenfassung (2021), S.-377-405. 108 Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S.-90. 109 Vgl. dazu die methodischen Überlegungen in Kap. 1.4.2 sowie die exemplarische Fallanalyse in Kap.-2.3. situativ gebundenen Kontexte stets mitreflektiert. 107 Weil dabei Fragen nach Produktion und Rezeption unmittelbar zusammenhängen, lässt sich die historische Signifikanz der Kürzung nur über eine Differenzierung unterschiedlicher Beobachtungsebenen, die »Zu‐ sammenschau überlieferungshistorischer, text- und gattungspoetischer, wirkungsästheti‐ scher und diskursgeschichtlicher Aspekte« 108 erschließen. Dabei hat die Analyse von Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epik als Elementen eines spezifischen Gattungs- und Diskurskontinuums stets auch asymmetrische Referenzhorizonte einzukalkulieren, wenn etwa die Verfahren von Kürzung und Erweiterung ineinander übergreifen. 109 Sie kann den Blick öffnen für die epische Form eines auf dem literarischen Prinzip der Kürzung basierenden Erzählens, das nicht in binären, dichotomischen (Bewertungs-)Relationen von ›lang-kurz‹, ›früh-spät‹, ›komplex-einfach‹ etc. aufgeht, wie sie die fachgeschichtlich relevanten Grundpositionen und Wertungsmaximen suggerieren. 1.1 Literarische Kürzung im historischen Kontext. Ausgangsfragen 25 <?page no="27"?> 110 Vgl. schon Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe (1964), S. 240-267. - Bumke, Überliefe‐ rungsgeschichte (1991), S. 257-304. Zur Forschungsdiskussion Bumke, Die vier Fassungen (1996), bes. S. 3-60. - Die Fassungendiskussion resümiert Baisch, Überlieferung und Ambiguität (2020), S.-237-341. 111 Programmatisch Peters, Philologie und Texthermeneutik (2011), S. 251-282; Grubmüller, Überliefe‐ rung, Text, Autor (2002), S. 5-17. - Am Beispiel des Wartburgkriegs vgl. Strohschneider, Textualität (1999), S. 19-41. - In kulturwissenschaftlicher Perspektive vgl. die Beiträge in Peters (Hg.), Text und Kultur (2001). Vgl. auch die Zusammenstellung unterschiedlicher, darunter auch historischer Textualitätskonzepte in Kammer / Lüdeke (Hg.), Texte zur Theorie des Textes (2005). 112 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 3. Die wissenschaftlichen ›Anfänge‹ der philologischen Edi‐ torik und ihre Wirkungsgeschichte zusammenfassend Primavesi / Bleuler, Einleitung. Lachmanns Programm (2022), S.-11-107. 113 Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe (1964), S.-263. 114 Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe (1964), S. 264. - Das dokumentiert nicht zuletzt schon Karl Lachmanns eigener Umgang mit den Textzeugen von Wolframs Parzival, die er nach zwei ›gleichwertigen‹ Klassen (D und G) gruppiert, »da in den allermeisten fällen die lesart der einen klasse mit der andern von gleichem werth ist«. Lachmann (Hg.), Wolfram von Eschenbach ( 6 1930), S.-XVIII. 115 Vgl. Ruh, Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte (1985), S. 262-272; Steer, Textgeschicht‐ liche Edition (1985), S. 37-52; Williams-Krapp, Die überlieferungsgeschichtliche Methode (2000), S.-1-21; Steer, Überlieferungsgeschichtliche Edition (2005), S.-51-65. 116 Die Ansätze zwischen Altphilologie und Mediävistik sind jetzt resümiert und neu bewertet in Bleuler / Primavesi (Hg.), Lachmanns Erbe (2022). 117 Vgl. die Beiträge in Wenger (Hg.), The New Philology (Speculum 65 [1990]), darunter bes. Nichols, Introduction: Philology in a Manuscript Culture, S. 1-10; Wenzel, Reflections on (New) Philology, S.-11-18; Fleischmann, Philology, Linguistic, and the Discourse of the Medieval Text, S.-19-37. 1.2 Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung Die Existenz von frühen Mehrfachfassungen in der mittelhochdeutschen höfischen Epik gehört nicht erst seit den wegweisenden Studien Joachim Bumkes zu einem Universale in der germanistisch-mediävistischen Forschungsdiskussion. 110 Damit ist sie ein konstitutiver Parameter für die Einschätzung des Verständnisses mittelalterlicher Textualität. 111 Die höfische Epik galt lange Zeit, im Grunde von der frühesten Fachgeschichte an, als der »klassische Ort der Textkritik«. 112 Intensive Diskussionen um drängende Überlieferungsbe‐ funde, insbesondere Lesarten, die »vollkommen gleichwertige[n]« 113 Charakter haben und somit in kein hierarchisch organisiertes Abhängigkeitsverhältnis zu bringen sind, haben schon Karl Stackmann zur Annahme »gleichwertige[r] Parallelversionen« für den Gegen‐ standsbereich der mittelhochdeutschen Epik bewogen. 114 Infolgedessen konzentrierte sich die altgermanistische Editionswissenschaft auf unterschiedliche Überlieferungszustände mittelhochdeutscher Texte, die es anstelle eines autornahen Archetypus zu rekonstruieren galt: Wegweisend ist die seit den 1970er Jahren von der Würzburger Forschergruppe eta‐ blierte überlieferungsbzw. textgeschichtliche Methode, 115 die die grundsätzliche Differenz der volkssprachigen Textkultur des Mittelalters gegenüber den Tradierungsbedingungen lateinischer Klassiker auch auf der Ebene der editorischen Erschließung beschreibbar macht. 116 Die ›epochemachenden‹ Forderungen der ›New Philology‹ 117 haben gerade diese fach‐ geschichtlich etablierten Prinzipien zur Disposition gestellt und sind aus diesem Grund 1.2 Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung 27 <?page no="28"?> 118 Vgl. aus dem breiten Spektrum an Reaktionen exemplarisch Müller, Neue Altgermanistik (1995), S. 445-453; Stackmann, Varianz der Worte (1997), S. 131-149; Schnell, Was ist neu an der ›New Philology‹? (1997), S. 61-95; Stohlmann, Was bringt die Philologie nouvelle? (1998), S. 71-88; Stackmann, Neue Philologie? (1999), S. 398-427. - Die kontroverse Diskussion um die Thesen des ›Speculum‹-Heftes von 1990 als »shock to the discipline« beschreibt rückblickend Nichols, Dynamic Reading (2015), bes. S.-19-24, Zitat S.-19. 119 Dass die Forderungen der ›New Philology‹ nicht zuletzt einem politischen Impetus folgen, der auf die Bedingungen im nordamerikanischen Wissenschaftsraum reagiert, wird deutlich in Spiegel, History, Historicism, and the Social Logic of the Text (1990), S. 87-108. Spiegels Thesen problematisiert Strohschneider, Situationen des Textes (1997), bes. S.-72-78. 120 Kragl, Der Preis der Überlieferungsnähe (2018), S.-335. 121 Für die Erfordernisse digitaler Editionen jetzt Kragl, Jenseits der Textkritik (2022), S.-575-584. 122 Zur grundsätzlichen Infragestellung der Begriffe in ihrer Anwedung auf Phänomene mittelalterlicher Textualität vgl. Cerquiglini, Éloge de la variante (1989). 123 Zur Diskussion in der germanistischen Mediävistik vgl. Bumke, Autor und Werk (1997), S. 87-114; Stackmann, Autor - Überlieferung - Editor (1998), S. 11-32; Schnell, ›Autor‹ und ›Werk‹ (1998), gleichermaßen kontrovers wie bisweilen polemisch verhandelt worden. 118 Die im Zentrum stehende Frage nach dem Status und der adäquaten Historisierung des mittelalterlichen Textbegriffs setzt, so der Grundtenor, am konkreten Überlieferungszeugnis an, an der einzelnen Handschrift, die als Dokument für einen spezifisch historischen Textzustand selbst Werkcharakter beanspruchen kann und soll. 119 Damit liegt der Schwerpunkt gerade nicht auf überlieferungsgeschichtlich rekonstruierbaren Fassungen als Repräsentationsme‐ dien spezifischer Werkzustände, sondern zielt - zugespitzt - auf eine »Apotheose des überlieferten Materials«: Es regiert die Apotheose des überlieferten Materials, es gilt, was irgendwo - ganz gleich wie korrupt - geschrieben steht; es kann dies auch gelten, weil alles Überlieferte von grundsätzlicher Gleichwertigkeit ist und sein muss, zumal ja jene textkritischen Methoden, mit denen sich die Überlieferung sortieren und gewichten ließe, absichtlich über Bord geworfen sind. Varianz ist die Norm; sie wird nicht als dem Text ruinös begriffen, sondern sie substituiert, als neuer Sehnsuchtsort der Philologie, die frühere Faszination für den ›alten‹, ›bereinigten‹, werkhaften: für den e i n e n Text. […] Insgesamt aber tut man gerade so - ich spitze polemisch zu -, als bestünde mittelalterliche Dichtung im Wesentlichen oder gar ausschließlich aus einem wirren Sammelsurium von Inkonsistenzen; als wäre sie damit deckungsgleich. 120 Was Florian Kragl als polemischen Kommentar zur aktuellen Praxis der mediävistisch-ger‐ manistischen Textwissenschaft formuliert, lässt sich als Teil eines nachhaltigen Diskurses lesen, den die von der ›New Philology‹ vorgelegte Neuorientierung der Mittelalterphilolo‐ gien angestoßen hat. Denn ihren genuinen Ort fand die Debatte um die ›neue‹ Philologie in der editionswissenschaftlichen Theorie und Praxis, die ihr entscheidende Impulse zu einer Neukonzeptualisierung der editionsphilologischen Methode und Beschreibungs‐ sprache verdankt. 121 Gerade die Diskussion um die Geltung der Begriffe ›Autor‹, ›Text‹, ›Werk‹ 122 steht symptomatisch für einen Prozess wissenschaftlicher (Selbst-)Reflexion: die Neubewertung von Überlieferungsvarianz und Fassungsdivergenz nicht als Mangel bzw. Verderbnis vermeintlich authentischer, sondern als Dokumentation historisch-spezifischer, überlieferungsgeschichtlich abgesicherter Textzustände. 123 28 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="29"?> S. 12-73; J.-D. Müller, Aufführung - Autor - Werk (1999), S. 149-165; Stolz, Autor - Schreiber - Editor (2005), S. 23-42. - Eine Revision bieten jetzt Stock / Canitz (Hg.), Rethinking Philology (2015). 124 Die Leerstellen der Lachmannschen Methode benennt schon Stackmann, Mittelalterliche Texte als Aufgabe (1964), bes. S. 245-247. Mit Bezug auf die Überlieferung des Nibelungenliedes zusammen‐ fassend J.-D. Müller, Lachmann (2022), S.-169-194. 125 Bumke, Der unfeste Text (1996), S.-123. 126 »Von Fassungen spreche ich, wenn 1. ein Epos in mehreren Versionen vorliegt, die in solchem Ausmaß wörtlich übereinstimmen, daß man von ein und demselben Werk sprechen kann, die sich jedoch im Textbestand und/ oder in der Textfolge und/ oder in den Formulierungen so stark unterscheiden, daß die Unterschiede nicht zufällig entstanden sein können, vielmehr in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar wird; und wenn 2. das Verhältnis, in dem diese Versionen zueinander stehen, sich einer stemmatologischen Bestimmung widersetzt, also kein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der klassischen Textkritik vorliegt, womit zugleich ausgeschlossen wird, daß die eine Version als Bearbeitung der anderen definiert werden kann; vielmehr muß aus dem Überlieferungsbefund zu erkennen sein, daß es sich um ›gleichwertige Parallelversionen‹ handelt.« Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-32. 127 Ebd. 128 Zu den Einwänden vgl. Hausmann, Mittelalterliche Überlieferung (2000), bes. S.-76-78. 129 J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-211. 130 Ebd. 131 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-32. 132 J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-211. 133 Die Fassungendiskussion zusammenfassend Baisch, Überlieferung und Ambiguität (2020), bes. S.-329-336. Vor allem im Bereich der Edition der mittelhochdeutschen Epik hat die Forschung die Defizite einer strikt rekonstruierenden Methode schon früh benannt und sich von der Vorstellung distanziert, mittels des textkritischen Instrumentariums das ›Original‹ eines Werkes erreichen zu können. 124 An seine Stelle ist als Ziel eines textgeschichtliche Signifi‐ kanz beanspruchenden Verfahrens die Herstellung von Fassungen getreten, die je differente Zustände eines Werkes repräsentiren und somit die als »Kennzeichen […] vor allem volkssprachiger Textüberlieferung« 125 gelten können. Joachim Bumkes Fassungen-Defini‐ tion hat sich in diesem Zusammenhang als diskursbestimmende methodische Prämisse erwiesen, 126 auch wenn das von ihm veranschlagte Kriterium eines »Formulierungs- und Gestaltungswille[ns]« 127 aufgrund des damit verbundenen Intentionalitätspostulats durchaus problematisiert wird: Nicht nur können Eingriffe, die zwei Fassungen eines Werkes konstituieren, aus unterschiedlichen Überlieferungssituationen und zeitlichen Schichtungen resultieren; 128 ferner wird »[m]it dem Begriff ›Gestaltungswille‹ […] für die Fassung eine dem Autor analoge Position geschaffen.« 129 Aufgrund der damit gleichsam verdoppelten Problematik der Autorschaft (Autortext-Fassung) plädiert Jan-Dirk Müller dafür, den »Begriff ›Parallelfassung‹ Autortexten vor[zu]behalten«. 130 Zumal ein dezi‐ dierter »Formulierungs- und Gestaltungswille« 131 sich »in den seltensten Fällen ausmachen [lässt]«. 132 Als (evidenzbasierte) Beschreibungskategorie, hinter die man mit den Mitteln der klassischen Textkritik nicht mehr zurückkommt, bleibt der Begriff ›Fassung‹ für die Ana‐ lyse von Charakteristika einer Handschriften-Gruppe, die sich durch übereinstimmende gemeinsame Merkmale auszeichnet, funktional operationalisierbar. 133 Gleichwohl, so ist 1.2 Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung 29 <?page no="30"?> 134 Am Beispiel von Nibelungenlied und Klage vgl. J.-D. Müller, Varianz (2023), S. 211: »Was eine Fassung ausmacht, hat deshalb für die ›Klage‹ eine andere Bedeutung als für das Nibelungenlied.« 135 Zum ›Modell epischer Varianz‹ vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-397-455. 136 Programmatisch schon Kühnel, Der ›offene‹ Text (1976), S. 311-321. Vgl. ferner Bumke, Der unfeste Text (1996), S. 118-129; Nichols, Why Material Philology? (1997), S. 10-30; Cramer, Mouvance (1997), S. 150-181. - Am Beispiel der Nibelungenlied-Handschriften k und n Botschan, Der bewegliche Text (2011). 137 Martens, Was ist ein Text? (2005), S.-96. 138 Zum Stellenwert des auctor in der lateinischen Bildungstradition des Mittelalters D’Angelo / Ziol‐ kowski (Hg.), Auctor et Auctoritas in Latinis Medii Aevi litteris (2014). 139 Den »erstaunlich stabil[en]« Rahmen der Nibelungendichtung akzentuiert Müller, Vulgatfassung? (2016), S. 261: »In der Regel ist - mit den üblichen Lizenzen und Ungenauigkeiten - das Strophen‐ gerüst ebenso wie der inhaltliche Kern gewahrt.« 140 Demnach würde die strukturelle ›Offenheit‹ mittelalterlicher Texte lediglich Zugriffe erlauben »auf das Sinngefüge, auf das der Wortlaut zielt«. Lutz, Text und ›Text‹ (2006), S.-11. 141 In diesem Modell werden epische Varianten »grundsätzlich als gleichwertig gedacht«. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-391. 142 Zum Problem der analytischen Beschreibung historischen Wandels vgl. die differenzierte Darstellung in Kiening, Schwierige Modernität (1998), bes. S.-460-470. 143 Vgl. Haye, Verlorenes Mittelalter (2016). festzuhalten, sind die konstituierenden Bedingungen für eine Fassung je fallbezogen zu differenzieren und zu präzisieren. 134 In diesem Zusammenhang erscheint der Befund ›epischer Varianz‹ 135 als logische Konsequenz einer postulierten ›Unfestigkeit‹ bzw. charakteristischen ›Offenheit‹ der mittelalterlichen Schriftkultur. 136 Ein Werk besteht damit nur aus der Summe seiner jeweiligen Versionen. Die Kategorie ›Text‹ bzw. ›Werk‹ im Sinne eines »einheitliche[n], in sich geschlossene[n] Sprachgebilde[s]« 137 ist aufgegeben zugunsten eines Konzepts, das - jenseits autoritativer, d. h. durch das Medium der gelehrten Latinität grundierter auctores-Lektüre 138 - einem alternativen historischen Verständnis unterliegt. Der ›Text‹ repräsentiert insofern eine dynamische Größe, die - abstrahiert von seiner jeweiligen konkreten Materialisierung - in variierender Form schriftlich realisiert werden kann. Inwiefern sich der ›Text‹ dabei notwendigerweise als ›offen‹ oder gar ›unfest‹ erweist, lässt sich als perspektivenabhängige Vorannahme allerdings durchaus hinterfragen. 139 Geht man von einer rein abstrakten Figur aus, die ›Text‹ im Sinne der Entität dessen begreift, woraus ein Erzählkomplex jenseits seiner konkreten Realisierung mittels Schrift schöpft, 140 müssten dann die konkreten Abweichungen, die sich auf einen solchen Abstraktionsgrad bezögen, nicht auch ein weitaus höheres Maß an sprachlicher Differenz erreichen, als sie sich im Modell ›epischer Varianz‹ niederschlägt? Und übersieht das Postulat von deren ›grundsätzlicher Gleichwertigkeit‹ 141 nicht auch die Tatsache, dass historische Tradie‐ rungsprozesse ihrem Wesen nach prinzipiell linear-diachron verlaufen, 142 selbst wenn die Abbildung expliziter Abhängigkeitsverhältnisse in einer eindeutigen stemmatologischen Hierarchisierung aufgrund der Kontingenzen der Überlieferung versagt ist? 143 Explizit definiert Bumke die ›Fassung‹ vom Gestaltungswillen eines Redaktors her. Gleichzeitig aber attribuiert Bumke der ›Fassung‹ vor allem Merkmale, die sich von ihrer Stellung im Stemma 30 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="31"?> 144 Hausmann, Mittelalterliche Überlieferung (2000), S.-76. 145 Worstbrock, Der Überlieferungsrang der Budapester Minnesang-Fragmente (1998), S.-129. 146 Die Vorannahme prinzipieller ›Gleichwertigkeit‹ ist - am Beispiel der Fassungen von Hartmanns Iwein - kritisch reflektiert von Hausmann, Mittelalterliche Überlieferung (2001), Zitat S.-78. 147 Vgl. Frick, Hartmann von Aue: Erec/ Ereck (2023), S.-399-415. 148 Köbele, Rez. zu Wolfram von Eschenbach: Titurel (2003), S.-281. 149 Quast, Der feste Text (2001), S.-41. 150 In Bezug auf das Nibelungenlied jetzt neu evaluiert von J.-D. Müller, Varianz (2023), S. 27-30. Siehe auch oben, Anm.-134. 151 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-32. Zu Bumkes Fassungen-Definition s.-o. Anm.-126. 152 Baisch, Überlieferung und Ambiguität (2020), S.-331. 153 Zur Forderung mittelalterlicher Autoren nach der Wahrung der konkreten Textgestalt vgl. Grub‐ müller, Verändern und Bewahren (2001), S.-8-33; Quast, Der feste Text (2001), S.-34-46. her erklären: Es gehört nach Bumke zu den wesentlichen Eigenschaften von ›Fassungen‹, dass über sie hinaus keine Rekonstruktionen von Textzuständen mehr möglich sind […]. 144 Die Feststellung der »Verschiedenheit eines typologisch älteren und eines jüngeren Zustands« 145 eines Textes dokumentiert ein historisches Differenzkriterium, das nicht das Merkmal der Gleichwertigkeit annehmen kann, weil diese kein voraussetzungs‐ loses ›Faktum‹ ist, sondern Ergebnis literarhistorischer Interpretation und textkritischer (Re-)Konstruktion. Parallelfassungen sind nämlich Ergebnis eines Kollationsverfahrens, das Primärfiliationen gegenüber späteren Überlieferungs‐ stufen einen privilegierten Status zuweist; ›gleichwertig‹ sind diese Parallelfassungen nicht in einem historischen Sinn, sondern allenfalls in einem methodischen, nämlich aufgrund ihrer ›gleichen‹ Position im Stemma. 146 Hier wird der Zielkonflikt zwischen der editionsphilologischen Methode und dem diese unmittelbar bewertenden (text-)hermeneutischen Verfahren evident. 147 »Überlieferung, wo sie Signifikanz beansprucht, ist ein interpretierter Befund«. 148 Diese Feststellung hat Konsequenzen für eine »historisch angemessene Differenzierung mittelalterlicher Textualität«, 149 die die Forschung in der dichotomischen Perspektive ›fest vs. offen‹ gefasst hat. 150 Die einseitige Fixierung auf entweder ›moderne‹ Konzepte eines emphatischen Text-Werk-Begriffs oder aber auf die weitgehende Aufgabe jeglicher autoritativer Ordnungsinstanzen offenbart evidente ›Leerstellen‹ des Modells, die eine umgekehrte Denkrichtung nahelegen: Der Umstand, dass die Fassungen eines Textes (mit Bumkes Definition) »in solchem Ausmaß wörtlich übereinstimmen, daß man von ein und demselben Werk sprechen kann«, 151 berechtigt zu der Annahme, dass der ›Text‹ dem his‐ torischen Verständnis nach - trotz seiner »grundsätzlich mögliche[n] Veränderbarkeit« 152 - offenbar nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern in einer eindeutig konturierten ›Textur‹ vorliegt, deren Normativität gerade in der sprachlichen u n d formalen Gestalt begründet ist. 153 Damit bietet die Faktur des Textes in ihrem - textglobal betrachtet - weitgehend 1.2 Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung 31 <?page no="32"?> 154 Quast, Der feste Text (2001), S.-38. 155 Insofern ist die Argumentation Gablers (Wider die Autorzentriertheit [2012], S. 322) mit der Kategorie des ›Textsinns‹ als Bezugsgröße für die Tätigkeit mittelalterlicher Schreiber, die bemüht gewesen seien, »Gedanken und Sinn der überlieferten Werke«, nicht aber zwingend den Wortlaut getreu wiederzugeben, grundsätzlich heikel, weil diese Kategorie, wenn überhaupt adäquat, so doch immer nur annäherungsweise historisierbar ist. 156 Kablitz, Kunst des Möglichen. Prolegomena (2003), S.-251-273. 157 Kablitz, Kunst des Möglichen (2013), S.-160. 158 Hasebrink, Ambivalenz des Erneuerns, S.-205. 159 Hasebrink, Ambivalenz des Erneuerns, S.-206. 160 Zum systemtheoretischen Ort des Begriffs siehe oben, Anm.-89. 161 Quast, Der feste Text (2001), S.-45. 162 So das vielzitierte Dictum von Cerquiglini, Éloge de la variante (1989), S. 111: »L’écriture médiévale ne produit pas de variantes, elle est variance.« 163 Zum Begriff grundlegend Zumthor, Essai de poétique médiévale (1972). 164 Am Beispiel der Nibelungenlied-Überlieferung jüngst Müller, Typen von Varianz (2020), S. 354-387; Schmid, Die Fassung *C (2018). - Für die Nibelungenklage bringt Kern (Lachmanns Klage [2019], S. 55) die Problematik auf den Punkt (wobei die Klage-Fassung *J hier auszunehmen wäre, s. Kap. 2.2): »Natürlich gibt es Differenzen zwischen den Fassungen, natürlich sind diese interessant, natürlich sind sie editionsphilologisch zur Kenntnis zu nehmen und literaturwissenschaftlich untersuchenswert. Doch alle Fassungen erzählen nicht nur im Grunde, sondern sehr weitgehend dieselbe Geschichte, man könnte schärfer noch sagen: sie bieten dieselbe Dichtung, sie sprechen gleichsam dieselbe ›Nibelungische Klagesprache‹.« 165 J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-27. »invariablen Wortlaut« 154 und nicht etwa ein außerhalb der materiellen Überlieferung liegendes Sinngefüge die Basis für den retextualisierenden Zugriff. 155 Natürlich können bei jeder Retextualisierung zugleich auch Spielräume impliziten ›Möglichkeitssinns‹ zum Tragen kommen - ein jeder Form des Literarischen inhärenter Überschuss, den Andreas Kablitz als Potential der Sprache fasst, 156 Bedeutungskonstitution über die »Produktion impliziter Propositionen« 157 auf verschiedenen Ebenen (sprachlich, lautlich, semantisch, intra- und intertextuell) zu erzeugen. Ein solcher Möglichkeitssinn des Erzählens setzt eine »literarische[ ] Prozessualität« 158 frei. In Bezug auf die mittelalterliche Praxis des Wiedererzählens bzw. der Retextualisierung erscheint das Mögliche dabei nicht »in seiner reinen Potentialität«, sondern verwirklicht sich »in einer artifiziellen Erneuerung«. 159 Sie ist Teil einer je alternativ nuancierten Anschlusskommunikation, 160 die auf der komplexen »Koinzidenz von Textsicherung und Varianzgebot« 161 aufruht. Der mittelalterliche, genauer: volkssprachige Text verkörpert also weder per se »vari‐ ance« 162 noch zeitigt die so verstandene mouvance  163 tatsächlich hochgradig differente narrative Ausprägungen eines zugrundeliegenden ›Textes‹. 164 In Bezug auf das Nibelungen‐ lied und seinen Charakter als ›offenen‹ Text hat Jan-Dirk Müller jüngst festgehalten: Betrachtet man die Formulierungsvarianten der Überlieferung, dann könnte solch ein Eindruck entstehen. Er ist gleichwohl falsch. Ihm steht entgegen, dass das Nibelungenlied in seiner Archi‐ tektur ein extrem fester Text ist, der ungeachtet der verschiedenen Textgestalt an der Oberfläche […] bis ins Spätmittelalter nicht die einer oralen Überlieferung zugeschriebene Unfestigkeit aufweist. 165 32 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="33"?> 166 J.-D. Müller, Varianz (2023), S. 28. Und weiter: »Ungeachtet der Varianz im Wortlaut, ungeachtet der Anlagerung oder dem Weglassen einzelner Strophen, gibt es keine Variation des Gesamtbaus, keine wechselnde Reihenfolge von Textpassagen, keine Vertauschung der Elemente, keine wechselnde Kombination und freie Auswahl […].« (Ebd.). 167 »In der Lyriküberlieferung ist die Annahme des Nebeneinanders gleichwertiger Fassungen, die zum Vortrag kamen, Konsens, der durch die Liederhandschriften nahegelegt wird.« J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-291. 168 Strohschneider, Situationen des Textes (1997), S.-69. 169 Strohschneider, Situationen des Textes (1997), S.-81. 170 Vgl. Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003). 171 Strohschneider, Situationen des Textes (1997), S.-82. 172 Strohschneider, Situationen des Textes (1997), S.-83. 173 Strohschneider, Situationen des Textes (1997), S.-82 u.-85. 174 Zu den spezifischen Wahrheitsdiskursen, denen ›heilige‹ Texte unterliegen, vgl. Quast, Inkulturation (2017), S.-153-165; Köbele, Registerwechsel (2017), S.-167-202. Diese »Festigkeit des Textes« in Struktur und Handlungsabfolge lässt sich von der »Varianz des Wortlauts« absetzen. 166 Ein solcher Befund dokumentiert die Grundbedingungen mit‐ telalterlicher Textualität. 167 Mit Bezug auf historische Text-Kontext-Konstellationen sowie die Kriterien von Stabilität und Varianz, die sich je genrespezifisch in den »Modalitäten und Umständen des Textgebrauchs« 168 ausprägen können, ließe sich mit Peter Strohschneider eine situationsabstrakte Ebene ansetzen, die gerade nicht das Phänomen prinzipieller mouvance, sondern der Invarianz mittelalterlicher Texte in der Volkssprache perspektiviert: eine in den unterschiedlichen Versionen heroischer und höfischer Literatur aufscheinende »relativ situationsabstrakte Stabilität, Statik und Dauerhaftigkeit«. 169 In dieser Ablösung des ›Textes‹ von der körpergebundenen Kommunikation manifestiert sich die mouvance der Überlieferung als prozessuale Kategorie. 170 Sie gründet auf der »Formiertheit« 171 literarischer Rede, die in der schriftlichen Fixierung jeweils als ›invariant‹ aufgehoben ist, so die von Peter Strohschneider vorgelegte kategoriale Bestimmung: Variabel sind sie [sc. die Texte] zwar auf jener linguistischen Ebene des ›Wortlauts‹, auf welcher sich erst für die Episteme der Buchkultur die Identität eines Werkes entscheiden kann, doch auf zahlreichen anderen Ebenen ist die poetische Rede vielmehr spezifisch gekennzeichnet durch die invariance ihrer Traditionalität, Konventionalität, Habitualität, Fortmiertheit. 172 Mittelalterliche Textualität ist diesem Verständnis nach gekennzeichnet durch eine duale Struktur, die einerseits »die Stabilisierung und Wiederholbarkeit« poetischen Wissens durch dessen Überführung in die Schriftform sichert (›Invarianz‹), dieses damit andererseits und zugleich aber erst verfügbar macht für die »Anpassung an die Situation [seines] jeweiligen Gebrauchs (variance)«. 173 Dieses Konzept, das sich für religiöses Erzählen in der Volkssprache noch einmal grundsätzlich anders darstellt, 174 ist nicht nur auf qualitative Varianz im Rahmen der Epenüberlieferung anwendbar, sondern gilt gleichermaßen auch für Quantitätsphänomene: Kurzfassungen höfischer Epen repräsentieren in der Regel sekundäre redaktionelle Bear‐ beitungen der längeren Prätexte und lassen sich insofern als Produkte einer habitualisierten Praxis im Kontext der poetischen Kommunikation im Mittelalter verstehen. Die quanti‐ tative Varianz wird dabei auf der Ebene des Wortlautes bzw. der makrostrukturellen Ordnung als spezifische Figuration des Bezugstextes - abgelöst von einer rein oralen Tra‐ 1.2 Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung 33 <?page no="34"?> 175 Quast, Der feste Text (2001), S.-45 u.-39. 176 Zum methodischen Vorgehen vgl. die Überlegungen in Kap.-1.4. 177 Vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), bes. S.-3-11. 178 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-421. 179 In Bezug auf die Kurzfassung der Nibelungenklage *J, die sich eindeutig zur *B-Klage stellt, vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-292. 180 »Fassungen zeichnen sich durch thematisch-semantische Veränderungen auf der Ebene der Text‐ kohärenz aus, die zu Neufokussierungen bzw. Fokusverschiebungen führen können.« Schiewer, Fassung, Bearbeitung, Version und Edition (2005), S.-41. 181 Zur Annäherung an einen solchen Neuansatz vgl. Kap.-1.4 sowie resümierend Kap.-3.2. dierung im Akt der Performanz - fixiert und so für etwaige Aktualisierungsmöglichkeiten bereitgestellt. In diesem Prozess erscheint der Erzählmodus der Kürzung als relevanter Parameter im Rahmen eines literarischen Kontinuums, das sich grundlegend durch das Spannungsfeld von situationsgebundener Offenheit und situationsabstrakter Stabilität konstituiert. Quantitative Varianz - wie mouvance im Allgemeinen - ließe sich in diesem Sinne begreifen als intentional markierte »Funktion einer textlichen Idealgestalt«, die zwar prinzipiell jenseits des konkreten Wortlauts liegt, indes immer »den Text als material geschlossenes Artefakt vor Augen hat.« 175 Dieser Ansatz bietet insofern eine alternative Perspektive gegenüber dem main stream der Forschung, weil er erlaubt, die Analyse von Kurzfassungen von der Fixierung auf ihr Verhältnis zum Prätext und die diesem gegenüber feststellbaren Abweichungen zu lösen. Er fragt danach, auf welche situativen Kommunikationsbedingungen die Kürzung jeweils reagiert und mit welchem Forminventar dies geschieht - d. h. der Fokus verschiebt sich von einem tendentiell einseitigen formalistischen Zugang mittels einer dokumentie‐ rend verfahrenden ›Bestandsaufnahme‹ der Varianz hin zu einem Analysemodell, das unterschiedliche Ebenen der Textkonstitution berücksichtigt. 176 Die Beschäftigung mit Kurzfassungen höfischer Epik gehört fachgeschichtlich in die oben skizzierte Fassungen-Diskussion der germanistischen Mediävistik als zentralem Referenzdiskurs. 177 Insofern blieb das Interesse an diesen Texten zunächst weitgehend auf den Komplex textkritischer Fragen, insbesondere auf den »Zusammenhang der Gewin‐ nung eines autornahen Archetyps« beschränkt. 178 Aus editionsphilologischer Sicht bilden Kurzredaktionen eigenständige Versionen der längeren Epen, die sich im Rahmen der philologischen Textkonstitution unter die Fassungen-Gruppen der Langtexte einordnen lassen. 179 In diesem Modell beruht die Differenzqualität der Kurzredaktionen gegenüber anderen Fassungen eines Textes auf dem Merkmal quantitativer Reduktion der Vers-Masse, während sie die spezifische (Leit-)Varianz als gemeinsames Merkmalbündel mit anderen Langfassungen teilen. Zwar müssen für eine solche Einordnung die Varianten der Kurzfas‐ sungen berücksichtigt werden, sodass Aspekte der Erzählstruktur und Textkohärenz in der editionsphilologischen Diskussion zu Fassungen durchaus eine Rolle spielen. 180 Diese Aspekte haben jedoch bisher nicht in einer formsemantischen Analyse von Kurzfassungen Niederschlag gefunden. 181 Aus dem primär textkritisch orientierten Zugriff erklären sich divergierende, von wertenden Implikationen getragene Einschätzungen der Kürzung, z. B. hinsichtlich der vermeintlich sprachlich-ästhetischen wie inhaltlichen Minderwertigkeit infolge der Aus‐ 34 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="35"?> 182 Vgl. die literarisch-qualitativ wie ästhetisch abwertenden Einschätzungen der Kurzfassung *J der Nibelungenklage als »schwache Dichtung« (Wehrli, Die Klage und der Untergang der Nibelungen [1972], S. 104), »sehr mittelmäßiges Werk« (de Boor, Die höfische Literatur [1991], S. 167), »Dichtung von künstlerisch-ästhetisch geringem Rang« (Voorwinden, Nibelungenklage und Nibelungenlied [1981], S. 276) sowie gegenüber dem Nibelungenlied als defizitär erachtetes »Experiment« (Wachinger, Die Klage und das Nibelungenlied [1981], S. 266). - Zu diesen Werturteilen zusammenfassend Frick, Narrative Ordnung? (2021), S.-84f. 183 Dass »einige Komponenten dieses älteren [sc. editionsphilologischen] Ansatzes nach wie vor [dominieren]« bemerkt J.-D. Müller, Vulgatfassung? (2016), S.-254. 184 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-391. 185 Zu Bumkes ›Modell epischer Varianz‹ s. o. Anm. 135. - Überlieferungsgeschichtlich argumentiert Baisch, Textkritik (2006), S. 54-97. - Fassungen im Kontext mittelalterlicher Schreibprozesse fokussieren Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-357-409. 186 Stackmann, Die Edition - Königsweg der Philologie? (1993), S.-1-18. 187 »Von einer Beschreibung epischer Variation ist zu erwarten, daß sie Ausmaß und Charakter der Variation deutlich macht.« Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-390. 188 Zum funktionsgeschichtlichen Ansatz Baisch, Textkritik (2006), S.-54-86, hier: S.-77. lassungen. 182 Diese zunächst einem dezidiert editionsphilologisch orientierten Erkenntnis‐ interesse verpflichteten Ansätze ruhen auf einer solchen fachgeschichtlichen Konstanz auf, dass sie sich noch immer in den veranschlagten Prämissen und axiologischen Rastern reproduzieren, die bei der literaturwissenschaftlichen Beschreibung der infrage stehenden Texte in der Regel zum Zuge kommen. 183 Aus diesem Grund hat die Forschung zurecht auf die manifeste Inadäquatheit des diskursbedingt immer eine »Änderungsrichtung« 184 implizierenden editionswissenschaftlichen Begriffsinstrumentariums für die literaturwis‐ senschaftliche Analyse hingewiesen und alternative Konzepte vorgelegt. 185 Dennoch stoßen Versuche, Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epik über den Diskurs der Textkritik hinaus als eigenständige Form epischen Erzählens zu beschreiben, aufgrund der Dominanz dieses ›klassischen‹ Paradigmas - mit Karl Stackmann des »Königsweg[s] der Philologie« 186 - an methodische Grenzen: Einerseits erscheint epische Kürzung reduziert auf rein formalistische Aspekte, die eine tendentiell ›technische‹ Klassifikation der quantitativen (und qualitativen) Varianz vornehmen. Ziel ist zwar eine strukturelle Erfassung der variierenden Charakteristika, die aber gleichwohl nicht ohne die Annahme einer stemma‐ tologisch übergeordnet positionierten ›Langfassung‹ auskommen, um interpretatorische Signifikanz beanspruchen zu können; zumal sich damit der Untersuchungsgegenstand von den Texten selbst gewissermaßen nach ›innen‹ auf unterschiedliche Ausprägungen der Varianz verschiebt. 187 Andererseits dominiert eine funktionalistische Tendenz, für die das Postulat eines ›Formulierungswillens‹, d. h. einer Intentionalität der festgestellten Abweichung von der präsupponierten ›Norm‹ (Stichwort: Langfassung) angesetzt wird, womit »neue[ ] Ausgestaltungen [der] Sinndimensionen in gewandelten historischen Situationen« angesprochen sind. 188 Insbesondere die Fixierung auf das Fassungen-Paradigma verengt den analytischen Zugriff auf die Texte, indem es die Kurzversionen immer schon in einem hierarchischen und insofern kaum wertfreien Verhältnis an die jeweils als Langtexte kursierenden Versionen eines Werkes bindet - und damit den Konstruktionen der klassischen Textkritik verhaftet bleibt. Denn die Annahme von Fassungen schließt nicht aus, »dass die eine dieser Fassungen primär, die andere sekundär ist (z. B. als Kürzung, Erweiterung oder Neuordnung eines 1.2 Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung 35 <?page no="36"?> 189 J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-209. 190 Zu dieser Problematik Hausmann, Reinmar der Alte (1999), bes. S. 14-17. - Zum ›Ineinander‹ von Produktion und Rezeption Baisch, Textkritik (2006), S. 84: »Vor diesem Verständnishorizont wird volkssprachliche Varianz als Form aktiver Rezeption beschreibbar, durch die der Schreiber einer Handschrift im gewandelten Sinnhorizont seiner Situation umschreibend auf die konstitutive Unbestimmtheit literarischer Kommunikation reagiert.« 191 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S. 419-439; Henkel, Kurzfassungen (1992), S.-1-11; Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-39-59. 192 Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-214-248. 193 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-422. 194 Zu den vier Typen redaktioneller Kürzung, für die die Kategorie des »produktiv mit- und wei‐ tergestaltenden Redaktor[s]« angesetzt wird, vgl. Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 49f. Diese Beobachtungen verknüpft Henkel in einem anderen Beitrag mit Perspektiven auf die Editionspraxis kürzender Bearbeitungen. Vgl. Henkel, Kurzfassungen (1992), S.-1-11. vorgegebenen Textes).« 189 Die Relationalität ist selbstverständlich evident, doch verdeckt ein solcher Fokus die Tatsache, dass Überlieferungsvarianz im Modus der Kürzung als eine Form der mouvance mittelalterlicher Texte in der Volkssprache auch grundsätzlich - unabhängig von den umfangreicheren Prätexten - historisch wahrnehmbar gewesen und auf Wahrnehmbarkeit des gekürzten Textes als solchen hin entstanden ist. Dabei liegt das Überblenden der Prozesse von Reproduktion und Rezeption durchaus nahe, 190 doch umgeht dieser Ansatz m. E. das zentrale Problem der grundsätzlichen (immer nur fragmenthaft rekonstruierbaren) Mehrschichtigkeit mittelalterlicher literarischer Kommunikation in der Volkssprache, indem er das Phänomenspektrum auf eine Perspektive verkürzt. Daher scheint es geboten, unterschiedliche Ebenen zusammenzudenken, um die historischen Spezifika epischer Kürzung herauszuarbeiten. Wichtige Anknüpfungspunkte bieten die bisher von der altgermanistischen Forschung vorgelegten einschlägigen Arbeiten zu Kurzfassungen höfischer Epik. In den frühen 1990er Jahren haben Nikolaus Henkel und Peter Strohschneider auf das Phänomen kürzender Re‐ daktionen mittelhochdeutscher Erzähldichtung aufmerksam gemacht, 191 das zuvor Rüdiger Schnell - in einem die Genese des frühneuhochdeutschen Prosaromans akzentuierenden Ansatz - als Teil der Literaturgeschichte höfischer Epik beschrieben hatte. 192 Henkel und Strohschneider haben eine Gliederung des Materials und das Aufzeigen von Perspektiven für die Erforschung von Kurzfassungen mittelhochdeutscher höfischer Epik vorgelegt. Dabei geht es Peter Strohschneider darum, einen methodisch orientierten Ansatz vorzu‐ stellen und mögliche Aufgabenstellungen zu formulieren, auf denen eine »umfassende überlieferungs- und textgeschichtliche Heuristik solcher kürzenden Fassungen höfischer Romane« 193 aufbauen könne. Sein Aufsatz präsentiert insofern eine programmatische ›Standortbestimmung‹ im Hinblick auf die für das anvisierte Forschungsfeld infrage kommenden Texte. Nikolaus Henkel bietet eine erste Dokumentation des in der hand‐ schriftlichen Überlieferung greifbaren Materials, um die Relevanz des Phänomens sichtbar zu machen. Anhand mehrerer Fallbeispiele (Nibelungenlied und -klage, Hartmanns Iwein, Gottfrieds Tristan und Heinrichs von Veldeke Eneasroman) entwickelt er konkrete Beschrei‐ bungskriterien, mit denen sich unterschiedliche Typen redaktioneller Kürzung erfassen und, mit Rücksicht auf die literarische Interessenbildung der Zeit, einem interpretierenden Zugriff zuführen lassen. 194 36 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="37"?> 195 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-47f. 196 Strohschneider, Rez. Bumke: Die vier Fassungen (1998), S.-102. 197 Vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-282-297. 198 Bumke (Hg.), Die Nibelungenklage (1999). 199 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-297. 200 »Unser Überblick zeigt, daß die ganze höfische Epik der Zeit um 1200, mit Ausnahme des Willehalm, in ›gleichwertigen Parallelversionen‹ vorliegt. Dieses Phänomen setzt sich im 13. Jahrhundert fort.« Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-298f. 201 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-296. 202 Neben der Nibelungenklage *J liegt noch die Kurzfassung des Rosengarten in einer kritischen Edition vor. Vgl. Lienert / Kerth / Nierentz (Hg.), Rosengarten (2015). Zur Neuedition von Gottfrieds Tristan nach dem Leitast X, dem auch die Münchener Handschrift M angehört, jetzt Tomasek (Hg.), Gottfried von Straßburg. Tristan und Isolde (2023). 203 Vgl. Baisch, Überlieferung und Ambiguität (2020), S.-327f. 204 Dazu Müller, Aufführung - Autor - Werk (1999), bes. S.-151. Ausgehend von diesen Erkenntnissen hat Joachim Bumke nachdrücklich die literarhis‐ torische Bedeutung der im Spektrum der Parallelüberlieferung mittelhochdeutscher Epik zu beobachtenden Existenz von Lang- und Kurzfassungen eines Textes betont. 195 In seinem als »bewundernswürdiges Monument philologischer Gelehrsamkeit« 196 gewürdigten und noch immer einschlägigen Werk arbeitet er die vier Fassungen der Nibelungenklage mit Rückgriff auf überlieferungsgeschichtliche Ansätze systematisch auf. Seine Studie bietet nicht nur eine exemplarische Analyse der Klage-Kurzfassung *J 197 - eine Vorarbeit zur synoptischen Edition der vier Fassungen 198 -, sondern auch die Diskussion grundsätzli‐ cher Fragen, die sich mit der Kürzung als literarhistorisch bedeutsamer Kategorie der Textbearbeitung verbinden. Die Tatsache, »daß es von nicht wenigen höfischen Epen von Anfang an Lang- und Kurzfassungen gab«, 199 interpretiert Bumke als Anhaltspunkt für die Herausbildung eines frühen Prinzips quantitativer Varianz, dessen Beschreibung nur in der Kombination unterschiedlicher historischer Parameter (produktionswie rezeption‐ sästhetischer Kriterien, performativer Praktiken, Tradierungsbedingungen etc.) gelingen könne. 200 Indessen erwies sich Bumkes optimistische Aussage, Kurzfassungen fänden mit »den Forschungen von Peter Strohschneider und Nikolaus Henkel die Beachtung […], die sie verdienen«, 201 auf längere Sicht hin als Fehleinschätzung. Denn mitnichten haben die auf unterschiedlichen Ebenen skizzierten weitreichenden Perspektiven des Forschungsfeldes und des damit erwartbaren Erkenntnispotentials ein wissenschaftliches Interesse auf diesem Gebiet mobilisieren können, eher im Gegenteil: Dass eine eingehendere Profilierung einer poetologischen Tradition der Kürzung im Kontext mittelhochdeutscher Epik in systematischer Hinsicht ausblieb, dürfte nicht zuletzt in der miserablen Editionslage der entsprechenden Texte begründet sein. Denn bis auf Bumkes synoptische Edition der vier Fassungen der Nibelungenklage liegt das Gros der von Henkel und Strohschneider verzeichneten Kurzredaktionen ausschließlich handschriftlich vor - ein Sachverhalt, der in der aktuellen altgermanistischen Wissenschaftspraxis nicht dafür prädestiniert ist, reiches Forschungsinteresse auf sich zu ziehen. 202 Darüber hinaus dürfte wohl auch ein weiterer Faktor ursächlich sein, den schon Peter Strohschneider benannt und auf den jüngst wieder Martin Baisch verwiesen hat 203 - er betrifft den Stellenwert der höfischen Epik als locus classicus der Textkritik: 204 Weil es sich bei Kurzfassungen um genuin ›buchepische‹ 1.2 Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung 37 <?page no="38"?> 205 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-421. 206 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S. 437. Zu diesem Ansatz am Beispiel der Tristan- und Willehalm-Fortsetzungen vgl. Strohschneider, Alternatives Erzählen (1991). 207 Baisch, Textkritik (2006). 208 Vgl. Baisch, abbreviatio (2005), S. 101-120; Baisch, Das Skriptorium des Cgm 51 (2013), S. 669-690; Baisch, Überlieferung und Ambiguität (2020), S.-327-341. 209 Zum problematischen Verhältnis von ›Befund und Deutung‹ am Beispiel des Cgm 51 vgl. Kap.-3.1. 210 Vgl. Kiehl, Zur inhaltlichen Gestaltung (2008), S.-340. 211 Vgl. Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01). Siehe dazu Kap. 3.1.2.3. bzw. schriftliterarische Bearbeitungen der längeren, nicht selten kanonischen Bezugstexte handelt, zeichnet sich hier noch immer die Dominanz eines Textbegriffs ab, »von dem […] nicht sicher ist, daß seine Implikationen ahistorischer Textintegrität und Textkohärenz ihren geschichtlichen Gegenstand überhaupt erreichen«. 205 Vielmehr wären die literarbzw. im engeren Sinne gattungshistorischen Zusammenhänge anders zu denken: nicht als ›vertikale‹ Reihe von Texten, sondern als »Funktionszusammenhang aufeinander bezogener Alternativen«. 206 Insofern überrascht es nicht, dass eine der wenigen monographischen Abhandlungen auf diesem Gebiet aus einem Münchener Graduiertenkolleg hervorging, das genau diesen Fragestellungen gewidmet war, nämlich der ›Textkritik als Grundlage und Methode historischer Wissenschaften‹. Die Dissertation von Martin Baisch zur Kurzfassung von Gottfrieds von Straßburg Tristan im Cgm 51, 207 deren Ansatz er in mehreren Einzelstudien exemplifiziert, 208 arbeitet sich an der Frage nach dem Verhältnis von Textkritik und Hermeneutik ab und konturiert in exemplarischem Detailstudium die Relevanz einer überlieferungsbezogenen Lektüre für die Interpretation der Texte. Denn die ›Unfestigkeit‹ mittelalterlicher Überlieferung bedinge eine je fallbezogen variierende Kernaussage des Textes, die durch ein genaues Studium - in diesem Fall: der kürzenden Eingriffe - erst herauszupräparieren und vor dem Hintergrund der längeren Versionen des entsprechenden Textes zu verstehen sei. 209 Einem ähnlichen Fragehorizont ist auch die wenige Jahre später erschienene Ham‐ burger Dissertationsschrift von Christina Kiehl zur Kurzfassung der Nibelungenklage *J verpflichtet. Ausgehend von einem dezidiert vergleichenden Ansatz arbeitet Kiehl die Eigenheiten der *J-Klage gegenüber der ›Langfassung‹ *B heraus, die sich in einer inhaltlichen Schwerpunktverschiebung dokumentieren. 210 Freilich erweist sich der über‐ lieferungshistorisch ausgerichtete Ansatz beider Studien in methodischer Hinsicht als ambivalent: Die verdienstvolle (Tiefen-)Erschließung des charakteristischen Profils der beiden Kurzfassungen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Bezugstexte ist nur um den Preis einer Dispensierung von Perspektiven zu haben, die jenseits einer Referenzlogik von Plusbzw. Minusstellen ansetzen und über vergleichende Argumentationsmuster hinaus‐ führen. Symptomatisch erscheint dieser Ansatz auch in der Freiburger Dissertationsschrift von Marcus Schröter, die die zusammen mit der Weihenstephaner Chronik überlieferte spätmittelalterliche Kurzfassung von Heinrichs von Veldeke Eneasroman verhandelt. 211 Diese relationale Kategorisierung der Texteingriffe erscheint im Hinblick auf die vorge‐ legten Arbeiten zu Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epik als bestimmendes Merkmal. So beziehen sich auch Christiane Krusenbaum-Verheugen und Christian Seebald auf das Kriterium überlieferungshistorischer Kontextualisierung, um am Beispiel der kürzenden 38 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="39"?> 212 Kursenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-369. 213 Diese Frage wird im Hinblick auf das Phänomen ›gestufter Evidenzen‹ literarischer Kürzung vertieft in Kap.-3.1.2. 214 Vgl. Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-214-248. 215 Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-221. 216 Schnell, Prosaauflösung (1984), S. 224, führt diese Entwicklung auf veränderte Gebrauchsfunktionen der Texte und infolgedessen auf eine verstärkte Nachfrage nach kürzeren Formtypen zurück. 217 Das Postulat von Schnell (Prosaauflösung [1984], S. 230) wird in einem Ausblick exemplarisch fokussiert. Vgl. Kap. 3.1.2.4. - Zur Interdependenz des (spät-)höfischen romanhaften Erzählens und chronikalisch-enzyklopädischer Tendenzen siehe Herweg, Wege zur Verbindlichkeit (2019); Herweg / Kipf / Werle (Hg.), Enzyklopädisches Erzählen (2019). 218 Häberlein (Kurzfassungen in Prosa? [2018], S. 169-182) geht es vor allem um eine typologische Neubewertung der frühneuzeitlichen Prosaromane auf der Basis einer stoffgeschichtlichen Differen‐ zierung der Provenienz der Materie. Bearbeitungen von Hartmanns von Aue Iwein das Konzept der ›Kurzfassung‹ einer grundle‐ genden methodischen Revision zu unterziehen. Kürzungen werden hier eingeordnet in ein ganzheitliches Spektrum redaktioneller Verfahren der (Um-)Gestaltung von vorhandenem Textmaterial: Der philologisch präzise Blick auf die Fehlverse gegenüber den als Bezugstext gewählten Versionen des Iwein (A und B) dokumentiert dabei eine Diversität der Eingriffe, die gerade nicht im »Fokussieren des Textes auf ein Handlungssubstrat« als »Leitidee aller Bearbeitungsformen der Verdichtung« 212 aufgeht, sondern auf eine Vielschichtigkeit und gegenseitige Überlagerung bzw. Interdependenz der Bearbeitungsprozesse verweist. Die auf der Grundlage textgeschichtlicher Parameter operierende Interpretation spricht den Befunden den Charakter als ›Kurzfassung‹ ab, indem sie das Phänomen der abbreviatio auf eine strikt prozessuale Logik verpflichtet. 213 Das Postulat einer aus dem Verfahren literarischer Kürzung resultierenden Reduktion des Erzählten auf den ›bloßen Stoff‹ wurde schon in den 1980er Jahren von Rüdiger Schnell eingeführt, der erstmalig die Verfahren und Funktionsweisen von Prosaauflösungen mittel‐ hochdeutscher Epen analysiert und sie in einem Kontinuum sozialer und literarhistorischer Veränderungen im Spätmittelalter verortet hat. 214 »[W]esentliches Kennzeichen« der Pro‐ sabearbeitungen wie der Prosa-Erzählliteratur im 15. Jahrhundert überhaupt sei demnach »ein[ ] starke[r] Hang zur Kürze« und damit zu einer handlungsorientierten Darstellung, die die »summa facti« favorisiere. 215 Die Aussage, dass sich dabei die »Tendenz zum Kurzfassungstyp« in der deutschen Literatur schwerpunktmäßig erst im Spätmittelalter herausgebildet habe, 216 kann aufgrund der Arbeiten von Bumke, Henkel und Strohschneider modifiziert werden. Denn ihre Studien zeigen die konstitutive Bedeutung des Phänomens für die Gattungsgeschichte der höfischen Epik deutlich auf. Indes wäre der Einfluss chro‐ nikalischer Erzähltraditionen auf die Ausbildung kürzender Versbearbeitungen auf einer breiteren Materialbasis auf seine grundsätzlichen Implikationen hin weiter zu befragen. 217 Dass sich Prosaauflösungen mittelhochdeutscher Epen heuristisch sinnvoll als deren Kurzfassungen beschreiben lassen, wie dies jüngst Bianca Häberlein vorgeschlagen hat, 218 erscheint hingegen als problematisch. Nicht nur wäre damit die heuristisch angesetzte gattungsystematische Vergleichbarkeit des Corpus aufgegeben, mehr noch: Der Terminus ›Kurzfassung‹ im Sinne eines Distinktionskriteriums für Phänomene innerhalb der mit‐ telalterlichen volkssprachigen Textualität verlöre seine heuristisch-hermeneutische Prä‐ gnanz. Wo die konkreten Bezugspunkte für die Veranschlagung elementarer Charakteris‐ 1.2 Kurzfassungen höfischer Epik im Diskurs der germanistisch-mediävistischen Forschung 39 <?page no="40"?> 219 Vgl. zur Definition von Bumke oben Anm.-126. 220 Der Ansatz ist aus literarhistorischer Perspektive problematisiert in Kap.-3.1.2.4. 221 Zur heuristischen Definition in Anlehnung an Strohschneider (Höfische Romane in Kurzfassungen [1991], S. 422), siehe oben S. 17 mit Anm. 51. Einen Vorschlag für eine Präzisierung des Konzepts ›Kurzfassung‹ bietet Kap.-3.2. 222 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-393. 223 Vgl. in anderem Gattungskontext zuletzt Hopf, Mystische Kurzdialoge (2019). Hier steht die syste‐ matisierend-hermeneutische Differenzierung des Begriffs der Kürze solcher ›Kurzdialoge‹ noch aus. 224 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-392. 225 Zu diesem Perspektivenwechsel am Beispiel kleinerer mittelhochdeutscher Reimpaardichtungen Holznagel, ›Autor‹ - ›Werk‹ - ›Handschrift‹ (2002), S.-141. 226 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-438. 227 Siehe dazu die methodischen Vorüberlegungen in Kap.-1.4. tika einer Fassung fehlen, 219 tendieren die analytisch erzielten Befunde notwendigerweise dazu, unspezifisch zu werden, weil sie bestenfalls Erkenntnisse zu einzelnen Objekten liefern, jedoch nicht das Phänomen in der Breite seiner Manifestationen systematisch erfassen. 220 Insofern ist mit Nachdruck an dem Konzept ›Kurzfassung‹ festzuhalten, denn es bietet aufgrund seiner spezifischen Konturierung in der gängigen philologischen Praxis eine begriffliche Referenzbasis, 221 von der aus sich typologische Differenzen innerhalb des Gattungskontinuums mittelhochdeutscher Epik beschreiben lassen, ohne sie innerhalb des Bearbeitungsspektrums volkssprachiger Literatur als eine Form »vielfältiger Schreib‐ prozesse und redaktioneller Gestaltungsweisen« 222 neben anderen zu generalisieren. Dass es bei solchen heuristischen Abgrenzungen immer auch um die Frage nach einer ›Ge‐ winn-Verlust-Bilanz‹ wissenschaftlichen Erkenntnispotentials zu tun ist, gehört zu den grundlegenden methodischen Voraussetzungen literaturbzw. geistes- und kulturwissen‐ schaftlicher Forschung. 223 Doch scheint der Verzicht auf klassifikatorische Parameter weitaus größere Risiken - nämlich solche einer prekären Referentialisierung der erzielten Ergebnisse - zu bergen, als seine analytische Operationalisierbarkeit an systemrelevanten Resultaten zu erbringen verspricht. Das dabei durchaus einzukalkulierende »Nebenein‐ ander von Diaparatem«, 224 d. h., dass koordinierte kürzende Eingriffe ebenso wie punktuell beobachtbare Raffungstendenzen Erweiterungen gegenüberstehen, sollte nicht im Sinne eines Mangels die Tragfähigkeit des Konzepts ›Kurzfassung‹ überdecken. Es bietet viel‐ mehr die Chance, hinter der Vielfalt kürzender Verfahren »hochinteressante Formen historischer Sinnproduktion« aufzudecken. 225 Kurzfassungen könnten insofern als wichtige »Prüfsteine« 226 fungieren hinsichtlich der Rekonstruktion einer historischen Erzählpraxis, für die sich die narrative Instrumentierung poetischer Gestaltungsmuster als konstitutiv erweist. Anhand der im Modus der Kürzung sich realisierenden Spezifika ließen sich die aktuellen Ansätze einer genuin mediävistischen Erzähltheorie problematisieren und damit zugleich weiter differenzieren und profilieren. 227 40 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="41"?> 228 Vgl. Gardt, Kürze in Rhetorik und Stilistik (2008), S.-72. 229 Vogel, Die Kürze des Faktums (2015), S.-302. 230 Zur brevitas als Mittel der »Verknüpfung von referentieller Prägnanz mit kommunikativem Erfolg« vgl. Gardt, Kürze in Rhetorik und Stilistik (2008), S.-71f. 231 Zum Systemaufriss des rhetorischen Prinzips der brevitas vgl. Kallendorf / Gondos (Übers.), Art. ›Brevitas‹ (1994), Sp.-53-60. 1.3 Historische Abbreviationspoetiken Betrachtet man die historischen Zugänge zum Phänomen der Kürze bzw. Kürzung, so lassen sich verschiedene Operationalisierungen mit jeweils spezifischen Referenzbereichen unterscheiden. Während die in der antiken Rhetorik als Stilideal in sprachstruktureller und konzeptueller Hinsicht beschriebene Kategorie der brevitas ihre Funktion in erster Linie ar‐ gumentativ im situativen Kontext der öffentlich-politischen Rede entfaltet, unterliegt deren in den mittelalterlichen Dichtungslehren zum poetischen Verfahren der abbreviatio trans‐ formiertes ›Pendant‹ einer in höherem Maße diskursiven Bestimmung. Denn es rekurriert auf ein vorliegendes umfangreicheres Narrativ, das mittels rhetorischer Techniken verkürzt wiedergegeben wird. Für die sprachliche Realisierung der Kürze (brevitas) als figura detractionis erscheint dabei das Auslassen von Kontexten und Details aus dem ›faktischen‹ Erfahrungsraum essentiell, der zwar in Grundzügen vom Kollektiv geteilt wird, sich aber in seinen konkreten Implikationen dem einzelnen Individuum entzieht. Leitend ist dabei eine pragmatisch orientierte, d. h. an der situativen Kommunikationssituation einer Rede ausgerichtete Dimension mit dem Ziel »kommunikative[n] Erfolg[s]«. 228 Der Prozess lite‐ rarisch-poetischer Kürzung (abbreviatio) arbeitet zwar mit denselben rhetorischen Mitteln der Komprimierung, unterscheidet sich aber in pragmatischer Hinsicht entscheidend von der antiken Konzeption der brevitas: Indem die Kürzung auf ein immer schon ›gewusstes‹, weil material vorliegendes Wissen rekurriert, sind ihr Anteile eines externen, kulturell verankerten Wissens inhärent, das mit der Verdichtung die grundsätzliche »Möglichkeit einer künftigen Evidenz« transportiert. 229 Ziel der kommunikativen Dimension der abbre‐ viatio liegt insofern nicht in sachlich-referentieller, resultativ semantisierter Exaktheit, 230 sondern in einer schriftliterarisch grundierten Bezugnahme auf vorgängige Kontexte, deren gekürzte Darbietung gerade durch die Auslagerung bestimmter Erzählzusammenhänge eine je neu sich im Akt der Lektüre entfaltende Generierung von Sinn einkalkulieren kann. Damit bedingen die sprachstrukturell ähnlichen Verfahrensweisen beider Parameter jeweils situationsspezifisch distinkte kognitive Aspekte: Quantitative Logiken stehen im Dienste einer je spezifischen Qualität der forensischen wie im engeren Sinne literarischen Kommunikation. 1.3.1 Antike: Rhetorische Grundlagen In den rhetorischen Schriften römischer Autoren, insbesondere des Cicero (De inventione, De oratore), in der Rhetorica ad Herennium sowie in Quintilians Institutiones oratoriae, 231 ist die Thematisierung der Kürze an zwei zentralen Systemstellen verortet, die zugleich dokumentieren, dass Quantitätsaspekte in unterschiedlicher Hinsicht mit qualitativen Ge‐ sichtspunkten korrelieren. Erstens bildet brevitas im Rahmen des produktiven Vorgangs der 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 41 <?page no="42"?> 232 Zu diesen virtutes necessariae vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik (1960), S. 167-169. - Die Trias der Redetugenden ist schon seit Isokrates belegt. Der Begriff für ›Klarheit‹ bei Isokrates lautet σαφήνεια (Isocr. 15,189) und kann etwa mit ›Präganz im Ausdruck (wörtl.: des Mundes)‹ übersetzt werden. Die genannten drei Tugenden sind in der Rhetorica ad Herennium übernommen: Tres res convenit habere narrationem, ut brevis, ut dilucida, ut verisimilis sit. (Rhet. Her. 1,9,14). ›Drei Eigenschaften sollten in der narratio zusammenkommen, (nämlich) dass sie kurz, klar und wahrscheinlich ist.‹ Zitiert nach Nüßlein (Hg.), Rhetorica ad Herennium (1998). 233 Im Folgenden zitiert nach Winterbottom (Hg.), M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri duodecim (1970). 234 Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen lateinischer Zitate von der Verfasserin. 235 Diese Gefahr der brevitas wird schon von Horaz diskutiert: brevis esse laboro, obscurus fio (Hor. ars, V.-25f.). Zitiert nach Rudd (Hg.), Quintus Horatius Flaccus. Epistles (1989). 236 Die Problematik eines solchen in der zeitgenössischen Schuldeklamation praktizierten, auf der brevitas basierenden Stils wird von Quintilian in den Institutiones oratoriae kritisiert. Dazu Schwitter, Umbrosa lux (2015), bes. S. 93-103. - Zur obscuritas vgl. den Überblick von Walde, Art. ›Obscuritas‹ (2003), Sp.-358-368; Fuhrmann, Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit (1966), bes. S.-50-53. - Zur Verbindung von obscuritas und ihrem nur teilweise kongruenten volkssprachigen Äquivalent siehe Köbele / Frick (Hg.), wildekeit (2018). 237 In Bezug auf zeitgebundene Einschätzungen literarischen Stils siehe Kap.-3.1.2. 238 Vgl. Haug, Geheimnis und dunkler Stil (1998), bes. S.-204. 239 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik (1960), S.-168. inventio, gewissermaßen einer mentalen Konzeptualisierung des argumentativen Gerüsts einer Rede, und hier innerhalb der narratio, der Darlegung eines Sachverhalts, zusammen mit den Kategorien der Klarheit (perspicuitas) und Wahrscheinlichkeit (verisimile) die Trias der virtutes narrationis. 232 Ziel dieser Redetugenden ist eine erfolgreiche Umsetzung einer zweckgebundenen Absicht, im Paradigma des genus iudiciale z. B. die persuasio des Richters von der Position der eigenen Partei. Eine knappe, zugleich aber eindeutige Ausdrucksweise ermöglicht es dem Zuhörer, sowohl die Struktur der Darlegung zu erfassen als auch dem Gesagten genau zu folgen. Wie jede virtus im vitium einen Gegenpol besitzt, so droht maximale brevitas aufgrund des allzu kontextbedürftigen Referenzrahmens, in die Unverständlichkeit (obscuritas) abzugleiten: Non minus autem cauenda erit, quae nimium corripientes omnia sequitur, obscuritas, satiusque aliquid narrationi superesse quam deesse; nam superuacua cum taedio dicuntur, necessaria cum periculo subtrahuntur. (Inst. or. 4,2,44) 233 Nicht weniger aber muss man sich vor der obscuritas hüten, die denjenigen folgt, die alles allzu sehr verkürzen (corripientes), und es ist besser, wenn etwas innerhalb der narratio hinlänglich vorhanden ist, als dass es fehlt. Denn Überflüssiges zu sagen, erzeugt Verdruss, Notwendiges auszulassen aber ist gefährlich. 234 Extreme Kürze kann zur Unklarheit führen, 235 die das Gesagte durch eine artifizielle Aus‐ drucksweise ›verdunkelt‹ und damit unmittelbar einsichtiger Sinnzuweisung entzieht. 236 Ein solcher Stil, kultiviert etwa in der literarischen Tradition - Quintilian führt die berühmte Sallustiana brevitas als Beispiel an (Inst. or. 4,2,45) 237 - kann eine hohe intellek‐ tuelle Leistung erfordern, um die Hüllen ›dunkler Kürze‹ zu beseitigen. 238 Das ist freilich ein hermeneutischer Prozess, der im Rahmen der Gerichtsrede nicht zweckdienlich ist. Die »endzweckzugeordnete Glaubwürdigkeit« 239 der Kürze realisiert sich vor allem im 42 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="43"?> 240 Vgl. Kallendorf / Gondos (Übers.), Art. ›Brevitas‹ (1994), Sp. 56. Der Bezugsautor ist Cicero: Brevitas autem conficitur simplicibus verbis semel una quaque re dicenda, nulli rei nisi ut dilucide dicas serviendo (De part. orat.-6,19). 241 Zu den figurae detractionis vgl. die Übersicht in Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik (1960), S.-346. 242 Gardt, Kürze in Rhetorik und Stilistik (2008), S.-76. 243 Gardt, Kürze in Rhetorik und Stilistik (2008), S.-71. 244 Kallendorf / Gondos (Übers.), Art. ›Brevitas‹ (1994), Sp.-53f. Bereich der narratio brevis, die den Ausgangspunkt und die Grundlage bildet für die Darlegung der in der jeweiligen Prozessphase relevanten Informationen und damit auch Aspekte der Selektion und (Re-)Kombinationen enthält. Es gilt daher im Sinne einer relativen Bestimmung, nicht (absolut) ›wenig‹, sondern nicht ›zu viel‹ zu sagen: Nos autem breuitatem in hoc ponimus, non ut minus sed ne plus dicatur quam oporteat (Inst. or.-4,2,43). Die zweite Position, an der brevitas im rhetorischen System eine zentrale Rolle spielt, ist die elocutio, die Materialisierung der in der inventio konzeptualisierten und in der dispositio geordneten Gedanken mittels der sprachlichen Formulierung. Als figura elocu‐ tionis bezieht sich Kürze als Teil des rhetorischen ornatus sowohl konkret auf syntagma‐ tische als auch auf inhaltliche Strukturen (Wort- und Gedankenfiguren) und kann in den einzelnen Wörtern (in verbis singulis) wie in den Wortfiguren (in verbis coniunctis) wirksam werden, 240 insbesondere durch Figuren der detractio wie der Ellipse oder des Asyndeton. 241 Diese Funktion der Kürze zielt nicht auf die Reduktion des zu vermittelnden Informationsgehalts, sondern darauf, dessen »semantische Qualität« 242 durch graduelle Verdichtungsoperationen im Hinblick auf die kommunikative Funktionalität der Rede zu intensivieren bzw. abzuschwächen. Dieser sprachstrukturelle Aspekt der brevitas ist ihrer kognitiven Dimension untergeordnet, insofern die rhetorischen Reduktionsformen auf der Ebene der Textgestaltung auf spezifische Maßgaben »im Rahmen eines kontextabhängigen Bewertungssystems« antworten. 243 Die Verschränkung qualitativer und quantitativer Tendenzen der brevitas als »Leit‐ prinzip für die Komposition der Redeteile« 244 dokumentiert Ciceros Werk über die Auffin‐ dung des Stoffes (De inventione): Oportet igitur eam tres habere res: ut brevis, ut aperta, ut probabilis sit. Brevis erit, si, unde necesse est, inde initium sumetur et non ab ultimo repetetur; et si, cuius rei satis erit summam dixisse, eius partes non dicentur - nam saepe satis est, quid factum sit, dicere, ut ne narres, quemadmodum sit factum -; et si non longius, quam quo opus est, in narrando procederetur; et si nullam in rem aliam transibitur, et si ita dicetur, ut nonnumquam ex eo, quod dictum est, id, quod non est dictum, intellegatur; et si non modo id, quod obest, verum etiam id, quod nec obest nec adiuvat, praeteribitur; et si semel unum quidque dicetur; et si non ab eo, quo in proxime desitum erit, deinceps incipietur. (De inv.-1,28) Sie [sc. die narratio] soll aber drei Eigenschaften besitzen: sie möge kurz klar und glaubwürdig sein. Kurz ist sie, wenn man von da, wo es nötig ist, den Anfang nimmt und nicht bei dem Entferntesten beginnt, und wenn man, wo es genügt, den Hauptpunkt genannt zu haben, nicht dessen Teile nennt - denn oft genügt es zu sagen, was geschehen ist, und man braucht nicht zu berichten, auf welche Weise es geschehen ist - und man nicht weiter fortschreitet beim Erzählen, als nötig ist, und wenn man zu keiner anderen Sache abschweift; und wenn man so spricht, daß man bisweilen 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 43 <?page no="44"?> 245 Text und Übersetzung nach Nüßlein (Hg.), Cicero. De inventione (1998). 246 Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik (1960), S.-169f. 247 Gardt, Kürze in Rhetorik und Stilistik (2008), S.-72. aus dem, was gesagt wurde, auch das, was nicht gesagt wurde, erschließt; und wenn man nicht nur das, was schadet, sondern auch das, was weder schadet noch hilft, übergeht; und wenn man jeden einzelnen Punkt nur einmal nennt; und wenn man nicht mit dem, womit man eben erst aufgehört hat, wieder aufs neue beginnt. 245 Als konstitutive Merkmale rhetorischer Kürze erscheinen hier zunächst inhaltlich-formale Charakteristika: eine klare, stringent ausgerichtete Struktur ohne Wiederholungsmomente und Gedankensprünge; das Weglassen von Details, die sich zum Kernanliegen indifferent verhalten, sodass sie dessen Darlegung nicht über das angemessene Maß hinaus in die Länge ziehen. Sie werden durch stärker stilistisch orientierte Maßgaben ergänzt: etwa das der brevitas bisweilen inhärente Möglichkeitsspektrum unausgesprochenen Wissens (et si ita dicetur, ut nonnumquam ex eo, quod dictum est, id, quod non est dictum, intellegatur, De inv. 1,28), das die Stilkategorie aufgrund der Neigung zu extremer Kürze in ein Spannungsfeld von virtus und vitium dicendi rückt. 246 Die brevitas produziert damit eine doppelte Dynamik: Sie fungiert einerseits als sprachliche Verdichtung mit qualitativer Tendenz, die andererseits und zugleich quantitative Aspekte der Rede bedingt. Denn der fundamentale Fehler, den die Orientierung am Axiom der brevitas häufig mit sich bringt, liegt - so Cicero weiter - in der defizitären Wahrnehmung dessen, was bzw. wieviel als ›kurz‹ gilt, d. h. gerade in der Vernachlässigung quantitativer Gesichtspunkte: Ac multos imitatio brevitatis decipit, ut, cum se breves putent esse, longissimi sint; cum dent operam, ut res multas brevi dicant, non ut omnino paucas res dicant et non plures, quam necesse sit. (De inv.-1,28) Viele aber führt das Nachahmen der Kürze (imitatio brevitatis) in die Irre, so dass sie, während sie glauben kurz zu sein, allzu weitschweifig sind; und wenn sie sich Mühe geben, viele Dinge kurz zu sagen, und nicht, überhaupt nur wenige Dinge zu sagen und nicht mehr, als nötig ist. Die Kategorie der brevitas zielt - zusammen mit den Leitprinzipien perspicuitas und verisimile - auf eine effektive Präsentation durch eine knappe, eindeutig-präzise Aus‐ drucksweise, deren kommunikativer Erfolg auf »referentieller Prägnanz« basiert. 247 Das Ideal erscheint allerdings nur dann optimal realisiert, wenn die auf Kürze abgestellte Rhetorik nicht durch eine ausufernde Fülle der erzählten Details überwuchert wird. Hier dokumentiert sich in Ciceros mahnender Äußerung ein Konzept der brevitas, das den Prozess stilistischer Formgebung ganz wesentlich an eine hinreichende Reduktion inhaltlicher Elemente bindet. Die der brevitas inhärenten, sprachstrukturellen und kognitiven Dimensionen verweisen auf ihren Status als relative bzw. relationale Größe, die sich jeweils in Abhängigkeit von den anderen virtutes narrationis bzw. elocutionis und in Orientierung am jeweiligen Redeanlass konstituiert. Insofern sind die quantitativen Aspekte der Kürze immer auch qualitativ wirksam, als sie einer spezifischen Intentionalität der primär auf die mündliche Performanz abgestellten Rede dienen. Relativ erscheint die Kategorie der brevitas aber 44 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="45"?> 248 Jäger, Die Kürzemaxime (2014), S. 31. - Zu diesem Aspekt aus rezeptionsästhetischer Perspektive siehe Kap.-2.1. 249 Vgl. P. G. Schmidt, Die Kunst der Kürze (2008), S.-29. 250 Ich danke Franz Josef Worstbrock für den folgenden Hinweis (brieflich): »Quintilians Institutio […] war nirgends schulläufig und fehlt in nahezu allen mittelalterlichen Bibliothekskatalogen und es gibt keinen mittelalterlichen Rhetoriker, der sie zitiert. Als Poggio 1414/ 15 in St. Gallen auf einen vollständigen Quintilian-Codex stieß, glaubte er, einen sonst nicht bekannten Text entdeckt zu haben.« Zur Wiederentdeckung vgl. Cox, Quintilian in the Italian Renaissance (2021), S.-359-379. 251 Zur ›Warnung‹ vor dunkler Kürze in Horaz’ Ars poetica vgl. Anm.-235. gerade in kognitiver Perspektive im Sinne eines oratorisch vermittelten Eindrucks von Kurzweil trotz effektiver Länge: Quantum opus est autem non ita solum accipi uolo, quantum ad indicandum sufficit, quia non inornata debet esse breuitas, alioqui sit indocta; nam et fallit uoluptas, et minus longa quae delectant uidentur, ut amoenum ac molle iter, etiamsi est spatii amplioris, minus fatigat quam durum aridumque compendium. (Inst. or.-4,2,46). Wieviel nötig ist, will ich aber nicht nur in dem Sinne verstanden wissen, wieviel zur Bezeichnung (sc. des Sachverhalts) genügt; denn brevitas darf nicht frei von Redeschmuck sein, andernfalls verriete sie Unbildung; es täuscht nämlich auch das Vergnügen, und weniger lang scheint, was unterhält, wie ein angenehmer und unbeschwerlicher Weg, auch wenn er von größerer Länge ist, weniger ermüdet als eine unwirtliche und dürre Abkürzung. Was von den Zuhörern als ›kurz‹ (bzw. ›kurzweilig‹) empfunden wird, hängt in erster Linie von der elokutionellen Formgebung des zu vermittelnden Sachverhalts ab. Damit rekurrieren Prozesse rhetorischer brevitas auf temporale Aspekte, die den Eindruck »›ge‐ fühlte[r]‹ Kürze durch gefällige Länge« evozieren können. 248 Es lässt sich bilanzieren, dass aus der Perspektive der antiken Rhetorik der funktionale Aspekt der mit der Stilkategorie der brevitas zu erzielenden Effekte zwar entscheidend auf einer qualitativen Komponente im Sinne einer hervorhebenden, intensivierenden, gleichermaßen aber auch abschwächenden Darstellung basiert, sich darin jedoch keines‐ wegs erschöpft. Vielmehr erweist sich die inhaltlich-quantitative Dimension der Kürze als gleichgewichtiges Korrelat zur sprachlich-formalen Verdichtung. 1.3.2 Lateinische Dichtungslehren des Mittelalters Die Forderung nach Kürze ist dem Mittelalter durch die rhetorischen Schriften des Cicero und des Auctor ad Herennium bekannt, 249 während Quintilians Institutiones oratoriae bis zu ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance nicht zu den zugänglichen Quellen der Rhetorik zählten. 250 Bekannt war ferner die Ambivalenz von Kürzungsverfahren im Spannungsfeld von virtus und vitium. 251 Auch die Ars poetica des Horaz gehört für mittelalterliche Autoren punktuell zu einem prominenten Bezugspunkt, besonders hinsichtlich der Frage nach den Modalitäten der Gestaltung von bereits behandelten und insofern zum literarischen 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 45 <?page no="46"?> 252 Zur Reflexion poetischer Darstellungsverfahren in der mittellateinischen Dichtungs- und Literatur‐ lehre wegweisend Schneider, Narrationis contextus (2013), S. 155-186; jetzt vertieft in Schneider, Logiken des Erzählens (2021). 253 Zur Rolle der Ars poetica im »poetologischen System des Mittelalters« vgl. Klopsch, Einführung in die Dichtungslehren (1980), bes. S.-41-43. 254 Für eine Dokumentation siehe Murphy, The Arts of Poety and Prose (2005), S.-42-67. 255 Henkel, Reduktion (2017), S.-28. 256 Linden, Exkurse (2017), S.-5. 257 Dazu Knapp, Poetik (2014), bes. S.-217-219; Knapp, Grundlagen (2011), S.-274-279. 258 Knapp, Poetik (2014), S.-220. 259 Für einen Überblick über den Bestand der Überlieferung, die mit unterschiedlichen typologischen Merkmalen die Variabilität als Kennzeichen der Gattung in gut 3000 erhaltenen Handschriften spiegelt, vgl. Worstbrock, Repertorium der Artes dictandi im Mittelalter (1992). - Zur Definition des Genre, seiner Entstehung, Verbreitung sowie den vorliegenden Editionen siehe zusammenfassend Camargo, Ars dictaminis, ars dictandi (1991), sowie die vereinigten Einzelstudien in Camargo, Essays on Medieval Rhetoric (2012). - Eine ausführliche und systematische Darstellung bieten Hartmann / Grévin (Hg.), Ars dictaminis. Handbuch der mittelalterlichen Brieflehre (2019). 260 Worstbrock, Repertorium der Artes dictandi im Mittelalter (1992), S.-IX. ›Kulturgut‹ zählenden Stoffen, 252 kann aber aufgrund ihrer wenig ausgebildeten Systematik keine dominante Wirkung im poetologischen Diskurs entfalten. 253 Die mittellateinischen Poetiken, die im 12. und 13. Jahrhundert in Nordfrankreich entstehen und als Ergebnis einer Intensivierung des Diskurses über aktuelle dichtungs‐ praktische Anliegen zu sehen sind, 254 schließen in wesentlichen Punkten an die antiken Postulate an und transformieren diese jeweils für ihre eigenen Zusammenhänge. Sie kodifi‐ zieren, was insbesondere im Schulkontext »geübter und anerkannter Standard literarischer Praxis und sprachlich-formaler Gestaltung in der Literatur ihrer Zeit ist«, 255 und können daher als Reflex einer »lebendigen Dichtungspraxis [gelten], die auch ohne sie Bestand hatte«. 256 Wichtig ist zu betonen, dass diese sog. Artes poetriae bzw. poeticae (z. B. Ars versificatoria, Poetria nova u. a.) aufgrund der engen Zusammengehörigkeit der ›Disziplin‹ Poetik mit den ›trivialen‹ artes Grammatik und Rhetorik im Rahmen des mittelalterlichen Wissenschaftssystems in erster Linie eine Nutzbarmachung von deren Prinzipien auf schriftliterarisch verfasste Texte vornehmen, nicht aber auf die Erfassung erzähltechnischer oder gattungspoetischer Gesichtspunkte abzielen. 257 So wird verständlich, warum in den mittellateinischen Artes poetriae eine rhetorisch-formalistische Tendenz im Sinne der Vermittlung einer (lehr- und lernbaren) literarischen Technik dominiert, die vor allem die Formgestaltung kleinerer Einheiten auf der syntaktischen Ebene erfasst, kaum aber »das Werkganze und dessen Makrostruktur« im Blick hat. 258 Ein Grund hierfür mag in der Genese der Artes poetriae zu sehen sein. Sie vollzieht sich erst im Gefolge eines schon wesentlich früher als Gegenstand praxisorientierter Unterweisung etablierten Texttypus, den die im Mittelalter institutionalisierte Lehre der Ars dictaminis in einschlägigen Lehrbüchern und Traktaten, den Artes dictandi, repräsentiert. 259 Von den frühesten Sammlungen des 11. Jahrhunderts an und bis in die Frühe Neuzeit hinein ist in diesem Bereich eine bemerkenswerte Vielfalt in Typologie, Systematik und Ordnungsprinzipien zu beobachten, die die Artes dictandi als Teil »eine[r] wesentlich gebrauchsbezogene[n] Gattung zu erkennen« gibt. 260 Der historische Ort der Ars dictaminis ist also derjenige des Gebrauchs. Hier galt es, »am Beispiel brieflicher Kommunikation 46 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="47"?> 261 Ebd. 262 Worstbrock, Repertorium der Artes dictandi im Mittelalter (1992), S.-XI. 263 Grévin, Die Ars dictaminis (2019), S. 584. - Zum Zusammenhang auch Kelly, The Arts of Poetry and Prose (1991). - Die Verwendung etwa von Galfreds Poetria nova zur rhetorischen Ausbildung und vor allem zur Beherrschung des dictamen ist nachgewiesen bei Woods, Classroom Commentaries (2010), bes. S.-169-171. 264 »[S]eit dem 13. Jahrhundert [sind den] Artes dictandi mitunter Grammatiken und vor allem Poetiken, die gleichermaßen auf Vers und Prosa ausgreifen, integriert«. Worstbrock, Repertorium der Artes dictandi im Mittelalter (1992), S. IX. - Am Beispiel der Poetria nova des Galfred von Vinsauf Camargo, Toward a comprehensive art of written dicours (2012), S.-167-194. 265 Grévin, Die Ars dictaminis (2019), S.-585. 266 Grévin, Die Ars dictaminis (2019), S.-587. 267 Vgl. in umfassendem Kontext Alessio / Losappio, Le poetrie del medioevo latino (2018). 268 Grévin, Die Ars dictaminis (2019), S.-586. 269 Weil die mittelalterlichen Artes dictandi und Artes poetriae an derselben Systemstelle ansetzen, aus der heraus die Artes poetriae einen dichtungspraktisch orientierten Spezialdiskurs formieren, sind die folgenden Überlegung an ebendiesem Diskurs orientiert. 270 Näheres zu diesem Zusammenhang in Kap.-1.3.3. allgemein zu kompetenter Abfassung schriftlicher Rede anzuleiten«. 261 Mit ihrem Rück‐ griff auf rhetorische Stilprinzipien für die begriffliche und terminologische Grundierung der Aussagen partizipieren die Artes dictandi an dem Bereich allgemeiner literarischer Bildung, assimilieren das rhetorische Bezugssystem aber an die ›neuen‹ Erfordernisse: nämlich an das Verfassen von Briefen als Trägern eines »spezifischen kommunikativen Handelns«. 262 Im Sinne der Herausbildung einer souveränen Kompetenz auf dem Feld literarischer Kommunikation sind die »Verbindungen zwischen der ars dictaminis und der ars poetriae« evident. 263 Sie sind dies umso mehr, als auch die regelmäßig zu verzeichnende gemeinsame Überlieferung der beiden Texttypen auf eine ähnliche Funktionalisierung in übereinstimmenden Gebrauchskontexten verweist: 264 »Es handelt sich darum, rhetorische Figuren und die Verfahren der inventio darzustellen.« 265 Die Artes poetriae bieten lediglich nicht in der Art eines Neuansatzes, sondern als »Teil der gleichen Bewegung« 266 eine Spe‐ zialisierung, die die professionellen Formen literarisch geschulter (Brief-)Korrespondenz auf den Bereich der Dichtungspraxis anwendet. Damit reagieren sie offenbar, das wird aus ihrer Beliebtheit im 13. Jahrhundert deutlich, 267 auf eine verstärkte Nachfrage nach ›Lehr-‹ und ›Lernmaterial‹, das sich für die in Schule und Universität verankerte »konstante Mischung von Schreibübungen in Vers und Prosa« 268 zweckdienlich einsetzen ließ. Die Artes poetriae greifen also zentrale Anliegen der Artes dictandi und die in ihnen vermittelten rhetorischen Prinzipien der Textgestaltung auf und adaptieren sie als genuin p o e t i s c h e Verfahren explizit für ein spezialisiertes Gebrauchsfeld. 269 Eine zentrale Neukonfiguration, die sich in den Artes poetriae abzeichnet, ist die Präferenz eines von anderen Dichtern bereits bearbeiteten Gegenstandes (materia executa) gegenüber ›freier‹ Erfindung (materia illibata), die wohl in engem Konnex steht mit der im mittel‐ alterlichen Schulbetrieb ubiquitären Praxis poetischer Neugestaltung bekannter Stoffe, insbesondere antiken oder biblischen Ursprungs. 270 Sie ist grundgelegt in der vor 1175 entstandenen Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme, einem ›Pionierwerk‹ unter den 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 47 <?page no="48"?> 271 Eine deutsche Übersetzung (mit knapper Einführung zu Autor und Werk) bietet Knapp, Matthaeus Vindocinensis: Ars versificatoria (2020). Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe; Übersetzungen: J.F. mittelalterlichen Artes poetriae, 271 das neben Aspekten zur gedanklichen Disposition, zum Wortschmuck sowie zu Tropen und Wortfiguren als rhetorischem ornatus (Bücher I-III) im letzten Buch (IV) konkrete Fragen zur Ausführung des Gegenstandes (executio materiae) thematisiert. Vorrangig geht es darum, einen in dichterischer Form bereits existierenden Stoff sprachlich neu zu fassen, wobei das Augenmerk auf der Bewahrung des gedanklichen Substrats der Vorlage liegt (materie pertractate sententiis erit […] insistendum, IV,15), sodass der zugrundeliegende Sinn (sensus) nicht tangiert werde. Eine solche Retextualisierung ba‐ siere Matthäus zufolge schwerpunktmäßig auf dem Verfahren der Kürzung: Die Kapitel 5- 12 fokussieren Techniken der Reduktion sowohl inhaltlich als auch syntaktisch redundanter Elemente, deren ›Übermaß‹ (superfluitas) zur Langeweile durch longiloquium (IV,10) führe. Dem steht die ›Auffüllung‹ des in der vorgängigen Stoffgestaltung zu kurz Gekommenen in nur zwei Kapiteln gegenüber (sequitur quomodi minus dicta debeant suppleri, IV,13f.). Es erscheint also - aus der Perspektive poetischer Profilierung der Zeit, die sich im Segment volkssprachiger Schriftlichkeit vorzugsweise in elaborierten Vergleichen, descriptiones u. ä. zu entfalten pflegt - zunächst überraschend, dass diese Parameter der tractatio materiae in der Ars versificatoria sogar explizit als figmenta poetica der ›Alten‹ verworfen werden zugunsten einer bündigen Stoffgestaltung als eines ›modernen‹ Prinzips: Antiquis siquidem incumbebat materiam protelare quibusdam diverticulis et collateralibus sententiis, ut materie penuria poetico figmento plenius exuberans in artificiosum luxuriaret incrementum, hoc autem modernis non licet: vetera enim cessavere novis supervenientibus. (IV,5) Wenn aber den Alten daran gelegen war, den Stoff mit irgendwelchen Wendungen und Randge‐ danken auszuweiten, damit die Armut der Materie mit poetischer Erdichtung sich reichlicher zeigt und in kunstvollem Zuwuchs anschwillt, so ist dieses aber den Zeitgenossen (modernis) nicht erlaubt: Denn das Alte ist dem Neuen gewichen, das jenes übertrifft. Im Gestus der aemulatio mit den Werken der ›Alten‹ gelte es nämlich, sich kurz zu fassen: utendum est breviloquio, ut materia clausulatim explanetur (IV,19). Dieser Grundsatz mutet zwar vor dem Hintergrund des ersten Buches, das vorrangig die descriptio verhandelt (I,38- 118) und zu diesem Thema umfangreiche Beispiele referiert, geradezu paradox an, lässt sich aber aus der Funktionsbestimmung der descriptio-Technik im Rahmen der Gesamtstruktur des Werkes erklären. Weil das erste Buch dem gedanklichen Substrat gewidmet ist, geht es weniger um Fragen der konkreten Ausführung im Sinne ›praktischer‹ Hinweise als um die Demonstration der mittels der Beschreibung zu evozierenden Effekte: die Figurenmodellierung ad laudem bzw. ad vituperationem zur exempelhaften Unterweisung (vgl. I,59). Freilich sei auch die descriptio personae, wie Matthäus eigens betont, oftmals überflüssig (descriptio personae est […] plerumque superflua, I,38). Die Kürze hingegen als Richtschnur der Darstellung fungiert als ›Korrektiv‹ zur prolixitas, indem die bündige Ausführung des Gegenstandes (u. a. durch eine ›kohärente‹ Zeitenfolge) eine ›gefällige‹ Darstellung garantiere: brevitas autem aperta sibi amicat audientiam (I,36; ›offenkundige Kürze aber macht sich das Publikum zum Freund‹). 48 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="49"?> 272 Zu dieser bildungshistorischen Praxis siehe Kap.-1.3.3. 273 Unde nichil […] esse dictum assertive sed exemplorum gratia intelligatur (I,49). ›Deshalb soll nichts […] zur Norm erklärt, sondern nur beispielhaft verstanden werden‹. 274 Knapp, Grundlagen (2011), S. 294f. - Zur systematischen Erschließung des Profils wie der Wir‐ kungsgeschichte der Poetria nova vgl. Woods, Classroom Commentaries (2010); zur Übersicht der Überlieferung in rund 200 Handschriften ebd., S. 289-308. - Eine Edition von Galfreds Poetria nova sowie des Documentum de modo et arte dictandi et versificandi hat erstmals Faral, Les Arts poétiques (1982 [1924]), vorgelegt. Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe. - Die Ausgabe von Gallo, The Poetria Nova (1971) bietet Farals Text mit englischer Übersetzung samt Kommentar. 275 Vgl. zu dieser Stelle die Vorüberlegungen in Frick, Zwischen Sinnreduktion und Prägnanz (2020), bes. S.-5-10. Plausibel wird diese Empfehlung vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Schulpraxis, in der z. B. die Anfertigung poetischer argumenta zu den antiken Epen auf die Einübung und Demonstration subtil verdichtender Form- und Formulierungskompetenz abgestellt ist. Insofern kann es hierbei nicht darum gehen, einen Stoff anders dimensioniert neu zu erzählen, sondern knappe, aufgrund ihrer artifiziellen Struktur leichter memorierbare ›Gedächtnishilfen‹ für das Verständnis und den Nachvollzug der umfangreichen poeti‐ schen Bezugstexte anzufertigen. 272 Abstrahiert von diesem Funktionskontext lässt aber gerade die Interdependenz der als komplementär konzipierten Verfahren (Verkürzung des bereits Vorhandenen bei gleichzeitiger Ausweitung des nur knapp Tangierten) eine Affinität der abbreviatio zu gegenläufigen, scheinbar konträren Tendenzen (genauer: der dilatatio) erkennen, die Spielräume zur Entfaltung poetischen Möglichkeitssinns durch eine Verschiebung der Gewichte gegenüber dem zu bearbeitenden Referenztext eröffnen. Dass die in der Ars versificatoria niedergelegten Verfahren nicht im Sinne einer Normsetzung zu verstehen sind, sondern einen empfehlenden, exemplarischen Charakter haben, 273 verweist auf ihren Stellenwert als grundsätzlich disponible und insofern produktiv handhabbare Größen. Einen tendentiell systematischeren und deshalb im Hinblick auf die Präsenz in der handschriftlichen Überlieferung ›erfolgreicheren‹ Ansatz bietet Galfreds von Vinsauf Poetria nova (um 1210), die programmatisch eine Neuorientierung gegenüber der Ars poetica des Horaz als Poetria vetus im Titel führt. 274 Galfred beschreibt den Prozess der dispositio, der mentalen Komposition des Stoffes, mit der bekannten Metapher vom Baumeister, der zunächst einen imaginären ›Archetypus‹ des zu errichtenden Hauses entwirft, bevor er an dessen handwerkliche Ausführung geht: 275 Si quis habet fundare domum, non currit ad actum Impetuosa manus: intrinseca linea cordis Praemetitur opus, seriemque sub ordine certo Interior praescribit homo, totamque figurat Ante manus cordis quam corporis; et status ejus Est prius archetypus quam sensilis. Ipsa poesis Spectet in hoc speculo quae lex sit danda poetis. […] Mentis in arcano cum rem digesserit ordo, materiam verbis veniat vestire poesis. (V.-43-61) 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 49 <?page no="50"?> 276 Mit Bezug auf das historische Verständnis ›narrativer Kohärenz‹ vgl. Schneider Narrationis contextus (2013), bes. S.-160-168. 277 Vgl. Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S.-1-30. Wenn jemand ein Haus bauen muss, eilt nicht die ungestüme Hand zur Tat: Zunächst wird das Werk mit der inneren Richtschnur des Herzens vermessen, im Inneren setzt der Mensch in einer bestimmten Ordnung die Reihenfolge fest, die die Hand des Herzens vor der des Körpers in Gänze ausformt. So entsteht dessen Original, bevor es fühlbar wird. Die Dichtkunst selbst möge in diesem Spiegel ersehen, welche Bestimmung den Poeten zu geben ist. […] Wenn das Ordnungsvermögen des Geistes den Gegenstand im Verborgenen strukturiert hat, möge die Dichtkunst hinzukommen, um den Stoff mit Worten einzukleiden. Grundlegend für diese gedankliche Operation ist erstens die Wahl des ordo rerum (nament‐ lich die Frage nach der Gliederung des Stoffes gemäß des ordo naturalis bzw. artificialis); 276 zweitens die konzeptuelle Entscheidung über die quantitative Struktur des anvisierten Werkes, für die die Parameter der Ausweitung und Kürzung als zwei gleichwertige Bearbeitungsmodi im Vorgang der Neufassung eines Stoffes vorgestellt werden: Curritur in bivio: via namque vel ampla vel arta, Vel fluvius vel rivus erit; vel tractius ibis, Vel cursim salies; vel rem brevitate notabis, Vel longo sermone trahes. Non absque labore Sunt passus utriusque viae […]. (V.-206-210) Man kommt an einen Scheideweg: Denn der Weg wird entweder breit oder schmal, ein Fluss oder Rinnsal sein; entweder wirst du ausladender gehen oder im Eilschritt springen; entweder den Gegenstand in Kürze beschreiben oder in langer Rede ausfalten. Nicht ohne Mühe sind die Schritte auf beiden Wegen. Das aus der antiken Rhetorik überkommene Stilprinzip der Kürze erscheint hier zur Kategorie der abbreviatio transformiert, die als Gegenbegriff zur amplificatio bzw. dilatatio materiae fungiert. 277 Die metaphorische Semantisierung des Weges, die Galfred, in antiker Tradition stehend, vornimmt, spiegelt den vom Dichter abzuschreitenden poetischen Spielraum mitsamt der Möglichkeit von dessen Ausgestaltung. Dabei zielt das Konzept poetischer Reduktion offenbar nicht auf einen ›simplen‹, da einfach zu leistenden Verzicht auf Überflüssiges, sondern - wie es schon Matthäus’ Ars versificatoria nahelegt - auf ein elaboriertes Verfahren der Verdichtung, das ein ähnliches Maß an zeitlichem Aufwand und literarischer Versiertheit erfordert wie sein auf subtile Ausfaltung und kunstvolle Variation im Ausdruck setzendes Komplement (vgl. V. 219-225). Zur Exemplifizierung der beiden Arbeitsschritte bringt Galfred nach dem Grad poetischer Instruiertheit und Intention differenzierte Techniken bei, die er an umfangreichem, teils selbst verfasstem Belegmaterial illustriert. Dass den Formen der amplificatio dabei ein weitaus breiterer Raum eingeräumt wird (z. B. Apostrophe, digressio, descriptio etc., V. 203-689) als denje‐ nigen der abbreviatio (V. 690-736), dürfte vor allem im Gegenstand selbst begründet sein (schließlich sind der Kunst des Weglassens natürliche Grenzen gesetzt), nicht aber in einer grundsätzlichen Priorisierung der dilatatio-Technik. Das dokumentieren textintern 50 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="51"?> 278 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-40. 279 Vgl. im Hinblick auf die lateinische Bildungstradition Schmidt, Die Kunst der Kürze (2008), S. 23-40. 280 Zur »bloße[n] Anspielung als Mittel zur Andeutung eines umfassenderen Sachverhalts« vgl. Klopsch, Einführung in die Dichtungslehren (1980), S.-132. 281 So auch an etwas späterer Stelle: Sic breve splendet opus: nihil exprimit aut magis aequo / aut minus (V. 730f.). ›So erstrahlt das kurze Werk: Es drückt nichts aus, das über das Angemessene hinausgeht oder es unterminiert‹. 282 Zu den lateinischen Repräsentationsformen des Themas Schupp, Modus Liebinc (1987), Sp.-630-632. Die Forschungsdiskussion zusammenfassend Weidner, Das Leid der Schneemutter (ersch. 2025). Zu Verfahren der Rezeptionssteuerung in volkssprachigen Schneekind-Erzählungen Dimpel / Hammer, Prägnanz und Polyvalenz (2019), S.-319-349. die auf prinzipielle Gleichwertigkeit zielenden sprachlichen Konstruktionen, mit denen die jeweiligen Beschreibungen vorgenommen werden. Ihr textexterner Bezugspunkt ist die überwältigende Präsenz literarischer Abbreviationen, die das Mittelalter »in nahezu allen Gattungsbereichen der lateinischen Literatur« 278 entwickelt - Bezugsmaterial einer Wissens- und Bildungspraxis, aus der heraus die Bestimmungen der Artes poetriae allererst ihre historische Signifikanz beziehen. 279 Die Behandlung der abbreviatio umfasst einerseits syntaktische Phänomene (z. B. den Ablativus absolutus, das Asyndeton oder das Meiden repetitiver Strukturen, V. 693-710), hebt andererseits auf inhaltliche Kürze durch Gedankenfiguren ab (z. B. allusive Verdich‐ tung, V. 697f.). 280 Poetische Kürzung realisiert sich demzufolge durch das stilistische Prinzip der brevitas, dessen Effekte auf der Ebene der Pointierung, Intensivierung und prägnanter Akzentuierung des einer materia wesentlichen ›Kerns‹, d. h. des ihr inhärenten Sinnpoten‐ tials, liegen. Zur Veranschaulichung dieses Vorgangs nutzt Galfred die Metapher der Sonne, die nach der Auflösung des sie umhüllenden und insofern verunklärenden Wolkennebels hell erstrahlt (Non superinfundat nubem, sed nube remota / Inducet solem, V. 705f.). Sie stellt den Vorzug der abbreviatio, durch Aussparung dilatierender, verbaler und inhaltsbezogener Elemente eine im einzelnen sprachlichen Ausdruck sich formierende Profilierung und Schärfung des Inhalts poetisch zu erzeugen, gleichsam bildlich vor Augen. 281 Als Beispiel für die konkrete Realisierung dieser Kürzungsprozedur, für die insbesondere die Beschränkung auf Verba und Nomina sowie die Reduktion der Marker für syntaktische Verknüpfungen charakteristisch sind, dient eine selbst schon vergleichsweise knappe Formulierung der Schneekind-Erzählung in fünf Hexametern: 282 Rebus in agendis longe distante marito, Uxor moecha parit puerum. Post multa reverso De nive conceptum fingit. Fraus mutua. Caute Sustinet. Asportat, vendit matrique reportans Ridiculum simile liquefactum sole refingit. (V.-713-717) Während der Mann sich auf einer Geschäftsreise weit weg befindet, bringt seine ehebrecherische Frau einen Sohn zur Welt. Dem viel später Zurückgekehrten lügt sie vor, diesen vom Schnee empfangen zu haben. Der Betrug beruht auf Gegenseitigkeit. Sorgsam wartet der Mann ab. Er schafft den Sohn weg, verkauft ihn und, indem er der Frau eine ähnlich lächerliche ›Erklärung‹ vorbringt, rächt er sich mit der Lüge, er (d. h. der Sohn) sei in der Sonne geschmolzen. 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 51 <?page no="52"?> 283 Galfreds ›Schneekind‹-Version als »narratives Musterbeispiel« und »Paradefall gesteigerter struk‐ tureller Prägnanz« behandelt Waltenberger, ›Bedeutungsschwangerschaften‹ (2019), S.-30f. 284 Waltenberger, ›Bedeutungsschwangerschaften‹ (2019), S.-31. 285 Henkel, Reduktion (2017), S.-40. Ausgehend davon wird die noch ›scharfsinnigere‹ Anwendung der Kürzungstechnik (novae brevitatis acutior usus, V. 731) an je zwei Hexametern exemplifiziert, die als kompakte subscriptio (V. 732), d. h. Überschrift und Zusammenfassung zugleich, zur längeren Formu‐ lierung dienen können: De nive conceptum quem mater adultera fingit Sponsus eum vendens liquefactum sole refingit. Vir, quia quem peperit genitum nive femina fingit, Vendit et a simili liquefactum sole refingit. (V.-733-736) Denjenigen, von dem die ehebrecherische Mutter vorgibt, er sei aus Schnee empfangen, verkauft der Bräutigam und täuscht im Gegenzug vor, er sei in der Sonne geschmolzen. Der Mann verkauft den Jungen, weil die Frau, die ihn geboren hat, vorgibt, ihn vom Schnee empfangen zu haben, und rächt sich mit einer ähnlichen Lüge, dieser sei in der Sonne geschmolzen. Die poetische ›Neu-Fassung‹ verbindet stilistische Artifizialität, rhetorisches Anspruchs‐ niveau und prosodische Finesse auf engstem Raum. 283 Dabei steht die durch den Modus der abbreviatio generierte ›kurze‹ Form im Dienste einer spezifischen Sinnkomponente. Im ersten Fall (V. 733 f.) werden die antagonistischen Positionen (mater adultera - sponsus) zum Teil in chiastisch (De nive conceptum - liquefactum sole), zum Teil auch parallel gestalteter Anlage und unter Verwendung einer etymologischen Wiederholungsfigur (fingit - refingit), die mit dem Endreim der versus caudati zusammenfällt, kunstvoll ineinander verschränkt, sodass das Strukturmuster von Handlung und Reaktion in eine »formale Symmetrie« aufgelöst wird. 284 Mit diesen Oppositionen wird ein Denkmuster eröffnet, welches das antagonistische Verhältnis von Mann und Frau sprachlich abbildet, ohne dass es im Medium einer entfalteten Narration eigens ausgeführt werden müsste. 285 Das eigentliche Skandalon - der in der Abwesenheit des Mannes gezeugte Sohn als Evidenzerweis für die Untreue der Frau - ist zwar in grammatikalischer Hinsicht nur Objekt der Handlung, die sich zwischen den Eheleuten vollzieht, dominiert jedoch als causa efficiens in den Partizipialsowie Pronominalkonstruktionen beide Verse und bildet damit den zentralen Sinnhorizont ab, vor dem die erste Täuschung durch planmäßige Überbietung in der zweiten reproduziert wird. Im zweiten Beispiel (V. 735 f.) demonstriert Galfred eine sprachlich-syntaktische Variati‐ onsmöglichkeit des verdichtenden Zugriffs, indem er die prozessual ausgerichtete Ordnung durch eine noch dezidierter kausal motivierte Logik ersetzt. So rückt die von der Frau initiierte Heuchelei (quia nive genitum fingit) als Movens für den real ausgeführten (vendit) wie verbalen Racheakt (liquefactum sole refingit) des Mannes in den Fokus. Die symmetri‐ sche Anlage der Konstruktion verweist auch hier auf einen im Einzelnen komplexeren Handlungszusammenhang, der lediglich hinsichtlich der für das Verständnis essentiellen 52 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="53"?> 286 Das Documentum ist wohl noch vor der Poetria nova entstanden. Daher erscheint die kürzere Abhandlung der abbreviatio auf der Basis einer ›breiteren‹ Ausarbeitung dieses Teils als plausible Annahme. Dazu Camargo, Tria sunt (1999), S.-935-955. 287 Sie sind beschrieben und mit den jeweiligen antiken rhetorischen Konzepten korreliert bei Gallo, The Poetria Nova (1971), bes. S.-191-195. 288 Dazu Waltenberger, ›Bedeutungsschwangerschaften‹ (2019), S.-30. 289 Henkel, Reduktion (2017), S.-31. Aspekte erfasst wird und dessen tieferer impliziter Sinn sich erst auf der Basis literarischer Kennerschaft (formalästhetisch wie inhaltlich-propositional) formiert. Ein Blick auf Galfreds von Vinsauf im Documentum de modo et arte dictandi et versificandi vermittelte rhetorisch-poetische Lehre bestätigt den bisherigen Befund. 286 Im einschlägigen Teil zum Modus der abbreviatio (§ 2,30-44) führt Galfred ausführlichere Beispiele zu den einzelnen Kürzungstechniken auf (Emphasis, Verzicht auf Konjunktionen, Fusion mehrerer Ausdrücke zu Partzipialkonstruktionen u. a.), 287 die in der Poetria nova mehr oder weniger summarisch referiert werden. Sie stehen unter der Maßgabe, nur das für die vis materiae Wesentliche und für ihr Verständnis Notwendige zu bieten: Dicenda sunt enim sola illa in quibus constitit vis materiae et sine quibus intelligentia materiae habere non potest. (§ 2,30) Man muss nämlich allein jene Wörter nennen, in denen das Wesen des Stoffes liegt und ohne die ein Verständnis des Stoffes nicht möglich ist. Dabei sollen zunächst der ›Plot‹ des zu abbreviierenden Stoffes, sodann die nomina rerum notiert werden, aus denen allein sich das Sinnpotential konstituiert; im Falle der ›Schneekind‹-Erzählung sind dies: femina, vir, puer, sol, nix (§ 2,43). Mithilfe der verba wird nun eine syntaktisch-logische Verknüpfung hergestellt, die die Sukzessivität der Handlung pointiert abbildet und im Ergebnis auf die zweite, aus der Poetria nova als subscriptio bekannte Variante der Kürzungsoperation hinausläuft (Vir, quia quem […], (§ 2,43, s. oben). Das in den mittellateinischen Poetiken um 1200 kodifizierte Konzept der abbreviatio besitzt - das haben die Ausführungen gezeigt - eine doppelte Ausrichtung, die sich in einer geradezu ›kompendiösen‹ Tendenz der Verkürzungstechnik manifestiert. Mit der in den Artes poetriae gegenüber dem antiken Modell vollzogenen Neukonfiguration der Kategorie als Gegenpart zur amplificatio bzw. dilatatio materiae geht zwar eine programmatische Verschiebung von einer qualitativen Dimension, wie sie in der antiken Rhetorik dominiert, zu einem quantitativen Prinzip der Kürzung des Umfangs einher. Insofern sich aber die inhaltliche Reduktion im Modus der abbreviatio nicht ohne sprachlich-formale brevitas rea‐ lisieren lässt, die den komprimierten Wortlaut auf eine semantische Mehrschichtigkeit hin transparent halten kann, 288 erscheinen beide Techniken - obwohl sie auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen - als sich wechselseitig bedingende Konstanten einer auf die Inhaltswie Formseite zielenden Verdichtung. Erst in der Spezifik der formalen und stilistischen Ele‐ mente kann sich das implizite Sinnpotential der »vom Inhaltlich-Erzählenden absehende[n] Qualität« 289 der Reduktion vollständig entfalten. Die Form bleibt nicht nur transparent für den Sinn, sondern dient gewissermaßen als Vehikel, mit dessen Hilfe die Aussage erst ihre komplette Bedeutung generiert: »Der Modus der Kürze und das Verfahren des Kürzens 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 53 <?page no="54"?> 290 Scheuer, Das Heilige im Gebrauch (2021), S. 239. - Zum Potential der abbreviatio und dilatatio ma‐ teriae, durch quantitative Verfahren Qualitäten des Erzählens zu pointieren, vgl. Lauer, Literarisches Er-Zählen (2018), bes. S.-75. 291 Zum Problemfeld vgl. Frick / Rippl (Hg.), Dynamiken literarischer Form (2020). Mit diachronem Fokus auf die literarische Modellbildung Erdbeer / Kläger / Stierstorfer (Hg.), Literarische Form (2018). 292 Einschlägig Henkel, Text - Glosse - Kommentar (2010), S.-237-262. Zum mittelalterlichen Lektüre‐ kanon Glauche, Schullektüre im Mittelalter (1970); mit Einzelstudien Grubmüller (Hg.), Schulliteratur im späten Mittelalter (2000); am Beispiel der Fabulae Avians und der Disticha Catonis vgl. Baldzuhn, Schulbücher im Trivium (2009). 293 Dazu Frick / Henkel, Sonderfälle des Sprachtransfers (2019), bes. S. 245. Auf der Basis der handschrift‐ lichen Überlieferung lässt sich die Praxis des studierenden Lesens in seinen Rahmenbedingungen rekonstruieren. Vgl. Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte (1988), bes. S. 103-147. 294 Zum differenzierten Instrumentarium der Texterschließung vgl. Henkel, Glossierung und Texter‐ schließung (2009), S.-468-496, bes. S.-473. 295 Vgl. Stotz, Dichten als Schulfach (1981), S.-1-16; Stotz (Hg.), Dichten als Stoff-Vermittlung (2008). dienen dabei synergetisch dem einen Ziel: Qualitäten durch Quantifizierung wahrnehmbar, beurteilbar und erinnerbar zu machen.« 290 1.3.3 Hermeneutische Qualitäten literarischer Kürzung. Historische ›Arbeit am Text‹ Die exemplarische Analyse des einschlägigen Materials, das die mittelalterlichen Artes poetriae zum Prinzip der abbreviatio verzeichnen, dokumentiert einen unterschiedlichen Status der Kürzungstechnik in je differierenden literarischen Funktionskontexten. Während die knappen Angaben in Matthäus’ von Vendôme Ars versificatoria sich schwerpunktmäßig an der vor allem im Schulkontext geübten Praxis der Erstellung von Zusammenfassungen (argumenta) umfangreicherer antiker bzw. auch mittelalterlicher Verstexte im Sinne sog. Merkversreihen orientieren, die in der Regel an einer ›bloßen‹ Wiedergabe des Inhalts in extremer Dichte interessiert sind, rekurriert Galfreds von Vinsauf Poetria nova auf ein graduell mehrstufigeres Verfahren literarischer Verdichtung, das inhaltliche Aspekte mit formalen Gesichtspunkten so artifiziell kombiniert, dass der Formsemantik selbst implizites Sinnpotential zuwächst. 291 Diese beiden Referenzkategorien der im lateinischen Dichtungsbetrieb der Zeit zu beobachtenden Aktualisierung vorgängiger Narrative und Stoffe mittels der abbreviatio als eines poetischen Prinzips sollen im Folgenden an zwei Beispielen genauer erläutert werden, um die hermeneutischen Qualitäten literarischer Kürzung im historischen Kontext präziser zu erfassen. Die spezifische Form des Lesens von antiken Klassikertexten im westeuropäischen Mittelalter ist die studierende Lektüre, deren bildungsgeschichtlicher Ort in Schule und Universität liegt. 292 Die Arbeit am Text erfolgt in diesem Zusammenhang bekanntlich in der Zielsprache des Unterrichts, d. h. dem Lateinischen, zum Zwecke der Ausbildung einer aktiven Beherrschung auf den Feldern der Mündlichkeit wie der Schriftlichkeit gleichermaßen. 293 Dazu gehört einerseits die sprachlich-stilistische sowie inhaltlich-kon‐ textbezogene Erschließung des jeweils vorliegenden Textes, 294 andererseits die produktive Aneignung des Unterrichtsgegenstandes: die Ausbildung der Fähigkeit, auf der Basis des Gelernten eigenständige Texte und Dichtungen zu verfassen. 295 Eine in diesem Sinne 54 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="55"?> 296 Vgl. mit weiterführender Literatur Frick, argumenta (2017), S. 231-260. - Zur Funktionalisierung des argumentum-Typus im frühneuzeitlichen lateinischen Epos Haye, Zeitsparende Epik (2021), S.-261-280. 297 Zum Material Munk Olsen, L’étude des auteurs classiques, Bd. 2: Catalogue des manuscrits classiques (1985), bes. S. 686f. - Die Inkunabelausgaben der Werke Vergils sind verzeichnet bei Davies / Gold‐ finch, Vergil. A Census of Printed Editions (1992). - Die argumenta zu Vergils Aeneis sind nachge‐ wiesen im Kompendium für die lateinische Dichtung des Mittelalters von Schaller / Könsgen, Initia carminum (1977). - Zur Vergil-Überlieferung siehe auch den Überblick in Reynolds (Hg.), Texts and Transmission (1983), S.-433-440. 298 Poetae latini minores, hg. Baehrens, Bd. 4 (1882), S. 151. Vgl. dazu Schaller / Könsgen, Initia carminum (1977), Nr. 12542. - Die argumenta zu den einzelnen Büchern von Vergils Aeneis sind ediert in Shackleton Bailey (Hg.), Anthologia Latina. I. Carmina in codicibus scripta (1982), S.-1-16. geradezu ubiquitäre literarische Technik repräsentiert die reformulierende poetische Zu‐ sammenfassung insbesondere antiker Epen in nur wenigen Versen, die dem Prinzip der abbreviatio folgt. Die argumenta zu Vergils Aeneis sind ein gut bezeugtes Beispiel für die Anwendungsform literarischer Kürzung im Hinblick auf die Einübung poetischer Gestaltungsprinzipien unter memorativen Gesichtspunkten. 296 Die argumenta zur Aeneis, in zahlreichen der rund tausend mittelalterlichen Vergil-Hand‐ schriften und weit über 100 frühneuzeitlichen Druckausgaben überliefert, 297 eröffnen in der Regel das Werk bzw. dessen einzelne Bücher und bieten einen Einblick in die Parameter der gestaltenden Arbeit am Text. Als Beispiel für die Verfahrensweise der poetischen Kürzungspraxis dient hier das argumentum zum Werkganzen, das jedes der zwölf Aeneis-Bücher in nur einem Vers referiert: Primus habet, Libycam ueniant ut Troes in urbem. Edocet excidium Troiae clademque secundus. Tertius a Troia uectos canit aequore Teucros. Quartus item miserae duo uulnera narrat Elissae. Manibus Anchisae quinto celebrantur honores. Aenean memorat uisentem Tartara sextus. In Phrygas Italiam bello iam septimus armat. Dat simul Aeneae socios octauus et arma. Daunius expugnat nono noua moenia Troiae. Exponit decimus Tuscorum in litore pugnas. Vndecimo Rutuli superantur morte Camillae. Vltimus imponit bello Turni nece finem. (PLM IV, S.-151) 298 Das erste Buch beinhaltet die Ankunft der Trojaner in der libyschen Stadt (sc. in Karthago). Das zweite berichtet über den Untergang Trojas und die Niederlage. Das dritte besingt, wie die Trojaner von Troja aus auf dem Meer fuhren. Das vierte erzählt auf die gleiche Weise von den zwei Wunden der unglückseligen Dido. Im fünften wird den Manen des Anchises Ehre erwiesen. Das sechste legt dar, wie Aeneas die Unterwelt aufsucht. Das siebte rüstet Italien schon zum Krieg gegen die Trojaner. Das achte verschafft dem Aeneas Verbündete und Waffen zugleich. Im neunten stürmt Turnus gegen die Mauern des neuen Troja. 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 55 <?page no="56"?> 299 Die einschlägigen argumenta zum vierten Buch der Aeneis analysiert Frick, argumenta (2017), S.-237-239. 300 Dass der Vorgang produktiver Aneignung der Aeneis mittels poetischer argumenta bis in die Frühe Neuzeit hinein reicht, dokumentiert Sebastian Brants Ausgabe der Opera Vergils (Straßburg: Grüninger 1502. VD16 V 1332). Sie bietet nicht nur die drei Hauptwerke des antiken Dichters (Bucolica, Georgica, Aeneis) sowie die teils als authentisch geltenden, teils Vergil nur zugeschriebenen kleineren Dichtungen, die sog. Carmina minora. Darüber hinaus enthält die Ausgabe eine ganze Sammlung von argumenta zu Vergils Werken und deren einzelnen Teilen, denen Brant an zahlreichen Stellen eigene, gemäß der literarischen Praxis der abbreviatio verfasste poetische Zusammenfassungen beigibt. - Zur Straßburger Vergil-Ausgabe im Zusammenhang mit Brants Publikationstätigkeit vgl. Henkel, Sebastian Brant (2021), S.-607-645. Das zehnte schildert die Kämpfe am Gestade der Tusker. Im elften werden die Rutuler durch Camillas Tod überwunden. Das letzte setzt dem Krieg durch den Tod des Turnus ein Ende. Jeder Vers fokussiert eine als zentral erachtete Sinnkomponente, die mitunter in einem - für den argumentum-Typus gängigen - personifizierenden Gestus präsentiert wird (z. B. Buch 7; 8; 12). Sie tritt gewissermaßen als pars pro toto für den Handlungskomplex des ganzen Buches ein und bildet damit den epischen Progress in einer ›Mini-Erzählung‹ nach, vgl. z. B. die Ankunft der Trojaner in Lybien (Buch 1), den Untergang Trojas (Buch 2), die Irrfahrten der Trojaner (Buch 3) etc. Während jedoch das Gros der Einzelverse den jeweils anvisierten Nucleus in einem ansatzweise narrativen Raster entfaltet, liegt der Bezug des argumentum-Verses zum vierten Buch auf einer abstrakteren Ebene: Die zwei Wunden der unglückseligen Dido (miserae duo uulnera Elissae) verweisen (psychisch) auf ihre Verwundung durch den Liebeszauber der Venus sowie (physisch) zugleich auf die Selbsttötung als letzten Ausweg aus der verzweifelten Lage, in die die Liebe zu Aeneas die Karthagerkönigin gestürzt hat. 299 Aus produktionsästhetischer Hinsicht erfordert diese Verknappung der zwischen rund 700 und 1000 Verse umfassenden Aeneis-Bücher auf jeweils nur einen Hexameter nicht nur eine präzise Textkenntnis und die Fähigkeit, das Kernthema eines jeden Buches zu extrapolieren, sondern auch die virtuose Beherrschung der lateinischen Sprache. Auf der Seite der Adressaten sind die Verse auf literarische Kennerschaft und Bildung angewiesen: Das argumentum zur Aeneis vermag zwar einen Einblick in die makrostrukturelle, thema‐ tisch perspektivierte Gliederung des Werkes zu vermitteln; als Erklärung des Inhalts vor dem eigentlichen Lektürevorgang eignet es sich freilich kaum. Seine Funktion besteht vielmehr darin, zentrale Aspekte der Einzelbücher für den textkundigen Rezipienten in einer handlichen memorierbaren Form bereitzustellen. Die Einzelverse des argumentum präsentieren exemplarisch die Spannbreite möglicher Formen und Funktionen sprachlicher abbreviatio: Vom inhaltlich dominierten Nachvollzug, der das Ergebnis einer Handlung summarisch wiedergibt (z. B. Buch 1: Primus habet Libycam ueniant ut Troes in urbem), bis hin zu Formen der Kürzung (z. B. Buch 4), die aufgrund ihrer uneigentlichen Referenzebene umso mehr auf das Vorhandensein von (Text-)Wissen für das Verständnis angewiesen sind. Zugleich ist diese prononcierte abbreviatio Ausweis kunstvollen sprachlichen Könnens und literarischen Gestaltens. 300 56 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="57"?> 301 Text und Übersetzung nach Henkel, Reduktion (2017), S. 30. - Der Zusammenhang der Anekdote ist besprochen in Adcock (Hg.), Hugh Primas and the Archpoet (1994), S. XVIII. - Hugos Gedichte sind ediert in Meyer, Die Oxforder Gedichte des Primas (1907); mit englischer Übersetzung in McDonough (Hg.), The Arundel Lyrics (2010). - Zum Umgang des Hugo Primas mit der Tradition lateinischer Troja-Dichtung vgl. Fischer, Hugo Primas’ Troja (2021), S.-141-156. 302 Dabei entspricht jedem Wort des einen Verses ein dieselbe Position einnehmendes, semantisch konträres (Reim-)Korrelat im Folgevers. Vgl. den Überblick in Stotz, Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, Bd.-4: Formenlehre, Syntax und Stilistik (1998), bes. S.-487-495. 303 Henkel, Reduktion (2017), S.-30f. Jenseits der engeren Grenzen der institutionellen Praktiken der Klassiker-Lektüre fungiert eine solche elaborierte Handhabe der Kürzung als Instrument literarischer Selbst‐ profilierung gerade im Umfeld des akademischen Agons. Ein eindrückliches Beispiel für dieses funktionale Profil der abbreviatio bietet ein innerhalb der mittellateinischen Literatur bekanntes virtuoses ›Übungsstück‹, nämlich die poetische Komprimierung der Bibel, des im kulturellen Gedächtnis zumal des Mittelalters wohl gewichtigsten Leittextes. Der Dichter Hugo († um 1160), Kanoniker in Orléans und später mit dem Beinamen ›Primas‹ (›der Erste‹) ausgezeichnet, habe ein breve compendium novi et veteris Testamenti in zwei Hexametern vorgelegt, das ihm laut einer Anekdote zum Sieg in einem Dichter-Wettstreit gereichte (offenbar benötigte sein Kontrahent vier Verse für dieselbe Aufgabe): 301 Quos anguis tristi virus mulcedine pavit: Hos sanguis Christi mirus dulcedine lavit. Diejenigen (sc. Menschen), die das Gift der Schlange mit seiner fatalen verführerischen Bezau‐ berung (tristi mulcedine) gelabt hat, / die hat das wundertätige Blut Christi mit seiner Süße reingewaschen. Die in der Form der versus intercalares  302 arrangierte Kurzfassung führt exemplarisch vor, worauf die historische Abbreviationsbestimmung - hier mit Bezug auf Galfreds Poetria nova - abzielt: nicht auf einen inhaltlichen Nachvollzug der Hl. Schrift, der in einer solchen Dichte unmöglich zu leisten wäre, auch nicht, wie im Fall der argumenta zu Vergils Aeneis, auf ein handlungslogisch grundiertes, für den Text bzw. das einzelne Buch zentrales Repräsentationsmoment. Die Referenzebene liegt vielmehr - unter kategorial anderen Wahrheitsbedingungen - in einer vom Inhaltlichen abstrahierenden dogmatisch-argumen‐ tativen Struktur, die die »Opposition von Sündenfall [AT] und Erlösung [NT]« 303 sowohl auf der formalen wie lexikalischen Ebene kunstvoll spiegelt. Grundlegende Voraussetzung einer solch artistisch gehandhabten abbreviatio bildet das synthetische Prinzip der lateini‐ schen Sprache, das es erlaubt, komplexe syntaktische, morphologische und semantische Kategorien innerhalb weniger Lexeme zu verschränken. Der in diesem Beispiel dokumentierte quantitative und qualitative Charakter der ab‐ breviatio verweist auf die dem Kürzungs-Prinzip unmittelbar inhärente, bildungs- und diskurshistorisch begründete Dualität von Sinnstiftungs- und Deutungsprozessen. Sie konstituiert sich - aus der Perspektive der Produktion - in der kompetenten Beherrschung der sprachtypologisch bedingten formalen und stilistischen Raffinements sowie in einer epistemischen Komponente, die Kennerschaft und Wissen nicht nur für die Autoren voraussetzt, sondern gleichermaßen auf die intellektuelle Potenz der Rezipienten abgestellt 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 57 <?page no="58"?> 304 Henkel, Reduktion (2017), S.-41. 305 Im Gegenzug gilt (Henkel, ebd.): »Fehlt die […] notwendige Bildung, dann läuft das Konstrukt der Abbreviatio ins Leere, der intellektuelle Kontrakt kommt nicht zustande.« 306 Vgl. Hilka / Schumann / Bischoff (Hg.), Carmina Burana, Bd. 1,1-3: Texte (1930/ 1941/ 1970), Bd. 2,1: Kommentar, München 2 1961, 46*f. Übersetzung und Neukommentierung bei Vollmann (Hg.), Car‐ mina Burana (1987). - Den Troja-Komplex in CB 99-103 bespricht Henkel, Reduktion (2017), S. 33-37. 307 Henkel, Reduktion (2017), S.-37. 308 Darauf verweist schon die als erste von Galfred in der Poetria nova (V. 706f.) wie im Documentum (§ 2,34) genannte Kürzungsprozedur, die mit der Emphasis das Gesagte mit unterschwelligem Sinn auflädt, der nicht eigens expliziert werden muss. Dazu Gallo, The Poetria Nova (1971), S.-191-193. ist. Nur wenn diese aufgrund ihrer Bildung befähigt sind, »die narrativen Leerstellen der Abbreviatio aufzufüllen und die Formelemente in ihrer sinnstiftenden Funktion zu erkennen«, 304 kann sich die in maximaler sprachlich-formaler Verknappung codierte Zei‐ chenlogik der abbreviatio entfalten - ein Prozess, den Nikolaus Henkel als »intellektuellen Kontrakt« konzeptualisiert hat. 305 In diesem textproduktiven wie texthermeneutischen Doppelsinn implizieren die beiden Positionen im Rahmen eines ›gelehrten Spiels‹ je unterschiedlich nuancierte Möglichkeiten des Umgangs mit vorgegebenen thematischen Horizonten. Das auf dem Prinzip der abbrevi‐ atio basierende Neu-Arrangement bekannter Sujets bzw. umfangreicherer Narrative bietet - über rein inhaltsbezogene Aspekte hinaus - Freiräume koordinierter Sinnentfaltung, deren spezifische Qualitäten durch Mechanismen (stofflicher) Selektion bzw. Abstraktion und Neu-Ordnung durch formal-stilistisches Kunstvermögen potenziert werden. Dabei muss die Verkürzung nicht zwingend im absoluten Sinne auf eine größtmögliche Konden‐ sierung des vorhandenen Materials abgestellt sein; die Tendenz zu gegenläufigen Prozessen (z. B. abbreviatio des bereits Bekannten bei simultaner dilatatio des ungesagt Gebliebenen) ist in der Maßgabe ›origineller‹ poetischer Neu-Bearbeitung tradierter Narrative stets mit‐ gedacht. Sie illustriert, dass die Artes poetriae Kürzung und Erweiterung nicht als dichoto‐ mische Kategorien verstehen, sondern als einander zugeordnete Maximen, denen in ein und demselben Bearbeitungsvorgang dasselbe Wirkungskalkül zukommt: den bekannten Stoff durch stilistisch-formale und sprachliche Variation auf alternative Sinndimensionen und Dichtegrade hin zu intensivieren. Ein Beispiel hierfür ist die Re-Konfiguration des Trojabzw. Aeneas-Dido-Komplexes in den metrisch versierten, einschlägigen abbreviationes im Codex Buranus (CB 99-103), 306 die das Untergangstableau jeweils mit einem gegenüber der antiken Vorlage unterschiedlichen Fokus akzentuieren und damit eine »grundsätzliche[ ] Neuorientierung« vorlegen. 307 Das im Akt der Lektüre auf der Basis mentaler Verknüpfung der subtilen Kürzungsprodukte mit verinnerlichten Wissensbeständen in Gang gesetzte deutende Verstehen wiederum ermöglicht die Eingliederung der Kürzung in ihre je kontextuelle Bedeutung und bindet sie so zurück an den ursprünglichen Zusammenhang, von dem sie sich sinnstiftend absetzt. In der historischen Abbreviationspoetik und literarischen Abbreviationspraxis - so lässt sich resümieren - erscheint das Prinzip der abbreviatio keineswegs als ›bloßes‹ Mittel der Redundanzvermeidung, sondern es dominiert die Tendenz, es zur Entfaltung eines dem Ausgangsmaterial inhärenten Möglichkeitssinns zu instrumentieren. 308 Damit liegt zwischen den Modi der Kürzung und Erweiterung keine kategoriale, sondern allenfalls eine 58 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="59"?> 309 Vgl. die unterschiedlichen Formate der Thesaurierung des literarischen wie allgemein bildungshis‐ torischen Wissens in Exempelsammlungen (loci communes), Florilegien etc. mit ihrer Jahrhunderte überdauernden Präsenz im Bereich rhetorischer Schulung und akademischer Ausbildung. Zusam‐ menfassend Jäger / de Mazza / Vogl, Einleitung (2021), Zitat S.-7. 310 In Bezug auf volkssprachige Formen des Wiedererzählens siehe Kap.-1.4. graduelle Differenz, indem beide Parameter in unterschiedlichen Funktionskontexten und mit divergierenden Referenzrahmen operieren; zumal sie im Hinblick auf das poetische Ziel der Profilierung ›neuer‹ Aspekte im ›Altbekannten‹ als funktional grundsätzlich gleichgerichtet, d. h. synergetisch konzipiert werden. Die spezifische Qualität literarischer Kürzung konstituiert sich insbesondere in ihrer formalen ›Gemachtheit‹ als sinntragender Komponente, die nicht losgelöst zu denken ist von traditionellen Formationen kulturellen Wissens. Die grundsätzliche kulturhistorische Wertschätzung relationaler »Textökono‐ mien« dokumentieren schon die traditionell kultivierten Formen der Kondensierung verfügbarer Wissenswelten. 309 Dabei sind auch für die Poetik der abbreviatio keineswegs strikte Differenzlogiken in Bezug auf die für mittelalterliche Retextualisierungsprozesse substantielle Trias von materia, forma, artificium anzusetzen. 310 Im Gegenteil kann sie selbst im produktiven Umgang mit den tradierten und zeitgenössisch praktizierten Orga‐ nisationsmustern, die den dichterischen Zugriff auf vorgängige Erzählkomplexe bzw. Stoffe auszeichnen, mehrdeutige Spielarten sprachlich-formaler und damit zugleich semantischer Ausdrucksmöglichkeiten evozieren. Insofern erscheint die Technik der abbreviatio als dezidiert literarisches Verfahren, das den in den Artes poetriae formulierten Prinzipien gleichsam vorausliegt und in diesen exemplarisch zur Anschauung gebracht wird. Als ein solches ist sie auch eine dynamische Größe, die eine je nach bildungshistorischem, gattungsspezifischem, diskursgeschichtlichem und poetologisch-rhetorischem Kontext signifikante historische Prägnanz ausbildet. 1.3 Historische Abbreviationspoetiken 59 <?page no="61"?> 311 Dieser Aspekt erscheint in Galfreds Poetria nova als eine Möglichkeit, Sinnfülle subtil auf engem Raum auszustellen: prudentia dicti / in dictis non dicta notet (V.-697f.). 312 Zur Kommunikation innerhalb der gelehrten ›Expertenkultur‹ vgl. Leonardi / Munk Olsen (Hg.), The Classical Tradition in the Middle Ages (1995); Rexroth (Hg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten (2010); Reich / Rexroth / Roick (Hg.), Experten und Expertenkulturen (2012); Rex‐ roth / Schröder-Stapper (Hg.), Experten, Wissen, Symbole (2018). - Zur institutionellen Gebunden‐ heit mittelalterlicher Literatur vgl. Kellner / Lieb / Strohschneider (Hg.), Literarische Kommunika‐ tion (2001). 313 Zur Vermittlung von Wissen in der Volkssprache exemplarisch Schreiner, Laienbildung (1984), S. 257-354; Lutz / Backes / Matter (Hg.), Lesevorgänge (2010); Lutz (Hg.), Finden - Gestalten - Vermitteln (2012); Lähnemann / McLelland / Miedema (Hg.), Lernen, Lehren und Bilden (2017). 314 Das ›Transfer‹-Konzept in interkultureller Perspektive ist beschrieben bei Espagne / Werner (Hg.), Transferts. Les rélations interculturelles (1988). - Mit Bezug auf die Neuzeit vgl. Lüsebrink / Reichardt (Hg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch (1997), darin bes. Espagne, Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer, S.-309-330; Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation (2016). 315 Siehe dazu eingehender Henkel, Reduktion (2017), S. 27-55; Frick, Zwischen Sinnreduktion und Prägnanz (2020), S.-219-244. 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 1.4.1 Methodische Annäherung Die elaborierten und im Einzelnen mitunter virtuos gehandhabten Formprinzipien, die im vorigen Kapitel perspektiviert worden sind, gehören im Bereich der lateinischen Bildungskultur zu den selbstverständlichen Produktionsmodalitäten literarischer Texte und sind als historisch spezifische Strukturen gelehrt-literarischer Kommunikation zu sehen, die mit je unterschiedlicher Zielsetzung divergierende Effekte auf der Ebene der Bedeutungskonstitution generieren. Sie sind auf kompetente Kenner berechnet, denen sich erst das rhetorisch grundierte, poetische Formkalkül in seinem mitunter komplexen Anspielungsreichtum - die Sinnfülle im Nicht-Gesagten - erschließt. 311 Die Vermittlung und die gegenseitige Versicherung der Teilhabe am kulturellen Wissen ist in der gelehrten Latinität also horizontal vermittelt. Literaturproduzenten wie -rezipienten interagieren in einem bildungshistorisch durch den Zugang zur lateinischen Schriftlichkeit und Bildung definierten Areal. 312 Bei einer Transformation der an der Latinität geschulten literarischen Parameter in die Volkssprache ergibt sich demgegenüber eine grundlegende Differenz. Aus der Sicht der sich um 1200 etablierenden Literatur in der Volkssprache partizipieren zumindest die Autoren durch ihre Sozialisation am Bezugssystem der zeitgenössischen Gelehrtenkultur, jedoch ist dies für die Rezipienten, speziell im deutschsprachigen Raum, nicht ohne weiteres vorauszusetzen. 313 Weil sich hier ein Bildungsgefälle innerhalb einer räumlich wie sprachlich zusammengehörigen Gruppe manifestiert, kommt der Anwendung und Vermittlung gelehrter Wissensordnungen im Medium der Volkssprache der Charakter einer vertikalen Kommunikation im Rahmen des Transfers zu. 314 Darüber hinaus unterscheiden sich die Möglichkeiten des formal-stilistischen und sprachlichen Inventars erheblich: Dass dem Postulat des im Rahmen der abbreviatio praktizierten brevitas-Prinzips in der Latinität ganz andere Gestaltungsparameter als in der Volkssprache zur Verfügung stehen, bedingt einen grundsätzlich verschiedenen quantitativen wie qualitativen Charakter der Kürzung. 315 Die für das kulturelle Feld der Volkssprache charakteristischen Voraussetzungen literarischer abbreviatio schlagen sich in 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 61 <?page no="62"?> 316 Vgl. dazu die Einzelstudien im Sammelband von Frick / Grütter (Hg.), abbreviatio (2021). - Zur typologischen Vielfalt redaktioneller Kürzung im epischen Paradigma resümierend Kap.-3.1.2. 317 Vgl. Jeay, ›Pour cause de briefté‹ (2011), S. 105-120. - Zum umfangreichen Material der mises en prose vgl. das Verzeichnis bei Colombo Timelli u. a. (Hg.), Nouveau répertoire (2014). Dazu Felice, Des vers à la mise en prose (2014), S. 139-150; Trachsler, Disjointures-Conjointures (2000); Trachsler, Du Cleomadés au Clamadés (2015), S.-73-82; Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S.-67-83. 318 Zu Namen als Chiffren umfangreicherer Narrative im Tristan Gottfrieds von Straßburg vgl. Fle‐ cken-Büttner, Wiederholung und Variation (2011), bes. S.-232-238. 319 Henkel, Sebastian Brant (2021), S.-489. 320 Henkel, Reduktion (2017), S.-27-55. 321 »Die Beispiele in deutscher Sprache nutzen andere Register, etwa Namen oder eine angedeutete Handlung als Abbreviaturen weiterer Narrative […].« Henkel, Reduktion (2017), S.-55. 322 Knapp, Poetik (2014), S.-231. 323 Vgl. Kap. 1.3. - Zur Übersicht über die Verbreitung Worstbrock / Klaes / Lütten (Hg.), Repertorium der Artes dictandi im Mittelalter (1992); Hartmann / Grévin (Hg.), Ars dictaminis. Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre (2019). 324 Der Text ist dabei vielfach mit Glossen oder umfangreicherer Kommentierung versehen. Vgl. Knapp, Poetik (2014), S.-223. Dazu auch Woods, Classroom Commentaries (1985). Vgl. Anm.-274. 325 Vgl. die kommentierte Ausgabe von Vollmann (Hg.), Eberhard der Deutsche (2020). einer typologischen Vielfalt, ja Heterogenität der jeweiligen Phänomene nieder. 316 Dass sie - jenseits nationalsprachlicher Grenzen - für die Literaturgeschichte der Volkssprachen konstitutiv sind und dabei auf das lateinisch vermittelte poetische Praxiswissen bezogen bleiben, zeigt ein Blick in die Romania, wo z. B. innerhalb der Überlieferung höfischer Romane ebenfalls Kurzfassungen sowie kürzende Prosaauflösungen (mises en prose) nach‐ weisbar sind. 317 Dies dokumentiert darüber hinaus der generelle Umgang mit Namen als Abbreviaturen komplexer Narrative. Gerade dieses Verfahren, das prominent in Gottfrieds von Straßburg Tristan aktualisiert wird, 318 setzt in einer wissens- und bildungsgeschichtli‐ chen Perspektive eine externe Referentialisierungsleistung voraus und illustriert die für die Volkssprache spezifische Funktionsweise des anhand der Verhältnisse in der lateinischen Gelehrtenkultur konzipierten Modells des ›intellektuellen Kontrakts‹: Ein maßgeblicher Faktor in diesem doppelseitigen Sinnstiftungs- und Deutungsprozess ist, welch ein Grad an Präsenz für ein Element des kulturellen Wissens bei Autor und Rezipient angesetzt werden kann […]. 319 Nur wem sich im Rezeptionsprozess der kalkulierte Verweischarakter eines Namens im Kontext der Narration erschließt, kann die Akzentuierung des Erzählten mittels kultu‐ reller Sinnbildungsmuster wahrnehmen. Ein solchermaßen konzipiertes, »poetologisches Prinzip« der Reduktion 320 für volkssprachiges Material arbeitet mit einem dediziert ex‐ ternen Referentialisierungssystem, als dass es sprachstrukturelle und formsemantische Aspekte der jeweils vorliegenden Kürzungsphänomene fokussiert. 321 Die unbestreitbare kulturelle Reichweite und wirkmächtige Präsenz der als »literari‐ sche[ ] Infrastruktur« 322 zu bezeichnenden historischen Abbreviationspoetik zeichnet sich in der handschriftlichen Überlieferung nicht nur der zahlreichen Artes dictandi, 323 sondern etwa von Galfreds Poetria nova in rund 200 erhaltenen Manuskripten, 324 aber auch in der Rezeption der zentralen Parameter der aus dem französischen Raum stammenden Artes poetriae z. B. im Laborintus Eberhards des Deutschen ab. 325 Aus diesem Grund lässt sich konstatieren, dass die in den zeitgenössischen lateinischen Poetiken vermittelten Prinzipien 62 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="63"?> 326 Grundlegend zur rhetorisch-poetischen Tradition im Mittelalter Copeland / Sluiter (Hg.), Medieval Grammar and Rhetoric (2009). - Zur Vermittlungsleistung volkssprachiger Autoren Masse / Seidl, ›Texte dritter Stufe‹. Eine Einleitung (2016), S. 9-19; Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007), bes. S.-219f. 327 Henkel, Dialoggestaltung (2011), S.-143. 328 Am Beispiel des Literaturexkurses im Tristan Gottfrieds von Straßburg führt Knapp, Poetik (2014), S.-232f., die (auch terminologischen) Anleihen bei den mittellateinischen Artes poetriae aus. 329 Lieb (Die Potenz des Stoffes [2005], S. 362) hinterfragt zurecht eine statische Veranschlagung der his‐ torisch-poetischen Kategorien auf mittelhochdeutsche Texte im Sinne eines rein »mechanistische[n] Modell[s]«. Zur näheren Diskussion siehe weiter unten. 330 Dazu Hübner, Erzählform im höfischen Roman (2003), S. 81: »Der Unterschied zwischen dem Niveau von Schullehrbüchern und Chrétiens oder Hartmanns Erzählkunst stellt zweifellos ein grundsätzliches Problem dar. Ein noch grundsätzlicheres entsteht aber durch die Differenz zwischen den epistemischen Systemen der Rhetorik und der Erzähltheorie. Denn die rhetorische Theorie der Dichtkunst, wie sie in den Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts kristallisiert, vermittelte einen Begriff etwa von der descriptio, und zu diesem Begriff hatte die Rhetorik praktische Übungen zu bieten. Gleiches gilt für die Amplifikationstechniken oder für die in der Ornatuslehre vermittelten Formulierungstechniken. All dies gehört jedoch nicht zu den Gegenständen der Erzähltheorie.« 331 Vgl. Knapp, Poetik (2014), S. 220. - Dass das stiltheoretische Denken der Zeit »zur kleinen Einheit« tendiere, betont nachdrücklich Schneider, Narrationis contextus (2013), S. 183. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Schneider, Handlung und Handlungslogik (2019), S.-257. 332 Zum Konzept der ›Bauform‹ siehe oben, Anm. 36. - Demnächst für die höfische Epik auch Frick, Epische Bauformen (in Vorb. für 2025). 333 Als solche beschreibt Gebert, Mythos als Wissensform (2013), S. 311, »feste[ ] Koppelung[en] von semantischen Kernen (wie z. B. Eintritt, Zweikampf, Massenschlacht) mit jeweils spezifischen Erzählmodi (wie z. B. multisensorische Nahbeschreibung oder panoramatisches Erzählen.« dichterischer Praxis auch zum literarischen Erfahrungsraum der in der Volkssprache schrei‐ benden, an der lateinischen Kulturtradition partizipierenden Autoren gehört haben. 326 Sie prägen den produktiven Umgang mit »Sujets der auctores-Lektüre« 327 und bilden leitende Kategorien für das sich etablierende volkssprachige Erzählen in der schriftliterarisch gestützten epischen (Groß-)Form. 328 Dennoch bleibt die Frage nach dem analytischen Potential der historischen Abbrevia‐ tionspoetik methodisch heikel. Sowohl die lateinisch schreibenden als auch besonders die volkssprachigen Autoren - und diese aufgrund ihrer jeweils spezifischen sprachstruk‐ turell bedingt differenten Ausgangslage umso mehr - leisten gerade nicht eine rein technisch-mechanistische Anwendung der poetischen Prinzipien, wenn sie ›erzählen‹, 329 freilich ohne dass diese Erzählformen in expliziten theoretischen Reflexionen verstetigt worden wären. 330 Zumal die eigentliche Intention der rhetorisch informierten mittellatei‐ nischen Poetiken nicht dem ›Ganzen‹ der materia gilt, d. h. der Ausgestaltung eines vorgefundenen Stoffes über weiträumig angelegte und paradigmatisch aufeinander bezo‐ gene Strukturmuster zu einer in sich kohärenten Erzählkomposition. Vielmehr stellen sie lediglich rhetorisch fundierte Gestaltungsmöglichkeiten für einzelne Elemente der poetischen Faktur bereit, sei es in Bezug auf stilistische Fragen (z. B. den Umgang mit rhetorischen Figuren), sei es hinsichtlich der Modellierung bestimmter Erzähleinheiten durch Techniken der descriptio, den Einsatz von Exkursen oder Mono- und Dialogen. 331 Kaum sind mit solchen poetischen ›Bauformen‹ 332 bzw. mit einzelnen ›Erzähl-Modulen‹ 333 aber makrostrukturelle Konzepte tangiert. 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 63 <?page no="64"?> 334 Exemplarisch für das Feld der Handschriftenproduktion vgl. P. G. Schmidt, Probleme der Schreiber (1994); Schubert (Hg.), Der Schreiber im Mittelalter (2002). 335 Vgl. Schnell, Prosaauflösung (1984), S. 214-248. - Zur Annäherung des romanhaften an das chronika‐ lische Erzählen im Spätmittelalter Herweg, Wege zur Verbindlichkeit (2010); Herweg / Kipf / Werle (Hg.), Enzyklopädisches Erzählen (2019). - Dieser Aspekt ist diskutiert in Kap.-3.1.2.4. 336 Siehe zur Diskussion Kap.-1.2. 337 Primär überlieferungsgeschichtlich ausgerichtete Zugänge arbeiten in der Regel mit relationalen Vergleichskategorien, die die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Lang- und Kurzfassungen fokussieren. Dabei lässt sich kaum vermeiden, dass die Kurzfassung in einem solchen Verfahren zwangsläufig als ›Minustext‹ erscheinen muss. Zur Beschreibung der Problematik schon Bumke, Die vier Fassungen (1996), bes. S.-42-46. 338 Vgl. Tervooren / Wenzel (Hg.), Philologie als Textwissenschaft (1997). Die Parameter der mittellateinischen Poetiken bleiben in ihrer Applikation auf umfang‐ reichere, zumal in der Volkssprache verfasste Texte problematisch. Für Kurzredaktionen mittelhochdeutscher Epik gilt das in verschärftem Maße: Diese lassen sich nämlich in der Regel nicht als autoritativ abgesichert erweisen - wie stünde es hier mit der Annahme einer ›Anwendung‹ bzw. ›Umsetzung‹ des rhetorisch-poetischen Inventars durch Kopisten, deren konkreter Wissensstand und Bildung für uns größtenteils im Dunkeln bleiben? 334 Und wie verhält sich der rhetorisch-poetische Ansatz im Hinblick auf solche Texte, die lange nach 1200, etwa im 14. oder 15. Jahrhundert entstehen und somit auf einer volkssprachig ausdifferenzierteren Gattungstradition aufbauen können? 335 Verengt man die Perspektive bei einer Fokussierung auf das Kategorienpaar abbreviatio-dilatatio nicht zu sehr auf zwei dichotomische Konzepte, die auf einer produktionsästhetischen Ebene operieren, von denen die historische Poetik einen Begriff entwickelt hat, und verliert die sich mit der Kürzung einstellenden vielschichtigen Erzählprozesse und -dynamiken aus dem Blick, die im System der zeitgenössischen Dichtkunst keinen Platz haben? Mithin: Wie lässt sich der Grat zwischen den im Bildungswissen der Autoren um 1200 verankerten historischen Konzepten und einer hermeneutischen Reflexion beschreiten, die die sprachliche Faktur der Texte nicht nur aus der Perspektive der Produktion profiliert, sondern auch die narrativen Spezifika literarischer Kürzung im epischen Modell mitbedenkt? Es gilt also, hinsichtlich einer methodischen Annäherung an die Problematik der Refe‐ rentialisierung von historischer Abbreviationspoetik und volkssprachiger Kürzungspraxis verschiedene Ebenen zusammenzusehen. Im editionsphilologisch geprägten Diskurs um die Varianz mittelhochdeutscher Texte erscheint der Umschlag von Quantitätsphänomenen in qualitative Relationen - vor allem bezüglich einer stemmatologischen Bewertung der Kürzungsphänomene als ›Fehl-‹ bzw. ›Minusstellen‹ oder ›Lücken‹ - kaum zu ver‐ meiden. 336 Denn Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen existieren in diesem diskursge‐ schichtlichen Ort als ›Fassungen‹ nur in einem ›epischen Kontinuum‹, d. h. sie koexistieren mit anderen, als ›Langfassungen‹ klassifizierten Versionen eines Textes und erfahren ihre Würdigung somit erst in einer kontrastierend-vergleichenden Perspektive vor dem überlieferungshistorischen Horizont, der nicht losgelöst zu denken ist von fachbzw. dis‐ kursspezifischen Implikationen und Vorannahmen. 337 Die mittels einer Kollation der erhal‐ tenen Zeugnisse rekonstruierte ›epische Totalität‹ eines Textes in seinen unterschiedlichen Repräsentationsformen, die dem wissenschaftlichen Zugriff auf überlieferungsbezogene Definitionskriterien einer mittelalterlichen deutschsprachigen Textualität unterliegt, 338 64 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="65"?> 339 Dazu die Überlegungen von Frick, abbreviatio (2018), S.-23-50. 340 Vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 282-293; Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 51f.; Kiehl, Zur inhaltlichen Gestaltung (2008), S.-178-197. 341 Siehe die Diskussion oben, Kap.-1.2. 342 Am Beispiel der Kurzfassungen des Iwein Hartmanns von Aue überzeugend Krusenbaum-Ver‐ heugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S. 357-409. - Für eine Abkehr vom Intentionalität‐ spostulat in Bezug auf das Konzept ›Kurzfassung‹ plädiert Kap.-3.2. 343 Vgl. die methodischen Überlegungen im Ansatz von Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S. 85-123. - Zum Problemfeld gestufter Evidenzen am Beispiel von Gottfrieds Tristan siehe Kap.-3.1.1. 344 In diesem Sinne argumentiert Lieb, Die Potenz des Stoffes (2005), S. 358-362. - Zu den Schulkom‐ pendien und argumenta siehe Kap.-1.3.3. mag dem historischen Rezipienten allerdings nur schwerlich zugänglich gewesen sein. Insofern verdeckt die stemmatologisch begründete qualitative Bewertung der quantitativen Varianz vor dem Hintergrund der entsprechenden ›Langfassungen‹ Aspekte eines genuin narrativen Profils der Kurzredaktionen als eigenständiger Formationen eines Textes. 339 Auch rein funktionsanalytisch orientierte Ansätze stoßen rasch an Grenzen historisch plausibler Validierbarkeit. So lässt sich zwar in gewissen Kurzredaktionen eine pronon‐ cierte Tendenz der Kürzungsverfahren nachweisen (prominentes Beispiel wäre die Ent‐ lastung Kriemhilds in der Nibelungenklage *J). 340 Gleichwohl suggeriert die Annahme eines ›Gestaltungswillens‹, die dem die Kürzung verantwortenden Redaktor zugeschrieben wird, 341 einen intentionalen, ja geradezu final gerichteten Prozess, der sich für die meisten Fälle wohl kaum hinreichend begründen lässt und der als ›absolute‹ Kategorie die jeweilige Kurzfassung in ein hierarchisches Verhältnis im Sinne eines Norm-Abweichung-Postulats zu einem Prätext setzt, dessen tatsächliche Funktion als explizite Bezugsgröße kaum sicher bestimmt werden kann. 342 Die Frage nach der Funktion literarischer Kürzung, so scheint es, wird gerade dort prekär, wo historisch-axiologische Voraussetzungen mit nicht eindeutig relationierbaren Implikationen und Wertungsbilanzen ins Spiel kommen, 343 die die komplexe (Erzähl-)Dynamik des jeweiligen Textes vorschnell auf eine Deutungs‐ ebene verpflichten oder aber die historische Poetik eins zu eins mit den Erzeugnissen volkssprachiger Autoren verrechnen. Denn schon im lateinischen Bereich zeigt sich, dass die musterhaft-konsequente Umsetzung des rhetorisch-poetischen Modells allenfalls im schulischen bzw. im akademischen Milieu beispielhaft gehandhabt ist. 344 Jenseits der editionsphilologischen und funktionsanalytischen Perspektive auf Kurzre‐ daktionen, wäre - so die These - eine mittlere Ebene zur Beschreibung der narrativen Alternativen anzusetzen, die der Vorgang des abbreviare produziert: eine mittlere, d. h. ›Vermittlungs‹-Ebene zwischen dem historischen Gegenstand in seinem überlieferungs‐ geschichtlichen Kontext und einer differenziert-beobachtenden Analyse, die die erzäh‐ lerischen ›Konsequenzen‹ der je spezifischen Kürzungsverfahren in den Blick nimmt. Dabei lassen sich produktionsästhetische Prinzipien, die sich in der ›technischen‹ (ars, techne) Gemachtheit des Textes auf der Grundlage einer konstellierenden Lektüre mit dem jeweiligen Prätext bzw. dem anzunehmenden Erzählkontinuum abzeichnen, mit rezeptionsorientierten Ansätzen verbinden. Denn die Kurzfassung vermittelt sich ja ge‐ naugenommen nicht als ›Kürzung‹, sondern (relational gesehen) als ›kürzerer‹ Text, der sich allenfalls durch einen beim angezielten Publikum dominanten Erfahrungshorizont von einem intertextuell präsenten ›Langtext‹ als Kürzung sinnstiftend abheben kann. Die 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 65 <?page no="66"?> 345 Scheuer, Faltungen (2017), S.-58. 346 Von abbreviatio-bedingten »narrative[n] Leerstellen«, die von den Rezipienten in einem intellektu‐ ellen Spiel erst aufzufüllen und »in ihrer sinnstiftenden Funktion zu erkennen« sind, spricht Henkel, Reduktion (2017), S.-41. 347 Am Beispiel religiöser Lyrik Suerbaum, Geistliche Lieder (2021), S. 213-228. - Mit Bezug auf die mittelalterliche Versnovellistik Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-407-431. 348 Zum Geltungsanspruch kürzerer Erzählungen auf der Basis »›geronnene[r] allgemeine[r] Erfah‐ rungen« vgl. Wachinger, Kleinstformen (1994), S.-19f. 349 Koschorke, Wahrheit und Erfindung (2012), S.-28. 350 Am Beispiel des kompilatorischen Erzählens Scheuer, Das Heilige im Gebrauch (2021), S.-229-260. 351 Die Spezifika einer ›Poetik der Kürzung‹ sind zusammengeführt in Kap.-3.2. 352 Henkel, Reduktion (2017), S. 55. »Poetik umfasst in diesem Zusammenhang die Komponenten der Gemachtheit, das sind: die Art ihrer Gestaltung, die spezifischen Formkategorien, das Verhältnis zum jeweiligen sprachlich breiter ausgefalteten Narrativ, auf das sie sich beziehen.« (Ebd., S. 31). - Zu kleinen literarischen Formen des deutschsprachigen Mittelalters vgl. Holznagel / Cölln (Hg.), Die Kunst der brevitas (2017). Grundoperationen literarischer abbreviatio erschöpfen sich dabei nicht in quantitativen und qualitativen Modifikationen, die sich zwischen eindeutig identifizierbaren Relationen von Vorlage und Bearbeitung bewegen, d. h. sie gehen nicht darin auf, »einen vorgefundenen Erzählstoff subtraktiv zu kürzen oder ihn mit Hilfe bestimmter Stilmittel kompendiöser wiederzuerzählen«. 345 Sie umfassen zugleich Rezeptionssignale im Sinne narrativ verdich‐ teter, allusiv auf die Bildung der Leser rekurrierender topischer Schemata 346 sowie Bezug‐ nahmen auf ein gattungstypisches bzw. im weiteren Sinne kulturelles Wissen, 347 vor dessen Hintergrund sich die Charakteristika der abbreviatio als epochen- und genrespezifischer Technik formieren. 348 Erzählen »muss in vieler Hinsicht ein unartikuliertes Vorwissen aufrufen können, wenn es sich seinem Adressaten erfolgreich mitteilen will.« 349 Das hat Implikationen sowohl auf der rhetorisch-poetologischen wie diskursgeschichtlichen Ebene. Ziel muss es also sein, narrative Strategien und Effekte aufzuzeigen, die sich mit den Kürzungsverfahren einstellen und durch rhetorisch-poetische Maßgaben grundiert sein können, aber keineswegs allein in ihnen aufgehen, sondern vielmehr Synergieeffekte evozieren, deren Verhältnis je nach Text und Kontext neu zu bestimmen ist. 350 Dieses Vorgehen erscheint im Hinblick auf eine historisch validierbare analytische Beschreibungs‐ praxis deshalb plausibel, weil das Profil der Kurzredaktionen sich zum Teil erheblich voneinander unterscheidet. Dem Phänomen literarischer Kürzung mittelhochdeutscher Epik würde es kaum gerecht, es nur unter einer dominanten Perspektive - derjenigen der abbreviatio als rhetorisch-poetischem Operationsmodus - zu betrachten. Abstrahiert vom Einzeltext lässt sich auf der im Folgenden näher konturierten methodischen Basis, so die heuristische Annahme, ein gemeinsames Merkmalspektrum eruieren, das eine spezifisch deutschsprachige ›Poetik der Kürzung‹ auszeichnet. 351 Sie kann auf den von der Forschung beobachteten Merkmalen einer »Kunst der brevitas« aufruhen, 352 führt diese jedoch in einer integralen Perspektive mit einem Set von Beobachtungskategorien zusammen, mit deren Hilfe die variablen (rhetorisch-poetischen, narrativen, figurenanaly‐ tischen u. a.) Kürzungsimplikationen der Texte nuanciert erfasst werden können. Indem das Kriterium der Formsemantik sich als Teil einer rhetorisch instruierten ›narrativen‹ Praxis erweist, lässt sich das abbreviatio-Konzept zugleich als charakteristisches Element 66 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="67"?> 353 Vgl. Burdorf, Poetik der Form (2001); Andres, Lennart u. a. (Hg.), Formen des Wissens (2017); Erdbeer / Kläger / Stierstorfer (Hg.), Literarische Form (2018). - In historischer Akzentuierung Frick / Rippl (Hg.), Dynamiken literarischer Form (2020); Köbele / Notz (Hg.), Die Versuchung der schönen Form (2019); Andersen u. a. (Hg.), Literarischer Stil (2015). 354 Schildknecht, Art. ›Form‹ (1997), S.-612. 355 Bezner, Zwischen ›Sinnlosigkeit‹ und ›Sinnhaftigkeit‹ (2005), S.-223. 356 Dazu Rose, res und verba (2018), S. 33-51; Frick, Poetologische Formdiskurse (2020), S. 13-30. - Am Beispiel des Tristan Gottfrieds von Straßburg vgl. Huber, Wort-Ding-Entsprechungen (1979), S.-268-302; Huber, Kristallwörtchen (2015), S.-191-204. 357 Worstbrock, Wiedererzählen und Übersetzen (1999), S.-130. 358 So die Gegenposition von Lieb, Die Potenz des Stoffes (2005), S. 362. - Zum »fundamentalen Missver‐ ständnis« der von Worstbrock (Wiedererzählen und Übersetzen [1999]) vorgelegten Argumentation vgl. Köbele, Registerwechsel (2017), S.-168 mit Anm.-4. 359 Dazu am Beispiel der Trojaromane Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg Kellner, Poetologie im Spannungsfeld (2006), S. 231-262. - Kritisch diskutiert wird Worstbrocks Konzeptua‐ lisierung des ›Wiedererzählen‹-Begriffs von Klein, Zwischen Abhängigkeit und Autonomie (2008), S.-15-39; Schmid, Erfinden und Wiedererzählen (2008), S.-41-55. mittelalterlich-volkssprachigen Erzählens perspektivieren und an Überlegungen zu einer historisch verstandenen Narratologie rückbinden. 1.4.2 Interferenzen: Poetische Muster und narrative Strukturen Konzepte zur Historisierung eines literarischen Formverständnisses und dessen Semantik basieren in der Regel auf der Annahme diskursiver, kultureller und intertextueller Bezugs‐ felder, die entscheidende Kriterien für die poetische Faktur des jeweiligen Textes liefern und so an der Etablierung der Bedeutungskonstitution mitarbeiten. 353 ›Literarische Form‹ als »Inbegriff des gestaltenden Umgangs mit dem sprachlichen und/ oder thematischen Material von Texten und Kunstwerken« 354 steht damit im Dienste einer »grundsätzlich kommunikative[n] Dimensionierung«, 355 ist aber zugleich ambivalent besetzt. Der latei‐ nische Form-Begriff (forma) zielt in seiner Grundbedeutung ›Gestalt‹ auf das wahrnehm‐ bare ›Gepräge‹, in dem sich das innere Wesen und der eigentümliche Charakter des Abzubildenden spiegelt. In historischer Perspektive und mit Fokus auf mittelalterliche Textualität changiert ›Form‹ als artifizieller Zugriff auf eine vorgängige Materie zwischen den Kategorien einer ›äußeren‹ Beschaffenheit und ›inneren‹ Substanz des literarischen Produkts. 356 Das spezifisch volkssprachige Prinzip des Wiedererzählens, die »fundamentale allge‐ meinste Kategorie mittelalterlicher Erzählpoetik«, 357 impliziert nur scheinbar stabile Re‐ lationen der ihr essentiellen Kategorien materia, forma, artificium. Denn sie sind nur vordergründig einem »starre[n] mechanistische[n] Modell« 358 verpflichtet. Jenseits einer Reduktion auf ein statisches, rhetorisch-formalistisches Muster vermag die triadische Struktur, gerade weil ihre Komponenten in einem diffizilen Bezugsnetz miteinander interagieren, die zwischen Tradition und Novation schillernden Prozesse der variierenden Aktualisierung von Bekanntem analytisch beschreibbar zu machen. 359 Denn die produktive Anverwandlung der tradierten und zeitgenössisch praktizierten Organisationsformen dichterischen Zugriffs auf vorgängige Erzählkomplexe bzw. Stoffe generiert grundsätz‐ lich differente Spielarten sprachlich-formaler Ausdrucksmöglichkeiten, innerhalb derer 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 67 <?page no="68"?> 360 Zur »statisch-technische[n] […] Dichotomie von Materia und Artificium« kritisch Lieb, Die Potenz des Stoffes (2005), S. 357. Entsprechend ist das Konzept verstanden bei Schmid, Erfinden und Wiedererzählen (2008), S.-45. 361 Vgl. die Beiträge in Wernli / Kling (Hg.), Das Verhältnis von res und verba (2018). 362 Zu diesem Problemfeld in der antiken Rhetorik Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik (1960), S.-248f.; 519 f. Siehe auch Kap.-1.3.1. 363 Bezner, Zwischen ›Sinnlosigkeit‹ und ›Sinnhaftigkeit‹ (2005), S.-207. 364 Bezner, Zwischen ›Sinnlosigkeit‹ und ›Sinnhaftigkeit‹ (2005), S.-216. 365 Bezner, Zwischen ›Sinnlosigkeit‹ und ›Sinnhaftigkeit‹ (2005), S. 224. »Dies indes impliziert auch: so sehr Amplifikationen (gerade in volkssprachigen) erzählenden Texten des Mittelalters den Fortgang des Erzählens brechen, aufhalten, aufheben mögen, um dadurch Raum für die Inszenierung von Autorrollen oder für kommunikative Interaktion zu schaffen, eben diese Ebene geht über den Horizont der ›Ars versificatoria‹ hinaus.« (Ebd, S.-215). 366 Vgl. Kiening, Freiräume (1992), S.-405-449. 367 Hasebrink, Ambivalenz des Erneuerns (2009), S.-206. 368 Zu diesem Aspekt des poetischen Möglichkeitssinns vgl. Gollwitzer-Oh, materia und artificium (2012), S.-169-193. 369 Köbele, Registerwechsel (2017), S.-168 mit Anm.-4. 370 Hasebrink, Ambivalenz des Erneuerns (2009), S.-207. 371 Köbele, Registerwechsel (2017), S.-167f. Form-Inhalts-Konzepte dynamisch skalierbare Größen bilden. Dabei verdeckt die mit einem oppositären Denkmodell implizierte Abkoppelung der Form vom Inhalt im Sinne antagonistischer, statischer Begriffspaare 360 das produktive Potential, das sich aus dem Zusammenspiel von res und verba ergibt. 361 Dieses wird schon in der antiken Rhetorik im Rahmen der dispositio des zu verhandelnden Themas situiert, wonach die Anordnung der ›internen‹ Faktoren (res) erst in der ›externen‹ Formqualität der verba, gemäß der Kategorie des aptum, ihren Sinngehalt gewinnt. 362 Insofern eignet den poetischen Bearbeitungsmodi, etwa des Kürzens oder Ausweitens, ein Stellenwert als »eigentliche[r] Quell-Raum des Sinnes selbst«. 363 Ihre Indienstnahme im Hinblick auf eine je neu zu formende materia kann also allein deshalb keine ausschließlich ›technisch-mechanistische‹ sein, weil die in den Artes poetriae kodifizierten Verfahren keine absolut zu veranschlagenden rhetori‐ schen Normen repräsentieren. Es handelt sich um unterschiedliche, die komplementäre Anwendung keineswegs ausschließende Möglichkeiten, sondern geradezu um »Korrek‐ turverfahren« 364 im Dienst an einer vorgängigen materia, um neue »Sinn-Räume« 365 zu etablieren. Dieser grundsätzliche ›Freiraum‹ des Erzählens 366 verweist auf einen poetischen Überschuss, dessen Potential jenseits der »konkrete[n] Repräsentation der überlieferten Erzählungen« 367 liegt. Die vergegenwärtigende Aktualisierung im Modus der tractatio materiae lässt damit Momente der Transgression beobachtbar werden: 368 ein dynamisches Oszillieren zwischen Systembezug und Entgrenzung. Der »Doppelaspekt von Reproduk‐ tion und Auslegung« 369 wird im »›Entbergen‹ latenter Möglichkeiten« 370 mit den Mitteln poetischer Artifizialität manifest und indiziert ein (gerade nicht dichotomisch verstan‐ denes) Spannungsverhältnis zwischen Identität und Differenz: [W]eder in der religiösen noch höfischen Erzählpraxis [trifft] die strikte Alternative von stabiler materia einerseits, variablem artificium anderseits zu. Denn Sinn liegt den Wiedererzählern vor, und Sinn stellen sie mit ihrer interpretatio poetica zugleich selbst her. 371 68 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="69"?> 372 Kiening, Freiräume (1992), S.-445. 373 Zur Verschränkung unterschiedlicher Parameter im Prozess des Wiedererzählens vgl. Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007), bes. S.-219-292. 374 Zum »generelle[n] und neutrale[n] Begriff der Retextualisierung, der die verschiedenen Ebenen und Aspekte vormoderner ›Arbeit am Text‹ als eine Interaktion von Prä- und Re-Text faßt« Bumke / Peters (Hg.), Einleitung (2005), S. 2. - Das Bemühen der jüngeren Forschung um alterna‐ tive Begrifflichkeiten im Sinne einer terminologischen Schärfung des Konzepts ›Wiedererzählen‹ erscheint als symptomatisch für die historische Spezifik des Phänomens: Die unterschiedlichen von der Forschung vorgeschlagenen Konzepte (Wiedererzählen, Retextualisierung, rewriting u. a.) dokumentieren, dass gerade die Verengung auf ein einziges theoretisches Modell der phänomenolo‐ gischen Diversität volkssprachigen Erzählens im Mittelalter kaum gerecht wird. Vgl. Zacke / Glasner, Text und Textur (2020), S. 3-44; Dimpel, Freiräume des Anderserzählens (2015). - Zum rewriting Kelly, The Conspiracy of Allusion (1999). - Mit Bezug auf den deutschsprachigen Artusroman Dietl / Schanze / Wolfzettel (Hg.), Réécriture und Rezeption (2019). 375 Dazu Kap.-1.3. 376 Hübner, Historische Narratologie (2015), S.-29. 377 Ebd. 378 Hübner, evidentia (2010), S.-123. Der literarische Zugriff auf vorgängige Stoffe zeichnet sich also durch die Möglichkeit aus, »Sinnhorizonte […] zu setzen und zu entfalten«. 372 Weil die formale Modellierung auf traditionelle Denkmuster und Bildungshorizonte rekurriert, die zugleich gemäß der jeweils fokussierten Deutungsdimension transformiert werden können, tangiert sie immer auch die Sinnproduktion von Texten. Das abbreviierende Verfahren erscheint damit (neben anderen) als e i n e Möglichkeit der Aktualisierung kulturellen Wissens im vielschichtigen Prozess des Wiedererzählens. 373 Im Hinblick auf Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen konstituiert es eine schriftliterarisch grundierte Form der Retextualisierung, deren histori‐ sche Spezifik in der Wiederholung desselben sprachlich-stilistischen ›Codes‹ liegt, während gleichzeitig die Modifikationen auf der makrobzw. mikrostrukturellen Ebene differieren können. 374 Dass Kürzung als Verfahrenskategorie im Rahmen der Textproduktion ein evidentes Formkalkül inhärent ist, dokumentiert ihre Konzeptualisierung in der rhetorisch-poeti‐ schen Reflexion. 375 In ihrem ursprünglichen Kontext innerhalb der Gerichtsrede fungiert die ›Erzählung des Tathergangs‹, die eigentliche narratio, als »Verfahrensweise[ ] urteilslenkender Textstrukturierung« 376 mit einer eindeutig parteiischen bzw. interessenbezogenen Intention. Ziel ist dabei, mittels des argumentativen Erfolgs »die Bewertung dargestellten Handelns zu steuern«. 377 Als rhetorischer Systembegriff dient die brevitas dem Effekt der Steigerung (etwa durch Weglassen prekärer Details), aber auch umgekehrt der Herabset‐ zung bzw. Minderung einer Handlung oder Person und fokussiert damit je kontextbezo‐ gene Bewertungsrelationen des ›Erzählten‹. Die Transformation der Kategorie in den mittellateinischen Poetiken zu einem nunmehr schriftliterarischen, primär ›dichterischen‹ Konzept setzt das historische Wissen um die Wirkprinzipien der abbreviatio im Sinne einer »Form-Funktions-Korrelation« voraus. 378 Damit ist eine narrative Vermittlungspraktik im Rahmen poetischen Gestaltens etabliert, deren in der rhetorisch-poetischen Tradition als kultureller Wissensordnung grundgelegtes Potential einer spezifischen Sinnzuweisung auf je unterschiedliche Weise aktualisiert oder auch neu adaptiert werden kann, ohne dabei a priori auf ein ›mechanistisches‹ Verfahren reduziert zu sein. Dass sich die volkssprachige 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 69 <?page no="70"?> 379 Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S.-1-30; Bumke / Peters, Einleitung (2005), bes. S. 4f.; Linden, Exkurse (2018). 380 Schneider, Narrationis contextus (2013), S.-185. 381 Ebd. 382 Am Beispiel des Eneasromans Heinrichs von Veldeke Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007), S.-262-292. Zu situativen Logiken redaktioneller Kürzung siehe Kap.-3.1.2. 383 Hübner, evidentia (2010), S.-140. 384 Hübner, Historische Narratologie (2015), S.-28. 385 Hübner, Historische Narratologie (2015), S.-17. 386 Ebd. »Die am historischen Material beobachtbaren Verfahrensweise der Textbearbeitung sollten […] überall dort, wo das möglich ist, die Basis für die Identifikation von Erzählformen sein.« Hübner, evidentia (2010), S. 140. - Zur kontroversen Diskussion über die Anwendbarkeit der in der ›modernen‹ bzw. ›klassischen‹ Narratologie entwickelten Kategorien auf historische, v. a. mittelalterliche Texte in der Volkssprache vgl. mit weiterführender Literatur Haferland / Meyer (Hg.), Historische Narratologie (2010); Bleumer, Historische Narratologie (2015), S. 213-274; von Contzen / Tilg (Hg.), Handbuch historische Narratologie (2019). Dichtungspraxis dieser Technik - ebenso wie ihres Korrelats, der dilatatio  379 - so ausgiebig bedient, ist ein Beleg für den Status der Artes poetriae, die prinzipiell nur »e i n e theoretische Norm« 380 dichterischen ›Erzählens‹ im Mittelalter repräsentieren, als eines zentralen Referenzhorizonts auch für deutschsprachige Autoren um 1200. Zumal die »an den Schulen gelehrten Möglichkeiten und Fähigkeiten […] von vornherein als sprachenunabhängige verstanden« worden sind. 381 Literarische Kürzung (abbreviatio) bezieht also ihre Wirkprinzipien aus einer historisch spezifischen kulturellen Wissensordnung, innerhalb derer mittelalterliches Dichten sich grundlegend durch eine explizit rhetorische Basis konstituiert. Als ›Erzählmodus‹ rückt sie durch ihre Indienstnahme für die narrative Modellierung vorgängiger Texte und Stoffe in den Blick bzw. - in resultativer Tendenz - durch den Effekt der sich im Modus der Kürzung potentiell verschiebenden Sinnstrukturen. Dabei repräsentiert sie keine ›textglobale‹ bzw. absolute Kategorie (etwa in Opposition zur dilatatio), sondern kann je punktuell zur Freisetzung alternativer Bedeutungsnuancen realisiert werden. 382 Zusammen mit anderen Elementen der rhetorisch grundierten Abbreviationspoetik ergeben sich so »historische Optionen auf der Ebene der narrativen Vermittlungsformen«, 383 die als Bestandteil eines »kulturellen Praxiswissens« gelten können. 384 Diese Annahme macht die abbreviatio als Element einer historischen Narratologie interpretierbar, deren heuristisches Programm, so Gert Hübner, sich an »vormodernen narrativen Praktiken« 385 als Formationen kollektiver Verstehensordnungen orientiert und deren Geltungsanspruch wissenshistorisch begründet ist. Eine mittelalterlichem und frühneuzeitlichem Material angemessene historische Narratologie könnte meines Erachten gegenwärtig am ehesten als eine wissenshistorische auf eine praxeologi‐ schen Grundlage konzipiert werden. 386 Um das Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen literarischer Kürzung für den hier angezielten Bereich der mittelhochdeutschen Epik zu erfassen, werden drei Aspekte vorgeschlagen, die für den dynamischen Umgang mit den rhetorisch-poetischen Wissens‐ ordnungen in jeweils unterschiedlichen, einander ergänzenden, aber auch überlagernden Konstellationen eine profilbildende Exemplarik besitzen. Sie führen Überlegungen zur 70 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="71"?> 387 Die Untersuchungsergebnisse zusammenfassend Kap.-3.2. 388 Einschlägig Kablitz, Kunst des Möglichen (2013), bes. S. 149-165. - In historischer Perspektive Schneider, Logiken des Erzählens (2021), bes. S. 112-188; in Bezug auf die mittelalterliche Lyrik Köbele u. a. (Hg.), Lyrische Kohärenz (2019). 389 Exemplarisch mit weiterführender Literatur Schneider, Handlung und Handlungslogik (2019), S. 249- 261; zur Verbindung der Begriffspaare ›Metapher‹ und ›Metonymie‹ sowie ›Syntagma‹ und ›Para‐ digma‹ Haferland / Schulz, Metonymisches Erzählen (1997), S. 3-43. Vgl. ferner Haferland / Meyer (Hg.), Historische Narratologie (2010), darin bes. Kragl, Sind narrative Schemata ›sinnlose‹ Struk‐ turen, S. 307-338; Schulz, Fremde Kohärenz, S. 339-360; Störmer-Caysa, Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung, S. 361-384. - Zur widersprüchlichen Figurengestaltung in mittelalterlichen Texten Lienert (Hg.), Widersprüchliche Figuren in vormoderner Erzählliteratur (2020); Lienert, wildekeit und Widerspruch (2018), S. 323-241. - Zum Alteritätsparadigma Braun (Hg.), Wie anders war das Mittelalter? (2013); Becker / Mohr (Hg.), Alterität als Leitkonzept (2012). 390 Schneider, Narrationis contextus (2013), S. 157f. Der Ansatz ist ausgearbeitet in Schneider, Logiken des Erzählens (2021). 391 Lieb, Die Potenz des Stoffes (2005), S.-362. konkreten ›Faktur‹ der Kürzung, deren alternative Sinnstiftung sich erst in einer relatio‐ nalen Perspektive auf den Prätext ergibt, sowie zur Rezeption der Kurzfassung als eines eigenständigen Textes zusammen, um die gattungsimmanenten Spezifika des Kürzer-Er‐ zählens in der Volkssprache zu konturieren. Ziel ist es, ein gemeinsames Merkmalspektrum herauszuarbeiten, das sich aus der vergleichenden Konstellation der unterschiedlichen Kurzredaktionen herauskristallisiert und eine vom Einzeltext abstrahierte ›Poetik der Kürzung‹ sichtbar werden lässt. 387 1.4.2.1 Syntagma und Paradigma: Kürzung und Erweiterung Welche Kohärenzkonzepte lassen sich an das volkssprachige mittelalterliche Erzählen anlegen? 388 Welche speziell an die kürzende Umarbeitung vorliegenden Materials? Dass vormoderne Texte aufgrund evidenter narrativer ›Leerstellen‹ und ›Brüche‹ gegenüber modernen Erwartungen an eine widerspruchsfreie Erzähllogik Irritationsmomente bieten, gehört zu den in der Forschung vieldiskutierten literarhistorischen Grundtatsachen. 389 Allein der Rekurs auf eine mit diachronen Korrelationen operierende Alteritätsherme‐ neutik droht die genuinen wissenshistorischen Spezifika kultureller Sinnbildungsmuster auszublenden: [Das] Problem eines Zugangs zu ›altem‹ Erzählen über diachrone Alteritätsphänomene besteht darin, in den mittelalterlichen Texten nur das in den Blick zu bekommen, was neuzeitlichen Kohärenzerwartungen - wie auch immer sie zu bestimmen wären - n i c h t folgt und darüber aus dem Blick zu verlieren, wo die narrative Logik vormoderner Erzählungen nicht durch ihre Alterität gegenüber neuzeitlichen Erzählverfahren, sondern durch Kontinuität und Identität ausgewiesen ist. 390 Bestandteil solcher Wissensordnungen sind die Techniken der Kürzung und Erweiterung, nicht im Sinne eines Modells von »attraktive[r] dichotomische[r] Schlichtheit«, 391 sondern im Sinne komplexer Interferenzphänomene. Die Verfahren der abbreviatio und amplificatio lassen sich insofern nicht als antagonistische Kategorien denken, die je separiert von anderen Modi der Textbearbeitung zum Zuge kämen; sie erzeugen in ihrer gegensei‐ 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 71 <?page no="72"?> 392 Unter medialen Aspekten Kiening, Fülle und Mangel (2016). - Mit Bezug auf den zwischen ›Fülle und Mangel‹ oszillierenden Charakter mittelhochdeutscher Verserzählungen Schallenberg, Fülle im Übermaß? (2021), S. 355-362. - Zur Frage nach historischen Form-Semantiken der Kürzung bzw. Kürze vgl. Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S. 85-123; Holznagel, ›Fülle‹ in kleineren mittelhochdeutschen Reimpaardichtungen (2021), S.-109-124. 393 Zur rhetorischen Funktion der brevitas vgl. Schwitter, Das ›versefüllende Asyndeton‹ (2021), S. 125- 161; zur narrativen Sinnkonstitution durch abbreviatio und Resümierung Kropik, Kürzung und Zusammenfassung (2021), S. 377-405; zum Zusammenfall formaler und quantitativer Phänomene bei Herbort von Fritzlar Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-183-211. 394 Vgl. die exemplarischen Befunde in Frick, abbreviatio (2018), bes. S.-37-45. 395 Grundsätzlich Warning, Erzählen im Paradigma (2001), S. 176-209; Warning, Wiederholungsstruk‐ turen (2015), S.-11-33. - Aus germanistischer Perspektive Schulz, Erzähltheorie (2012), S.-322-348. 396 Köbele, Einleitung (2018), S.-12. 397 Vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), S.-353-378. 398 Frick, abbreviatio (2018), S. 44. - Auf der Grundlage des Liet von Troye Herborts von Fritzlar siehe Kap.-2.1.2. 399 Koschorke, Wahrheit und Erfindung (2012), S.-28. 400 Vgl. die differenzierte Forschungsdiskussion bei Schneider, Handlung und Handlungslogik (2019), S.-249-261. 401 Terminus nach Stock, Vielfache Erinnerung (2000), S.-407. tigen Interdependenz paradoxe ›Kippfiguren‹, die fallbezogen ambivalente Implikationen ausbilden können. 392 Als Grundkonstanten der literarischen Produktion werden sie auf unterschiedlichen Ebenen wirksam: in der rhetorischen Formgebung wie der narrativen Gestaltung eines Textes. 393 Dabei eignet ›Lücken‹ bzw. Auslassungen unterschiedlichster Art ein produktives Potential, das sich anhand impliziter Kohärenzlogiken abzeichnet: Indem kürzende Eingriffe in die syntagmatische Abfolge der Erzählung die paradigmatische Sinnkonstitution stören, evozieren sie je punktuell explizierend-amplifizierende Einschübe, um die im Vorgang des abbreviare entstandenen Motivationsdefizite auszugleichen. 394 Die dadurch paradoxerweise mitunter generierten Wiederholungsstrukturen und Redun‐ danzen können geradezu zur Intensivierung paradigmatischer Kohärenz funktionalisiert sein, 395 sodass die Modalität der Kürzung mit dem scheinbar konträren Modell der Voll‐ ständigkeitssuche partiell Hand in Hand geht. Dass Texte sich bekanntlich »nicht immer an das halten, was sie programmatisch zu tun vorgeben«, 396 zeigt sich auch anhand der in Erzählerkommentaren vielfach anzutreffenden (Selbst-)Verpflichtung auf das Stilideal der Kürze, sog. Kürze-Topoi, 397 deren Kalkül, indem es die Kürzung selbst unterläuft, jeweils Momente alternativer Sinnentfaltung eröffnen und eine Spannung hinsichtlich »der Selektion und Variation tradierter Erzählmuster und -motive« 398 prozessieren lassen kann. So betrachtet repräsentieren Kürzung und Erweiterung dynamische Phänomene textu‐ eller Strukturierung, die freilich kaum je im Hinblick auf das Werkganze in ein systemati‐ sches Verhältnis einer präsupponierten ›Intentionalität‹ zu bringen sein dürften, sondern die ihre »Formungsenergie« 399 vielmehr ausgehend von Einzelstellen entfalten. Vor dem Hintergrund der für vernakuläres Erzählen gattungsübergreifend beobachteten Tendenz zur kleinteiligen narrativen Modellierung, 400 die mit »partikulare[n] Bindung[en]« arbeitet und nicht primär auf die kausallogische Stringenz der Gesamtkomposition ausgerichtet ist, 401 lassen sich anhand einer Analyse der grundsätzlichen Interdependenz von Kürzung und Erweiterung präzise Rückschlüsse auf die erzähllogische Verknüpfung des jeweiligen Textes gewinnen. Sowohl reduktionsbedingte ›Latenzen‹ als auch amplifikatorische ›Kom‐ 72 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="73"?> 402 Vgl. Schneider, Logiken des Erzählens (2021), bes. S.-26-33; 75-111. 403 Schneider, Handlung und Handlungslogik (2019), S.-257. 404 Schneider, Handlung und Handlungslogik (2019), S.-258. 405 Schneider, Handlung und Handlungslogik (2019), S.-256. 406 Zu den Spezifika des ›Epischen‹ für die frühe volkssprachige Literatur vgl. J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017). 407 Zum Faktor ›Zeit‹ bei der Verfertigung von Kurzfassungen längerer Prätexte siehe Kap.-3.1. 408 Dazu am Beispiel der Parzival-Überlieferung Stolz, Parzival im Manuskript (2020); Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-345-375. 409 Frick, Literarische Kürzung (2021), S.-10. 410 Zu den »kognitiven Rahmenbedingungen, die für die Textrezeption galten«, vgl. Schneider, Hand‐ lung und Handlungslogik (2019), S.-257. pensationsphänomene‹ deuten auf punktuelle Bruchstellen motivationaler Kausalitäten, die in einer Gesamtschau Antworten auf die Frage nach den Vorstellungen partikular or‐ ganisierter Kohärenzformate vormoderner Textualität geben können. 402 Während nämlich germanistisch-mediävistische Konzeptionen eines spezifisch historischen Kohärenzverständnisses in der Regel davon ausgehen, dass gewisse erzählsystematische Prinzipien »auf das Ganze des Textes berechnet war[en] und von den Rezipienten auch in dieser Ganzheit wahrgenommen werden konnte[n]«, 403 erscheinen Kohärenzstrukturen volks‐ sprachiger Erzählliteratur des Mittelalters demgegenüber von grundsätzlich »mittlerer Reichweite, die von verschiedenen Gravitationszentren aus regiert werden«. 404 Deshalb plädiert die Forschung für eine umgekehrte Konzeptualisierung historischer Kohärenz als ›Bottom-Up‹-Phänomen, d. h. die Entwicklung der Frage »von der Partikularität mittelal‐ terlichen Erzählens und ihren Bedingungen her«. 405 Eine solche Perspektive bietet die Chance zu einer weitergehenden historischen Differenzierung der Begriffe von Kohärenz und Kompletion des ›epischen‹ Erzählens. 406 1.4.2.2 Temporalisierung: Kürzung, Kürze und Zeit(-regie) Hinsichtlich der komplexen Beziehungsrelation von abbreviatio, brevitas und ›Zeit‹ ist auf unterschiedlichen Ebenen eine ambivalente Dynamik zu beobachten. Der temporale Aspekt wird einerseits im Rahmen der Textproduktion bedeutsam: Eine verdichtende Re‐ textualisierung des vorliegenden Materials erfordert, weil sie sich wohl kaum je als ein rein ›mechanisch‹ erfolgendes Verfahren realisiert, in der Regel ein gewisses Maß an zeitlichem Aufwand, um den infolge der Kürzung an den jeweiligen Stellen entstandenen ›lücken‐ haften‹ Erzählfluss z. B. durch das Einfügen von Übergangsversen zu koordinieren. 407 Dabei können auch andere Faktoren eine Rolle spielen, etwa Zeitdruck bei der Verfertigung oder ökonomische Erwägungen im Umgang mit dem eventuell knappen Beschreibmaterial. 408 Andererseits erweist sich die Lektüre einer Kurzfassung »aufgrund ihres effektiv gerin‐ geren Umfangs vordergründig als ›schneller‹, das heißt in temporaler Hinsicht: kürzer als die des umfangreicheren Originals.« 409 Zugleich werden die Lektüreprozesse durch den Aspekt der Performativität nach zwei Seiten hin temporalisiert, 410 sodass die Kategorien Textlänge und Rezeptionsdauer in ein reziprokes Verhältnis treten: 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 73 <?page no="74"?> 411 Zumthor, Brevity as form (2016 [1983]), S.-75f. 412 Ich danke Marc-Aeilko Aris (München) für diese Anregung. 413 Zu dieser ambivalenten Tendenz Jäger, Die Kürzemaxime (2014), bes. S. 31. - Am Beispiel der Umsetzung von Versromanen in Prosa Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S.-67-83. 414 Vgl. Baisch, Fassungenbildung (2021), S.-321-343. 415 Am Beispiel der Nibelungenklage *J verhandelt in Kap. 2.2. - Erzählte Ordnung als »komplexe[n] Interpretationsgegenstand« reflektieren Fuhrmann / Selmayr, Ordnen, Wissen, Verstehen (2021), S.-1-33, Zitat S.-7. 416 Siehe Kap. 3.1. Vgl. auch Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik (1960), S.-346-353. 417 Zum Erzähltempo in historisch-narratologischer Perspektive Reichlin, Zeit - Mittelalter (2019), S. 186f. Am Beispiel neulateinischer Techniken der Epitomisierung Grütter, Johann Spangenbers Epitome (2021), S.-281-318. 418 Siehe dazu weiter unten, Kap.-3.1.2. 419 Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-429. 420 Schneider, Handlung und Handlungslogik (2021), S.-257. In the reality of reading, and even more so of listening, the factors of length and duration tend at times even to reciprocally neutralize one another […] [T]he pronounced brevity of a poem […] neutralizes the effects of its duration. 411 So ergeben sich komplexe Verschränkungen unterschiedlicher Zeit-Ebenen, deren Zusam‐ menspiel je nach dem historischen Kontext unterschiedlichen Normen und kulturellen Bedingtheiten unterliegt - ein Phänomen, das die Formel »Länge des Textes - Länge der Lektüren« konzis auf den Punkt bringt. 412 Diese produktions- und rezeptionsorientierten Dimensionen im Spannungsfeld zwi‐ schen ›gefühlter‹ Länge und Kürze 413 bleiben nicht ohne Rückwirkungen auf die Narration selbst. Eingriffe in die Makrostruktur eines Textes, z. B. Kürzungen handlungstragender Elemente oder auch der Wegfall von descriptiones, Mono- und Dialogen, bedingen ten‐ dentielle Verschiebungen der narrativen Zeitstrukturen, die sich in einer veränderten Handlungslogik oder modifizierten Figurenkonzeption äußern können 414 - bei umfangrei‐ chen Eingriffen in den ordo narrandi mit zum Teil gravierenden Konsequenzen auf die Komposition der gesamten Erzählordnung. 415 Von der im engeren Sinne formalen Ebene aus betrachtet, wird die jeweilige Differenzqualität gegenüber dem vorgängigen Bezugs‐ horizont aber erst durch eine spezifische poetische Faktur, z. B. die semantisch-syntaktische oder lexikalische Verdichtung auf der Ebene der Wort- und Sinnfiguren, 416 sprachlich produziert. So kann das mit dem abbreviierenden Zugriff auf das Vorlagenmaterial korre‐ lierende formal-stilistische Prinzip der Kürze (brevitas) einem erhöhten Tempo (velocitas) der Narration zuarbeiten. 417 Schon Quintilian hat diese beiden rhetorischen Kategorien in ein Bedingungsverhältnis gebracht, das die velocitas in Bezug auf den für Sallust cha‐ rakteristischen Stil, die Sallustiana brevitas, als ›Geschwindigkeit‹ im narrativen Progress auszeichnet (Inst. or. 4,2,45). 418 Im Gegensatz etwa zu ›retardierenden‹ Momenten durch Exkurse stellt sich als sinnstiftender Effekt der Kürzung eine Akzelerierung des Erzählens ein, mit der sich abbreviatio als »narratives Verfahren fassen [lässt], das an der Zeit ansetzt, das eine Dynamisierung und Beschleunigung der Handlungsabläufe bewirkt«. 419 Im Rekurs auf ein Gattungswissen der Rezipienten, das entsprechende »literarische Vorerwartungen (z. B. gattungs- oder werkspezifischer Art)« 420 beinhaltet haben dürfte, können sich infolge 74 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="75"?> 421 Mit Bezug auf volkssprachige Erzählpoetik Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S. 85-123; Kropik, Kürzung und Zusammenfassung (2021), S. 377-405. - Mit einem Fokus auf der lateinischen Tradition Reitz, Homer in Kürze (2021), S.-45-65; Reitz, Verkürzen und Erweitern (2007), S.-334-351. 422 Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-429. 423 Dazu Reitz, Das Unendliche beginnen (2017), S.-105-118. 424 Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-429. 425 Vgl. Mülke, Die Epitome - das bessere Original? (2010), S.-74f. 426 Vgl. Linden, Exkurse (2017). 427 Siehe Kap.-1.3. 428 Mit Bezug auf Diskursinterferenzen bei Herbort von Fritzlar neu perspektiviert von Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-183-211. der Abbreviierung markante Verschiebungen hinsichtlich der temporalen Erzählordnung und -semantik ergeben. 421 Indem die Technik der abbreviatio sich mit den rhetorischen Kategorien der brevitas und velocitas verbindet, lässt sie sich als Element einer historischen Erzählpoetik beschreiben: als Möglichkeit, »die narrative Vermittlung als spezifische Leistung auszuweisen, die ein ästhetisches Werturteil erhalten kann«. 422 Gerade durch die scheinbar gegenläufige Ten‐ denz zu Wiederholungsfiguren, z. B. im Rahmen inserierter Kataloge oder asyndetischer Reihungen, 423 kann sich der mit der abbreviatio erzielte Effekt narrativer Beschleunigung als »kalkuliert eingesetztes Verfahren« 424 erweisen, das die Zeitregie einer Erzählung im Kern betrifft, um dem ›neuen‹ Text ein Distinktionsmerkmal gegenüber dem ›alten‹ zu verschaffen. 425 abbreviatio als spezifische Form rhetorisch-poetischer Strukturierungs- und Ordnungsmuster von erzählter Zeitlichkeit repräsentiert damit ein elementares Instrument von sinngenerierendem Potential innerhalb des literarischen Kontinuums, durch das sich mittelalterliche Texte grundlegend konstituieren. 1.4.2.3 Begründungsmaximen: Quantitative und qualitative Relationen Wie lässt sich Phänomenen literarischer Kürzung historisch adäquat in der hermeneuti‐ schen Interpretation begegnen? Wie lassen sie sich analytisch erfassen, ohne an modernen Propositionen orientierte Wertungskriterien zu reproduzieren? Im Gegensatz zum Modus der dilatatio, des proliferierenden ›Mehr-Sagens‹ in Form von descriptio-basierten oder exkursorischen Elementen, über die sich nicht selten explizite Angaben zu ihrer narrativen Funktionalisierung im jeweiligen Kontext erschließen, 426 besteht die Aufgabe hinsichtlich der abbreviatio darin, für das ›Weniger-Sagen‹ historisch validierbare Kriterien zu entwi‐ ckeln, anhand derer sich die durch Leerstellen und Lücken zutage tretenden Momente der Kürzung in ihrer inhaltlich-semantischen Tragweite profilieren lassen. Denn das Verfahren der abbreviatio erscheint im historischen Kontext nicht etwa als Mittel zum Abbau von ›erzählerisch‹ Überflüssigem, sondern - im Sinne der antiken Rhetorik - durchaus als Instrument zur Etablierung und Akzentuierung subtiler Deutungsnuancen. 427 Zumal formale Modellierung durch Kürzung in der Regel nicht zufällig entsteht, sondern Ergebnis diffiziler Strukturierungsprozesse ist, die, wenn auch nur punktuell eingesetzt, immer auch die Sinnproduktion von Texten tangieren und insofern literarische Diskurse abbilden können. 428 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 75 <?page no="76"?> 429 Zumthor, Brevity as form (2016 [1983]), S.-74. 430 Zur Verknappung als Grundmuster kognitiver Schemabildung vgl. Koschorke, Wahrheit und Erfin‐ dung (2012), S.-29-37. 431 Dazu auch Hübner, Historische Narratologie (2015), S.-29. 432 Zum mittelalterlichen Konzept des verisimile vgl. Schneider, Handlung und Handlungslogik (2019), bes. S. 249-254; Schneider, Logiken des Erzählens (2021), bes. S. 189-258. - Mit Bezug auf die ordines narrandi Fromm, Die mittelalterlichen Eneasromane (1996), S.-27-39. 433 Zur »Aktualisierung der Potentiale rhetorischer Lehrtradition« im höfischen Roman vgl. Hübner, evidentia (2010), S.-146. 434 Das mittelalterliche Erzählen in der Volkssprache bietet als »Befund eine[ ] Tendenz zur kleinen Einheit […]: ein Erzählen, das nicht an Ganzheit, sondern an partikularen Bindungen und Teilstruk‐ turen unterschiedlicher Reichweite ausgerichtet ist […].« Schneider, Logiken des Erzählens (2021), S.-192. Siehe dazu oben, S.-72f. sowie Kap.-1.4.2.1. 435 Zur rhetorischen Funktionsbestimmung des Begriffs siehe Hübner, evidentia (2010), S.-119-147. [B]revity is never random but constitutes a structuring model. This is doubtless why Latin rhetoric had recourse to the term brevitas (sermo brevis, ›brief discourse‹) to designate not a model per se, but a virtus (capacity or virtue), a modality, and (in the scholastic sense) a qualitas (quality or property) of formal structure. 429 Kürzungen gattungsimmanent konstitutiver Aspekte (etwa descriptiones als ›Träger‹ höfi‐ scher Identifikationsmodelle) können auf ein Gattungswissen der Rezipienten abgestellt sein und als Reaktionen auf bestimmte Erzählhaltungen oder -verfahren charakteristische, in Einzelszenen sich realisierende Grundmuster epischen Erzählens zur Disposition stellen bzw. davon differierende Optionen entwerfen. 430 Literarische Kürzung dient analog zur amplificatio, nimmt man die Grundlegung im brevitas-Prinzip der antiken Rhetorik ernst, innerhalb der narratio zur Steuerung der Bewertung eines ›erzählten‹ Sachverhalts mit dem Ziel urteilslenkender Wirksamkeit. 431 Ihre Funktionsbestimmung zielt auf eine parteibezogene Plausibilisierung des verhandelten Sachverhalts. Diese Dimension als Referenzgröße für eine ›glaubhafte‹, d. h. am Wahr‐ scheinlichkeitswissen der Rezipienten ausgerichtete Darstellung, liegt auch der Konzep‐ tualisierung dichterischer Praktiken in den mittellateinischen Poetiken zugrunde. 432 Das rhetorisch-poetische Prinzip einer urteilslenkenden Disposition der Handlung ist bei einer Sondierung der Kürzungsoperationen in volkssprachigen Texten stets mitzubedenken, kommt ihm doch als kultureller Episteme eine grundsätzlich sprachenunabhängige Rele‐ vanz zu, die sich in den Texten auf je unterschiedliche Weise aktualisiert. 433 In diesem Sinne können kürzende Eingriffe, die z. B. die Figurenbeschreibung, Dialogführung oder Handlungskonstellationen betreffen, Rückschlüsse darauf bieten, welche kausallogische Verknüpfung an der jeweiligen Stelle favorisiert, welche Sinnoption infolge der Reduktion abgewiesen oder auch alternativ fokussiert wird. Dass es sich dabei zum Teil nicht um aufeinander abgestimmte Tendenzen handelt, ist kein Grund für die Klassifizierung der Kürzung gleichsam als diffuses Phänomen, sondern erklärt sich aus den spezifischen, partikular organisierten Verfahrensweisen mittelalterlicher Literaturproduktion in der Volkssprache. 434 Punktuelle Eingriffe in die Makrobzw. Mikrostruktur eines Textes können dabei durchaus Effekte evidenzbasierter Narration verstärken, die als Grundkonstante ›szenischen Erzählens‹ eine an Einzelelementen inszenierte kausallogische Regularität exemplifiziert. 435 76 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="77"?> 436 Schneider, Handlung und Handlungslogik (2019), S. 257. Siehe zu dieser Problematik zusammenfas‐ send Kap-3.2. 437 Zum Nebeneinander von Kürzung und Erweiterung siehe Kap. 2.3. - Zu den unterschiedlich ausgeprägten Kürzungstendenzen am Beispiel verschiedener Iwein-Fassungen vgl. Krusenbaum-Ver‐ heugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-392f. 438 Schneider, Logiken des Erzählens (2021), S.-202. 439 Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S.-85-123. Betrachtet man Kürzung unter dieser wissenshistorischen Perspektive, so stoßen An‐ sätze, die mit einer einsinnigen ›Koordinierung‹ der redaktionellen (Kürzungs-)Verfahren arbeiten, rasch an Grenzen wissenschaftlichen Erkenntnispotentials. Denn die an die Texte, speziell: Kurzfassungen, angelegte Prämisse einer ›Durchkomponiertheit‹ im Hinblick auf das Werkganze entspricht offensichtlich nicht - jedenfalls in den weitaus selteneren Fällen - einem historisch validierbaren Proprium: [N]icht nur [ist] ›Ganzheit‹ keine Kategorie, sondern auch ›Geschlossenheit‹ kein absoluter Begriff […]: Die Werkintegrität kann aufgebrochen werden - sei es vom Autor selbst oder einem Bearbeiter -, und genau genommen bedeutet das, dass von ›Werkintegrität‹ als einer festen Größe gar nicht gesprochen werden kann. 436 Eine ›systematische‹ Kürzungspraxis wird sich insofern wohl kaum als dominantes Text‐ merkmal erweisen lassen, sondern als je punktuell realisiertes Verfahren, das neben und mit anderen Vermittlungsstrategien koexistiert. 437 Denkt man historisch nicht vom Werk‐ ganzen aus, wofür jüngst Christian Schneider plädiert hat, sondern von der partikularen Struktur vernakulärer Texte, erscheint die abbreviatio in ihrer Funktionsbestimmung als Modellierungsoption kausaler Modalitäten durchaus in Konkurrenz zu anderen Erzähllo‐ giken, die sich mitunter überschneiden und einander überlagern können: Selbstverständlich hatten die mittelalterlichen Autoren einen Begriff von ihren Werken als einer Ganzheit. Aber diese Ganzheit bedeutete zunächst einmal nicht mehr als einen übergreifenden Zusammenhalt der Texte im Sinne des aristotelischen Anfang-Mitte-Ende-Modells, keine durch‐ komponierte und bis ins Letzte aufeinander abgestimmte Werktotalität. 438 Insofern lassen sich mit der skizzierten Blickrichtung methodisch heikle Wertungsbilanzen kontrollieren, die quantitative Modalitäten mit »inhaltlich relevante[n], axiologisch be‐ setzte[n] Prozesse[n]« verrechnen, 439 z. B. im Hinblick auf Implikationen vom Komplexi‐ tätsabbau und Kohärenzverlust oder - in umgekehrter Richtung - von der ästhetischen Raffinesse kürzender Redaktionen. 1.4.3 Mittelhochdeutsche Epik im Zeichen der Kürzung. Zu einer Neubewertung des Forschungsfeldes Der vorliegende Ansatz schlägt neue Richtungen und Wege in Bezug auf den Umgang mit Kurzfassungen höfischer Epik ein. Jenseits einer im Forschungsdiskurs gegenwärtig zu konstatierenden Dominanz des Phänomens quantitativer Erweiterung von Texten im Zuge mittelalterlichen Wiedererzählens richtet sich der Blick auf Prozesse der Kürzung (abbreviatio) als eines nicht minder verbreiteten Prinzips, das sich als komplementäres Ele‐ 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 77 <?page no="78"?> 440 Die Ergebnisse sind zusammengefasst in Kap.-3.2. 441 Zumthor, Brevity as form (2016 [1983]), S.-75. 442 In Bezug auf den Schwank vom Schneekind als exemplarischem Texttypus, in dessen Reduktionsform sich kulturelles Wissen aktualisiert, vgl. Wachinger, Kleinstformen (1994), S. 1-37. Zum Spiel mit dem Rezipientenwissen in kürzenden Redaktionen mittelhochdeutscher Versnovellistik Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-407-431. 443 Zur Interdependenz von Textgenese und Reproduktion vgl. Eichenberger / Lutz / Putzo (Hg.), Bücher und Identitäten (2019). 444 Vgl. Schnell, Prosaauflösung (1984), S. 214-248; Häberlein, Kurzfassungen in Prosa? (2018), S. 169- 182. Siehe die Diskussion in Kap. 3.1.2.4. 445 Zur Argumentation mit der Kategorie des »erkennbaren gestaltenden Zugriffs« exemplarisch Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-357-409, hier: S.-383. ment zur descriptio-Programmatik und hinsichtlich der Textkonstitution als gleichermaßen einschlägig relevant erweist. Es dokumentiert ein literarisches Interesse an Prozeduren wie Produkten der Kürzung und lässt alternative Modelle historisch signifikanter Sinnent‐ faltung im Rahmen der Rezeption und Reproduktion vorliegender Narrative beobachtbar werden. Ziel ist es, diese in der germanistisch-mediävistischen Diskussion zwar schon vielfach zur Kenntnis genommene, jedoch nur punktuell erfasste Konstante literarischer Arbeit am Text gegenüber der im Fachdiskurs stärker präsenten Modalität der Ausweitung (dilatatio materiae) zu profilieren. Damit soll ein das dominante Forschungsparadigma ergänzendes Konzept, nämlich das einer historischen ›Poetik der Kürzung‹, freigelegt werden, um die Vielschichtigkeit der sinngenerierenden Parameter mittelalterlicher Lite‐ ratur in der Volkssprache zu erschließen, die nicht in einer einzigen textmodellierenden Operation aufgehen. 440 Mit der mittelhochdeutschen Epik als Gegenstandsbereich der Analyse werden Erschei‐ nungsformen und Funktionen kürzender Eingriffe erfasst, auf deren Grundlage sich in einer systematischen Erhebung ein gattungsspezifisches poetisches Konzept der Kürzung beschreiben lässt. Dieses scheint sich dort abzuzeichnen, wo der sprachlichen Form eine explizit indizierte oder implizit inhärente Semantik eignet, die sich durch den Bearbeitungs‐ modus konsequenter, aber auch nur situativ durchgeführter Kürzung konstituiert. Trotz der vordergründigen Heterogenität der Phänomene werden - abstrahiert vom Einzelfall - über‐ geordnete Aspekte und Tendenzen sichtbar, die die Kürzung als kulturelle Wissensordnung ausweisen: »[B]revity does not result from an absolute norm; it is culturally conditioned«. 441 Ihr Potential und Geltungsanspruch kann sich im Rekurs auf vorhandenes Wissen bzw. das Gattungswissen der Rezipienten entfalten, 442 während ihre konkrete textimmanente Repräsentation sich darüber hinaus in Abhängigkeit von den diskurs-, überlieferungs- und literarhistorischen Voraussetzungen immer wieder fallspezifisch konstituiert. 443 Eine Neuorientierung der Forschung bietet dieser Ansatz insofern, als mit den Kurzfas‐ sungen ein alternativer, historisch dokumentierter Lektüremodus fokussiert wird, der sich in der mittelhochdeutschen Epik vom 12. Jahrhundert an nachweisen lässt und bis ins Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit eine erstaunliche Relevanz behauptet, die im Hinblick auf Prosa-Bearbeitungen der tradierten Verstexte nur ansatzweise untersucht ist. 444 Eine Neuorientierung liegt auch insofern vor, als die primär überlieferungsbezogene Perspektive auf Kurzfassungen, innerhalb derer die zentralen Charakteristika der jeweiligen gekürzten Texte hauptsächlich nach relationalen Kriterien bewertet werden, 445 mit den ›Effekten‹ der 78 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="79"?> 446 Im Hinblick auf emergente Kürzungsphänomene siehe Kap.-3.1. 447 Vgl. Herweg, Wege zur Verbindlichkeit (2010). - Diskutiert in Kap.-3.1.2.3. Kürzung auf der Ebene der Narration zusammengesehen wird. Denn durch das Weglassen handlungstragender Passagen kann sich eine Neu-Perspektivierung der Handlung oder der Figuren ergeben, ohne dass dieser Vorgang notwendigerweise an einen ›intentionalen‹, d. h. von einem planenden Redaktor verantworteten (Deutungs-)Prozess im Hinblick auf das Textganze gekoppelt erscheinen muss, sondern vielmehr auch - aus der Perspektive der vorliegenden Kurzfassung selbst - als frei sich einstellendes Produkt der mitunter punktuell erfolgenden Textmodellierungsoption(en). 446 So können die im Vorgang des abbreviare auf unterschiedlichen Ebenen entstehenden, durchaus divergenten narrativen Dynamiken in den Blick kommen, durch die sich literarische Kürzung als erzähltechnisch instrumentiertes Verfahren auszeichnet. Sie er‐ öffnen differenzierte Einblicke in die Interdependenz von Produktions- und Rezeptions‐ vorgängen, die nach unterschiedlichen Seiten hin prozessieren können. Ferner erlaubt der diachron-systematische Zugriff eine Neuperspektivierung des literaturgeschichtlichen Kontinuums auf der Basis der Varianz mittelalterlicher Manuskriptkultur, indem sich das Phänomen der Kurzfassungen an die Frage nach textsortenspezifischen Entwicklungs‐ tendenzen im Spätmittelalter anschließen lässt. Hier wäre zu prüfen, ob und inwieweit sich die am romanhaften Erzählen beobachtbare Präferenz für chronikalische Elemente auch im Kontext der Kurzredaktionen niederschlägt. 447 Die Analyse der charakteristischen Organisationsform mittelhochdeutscher Epik durch das Prinzip literarischer Kürzung bietet damit Erkenntnisfortschritte im Bereich überlieferungs- und textgeschichtlicher, poetologisch-narratologischer sowie literarhistorischer Fragestellungen. 1.4 Volkssprachige Kürzungspraxis 79 <?page no="81"?> 448 Zum breiten Feld kompilativer Techniken im Rahmen der mittelalterlichen Wissenskultur siehe jeweils den Überblick in Büttner / Friedrich / Zedelmaier (Hg.), Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen (2003); Dusil / Schwedler / Schwitter (Hg.), Exzerpieren - Kompilieren - Tradieren (2016). 449 Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 39-59; Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-419-439. Zum Forschungsstand siehe Kap.-1.2. 450 Im Kontext eingehender Recherche zu grundsätzlichen Sachfragen verweist Martin Opitz im Kom‐ mentar seiner Annolied-Ausgabe auf seinen eigenen Zeitmangel angesichts der absehbar ausufernden Quellensichtung. Diese empfiehlt er denjenigen an, die über die nötige Muße für solche Aufgaben verfügen: Cæterum quæ Rhythmus noster de Annone dehinc continet, ab iis quibus otium est cum Lamberto, Scriptore Vitæ Annonis, aliisque temporum illorum Historicis conferri possunt (Rhythmus de sancto Annone [1639], p.-53; ›Die übrigen Querverweise, die unsere Anno-Dichtung darüber hinaus enthält, können diejenigen, die Muße dazu haben, mit Lampert [von Hersfeld], dem Verfasser der Vita Annos, und mit anderen Geschichtsschreibern jener Zeit vergleichen‹). Zum Zusammenhang Frick, Alte und neue Kontinuitäten (ersch. 2025). 451 Vgl. Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-49f. 1.5 Untersuchungsspektrum: Paradigmatische Konstellationen literarischer Kürzung Gegenstand der Untersuchung sind Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen, die in Form (Reimpaarvers) und Wortlaut auf die früher entstandenen ›Langversionen‹ der jeweiligen Texte Bezug nehmen, diese aber auf signifikante Weise verdichten. Spezifisch für das dabei zu beobachtende Verfahren der Kürzung ist die Tendenz zur quantitativen Reduktion des Prätextes, die sich im Sinne eines poetischen Prinzips realisiert, d. h. rhetorisch-poe‐ tisch induziert ist im Hinblick auf qualitative Aspekte der literarischen ›Formung‹ einer vorliegenden Textur, die die narrative Organisation gleichermaßen erfasst. Literarische Kürzung operiert insofern jenseits einer bloß reduktiven, auf memorative Aspekte zie‐ lenden Vorgehensweise (wie sie z. B. auch für Techniken der Kompilation im Bereich der Wissensliteratur charakteristisch ist), 448 als sie mittels konkreter rhetorisch-poetischer Techniken des Kondensierens das Potential freisetzt, gegenüber den Bezugstexten alterna‐ tive Sinnqualitäten und Erzähloptionen herauszupräparieren. Eine Erwartungshaltung an eine auf Vollständigkeit angelegte Typologie der Kurzfas‐ sungen mittelhochdeutscher Epik wird in der Studie freilich enttäuscht werden. Ziel ist es nicht, alle vorhandenen Kurzfassungen dieses Gattungsspektrums zu verzeichnen und nach gewissen Kriterien auszuwerten. Das wäre angesichts der immensen, größten‐ teils noch unerschlossenen Textmenge, wie sie die beiden programmatischen Studien nahelegen, 449 wohl nur im Rahmen eines größer angelegten (Erschließungs-)Projekts zu leisten. Diese Aufgabe muss daher - um eine bekannte Stimme im Gelehrtendiskurs der Frühen Neuzeit zu zitieren - denjenigen Fachkolleg: innen vorbehalten bleiben, quibus otium est. 450 Das anvisierte Potential der Studie soll sich denn auch nicht darin erschöpfen, »Typen redaktioneller Kürzung« zu erarbeiten bzw. zu präzisieren, wie sie Nikolaus Henkel in seiner einschlägigen Pilotstudie der Forschung zum reflektierenden Gebrauch bereitgestellt hat. 451 Weil literarische Kürzung, so die leitende heuristische Annahme, sich nicht in einem ›geschlossenen‹ System intentionaler Prozeduren vollzieht, würde es zu kurz greifen, die im Einzelfall jeweils festzustellenden Auslassungen einem Spektrum zuzuordnen, das Kürzungsphänomene entweder typologisch quantifizierend oder in Bezug auf ihren textimmanenten ›Ort‹ hin (z. B. innerhalb diskursiver und handlungstragender 1.5 Untersuchungsspektrum: Paradigmatische Konstellationen literarischer Kürzung 81 <?page no="82"?> 452 Siehe Kap.-3.2. Passagen) verrechnet. Vielmehr sind unterschiedliche Bewegungen zusammenzusehen, die die Spielräume literarischer Kürzung in ihrem Stellenwert sowohl als historisches Wahrnehmungsphänomen als auch habitualisierte Praxis der Rezeption und Reproduktion ausloten. Ziel der vorliegenden Studie ist es daher, eine erste Vorverständigung zu zentralen Definitionskriterien einer Poetik der Kürzung zu bieten, die in einer Abkehrbewegung von rein quantitativen Vergleichsrelationen als Grundlage sowohl für die Klassifikation der infrage stehenden Texte (›Kurzfassungen‹) als auch für die Einschätzung ihrer litera‐ risch-poetischen Faktur und narratologischen Eigenart dienen können. Eine solche Zielsetzung lässt sich - ist sie doch auf eine Abstraktionsleistung auf der Basis des zur Verfügung stehenden Materials angewiesen - nur in einer exemplarischen Analyse modellhafter Konstellationen entwickeln, die für den fokussierten Gegenstandsbe‐ reich (Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epik) eine paradigmatische Relevanz besitzen. Abstrahiert vom konkreten Einzelfall soll eine Poetik der Kürzung rekonstruiert werden, die sich in Abhängigkeit vom jeweiligen literarischen Interesse, gattungsspezifischen Registern, diskursiven Feldern und Überlieferungskontexten konstituiert. 452 Um sich dieser Zielsetzung anzunähern, arbeitet das Untersuchungsspektrum nicht mit einer epischen ›To‐ talität‹ der Einzeltexte, sondern folgt einem systematischen Interesse, das den Konzepten literarischer Kürzung gilt, die die Ebene der Text-Poetik und Narration gleichermaßen tangieren. Exemplarisch ausgewählt sind drei Konstellationen aus unterschiedlichen Zeitschnitten, in denen Kürzung als spezifisches Phänomen einer Textpoetik auf der Gegenstandsebene historisch beobachtbar und auf der Beschreibungsebene analytisch erfassbar wird (Kap. 2). Als paradigmatisch können diese Konstellationen insofern gelten, als sie am Beispiel von ›historischen‹ Themenfeldern (Troja, Heldenepik) drei grundsätzliche Möglichkeiten kürzender Eingriffe mit dezidierten Evidenzlogiken dokumentieren (s. unten). Damit bieten sie wesentliche Komponenten, sozusagen ein charakteristisches Merkmalsbündel für eine Poetik der Kürzung, die als Beschreibungsmodell für textuelle Phänomene (in Abhängig‐ keit von instrumentellen, literarischen, ästhetischen Techniken des kürzenden Wieder‐ gebrauchs von vorliegendem Material) angesetzt werden kann. Gleichzeitig sind diese paradigmatischen Muster aber nicht als ›absolute‹ Größe zu verstehen. Sie repräsentieren historisch referentialisierbare Kategorien, für die je nach Gattungs-, Diskurs- und medialem Kontext divergierende Möglichkeiten abbreviierenden Kalküls anzusetzen sind: zwischen Textproduktion und Handschriftenproduktion, zwischen zeitlichen Schichtungen im Sinne gestufter Rezeptions- und Reproduktionsphänomene. Ein solcher Balanceakt greift dem Risiko einer typisch germanistischen Abstraktion durch eine notwendige Unterscheidung zwischen verschiedenen historisch validierbaren Zugriffen auf das dem Verfahren der Kürzung inhärente Potential literarischer Formung vor. In diesem Zusammenhang kann ein methodisch kontrollierter Zugang Relationen und Umschlageffekte zwischen verschie‐ denen, systematischen, aber auch ›emergenten‹ Phänomenen der abbreviatio allererst auskonturieren. Er bietet damit die Möglichkeit, historische Erzähl- und Rezeptionsakte mit Rücksicht auf die Gegenstands- und Beobachtungsebene genauer zu spezifizieren. 82 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="83"?> 453 Vgl. Kiehl, Zur inhaltlichen Gestaltung (2008); Schmid, Die Fassung *C (2018). Als im beschriebenen Sinne paradigmatisch können folgende Konstellationen der Kürzung in der mittelhochdeutschen Epik angesetzt werden. 1) Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung Den Ausgangspunkt bildet das Liet von Troye Herborts von Fritzlar, das als frühes Beispiel im Transferprozess aus der Romania in die deutsche Volkssprache die Umsetzung einer kürzenden Adaptation des altfranzösischen Roman de Troye des Benoît de Sainte-Maure dokumentiert. Herbort rafft seinen Ausgangstext um etwa ein Drittel des Textbestandes und stellt dabei die abbreviatio-Programmatik sowohl explizit im Prolog als leitendes Konzept seiner Retextualisierung wie auch in der Narration selbst durch die Anwendung stilistischer Verfahren der brevitas sowie prozessierter Kürze-Topoi gezielt aus, die als Elemente der Rezeptionssteuerung funktionalisiert sind. Dass dieses Kürzungs-Konzept nicht nur im Rahmen des Sprachtransfers, sondern auch im Kontext der Reproduktion des Liet von Troye selbst wirksam wird, lässt sich anhand der Fragmente aus Skokloster belegen, die Teile einer früh anzusetzenden Kurzfassung von Herborts Trojaroman überliefern. 2) Kürzung als Reproduktionsprinzip: Systematische Tendenzen Die früheste erhaltene und literaturgeschichtlich wohl markanteste Kürzung eines Prä‐ textes repräsentiert die Nibelungenklage *J, die in der Regel als ›Paradebeispiel‹ systema‐ tisch angewandter, auf eine alternative Gesamtkomposition des Textes zielender Form‐ prinzipien der abbreviatio in der mittelhochdeutschen Epik dient. 453 Dennoch steht eine Analyse des Textes aus, welche die Aspekte neuer Sinnstiftung im Modus der Kürzung nicht nur aus der Perspektive eines relationalen Vergleichs mit den Langfassungen *B und *C auswertet, sondern sie mit den rhetorisch-poetischen Implikationen und narrativen Logiken des alternativen Erzählens im Modus der Kürzung in Beziehung setzt. Der Fokus auf Kürzung als textimmanenter Reproduktionsstrategie nimmt den Umgang mit der in der Nibelungenklage *J niedergelegten kulturellen Wissensordnung in den Blick, um textproduktive Parameter einer Poetik der Kürzung zu erfassen. Darüber hinaus erlaubt es die Zusammenschau der Klage-Kurzfassung *J mit der in der Hs. I/ J überlieferten Fassung des Nibelungenliedes, sammlungsbezogene Tendenzen und Synergieeffekte der Kürzung sichtbar zu machen. 3) Kürzung und Vollständigkeit: Interferenzphänomene Eine grundsätzlich andere Art der Verdichtung liegt vor im Nibelungenlied n (Darmstadt, Hess. LB, Hs. 4257), worin das ambivalente Ineinander von Kürzung und Erweiterung sich als konstitutiv für die Organisation des Textes erweist: Weil der erste Handlungsteil radikal zusammengezogen ist (Âv. 1-24 zu 20 Strophen), bedarf es im Folgenden einiger Zusatzstrophen und -verse, um eventuell zu Tage tretende ›Leerstellen‹ hinsichtlich der narrativen Kausalverknüpfung auszugleichen und den Text auf ein im Spätmittelalter dominantes Interesse an einer heroischen ›Lektüre‹ hin zu orientieren. Damit lassen sich ambigue Effekte der Kürzung auf syntagmatische wie paradigmatische Erzählprozesse historisch prägnant beobachten. Hier zeichnet sich die wechselseitige Bedingtheit der 1.5 Untersuchungsspektrum: Paradigmatische Konstellationen literarischer Kürzung 83 <?page no="84"?> rhetorisch-poetischen Verfahren von Kürzung (abbreviatio) und Erweiterung (amplificatio) ab, die auf vielfältige Möglichkeiten von deren literarischer Instrumentierung verweist. Dass diese sich keineswegs in einem dichotomischen Modell bewegen, dokumentiert die konstitutive Kombination beider Techniken der Textbearbeitung, die gerade kein Span‐ nungsverhältnis als vielmehr den komplementären Charakter der gegensätzlich gerichteten Verfahrensweisen indiziert. Die Zusammenschau paradigmatischer Konstellationen soll die für das Verfahren literari‐ scher Kürzung konstitutive Interferenz zwischen den Ebenen Poetik und Narration sichtbar werden lassen. Die Annäherung an den Gegenstandsbereich unter dem Gesichtspunkt der abbreviatio erfolgt also unter einer systematischen Perspektive. Zentrale Bezugspunkte sind dabei die in Kap.-1.4.2 entwickelten Analysekategorien: 1. Syntagma und Paradigma: Kürzung und Erweiterung; 2. Temporalisierung: Kürzung, Kürze und Zeit(-regie); 3. Begründungsmaximen: Quantitative und qualitative Relationen. Sie sind einerseits ein methodisch fundierter Ausgangspunkt für die Beschreibung einer poetisch-rhetorischen wie narrativen Qualität literarischer Kürzung. Als heuristische Modellanordnung repräsentieren sie andererseits ›Prüfsteine‹, um die Funktionskategorie literarischer Kürzung als integrale Textpoetik zu schärfen. Denn dass diese als eine ausgesprochen facettenreiche zu begreifen ist, zeigt der Ausblick auf gestufte Evidenzen der abbreviatio-induzierten Verfahren der Textbearbeitung (Kap. 3.1), die gerade auch vor dem Hintergrund differierender Überlieferungssymbiosen, literarhistorischer und mediengeschichtlicher Transformationsprozesse unterschiedliche Optionen im Umgang mit den längeren Prätexten offenbart. Mit den in den Einzeltexten jeweils zu beobachtenden ambivalenten Konfigurationen gehen divergierende Strategien literarischer Kürzung einher. Dieser Dialektik auf der Ebene der Textherstellung entspricht eine analoge Bewegung auf der Ebene der Rezeption: Die je spezifischen diskursiven Formationen der Kürzung als Konstanten literarischer Kom‐ munikation verweisen auf bildungsgeschichtlich und damit kulturell tradierte Ordnungs‐ muster, deren gattungsimmanente Epochenprägnanz in den gewählten paradigmatischen, synchron-diachron ausgerichteten Konstellationen aufscheint. Die infolge der abbreviatio freigesetzte Formungsenergie lenkt damit den Blick auf epistemologische Konstanten und systemimmanente Transferbewegungen, die sich am Beispiel der mittelhochdeutschen Epik zu einer ›Poetik der Kürzung‹ synthetisieren lassen (Kap.-3.2). 84 1 Poetik der Kürzung. Aufgaben und Perspektiven <?page no="85"?> 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="87"?> 1 Zu diesem Aspekt siehe oben, Kap.-1.4.2.2. 2 Siehe dazu Kap. 1.4.2.2. Zur Frage nach dem Verhältnis von Textumfang und Rezeptionszeit anhand der französischen mises en prose Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), bes. S. 76-80. Aspekte formaler Kürze bzw. Länge und deren jeweils situativ verschiedene performative ›Dauer‹ diskutiert Zumthor, Brevity as form (2016 [1983]), S.-75f. 3 Jäger, Die Kürzemaxime (2014), S.-32. 4 Ebd. - Das Changieren der Kürze zwischen virtus und vitium skizziert Frick, Literarische Kürzung (2021), bes. S.-9-12 u. 16-18. 5 Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S.-80. 6 Der Zusammenhang ist beschrieben in Kap. 1.3.1. Vgl. zum Hintergrund die dort zitierte Passage aus Quintilian (Inst. or. 4,2,46). Zum Dispositiv der Rhetorik, kommunikativen Erfolg durch »referenti‐ elle[ ] Prägnanz« zu erzielen, vgl. Gardt, Kürze in Rhetorik und Stilistik (2007), S. 69-88, Zitat S. 72. 7 Jäger, Die Kürzemaxime (2014), S. 31. Weil eine »gefällig geschmückte Rede den Zuhörern kurzwei‐ liger erscheine, d. h. als kürzer empfunden werde«, vermag »das delectare als eines der drei officia oratoris Kürze als Rezeptionseindruck vorzutäuschen«. (Ebd., S.-30). 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung: Herborts von Fritzlar Liet von Troye Unter welchen Bedingungen ein Text als kurz wahrgenommen wird, hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab. Ausschlaggebend scheint weniger seine tatsächliche Länge zu sein (gemessen an der Quantität der Zeichen, Wörter, d. h. am effektiven ›Umfang‹) als vielmehr die Frage nach der ›Länge der Lektüre(n)‹. 1 Denn die Rezeptions z e i t wird maßgeblich vom Lesebzw. Vortragstempo sowie der performativen Realisierung bestimmt, die auch einen vordergründig wortreicheren Text bündig erscheinen lassen und umgekehrt einen konzis formulierten in die Länge ziehen kann. 2 Wie sich also der lange Text - paradoxerweise - als zeitsparend in der Rezeption erweisen kann, weil es ihm an formalem Raffinement, stilistischer Versiertheit oder inhaltlichem Allusionsreichtum mangelt, kann die »relativ zum Sachgehalt« 3 kurze Mitteilung mittels elaborierter sprachlicher Konden‐ sierung Sinndimensionen enthalten, die sich erst in einem intensiveren ›mentalen‹ Studium in ihrer Bedeutungsdichte vollständig erschließen. Umgekehrt […] wird Kürze gerade in dem Maße möglich, in dem ein gemeinsamer Wissens- und Erfahrungshorizont garantiert, dass Informationslücken von den Rezipienten im Sinne der Autorintention korrekt geschlossen werden können - wobei möglicherweise gerade in solch stummer Übereinkunft ein besonderer, nicht zuletzt auch ästhetischer Reiz entsteht, der die Etablierung abbreviierter Binnen-, Intim- oder Alternativkommunikationsformen begünstigt. 4 Zu dieser ambivalenten Rezeptionsdynamik kommt ein subjektives Moment, das schon in der antiken Rhetorik als entscheidende ›Systemstelle‹ für den kommunikativen Erfolg erkannt worden ist: Eine kurze, stilistisch anspruchs- und schmucklose Rede ruft bei den Zuhörern aufgrund des Eindrucks »gefühlte[r] Länge[ ]« 5 Überdruss (taedium) hervor und verfehlt daher ihren auf Persuasion abgestellten Zweck. 6 Im Gegensatz dazu vermag eine längere Ausführung, die mit den Mitteln des rhetorischen ornatus operiert und sich der Maßgabe stilistischer brevitas bedient, die faktische Länge durch die Evokation »›gefühlte[r]‹ Kürze« zu überspielen. 7 Damit sind zugleich qualitative Implikationen im Hinblick auf die jeweilige elokutionelle Formgebung verbunden, die quer stehen können zu 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 87 <?page no="88"?> 8 Zu den Kernfragen der Performance-Studies zusammenfassend Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S. 76. Weiterführend Vitz / Freeman Regalado / Lawrence (Hg.), Performing Medieval Narrative (2005); Duys / Emery / Postlewate (Hg.), Telling the story (2015). 9 Vgl. Huber, Der gebildete Dichter (1996), S.-171-189. 10 Zu den höfischen Zentren volkssprachiger Literaturproduktion um 1200 vgl. in einer hofklerikalen Perspektive Benz, Volkssprachige Literatur und höfische Kultur um 1200 (2021), S. 1-21. - Sprach‐ liche Transferbewegungen zwischen der volkssprachig-laikalen und lateinisch-gelehrten Sphäre systematisiert Frick, Rekursive Sprachlogiken (2024). 11 Zu diesem Problemfeld siehe die einleitenden Überlegungen in Kap.-1.4.1. 12 »Zu denken ist in der höfischen Kultur des Mittelalters etwa an Kampfspiele, Tanz, Gesellschafts‐ spiele, aber auch ans Musizieren oder Erzählen von Geschichten.« Manuwald, Kurzewîle und lange weil (2014), S. 16. Vgl. zu diesem Sachverhalt in kultursoziologischer und motivgeschichtlicher Perspektive Völker, Langeweile (1975); Bellebaum, Langeweile, Überdruss und Lebenssinn (1990). 13 Manuwald, Kurzewîle und lange weil (2014), S.-17. 14 Vgl. hinsichtlich des Erzählens von Geschichten als initiierendem Faktor für âventiure z. B. die Kalogrenant-Episode im Iwein (V. 86-802). - Im Tristan Gottfrieds von Straßburg widmen sich Tristan und Isolde u. a. der Lektüre von Liebesgeschichten, um sich die Zeit zu ›verkürzen‹ (vgl. V. 17139- 17274): Der kurzewîle was genuoc / der s’in dem tage begunden (V. 17242f.). - Zu den literarischen Inszenierungen von Lektüreerfahrung vgl. Kern, Iwein liest ›Laudine‹ (2002), S. 385-414, bes. S. 395. temporalen Aspekten der Performativität, weil Vortragstempo oder Artikulationsart allein keine ›gefällige‹ Lektüre garantieren. 8 Perspektiviert auf die mittelalterliche Literatur in der Volkssprache stellt sich die Frage nach den Wahrnehmungsmöglichkeiten von Kürze, schwieriger noch: Kürzung, als besonders intrikat dar. In einer literarischen ›Infrastruktur‹, die sich in Auseinandersetzung mit den formal-stilistischen Modellen und inhaltlichen Mustern der klassischen wie zeit‐ genössischen Latinität erst etabliert und den Anschluss sucht an poetische Entwicklungen in der Romania, lässt sich für den Zeitraum um 1200 allenfalls für die Gruppe der gelehrten Autoren, 9 wohl kaum aber für das Gros der Rezipienten der vernakulärsprachigen Textproduktion, eine vergleichbare literarische Versiertheit ansetzen. 10 Mehr noch: Eher auszuschließen sein dürfte die Kenntnis unterschiedlicher, d. h. auch verschiedensprachiger Versionen e i n e s Textes im Sinne einer ›vergleichenden‹ Lektüreerfahrung, vor deren Hintergrund eine Kurzfassung als Kürzung - jenseits der Produktionsebene - erst rezipierbar würde. 11 Die Kürzung vermittelt sich demgegenüber als Text, dessen wahrnehmbare Quantität sich nicht am relationalen Verhältnis zu einer Vorlage bemisst, sondern - wie bei jedem anderen auch - an seiner Potenz zur ›Ver-Kürzung‹ der Zeit, d. h. an seinem Vermögen, als lang empfundene Mußestunden durch höfisch adäquate kurzewîle zu überbrücken. 12 Das Erzählen bietet also selbst Reflexe einer temporalen Konzeption, in der Zeit »als etwas empfunden wird, das der Gestaltung bedarf«, 13 um nicht den Eindruck ihres subjek‐ tiven ›Lang-Werdens‹ entstehen zu lassen. Das Kurzweil-Postulat findet sich sowohl in der Exordialtopik, in Exkursen oder descriptiones, in denen immer wieder der höfische Umgang mit ›freier‹ Zeit thematisch wird, z. B. im Rahmen von Turnieren im Nibelungenlied: sus vertriben si die wîle: diu dûhte si niht lanc (Bo 811,1). Das ›Verkürzen‹ von Zeit wird auf der narrativen Ebene gerade auch in geselligen Erzähl- oder Lektüreszenen als Funktionsmerkmal von Literatur modelliert. 14 Sie rekurriert offenbar auf eine Publikums‐ erwartung, der Autoren insbesondere von umfangreicheren Texten entgegenzukommen 88 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="89"?> 15 Zu diesem Zusammenhang von brevitas-Topik und abbreviatio Kap.-1.3. 16 Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S.-67. 17 Glauch, Inszenierungen der Unsagbarkeit (2003), S.-150. 18 Für den mittelhochdeutschen Antikenroman vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), S.-353-378. 19 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S. 184. Vgl. für den Erec Hartmanns von Aue schon Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S.-1-30. suchen, indem sie wiederholt auf die Kürze ihrer Ausführungen verweisen 15 - und damit das Kurzweil-Postulat bedienen, ohne sich jedoch zugleich in der narrativen Ausfaltung und rhetorisch-poetischen Formgebung des jeweiligen Stoffes beschränkt zu wissen. Denn dass es dabei eher seltener um eine tatsächlich vorliegende sachliche Reduktion als vielmehr um ein Aushandeln der Lizenzen für das gegenüber den Vorlagen mitunter ausführlichere Erzählen geht, ist schon mehrfach gesehen worden: ›Kurz gesagt‹ ist nämlich meist nichts anderes als eine Formel, eine mehr oder minder leere Floskel, die bemüht wird, wenn es darum geht, die Lizenz auszuhandeln, es eben nicht kürzer, sondern länger machen zu dürfen, und sich über die versprochene brevitas dennoch die benevolentia des Hörers zu sichern. 16 So bedienen sich Hartmann von Aue, Heinrich von Veldeke oder Gottfried von Straß‐ burg sog. ›Kürze‹- oder - aufgrund ihrer Übergängigkeit funktionsanaloger - Unsagbar‐ keits-Topoi als eines »Instrument[s] der Publikumslenkung«, 17 obwohl sie ihre Vorlagen nicht substantiell komprimieren. 18 Weil Kürzung rezeptionsästhetisch nur über Signale erfahrbar werden kann, die unmittelbar auf stellenweise erfolgte Bearbeitungsprozeduren hinweisen oder diese zumindest suggerieren, changieren solche Rezeptionsmarker zwi‐ schen einem rhetorisch verhandelten Spielraum zum ›Mehr-Sagen‹ und dem Indizieren einer punktuellen Reduktion des Erzählten. Dass das Phänomen der literarischen Kürzung einer Vorlage im Kontext der Adaptation französischsprachiger Texte im deutschspra‐ chigen Raum offensichtlich nicht zu den ›Normalfällen‹ höfischen Erzählens gehört, dokumentiert der in der Romanproduktion um 1200 tendentiell präferierte dilatierende Umgang mit den aus der Romania importierten Erzählmustern und -motiven. Es gehört nachgerade zu den Konstitutionsbedingungen der sogenannten adaptation courtoise, dass mittelhochdeutsche Erzählwerke, die auf französischen Vorlagen fußen, im Sinne einer amplificatio inhaltlich vermehrt werden, also mit der Kategorie der dilatatio materiae zu fassen sind. 19 Umso historisch signifikanter erscheint Herborts von Fritzlar programmatisch als Gegen‐ entwurf zum höfischen Paradigma inszeniertes Liet von Troye, das eine dezidiert alternative Möglichkeit literarischer Gestaltung profiliert. Orientiert an gelehrten Diskurstraditionen und kommunikativen Sektoren der Latinität favorisiert Herbort ein mit dem höfischen Modell kontrastierendes Erzählverfahren, das dem Modus der amplificatio einen gezielten Reduktionsvorgang im Akt der abbreviatio entgegensetzt. Das Verfahren literarischer Kürzung erscheint im Liet von Troye als Adaptationspraxis sowohl auf der Ebene der quantitativen Struktur des Textes (abbreviatio) als auch seiner formal-stilistischen Qualität (brevitas). Weil es darüber hinaus in reflexiven Passagen als Erzählprinzip unmittelbar ausgestellt wird, ist es als Modus der Rezeptionssteuerung funktionalisiert. Die dabei 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 89 <?page no="90"?> 20 Zum Ineinander von »Produktionsästhetik« sowie »Aufführungs-, Rezeptions- und Überlieferungs‐ bedingungen« für die Herstellung von Kurzfassungen vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 297. - Siehe auch die Vorüberlegungen von Frick, abbreviatio (2018), S.-23-50. 21 Zur problematischen Bewertung der Rolle Hermanns I. als Literaturmäzen vgl. Bastert, Der Beginn der deutschen Literatur? (2019), S. 317-342, bes. S. 333; Bastert, Zur ›Klever Hochzeit‹ (1994), S. 253-273. - Die Gönnerfrage unter sozialhistorischen Gesichtspunkten ist behandelt in Bastert / Bihrer / Reuvekamp-Felber (Hg.), Mäzenaten im Mittelalter (2017). Für das Quellenmaterial immer noch einschlägig Bumke, Mäzene im Mittelalter (1979). Die Literatur am Hof Hermanns I. von Thüringen ist aufgearbeitet von Peters, Fürstenhof und höfische Dichtung (1981). 22 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S. 21. Zur Tradition der deutschsprachigen Trojaromane Lienert, Deutsche Antikenromane (2001). 23 Der Text ist in einer vollständigen Handschrift und drei Fragmenten überliefert. Vgl. in komparatis‐ tischer Perspektive Bauschke, Der altfranzösische Trojaroman (2014), S. 117-150. - Die Verfahren von Herborts Adaptation des altfranzösischen Textes sind in monographischer Darstellung unter‐ sucht von Herberichs, Poetik und Geschichte (2010). - Der Text wird im Folgenden zitiert nach Frommann (Hg.), Herbort’s von Fritzlâr Liet von Troye (1966 [1837]). Abbreviaturen werden aufgelöst, graphematische Spezifika (wie Schaft-s, geschweiftes z) normalisiert. Das Desiderat einer Neuedition skizziert Bauschke, Die Edition von Herborts von Fritzlar Liet von Troye (2005), S.-119-131. 24 Zum geistlichen Stand Herborts und seiner Bildung (mit Bezug auf seinen Umgang mit der heidnischen Antike) zuerst Schade, Christentum und Antike in den deutschen Troja-Epen (1955), S. 1-80. - Vgl. für die Frühzeit der Herbort-Forschung exemplarisch Menhardt, Herbortstudien (1928), S. 225-254; (1929), S. 173-200; (1940), S. 256-264. - Die (gemessen an der Vorlage oder auch dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke) postulierte qualitative Minderwertigkeit des Liet von Troye sitze beobachtbaren Quantitäts- und Zeitphänomene schlagen nicht in ein dichotomisches Modell von Verdichtung und Ausfaltung um, sondern konvergieren in einer Prozessualität, der ein transgressives Moment eignet: Das produktive Potential von Rezeptionssignalen, die den Vorgang gezielter quantitativer Reduktion (abbreviatio) wie zugleich die formale Kategorie der Kürze (brevitas) thematisieren, liegt in der Etablierung einer spezifischen Diffenzqualität des Textes, die einen schillernden Gestaltungsspielraum literarischer Sinn‐ bildung erfahrbar werden lässt. Rezeptionsästhetisch vermittelte Kürzung operiert damit als gezielt instrumentiertes Element auf einer narrativen Ordnungs- und Deutungsebene, deren vielschichtiges semantisches Potential sich je situativ im Interagieren zwischen der angezeigten Kürzebzw. Kürzung-Topik, der mitunter divergierenden erzähltechnischen Realisierung sowie der präsupponierten Rezipientenerwartung entfaltet. 20 Diese Problem‐ konstellation im Spannungsfeld ›gefühlter‹ Länge und ›effektiver‹ Kürze soll im Folgenden am Beispiel von Herborts Trojaroman als eines paradigmatischen Falles für die Form abbreviierender adaptation courtoise untersucht werden. 2.1.1 abbreviatio-Programmatik: Der Prolog Das laut Auskunft des Prologs (V. 92-95) dem sozialhistorischen Umfeld des Hofes Hermanns I. von Thüringen (1190-1217) 21 zugehörende Liet von Troye kann als »der erste deutschsprachige Trojaroman« gelten. 22 Es bietet eine kürzende Umsetzung des altfranzösischen Roman de Troie Benoîts de Sainte-Maure: von etwa 30.000 Versen der Vorlage auf rund 18.500 deutsche Verse. 23 Diese signifikante quantitative Reduktion der Erzählsubstanz ist ein vom Kleriker Herbort bewusst gewähltes Verfahren, das er im Prolog des Textes reflektiert. 24 Dabei werden unterschiedliche poetologische Aspekte geradezu 90 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="91"?> einer »rhetorischen Figur« des Textes auf. Vgl. Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-184-186, Zitat S.-186. 25 Den Prolog des Liet von Troye im Vergleich mit der altfranzösischen Version Benoîts bespricht Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S. 63-98. In Gegenüberstellung mit Konrads von Würzburg Trojanerkrieg ist die Prolog-Topik analysiert von Kellner, Poetologie im Spannungsfeld (2006), S.-231-262. 26 Zur Diskussion der Stelle in der Forschung vgl. Kellner, Poetologie im Spannungsfeld (2006), S. 243; Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S. 80f.; Schmid, Ein Trojanischer Krieg gegen die Langeweile (1997), S.-199-220; Worstbrock, Zur Tradition des Trojastoffes (1963), S.-248-274. 27 Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), S.-352. 28 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-81. 29 Vgl. die Ausführungen zu den historischen Abbreviationspoetiken in Kap. 1.3.2. In Bezug auf Herbort zusammenfassend Frick, Zwischen Sinnreduktion und Prägnanz (2020), bes. S.-16-19. 30 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-81. 31 In medialer Perspektive Kiening, Fülle und Mangel (2016). zu einem Programmentwurf idealtypischen Dichtens kombiniert. 25 Als zentrale Maßgabe literarischer Qualität erscheint die Komponente gelehrt-lateinischer Bildung. Nur das Wissen um die kompetente Handhabung der ars als des essentiellen Instrumentariums rhetorisch-poetischer Formgebung (artificium) ermöglicht einen souveränen Zugriff auf eine vorgängige materia: Swer siner kvnst meister ist Der hat gewalt an siner list (V.-1f.) Allein demjenigen, der auf gelehrte Weise über sein artificium verfügen kann, obliegt die aktive Kontrolle über sein (erlerntes) Kunstvermögen im Sinne einer kognitiven Gewandt‐ heit (list), die den sachgerechten Umgang mit dem zu gestaltenden Wissen garantiert. 26 »Im Vordergrund steht also nicht der Stoff, der aus einer bestimmten Quelle bezogen wird, sondern die Darstellung selbst«. 27 Ihre Modalitäten (Kürzung und Erweiterung) referieren auf die in zeitgenössischen Kompendien kodifizierten Parameter literarischer Arbeit am Text: Der kan si bekeren Minren vnd meren Witen vnd engen Kvrtzen vnd lengen (V.-3-6) Im Anschluss an die habitualisierten, in den mittellateinischen Poetiken kodifizierten Praktiken beschreibt Herbort mit der dilatatio und abbreviatio »das Spektrum möglicher Bearbeitungsweisen«, 28 die für die Retextualisierung eines Stoffes zur Verfügung stehen. 29 Die zwei in den Artes poetriae als gleichwertig vorgestellten Möglichkeiten der tractatio materiae werden in einer der äußeren Form nach parallel gebauten Versreihe präsentiert, die in ihrer inneren Anlage die Kategorien der Reduktion (minren, engen, kvrtzen) und Amplifikation (meren, witen, lengen) chiastisch verknüpft. Die auf dem Nebeneinander »an‐ tonymer Verbpaare[]« 30 basierende semantische und syntaktische Kürze der Einzelverse erscheint in der Verdreifachung der Synonyme ›aufgeschwollen‹ zu einer pleonastischen Worthäufung, die die durchaus ambivalente Dynamik des Verdichtens als Ineinander von ›Fülle und Mangel‹ 31 auf engstem Raum präsentiert. 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 91 <?page no="92"?> 32 Zur Komponente gelehrter lateinischer Bildung, die Herbort mit diesem Verweis einspielt, vgl. Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), S.-352. 33 Die Kategorie des ›Wahns‹ bzw. ›Wähnens‹ im Sinne einer kognitiven Fehlleistung - vor deren pathologisierter Form - historisieren die Beiträge in Schnyder / Nowakowski (Hg.), Wahn, Witz und Wirklichkeit (2021). 34 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-82. 35 Vor allem in der Poetria nova Galfreds von Vinsauf markiert die poetologisch konzeptualisierte Wege-Metapher die grundsätzlich möglichen literarischen Verfahrensweisen. Vgl. Kap.-1.3.2. 36 Die Forschung hat solche Verweise auch außerhalb des Prologs beobachtet. Vgl. zusammenfassend Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S. 185f. mit Anm. 15, sowie Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-17f. Die Beherrschung dieser am literarischen Bezugssystem der zeitgenössischen Latinität geschulten poetischen Techniken bildet die Grundlage und Voraussetzung dichterischer Meisterschaft (V. 1). 32 Sie klassifiziert denjenigen Dichter als [w]ise vnd gewere (V. 8), der sein Kunstvermögen insoweit beherrscht, als er wohlüberlegt verfährt und Grenzüberschrei‐ tungen zu meiden sucht: Der sich so hat behut Daz er ane vber mut Siner kvnst hat gewalt (V.-9-11) Die Souveränität des gebildeten Dichters im Umgang mit der erlernten ars ist es, die ihn von seinem vngelerte[n] (V. 12) Kontrahenten distanziert. Im blinden ›Wahn‹ 33 auf seine vorgebliche wisheit (V.-14) verfährt dieser nämlich allzu vorschnell, kühn (balt, V.-12): Wenne der vngelerte ist balt Vnd wenet von der warheit Daz er habe wisheit (V.-12-14) Tatsächlich erweist er sich aber als vnbereitet (V. 15), weil seiner jenseits der gelehrten Sphäre anzusiedelnder kvnst (V. 16) jegliche Regeln der institutionell geschulten Praxis literarischer Form- und Sinngebungsverfahren abgehen. »Der Begriff wisheit zielt auf die rhetorische Leistung des vermittelnden Übersetzers«, 34 über die der vngelerte nicht verfügt. So verfehlt er das Prinzip gelehrten Maßhaltens (Vnd er sich nicht bewaren kan, V.-17). Als Parallele dient Herbort der Vergleich des Blinden, der von dem Weg, den er nicht imstande ist wahrzunehmen, immer wieder strauchelnd abkommt (V. 17-21), mit dem Sehenden, der [b]eide schaden vnd frumen / Da er mit sorgen mvz vberkvmen (V. 23f.), deutlich erkennt. Die Metapher verweist auf das schon aus der antiken Rhetorik bekannte und in den mittelalterlichen Artes poetriae kultivierte Dictum der zwei Wege im Sinne von Optionen literarischen Gestaltens, deren einer über bereitere narrative ›Umwege‹ (d. h. digressiones u. ä.) führt, während der andere sich durch die sachliche Reduktion auf das Wesentliche sowie den Gestus pointierter und zugleich artifiziell gehandhabter brevitas auszeichnet. 35 Die im Prolog aufgerufene Terminologie der autoreferentiellen Bezugsmatrix verweist auf die lateinische Gelehrsamkeit Herborts, 36 der sich selbstbewusst als einen solchen Sehenden stilisiert, der kraft seines Kunstverstandes über die Kompetenz zu entscheiden verfügt, welche erzählerische Optionen mitsamt ihren formal-stilistischen Realisierungs‐ formen zu meiden, welche dagegen zu verfolgen seien (V. 23f.). Diese Kompetenz ist 92 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="93"?> 37 Schon in den mittellateinischen Artes poetriae wird auf das Prinzip einer hinsichtlich des Erzählflusses angemessenen Länge der digressio hingewiesen und vor ausufernden Abschweifungen gewarnt: sed nec divertere longe / […] / ne sit via longior aequo (Galfred, Poetria nova, V. 529-531). Siehe zu diesem Aspekt unten, Kap.-2.1.2. Die digressio besitzt nur dann eine Legitimation, »wenn sie zur Erklärung des Stoffes beiträgt oder zur Affektsteigerung beim Rezipienten eingesetzt wird«. Linden, Exkurse (2017), S.-9. 38 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-83. 39 Vgl. Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S. 1-30. - Die amplifizierende Tendenz in der lateinischen Adaptation volkssprachiger heldenepischer Stoffe erfasst Kragl, Dilatatio materiae? (2020), S. 267- 313. 40 Das tut er etwa auch, wie Bauschke zeigt, indem er das im Prolog anzitierte biblische Gleichnis (Von dem blinden spreche ich me / Wen daz ich selbe mvz e / Daz stuppe vz den augen lesen, V.-27-29; vgl. Mt 7,5) geradezu ironisch umkehrt: »Anstelle des nicht gesehenen Balkens im eigenen Auge reklamiert Herbort nun für sich noch weniger als den Splitter […], sodass das große Holzstück für den imaginierten Kontrahenten übrig bleibt. […] Indem Herbort ein biblisches Gleichnis in dessen Gegenteil verkehrt, unterstreicht er seine klerikale Selbstinszenierung.« Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-186f. 41 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-188. das zentrale Moment, das die gelehrten Autoren von ihren ungelehrten ›Kollegen‹ im Kern unterscheidet. Denn diese bringen, mit den Blinden identifiziert, den gesamten ›Berufsstand‹ als solchen in Verruf: Ich heizze die vngelten [lies: vngelerten] blint Die sehenden die geleret sint (V.-25f.) Bemerkenswert an der Aussage ist die Verschiebung der poetologischen Bezugsebene, die Herbort hier - wohl durchaus kalkuliert - vornimmt. Die Anspielung auf digressive Ver‐ fahren des ›Vom-Weg-Abkommens‹, die eigentlich dem Feld der dilatatio-Topik angehören, bilden gerade keinen gleichwertigen Gegenpol zum ›gelehrten‹ Potential abbreviatio-ba‐ sierter Textherstellung. Vielmehr wird die Verfehlung des ›Abschweifens‹ im Sinne einer Gefährdung der narrativen Ordnung 37 den ›Ungelehrten‹ zugeschrieben als denjenigen, die zwar durchaus an der lateinischen Bildungskultur der Zeit partizipieren, sich aber hinsichtlich der Neukonzeptualisierung vorgängiger Erzählstoffe allenfalls peripher den aktuell praktizierten Bezugsmustern der Latinität verpflichtet fühlen. Herbort kodiert die »Begriffe eigenwillig um[ ]«, indem er die Meisterschaft über die kvnst »insbesondere auf die angemessene Verwendung der dilatatio und abbreviatio« bezieht. 38 Damit wird der postulierte Mangel an kunstvoller Selbstbegrenzung (V. 17) mit genuin vernakulärspra‐ chigen Modalitäten literarischer Produktion assoziiert. Und diese priorisieren, wie bereits angemerkt, um 1200 den amplifizierenden Zugriff auf das vorgängige Material. 39 Herbort setzt sich also durch seine rhetorisch geschickte Inszenierung als gelehrter Dichter implizit vom zeitgenössischen main stream höfischer Romandichtung ab, 40 indem er das Kunstvermögen ihrer Autoren aufgrund der vermeintlich fehlenden Expertise zur prägnanten Modellierung narrativer Sukzession und kausallogischer Stringenz als defizient und einem an den Ausdrucksformen gelehrter Latinität orientierten Erzählmodus insofern als hochgradig unterlegen behauptet: Herbort ist die höfisierende Bearbeitungstechnik altfranzösischer Quellen wohl bekannt gewesen, er hat sich ihr aber in wesentlichen Punkten absichtsvoll verschlossen. 41 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 93 <?page no="94"?> 42 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S. 188. 43 Vgl. Bauschke, adaptation courtoise (2005), S. 65-84; Bauschke, Erzählerische Selbstfindung (2012), S. 113-130. - Zum Phänomen grundlegend Huby, L’adaptation des Romans courtois en Allemagne (1968); Huby, Zur Definition der adaptation courtoise (1983), S. 301-322, sowie die Replik von Wolf, Die adaptation courtoise (1977), S.-257-283. 44 Zum Einfluss kleinerer lateinischer Troja-Texte auf Herborts Liet von Troye zuerst Worstbrock, Zur Tradition des Trojastoffes (1963), S. 248-274. Zu den abbreviierenden lateinischen Bearbeitungen des Troja-Stoffes, die gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstehen, vgl. Worstbrock, Translatio artium (1965), S.-1-22. 45 Bauschke (Diskursive Evaluation [2021], S. 192-202) liest das Liet von Troye konsequent vor der Folie der lateinischen Dichtungspraxis um 1200 und bezieht Herborts autoreflexive Aussagen und seine Erzählstrategie auf die unterschiedlichen abbreviierenden Versionen der lateinischen Troja-Tradition. Zitate: Ebd., S.-200 u. 188. 46 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-198. 47 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S. 202. Vgl. zusammenfassend Stohlmann (Hg.), Anonymi Historia Troyana Daretis Frigii (1968), S.-198. 48 Vgl. Fromm, Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer (1993), S. 244-278; Worstbrock, Zur Tradition des Trojastoffes (1963), S. 248-274. Eine Verbindung der Ylias des Simon Aurea Capra mit dem Roman de Troie Benoîts konstatiert Stohlmann (Hg.), Anonymi Historia Troyana Daretis Frigii (1968), S.-198. 49 Vgl. die Untersuchungsergebnisse von Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-202-204. 50 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-205. 51 Ebd. Verständlich wird der Habitus souveräner Selbstinszenierung vor dem Hintergrund der im Liet von Troye »bewusst vollzogenen Diskursmischung«. 42 Zwar aktualisiert Herbort vor allem in konzeptueller Hinsicht das Ideal der volkssprachigen adaptation courtoise, 43 sucht aber in formaler, rhetorisch-poetischer Hinsicht explizit Anschluss an die lateinische Dichtungstradition, insbesondere an die Troja-Dichtungen des 12. Jahrhunderts. 44 Dem‐ nach gründet sich Herborts »Novitätsanspruch«, wie Ricarda Bauschke jüngst gezeigt hat, auf eine aemulative Instrumentierung »konkurrierende[r] Erzählverfahren«. 45 Die »intensive Partizipation Herborts am gelehrten Trojadiskurs« 46 dokumentieren direkte Hinweise, sachliche Referenzen und intertextuelle Verweise, die auf die sog. Anonymi Historia Troyana Daretis Frigii »als eine maßgebliche lateinische Bezugsquelle« 47 für das Liet von Troye schließen lassen - neben der von der Forschung bisher hauptsächlich in Betracht gezogenen Ylias des Simon Aurea Capra. 48 Gerade die handschriftliche Überlieferung dieser beiden Texte, die regelmäßig zusammen mit weiteren zeitgenössischen, vorzugsweise kürzenden lateinischen Bearbeitungen des Troja-Komplexes kombiniert werden, spiegelt in klerikalen Kreisen verbreitete Rezeptionsgewohnheiten wider. Sie ist nachgewiesen am Pariser Pergament-Codex 8430 als eines exemplarischen Typus für die Tradierung kürzerer lateinischer Troja-Dichtungen des Mittelalters 49 - eine »gängige Praxis« gelehrter Lektüre, »an der auch Herbort teilhat.« 50 Sie ist ihm einerseits Richtschnur zur Distanzierung vom amplifizierenden höfischen Modell, andererseits selbst Medium eines aemulativen Agons: Für die gewählte Sprache und die Erwartungen, die er [sc. Herbort] mit dem Rückgriff auf Benoît erzeugt, gerät sein Trojaroman zu kurz; im Hinblick auf die lateinischen Troja-Entwürfe, die Herbort als rhetorisches Modell verwendet, amplifiziert er jedoch das Thema. 51 94 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="95"?> 52 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-206. 53 Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), S. 353. Zur Wagen-Metaphorik auch Kellner, Poetologie im Spannungsfeld (2006), bes. S.-239-242. 54 Die Deutungsschwierigkeiten der Forschung lagen vor allem in der Interpretation der von Herbort gegenüber dem Modell des vierrädrigen Wagens unvermittelt vollzogenen alternativen Positionie‐ rung: Zwischen den lesten sinnen zwein / Nim ich nv den dritten / Vnd folge im so mitten (V. 66-68). Vgl. zusammenfassend Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-200 mit Anm.-73. 55 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-205. 56 Diese These findet sich schon bei Baesecke, Herbort von Fritzlar (1908), S. 368: »66/ 67 möchte man, besonders auch wegen mitten 68 so deuten, dass der neue weg zwischen dem zweiten und dritten ligt, dass also Herbort die französische und die lateinische vorlage benutzt hätte.« Zitat nach Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S. 200 mit Anm. 73. Bauschke plädiert nachdrücklich für eine Rückkehr zu dieser Annahme. 57 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-200. Gegenüber beiden Modalitäten literarischer Produktion bleibe Herbort »stets ein Grenz‐ gänger«. 52 In seinem Erzählprogramm manifestiert sich der relationale Charakter der abbreviatio, die vor dem Hintergrund texttypen- und diskursspezifischer Kürze-Länge-Pos‐ tulate oszilliert. Folgt man diesem Perspektivenwechsel, für den Bauschke zurecht nachdrücklich plä‐ diert, und betrachtet die im Prolog getätigten poetologischen Aussagen vor dem Refe‐ renzhorizont der lateinischen Tradition abbreviierender Troja-Bearbeitungen (d. h. nicht primär von der altfranzösischen Vorlage Benoîts her), so wird auch die einigermaßen unkonventionelle Wendung des eigentlich toposhaften translatio-Modells an späterer Stelle des Prologs verständlich (V. 62-84). Herbort stilisiert seinen Trojaroman zwar zum vierten Rad am Wagen, das in den Spuren der griechischen, lateinischen und (alt-)französischen Versionen als »verschiedenen sprachlichen Stufen der Stoffvermittlung« 53 fahre: Des bin ich dar zv beschiben Daz ich si daz fierde rat (V.-76f.) Indem er aber zugleich den sinn[ ] (V. 66) seines Werkes als sprachliche Realisierung des in der Stoffgeschichte Vorgegebenen in der Mitte zwischen der lateinischen und altfranzösischen Version ansetzt (V. 65-68) 54 - also doch wieder vom ›klassischen‹ Bild des Wagens abweicht -, reklamiert Herbort den Prozess einer neuen Sinnstiftung im Akt dichterischer Formgestaltung für sich. Und diese orientiert sich eben gerade s o w o h l am volkssprachigen a l s a u c h am lateinischen Diskurs - und verquickt beide Paradigmen mit dem Ziel von »deren jeweilige[r] aemulatio«, 55 die die stoffliche wie formal-stilistische Ebene gleichermaßen im Blick hat. 56 Damit ist die spezifische Differenzqualität von Herborts Adaptation des Troja-Stoffes gegenüber der bisherigen Tradition markiert. Der programmatisch am Schluss des Prologs platzierte Hinweis, das buch (V. 94) von Troja nicht zu erweitern (So lenge ich ez mit willen niht, V. 97), erteilt der Erwartung an eine höfisch gefärbte dilatatio-Tendenz eine klare Absage. Bezogen auf die klerikale Trojatradition aber ist es der Versuch, eine insgesamt zu lang geratene deutsche Nachdichtung dennoch an die Reihe lateinischer Erzählungen von Troja anzuschließen. 57 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 95 <?page no="96"?> 58 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-90. 59 Zur Metapher vom Wagen (V. 75-87) und dem damit verbundenen Novationsanspruch Herborts vgl. Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), bes. S. 90-94; Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), bes. S. 354. Zu den Verfahrenskategorien deutscher Bearbeiter französischer Werke vgl. Backes, Überlegungen zu Selbstverständnis und Textkonzept (2005), S.-345-355. 60 Kiening, Freiräume (1992), S.-445. 61 Darin hat die Forschung eine »Chiffre« (Kellner, Poetologie im Spannungsfeld [2006], S. 244) für das Verfahren der abbreviatio, jedenfalls einen programmatischen Verzicht »auf eine amplifizierende Bearbeitungstechnik« erkannt. Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), S.-355. 62 Vgl. Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), S.-355f. 63 Untersucht von Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-141-152. 64 Vgl. zu diesem Aspekt die interdisziplinären Ansätze in Frick / Grütter (Hg.), abbreviatio (2021), v. a. mit Blick auf die mittelhochdeutsche Literatur Kropik, Kürzung und Zusammenfassung, S. 377-405; Linden, abbreviatio als Beschleunigung, S. 407-431; Selmayr, In der Kürze liegt die Würze, S. 433-461. Neben die Inszenierung einer »Kontinuität des Stoffes« 58 tritt also eine distanzierende Hal‐ tung, die Herborts ›Spurenwechsel‹ zwischen den Diskursen als Ausdruck eines poetischen Agons in der Metapher vom fünften Rad einfängt, das auf einer bisher unberührten Bahn fährt: So zele man mich zv dem funften rade […] Ich buwe doch die strazzen Die sie hant gelazzen Manigem rat ane bane (V.-83-87) Die poetologische Metapher von Weg und Wagen akzentuiert den Prozess des Wiederer‐ zählens als eine Form dichterischer Kompetenzbehauptung, die mit beiden Referenzgrößen (d. h. der volkssprachigen wie lateinischen Tradition) konkurriert. 59 Das mit dieser Vorstel‐ lung einhergehende Spannungsverhältnis von stofflicher Identität und formaler Differenz verweist auf den Spielraum der Möglichkeiten sprachlich-literarischer Arbeit am Text und damit auf die fundamentale Kategorie der Form, deren Funktion darin besteht, »Sinnhorizonte […] zu setzen und zu entfalten«. 60 Die Reflexion des Prologs mündet in der bereits zitierten Aussage zum gewählten Erzählmodus Herborts ein (V. 97). Die erklärte Absicht, die Vorlage nicht in die Länge zu ziehen, 61 äußert sich in einer produktions- und rezeptionsästhetischen Relationierung des Gestaltungsparameters (stofflicher) Kürzung mit der Kategorie (formaler) Kürze. Denn einerseits reduziert Herbort seinen Text um Elemente, die für die amplificatio bzw. dilatatio materiae charakteristisch sind (vor allem descriptiones, Kataloge und Dialoge); 62 andererseits thematisiert er das im Prolog angekündigte ›Programm‹ der abbreviatio ausdrücklich in zahlreichen Erzählerkommentaren und setzt es in formal-stilistischer Hinsicht durch prozessierte brevitas-Rhetorik dezidiert um. 63 Damit wird das rhetorisch-poetische Prinzip der abbreviatio als eine Kategorie der Narration im Bereich der mittelhochdeutschen Epik fassbar. 64 96 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="97"?> 65 Für den Spezialfall politischer Lyrik vgl. Worstbrock, Politische Sangsprüche Walthers (1989), S. 78: »Walthers politische Sangsprüche und die ihnen kontemporären lateinischen Gedichte gehören Sek‐ toren literarischer Kommunikation an, die, sprachlich, poetologisch, sozial voneinander geschieden, je für sich bestehen und sich nicht überschneiden.« 66 Mit einem Fokus auf Phänomene deutsch-lateinischen Sprachtransfers im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. Frick, Rekursive Sprachlogiken (2024). - Der Ansatz wird anhand des Spezial‐ feldes politischer Lyrik erprobt von Pachurka, Walther und der lateinische Dichter Heinrich von Avranches (2020), S. 333-351. Siehe in diesem Zusammenhang auch Knapp, Walthers Leich (2020), S.-43-56; März, Walthers Leich (1996), S.-43-56. 67 Die Frage nach den Gönnern und Rezipienten des Liet von Troye adressiert Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-11-27. 68 Zu den um 1200 gängigen Verfahren der adaptation courtoise siehe Kap.-2, Anm. 43. 69 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-188. 70 Die poetischen Verfahren der abbreviatio in den lateinischen Troja-Bearbeitungen des 12. Jahrhun‐ derts bespricht Henkel, Reduktion (2017), bes. S.-32-38. 71 »Vermutlich aber ist das stilistische Gewand der brevitas, in welches Herbort seinen Trojaroman kleidet, ein Mittel, um den amplifikatorischen Umgang mit der klerikalen Tradition zu verhüllen. Die abbreviatorische Rhetorik kaschiert die inhaltliche Längung.« Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-205. 2.1.2 brevitas-Topik und abbreviatio. Zum narratologischen Potential eines rhetorisch-poetischen Prinzips Die im Prolog des Liet von Troye vorgenommene Positionierung dokumentiert die Teilhabe Herborts von Fritzlar an »Sektoren literarischer Kommunikation«, die die Forschung bisher traditionellerweise als idiomatisch getrennte Felder zu denken geneigt war. 65 Jüngere An‐ sätze fordern hingegen eine stärkere Berücksichtigung der gattungs- und diskursgeschicht‐ lichen Interferenzen zwischen der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen deutschen Literatur und der zeitgenössischen Latinität, um die grundsätzliche Mehrdimensionalität der literarischen Austauschbeziehungen differenzierter zu erfassen. 66 Herbort von Fritzlar repräsentiert einen solchen Autor, der sich souverän zwischen beiden Sphären bewegt und die unterschiedlichen Verweissysteme produktiv zusammendenkt sowie aufeinander bezieht. Sein Sonderweg gegenüber beiden Diskurstraditionen resultiert einerseits aus der Notwendigkeit, das höfische Modell der Adaptation - im Hinblick auf die Auftraggeber und diesen anzunehmend nahestehende Rezipienten 67 - durch Verfahren zu realisieren, die in der volkssprachigen Literaturproduktion als etablierter Usus gelten können, z. B. die Akkommodation des antiken Stoffes an zeitgenössische lebensweltliche Vorstellungen (Stichwort: Mediävalisierung). 68 Andererseits lässt sich Herborts Sonderweg aus dem Impetus heraus erklären, auf seinem Status als gelehrter Literat zu insistieren, der sich an der lateinischen Troja-Dichtung orientiert. Mit dem Liet von Troye entsteht so ein »hybrider Text«, 69 der gegenüber den ›Standardverfahren‹ romanhaften höfischen Erzäh‐ lens ein anderes Profil literarischer Gestaltung in der Volkssprache präsentiert: das in der Latinität vielfach geübte und innerhalb des Troja-Diskurses verbreitete Verfahren der Reduktion. 70 Es wird im Sinne einer spezifischen Adaptationspraxis auf der Ebene der Textpoetik immer wieder explizit gemacht. Die Funktion der prozessierten brevitas- und abbreviatio-Signale lässt sich damit partiell auf ein Bemühen zurückführen, die - aus der Gelehrtenperspektive der Latinität betrachtet - evidente »inhaltliche Längung« des Troja-Stoffes zu ›kaschieren‹. 71 In der Evokation ›gefühlter‹ Kürze geht sie jedoch nicht 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 97 <?page no="98"?> 72 Vgl. Schmid, Ein Trojanischer Krieg gegen die Langeweile (1997), S. 209f. In ähnlicher Tendenz auch Schmid, Benoît de Sainte-Maure und Herbort von Fritslar (1998), S.-175-184. 73 Folgende Textstellen beinhalten Verweise (wie Kürze-Topoi u. ä.) auf das dem Liet von Troye zugrundeliegende Konzept der Kürzung: V. 1-6; 94-98; 146-168; 2717-2727; 2960-2966; 3487-3494; 3565-3571; 4076-4083; 4750-4757; 6687-6694; 7660-7667; 8569-8574; 10792-10800; 10815-10823; 12723-12734. 74 Zur Phänomenologie des Exkurses Linden, Exkurse (2017), S.-2-74. 75 Vgl. Schmid, Benoît de Sainte-Maure und Herbort von Fritslar (1995), S. 175-184; Schmid, Ein Trojanischer Krieg gegen die Langeweile (1997), bes. S.-209f. 76 Schmid, Benoît de Sainte-Maure und Herbort von Fritslar (1995), S.-175. 77 Vgl. Hahn, Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar Liet von Troye (1996), S.-102-122. 78 Zu den unterschiedlichen Ausprägungen der epischen ›Bauform‹ des Kampfes vgl. Reitz / Finkmann (Hg.), Structures of epic poetry (2019), Vol. II.1, Part I: Battle scenes (bes. Reitz / Finkmann, Battle scenes in ancient epic, S. 3-11; Littlewood, Single combat, S. 77-109; Telg genannt Kortmann, Mass combat, S.-111-158; Nill, Chain-combats, S.-159-205). auf. Auch nicht in der Annahme eines Anerzählens »gegen die Langeweile« 72 - des Autors bei der Komposition des Textes, der Rezipienten bei der Lektüre. Es fällt auf, dass sich die Verweise auf die abbreviatio-basierte Poetik des Textes schwer‐ punktmäßig in der ersten Hälfte des Liet von Troye finden und hier, wie eine Durchsicht der Stellen dokumentiert, 73 vor allem im Zusammenhang von exkursorischen Elementen der Narration oder deskriptiven Passagen inseriert sind. 74 Das ist insofern bemerkenswert, als die tatsächliche Kürzung des Prätextes, Benoîts Roman de Troie - wie Elisabeth Schmid gezeigt hat -, vor allem in der zweiten Hälfte von Herborts Trojaroman zu Buche schlägt. 75 Auch wenn sich Herbort im Wesentlichen »strikt an den Handlungsverlauf der Vorlage [hält]«, 76 sind es gerade die Kampfschilderungen, die er systematisch kondensiert. So wird eine Sukzession der Handlung als Ereignisfolge von Schlag und Gegenschlag modelliert, die die temporale Dynamik des Kampfes als Inbegriff perpetuierter unkontrollierbarer Ag‐ gression ins Zentrum rückt. 77 Jedoch nur wenige brevitas-Topoi lassen sich für das epische ›Strukturprinzip‹ der Kampfszenen in Herborts Text nachweisen. 78 Dies ist zum einen der Kampf des Trojaners Troylus, der mehr als einhundert Griechen zu Boden zwingt. Hier erscheint ein Kürze-Signal als Hinweis auf die nicht ausgeführte Aufzählung der Gefallenen (Ich mvz vch kvrtzlichen sagen, V. 12730), in der sich der iterative und temporeiche Charakter des Schlagabtauschs verdichtet und in einer zahlenbasierten Steigerungsfigur (von zwei auf über hundert) artikuliert: Troylus reit vnder in Bi zwein vnd bi drin Sluc er die crichen dar nider Vn reit her wider Vn sluc ir da viere Daz getet er nie so schiere Er hette den funften erslagen Ich mvz vch kvrtzlichen sagen Do sluc er alvmbe Die rechte vn die crumbe Daz ir me dan hundert was 98 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="99"?> 79 von Contzen, Namen auf einer Liste (2020), S.-314. 80 »Die Form der Liste birgt also bereits den Widerspruch in sich, potenziell endlich und unendlich sein zu können.« von Contzen, Namen auf einer Liste (2020), S. 315. Zur epischen Tradition und Struktur des ›Aufzählens‹ vgl. Reitz, Das Unendliche beginnen (2017), S.-105-118. Die er falte vf daz gras (V.-12723-12734) Kampfschilderungen solchen und ähnlichen Zuschnitts bieten grundsätzlich die Möglich‐ keit, die Frequenz der einzelnen Geschehensabläufe durch gezielte Komprimierung zu forcieren und diese im Indizieren ihrer potentiell unbegrenzten Prozessualisierung einer narrativen Finalität im Rahmen der einzelnen Ereigniskette zuzuführen. Ähnlich versieht Herbort an anderer Stelle den stereotypen Ablauf und die Geschwindigkeit der Kampfak‐ tionen (hier: des Pystropus) mit einem Unsagbarkeits-Topos: So war er zv hant anderswa Als man im gewarte da So was er her wider Als er mit gefidere Dar geflogen were Waz mag ich sagen mere Wen daz man manigen da vant Vurlorn von sin eines hant (V.-7709-7716) Das Signal für den Abbruch der Rede verweist in diesem Kontext auf die »Problematik des Endes« 79 innerhalb von listenartigen, eine scheinbar beliebige Fortsetzung suggerierenden Erzählelementen, deren vollständigen Abschluss es zugleich markiert. 80 Doch scheint diese Funktion signifikanterweise gerade nicht den Kern der im Liet von Troye mit den Kürze-Topoi angezielten Effekte zu treffen. Denn die Kürze-Topik dient Herbort nicht dazu, die erzählerische abbreviatio des Kampfgeschehens im Sinne einer konsequent rezipientenorientierten Verfahrensweise erkenntlich zu machen. Der in weiten Teilen stereotyp organisierte episch-heroische Agon bot offenbar - jenseits des bloßen Anzeigens quantitativer Reduktion und narrativer velocitas durch rhetorische Kürze - keine adäquate Möglichkeit, die ›Aussageform‹ Kampf im Hinblick auf Qualitäten narrativer Sinnbildung auszuloten. Genau dieser Aspekt ist es aber, der sich als zentrales Momentum und substantieller Impetus der brevitas-Topoi im Liet von Troye erweist: Die Tatsache, dass, abgesehen von den wenigen genannten Beispielen, keine einzige Kampfschilderung einen solchen Topos enthält (obwohl Herbort diese Passagen nachweislich kürzt), lässt eine historisch spezifische poetologische Funktionalisierung dieser Topoi erkennen. Indem sie vor allem Erzählelementen und poetischen Strukturen gelten, in denen sich ein genuin höfisches Symbolsystem entfaltet (z. B. Exkurse, digressiones, descriptiones), das nicht eines des Kampfes, sondern der materiellen wie äußerlichen Prachtentfaltung und moralischen Normsetzung ist, werden die Kürze-Signale als subtile Indikatoren zur Profilierung eines alternativen, am Troja-Diskurs der zeitgenössischen Latinität geschulten Redegestus lesbar. Sie stellen die tendentielle Abundanz der ›konventionellen‹ höfisch-romanhaften Erzähloptionen insofern aus, als sie deren typische Elemente bewusst und für die Rezipienten ganz unmissverständlich wahrnehmbar dispensieren. 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 99 <?page no="100"?> 81 Linden, Exkurse (2017), S.-74. 82 Dieser Aspekt betrifft insbesondere die Reflexion der Minnethematik als anthropologischer Grund‐ konstante im Hinblick auf gesellschaftlich-politische oder auch ethisch-moralische Problemkonstel‐ lationen. Dazu am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg Tristan Linden, Exkurse (2017), S. 206-245, sowie zusammenfassend ebd., S.-266-275. 83 »Der Exkurs ist somit ein spezifischer Modus des Sprechens oder vielmehr eine literarische Schreibweise, die bestimmten Mustern und Regeln gehorcht und im Ineinander von lehrhaftem und unterhaltendem Sprechen eine eigene Ästhetik entfaltet.« Linden, Exkurse (2017), S.-105. 84 Linden, Exkurse (2017), S.-66. 85 Linden, Exkurse (2017), S.-74. 86 Linden, Exkurse (2017), S.-32. 87 Linden, Exkurse (2017), S.-533. 88 Vgl. exemplarisch Hartmanns gegenüber dem Roman Chrétiens deutlich ausgeweitete Beschreibung von Enites Sattel im Erec. Dazu Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S.-1-30. - Zur Zugehörigkeit des exkursorischen Sprechens zu den poetologischen Prinzipien der dilatatio bzw. amplificatio vgl. Linden, Exkurse (2017), S.-5-10. 89 Zum Verfahren literarischer descriptio am Beispiel von Heinrichs von Veldeke Eneasroman Masse, Verhüllungen und Enthüllungen (2006), S. 267-289; Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007), S.-308-315; Hoder, Kanonische Adaptation (2019), S.-83-116. Insbesondere die Aussageform des Exkurses ist von diesem Gestus betroffen. Sie lässt sich als ein spezifisches »reflexives Register« 81 innerhalb der Narration beschreiben. Sandra Linden hat die Funktionsweisen dieses literarischen Darstellungsmusters in Bezug auf eine Narratologie des mittelhochdeutschen höfischen Romans untersucht und den Exkurs als Reflexionsraum konturiert, der Gestaltungsspielräume im Umgang mit vorgängigen Erzählstoffen offen hält. 82 Der Stellenwert des Exkurses bzw. in historischer Terminologie: der digressio, liegt in der Optionalität, gegenüber der Vorlage abweichende Modelle der Sinnbildung in den Text einzuziehen. Der Exkurs als »literarische Schreibweise« 83 ermöglicht damit eine »generische Transgression des Erzählens«, 84 über die sich im reflexiven Modus produktive Deutungspotentiale etablieren lassen. Solche »Intensivie‐ rungsmomente« 85 innerhalb der Narration werden von den volkssprachigen Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts regelmäßig genutzt und bilden »probable Möglichkeiten für den Wiedererzähler, eigene Schwerpunkte in die Narration einzuziehen, bestimmte Elemente besonders zu betonen und Bedeutungsverschiebungen gegenüber der Vorlage zu setzen«. 86 Exkurse sind damit als bedeutungsgenerierende Formen zu verstehen, die die Narration zum Diskursiven hin überschreiten können, indem sie in einem reflexiven Zugriff auf die erzählten Inhalte die »spezifische Erkenntnisqualität einer literarischen Bearbeitung aus[ ]loten«, 87 damit eine Differenz des je aktuell Erzählten gegenüber etwaigen Bezugs- und Prätexten einziehen und einen Inszenierungsraum für die Erzählerfigur bieten. Als regelhaftes Verfahren der dilatatio repräsentiert der Exkurs eine spezifisch literari‐ sche Aussageform, die gerade im Bereich der adaptation courtoise besonders kultiviert wird. 88 Dazu zählt, als historischer Phänotyp des Exkurses, die poetologische Technik der digressio als Mittel des ›Heraustretens‹ aus der narrativen Ordnung sowie, als dessen Subtyp im engeren Sinne die descriptio, die einen Kosmos en miniature generiert, sei es im Hinblick auf materielle Kultur, sei es hinsichtlich der Aktualisierung topischer Muster und Motive. 89 100 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="101"?> 90 Die Exkurstechnik beinhaltet nach Linden (Exkurse [2017]) die Möglichkeit bewusster Rezeptions‐ steuerung im Modus lehrhaften Sprechens (ebd., S. 75-89) sowie spezifisch historische »Stilmerkmale und Argumentationsmuster« (ebd., S. 89), die sich auf dem Feld der Topik und der »markierte[n] Intertextualität« (ebd., S.-101) beobachten lassen. 91 Diese Elemente werden in den mittellateinischen Poetiken als integrale Komponenten der dila‐ tatio-Technik genannt (interpretatio, periphrase, comparatio, apostropha, prosopopoeia, digressio, descriptio). Vgl. die Übersicht bei Faral, Les Arts poétiques (1982), S. 61-84. Siehe dazu auch Kap. 1.3.2. 92 Vgl. die Angaben zu ›Epistrophus‹ und den Varianten in den deutschsprachigen Texten in Kern-/ Ebenbauer / Krämer-Seifert (Hg.), Lexikon der antiken Gestalten (2003), S.-240. Und es sind just diese Elemente, in denen sich die literarisch-poetische Könnerschaft der volkssprachigen Autoren artikuliert, 90 die Herbort bevorzugt mit brevitas-Signalen versieht. Die Kürze-Topik setzt also weniger am eigentlichen Stoffsubstrat an als an poetischen Gestaltungsmitteln, die die vorgängige materia dilatierend auf eine spezifische Sinngebung hin orientieren: digressiones und descriptiones unterschiedlicher Form (z. B. didaktische Reflexionen, Beschreibungen äußerer Schönheit, innerer Werte, der Ausrüstung, auch im Rahmen von Katalogen). 91 Der Bezugshorizont der brevitas-Signale, der auch ihre je nach Kontext differierende Funktion determiniert, bewegt sich dabei sowohl auf der Handlungsals auch auf der Figurenebene. Im Folgenden soll die im Liet von Troye zu beobachtende brevitas-Topik in ihrer Verschränkung mit dem poetischen Prinzip der abbreviatio exemplarisch analysiert und auf ihr Potential als poetologisch grundierte narratologische Funktionskategorie hin befragt werden. digressiones bzw. Exkurse Während Hector und Paris auf dem Schlachtfeld in Bedrängnis geraten (V. 7629-7656), erreicht diese Kunde König Pystropus (Epistrophus) aus Lyrnessus, 92 der den beiden Trojanern zu Hilfe eilt. Bevor sein Erscheinen auf dem Kampfplatz geschildert wird, wechselt die Narration in den digressiven Modus, der die liste (V. 7662) des Königs als allgemein praktizierte Handlungsnormen und moralische Maßstäbe fokussiert - freilich mit Verweis auf die Kürze der Ausführungen: Kvrtzlichen ich lere Wie die kvnste weren An einer leret man buchstaben Die ander ist erhaben Als ich vch wil innen Zv den scharfen sinnen Die dritte zv der werlde zirde Zv dem sange die vierde Die funfe leret mezzen wol Die seste wie man zelen sol Die sibende leret die list Waz wunders an dem gestirne ist (V.-7665-7676) Diese sieben Fertigkeiten (kvnste) werden am Beispiel des Pystropus als anthropologische Grundkonstanten eingeführt; erst dann lenkt die Erzählung den Blick auf die Figur selbst: 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 101 <?page no="102"?> 93 Linden, Exkurse (2017), S.-75. 94 Zu den poetologischen Aussagen des Prologs siehe Kap.-2.1.1. 95 Zum Register als »funktionsspezifische[r] Sprechweise[ ]« am Beispiel der mittelhochdeutschen Bibelepik vgl. Köbele, Registerwechsel (2017), bes. S.-174. 96 Zum ›Truppenkatalog‹ als epischer Bauform vgl. Reitz / Scheidegger Lämmle / Wesselmann, Epic catalogues (2019), S.-653-725. Der dise liste kvnde Zv der selben stunde Quam von troyge zv gerant Pystropus was er genant (V.-7677-7680) Der Wechsel von der narrativen auf die diskursive Ebene speist abstrakte Vorstellungen von allgemeingültiger lebensweltlicher Relevanz in die Erzählung ein und evoziert so ein gewisses »Lehrpotential« 93 im Sinne einer von Erzähler und Rezipienten geteilten allgemeinen Norm: Die selben liste Die man do konde in der zit Der man do phlac vnd noch phlit (V.-7662-7664) Durch die einleitende Formel (Kvrtzlichen ich lere, V. 7665) und den prononcierten Wechsel zurück zur Narration (Der dise liste kvnde, V. 7677) bekommt der Exkurs einen vom erzählten Handlungsablauf (dem Kampf des Hector und Paris) deutlich abgegrenzten Rahmen. Dessen ›Inneres‹ ist auf eine aufzählungsartige Form komprimiert, die überdies kaum diskursiv entfaltet wird. So erscheint der an initialer Position innerhalb der digressio herausgehobene Kürze-Topos fast schon als Signal für gattungstypisch erwartbare narra‐ tive Weitläufigkeiten, die Herbort durch eine lakonische Struktur zu meiden sucht. Damit liegt der Akzent auf einer poetologischen Ebene, die die rhetorische Verfasstheit, genauer: die Textur (d. h. die formale brevitas der Aufzählung), und den Erzählmodus des Textes (abbreviatio) gleichermaßen tangiert. Wie sich Herbort hinsichtlich der Realisierungsmöglichkeiten des vorgegebenen Stoffes an den zeitgenössisch etablierten Modalitäten von Ausweitung und Kürzung ausrichtet und letztere als Erzählmodus favorisiert, 94 so scheint auch sein Umgang mit dem poetischen Strukturprinzip der digressio als einer Verfahrensweise der dilatatio von dieser Grundent‐ scheidung her determiniert. Das ›Abweichen‹ von der Prozessualität des Erzählens wird, wie im obigen Beispiel gezeigt, in der Regel explizit als solches thematisiert und dadurch als ein von der Narration abgehobener ›Registerwechsel‹ gekennzeichnet. 95 So verfährt Herbort mit der Heerschau der trojanischen Verbündeten, die in epischer Manier die in den Krieg ziehenden Könige, deren Herkunft und die Stärke ihrer Truppen exponiert (V. 3973-4088). 96 Der Erzähler rechtfertigt zunächst den Eingriff in die Erzählordnung mit dem Verweis auf den Informationsgehalt der Ausführung, die ein ›historisches‹ Hintergrundwissen zum Trojanischen Krieg bereithält: E ich spreche vurbaz So sult ir rechte merken daz Daz ich vch leren 102 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="103"?> 97 Vgl. Eufemes ein kvne helt / Mit tusent rittern vz erwelt / […] / Man saget daz ir ritterschaft / Were harte nvtze (V. 3997-4002); Ouch was her remus da / Der kvnic von sytenenia / Sine gesellen waren wol gezogen / Siben grafen vier herzogen (V. 4005-4008); Ouch was zv troyge / Der kvnic von pafagoye / Phi‐ lemenis genant / […] / Die wappen an sime schillde / Waren gegraben bilde / Von edelme gesteine / Die man in den wazzern reine / Bi dem paradise vant (V. 4035-4047); Da was von therasche theseus / Vnd sin svn archilogus / Priamis mage / An warte vnd an lage / Beidesamit vil wis / Sie hetten ouch zv strite pris (V.-4063-4068). Wer die zv troyge weren Mit irme harnasche vf die gewer Gegen den crichischem her Von sicilien pyndarus Arpon vnd adrastus Zv gewere da sazzen […] (V.-3973-3981) Auch die Wiederaufnahme des cursus der Geschichte wird explizit gemacht: Die der digressio nachgereihten Verse (Daz ich ir [sc. der Trojaner] hie gesaget han / Die wurden ectori vndertan, V. 4089f.) stecken den Rahmen ab, in welchem sich das exkursorische Erzählarrangement bewegt. Dieses bietet in der Tat zunächst den Eindruck einer klas‐ sischen Heerschau (mit den Bundesgenossen des Hector: Pyndarus, Arpon, Adrastus, Glaucon, Sarpedon, Eufemes, Remus, Centipus, Philemenis, Theseus u. a. m., V. 3979-4078). Allerdings bricht der Erzähler die diskursive Passage ab und präsentiert ein alternatives, rhetorisch instruiertes Modell, das die einzelnen Elemente des epischen Katalogs auf allgemeine Prinzipien der Bündnishilfe verdichtet: Daz ich die rede kvrze Die herren waren alle da Baz danne hie geschrieben sta Iegelicher durch daz rechte Etlicher durch sin geslechte Ettelicher durch frutschaft (sic! ) Etlicher durch ritterschaft Etlicher durch minne Waren sie zv troyge inne (V.-4080-4088) Die topischen Elemente der Heerschau werden mit fünf Abstrakta assoziiert, die als Argu‐ ment für den Kriegseintritt der verschiedenen Parteien dienen: die (Bündnis-)Verpflichtung (rechte), die vornehme Herkunft (geslechte), Verwandtschaftsverhältnisse (frutschaft), die Aussicht auf ritterliche Bewährung (ritterschaft) sowie persönliche Verbundenheit (minne) - allesamt Attribute, die die im voraufgehenden Katalog fokussierte Standeszugehörigkeit, Bewaffnung, Truppenstärke und individuelle Qualität der Krieger an prototypische Motive zurückbinden. 97 Die formal parallel gestaltete, asyndetisch gereihte enumeratio, die den Katalog - jenseits einer namensbasierten Auflistung - auf grundlegende anthropologische Werthorizonte kondensiert, ist selbst dem Stilprinzip der brevitas verpflichtet. Die geradezu lapidar anmutende ›Zusammenfassung‹ (Die herren waren alle da, V. 4081), die das Ende der digressio anzeigt, lenkt den Blick auf das ›Wesentliche‹: die Anwesenheit der Könige und ihrer Truppen am Ort des Geschehens, die nicht einem absoluten Movens unterliegt, 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 103 <?page no="104"?> 98 Für die lateinische Literatur der Frühen Neuzeit exemplarisch Grütter, Johann Spangenbergs Epitome (2021), bes. S.-295f. 99 Zur diskursiven Interferenz von historischer ›Wahrheit‹ und poetischer Darstellung, die Herbort u. a. in Quellenberufungen ausstellt, vgl. Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), bes. S.-164-173. 100 Linden, Exkurse (2017), S.-4. 101 Faral, Les Arts poétiques (1982), S. 76. - Zu den ›Funktionen und Zielen‹ des Exkurses in der deutschsprachigen Romanpoetik Linden, Exkurse (2017), S.-25-75. 102 Zu den lateinischen Dichtungslehren des Mittelalters siehe oben, Kap.-1.3.2. sondern neben der für jeden geltenden Bündnispflicht (Ieglicher durch daz rechte, V. 4083) nach unterschiedlichen Seiten hin ausdifferenzierte (genealogische, militärische, freundschaftliche) Konstanten erfasst (Etlicher […] / Ettelicher, V.-4084f.). Dabei vermag die Erzählung die erzählte Geschichte nicht adäquat abzubilden. Auf die Insuffizienz vieler Worte angesichts wiederholbarer narrativer Strukturen deutet der Kürze-Topos implizit hin (nach dem Muster lateinischer Abbruchsformeln: Quid plura? ). 98 Dieser Aspekt wird zugleich direkt adressiert: Die herren waren alle da / Baz danne hie geschriben sta (V. 4081f.). Angesichts der hier indizierten ›historischen‹ Wahrheit werden lange Ausführungen als verzichtbar semantisiert, ändern sie doch nichts am ›Tatsachenbe‐ fund‹ selbst noch können sie je die Fülle an stofflichen Details angemessen reproduzieren. 99 Damit ist die digressio, deren Kernanliegen genau darin besteht, ebendiese Dimension diskursiv erfahrbar werden zu lassen, literarische Zusammenhänge zu generieren und das Erzählte reflexiv zu verhandeln, als ein die narrative Darstellung komplettierendes Verfahren sowohl in seinem poetologischen Status als auch in seinem Stellenwert als Funktionskategorie für die erzähle Welt herabgesetzt. Der brevitas-Topos markiert das »Herausgehen [di-gredere] aus der regulären Ordnung« 100 als problematisch. Schon die mittellateinischen Artes poetriae der Zeit empfehlen eine Form der digressio, die Maß und Ziel kennt, d. h. funktional gehandhabt ist für die Vermittlung von Sachwissen, die Affizierung der Rezipienten oder die Plausibilisierung der Handlung. [L]a description […] c’est la fonction essentielle […]. En apparance, l’idée est accessoire; elle est, en fait, d’importance considérable: elle explique que, dans toute la littérature du moyen âge, la description ne vise que très rarement à peindre objectivement les personnes et les choses et qu’elle soit toujours dominée par une intention affective qui oscille entre la louange et la critique. 101 Allzu ausufernde ›Umwege‹ hingegen seien der erzählerischen Sukzession abträglich; so bringt es das bekannte Dictum aus Galfreds von Vinsauf Poetria nova auf den Punkt: Si velit ulterius tractatus linea tendi, Materiae fines exi paulumque recede Et diverte stylum; sed nec divertere longe Unde gravet revocare gradum: modus iste modesto Indiget ingenio, ne sit via longior aequo. (Galfred, Poetria nova, V.-527-531) 102 Wenn man möchte, dass sich der Lauf der Abhandlung weiter ausdehnt, so gehe aus den Grenzen des Stoffes heraus, trete ein wenig zurück und wende den Griffel ab (d. h. der entgegengesetzten Richtung zu); aber weiche nicht weit dorthin ab, von wo es schwer wird, den Weg zurück zu finden: 104 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="105"?> 103 Linden, Exkurse (2017), S.-111. 104 Zur Diskussion der descriptio in den mittellateinischen Artes poetriae, insbes. hinsichtlich der not‐ wendigen Rücksicht auf die unterschiedlichen proprietates (proprietas conditionis, aetatis, proprietas officialis, sexus naturalis, locus naturalis), vgl. die mit exemplarischen descriptiones unterfütterten Angaben in der Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme (I,38-58). Auch Galfreds Poetria nova bietet ausführliche Hinweise für die Handhabe der descriptio, v. a. in Bezug auf weibliche Schönheit (V.-554-667). Für einen Überblick siehe Faral, Les Arts poétiques (1982 [1924]). 105 Zur descriptio-Technik im Eneasroman vgl. Kap. 2, Anm. 89. - Zu Heinrichs von Veldeke Umgang mit Kürze-Topoi gerade im Kontext der Beschreibung Karthagos vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), S.-355-363. 106 Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007), S.-312. 107 Benz, Kartâgô (2015), S.-158. 108 Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007), S. 313. Vgl. zu diesem Aspekt der descriptio auch Masse, Verhüllungen und Enthüllungen (2006), S.-267-289. 109 Zum Postulat einer Rezeptionsorientierung vgl. Hübner, evidentia (2010), S.-119-147. Diese Art (sc. der dilatatio) bedarf der Fähigkeit des Maßhaltens, damit der Weg eine angemessene Länge nicht überschreitet. Herborts Umgang mit dem Modus des exkursorischen Sprechens kontrastiert also mit der in der deutschsprachigen Romanproduktion der Zeit zu beobachtenden »literarischen Mode«, 103 die Exkurse regelrecht kultiviert und zu einem eigenständigen Element narrativer Sinnbildung ausbaut. Im Liet von Troye scheinen Exkurse und digressiones ihrerseits vielmehr auf einer poetologischen Ebene zum Gegenstand der Reflexion zu werden: einer Reflexion, die nicht primär auf die Sinndimension des Erzählten zielt, sondern auf die als vorbildlich propagierte Erzählf o r m. Und dass diese eine der Kürze ist, die narrative Präzision durch ein Zusammenspiel quantitativer abbreviatio und stilistischer brevitas modelliert, erweist sich als performativ realisiertes rhetorisch-poetisches Prinzip von Herborts Trojaroman. Beschreibungen Dieses Prinzip tangiert auch andere Formen exkursorischen Sprechens wie die descriptio als ein poetisches Verfahren und ›Spielart‹ der digressio. In der Dichtungspraxis der Zeit um 1200 dient die descriptio (insbesondere der äußeren Gestalt von Figuren oder auch Gegenständen) klassischerweise dazu, topische Argumente im Sinne der inventio-Lehre zu präsentieren und diese im Hinblick auf die erzählte Handlung funktional auf die jeweilige proprietas des Beschriebenen hin auszurichten. 104 So lässt beispielsweise Heinrich von Veldeke im Eneasroman die descriptio Karthagos als idealer Stadt geradezu metonymisch im Idealbild der Herrscherin Dido aufgehen. 105 Die Funktion dieser »Engführung von Stadt und Figur« 106 liegt nicht so sehr darin, »eine detaillierte Imagination des Stadtraums zu evozieren«, 107 als in der descriptio Karthagos die Qualitäten von Dido als Herrscherin aufscheinen zu lassen, um die Wehrhaftigkeit der Stadt als Sinnbild und zentrales »Wesens‐ merkmal Didos zur Erscheinung« zu bringen. 108 Aufgrund der Möglichkeit, Qualitäten der vorliegenden Erzählung zu modellieren und der evidentia des Erzählten zuzuarbeiten, 109 repräsentiert die descriptio dasjenige Element, das für eine entsprechende amplificatio bzw. dilatatio materiae nicht nur in den poetologischen Handbüchern der Zeit von Interesse 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 105 <?page no="106"?> 110 Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S.-11. 111 Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S.-27. 112 Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S.-25. 113 Zur redaktionellen Modellierung dieser Passage in den Skokloster-Fragmenten siehe unten, Kap.-2.1.3. 114 Zur Erzählordnung im Liet von Troye Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S. 154-160. Zu Herborts Exkurstechnik auch Linden, Exkurse (2017), S.-513-515. 115 Das Konzept des ›Vor-Augen-Stellens‹ mit seinen rhetorischen Implikationen reflektiert Campe, Vor Augen Stellen (2015), S. 106-136. Vgl. in historischer Perspektive Wenzel (Hg.), Verfahren der Veranschaulichung und Verlebendigung (2021). ist, sondern auch in der volkssprachigen Dichtungspraxis als einer »historisch typischen Poetik der Bearbeitung« 110 besonders intensiv genutzt worden ist. Franz Josef Worstbrock hat im Zusammenhang mit Hartmanns Handhabung der descriptio nachdrücklich die eminente Bedeutung der dilatatio-Technik für volkssprachige Autoren illustriert. Das »Prinzip der Dilatatio materiae« eröffne einen trotz der »Quellen‐ gebundenheit extensiven Freiheitsraum« 111 zur poetischen Gestaltung und Akzentuierung vorgängiger Stoffe wie auch zur künstlerischen (Selbst-)Profilierung. Weil es in eine Sinnbeziehung zum Text selbst und der erzählten Handlung tritt, verleiht es den um 1200 entstehenden deutschsprachigen Romanen ein »eigenes literarästhetisches Gewicht« gegenüber den altfranzösischen Vorlagen. 112 Es ist bezeichnend, dass sich Herbort gerade von dieser Option, mittels der descriptio Momente narrativer Zeichenhaftigkeit, aber auch paradigmatischer Verknüpfung zu setzen, ganz gezielt distanziert. Exemplarisch lässt sich der Umgang mit der poetischen descriptio-Technik im Liet von Troye anhand der Beschreibung der Briseida studieren (V. 8459-8490; 8555-8574). Die descriptio ist mit der Handlung so verschaltet, dass sie Briseidas Auszug aus Troja und ihre Ankunft im Lager der Griechen ineinander übergehen lässt. 113 Dabei sind der Abschied von ihrem Mann Troylus und das Zusammentreffen mit dem Griechen Diomedes, der sich auf den ersten Blick in Briseida verliebt, im Hinblick auf den tektonischen Aufbau der Passage auffällig parallelisiert und durch die Beschreibung von Briseidas Schönheit als komplementäre Facetten des topischen Frauenpreises angelegt. Narrative und diskursive Elemente sind also miteinander verschränkt, wobei Herbort stets die Grenzen des jeweiligen Registers durch Erzählerkommentare reflektiert. 114 Nach der innigen Umarmung von Briseida und Troylus lässt dieser seine Frau aufsitzen und ermuntert sie, den für sie von ihrem Vater bestimmten Weg zu gehen (V. 8453f.) - eine Gelegenheit für den Erzähler, den Blick im diskursiven Modus auf die davonreitende Gestalt der Briseida zu lenken und sie den Rezipienten gleichsam bildlich vor Augen zu stellen. 115 Ausgehend von ihrem Gewand (Von golde vnd von gesteine, V. 8457) fokussiert die Beschreibung die Farbe ihres Antlitzes, der - so strahlend wie die der Kleider - nichts gleichkomme (V. 8458-8463). Eine äußere Vollkommenheit und Harmonie der Erscheinung, die allein schon, so kommentiert der Erzähler, die zuvor noch als schmerzlich beschriebene Trennung von ihrem Mann Troylus zu kompensieren vermag: 106 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="107"?> 116 Gerok-Reiter, Mythos und Ästhetik (2021), S.-295. 117 Ebd. - Vgl. zum höfischen ›Programm‹ Bumke, Höfische Körper (1999), S. 67-102, sowie immer noch einschlägig Bumke, Höfische Kultur ( 12 2008). 118 Dass die kommunikative Struktur der Fragerhetorik als integrale Komponente eines abbreviatio-ba‐ sierten Textbearbeitungsverfahrens mit explizitem Rezipientenbezug zu sehen ist, zeigt am Beispiel der Ilias Latina Reitz, Verkürzen und Erweitern (2007), bes. S.-347. 119 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-194. Ir wart durch ir schone Zv minnen vnd zv lone Vil dicke gegeben Suzzer wuns vnd suzze leben (V.-8465-8468) Was folgt, gibt sich zunächst als konventionelle, im Zusammenhang des Lobes weiblicher Schönheit etablierte und vielfach geübte descriptio der Kleider - eine Beschreibung, die den »Anspruch der Adaequatio von Ausstattung und personaler Qualität erfüllen« soll. 116 Im Sinne eines programmatischen Anspruchs »der neuen höfischen Kultur« 117 handelt es sich um ein integrales Attribut, das die Idealität der Figur in der Exzeptionalität ihrer Ausstattung aufgehen lässt. Aus einem exotischen Land, kunstvoll gemacht, schön verziert und mit allerhand Edelsteinen verwoben (V. 8469-8482), kurzum: Ir kleit was gut in alle wis (V. 8483). Interessanterweise war Herbort offenbar bewusst, dass neben der Ausstattung der Figur auch die Zurüstung des Reittiers zur formvollendeten descriptio gehört, denn er spielt auf die Erwartung des Publikums nach einer Fortsetzung der descriptio an: Sol ich vch saugen vurbaz (V. 8487) - ›Soll ich weitererzählen‹? Die rhetorische Frage markiert einen Bruch in der Kommunikationssituation, indem sie eine gezielte Zustimmung des Publikums zu ihrem propositionalen Gehalt präsupponiert. Doch statt weiterzuerzählen, wird das evozierte bejahende Signal abgewiesen, sodass der in zwei Versen abgehandelte Hinweis auf den materiellen Wert von Briseidas Reittier eklatant mit der ästhetischen Qualität ihres Gewandes kontrastiert: Sol ich vch saugen vurbaz Da die frouwe vfe saz Daz was ein zeldende phert Vnd was wo hundert marke wert (V.-8487-8490) Die Fragerhetorik funktioniert an dieser Stelle ganz offensichtlich im Sinne eines Kürze-Si‐ gnals, 118 das die folgenden Verse als eine Art metapoetischen Kommentar zur descriptio Briseidas ausweist. Indem die Aussage über das Pferd, das doch Briseidas strahlende Erscheinung komplettiert, auf einen rein pekuniären Aspekt reduziert ist, bleibt letztlich alle äußere Pracht hinter der materiellen Wertschöpfung zurück. Damit wird der Charakter der poetischen Beschreibung als Mittel diskursiv entfalteter, sinnstiftender Konturierung des Erzählten dispensiert. Der ›prosaische‹ Hinweis auf den Marktwert des Pferdes kann als »Symptom einer erzählerischen Distanznahme« gelten, 119 die das Moment äußerer Prachtentfaltung in eine ökonomische Vorstellung überführt, die keinen ideellen Wert an sich mehr verkörpert. Und dieser von Herbort so demonstrativ ausgestellte Gestus macht jede Form der descriptio letztlich fragwürdig. 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 107 <?page no="108"?> 120 Sie sprach herre ob got wil / Beide zv ernste vnd zv spil / Sol ich halden mazze / An werke vnd an gelazze (V.-8515-8518). 121 Die Funktion der Exkurse, eine »ganz eigene Wertewelt« mit einem »spezifische[n] Erziehungs‐ ideal« zu entwerfen, analysiert Linden, Exkurse (2017), S.-199. 122 Linden, Exkurse (2017), S.-270. 123 »Metapoetisch thematisiert wird das Verfahren durch die autoreferentielle Weigerung, ausführlicher zu beschreiben, wobei die rhetorische Frage das implizierte Publikum kommunikativ in die abbrevi‐ atorische Erzählweise einbindet.« Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-194. Der Registerwechsel hin zum Narrativen ist durch einen Tempusmarker klar gekenn‐ zeichnet: Do sie [sc. Briseida] vz der stat quam / Vnd vrloub genam (V. 8491f.). Der folgende Abschnitt erzählt von der Trauer der trojanischen Frauen, unter denen die Königin Hecuba und auch Helena besondere Erwähnung finden (V. 8497-8504). Beim Verlassen der Stadt kommt es nochmal zu einer kurzen Unterredung zwischen Briseida und Troylus, der seiner Frau ewige Treue schwört - geleitet von der Hoffnung, das Schicksal möge das Paar in kvrzen iaren (V. 8513) wieder zueinander führen. Briseidas einigermaßen ambivalente Reaktion auf Troylus’ Treuegelöbnis 120 veranlasst den Erzähler zum Heraustreten aus der narrativen Ordnung im Rahmen eines Diskurses über Frauentreue. König Salomo und seine Frauen fungieren dabei als Referenzpunkt, an dem Briseidas Position exemplifiziert werden soll. Die Ehe mit einer einzigen aufrichtigen und treuen Frau sei (gerade auch in dynastischer Hinsicht) kostbarer als mit zehn, von denen wenige aufgrund ihres wankelmütigen Wesens erreichen, dass die übrigen, selbst wenn diese treu sind, in Verruf geraten (Machent mit ir krancheit / Daz man der zehenden sprichet leit, V. 8529f.). Diese eine stete (V. 8531) solle der Mann also gut behandeln, um seine Ehre vor Gott zu mehren - hier bricht der Erzähler mit einem markanten Signal mitten im Satz ab: […] Daz er immer mere Got durch sine ere Hie mvz diese rede bliben Zv sprechenne von den wiben (V.-8533-8536) Expliziert wird folglich nicht, wie sich der Exkurs zur Narration verhält. Während Troylus seine Frau um Einhaltung ihrer Ehre anhält (Er bat daz sie ir ere / Behilde vnd stete were, V. 8509f.), dissoziiert Briseidas Antwort sie gerade von solchen Frauen, deren unverbrüch‐ liche stete sie gegenüber anderen prämiert. Die digressiv entfaltete didaktische Reflexion suggeriert zwar einen von Erzähler und Rezipienten gemeinsam geteilten Wertehorizont, 121 doch bleibt zugleich der Bezug zwischen der erzählten Handlung und der exkursorischen Partie unterdeterminiert. Der Exkurs inszeniert, anstatt Frauentreue als vorbildliche und nachahmenswerte innere Haltung zu illustrieren, das Erzählen von dieser vermeintlichen Eigenschaft Briseidas (die als charakterliches Komplement zu ihrem vortrefflichen Äußeren eigentlich erwartbar wäre) als Bestandteil eines topischen Inventars poetischer Ausdrucks‐ möglichkeiten. Mit dem unvermittelten Verstummen des Erzählers geht vom Exkurs gerade kein »normbildender Effekt« aus. 122 Vielmehr wird die Deutungskompetenz über das erzählte Geschehen in einen kommunikativen Akt ausgelagert, der die Rezipienten des Textes involviert. 123 Der Unsagbarkeits-Topos erweist sich insofern als metapoetisches Signal, als er eine Distanzierung vom Modell der digressio und der damit transportierten 108 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="109"?> 124 Als Musterbeispiel für die Beschreibung weiblicher Schönheit gilt in historischer Perspektive und hierbei v. a. in den mittellateinischen Artes poetriae die descriptio der Helena. Vgl. das prototypische Exempel in der Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme: Pauperat artificis naturae dona venustas / Tindaridis, forme flosculus, oris honor: / Humanam faciem fastidit forma, decoris / Prodiga, syderea gratuitate nitens […] (I, 56,1-30; ›Der Liebreiz der Tochter des Tyndareus, das Blümlein ihrer schönen Gestalt, der Ruhm ihrer Gesichtszüge machen die Gaben der Künstlerin Natur arm. Die schöne Gestalt, freigiebig mit Reizen, glänzend mit der Großzügigkeit des Sternenhimmels, verschmäht ein menschliches Antlitz […].‹). Text und Übersetzung nach Knapp (Hg.), Matthaeus Vindocinensis: Ars versificatoria (2020). - Vgl. zum evokativen Potential der Schönheitsbeschreibung Kern, Descriptio und Imaginatio (2021), S.-171-176. konventionellen Motivik (Stichwort: Frauenehre) anzeigt. Eine literarische ›Bauform‹, die hier ganz offensichtlich als ein für die vorliegende Narration entbehrliches Element semantisiert ist. An den Auszug aus Troja schließt sich Briseidas Ankunft im Lager der Griechen nahtlos an. Namhafte Fürsten reiten ihr entgegen: Menesteus, Thelamon, Diomedes, Odysseus sowie zahlreiche andere, deren Nennung unterbleibt (V. 8545-8550). Der Augenblick, in dem Diomedes die Röte auf Briseidas Wangen erblickt, initiiert die zweite descriptio: […] vnder des Gesach diomedes Daz die rote ir wangen Hette befangen Also rot vnd also breit Als dar vf wer geleit Ein harte frisch rosen blat Vnd dar vmbe gezat Die varwe wiz als ein sne Daz ist anders niht me Dan wangen rot hut wiz (V.-8553-8563) Dass die Gesichtsröte mit frischen Rosenblättern assoziiert wird, die sich von der strahlend weißen Farbe des Gesichts - ein Merkmal, das schon die erste Beschreibung von Briseidas Erscheinung bietet (s. oben) - kontrastreich absetzen, gehört zum poetischen Arsenal und topischen Muster des Frauenlobes in der zeitgenössischen Dichtungspraxis. 124 Herbort spielt hier also gezielt auf konventionalisierte Formen der descriptio weiblicher Schönheit an, um sie freilich sogleich zu suspendieren: Wolde ich es haben mine fliz Von susgetanem vmbeloben Wolde ich sie vnden vnd oben Von der swarten biz an daz swil Loben vzzer mazzen vil Waz wollet (ir) daz ich spreche fort Dit sint harte kvrze wort (V.-8564-8570) Der Erzählerkommentar verweist auf die tradierte Konvention der descriptio gemäß der Ordnung a capite ad calcem, die zu den »so genannten typischen Szenen« innerhalb der 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 109 <?page no="110"?> 125 Zu den vier Wappnungen in Homers Ilias (Paris, Agamemnon, Patroklos, Achill), ihrer Funktionali‐ sierung und kürzenden Bearbeitung in der Ilias Latina vgl. Reitz, Verkürzen und Erweitern (2007), S. 346. Zum Strukturtyp der epischen ›Wappnung‹ siehe Reitz, Arming scenes (2019), S. 13-38. - Das Liet von Troye selbst bietet eine kollektive Rüstungsszene der trojanischen Truppen, die Herbort symptomatisch mit einem Kürze-Topos in die Sukzession der Handlungsfolge überführt: Sinen wappenroc ir iegelich / Von maniger hande gescrate / Von schomme zindate / Und phellil von samite / Lanc und wite / Wol zu gereche / Wil man daz ich spreche / Mit kurtzlichen worten / Sie offenten ir phorten / Vnd riten vz fil wol bereit / Mit sogetaner gewisheit / Vnd mit sulcher gereitschaft / Daz da niht zv entraft (V.-4750-4762). 126 Vgl. Linden, Exkurse (2017), S.-531-538. 127 Reitz, Verkürzen und Erweitern (2007), S.-347 128 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-193. 129 Zum »Einverständnis mit dem Erzähler, der so vom Epitomator gewissermaßen billigend in das verkürzende Verfahren mit einbezogen wird«, vgl. Reitz, Verkürzen und Erweitern (2007), S.-347. 130 Zu dieser Funktion der descriptio vgl. Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007), S.-308-328. epischen Wappnungen der Troja-Tradition gehört. 125 Im hier vorliegenden Zusammenhang ist sie nach dem Muster der mittellateinischen Poetiken auf die gebotene Reihenfolge beim Schönheitspreis transponiert: A summo capitis descendat splendor ad ipsam Radicem, totumque simul poliatur ad unguem. (Galfred, Poetria nova, V.-598f.) Der Glanz möge ganz oben vom Haupt bis zum Fuß hinabsteigen, damit zugleich soll die Erscheinung im Ganzen bis zu den Zehen verfeinert werden. Mit der Anspielung auf die klassische descriptio-Topik (vnden vnd oben / Von der swarte biz an daz swil, V. 8566f.) indiziert die rhetorische Frage den bewussten Verzicht auf eine detaillierte Beschreibung und damit auf das erzählerische Mittel, die Ebene der Narration mit einem reflexiven Moment zu verschränken. 126 Denn in der ausführlichen descriptio lässt sich die beschriebene Gestalt »im Ergebnis wie ein Standbildbild, an dem die Augen des Betrachters entlang wandern«, 127 präsentieren. Herbort bietet an dieser Stelle mit einer viergliedrigen elliptischen, asyndetisch organisierten Reihung nur mehr den »Rumpf einer descriptio«: 128 Ich spreche daz sie schone was Daz meinet daz ir was Ougen wangen kinne mvnt Ir allez harte wol stunt (V.-8571-8574) Der Kürze-Topos suggeriert eine Übereinkunft von Erzähler und Publikum und setzt dessen Zustimmung als eine dem Erzählverfahren grundlegend positiv gegenüberstehende Rezipientenhaltung voraus (Waz wollet (ir) daz ich spreche fort / Dit sint harte kvrze wort, V. 8569f.). 129 Damit geht der Sinn der descriptio nicht darin auf, eine Figur ad laudem bzw. ad vituperationem zu zeichnen, um die erzählten Ereignisse zu plausibilisieren oder den Grad an narrativer Kohärenz zu steigern. 130 110 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="111"?> 131 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-194. 132 Zu Herborts Positionierung zwischen der lateinischen Gelehrtenkultur der Zeit und der literarischen Tradition der Volkssprache siehe oben, Kap.-2.1.1. 133 Helena gar schone was / Als ich ez an dem buche las / Ir stirne was offenbar / Ir ougen luter vnd clar-/ Rosige wangen roter mvnt / Suzze ademe zene gesunt / Blichende kel arme blanc / Schone hende finger lanc / Glander negel slecht hut glat / Rein wiz als ein liligen blat / […] / Waz mag ich mer von ir sagen / Beide ir lip vnd ir kleit / Was von sulchere zirheit / Daz er paris selbe iach / Do sie quam vnd er sie sach / Daz nie wip deheine / So schone noch so reine / Muge gewerden / Nimmer mer vf erden (V. 2489-2512). Diese Stelle weist wiederum ihrerseits ein Kürze-Signal auf. Vgl. zu dieser Stelle Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-148. Wenn nun Herbort seiner Protagonistin eine umfängliche Entfaltung ihrer äußeren Vorzüge vorenthält, stellt er die Berechtigung ihres Lobes indirekt zur Disposition, und die vermeintliche laudatio entpuppt sich als ironische Brechung. 131 Mehr noch: Auch die Zweckmäßigkeit des topischen Schönheitspreises an sich bzw. der descriptio als eines Grundelements der mittellateinischen Artes poetriae erscheint disponibel. Der Kürze-Topos ist instrumentiert als autoreflexives Element, das über die summarische Verdichtung auf die Ebene der Textpoetik zeigt: Die brevitas-basierte Struktur der exemplarisch im Grunde auf nur einen einzigen Vers verknappten Beschreibung refe‐ rentialisiert die Technik der abbreviatio als eines für den vorliegenden Text maßgeblichen poetischen Prinzips. Dass sie an typischen Verfahren dichterischer Amplifikation ansetzt und gerade solche Elemente proliferierender Profilbildung als verzichtbar semantisiert, konturiert die Funktionalisierung des Kürze-Signals als einer poetologischen Komponente. Ausgerichtet ist diese an einem gegenüber dem Gros der volkssprachigen Romanproduk‐ tion alternativen Erzählkonzept, das an der brevitas der zeitgenössischen Latinität geschult ist und von den insbesondere im Rahmen der adaptation courtoise geübten dilatatio-Ver‐ fahren bewusst Abstand nimmt. 132 Beschreibungen sind im Liet von Troye auch immer wieder Anlass, ein intrabzw. inter‐ textuelles Spiel zu lancieren. Wie Briseida wird auch Helena eine zweifache descriptio zuteil. Während die erste Helenas körperliche Attribute in klassischen Topoi des Schön‐ heitspreises entfaltet und diese mittels eines Kürze-Signals - Waz mag ich mer von ir sagen (V. 2504) - auf die zirheit von lip und kleit komprimiert (V. 2505f.), 133 bietet die zweite Beschreibung einen Rückbezug auf diesen Passus. Sie eröffnet den Katalog der am Krieg beteiligten griechischen und trojanischen Protagonisten (V. 2889-3298) und ist hier an die Erwähnung von Helenas Brüder Castor und Pollux gekoppelt, die Troja freilich aufgrund eines Unwetters nie erreicht haben (V.-2875-2888): Hie solde ich ir swester Elenam Loben eine frouwen lobesam Irn lip ich vor gelobet han Nv wil ich an die tugent gan Die da horet zv dem libe (V.-2931-2935) Das Modalverb solde impliziert eine Publikumserwartung, der der Erzähler sich verpflichtet fühlt, nämlich die Darstellung der Figur ad laudem, die den Anspruch an eine »Erlesenheit 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 111 <?page no="112"?> 134 Gerok-Reiter, Mythos und Ästhetik (2021), S.-295. 135 Zu diesem Stilmittel in der spätlateinischen Dichtung vgl. Schwitter, Das ›versefüllende Asyndeton‹ (2021), S.-125-161. 136 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-148. 137 Die frauwe irs leides vurgaz / Von zite ie baz vnd baz / An dem andern tage / Was geminret ir klage / Rechte dar nach in siben tagen / Horte sie niman niht klagen / Bi eime halben iare / Minnete sie in vffenbare / Do daz iar vmbe quam / Do was sie menelao gram (V.-2717-2726). der äußeren Erscheinung mit […] einer ethisch-moralischen Norm korreliert.« 134 Herbort markiert ein auf solche Ansprüche abgestelltes digressives Verfahren damit als Normalfall im Rahmen des poetischen ›Programms‹, das eine gelingende Verständigung über den Bezugsrahmen (d. h. die im romanhaften Erzählen der Zeit etablierten Formen der descriptio und ihre angemessene Platzierung) voraussetzt. Der Akzent liegt zunächst auf einem allgemeinen Merkmal, der [w]ipliche[n] zvcht vn ere (V. 2937), die gewissermaßen das Modell für die folgende rhetorisch verknappte descriptio unterschiedlicher (nicht nur moralischer) Qualitätsmerkmale der Helena abbildet. Zwei in der Art eines ›versefüllenden Asyndetons‹ 135 gestaltete Reimpaare bieten in einer unverbundenen Reihung mehrere Adjektivattribute, sodass die extreme brevitas den Eindruck einer prägnanten Fülle auf engstem Raum evoziert: Elena was gewere Suzze senfte reine frut Kvsche schone milde gut Edel einfalt ersam Hubisch wise lustsam (V.-2938-2942) An die Feststellung von Helenas moralischer Integrität (V. 2943) ist der formelhafte Reimvers gebunden, der das Ende der descriptio einleitet: Ane nit vnd ane haz Waz sol ich sprechen furbaz Ander tugent sie hete Sie was getruwe vnd stete (V.-2943-2946) Cornelia Herberichs sieht im Lob der »moralische[n] tugent einer Untreuen« ein »ironi‐ sches Unterfangen«, 136 das durch den Kürze-Topos dem Publikum als solches signalisiert würde. Und tatsächlich schildert der Erzähler an etwas früherer Stelle, wie Helena ihr anfangs großes Leid über die Entführung mit der Zeit, die nach Tagen und Monaten ›ge‐ stundet‹ erscheint, vollständig vergisst. 137 Zwar gibt die Kürze-Formel eine Art pointiert-bi‐ lanzierende Zusammenfassung der verzeichneten, größtenteils äußerlichen Eigenschaften an; gleichwohl bieten die folgenden Verse gerade keine Summa des zuvor Erzählten, sondern führen mit der Treue und Beständigkeit neue Aspekte ein, die den Topos von der unheilvollen Schönheit Helenas unterlaufen. Damit verweist das Kürze-Signal als rhetorische Strukturkomponente durchaus auf den Zielpunkt der descriptio, zieht aber zugleich ein vom Vorherigen differierendes Moment in die Erzählung ein, das mittels eines ›performativen Selbstwiderspruchs‹ (Weitersprechen statt Verstummen) realisiert 112 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="113"?> 138 Im Hinblick auf praeteritio-immanente Rhetorik in der mittelalterlichen Lyrik Reinmars vgl. J.-D. Müller, Performativer Selbstwiderspruch (1999), S.-379-405. 139 Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S. 194. - Zur Ironie als Habitus des Erzählens im Liet von Troye vgl. Fromm, Herbort von Fritslar (1993), S. 244-278; in Bezug auf die ›ironischen Brüche‹ in der Minnehandlung Bauschke, Komische Ausgleichsstrategien (2017), S. 155-176. Vgl. auch den Überblick in Althoff / Meier-Staubach, Ironie im Mittelalter (2011). 140 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-152. 141 »Das brevitas-Ideal wird nicht durchgängig positiv konnotiert, denn sprachliche Kürze steht nicht automatisch für höfisches Verhalten, Tapferkeit oder Tugend.« Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-153. 142 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-153. 143 Ebd. 144 Zu dieser Tendez im Liet von Troye vgl. Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), S.-347-365. 145 Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-151. 146 »Die Kürze-Bekundungen besitzen […] eine konstitutive literarische Mehrdeutigkeit«. Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-144. wird. 138 Die - so Bauschke - »ironische Brechung« 139 zielt zugleich von der Ebene der Handlung auf die des Erzählens selbst und signalisiert die ambigue Deutungsstruktur des poetisch-deskriptiven Verfahrens, das im Fall der Helena (übrigens der Briseida vergleichbar) gerade kein klares Bild zeichnet. Indem der Erzähler sein abbreviatio-basiertes Textkonzept durch stilistische brevitas performativ aktualisiert, führt er selbst den Beweis, dass der topische Frauenpreis keineswegs vieler Worte bedarf (vgl. V. 2943-2946), und setzt sich damit von der poetischen Konvention der dilatatio materiae ab. Verschränkung von Diskurs und Narration Die Fähigkeit, sich kurz zu fassen, wird im Liet von Troye nicht nur als Stilideal des Erzählens forciert, sondern auch an einzelnen Figuren als individuelle Qualität gleichsam in actu ausgestellt. Das zeigt sich insbesondere in der bereits erwähnten Engführung des auf der Kommentar- und Reflexionsebene thematisierten textproduktiven brevitasbzw. abbreviatio-Konzepts mit der Diegese. Indem Hinweise auf rhetorische Kürze unmittelbar auf die Figuren bezogen oder diesen sogar in den Mund gelegt werden, produziert die Erzählung »kalkulierte Ambivalenzen« 140 und uneindeutige Wertungen, die situativ schillernde Konnotationen ausbilden können. 141 In diesem Sachverhalt manifestiert sich die »poetologische[ ] Funktionalisierung einer rhetorischen Kategorie [d. h. der brevitas]«, 142 mit der Herbort auf der Figurenbzw. Handlungsebene »spezifische Wertung[en]« 143 vornimmt, um traditionelle Deutungsmuster zu unterlaufen. 144 Das mag sich im Einzelfall - wie die Helena-Passage gezeigt hat - durchaus als Effekt der Kürze-Rhetorik auf der Ebene der Narration einstellen, wo die Kürze-Topoi je nach Kontext als »Selektions-, Deutungs- und Bewertungsinstanz« 145 dienen können. Eine Interpretation, die für Kürze-Topoi eine erzähltechnisch intendierte, »konstitutive literarische Mehrdeutigkeit« als Funktionszu‐ schreibung veranschlagt, 146 bleibt jedoch einer generalisierenden Vorannahme verpflichtet. Blickt man nämlich vom übergeordneten, im Text omnipräsenten und programmati‐ schen Bezugssystem der abbreviatio-induzierten Poetik auf das Phänomen der Ebenenver‐ schränkung, so lässt sich zeigen, dass die brevitas-Topoi ein Moment der Distanzierung einziehen - einer Distanzierung, die primär auf einer poetologischen Ebene wirksam wird, indem sie die für das höfische Erzählen in der Volkssprache konventionalisierten 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 113 <?page no="114"?> 147 »Das mittelhochdeutsche Liet von Troye hat Teil an einer Trojatradition, die lateinisch etabliert ist und mit dem Verfahren der brevitas operiert.« Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-198. 148 Vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), bes. S.-363-370. 149 Vgl. Schwitter, Das ›versefüllende Asyndeton‹ (2021), S. 125-161. Im Liet von Troye z. B. die Angaben zu Menelaos: Sin spise was gemeine / Hubisch milde schone gut / Blide fro wol gemvt (V.-2974-2976). 150 Zu Tradition und Struktur epischer Kataloge vgl. Kühlmann, Katalog und Erzählung (1973); Reitz, Das Unendliche beginnen (2017), S. 105-118. Zusammenfassend Reitz / Scheidegger Lämmle / Wes‐ selmann, Epic catalogues (2019), S.-653-725. - Zum Konzept der ›Bauform‹ vgl. Kap.-1, Anm. 36. 151 Diomedes gesteht Briseida seine Liebe und reproduziert dabei selbst das Postulat, sich kurz zu fassen: Ich sol dir mine bichte / Alle biz an ein ende sagen / Ich wil durch dine minne tragen / Also grozze swere / Swer ez ioch were / Der solde ez geniezzen / Des mac dich wol bedriezzen / Daz min rede so lanc ist / Des du gemanet bist / Des gib mir antworte / Daz ich die rede korte (V.-8632-8642). Formen und Strukturen mit einem alternativen Erzählmodell konfrontiert. Im Moment der Übergängigkeit von Reflexions- und Handlungsebene wird das integrale Potential der abbreviatio-Poetik zur Anschauung gebracht und zwar insoweit, als das poetologische Konzept innerhalb der Handlung gleichsam gespiegelt wird. Die Diegese gerät damit selbst zum exemplifikatorischen Feld und Anschauungsobjekt für eine Textpoetik, die jenseits punktueller Wertungsverschiebungen auf den primären Bezugshorizont verweist: die zeitgenössische lateinische Troja-Tradition, in der andere poetische ›Spielregeln‹ gelten als in der volkssprachigen höfischen Dichtungspraxis. 147 Die Verschränkung von Reflexions- und Figurenebene ist oftmals in Passagen zu beobachten, die man als die ›klassischen‹ Elemente eines dilatatio-basierten Erzählens bezeichnen könnte. Die diskursiv entfalteten Reflexionen (in digressiones, descriptiones) implementieren mit der Poetik der abbreviatio ein Modell, dem auf der Ebene der Narration Kürze als Maxime des Figurenhandelns in Habitus, Tat und Rede antwortet. Am Beispiel des Katalogs der griechischen und trojanischen Krieger (V. 2889-3298) lassen sich die Interferenzen zwischen poetologischem abbreviatio-Postulat und seiner je situativen, poetisch-handlungslogischen Instrumentalisierung exemplarisch aufzeigen. Der gesamte Katalog ist durch eine prononcierte brevitas-Rhetorik gekennzeichnet. 148 In einer listenartigen Aufzählung werden die prominentesten Protagonisten des Trojanischen Krieges präsentiert, wobei jedem der herausgehobenen Akteure einige wenige charakte‐ risierende Attribute, oftmals in der Art eines ›versefüllenden Asyndetons‹ organisiert, zugesprochen werden. 149 Interessanterweise fungiert Kürze in diesem Zusammenhang nicht nur als Topos, um die kompendienartig verdichtete Struktur der epischen ›Bauform‹ Katalog anzuzeigen, 150 sondern gleichermaßen als Habitus der beschriebenen Helden, z. B. die [k]vrtze rede suzze (V. 2964) des Agamemnon, denn [e]r het ez mer an der kraft / Den er gespreche (V.-2952f.); Ajax (Sohn des Thelamon) nutzt den Gesang zur Verkürzung der von den Figuren erlebten Zeit (Als er durch kvrzewile sanc, V.-3018); über Diomedes heißt es: Er was wol gestalt / An den worten was er balt (V. 3041f.) - eine Eigenschaft, die der Text an späterer Stelle in einer direkten, an Briseida gerichteten Rede narrativ exemplifiziert. 151 114 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="115"?> 152 Hektor: Tapferkeit; Paris: Schönheit; Helenus: Weisheit; Deiphobus: Trägheit; Troilus: Unerschro‐ ckenheit im Turnier (vgl. V.-1675-1688). 153 »Durch die Disproportion zwischen Beschreibung und Kommentar geraten die Eigenschaften des Paris in ein Zwielicht; die ausführliche Kommentierung des Lobs kommt einer Verweigerung desselben gleich.« Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-148. Der Katalog arbeitet darüber hinaus mit Rückverweisen auf bereits Gesagtes (z. B. bei Helena, Hector und Troylus, V. 2932f.; 3157 f.; 3287), die zum Teil mit Kürze-Topoi korre‐ spondieren. So z. B. bei der Nennung des Paris, wobei die im Kontext der ersten Zerstörung Trojas ausgeführten Eigenschaften der Priamus-Söhne 152 als intratextueller Referenzpunkt dienen: Man saget daz er paris Vor den andern hette pris An minne vnd an schonheit Als ir da vor sit bereit Was sol nv des mere Wen daz er schone were Also rechte wol getan Als ich da vor gesaget han (V.-3201-3208) Die Verweigerung einer descriptio des Paris im Rahmen des Katalogs der trojanischen Krieger zielt nur vordergründig auf eine Aktualisierung des bereits vermittelten Wissens in einem fingierten Dialog mit den Rezipienten (Als ir da vor sit bereit, V.-3204). Paris wird hier zwar als letzter der Priamus-Söhne mehr übergangen als beschrieben. Der Redegestus in der Form einer praeteritio impliziert damit aber nicht schon eine Fragwürdigkeit seines Charakters. 153 Denn ironisch ›gebrochen‹ (mit Bauschke, s. o.) erscheint die Darstellung von Herborts Figuren nicht durch stilistische brevitas oder signalisierte Kürze an sich als vielmehr durch das Einspielen oppositärer (s. Helena) bzw. denkbar unhöfischer Attribute, wie z. B. die körperliche Eigenschaft des Eneas, kvrtz und dick zu sein: Man saget daz Eneas Ein kvrtzer dicke man was Milde vnd lussam Kvne vnd gruzsam Wol gespreche vnd wol gelart Einen valfehsen bart Roten munt dicke granen Wol gesunt an den zanen Waz mag ich von im sprechen me Er kvnde sin recht vnd sine e Vil wol vnd nimman baz Der zv troyge inne saz (V.-3209-3220) Die Beschreibung adressiert äußerliche Merkmale, wie dies durchaus für Herborts Figu‐ renzeichnung charakteristisch ist: 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 115 <?page no="116"?> 154 Glauch, Inszenierungen der Unsagbarkeit (2003), S.-150. 155 Vgl. Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), S.-351. 156 Zu den Darstellungsmodi des abbreviatio-Prinzips in den mittellateinischen Poetiken siehe Kap. 1.3.2. Nestor was dicke vnd bereit (V.-3059); In [sc. Neoptolemus] verdurte nie dehein kleit / Im waren die buch vil bereit (V.-3081f.); Polidarius so feizt was / Daz er kvme genas / Vor feizzetkeite (V.-3091-3093). Gleichwohl sind die Kategorien von einem am ritterlich-höfischen Ideal orientierten Musterbild denkbar weit entfernt. Sie verweisen, auch mittels der Übergängigkeit zum Unsagbarkeitstopos als »Instrument der Publikumslenkung« 154 (Waz mag ich von im sprechen me: kann oder will? ), auf eine im Liet von Troye programmatisch ausgestellte Dysfunktionalität des höfischen Denk- und Erzählmodells - indem nicht nur elementare Komponenten des höfischen Diskurses, sondern auch die für diesen maßgeblichen sprach‐ lichen Muster bewusst suspendiert werden. 155 Die auf Wahrnehmung von Kürze abgestellte Rhetorik bedient also ein spezifisches, für die epische Struktur ›Katalog‹ funktionalisiertes Register. Ziel ist es, das dokumentiert der Abschluss der Passage, die Vielfalt und Vielzahl der Krieger in möglichst komprimierter Darstellung zur Sprache zu bringen: Zv troyge quam vil manic man Des ich genennen niht enkan Waz sol der rede mere Wen daz ir vil were Beide genant vnd vngenant Daz ich ir gescriben fant Daz waren fursten wol gezogen Kvnige grauen vnd herzogen (V.-3291-3298; Hervorhebung: J.F.) Genau diesem Prinzip arbeiten die Kürze-Signale unterschiedlicher Ebenen gleichermaßen zu. Die intratextuellen Verweise auf vorhergehende Ausführungen (Helena, Paris, Cas‐ sandra) und die dezidierten brevitas-Topoi (Helena, Paris, Eneas) sind als metapoetische Marker auf das zugrundeliegende Erzählmodell (Stichwort: abbreviatio) zu verstehen, in dem kurze Anspielungen auf bereits bekannte Sachverhalte genügen. 156 Sie korrelieren auf der Ebene der beschriebenen Figuren mit einer stilistischen wie performativ entfalteten (oder zumindest implizierten) brevitas-Rhetorik. Als Effekt einer solchen Interferenz und Ebenenverschränkung stellt sich eine narrative Beschleunigung ein, die Erzähl-Tempo und Erzähl-Form einander zuordnet. In dieser Hinsicht ist die brevitas-Rhetorik doppelt codiert: Sie repräsentiert einerseits den äquivalenten Redegestus für das epische Strukturmodell ›Katalog‹, andererseits wird durch die Rückbindung an das übergeordnete Erzählprinzip auch die abbreviatio-Poetik des Textes im Allgemeinen aktualisiert und für die Rezipienten erfahrbar gehalten. 116 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="117"?> 157 Vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), bes. S.-376f. 158 Kropik, Kürzung und Zusammenfassung (2021), S.-394. 159 Eine Beschreibung der laut Schreiberkolophon 1333 vollendeten Handschrift, die Herborts Liet von Troye zusammen mit dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke enthält, bietet Frommann (Hg.), Herbort’s von Fritzlâr Liet von Troye (1837 [1966]), S. XXVII-XXX. Siehe auch Bartsch, Die altdeutschen Handschriften (1887), S.-110; Becker, Handschriften und Frühdrucke (1977), S.-21f. 160 Vgl. die Übersicht in Alfen / Fochler / Lienert, Deutsche Trojatexte (1990), S.-10-15. 161 Bumke, Untersuchungen zu den Epenhandschriften (1990), S. 422. Die Berliner Fragmente (Staatsbi‐ bliothek, Preußischer Kulturbesitz, mgf 902, um 1300) überliefern die Partien V.-13017-13290 sowie V.-14379-14641 nach der Frommann’schen Ausgabe (1837 [1966]). 162 Boková / Bok / Gärtner, Neue Herbortfragmente aus Krumau (1996), S.-357. 163 Die Schreibsprache der Fragmente aus Skokloster, Schweden (Schloßbibl., Cod. PB munk 4; 3. Viertel d. 13. Jh.s), weist in den mitteldeutschen Raum: »Von den jetzt bekannten Herborthandschriften ist S offenbar diejenige, die dem Dichter räumlich (und wohl auch zeitlich) am nächsten steht.« Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S. 261f. Die zwei am unteren Rand beschnittenen Pergament-Dop‐ pelblätter überliefern die Partie V. 7735-8510 nach der Frommann’schen Ausgabe (1837 [1966]). Einen Abdruck und eine erste Einschätzung bietet Psilander (Hg.), Ett fragment af den tyska Trojasagan Kürze-Topoi, so ist festzuhalten, lassen sich in diesem Zusammenhang als formelhafte Strukturmerkmale epischer Narrative beschreiben. 157 Sie lenken den Blick auf die stilistische Faktur des Textes (brevitas) an der jeweiligen Stelle hin und zugleich auf das poetische Prinzip hinter dem Text (abbreviatio) als Ganzem zurück. Damit wird ein Distinktionsmo‐ ment sowohl gegenüber dem Prätext als auch der höfischen Tradition eingezogen, das sich in einem Raster wechselseitiger Bedingtheiten von Reflexion und Narration, von Handlungsebene und Erzählerkommentar bewegt. Als Medien der Rezeptionssteuerung und kommunikative Marker, die sich in rhetorischen Fragen an ein intendiertes Publikum wenden (Waz sol der rede mere? ), halten die Kürze-Topoi die spezifische Schreibart des Textes transparent und lassen sich so als Elemente einer dezidiert »rhetorische[n] Narra‐ tologie« verstehen, 158 die ihre eigenen Bedingungen, wenn auch mitunter ironisch, aber stets mitverhandelt. 2.1.3 Textuelle Reproduktionspraktiken: Konturen einer frühen Kurzfassung *SK (die Skokloster- und Krumau-Fragmente) Das Liet von Troye ist bekanntlich in einer vollständigen Handschrift (H), die die Grundlage für die bisher einzige Ausgabe des Textes bildet (Frommann 1837), 159 und drei Fragmenten überliefert. 160 Die Berliner Fragmente (B) stellen sich, wie Joachim Bumke gezeigt hat, nicht nur in den Lesarten, sondern auch hinsichtlich der Gliederung, d. h. Anzahl und Verteilung der Initialen, eindeutig zu H und bezeugen somit »gemeinsam eine Textfassung von Herborts Dichtung […], die um 1300 in Ostfranken und dem angrenzenden mitteldeutschen Gebiet bekannt war.« 161 Neben diesem, auf der Basis textkritischer Untersuchungen der Überlieferungszeugen als ›autornah‹ eingestuften Text *HB existierte etwa zur selben Zeit und im direkten lokalen Umfeld eine mitteldeutsche Bearbeitung *SK, »die vermutlich bald nach der Autorfassung entstand und nachweislich bereits kurz nach der Mitte des 13.-Jahrhunderts im oberdeutschen Raum verbreitet war.« 162 Sie wird repräsentiert durch die Skokloster-Fragmente (S) 163 sowie die 1989/ 90 von der Archivarin Anna Kubíková an der Zweigstelle Krumau des Staatlichen Regionalar‐ 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 117 <?page no="118"?> (1917); eine textkritische Bewertung von S gegenüber H unternimmt Schröder, Beiträge zur Textkritik (1918), S.-72-99. 164 Die insgesamt vier Pergamentstreifen (3. Viertel d. 13. Jh.s), die zu einem Blatt gehört haben, entstammten wohl, so das Ergebnis der Untersuchung der Schreibsprache, einer Handschrift, die im »Grenzraum zwischen dem Bairischen und dem Alemannischen« entstanden sein dürfte. Vgl. Boková / Bok / Gärtner, Neue Herbortfragmente aus Krumau (1996), S. 348. Sie überliefern die folgenden Textpartien nach der Frommann’schen Ausgabe (1837 [1966]): V. 799-915; 935-959; 1256; 1365-1392/ 1401; 1532-1565. Zu den aufgrund des schlechten Überlieferungszustands vielfach unklaren Lesungen vgl. ebd., S.-337. 165 »Der Text der neuen Fragmente […] weist eine Reihe von geschickten Kürzungen auf und dürfte daher als früher Zeuge für die in S überlieferte Fassung angesehen werden.« Boková / Bok / Gärtner, Neue Herbortfragmente aus Krumau (1996), S.-334. 166 »Es ist bekannt, daß die meisten höfischen Romane in verschiedenen Fassungen überliefert sind und daß die Parallelfassungen in vielen Fällen nicht viel jünger sein können als die Werke selbst.« Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-290. 167 Boková / Bok / Gärtner, Neue Herbortfragmente aus Krumau (1996), beide Zitate S.-354. 168 Boková / Bok / Gärtner, Neue Herbortfragmente aus Krumau (1996), S. 337. - Ähnliches dürfte für die Skokloster Fragmente (S) gelten, die Schröder (Beiträge zur Textkritik [1918], S. 92) aufgrund einer graphischen Eigentümlichkeit, die sich aus den französischen Handschriften herleitet (der Abkürzung .k. für künec), genealogisch nicht »[a]llzuweit ab vom Original bzw. dem Archetypus« verortet. 169 Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-284. Zur Zusammenstellung der Belege s. unten. chivs Wittingau aus einem Konvolut mit Wirtschaftsakten herausgelösten Krumauer Bruchstücke (K). 164 Deren Textbestand zeichnet sich durch zahlreiche Änderungen des Wortlauts, insbesondere aber durch eine Tendenz zur Kürzung gegenüber *HB aus. Weil beide Fragmente sich nicht derselben Handschrift zuordnen lassen, dokumentieren sie zwei selbständige Textzeugen einer Fassung 165 - ein geradezu typischer Befund für die frühe Epenüberlieferung, als deren Kennzeichen die Herausbildung von Parallelversionen im Kontext eines ›Weiterarbeitens‹ an der Tradition gelten kann. 166 Die in den Lesarten sowie im Umfang - trotz des »verhältnismäßig geringen Vergleichsmaterial[s]« - beträchtliche Divergenz der Fassung *SK gegenüber *HB verweist auf »Ergebnisse eines längeren Überlieferungsprozesses […], demzufolge Herborts Trojaroman verbreiteter gewesen sein muß, als sich aufgrund von nur vier erhaltenen Textzeugen annehmen läßt.« 167 Sie verweist fernerhin auf ein offensichtlich unmittelbar nach der Fertigstellung des Liet von Troye sich ausprägendes Interesse an einer Rezeption des Textes in knapperer Form und damit auf die Modalität der abbreviatio als eines der dilatatio gleichgewichtigen Komplements der literarischen Bearbeitung vorgängigen Textmaterials. Dieses Interesse dokumentiert die frühe Datierung der Krumauer Fragmente (K): Wohl bald nach der Mitte des 13. Jahrhun‐ derts entstanden, dürften sie »als ältester Zeuge für Herborts Werk gelten.« 168 Die Kurzfassung *SK bietet insofern einen in der Überlieferung mittelhochdeutscher Epik singulären Befund, als das im Liet von Troye ausgestellte Erzählprogramm der Kürzung auf der Ebene sekundärer Textmodellierung selbst umgesetzt wird. Den Bearbeitungsstatus des S-Textes bezeugen »syntaktische[ ] Veränderungen an den Plus/ Minusstellen«; sie lassen »nur den Schluß zu, daß der S-Bearbeiter gekürzt haben muß.« 169 Dass die Bearbei‐ tungsspuren sowohl in S als auch in K gegenüber dem in der Handschrift H überlieferten Text nicht Relikte einer ursprünglicheren, ›originären‹ Fassung anzusehen sind, hat die 118 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="119"?> 170 Die von Psilander ([Hg.], Ett fragment af den tyska Trojasagan [1917], S. XXI) behauptete Priorität von S gegenüber H hat schon Schröder entkräftet (Beiträge zur Textkritik [1918], S. 74). - Zum Befund für K vgl. Boková / Bok / Gärtner, Neue Herbortfragmente aus Krumau (1996), S. 356: Bei »auffallenden Differenzen ist es meist so, daß die Lesarten von K sich eher aus H herleiten lassen als umgekehrt.« 171 »Der Text der neuen Fragmente läßt sich nur in sehr eingeschränktem Maße mit der Überlieferung in der vollständigen Hs. H vergleichen, weil von den rund 300 durch K bezeugten Versen nur gut 40 Verse unverstümmelt erhalten sind.« Boková / Bok / Gärtner, Neue Herbortfragmente aus Krumau (1996), S.-348. 172 Zu diesem Aspekt vgl. weiter unten, S.-132. 173 Schröder, Beiträge zur Textkritik (1918), S. 91. An anderer Stelle wertet Schröder die Abweichungen in S als »derart, daß sie ihrerseits unbedingt eine fremde und zwar eine recht täppische Hand verraten.« (Ebd., S.-74). 174 Vgl. Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-258-266. 175 Bumke (Überlieferungsgeschichte [1991]) unterscheidet Varianten und Lesarten nach dem vermu‐ teten Intentionalitätsgrad: »Unter Varianten - im Unterschied zu den Lesarten - verstehe ich dieje‐ nigen Abweichungen […], die den Sinn der Aussage nicht (oder nur unwesentlich) verändern und die in der Regel darin bestehen, daß dasselbe mit anderen Worten (oder in anderen grammatischen Formen) gesagt wird.« (Ebd., S. 266). Und an anderer Stelle: »Varianten sind das normale Produkt des volkssprachigen Überlieferungsprozesses: sie stellen sich überall ein, wo deutschsprachige Texte abgeschrieben werden. Lesarten dagegen sind das Produkt eines bestimmten Gestaltungswillens.« (Ebd., S.-269). 176 Es begegnen kaum zwei Verse, die in S und H identisch sind. Vgl. die von Bumke (Überlieferungsge‐ schichte [1991]) aufgelisteten Typen der Varianz und Lesartendifferenz: 1) »Ersetzung eines Wortes durch ein anderes«, z. B. eines Adverbs, Pronomens oder eines Verbalpräfixes, einer Konjunktion, einer Präposition u. ä. (S. 266f.); 2) »Ergänzung oder Tilgung eines Wortes«, z. B. eines Adverbs, Pro‐ nomens, einer Präposition, einer Negationspartikel u. ä. (S. 267); 3) »Veränderung der Wortstellung« (S. 267); 4) »Variation des Ausdrucks« (S. 267); 5) »Ersetzung bedeutungsverwandter Vollverben, Adjektive und Substantiva durch andere« (S.-267). Zum Belegmaterial vgl. ebd., S.-267-276. 177 Bei S handele es sich »um eine Handschrift, deren Urheber seine gute Vorlage in rohster Weise verstümmelt und außerdem was er beibehält sehr nachlässig abgeschrieben hat.« Schröder, Beiträge zur Textkritik (1918), S.-74. 178 Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-276. Forschung plausibel machen können. 170 Weil die in K überlieferten Partien von Herborts Trojaroman sich aufgrund ihrer starken Fragmentierung nur sehr eingeschränkt für einen Vergleich eignen, soll der anhand von S nachweisbare Befund im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. 171 Den Kumauer Bruchstücken kommt in diesem Zusammenhang der Status eines historischen Korrektivs zu. 172 Joachim Bumke hat die Skokloster-Fragmente - in Auseinandersetzung mit dem Verdikt Edward Schröders gegen S als »rücksichtslos ändernd[ ] und obendrein sehr liederlich[ ]« 173 - detailliert beschrieben: hinsichtlich graphematischer und orthographischer Gesichts‐ punkte, hinsichtlich des Reimgebrauchs und der stemmatologisch relevanten Fehler. 174 Besonderes Augenmerk seiner Analyse gilt den Varianten und Lesarten des S-Textes, 175 in denen sich das eigenständige Profil der Fassung konstituiert. In ihrer hohen Anzahl und typologischen Diversität, 176 die das von Schröder für S postulierte Merkmal der Verderbtheit nicht bestätigt, 177 erweise sich S als Fassung, die »ein hohes Maß an Selbständigkeit in den Formulierungen zeig[t].« 178 Der markante Fassungscharakter von S wird vor allem in einer quantitativen Reduktion des Umfangs manifest: Die in S überlieferten 734 Verse bieten gegenüber der in H bezeugten Partie (V. 7735-8510, vgl. Frommann 1837 [1966]) 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 119 <?page no="120"?> 179 »Eigentlich hat H [sc. in der in S überlieferten Partie] sogar 46 Verse mehr. Da S jedoch vier Plusverse gegenüber H aufweist, kommt man auf die Zahl 42.« Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S. 276. 180 Vgl. für eine Übersicht der Textveränderungen Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S. 276-284. 181 Vgl. Kap.-4. 182 Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-276. 183 Text und Verszählung von S folgen Psilander (Hg.), Ett fragment af den tyska Trojasagan (1917). absolut 42 Verse weniger; neben den Streichungen weist S zudem vier Verse auf, die in H keine Entsprechung haben. Hochgerechnet war »in der S-Fassung […] Herborts Dichtung etwa tausend Verse kürzer als in H.« 179 Die Kürzungen lassen sich mit Bumke in der Hauptsache nach drei Typen kategorisieren. Sie werden im Folgenden ergebnisorientiert knapp skizziert. 180 Für einen besseren Überblick wird eine synoptische Gegenüberstellung des S-Textes mit der durch die Hs. H repräsentierten Fassung in einem Anhang beigegeben, die die Kürzungen kenntlich macht. 181 1) Fehlverse ohne Syntax- oder Ausdrucksveränderungen In diesen Fällen handelt es sich in der Regel um den Wegfall eines Reimpaares, »ohne daß ein inhaltlicher Verlust erkennbar ist«. 182 Ein Beispiel: Achill reitet, mit Hectors Pferd am Zügel, davon: Hector lief im zv fuzzen na Hector lief ze fůzin na Vil snellichen (er) lief - Starcke er im nach rief - Kere helt kere Kere helit kere (H V.-7798-7801) (S V.-60f.) 183 2) Vertauschung von Versen In Hectors Antwort auf Achills zornige Drohung, seinem Widersacher als Rache für den Tod des Patroclos Leid zuzufügen, sind zwei Verse vertauscht, sodass sich eine andere syntaktische Fügung ergibt: Daz mvzze immer also wesen In mac ich uor iv̂ niht genesin En mag ich vor vch niht genesen Daz můz idoch also wesin Daz mvz sin als ez sin mac - Ich ensterbe niht vur mine tac - (H V.-8251-8251) (S V.-503f.) 3) Fehlverse mit syntaktischer Veränderung bzw. Umformulierung an der Auslassungsstelle Dieser Typus lässt sich erstens bei Kürzungen beobachten, die eine Störung des Satzgefüges infolge der Auslassung syntaktisch notwendiger Glieder nach sich ziehen. In Achills an Hector gerichteter Drohung ist z. B. die Partikel also (H V. 8225) durch das Adverb harte (S V.-479) ersetzt, um den Ausfall des Konsekutivsatzes zu kompensieren: 120 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="121"?> 184 Vgl. dazu mit weiteren Textbelegen Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S. 278-280. Hier werde »ein bearbeitender Eingriff sichtbar, und der Bearbeiter ist eher in S zu sehen als in H.« (Ebd., S. 280). 185 Deshalb ist die Besprechung der Kürzungs-Stellen dezidiert an Schröders Beobachtungen orientiert, deren Plausibilität jeweils kritisch diskutiert wird. Schröders Perspektive ist - zeitgebunden - als eine der klassischen Textkritik zu sehen, die sich am Paradigma der ›Echtheit‹ orientiert. Vgl. Schröder, Beiträge zur Textkritik (1918), S.-91. 186 Zur besseren Übersicht vgl. die synoptische Gegenüberstellung des S- und H-Textes im Anhang, Kap. 4. Die Kürzungstypen lassen gewisse verfahrenstechnische Analogien mit dem in der Nibelun‐ genklage *J praktizierten Verfahren erkennen. Siehe dazu Kap.-3.2.1. Ich gesetze vch so nidere Ich gesetzin uch noch niedere Also lesterliche Harte lestirliche Hie in uwerme riche In uwirme riche Daz irs immer laster hat - Die wile diese werlt stat - (H V.-8224-8228) (S V.-478-480) Zweitens tritt dieser Typus besonders bei einer Zusammenziehung mehrerer Verse zu einem in Erscheinung, z. B. bei der Beratung der Trojaner über den von den Griechen erbetenen Waffenstillstand. Hektor ist der einzige, der sich dagegen ausspricht; mit der Übernahme des Signalworts widerreden (H V. 8052) in der entsprechenden Flexionsform sind zwei H-Verse in S zu einem kondensiert, sodass der nun verwaiste Reimvers ([…] freden, H V.-8053) verzichtbar wird: Hector alleine Iz wiedir redete Hector eine Der begunde ez widerreden - Vnd wolde ez niht freden - Er sprach vernemet alle Er sprach uirnemit alle (H V.-8050-8053) (S V.-308f.) Gerade solche Fälle, in denen Modifikationen des Textes an der Kürzungsstelle vorliegen, machen evident, dass es sich bei den Bearbeitungen nicht um ein rein mechanisches Verfahren der ›bloßen‹ Streichung von als überflüssig angesehenen Versen und Verspaaren handelt. Ferner dokumentiert der Befund, dass auch an anderen Kürzungsstellen Wörter und Syntagmen aus H in S übernommen sind, den sekundären Status von S gegenüber H deutlich. 184 Bumkes Verzeichnis und die Diskussion der Kürzungen erfolgt aus einer textkritischen Perspektive und ist getragen von der Intention, die von Schröder eindeutig zugunsten von *HB entschiedene Frage nach der Priorität der Fassungen in einer sachlichen Argu‐ mentation abzuwägen. 185 Die zahlreichen Lesartendifferenzen, mehr noch aber die quanti‐ tativen Abweichungen im Textbestand weisen das Fragment S als Zeugnis eines gezielten Redaktionsprozesses aus. 186 Die Skokloster-Fragmente konturieren also eine eigenständige Parallelversion von Herborts Trojaroman, die das Phänomen einer zeitlich früh anzuset‐ zenden und insofern ›autornahen‹ Bearbeitung eines Textes als Normalfall innerhalb der Überlieferung höfischer Epik erscheinen lässt. Mit Joachim Bumke gesprochen, stellt 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 121 <?page no="122"?> 187 Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S. 301. Durch einheitliche Merkmale in Sprachgebrauch und Reimbildung rücke die durch S repräsentierte Fassung »so nahe an Herbort heran, daß man sich fragen kann, ob Herbort selber der S-Bearbeiter war.« (Ebd., S.-285). 188 Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-284. 189 Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-285. 190 Zur vollständigen Gegenüberstellung des S- und H-Textes vgl. die Synopse im Anhang, Kap.-4. das Nebeneinander der Fassungen H und S in der Herbortüberlieferung keinen Sonderfall dar[ ], sondern vielmehr die Regel, da die ganze höfische Epik, bis auf wenige Ausnahmen, in Parallelfassungen überliefert ist. 187 Aufgrund dieses primär überlieferungs- und texthistorisch motivierten Ansatzes bleiben Fragen nach dem spezifischen Verhältnis der jeweiligen Kürzungsverfahren zum narrativen Zusammenhang, sprich: Form-Inhalts-Relationen, weitgehend ausgeblendet. Doch gerade die schon von Bumke konstatierte »ungleiche Verteilung der Kürzungen - bei gleichblei‐ bend starker Lesartendivergenz« 188 - deutet auf ein Interesse an einer alternativ geführten Anschlusskommunikation an die Fassung *HB hin, die dem Modus der abbreviatio ver‐ pflichtet ist. Ob es sich dabei um einen »Willen zur Verbesserung des Textes« handelt, 189 ist freilich - angesichts des an die Änderungen herangetragenen Bemessensspielraums von ›besser‹ vs. ›schlechter‹ - kaum historisch valide zu entscheiden. Auch wenn das Fragment S einen - gemessen am Gesamtumfang des Textes (18.458 Verse) - schmalen Ausschnitt enthält, sind einige signifikante Tendenzen hinsichtlich eines funktionalen Einsatzes der abbreviatio-Technik zu erkennen. Sie verweisen einerseits auf ein produktionsseitig instrumentiertes Verfahren der Textbearbeitung, in dem andererseits ein der Rezeption unmittelbar zugängliches Ordnungsmuster von rhetorisch-poetischem Impetus wirksam wird. Die Bearbeitungstendenzen lassen sich exemplarisch nach drei Kategorien gruppieren. 190 1) Redundanzvermeidung (in Wort und Sinn) Beim Aufeinandertreffen von Achill und Hektor auf dem Schlachtfeld geht es sehr gedrängt zu, sodass beide zunächst zu Fuß erscheinen (Do wart daz gedrenge also groz / Daz sie zv fvz quamen, H V. 7786f.). Jeder von beiden versucht, dem Kontrahenten das Pferd wegzunehmen, um das Aufsteigen und damit einen Kampfvorteil zu verhindern: Ir iegelich begonde ramen Ir iegelich begunde ramin Beide hector vnd anchilles - Wie der ein dem andern vnderdes Wie er dem andrin sin ors neme, Sin ors geneme - E er dar vf queme E er wiedir dar ůf queme. (H V.-7788-7792) (S V.-52-54) In S fehlt der Vers, der durch die Nennung der Akteure (Beide hector vnd anchilles, H V. 7789) die Pronominalfügung im vorangehenden Vers (Ir iegelich, H V. 7788) expliziert. Offenbar erschien dieser Zusatz als entbehrlich, wird doch direkt im Anschluss die konkrete ›Ausführung‹ der Absichtsbekundung auf dem Schlachtfeld geschildert, bei welcher sich der Anführer der Myrmidonen dem Trojaner als überlegen erweist: Achilles doch zv rosse 122 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="123"?> quam / Hector der wolte ouch alsam / Daz werte achilles (H V. 7793-7795). Die hier wie auch an vielen weiteren Stellen zu beobachtende Komprimierung zweier Verse zu einem (H V. 7790f. / S V. 53) lässt die Tendenz zu einem strafferen Duktus erkennen, zumal offensichtlich identischer Reim auf engem Raum umgangen wird (anchilles : vnderdes, H V.-7789f.; 7795f.). Eine ähnlich gelagerte Kürzung findet sich in der weiter oben bereits zitierten Scheltrede des Achilles. Darin droht dieser dem Hektor einen lasterhaften Tod an (H V. 8224-8228). Der Konsekutivsatz, der in S ausfällt, reproduziert eine inhaltliche Komponente, die mit dem Adverb lesterliche (H V. 8225) bereits ausgedrückt ist; das Steigerungsadverb harte (S V. 480), das an dieser Stelle in S die Vergleichspartikel also (H V. 8225) ersetzt, fängt den durativen Aspekt der Schande (Daz irs immer laster hat / Die wile diese werlt stat, H V. 8227f.) mittels einer punktuellen rhetorischen Intensivierung ein. Hektor weist Achills provozierende Rede als eine für die Phase des Waffenstillstands unangemessene Eskalation des Konflikts zurück: Mir ist leit die schande Mir ist leit die schande, Daz man mich in disme lande Daz man uns in dieseme lande Mit stolzen worten wber gat Mit stolzin wortin ubirgat. Ich weiz wol daz ez vbel stat Ich weiz wol, daz iz ůbele stat Vnd vil vbel gezimet Vnd geziemit niht wol, Daz ir vurgeben vch sus grimet - Ouch enstet ez vns niet wol - Ob ich ouch nv sprechen sol Daz ich doch sprechin sol Ein teil stoltzliche Ein deil stolzliche. (H V.-8261-8269) (S V.-511-517) Die beiden H-Verse 8263 und 8267 (Ich weiz wol daz ez vbel stat; Ouch enstet ez vns niet wol) sind semantisch äquivalent; die Sinndifferenz ergibt sich aus dem unterschiedlichen Bezug: einmal auf Achills vergebliches Zürnen, einmal auf die Reziprozität der stoltzliche[n] Rede der Gegner. Die in S erfolgte Zusammenziehung der beiden Verse zu einem (Vnd geziemit niht wol, S V. 515) legt das Gewicht stärker auf den Selbsttadel Hektors und reduziert den Vorwurf gegenüber Achill, in stolzin wortin (S V. 513) gesprochen zu haben. Damit wird aber auch die Gleichwertigkeit der Gegner akzentuiert, die eben nicht nur auf dem Kampfplatz, sondern auch in der Art ihrer Worte besteht. 2) Streichung inhaltlich nicht relevanter Verse Eine inhaltliche Doppelung liegt vor in der Beschreibung Hektors - Er was ein harte schone man (H V.-8203): Durch der frouwen minne Durh der frouwin minne Truc er daz golt an siner hant Drůc er golt an der hant, Vnd ein guldin harbant - In den selben stunden - Vm sin houbet gebunden Vͦffe deme houbete guldin harbant. (H V.-8198-8202) (S V.-454-456) 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 123 <?page no="124"?> 191 Vgl. Schröder, Beiträge zur Textkritik (1918), S. 84. Zu dieser Stelle auch Bumke, Überlieferungsge‐ schichte (1991), S. 272: »Das Adjektiv ouwic ›fließend, strömend‹ […] paßt hier so gut (während ouch in H beinahe störend wirkt), daß man die Stelle sicherlich zu den Fehlern in H rechnen könnte.« 192 »Mit einem Schlußsatz der kaum ein Vers zu nennen ist, schlägt S eine richtige Stilblüte Herborts tot.« Schröder, Beiträge zur Textkritik (1918), S.-86. Dass Hektor das Haarband, das er nebst Armreifen einst von Penthesilea zum Zeichen der Freundschaft erhalten hat, um seinen Kopf gebunden trägt, ist wohl als gebrauchs‐ spezifische Selbstverständlichkeit anzusehen, die keiner Doppelformel bedarf. Insofern unterstützt die Modifikation dieser Passage in S den logischen Aufbau der Aussage: Die Übernahme der Junktur guldin harbant (H V. 8200) in den mit houbet semantisch nahestehenden Vers stellt das zu hant passende Reimwort bereit und ermöglicht so die Streichung des inhaltlich nicht relevanten ›Füllverses‹ in den selben stunden (H V.-8201). In einer typisch epischen Formel wird beschrieben, wie das Blut der gefallenen Krieger ins Meer läuft. Dieses ist aufgrund des immensen Zustroms allerdings so aufgewühlt, dass es einem reißenden Fluss gleichkommt: Daz ir blut nider goz Daz ir blůt niedir goz Vnd in daz mer schoz Vnd in daz mere schoz Also starke vnd also sere So starke und so sere, Alz ez ouch ein wazzer were Alz iz ouwic wazzir were. Daz da rvnne vnd fluzze - Vnd in daz mer schuzze - (H V.-7935-7940) (S V.-195-198) Der Vergleich des eigentlich stillen Seebzw. Meerwassers mit einem fließenden Strom, der seinerseits ins Meer einmündet, wird in S durch ein Adjektiv ausgedrückt, das anderweitig nicht belegt ist: ouwic wazzir (S V. 198). Das Hapax legomenon dürfte, wie schon Schröder annahm, das ›strömende Flusswasser‹ bezeichnen. 191 Der die Eigenart des Wassers explizierende Relativsatz wird damit inhaltlich verzichtbar, zumal dessen Streichung mit der Tendenz korreliert, sprachliche Redundanzen, wie sie in den Versen 7936 und 7940 vorliegen (Vnd in daz mer schoz; Vnd in daz mer schuzze), zu vermeiden. Nachdem Priamus die Liebenden Troylus und Briseida zur Besonnenheit gerufen hat, weicht die Trauer über ihre Trennung: Do was in als sie bekart Als ir iewedir do bekart Von einer suchte weren Von einir sůhte were, Von ir herze sweren Also intliez sich ir swere. Musten sie sich twingen - Mit swerlichen dingen - (H V.-8446-8450) (S V.-676-678) Die von Schröder als »richtige Stilblüte« 192 Herborts bezeichnete Formulierung beschreibt den Vorgang der innerlichen Trennung des Paares in einer zweifachen (substantivischen wie adjektivischen) Wiederholung der swaere-Bildung. S reduziert an dieser Stelle die lexikalische Dublette, sodass der Fokus auf die Überwindung des Kummers (swere) als eines resultativen, durch Priamus’ Mahnung unmittelbar evozierten Prozesses gelenkt wird. 124 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="125"?> Briseidas Weggang aus Troja ruft allgemeines Klagen hervor, das die bereits bestehende kriegsbedingte Trauerstimmung zusätzlich verstärkt: Sie waren alle vnfro Sie warin alle unfro, Daz sie dannen schiet also Daz si dannin schiet also, Also vil oder me Also uil odir me Denne da leides was e Dan da leidis were ê. Was da zv stunden - Klaugen do begunden - Vnd weinen ecuba Da weinete sere Hekuba (H V.-8493-8499) (S V.-719-723) Der den Zustand schmerzvollen Erlebens artikulierende Ausruf (Was da zv stunden […], H V. 8497) wird in S durch einen Temporalsatz ersetzt, der die narrative Sukzession gegenüber einer affizierenden Beschreibung favorisiert (S V. 723). Der intensivierte Charakter von Hecubas Klage ist im Steigerungsadverb sere (S V. 723) allerdings durchaus präsent gehalten, das die beiden H-Verse 8497 f. in inhaltlicher Hinsicht sozusagen inkorporiert. 3) Rhetorische brevitas Die abbreviierten Passagen, insbesondere die Zusammenziehungen mehrerer Verse zu einem, lassen mehrfach Spuren eines auf rhetorische Kürze hin angelegten Duktus erkennen, der die bisweilen etwas umständlichen, hypotaktisch organisierten Formulie‐ rungen des H-Textes in eine parataktische Struktur überführt. Vom neuerlichen Kampfbe‐ ginn heißt es: Die da solden striten - Die quamen von beiden siten - Vnd riten vz als da vor Sie rietin uz also da uor: Von troygen ector Diese sit her Hector, Agomennon da engein Agomennon da ingein (H V.-7891-7895) (S V.-153-155) Die räumliche Markierung (Diese sit, S V. 154) ersetzt die an dieser Stelle inhaltlich kaum mehr notwendige Herkunftsanzeige für Hektors Ausritt (Von troygen, H V. 7894). Die in S strikt asyndetische Reihung der Konstruktionen überführt die wortreichere Beschreibung in ein stringenteres Gefüge, indem die Konfrontation der Gegner auf der rhetorischen Ebene abgebildet wird (V. 154f.). Diese Form der Kürzung, die stilistische Mittel der brevitas erkennen lässt, fängt die neu aufgenommenen Kriegshandlungen schlaglichtartig ein. Neben den Eingriffen an den Kürzungsstellen lassen sich vielfach Umformulierungen innerhalb von Einzelversen beobachten, die dem Stilprinzip der brevitas folgen. Auf der einen Seite - und das entspricht der oben unter 2) beschriebenen Tendenz zum Redundanz‐ abbau -, indem Wortwiederholungen gemieden werden, wie z. B. in der Zustimmung der Griechen, Briseida, die Tochter des Calchas, ins Lager zu holen: Die zweifache Repetition des Verbums sprechen in H (Sie sprachen tut als ir gesprochen hat, V. 8170) ist in S zugunsten eines rhetorisch prägnanter formulierten Verses getilgt (Nu důt als ir gesprochin hat, S V.-426). 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 125 <?page no="126"?> 193 Zur velocitas als resultativer Kategorie rhetorischer brevitas am Beispiel des römischen Historikers Sallust vgl. Kallendorf / Gondos (Übers.), Art. ›Brevitas‹ (1994), Sp. 55: »Der abgehackte Stil, der Auf der anderen Seite zeigt sich das Stilideal der brevitas in der rhetorisch inspirierten Bauform der Verse, etwa infolge einer Implementierung von Asyndeta, wo in H mehr‐ gliedrig gebaute Reihungen begegnen. So z. B. in der Klage der Briseida: Ich mvste kleine werden Ich muste cleine werdin Von sorgen vnd von swerden Von ruwin, von swerdin, Vnd von grozzen leiden Von sorgin, uon leidin, Sol ich hinnen scheiden Soldich hinnin scheidin. (H V.-8335-8338) (S V.-581-584) Hier wird durch den Neueinsatz des Substantivs rouwin (S V. 582) eine unverbundene Aufzählung aktueller innerer Beweggründe der Sprecherin geschaffen, die ihre emotionale Ergriffenheit im Modus einer dynamischen, die Affekte des Leidens vierfach auffächernden Steigerungsformel präsentiert. Dass eine stärkere rhetorische Formung zu den Merkmalen des S-Textes gehört, wird auch an folgender Stelle deutlich, die die Verzweiflung des Toylus und der Briseida über ihre bevorstehende Trennung mit einer mehrgliedrigen anaphorischen Verbindung zum Ausdruck bringt. Dabei überführt S die in H vorgeprägte, ein Potential zu rhetorischer Optimierung bietende Aufzählung in eine siebengliedrige Wiederholungsfigur, die die ausweglose Situation des Paares durch sprachliche Iteration und Rhythmisierung der verworfenen Handlungsoptionen und -alternativen eindrucksvoll abbildet: Do stunden sie beide Da stůndin sie beide In so grozzer leide In so grozir leide; Daz sie enwisten waz sie wolden Sie ne wistin waz sie woldin, Oder waz sie tun solden Sie ne wistin waz sie soldin, Sie enwisten waz raten Sie ne wistin waz ratin, Sie enwisten waz sie taten Sie ne wistin waz sie datin, Sie enwosten wa sie waren Sie ne wistin wa sie warin, Sie wosten wie gebaren Sie ne wistin wie gebarin Sie enwosten waz sie kvnden Sie ne wistin waz sie kundin. Beide samt sie stunden Beide samint sie stundin In sulchen gebaren In sulichin geberin Als sie vurzaget waren Alse sie uirzagit werin. (H V.-8415-8426) (S V.-647-658) Die brevitas im sprachlichen Ausdruck evoziert, so zeigen die Beispiele, eine Intensivierung des Erzählduktus, die stellenweise in narrative Beschleunigung umschlagen kann. Wo die direkte Rede etwa ohne Einleitungsformeln auskommt (z. B. S V. 60f.; 426) oder parataktische, asyndetisch gereihte Strukturen bevorzugt werden, lassen sich Wechsel im Erzähltempo beobachten, die den Zusammenhang zwischen der rhetorischen Kategorie der brevitas und der velocitas als Beschreibungsparameter für eine spezifische Stilform er‐ zählerischer Sukzession unmittelbar einsichtig machen. 193 Damit kann auch an denjenigen 126 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="127"?> häufige Subjektwechsel und die Neigung zur Parataxe erzeugen den für Sallusts Texte typischen Eindruck von Geschwindigkeit (velocitas). Dies wird vor allem in den militärischen Berichten deutlich […].« Siehe dazu die einleitenden Überlegungen in Kap.-1.4.2.2. 194 Für die mittelhochdeutsche Versnovellistik Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-429. 195 Zu diesem Merkmal im Liet von Troye vgl. Kap. 2.1.1 u. Kap. 2.1.2. Weil der in S überlieferte Kürze-Topos nicht von Streichungen betroffen ist, besteht kein Grund zu der Annahme, dass in S die Programmaussagen des Prologs grundsätzlich ausgespart worden wären. 196 Zur ›Beschreibung‹ von Briseidas Pferd siehe oben Kap. 2.1.2. Vgl. auch Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), bes. S.-370. Stellen, an denen nicht substantiell, sondern allenfalls innerhalb des Einzelverses bzw. des Verspaares gekürzt wird, der Eindruck einer höheren Erzählgeschwindigkeit entstehen - ein Effekt, der durch den Wegfall beschreibender oder explizierender Zusätze (z. B. S V. 54-54; 195-198) verstärkt wird. Die verzeichnete Tendenz zur Redundanzvermeidung ist dabei nicht als ›mechanisches‹ Verfahren zur Streichung von vernachlässigenswerten bzw. überflüssigen Textbausteinen zu sehen. Vielmehr weist sie der abbreviatio eine spezifische Sinnkomponente zu, indem den Kürzungen an zahlreichen Stellen eine Neuformulierung (z. T. mit Herübernahme des Gestrichenen) korrespondiert, die wiederum selbst rhetorisch informiert ist. So erscheint die brevitas auf der Ebene sprachlicher Gestaltung als Korrelat der durch quantitative Reduktion sich auswirkenden Kürzungs-Technik. Die beschleuni‐ genden Effekte, die sich in der Kombination von stofflicher Kürzung und stilistischer Kürze ergeben können, sind damit als »Kennzeichen der abbreviatio« im Sinne eines »kalkuliert eingesetzte[n] Verfahren[s]« 194 mit narrativen Implikationen zu sehen. Daraus folgt: Kürzung wird in der *SK-Fassung einerseits über die rhetorisch-poetische Faktur des Textes zugänglich. Andererseits dürfte sie sich als Rezeptionsphänomen über die zahlreichen Hinweise auf das Erzähl-Programm der abbreviatio erschlossen haben. 195 Ein solches Kürze-Signal findet sich auch in der in S überlieferten Passage: Sol ich vch saugen vurbaz Waz woldich sprechin furebaz? Da die frouwe vfe saz Daz zeldinte phert da sie uffe saz, Daz was ein zeldende phert Daz was ein also gůt phert, Vnd waz wo hundert marke wert Iz was dusint marke wert. (H V.-8487-8490) (S V.-713-716) Die rhetorische Frage, die die Beschreibung von Briseidas Gewand beim Verlassen Trojas abschließt, ist in den beiden Fassungen unterschiedlich konnotiert. In H liegt das Augen‐ merk auf dem Fortgang der Erzählung, nämlich: dem Wechsel des narrativen Fokus von der äußeren descriptio Briseidas zum ›Transportmittel‹, das die kostbare und exquisite Erscheinung der höfischen Dame komplettiert. 196 Weil die Frage: ›Soll ich weitererzählen? ‹ (H V. 8487) eine bejahende Antwort voraussetzt, erscheint sie hier in affirmativer Funktion, die das Weiterreden als präsupponierte Publikumserwartung semantisiert. In S hingegen schließt die Frage durch die Varianz im Wortlaut expliziter an die aus der Latinität bekannten rhetorischen Abbruchsformeln an: Waz woldich sprechin furebaz? (S V. 713) - Quid plura dicam? (›Wozu soll ich weitersprechen? ‹) bzw. geradezu lakonisch: quid multa? 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 127 <?page no="128"?> 197 Zur produktiven Verwendung von Abbruchformeln in der antiken Tradition vgl. Grütter, Johann Spangenbergs Epitome (2021), S.-294 mit Anm.-44. 198 Siehe zum Aspekt der Insuffizienz vieler Worte oben, Kap.-2.1.2. 199 Grütter, Johann Spangenbergs Epitome (2021), S.-299. 200 Zu rhetorischen Topoi der Unsagbarkeitbzw. Unfähigkeit im Kontext deskriptiver Passagen vgl. Glauch, Inszenierungen der Unsagbarkeit (2003), S.-148-176. 201 Zur Analyse des im Prolog programmatisch entwickelten Kürzungs-Konzepts siehe Kap.-2.1.1. 202 Weitere Nachweise bei Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-277-283. 203 »In Vers 8055 ist S besser: der H-Text […] ist zu unbestimmt«. Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-272. 204 Vgl. auch zur Trostrede des Priamus (H V. 8436-8442 / S V. 668-672): »Hier bietet S eine gute Konstruktion, während der H-Text doppelt anstößig ist […]. Wenn hier S gekürzt hat, muß der (›Wozu bedarf es vieler Worte? ‹). 197 Die selbstreferentielle Frage nach dem Nutzen einer wortreicheren Schilderung markiert die Insuffizienz des descriptio-Prinzips. Die Schönheit und kostbare Machart von Briseidas Gewand kann durch Worte kaum adäquat erfasst werden, auch wenn diese, wie angedeutet, offenbar im Möglichkeitsspektrum des Erzählers liegen (Waz woldich […], im Sinne von: ›Ich könnte zwar, aber es würde doch nichts nützen‹). 198 »Das Prinzip der abbreviatio wiederholt sich mithin im Text selbst«. 199 Indem das topische Signal des Abbruchs eine zustimmende Haltung der Rezipienten zur kompen‐ diöseren Performanz der Rede insinuiert, 200 spiegelt es die dem Erzählen zugrundeliegende Poetik, die es zugleich in legitimierender Weise ausstellt: Rhetorische Kürze und narrative velocitas sind damit als rezeptionsseitig wahrnehmbare Marker funktionalisiert, die die abbreviatio-basierte narrative Organisation des Textes geradezu als adressatenbezogenen Imperativ erscheinen lassen. In den skizzierten Bearbeitungstendenzen offenbart sich, so ist festzuhalten, ein ausge‐ prägtes Interesse an einer gezielten, weiterreichenden Realisierung des von Herbort gegenüber der dilatatio favorisierten Erzählmodells der abbreviatio. 201 Der Effekt der in S vorgenommenen Kürzungen schlägt, das konnten die Ausführungen zeigen, auf die rhetorisch-poetische Ebene der Narration durch (z. B. in der Modellierung narrativer Be‐ schleunigung durch Redundanzvermeidung oder stilistische brevitas). Zugleich tangieren die Eingriffe die Sinndimension des Textes. Dabei handelt es sich zunächst um Vereindeuti‐ gungen (z. B. unklarer Bezüge), in denen sich das eng ans brevitas-Ideal gekoppelte Konzept einer Klarheit der Darstellung (perspicuitas) andeutet. Einige Beispiele: 202 Wirdet in gegeben tac (H V.-8055) Wirt in zvͦ zwein manedin dac (S V.-311) 203 Siesazzen von den rossen nider Vnd sageten agomennon vor Als iz biz her hat gehort (H V.-8098-8100) Sie sazin uon den orsin niedir Vnd sagetin Priamus wort, Als irz here hat gehort (S V.-354-356) Priamus schuldigete sinen son Achillen agomennon (H V.-8293f.) Priamus schuldigete sinin son Achillem Agomennon (S V.-541f.; das Objekt ist deutlicher markiert) 204 128 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="129"?> S-Bearbeiter ein ausgezeichneter Stilist gewesen sein.« Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-279. 205 Dass dieses Verfahren nicht immer erfolgreich gewesen sein mag, dokumentieren einige wiederum in S schwer verständliche Textstellen, z. B. Hektors Antwort an Achilles (H V. 8244-8253 / S V. 495-504): Während der Umfang der Passage in S und H identisch ist, gehen »[a]n keiner anderen Stelle […] die beiden Handschriften so weit auseinander […]. H bietet einen verständlichen Text […]. Dagegen ist der Text in S so merkwürdig und so hoffnungslos verderbt, daß sich kaum erkennen läßt, wovon überhaupt die Rede ist.« Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-282f. 206 Dieses Faktum ist an zwei Textstellen zu beobachten, an denen sich die Lesart von S derjenigen in der französischen Fassung Benoîts bedient, z. B. Beide nein vnd ia (H V. 8184) gegen: Vnd lachedin dar na (S V. 440): »Das lachen in S entspricht dem rire bei Benoit.« Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-274. 207 Zu dieser Passage in der synoptischen Gegenüberstellung des H- und S-Textes vgl. Kap-4. 208 Vgl. oben, S. 119 mit Anm. 180. Auf allen acht Seiten der zwei Doppelblätter fehlen am unteren Rand die letzten zwei Zeilen. Zu den Einzelheiten vgl. Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-258. 209 Schröder, Beiträge zur Textkritik (1918), S.-79. 210 Schröder, ebd., führt die Kürzung darauf zurück, dass »der Schreiber glaubte durch Weglassung der ›Owê‹-Ausrufe und ihrer Umgebung am bequemsten kürzen zu können.« Dieses Konzept korreliert mit dem in S mehrfach zu beobachtenden Verfahren, syntaktisch unübersichtliche Satzgefüge durch Umstellungen und neue Lesarten zu ›glätten‹, 205 die bisweilen sogar auf den Text der französischen Vorlage des Liet von Troye zurückgehen können. 206 Die mit dem Prinzip der abbreviatio freigesetzte alternative Perspektivierung des Erzählten entfaltet sich insbesondere an einer Passage, die in S am merklichsten abbreviiert ist: Die Klagerede der Briseida (H V. 8331-8408 / S V. 577-640), an der geradezu prototypische Verfahrensweisen sowie inhaltliche Implikationen literarischer Kürzung anschaubar werden. 207 Sieht man von den Lücken ab, die in S durch das Zerschneiden der Pergamentblätter zustande gekommen sind, wobei sich die an dieser Stelle ehemals befindliche Verszahl durch einen Vergleich mit dem H-Text relativ sicher rekonstruieren lässt, 208 bietet S für die Passage rund 14 Verse weniger als H (64 vs. 78). Schon Schröder hat beobachtet, dass es sich bei den Kürzungen »hauptsächlich um Ausrufe handelt, die ohne syntaktischen Eingriff herausgenommen werden konnten«. 209 Es verhält sich nun aber keineswegs so, als sei das in H »künstlerische Gebilde« aus reiner Intention zur ›bequemen‹ mechanischen Raffung »von S in der plumpsten Weise gestört« worden. 210 Bei einem Blick auf das Profil der Klage in S fällt nämlich auf, dass die Kürzungen auf eine Konzeption der Klagerede verweisen, die aufgrund der vorgenommenen strukturellen Modifikationen einen gegenüber H differenten Gestus erhält. Bemerkenswert erscheint zunächst die konsequente Streichung der Klageformeln, die in Briseidas lamentatio an drei Stellen (fast) wörtlich wiederkehren: Owe vnd owe / Owe nv vnd immer me (H V. 8353f.; 8385 f.; 8395 f.). Sie markieren einerseits die zunehmende Affiziertheit der Sprecherin, andererseits sorgen sie für eine Rhythmisierung der Klagerede vor allem zu deren Schluss hin, mit der in rhetorischen Fragen jeweils neue (Selbst-)Vorwürfe für die als Strafe empfundene Rückkehr zu Briseidas Vater Calchas (und ins Lager der Griechen) eingeführt werden: Owe vnd owe Owi nv vnd immer me 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 129 <?page no="130"?> 211 Schröder (Beiträge zur Textkritik [1918], S. 79f.) nennt als Beispiele die Klagereden der Helena (H V.-2661-2669) und Cassandra (H V.-2756-2763). 212 Schröder, Beiträge zur Textkritik (1918), S. 80: »Auch sonst enthalten die ›Plusverse‹ [sc. von H] deutliche Anklänge an echte Partien […]: H hat nirgends nachweislich zugesetzt, S aber hat zweifellos vielfach gestrichen und dann die Ränder geflickt wo es nötig schien.« 213 Auf diesen Topos wird z. B. immer wieder in der Nibelungenklage mit Bezug auf Kriemhild angespielt. Vgl. Frick, Narrative Ordnung? (2021), bes. S.-91 mit Anm.-47. Waz wil man an mir rechen Oder waz mac ich nv sprechen […] Ist ieman der daz vernvmen hat Daz ich mit worten oder mit tat Oder mit gerete Vbel ie getete […] (H V.-8385-8388; 8397-8400) Diese auf der rhetorischen Figur der Exclamatio beruhende Komposition erschien offenbar für das in S favorisierte Profil der Passage als disponibel. Eine Beobachtung, die umso signifikanter ist, als solche Ausrufe in den Frauenklagen des Liet von Troye zu den regelmäßig eingesetzten Elementen gehören. 211 Das bedeutet freilich nicht, dass der S-Text an dieser Stelle, wie Schröder postuliert, verderbt sei oder als ›unecht‹ im Sinne eines als Maßstab gesetzten vermeintlichen Autorstils einzustufen wäre. 212 Vielmehr dokumentiert die systematische Tilgung der exclamationes sowie weiterer, darauf Bezug nehmender Verse eine gezielte Modellierung der Passage im Modus der abbreviatio, die auch der Bedeutungsebene gilt. Mit den Ausrufen fehlt der Klage der expressive Gestus der Ratlosigkeit und der Resi‐ gnation vor dem drohenden Schicksal. Briseida lässt zu Beginn ihrer Klage deutlich werden, dass sie infolge ihrer Hoffnungslosigkeit einen Selbstmord dem Verlassen Trojas vorzöge (H V. 8344-8349 / S V. 590-595). Diesem Akt der Selbstermächtigung steht jedoch die fehlende physische Fähigkeit der Frau entgegen - ein auch aus anderen mittelhochdeutschen Texten der Zeit bekannter Topos. 213 Im Anschluss an diese Stelle ist die erste Owe-Sequenz platziert: Sie sprach owe vnd owe Owe nv vnd immer me Owe daz ich den lip ie gewan (H V.-8353-8355) Der Ausruf wendet die Klage um das eigene Unglück auf die Konsequenzen für den verlassenen Troylus hin (H V. 8356-8372). Der Ausfall des dreifachen Ausrufs in S nimmt Briseidas Klage das emotionale Moment und verleiht ihren Ausführungen den Charakter einer ›rationaleren‹ Argumentation: Den Trojaner Troylus habe sie sich selbst zum Mann erwählt, die an ihr sich nun vollziehende ›Rache‹ (S V. 618-624) sei daher völlig unbegründet; auch wenn sie damit die Schuld ihres Vaters sühne (der die Heirat trotz Briseidas Position als Priesterin erst zugelassen habe), stehe ihr die gewählte Verbindung von Rechts wegen zu (S V. 625-630). Weil sie sich, wie öffentlich bestätigt werden könne, mit Wort und Tat zu keiner Zeit vergangen habe (S V. 631-634), bliebe auch der Aufruf zu ihrer Verbrennung ohne Zustimmung (S V. 635-637). Es ist den Trojanern daher eine Schande, dass sie die Stadt auf diese ehrlose Weise verlassen muss (S V.-640, s.-u.). 130 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="131"?> 214 Dazu Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S. 271: Es ist »auffallend, daß der S-Bearbeiter das wichtige Motiv der Todesschuld (8401) übergangen hat, das in Briseidas Rede erst den Vorschlag, sie zu verbrennen, begründet.« In der knappen Paraphrase wird zweierlei evident. Erstens: Anstelle des habitualisierten, mit Selbstvorwürfen arbeitenden Klagegestus bietet S eine gänzlich andere Ausrichtung der Rede. In diesem Zusammenhang fehlt das Motiv der Todesschuld, die Briseida auf sich geladen habe und aus der in H ihre Verbrennung als rechtmäßige Sühne abgeleitet wird (H V.-8401). 214 In S ist es vielmehr die wechselseitige truwin (S V. 630) des Paares, ihres Kindes, aber auch Briseidas absolute Schuldlosigkeit, die als Begründungsnarrativ fungieren. So kann der Appell zum Aufrichten des Scheiterhaufens in einer rhetorischen Frage neutralisiert werden, die im Rahmen einer ›wenn-dann‹ Konstruktion eine affirmative Antwort grundsätzlich ausschließt: Daz ich verschuldet han den tot - So tut mir schendlichen not - So sult ir niht beiten Wes můgit ir langir nů betin? Heizzet fur bereiten Heizit ein groz fiv̂ r geretin Vnd lazzet mich vurbunnen Vnd lazit mich uirbrinnin. (H V.-8401-8405) (S V.-635-637) Der Fokus wird von Briseida als Subjekt einer zwar von Calchas ausgehenden, jedoch selbstverschuldeten Rache auf die Gesamtheit der Trojaner verlagert, denen die ganze Verantwortung für den Vollzug der Auslieferung zugesprochen wird: Ir hat is alle sunde (S V.-640). Zweitens: Den Eindruck einer alternativen Akzentuierung des Erzählten bestätigen Kürzungen iterativer Strukturen innerhalb der Klagerede. Neben den exclamationes handelt es sich dabei um die beiden folgenden Elemente: Eine Briseidas emotionale Betroffenheit signalisierende Apostrophe an Troylus, die unmittelbar an den ersten owe-Ausruf folgt (Troyle herze lieber man, H V. 8356), sowie die als Ausruf formulierte Wehklage, die auf die zweite owe-Sequenz zuführt: An mir armen wibe Waz riechit man an mir wibe Nv weiz ich waz man richet - Daz man mir leide sprichet - Vnd tribet von dem man - Den ich von herzen liep han - Owe vnd owe - Owi nv vnd immer me - Waz wil man an mir rechen Odir waz wil man an mir rechin? Oder waz mac ich nv sprechen Waz mac ich nu sprechin? (H V.-8380-8388) (S V.-623-624) Hier zeichnet sich in S die bereits weiter oben beschriebene Tendenz ab, inhaltliche Redundanzen zu reduzieren. Die Frage nach der Potentialität einer personalen Schuld (H V. 8383) wird direkt im Anschluss an die zweite owe-Exclamation wiederholt (Waz wil man 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 131 <?page no="132"?> 215 Vgl. das Konzept ›korrelativer Sinnstiftung‹ bei Stock, Kombinationssinn (2002), S.-17-32. 216 Vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-42f. 217 Boková / Bok / Gärtner, Neue Herbortfragmente aus Krumau (1996), S.-334. an mir rechen, H V. 8387). Diese Struktur bot offensichtlich den Anlass, die entsprechenden Verse unter Ausfall des dazwischen Liegenden zu einer Doppelformel zu kondensieren, die die Intentionalität des erfahrenen Rachegeschehens in temporaler Hinsicht auf die Gegenwart wie Zukunft hin öffnet: Waz riechit man an mir wibe / Odir waz wil man an mir rechin? (S V. 622f.). Dass es sich an dieser Stelle um einen bewussten Eingriff handelt (und nicht etwa um einen ›Augensprung‹ des Scheibers), erweist die Umformulierung an der Kürzungsstelle, an der die Verse H 8380 f. zu einem zusammengezogen sind (S V.-622). Die iterative Rhetorik von Briseidas Klagerede ist auf eine Intensivierung des schmerz‐ vollen inneren Erlebens der Figur abgestellt, wie sie in H an dieser Stelle leitendes Prinzip der literarischen Darstellung ist. Sie arbeitet mit emotionalen Ansprachen, Ausrufen, rhetorischen Fragen, die die ausweglose Lage der Figur in einem Gestus personaler Affiziertheit aufgehen lassen - und damit die Grundlage bilden für Briseidas Selbstanklage, die allein den Tod als Strafe fordert. Indem der S-Text an den markanten Stellen ohne diese Merkmale auskommt, liegt der Fokus zwar durchaus auch auf einem emotionalen Erleben der Figur; dieses wird freilich in einem ›objektiveren‹ Modus geboten, der weniger die Verzweiflung und Hin- und Hergerissenheit Briseidas thematisiert, als vielmehr der Etablierung inhaltlicher Analogien im Sinne eines Verfahrens korrelativer Sinnstiftung dient. 215 Denn das Ende der Klagerede in S bezieht sich - infolge der Streichung des Schuldmotivs - auf deren Anfang zurück. Die Verbrennung der Briseida durch die Trojaner wird als einzig realisierbare Todes-Option angesichts der weiblichen Insuffizienz zur Gewaltausübung fokussiert und im selben Moment als undurchführbar zurückgewiesen: Niemand kann ihr eine Schuld nachsagen, aufgrund derer sie den Tod verdient hätte. Damit gewinnt die Klagerede eine gewisse argumentative Symmetrie, die nunmehr das Motiv der Selbstaufopferung sowohl im Hinblick auf das Handlungspotential der Figur wie auch auf das öffentliche Urteil als unangemessen entlarvt. War das Todesbzw. Schuld-Motiv in H Leitkategorie und Rahmen für Briseidas planctus, stellt S gerade die Unmöglichkeit ihres Todes - d. h. die unausweichliche Notwendigkeit ihres Abschieds von Troja - vor Augen. Damit handelt es sich um eine Neukonfiguration, die in der folgenden Szene, in der Troylus und Briseida einander umklammert halten und deren affektiver Charakter durch mehrgliedrige Anaphern besonders betont wird (s. oben), bruchlos aufgeht. Die durch die Skokloster-Fragmente repräsentierte Version des Liet von Troye lässt sich aufgrund der herausgearbeiteten Merkmale als Kurzfassung ansprechen. 216 Auch wenn sie einen - relativ zum Gesamtumfang - kleinen Ausschnitt des Textes überliefert, besteht für die Annahme, dass die kürzende Bearbeitungstendenz dem gesamten Text gegolten haben muss, kein Zweifel. Das dokumentieren die Krumauer-Fragmente (K), die, wie die Forschung annimmt, aufgrund »geschickter Kürzungen« dieselbe Fassung bezeugen. 217 Das Verfahren der abbreviatio als ein Prinzip zur Textmodellierung ist dabei einerseits auf einer rhetorischen Ebene zu beobachten. Neben den schon in der vorgängigen Version des Liet von Troye prozessierten Kürze-Signalen erfolgt an vielen Stellen eine Akkomodation des Textes an eine brevitas-induzierte Stilistik - mit dem Effekt einer stellenweisen 132 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="133"?> 218 Siehe zur Instrumentierung dieser beiden literarischen Techniken im Bereich poetischer Reflexion und Produktion in der Latinität Kap.-1.3. 219 Zur Topik als »allgemeine[m] Archiv kollektiven Erfahrungswissens« vgl. Friedrich, Historische Metaphorologie (2015), S.-184. 220 Ausdruck dieser ›Mode‹ seien v. a. dilatatio-basierte Elemente, wie dies Linden (Exkurse [2017], S. 111) am Beispiel des Exkurses aufzeigen kann: Im »volkssprachigen Roman des Mittelalters narrativen Beschleunigung des Erzählten. Indem andererseits sprachliche wie inhaltliche Redundanzen und iterative Strukturen beseitigt werden, bis hin zu einer punktuellen Ver‐ schiebung des anvisierten Deutungsrahmens (evident in der Klage der Briseida), wird die rhetorisch grundierte Technik der abbreviatio auf der Ebene einer ›narrativen‹ Textpoetik wirksam. Sie zielt nicht nur auf eine Neu-Ordnung der syntaktischen Bezüge einzelner Satzgefüge und Syntagmen, sondern impliziert damit zugleich eine alternative Akzentuie‐ rung der semantischen Strukturen. Als Ordnungsmuster wahrnehmbar wird der Modus kürzender Bearbeitung im Liet von Troye durch eine prononcierte Selbstreferentialität, die die literarische Form als sinntragende Komponente des Erzählens rezipierbar macht. Ihre poetische Legitimation bezieht die abbreviatio gerade aus der aemulativen Konfrontation mit ihrem in der zeitgenössischen Produktion der höfischen Epik attraktiveren Komple‐ ment, der amplificatio. Diesem gegenüber wird sie als gleichgewichtiges, ja mehr noch: als zu favorisierendes Element einer gewissermaßen ›rhetorischen‹ Narratologie des höfischen Romans profiliert. 2.1.4 Poetische Form und narrative Struktur. Diskursive Interferenzen abbreviierender Poetik Kürzung und Erweiterung gehören als dynamische Verfahren zu den zentralen Parametern der Arbeit an vorgängiger materia. 218 Dabei kann die literarische Kürzung im Modus quantitativer Reduktion als produktionsästhetische Kategorie bei der Umsetzung eines vorgängigen Textes in ein neues sprachlich-kulturelles Umfeld wirksam, aber auch in den Produkten des Wiedererzählens selbst explizit werden: sei es als programmatisches Prinzip der Textgestaltung, sei es als an signifikanten Stellen der Erzählung inserierter Topos, 219 der nicht zwangsläufig auf eine tatsächlich vorgenommene Kürzung verweisen muss, sondern als Rezeptionsmarker für das Stilideal der brevitas wie für das poetische Organisa‐ tionsprinzip der abbreviatio dienen kann. Die Wahrnehmung und Bewertung literarischer Kürzung erscheint in historischer Perspektive - mit Blick auf Herborts von Fritzlar Liet von Troye - eindeutig besetzt: Keineswegs als Mittel ›bloßer‹ Redundanzvermeidung fungiert der Vorgang gezielter Kürzung (abbreviatio) als Erzähl- und Formprinzip des Textes, das in rhetorischer Kürze eine pointierte Ausprägung findet und mittels gezielter Verweise, sog. ›Kürze-Topoi‹, als rezeptionsorientierte Kategorie unmittelbar thematisch wird. Herbort reagiert mit der Wahl seines Erzählverfahrens ganz bewusst auf eine im deutschen Sprachraum sich ausbildende literarische ›Mode‹ der Zeit. Diese konstituiert sich in einer Erwartungshaltung des Publikums an eine der höfischen Norm adäquate Verkürzung langer Mußestunden, die die Texte selbst reflektieren und mittels der Demonstration materieller Prachtentfaltung, sozialen Status und individueller Exemplarizität in Exkursen, digressiones und descriptiones zu bedienen suchen. 220 Als ›kurzweilig‹ in diesem Sinne erscheint ein 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 133 <?page no="134"?> entwickelt sich der Exkurs seit seiner anfänglichen Verwendung bei Chrétien de Troyes und im deutschen Raum bei Hartmann von Aue zu einem zentralen Mittel der erzählerischen Gestaltung, das die Sinnbildung auf elementare Weise beeinflusst.« 221 Vgl. die Überlegungen in Kap. 2.1. 222 Diese Eigenheiten der Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epik beobachtet schon Henkel, Kurzfas‐ sungen (1993), S.-50. Siehe dazu zusammenfassend Kap.-1.2. 223 Dabei ist es Herbort aber kaum darum zu tun, Kurzweil durch die Demonstration der eigenen »Unduldsamkeit«, die auf die Figuren des Romans übertragen werde, zu erzeugen. Vgl. Schmid, Ein Trojanischer Krieg gegen die Langeweile (1997), S.-201. höfischer Text also vornehmlich dann, wenn er sich gerade nicht durch (quantitative) Kürze auszeichnet, sondern seine Rezipienten durch die Evokation ›gefühlter‹ Kürze (trotz einer unter Umständen effektiven Längung gegenüber der Vorlage) attrahiert 221 - ein Konzept, dem das Prinzip der amplificatio bzw. dilatatio materiae zuarbeitet, während die dafür typischen Elemente in Kurzfassungen längerer Ausgangstexte als geradezu verzichtbar erscheinen. 222 Dass die Aufgabe des Dichters darin besteht, dem Aufkommen von ›langer Weile‹ entgegenzuwirken, fokussiert Herbort selbst am Ende seines Trojaromans. Bei einem Fest zu Ehren von Peleus und Thetis sind angesehene Dichter zugegen (poete), die mit ihrer Kunst, d. h. den literarischen Erzählungen (mere), für eine dem Anspruch des Hofes angemessene Gestaltung der Zeit sorgen: Dar quamen poete Die man zv gutem werte hete Daz waren tichtere Bi der zit was ir lere Vil liep vnd ir list Als ez hute dis tages ist Nemeliche dem man Die ir kvnst erkennen kan Muse da so svngen Daz ir stimme erklungen Vber manige mile Da kvrzeten die wile Die edeln tichtere Mit manigerhande mere Da was kvrzewile viele […] (V.-17868-17882; Hervorgebungen: J.F.) Das ›Verkürzen‹ der Zeit wird also im Liet von Troye selbst - ein wohl schon etablierter literarischer Topos - als universalhistorisch verbürgte (Bi der zit; hute), idealtypische poetische Praxis inszeniert. Daher stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern ein Text wie das Liet von Troye, der um die konventionellen Strukturen romanhaften höfischen Erzäh‐ lens ›verkürzt‹ ist, in historischer Perspektive als ›kurzweilig‹ erscheinen kann, gerade weil er die Ausfaltung dieser Strukturen auf Schritt und Tritt verweigert. 223 Vielmehr rekurriert Herbort auf einen Erwartungshintergrund der höfischen Gesellschaft, der auf den sozial-historischen Zeichenwert von Kurzweil verweist. Weitaus häufiger verbirgt sich in 134 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="135"?> 224 Zu diesem Aspekt am Beispiel des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), bes. S. 371-376: Hier lässt sich beobachten, dass die Kürze-Signale »keineswegs zum tatsächlichen Abbruch oder zu einer radikalen Kürzung der Rede führen, sondern diese vielmehr in die Länge ziehen, durch narrative ›Einlagerungen‹ überformen und ›Erzählsituationen mehrfacher Ordnung‹ produzieren.« (Ebd., S. 376). - Den Kürze-Topos als Lizenz zum Mehr-Sagen analysiert Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S.-67-83. 225 Zu dieser Neuperspektivierung des Liet von Troye nachdrücklich Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-183-211. 226 Siehe Kap.-2.1.1 und Kap.-2.1.2. 227 Die »intensive Partizipation Herborts am gelehrten Trojadiskurs« rekonstruiert Bauschke, Diskur‐ sive Evaluation (2021), S.-198. 228 Wiederholt thematisiert Herbort seine Teilhabe am kulturellen, lateinisch dominierten Bildungs‐ system der Zeit »und alludiert dabei immer wieder das brevitas-Prinzip.« Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-185. 229 Siehe Kap. 2.1.1. Einen komparatistisch ausgerichteten Vergleich der Prologe und Epiloge von Herborts und Benoîts Trojaroman bietet Herberichs, Poetik und Geschichte (2010), S.-63-101. 230 »Auf beide Inszenierungsgesten bezogen, die des höfischen Amplifizierers und die des lateinischen Abbreviators, bleibt Herbort selbst stets ein Grenzgänger, nicht aus Unvermögen, sondern weil die Verquickung beider Paradigmen auf deren jeweilige aemulatio zielt.« Bauschke, Diskursive Evaluation (2021), S.-206. der Tradition höfischen Erzählens hinter den brevitas-Topoi ja ein rhetorischer Kunstgriff, über prononcierte Kürzebzw. Kürzungs-Postulate die benevolentia der Rezipienten zu sichern und damit die Lizenz, sich nicht kürzer, sondern länger zu fassen. 224 Das Erzählprogramm der abbreviatio, das Herbort in seinem Trojaroman realisiert, setzt genau an dieser aus der höfischen Literatur bekannten Systemstelle an. In einer Abkehrbewegung von der seinerzeit im Zusammenhang des Sprach- und Literaturtransfers aus der Romania bereits etablierten Modalität der dilatatio orientiert sich Herbort an einer Diskurstradition, die nicht im Sektor volkssprachiger Kommunikation, sondern der Latinität beheimatet ist. 225 Um den Bezugshorizont von Herborts Liet von Troye in seiner historischen Spezifik auszuleuchten, bedarf es also einer Umkehrung der Denk‐ richtung, die in der Forschung traditionellerweise von den französischen Prätexten der deutschsprachigen Adaptationen ausgeht. Ein Blick auf die in Herborts Text vielfältig reflektierte Poetik der Kürzung allerdings zeigt, 226 dass er nicht aus der Perspektive der höfischen Romanproduktion, sondern der gelehrt-lateinischen Troja-Tradition der Zeit heraus argumentiert. 227 Sein Trojaroman bildet den Versuch, das Raffinement der Kürzung, das in den lateinischen Troja-Dichtungen des 12. Jahrhunderts vorbildlich wirkt, für eine volkssprachige Bearbeitung des Themas nutzbar zu machen. Diesem Impetus entspricht Herborts Stilisierung als gelehrter Dichter, die er immer wieder - nicht nur im Prolog - zu erkennen gibt. 228 Herbort konkurriert also mit den Texten der lateinischen Tradition und distanziert sich damit von den volkssprachigen Verfahren der dilatatio (repräsentiert durch seine Vorlage, Benoîs Roman de Troie). So lässt sich seine im Prolog vorgenommene unkon‐ ventionelle Positionierung zwischen den lateinischen und (alt-)französischen Versionen des Stoffes verstehen: 229 Aufgrund der Eigenheiten der deutschen Sprache, die mit der aus‐ gefeilten Rhetorik, Stilistik und dem synthetischen Sprachbau des Lateinischen hinsichtlich der Möglichkeiten artifizieller sprachlich-lexikalischer Verdichtung kaum konkurrieren kann, bietet sein Trojaroman eine amplifizierende Version. 230 Die Wahl der Volkssprache freilich markiert zugleich die Bindung an einen spezifischen Diskursrahmen. Sie macht die 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 135 <?page no="136"?> 231 Vgl. Worstbrock, Dilatatio materiae (1985), S. 1-30. - Zur digressio, das sich in Exkursen formiert, vgl. Linden, Exkurse (2017). - Zur literarischen Technik der Stoffbearbeitung im Eneasroman siehe Schmitz, Die Poetik der Adaptation (2007). 232 Vgl. Henkel, Reduktion (2017), S.-27-55. 233 Zur Frage nach der erzählten Ordnung bzw. der Ordnung des Erzählens vgl. aus epistemologischer, wissenshistorischer und erzähltheoretischer Perspektive die Beiträge in Fuhrmann / Selmayr (Hg.), Erzählte Ordnungen (2021). 234 Herbort nehme, so Bauschke (Strategien des Erzählens [2004], S. 358), bewusst eine Demontage des höfischen Diskurses vor, um »positive Maßstäbe eines höfischen Denkmodells« zu dispensieren. 235 Bauschke, Strategien des Erzählens (2004), S. 365. Vgl. in dieser Hinsicht auch Bauschke, Geschichts‐ modellierung (2003), S.-155-174. Verwendung gängiger Erzählschemata und poetischer ›Bauformen‹, generell: im höfischen Erzählen in der Volkssprache akzeptierter und geübter Verfahren der Vorlagenbearbeitung, unverzichtbar. Von einem besonderen Stellenwert für die volkssprachige Poetik sind dabei Elemente eines dilatierenden Erzählens. 231 Indem nun aber Herbort ganz bewusst gerade in solchen Passagen Kürze-Topoi einsetzt, hält er sein - gegenüber dem im höfischen Erzählen favorisierten dilatatio-Modus - abbreviierendes Konzept für das anvisierte Publikum transparent. Herborts Trojaroman lässt sich in dieser Hinsicht als ein ›Novum‹ in der deutschspra‐ chigen literarischen Landschaft um 1200 bezeichnen. Er aktualisiert ein poetisches Prinzip, das im lateinischen Literaturbetrieb der Zeit zu einem etablierten Modell produktiver An‐ eignung bekannter Texte und Stoffe gehört. 232 Und er aktualisiert es nicht nur im Sinne eines bearbeitenden Zugriffs auf einen sprachlich gefassten Prätext, sondern stellt das Prinzip der Kürzung sowohl in der stilistischen Faktur seines Reprodukts als auch in autoreflexiven Momenten dezidiert aus. Literarische Kürzung wird damit als Adaptationsprinzip und Rezeptionsphänomen unmittelbar zugänglich. Dieses Verfahren deutet darauf hin, dass die abbreviierende Bearbeitung im Kontext volkssprachigen romanhaften Erzählens nicht zu den als selbstverständlich erachteten Modalitäten des Umgangs mit Vorlagenmaterial gehört hat. Indem Herbort die Kürze-Topoi gezielt als Kommunikationssignale nutzt, semantisiert er die betreffenden, vornehmlich digressiven Passagen in ihrem Bezug auf die erzählten Qualitäten als verzichtbar, wenn nicht gar substanzlos. Die brevitas-Signale bewegen sich damit auf einer Ordnungsebene des Erzählens, 233 die Narration und Diskurs in ein klar disponiertes Verhältnis rückt und eine Differenzierung auf poetologischer Ebene anzeigt. Für einen historischen Stoffkomplex erscheint aus der gelehrten Perspektive eines Klerikers eine Überformung mittels höfischer diskursiver wie sprachlicher Muster als inadäquat. 234 Herbort […] demonstriert, wie wenig Sinn schon die literarische Modellierung der höfischen Utopie ergibt. […] Die höfische Utopie eignet sich gerade nicht, um die Lebenswelt antiker Helden zu konstituieren […]. 235 Hinter der Reflexion narrativer, rhetorisch-poetisch induzierter Verfahren wird das Be‐ mühen um eine Neukonzeptualisierung der in der zeitgenössischen Latinität etablierten ›Regeln‹ und Konventionen im Modus der Volkssprache erkennbar. abbreviatio als poeti‐ sches Prinzip wird damit einerseits auf der Ebene der Narration wirksam, indem es mittels rhetorischer Verfahren der brevitas eine Beschleunigung des Erzähltempos generieren 136 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="137"?> 236 Diesen Effekt auf der Ebene der Narration beobachtet am Beispiel der Massenschlacht vor Troja (V.-5570-5582) auch Bauschke, Diskursive Evaltuation (2021), S.-194f. 237 Zum Konzept der epischen ›Bauform‹ siehe Kap.-1, Anm.-36. 238 Zu diesem Effekt abbreviierender Bearbeitung längerer Prätexte Linden, abbreviatio als Beschleuni‐ gung (2021), S.-407-431. 239 Glauch, Inszenierungen der Unsagbarkeit (2003), S.-150. 240 Linden, Exkurse (2017), S.-532. 241 Zu Exkursen als »Vehikel der Rezeptionslenkung« vgl. Linden, Exkurse (2017), S.-87-89. 242 Mit den in den digressiones eingelagerten rhetorischen Topoi vergewissere sich der höfische Roman »seiner selbst, indem er seine eigenen Sinngebungsstrategien immer wieder anspielungsweise zitiert«. Glauch, Inszenierungen der Unsagbarkeit (2003), S.-166. kann; 236 andererseits und zugleich wird gerade die Wahrnehmung narrativer velocitas durch das Inserieren von Kürze-Topoi forciert, die vorzugsweise spezifisch epische ›Bauformen‹ betreffen, die das Erzählen im diskursiven Modus üblicherweise stillstellen (Exkurse, digressiones, descirptiones, Kataloge, Erzählerkommentare etc.). 237 Insofern lässt sich das im Liet von Troye als Wahrnehmungskategorie ausgestellte Verfahren der abbreviatio als Plädoyer für eine Erzählf o r m verstehen, die ihre narrativen Spezifika aus der Umsetzung rhetorisch-poetischer Muster und Modelle heraus bezieht. Dass diese Umsetzung im unmittelbaren zeitlichen bzw. räumlichen Entstehungszusam‐ menhang des Textes durchaus auf Interesse gestoßen ist, dokumentiert der kürzende Zugriff auf Herborts Text in der Fassung *SK. Als narrative Implikation der abbreviatio-Technik stellt sich auch hier als Effekt produktionsseitiger Kürzung ein erhöhtes Erzähltempo ein. 238 Offenbar hatte gerade die Favorisierung eines knapperen, konziser und stringenter geführten Erzählduktus, in dem umfangreiche digressiones nicht zweckdienlich sind, als Anschlusskommunikation an Herborts Text einen berechtigten Ort im volkssprachigen Diskurs der Zeit gefunden. Die Kürze-Topoi, so auch in *SK überliefert, verweisen auf eine Prämierung des Weniger-Sagens, die sich von der präsupponierten Publikumserwartung nach dilatierender Darstellung distanziert. Die Kürze-Topoi sind - blickt man wieder auf den gesamten Text - in der Regel innerhalb narrativer Elemente eingesetzt, die zum weiteren Rahmen der auf der dilatatio bzw. amplificatio materiae basierenden Technik zählen (z. B. Kataloge, descriptiones, Exkurse). Solche digressiones öffnen poetologische Spielräume, in denen auf »die Modalitäten des Erzählens selbst« Bezug genommen wird. 239 In dieser Hinsicht sind die Kürze-Topoi den digressiones trotz ihrer als verfahrenstechnisch entgegengesetzt markierten Modalität funk‐ tional äquivalent. Indem sie das Nicht-Sagen innerhalb der diskursiv angelegten Passagen kultivieren, haben sie als Gestaltungsmittel und Strukturelement Teil am »Kontinuum des exkursorischen Sprechens«. 240 Innerhalb dieses Spektrums bilden sie Instrumente intensivierter Rezeptionssteuerung, 241 die im Prozess des Auslassens derjenigen Momente, die gerade nicht für die fokussierte Deutungsdimension relevant sind, die vom Erzähler akzentuierten Sinnhorizonte unmittelbar ansichtig machen. Es sollte deutlich geworden sein: Die Kürze-Topoi sind im Liet von Troye also Teil einer epischen Technik, deren metapoetisches Potential zu den zentralen Elementen literarischer Sinngebungsverfahren im höfischen Roman gehört. 242 Ihre Spezifik liegt in ihrer formelhaften Verweisfunktion auf einen alternativen Rezeptionsmodus, der das 2.1 Kürzung als Adaptationspraxis und Modus der Rezeptionssteuerung 137 <?page no="138"?> 243 Vgl. Schwitter, Das ›versefüllende Asyndeton‹ (2021), S.-125-161. 244 Linden, Exkurse (2017), S.-68. Wenigergegenüber dem Mehrsagen prämiert. Darüber hinaus eignet ihnen ein Moment performativer Fremdwie Selbstreferentialisierung, indem sie außerhalb der Narration liegende Wissensräume aufrufen und das Erzählte auf das als notwendig erachtete Maß beschränken, das kultur- und diskursgeschichtlichen Konstanten unterliegt. Rhetorische Formaspekte stehen dabei im Dienste spezifischer Semantiken, deren Sinnpotential sich in einem Kontinuum von poetischer Technik, literarischer Tradition, aber auch kultur- und sozialhistorischer Situierung der Texte entfaltet. Die Verflechtung von Produktions- und Wirkungskalkül abbreviierender Poetiken in Herborts von Fritzlar Liet von Troye macht die Kürze-Topoi als spezifische Form rhetorisch-poetischer Strukturierungs- und Ordnungsmuster interpretierbar. Die formale Gestaltung des Textes gemäß der Operation stilistischer Kürze (brevitas) bedingt ein auf der Erzählebene zu situierendes Kippmoment des zwischen Fülle und Mangel schillernden Redegestus (Stichwort: ›versefüllendes Asyndeton‹), 243 der die den Kürze-Topoi zugrunde liegende Forderung narrativ umsetzt. Damit partizipieren die brevitas-Signale an der »Si‐ multaneität verschiedener Ebenen der Sinnbildung« 244 und implementieren ein gegenüber dem höfischen Erzählverfahren distinktes Modell: das eines in der Volkssprache dichtenden Gelehrten, der das höfische Postulat nach der Verkürzung langer Mußestunden mittels literarischer Unterhaltung als eine letztlich inadäquate Erwartungshaltung kritisiert - basiert diese doch auf dem Unvermögen der Rezipienten, die kvnst der Poeten, d. h. ihr formschaffendes literarisches Vermögen angemessen zu würdigen. Um auf die von Herbort mit einem autoreferentiellen Impetus fokussierte ›Aufgabe‹ des Dichters zurückzu‐ kommen (s. oben, V. 17868-17882): Allenfalls denjenigen gelten die lere und list der Poeten (V. 17871f.), d. h. die von ihnen vermittelten, nach Maßgabe gelehrter ars überformten Inhalte, nurmehr etwas, [d]ie ir kvnst erkennen (V. 17875) können. Und solchen offenbar nur in der Volkssprache sozialisierten Rezipienten offeriert Herbort das Erzählmuster der Kürzung, das in einer gelehrten Sphäre begründet liegt, als Kontrastprogramm zu den in dieser Zeit in der volkssprachigen Romanpoetik weiter verbreiteten Techniken dilatierender Textbearbeitung. 138 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="139"?> 245 Die monumentale Monographie von Joachim Bumke (Die vier Fassungen [1996]) ist noch immer das Standardwerk der Klage-Forschung. Der Text wird im Folgenden zitiert nach Bumke (Hg.), Die Nibelungenklage (1999). 246 Vgl. J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-154-159. 247 Vgl. die unterschiedlichen Positionen der Forschung zum Stellenwert mündlicher Tradierungspro‐ zesse bei der Entstehung des Nibelungenliedes in Curschmann, Dichter alter maere (1992), S.-55-71; Haferland, Der auswendige Vortrag (2002), S. 245-282; Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Me‐ dialität (2004); J.-D. Müller, ›Improvisierende‹, ›memorierende‹ und ›fingierte‹ Mündlichkeit (2005), S. 159-181; Schulze, Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2007), S. 1-18. - Gegen das Konzept fingierter Mündlichkeit argumentiert entschieden Haferland, Das Nibelungenlied im Zwischenbereich (2019), S.-28-84. - Die buchliterarische Tradition der Klage akzentuieren Curschmann, Nibelungenlied und Nibelungenklage (1979), S.-85-119; Mertens, Konstruktion und Dekonstruktion (1996), bes. S.-366f. 248 Zum Gattungsverständnis Szklenar, Die literarische Gattung der Nibelungenklage (1971), S. 41-61; Knapp, Tragoedia und Planctus (1987), S. 152-170. - Zur mittellateinischen Trostliteratur von Moos, Consolatio (1971/ 72). Die Nähe der Nibelungenklage zum lateinischen Planctus erscheint evident, nicht nur weil sie sich in der Selbstbezeichnung der Dichtung im Schlussvers (diz liet heizet diu Klage. *B V. 4322) manifestiert, sondern weil auch der Gleichheitstopos angesichts des Todes als »Hauptgegenstand der ›Anklage‹ im Planctus« (von Moos, Consolatio [1971/ 72], Testimonienband, S. 115, T 552) Eingang gefunden hat: Christen und Heiden (*B V. 1849f.), tumbe und wîse, tôren und grîse (*B V.-1950-1953) klagen gemeinsam um die Toten. 249 J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S. 26. - Die Klage sei ein »im Sinn der geltenden ästhetischen Normen legitime[r] Buchtyp«, so Wachinger, Die Klage und das Nibelungenlied (1981), S.-266. 250 Die Klage eröffne »den übergeordneten Bezugsrahmen« für die Einordnung des Nibelungengesche‐ hens in die Kategorien von Schuld und Sühne als »Formen christlicher Leidbewältigung«. Henkel, Nibelungenlied und Klage (1999), S. 75. Vgl. auch Henkel, Die Nibelungenklage (2003), S. 113-133, bes. S.-120. 251 Zu diesem Aspekt Gillespie, Die Klage as a Commentary (1972), S. 153-177; Knapp, Tragoedia und Planctus (1987), S. 152-170; J.-D. Müller, Die Klage (2003), S. 163-182. - Die Klage stellt diese Dimension in zahlreichen Kommentaren des Erzählers bzw. der Figuren aus, vgl. got der woldes in [sc. den Burgunden] niht geben, / daz in daz liep geschaehe, / daz in deheiniu saehe / bî gesundem sînem lîbe (*B V.-1942-1945). 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J Die Nibelungenklage  245 bietet gewissermaßen einen Sonderfall epischen Erzählens. 246 Dem Stoff nach perpetuiert sie heroische Überlieferung; zugleich wird jedoch das Idiom des Nibelungenliedes aufgegeben zugunsten des Reimpaarverses, der die Abkehr von der mündlichen Erzähltraditionen verpflichteten Strophenform anzeigt und damit den An‐ schluss an eine dezidiert buchliterarische Tradition markiert. 247 Dieser Gattungswechsel, der Elemente der Planctus-Tradition aktualisiert, 248 bedingt einen grundsätzlich modifi‐ zierten Erzählduktus des Textes, der die heroischen Wissensbestände »nach den Regeln schriftsprachlicher Kommunikation« 249 transformiert. Die Nibelungenklage bildet als erstes Rezeptionszeugnis des Nibelungenliedes einen axiologisch fundierten Rahmen für die Einordnung des Erzählten in die Kategorien christlich-religiösen Weltverständnisses. 250 So erscheint die Drastik des Untergangstableaus am Ende des Liedes als heilsgeschichtlich perspektiviertes Exempel für die Verkettung unterschiedlicher Verfehlungen, deren kontin‐ gente Logik der menschlichen ratio grundsätzlich entzogen bleibt. Ihre Fatalität ist letztlich im Rekurs auf Gottes Handeln an und mit der Welt sowie in der Vorstellung christlicher Heilserwartung nach dem Tod aufgehoben. 251 Dieser religiösen Rückbindung vor allem im Umgang mit den unzähligen zu beklagenden Todesopfern entspricht auf der Gegen‐ 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 139 <?page no="140"?> 252 Zur Entstehungsfiktion des Textes, die als eine von Bischof Pilgrim veranlasste Niederschrift auf der Basis von Swämmels Augenzeugenbericht inszeniert wird, vgl. J.-D. Müller, Der Spielmann erzählt (1996), S. 85-98. - Zur Klage als expliziter Buchdichtung Curschmann, Nibelungenlied und Nibelungenklage (1979), S. 85-119; Wachinger, Die Klage und das Nibelungenlied (1981), S.-264-275. Die Diskussion (mit einem Fokus auf der Selbstdarstellung des Textes) zusammenfassend Kropik, Reflexionen des Geschichtlichen (2008), S.-141-147. 253 Dies gilt z. B. in Bezug auf die ›Schuldfrage‹ (Siegfried, Kriemhild, Burgunden), die Bewertung der heroischen Kampfhandlungen bei der Bergung der Toten, die Neu-Organisation von Herrschaft, die mit der Krönung von Gunthers und Brünhilds Sohn Siegfried in Worms vollzogen wird. Dazu Frick, Narrative Ordnung? (2021), S.-82-103. 254 J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-157. 255 Im Hinblick auf Lied und Klage als zwei »Perspektiven« auf den Stoffkomplex vgl. Kropik, Refle‐ xionen des Geschichtlichen (2008), S.-137. 256 Evident v. a. in den für diese Frage maßgeblichen Arbeiten von Bumke, Die vier Fassungen (1996); Henkel, Nibelungenlied und Klage (1999), S. 73-98; Henkel, Die Nibelungenklage (2003), S. 113-133. - Die Frage nach den in der Klage etablierten Deutungsstrukturen adressiert Hammer, Das Unfassbare in Worte fassen (2019), S.-1-28. 257 Leider reproduziert auch der aspektreiche Beitrag von Kragl (Die Unerträglichkeit der Heldendich‐ tung [2019], S. 59-91) so manches Verdikt der älteren Forschung gegenüber der Nibelungenklage. Vgl. zusammenfassend Frick, Narrative Ordnung? (2020), S.-84f. 258 »Die ›Nibelungenklage‹ vermag dem Geschehen keinen Sinn zuzuweisen, weil sie keinen Begriff des Heroischen entwickelt.« Philipowski, Wider die Bewältigungsthese (2019), S.-116. 259 Der auf dem Konzept der ›rationalen Philologie‹ fußende und sich programmatisch verstehende Beitrag von Andersen-Vinilandicus (Nibelungenlied und Klage [2020], S. 451-409) zielt auf eine historisch-konkrete Referentialisierung des epischen Personals, die am literarischen Material kaum validierbar ist und hier deswegen außer Betracht bleibt. seite die Restitution des weltlichen ordo durch die Sicherung dynastischer Kontinuität. Geltungsanspruch erwächst dem Text aus der inszenierten Genese im Kontext der lateinisch vermittelten zeitgenössischen Gelehrtenkultur. 252 Sie schreibt dem Nibelungenlied einerseits kanonischen Status zu und distanziert andererseits das heroische Geschehen von der eigenen Gegenwart, indem es zum Medium einer Aushandlung von Ordnungsprinzipien und Handlungsmaximen gerät. 253 In diesem Sinne repräsentiert die Klage durchaus ein »konsequentes Gegenprogramm zum Epos«, 254 freilich nicht insofern, als von einem Konkurrenzverhältnis beider Texte auszugehen wäre, sondern von komplementären Formen kultureller Sinnbildungsmuster. 255 Denn dass es der Klage ganz dezidiert um die Etablierung unterschiedlicher, im Einzelnen unterschiedlich konsequent durchgespielter Deutungskalküle geht, lässt sich angesichts der Sachlage wie der Ergebnisse der Forschung kaum bezweifeln. 256 Indes: Dass diese Kalküle gerade nicht das heroische Konzept des Epos prolongieren, mag nur aus einer modernen Erwartungshaltung heraus, die der überlieferungshistorischen Situation eine prinzipielle thematisch-interpretatorische Kohärenz bzw. ›Stimmigkeit‹ unterstellt - aus der im Übrigen auch das ästhetisch-stilistische bzw. inhaltsbezogene Verdikt gegenüber der Klage resultiert 257 - als vermeintliches Sinn-Defizit erscheinen. 258 Vielmehr zeigt schon das geänderte sprachlich-formale Register des Textes den Anschluss an andere Deutungsschemata als die im Heldenepos dominierenden an. 259 140 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="141"?> 260 Die Klage-Fassungen stammen »wahrscheinlich alle aus der Frühphase der autornahen Überliefe‐ rung«. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-90. 261 Die »sekundären Textveränderungen [setzen] immer schon die Verbindung von ›Lied‹ und ›Klage‹ voraus[ ]«. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 541. - Zur Gruppierung von Klage-Fassungen *B und *C mit denjenigen des Liedes vgl. Henkel, Die Nibelungenklage (2003), bes. S.-114. 262 Vgl. das Nibelungenlied k (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 15478) und n (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 4257), die alternative Ordnungskonzepte favorisieren. Dazu Heinzle, Die Handschriften (2003), bes. S.-196. Zur Hs.-n siehe Kap.-2.3. 263 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 237. Zur Werkeinheit Henkel, Nibelungenlied und Klage (1999), S. 80; zur Annahme eines »Nibelungen-Buchs« Heinzle, Die Handschriften (2003), S. 197. - Detailliert zum Zusammenhang von Lied und Klage in der Überlieferung St. Müller, Layoutverbindungen (2013), S.-31-36. 264 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-237. 265 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-239. 266 Henkel, Nibelungenlied und Klage (1999), S.-83. 267 Die Klage bleibt das gesamte Mittelalter hindurch die einzige ›Deutung‹ des Nibelungenliedes. Vgl. Henkel, Nibelungenlied und Klage (1999), bes. S.-97f. 268 Henkel, Die Nibelungenklage (2003), S.-116. 269 Vgl. Frick, Narrative Ordnung? (2021), S.-82-103. 270 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-343. 271 Henkel, Die Nibelungenklage (2003), S.-126. 272 Henkel, Die Nibelungenklage (2003), S. 113. - Die Klage als ›Reaktion‹ und ›Symptom‹ wird neu diskutiert von Kragl, Die Unerträglichkeit der Heldendichtung (2019), S.-59-91. Die Überlieferung dokumentiert eine räumliche und zeitliche Nähe der Verschriftli‐ chung, 260 bei der die Klage wohl schon vor der Aufspaltung der Überlieferung in die unterschiedlichen Redaktionen mit dem Lied verbunden gewesen sein dürfte. 261 Die enge Koppelung der Texte erscheint für die Überlieferungsgemeinschaft - bis auf zwei späte Ausnahmen 262 - in allen vollständig erhaltenen Handschriften als derart konstitutiv, dass sie eine Werk-, zumindest aber eine »Schreibeinheit« indiziert. 263 Schon Joachim Bumke hat auf die formale Einrichtung der Texte hingewiesen, die das »Bemühen um graphische Angleichung der beiden Teile« augenfällig macht, 264 indem die Reimpaarverse so organisiert sind, dass sie optisch den Strophen gleichkommen: Man müsse »schon genau hinsehen und dabei auf die Reimstellungen achten […], um festzustellen, ob man eine ›Lied‹-Seite oder eine ›Klage‹-Seite vor sich hat«. 265 In diesem »sinnstiftende[n] Konnex« 266 fungiert die Klage als akzeptierte, möglicher‐ weise gar als notwendig erachtete Komplettierung des Nibelungengeschehens, dessen Verankerung im geistigen Rahmen der Zeit wohl auf bestehenden Publikumserwartungen aufruhen konnte. Damit war der Vorgang einer ›legitimen‹ Sinnstiftung des Epos of‐ fenbar abgeschlossen, 267 setzte sich aber gleichsam innerhalb der Texttradierung selbst in einem »dichte[n] Prozeß literarischen Umgestaltens« 268 fort: in graduell differenzierten Antworten auf die Frage nach den Kausalitäten des Nibelungenuntergangs, die die un‐ terschiedlichen Klage-Fassungen als historisch differente Textzustände diskursivieren. 269 Dass die stärker zur »Verdeutlichung und Erläuterung« 270 neigende Akzentuierung der Nibelungenlied-Fassung *C sich eng mit dem »motivierend gestaltende[n] und deutende[n] Konzept der Klage« berührt, 271 spricht dafür, diese als unmittelbare Reaktion auf das Lied zu sehen und ihre divergierenden Fassungen als Teil eines »›Gesprächs‹ über das aktuelle Erzählen von Heldensage«. 272 In diesem Sinne erschien die Perspektivierung 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 141 <?page no="142"?> 273 Die Spezifika der Nibelungenlied- und Klage-Fassung *C sind herausgearbeitet von Schmid, Die Fassung *C (2018). 274 Bumke (Hg.), Die Nibelungenklage (1999). Vgl. auch die kommentierte Edition von Lienert (Hg.), Die Nibelungenklage (2000). 275 Vgl. Krogmann / Pretzel, Bibliographie zum Nibelungenlied und zur Klage (1966), S. 14; Schneider, Gotische Schriften (1987), Bd.-1, S.-253f. Siehe dazu auch Kap.-2.2.5. 276 Zu dieser für die frühe deutschsprachige Epenüberlieferung, in der »Einzelwerk-Handschriften do‐ minieren«, eher ungewöhnlichen Koppelung mit anderen Texten Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 213. Vgl. auch Becker, Handschriften und Frühdrucke (1977), S. 148. - Zum Winsbecke-Komplex Leitzmann (Hg.), Winsbeckische Gedichte (1962). 277 Die Verwandtschaft der Klage-Handschriften B und J als »deutlich« beschreibt Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 260. »Wo *B und *C auseinandergehen, stellt sich *J überall eindeutig zu *B.« (Ebd., S. 292). Aus diesem Grund wird im Folgenden die *B-Fassung der Klage als Referenztext für die in *J vorgenommenen Kürzungen herangezogen. 278 Vgl. die Annahme Abelings (Das Nibelungenlied und seine Literatur [1909], S. 34), bei der Dichtung handele es sich um gar keine Kürzung, sondern »vielleicht die älteste vorhandene Gestalt« der Ni‐ belungenklage, bei den Versionen der übrigen Handschriften hingegen um Erweiterungen derselben. Abeling argumentiert gegen die negative Beurteilung der Kurzfassung durch Sommermeier (Die Klage in der Handschrift J [1905], S. 44): »An der Erhaltung der wenigen poetischen Schönheiten der Vorlage lag dem Bearbeiter augenscheinlich sehr wenig, wie vor allem die unbarmherzige Zusammenstreichung der Episode in Bechelaren zeigt.« 279 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 296 u. 289 f. Zum Nachweis auf der Basis textphilologischer Befunde siehe Kap.-2.2.1. 280 Vgl. Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 51f. - Zu den »wichtigste[n] Handlungselemente[n] in *J gegenüber *B« vgl. Kiehl, Zur inhaltlichen Gestaltung (2008), S.-87-154. des Nibelungengeschehens in der Klage-Fassung *B offensichtlich als korrekturbedürftig und lieferte insofern den Anlass zu intensiveren Modifikationen: Die *C-Klage bietet als literarische Anschlusskommunikation an Nibelungenlied und *B-Klage eine alternative Akzentuierung des Bewältigungsnarrativs und dokumentiert damit eine zeitgenössische Diskursordnung mit dem Ziel höherer Kohärenzstiftung, Motivierung und auf größere ›Einstimmigkeit‹ hin ausgerichteter Deutung der Handlung. 273 Als Teil dieser Diskursordnung lässt sich auch die Fassung *J der Nibelungenklage beschreiben. Historisch signifikante Bedeutung erhält sie aufgrund ihres gegenüber *B und *C markant eigenständigen Profils. Mit nur 944 Versen ist der Umfang des Klage-Textes um mehr als drei Viertel reduziert (zum Vergleich: *B 4354 V., *C 4428 V.). 274 Greifbar ist die Fassungsbildung in der Handschrift I/ J (Berlin, Staatsbibliothek, mgf 474, um 1300), 275 die im Anschluss an Nibelungenlied und Klage die didaktischen Lehrdichtungen Der Winsbecke und Diu Winsbeckin überliefert. 276 Aus textphilologischer Sicht stellt sich die *J-Klage zur Fassung *B. 277 Ihr Stellenwert als »Ergebnis sekundärer Textveränderungen« ist - trotz einzelner Bedenken der älteren Forschung 278 - spätestens mit Bumkes wegweisender Studie communis opinio. 279 Die Nibelungenklage *J dokumentiert einen Prozess produktiven Umgestaltens in Form einer buchliterarisch grundierten Arbeit am Text, dem die Gestaltungsparameter einer geradezu systematisch vollzogenen Kürzung zugrunde liegen. 280 Die Rekapitulation des Nibelungen-Geschehens fällt fast vollständig weg; der erste Teil fokussiert Kriemhild, wobei ihre Entlastung im Vergleich zu den anderen Klage-Fassungen ein markanteres Profil gewinnt: »hauptsächlich die Kriemhilt und ihrer Rechtfertigung dienenden Passagen 142 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="143"?> 281 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-51. 282 Vgl. zusammenfassend zu den Begründungszusammenhängen Hammer, Das Unfassbare in Worte fassen (2019), S.-1-28. 283 »Die inhaltliche Konzentrierung auf die drei Frauengestalten läßt erkennen, dass die *J-›Klage‹ nicht durch Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit zustande gekommen ist, sondern daß hier ein planender Redaktor am Werk war, der eine bestimmte Vorstellung davon hatte, wie der Text aussehen sollte […].« Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-284. 284 »Deutlicher wird die Eigenart der *J-Fassung, wenn man sich vor Augen hält, was von der ›Klage‹ geblieben ist.« Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 283. Die primär ›stoffliche‹ Fokussierung führt auch die Studie von Kiehl (Zur inhaltlichen Gestaltung einer Kurzfassung [2008]) prominent im Titel. - Zum Forschungsdiskurs insbesondere mit Bezug auf das Verhältnis von Nibelungenlied und Nibelungenklage vgl. die Übersicht bei Deck, Die Nibelungenklage in der Forschung (1996). 285 Zur Übersicht Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 282. Sein Vergleichstext ist Abelings Ausgabe der Nibelungenklage (Die Klage nach der Handschrift J [1909]). Vgl. auch die Auflistung der Fehlverse in [werden] exzerpiert«. 281 Ein knapper Bericht resümiert die Bestattung der gefallenen Helden ebenso wie die Entsendung Swämmels als Bote zu den Hinterbliebenen in Beche‐ laren und Worms. Die Stationen in Wien und Passau fehlen vollständig. Der Schwerpunkt der Fassung liegt, so die bisher einhellige Forschungsmeinung, auf der Trauer der drei Frau‐ enfiguren um ihre Ehemänner. 282 Durch die vorgenommene Raffung bzw. Streichung ganzer Handlungselemente würden zwei Aspekte der Klage-Fassungen *B und *C stärker profiliert: Erstens, die Entlastung Kriemhilds, die in den Fassungen von Nibelungenlied und Klage, trotz des erkennbaren Bemühens um Vereindeutigung, ambivalente Züge trägt; zweitens, die Weiterführung bzw. der Abschluss des Geschehens, in dem Trauer und Klage mit der Krönung des neuen Königs sowie mit Dietrichs und Hildebrands Heimkehr aufgehoben sind. Dieses eigenständige Profil der Kurzfassung *J ist hinlänglich bekannt. 283 Es wird jedoch vornehmlich im Hinblick auf primär inhaltliche Aspekte relationalen Charakters (Was bleibt von der *B-Klage? ) bzw. auf eine vom Text privilegierte Deutungsoption im Anschluss an die Bearbeitungstendenz des *C-Liedes gesehen. 284 Im folgenden Kapitel wird die systematisch durchgeführte Änderung der Erzählordnung in der *J-Klage einer Revision unterzogen. Jenseits der in der Forschungsdiskussion favo‐ risierten Rekonstruktion axiologischer Sinndimensionen fragt es nach konkreten Formen und Modalitäten der Bearbeitung, die ein historisches Rezeptionsinteresse erkennen lassen, das sich in der abbreviatio-geleiteten Umstrukturierung des Textes formiert. Damit wird der Prozess literarischer Kürzung als probate Möglichkeit zur Etablierung einer alternativ akzentuierten Anschlusskommunikation historisch beschreibbar. Ziel ist es, ausgehend von einer textphilologischen Analyse der für die Nibelungenklage *J spezifischen Kürzungstypik, den Blick auf die infolge der Reduktion divergierend arrangierten narrativen Spezifika der Kurzfassung zu lenken. Damit sollen unterschiedliche Ebenen im Bezugs‐ system zwischen Text und Prätext, narrativer Vermittlung der Kürzung, abgewiesener Referenzhorizonte sowie der Überlieferungssymbiose im Rahmen der Handschrift I/ J analytisch erfasst und neu diskutiert werden. 2.2.1 Textphilologische Befunde Die vom *J-Redaktor vorgenommenen Kürzungen, die schon Joachim Bumke summarisch verzeichnet hat, 285 verteilen sich, mit einigen Schwerpunkten, relativ gleichmäßig über 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 143 <?page no="144"?> *J gegenüber *B bei Edzardi, Die Klage (1875), S.-4, und Sommermeier, Die Klage in der Handschrift J (1905), S.-7. 286 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-290. Siehe dazu auch Kap.-2.2.4. 287 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-49. 288 Zur »Übereinstimmung in Stil und Reimtechnik« mit der frühen Nibelungenüberlieferung Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 296. Deshalb sei zu vermuten, »daß die *J-Fassung der ›Klage‹ in der Umgebung der *B-›Klage‹ entstanden ist« (ebd.). 289 Sie sind bereits detailliert beschrieben worden, sodass sich die Übersicht auf exemplarische Verweise beschränkt. - Zur Gruppierung nach quantitativen und handlungsrelevanten Gesichtspunkten Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 49f. - Die Kürzungsstrategien sind ausgewertet von Kiehl, Zur inhaltlichen Gestaltung (2008). Zu sprachlich-stilistischen sowie den bedeutendsten redaktionellen Unterschieden von *J und *B Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-282-297. 290 Dazu Kiehl, Zur inhaltlichen Gestaltung (2008), S. 95-100. Zu Retrospektiven als Formen ›abgewiesener‹ Referenzhorizonte siehe Kap.-2.2.4. 291 Zur »Langwierigkeit des mageren Geschehens« sowie zum »mechanisch-hölzerne[n] Tonfall seiner spannungslosen Verse« Wehrli, Die Klage und der Untergang der Nibelungen (1972), S. 104; zum »künstlerisch-ästhetisch geringe[n] Rang« der Dichtung Voorwinden, Nibelungenklage und Nibelungenlied (1981), S.-276. Die (ältere) Forschungsdiskussion ist nachgezeichnet von Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-104f. den gesamten Text. Dabei tritt eine spezifische ›Änderungsrichtung‹ deutlich hervor, die einen systematischen Zugriff auf den Klage-Text dokumentiert und einen Einblick bietet in die Dimensionen konkreter Arbeit an schriftliterarisch vorliegendem Material. Dass die Kurzfassung *J von einem solchen sekundären Status ist, steht außer Zweifel: [D]ie Textverhältnisse an den Kürzungsstellen [geben] deutliche Hinweise darauf, daß der *J-Redaktor einen längeren Text als Vorlage benutzt oder mindestens gekannt hat. 286 Zu beobachten ist die Beibehaltung des Idioms in Versbau (»Reimpaar als Grundele‐ ment« 287 ), Syntax, Lexik und Stilistik 288 bei gleichzeitiger Streichung teils von nur einem Verspaar bzw. einigen Versen, teils von umfangreicheren Textpassagen, die immer dann eine Formungsenergie freisetzt, wenn die Kürzung eine Störung der inhaltlichen bzw. syntaktischen Bezüge nach sich zieht (s. unten). Die Prinzipien redaktioneller Kürzung lassen sich nach den folgenden Aspekten typologisch kategorisieren. 289 Retrospektiven 290 Ein Merkmal der Nibelungenklage, das neben anderen Gesichtspunkten bisweilen zu einer ästhetisch-literarischen Geringschätzung des Textes in der Forschung geführt hat, 291 sind die zahlreichen Referenzen auf das Nibelungengeschehen, die der Rekapitulation bereits erzählter und daher aus der Perspektive der Überlieferungssymbiose als bekannt vorauszusetzender Elemente dienen: z. B. die Exposition der handlungstragenden Figuren (Kriemhild, der Wormser Herrschaftsverband, *B V. 25-56) oder die gerüsthafte Wiedergabe im Nibelungenlied erzählter Ereignisse (Kriemhilds Hochzeit mit Etzel, die verräterische Einladung, der Verlauf der Kampfhandlungen, *B V. 57-125; 159-205; 300-476). So ändert sich etwa die Grundausrichtung der *J-Klage am Beginn des Textes erheblich, indem die ›Zusammenfassung‹ der für den Nibelungenuntergang ursächlichen Handlungskonstanten weitgehend wegfällt zugunsten einer initialen Schwerpunktverschiebung auf die Figur 144 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="145"?> 292 Die Fassung *J setzt erst mit *B V. 71 ein: Nû ist iu wol gesagt daz, / wie Kriemhilt zen Hiunen saz, / als diu edel Helche ê. (*J V.-1-3). Zum Erzählbeginn der *J-Klage siehe Kap.-2.2.4. 293 Mit weiterführender Literatur Kiehl, Zur inhaltlichen Gestaltung (2008), S.-100. 294 Zu dieser Annahme vgl. Hammer, Das Unfassbare in Worte fassen (2019), bes. S. 22-25. Auf der Grundlage des Überlieferungsverbunds in Hs.-I/ J siehe Kap.-2.2.5. 295 Dass es sich dabei, wie bereits Bumke betont hat, nicht um einen »blossen Anhang« (Sommermeier, Die Klage in der Handschrift J [1905], S. 9) im Sinne einer funktionalen, auf die reinen Begebenheiten reduzierten »Fortsetzung der ›Nibelungen-Not‹« (ebd.) handelt, dokumentiert das Ausmaß der Kür‐ zungen und sprachlichen Änderungen, die eine spezifische Akzentuierung des Erzählten bezeugen. Dazu Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-284 mit Anm.-103. 296 Zur Funktion der kollektiven Klagen im Sinne der Zurückweisung heroischer Handlungsmodelle Lienert, Der Körper des Kriegers (2001), S.-127-142. Näheres in Kap.-2.2.2 u. Kap.-2.2.4. 297 Die Worms-Episode ist auch in quantitativer Hinsicht der Schwerpunkt der Kurzfassung *J: Auf sie entfällt mit V.-583-881 rund ein Drittel des Textbestandes. 298 Zum Konzept der epischen ›Bauformen‹ siehe Kap.-1, Anm.-36. Kriemhild. 292 Die Streichung bzw. Verkürzung solcher Rückblicke findet nicht nur innerhalb der Erzählerrede statt, sondern gilt auch metadiegetischem Erzählen, z. B. Swämmels Bericht über den Ausgang der hôchzît und den Verlauf der Kampfhandlungen vor dem Wormser Hof (*B V. 3765-3951), der in *J komplett ausfällt. Dieses Phänomen deutet darauf hin, dass die Klage-Kurzfassung im Unterschied zu den Langversionen, aus denen sich die Handlung des Nibelungenliedes gerüsthaft rekonstruieren lässt, 293 offenbar in einer engeren Koppelung an das Epos konzipiert worden ist, 294 aus der heraus die Retrospektiven auf das epische Geschehen weitgehend als entbehrlich gelten konnten. 295 Handlungstragende Partien Die Streichung gerade umfangreicherer Handlungsteile lässt erkennen, dass sich der in der *J-Klage vorgenommene Kürzungsprozess einem fundamental geänderten Verständnis von der literarischen ›Leistungsfähigkeit‹ des Textes als Anschlusskommunikation an das Nibelungenlied verdankt. Die Tatsache, dass der eigentliche ›Klage-Teil‹, der die Bergung, Beweinung und Bestattung der Gefallenen enthält und in *B sehr ausführlich gehalten ist (*B V. 587-2278), 296 auf nur wenige kompendiöse, zumal vornehmlich die Kriemhild-Passage betreffende Verse verdichtet wird (*J V. 203-320), bedingt ein grundsätzlich geändertes Profil des Textes, das anstelle der extensiven ›Klage-Arbeit‹ und der damit verknüpften ri‐ tuellen Handlungen eine gewisse narrative Stringenz hinsichtlich der Rückwärtsbewegung nach Worms favorisiert. Ein Befund, für den auch die Auslassung der Stationen Wien und Passau sowie des Zugs durch Bayern auf dem Weg der Boten nach Worms beispielhaft ist (vgl. *B V. 2709-2806; 3173-3526), überdies die abbreviierte Schilderung der Abreise Dietrichs und Hildebrands aus Etzelburg in nur 10 Versen (*B V. 4100-4182 / *J V. 883-892). All diese inhaltlichen Erzählelemente dürften für die neue Ausrichtung des Textes durchaus als disponibel erschienen sein, manifestiert sich diese doch in einer konsequenten Tendenz zu einer konzisen Fortführung der Handlung - und das meint: der Rückkehrhandlung, die ihren Zielpunkt in der Krönung des jungen Königssohnes in Worms erreicht. 297 Mono- und Dialoge Kaum eine ›Bauform‹ des Erzählens ist in *J stärker von Kürzungen betroffen als die direkte Rede. 298 Mono- und Dialoge können die Handlung durch explizite Anweisungen 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 145 <?page no="146"?> 299 »Die Klage lenkt das Erzählte in den Kontext mittelalterlicher Memorialkultur zurück.« J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2018), S.-157. 300 Zum ›Modus des Klagens‹ siehe Kap.-2.2.3; zum titelgebenden Modell des Planctus Kap.-2.2.4. 301 Vgl. exemplarisch die Auslassung von Dietlinds und Swämmels Deutungsperspektive auf das Unter‐ gangsgeschehen in Bechelaren (*B V.-3183-3205), das Fehlen der christlichen Wertungsmaximen in Pilgrims Aussage (*B V. 3367-3458), der wertenden Einlassungen des lantvolcs (*B V. 3521-2526) oder Rumolds Kommentar in Bezug auf Hagens Schuld (*B V. 4051-4078). - Zum performativen Aspekt der Klagen vgl. Schmid, Stimme(n) des Klagens (2017), S.-279-308. 302 Vgl. Frick, Narrative Ordnung? (2021), S.-82-103. 303 Zur Tendenz der *J-Klage, Kriemhild von der Verantwortung freizusprechen, vgl. Kiehl, Zur inhalt‐ lichen Gestaltung (2008), S.-178-186. 304 Siehe dazu Kap.-2.2.3. 305 Vgl. *B V. 180-220; 243-258; 300-476; 483-506; 531-542. - Zur Figurendarstellung in *J gegenüber *B vgl. Kiehl, Zur inhaltlichen Gestaltung (2008), bes. S.-155-209. vorantreiben (wie im Zuge der ›Aufräumarbeiten‹), gleichfalls aber durch ausufernde la‐ mentationes retardieren. Ferner können sie als Retrospektiven auf vergangenes Geschehen fungieren, die Raum öffnen für Memorialhandeln, wie z. B. die Thematisierung der von bestimmten Figuren im Kampf erbrachten heroischen Leistungen. 299 Insgesamt, so lässt sich konstatieren, fällt das Gros der Klagen, genauer: der direkt von den Figuren vorgebrachten Totenklagen in *J aus. Die von Etzel, Dietrich und Hildebrand auf die leistungsfähigsten Helden zugeschnittenen Kollektiv-Klagen fehlen infolge des ausgelassenen Handlungsab‐ schnitts im Mittelteil des Textes (s. oben). Das betrifft auch die individuellen Klagereden, die entweder gänzlich gestrichen sind (z. B. die Klage Bischof Pilgrims in Passau, *B V. 3367-3481) oder auf die wesentlichen Kernelemente verkürzt (z. B. die Klagen Gotelinds und Dietlinds, *B V. 2869-3110 / *J V. 505-540). Damit zeichnet sich die Kurzfassung *J durch die weitgehende Absenz des für die Langfassungen konstitutiven und - notabene - auch titelgebenden Modells des Planctus aus, so dass sich am Fehlen zahlreicher Mono- und Dialoge die neue Sinngebung des Klage-Textes in nuce beobachten lässt. 300 Es sind nämlich überwiegend diejenigen Figurenreden bzw. auch Teile derselben gestrichen, die wertende Implikationen in Bezug auf das Nibelungengeschehen enthalten. 301 Insofern ist die narrative Ordnung der *J-Klage an einem einstimmigen, im Anfangsteil des Textes vom Erzähler etablierten axiologischen Horizont orientiert. Der erzählerische Fokus rückt ab von der diskursiven, mitunter divergierende Perspektiven und Wertungsbilanzen inszenierenden Aushandlung der Frage nach den Kausalitäten der Katastrophe. 302 Im Zentrum steht die e i n e dominante Deutung, 303 die freilich außerhalb ihres unmittelbaren Geltungsbereichs (*J V. 1-202) in textglobaler Hinsicht nicht weiter vertieft wird, sondern gewissermaßen als ›Ordnungsrahmen‹ für das Erzählte fungiert. 304 Erzählerkommentare Eine ähnliche Tendenz zur Reduktion von vermeintlich intrikaten Details bezüglich Kriem‐ hilds Verantwortung für den Ablauf des ›Festes‹ wird am Umgang des *J-Redaktors mit Erzählerkommentaren ersichtlich. Gerade im ersten Teil des Textes bieten diese vielfach einschlägige Angaben, die die Rolle der handlungstragenden Figuren für das Nibelungengeschehen deuten und reflektieren (vor allem in Bezug auf Kriemhild, Hagen, die burgundischen Könige). 305 Aber auch wiederholt auftretende Topoi, etwa die Unaus‐ weichlichkeit des Todes (z. B. *B V. 513-518), oder die Kommentierung von Figurenhandeln 146 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="147"?> 306 Vgl. oben, Kap.-2, Anm.-291. 307 Dazu am Beispiel des antiken Epos Reitz, Das Unendliche beginnen (2017), S. 105-118; Reitz / Scheid‐ egger Lämmle / Wesselmann, Epic catalogues (2020), S. 653-725. Im Hinblick auf Transformations‐ prozesse der literarischen Katalog-Form Kühlmann, Katalog und Erzählung (1973). 308 Frick, abbreviatio (2018), S.-31. (z. B. Dietrich, *B V. 764-770; Etzel, *B V. 2317-2326; 2415-2584) werden in *J herausgekürzt oder doch so gerafft, dass die Transformation in Richtung eines narrativ ›einsträngigeren‹ und handlungslogisch ›einsinnigeren‹ Erzählens gegenüber den Langfassungen profiliert wird. Sprachliche bzw. inhaltliche Abundanz Eine Grundtendenz der Nibelungenklage ist die Präferenz einer ausführlichen, zum Teil in iterativer Rhetorik gestalteten Präsentation vorzugsweise der Klage-zentrierten Kom‐ ponenten des Erzählens. Dabei entfaltet der Text einen von der Forschung bisweilen als ›langatmig‹ bezeichneten Duktus, 306 der bereits Gesagtes stellenweise in ähnlicher Formulierung variiert, z. B. in der folgenden Aufzählung der an den Kampfhandlungen beteiligten Krieger: des wart in allen samt benomen des wart in allen genomen daz leben in den zîten, daz leben ze den zîten, dô si begunden strîten, dô si begunden strîten. den kunden mit den gesten, - den boesen sam den besten, - den kristen zu den heiden, - den lieben zu den leiden, - den herren sam den knehten. - si begunden alle vehten, - die verren und die nâhen, - dô si vor in ligen sâhen - ieslîcher sînen vriunt tôt. sie muosten alle ligen tôt. diz was doch allez âne nôt. daz was doch allez âne nôt. (*B V.-270-282) (*J V.-124-128; Hervorhebung: J.F.) Die kommunikative Leistung einer solchen katalogartigen Darstellung liegt im Rekurs auf genuin epische Gestaltungsmuster, die hier in der Form einer Liste anzitiert werden 307 und auf eine Nivellierung der Gegensätze der Kämpfenden zielen. Aus der Sicht des Redaktors der Fassung *J schien diese Stelle gleichwohl entbehrlich: Die in stereotyper Formelhaftigkeit gehaltene enumeratio wird in einem Vers komprimiert, der die Aufzählung auf eine schematische Grundformel reduziert und als Verbindungsglied zwischen der gekürzten Passage fungiert (sie muosten alle ligen tôt, [*J 127]). 308 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 147 <?page no="148"?> 309 Zur Darstellung von Emotionen im Kontext der höfischen Literatur exemplarisch Eming, Emotion und Expression (2006); Kiening, Aspekte einer Geschichte der Trauer (1997), S. 31-53; Küsters, Klagefiguren (1991), S.-9-75. 310 Köbele, Wiederholung in Gottfrieds Tristan (2002), S.-99. 311 Siehe dazu Kap.-2.2.2 u. Kap.-2.2.3. 312 Die Abschnitte sind in *B durch Initialsetzung markiert. Vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-286f. mit Anm.-108. 313 Dazu auch Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-285f. 314 Vgl. oben, Kap.-2, Anm.-277. An den Klage-Stellen richtet sich die iterative Rhetorik auf eine Intensivierung des Erlebens durch Modi detaillierter Emotionsdarstellung, 309 die die im Text ostensiv entfal‐ teten Ausdrucksformen der Trauer als »analogische[-] Strukturmuster« 310 paradigmatisch aufeinander beziehbar macht. Aber auch Prolepsen auf noch bevorstehende Ereignisse, etwa den mentalen Zusammenbruch des Hunnenkönigs Etzel (*B V. 293f.), oder inhaltliche Wiederholungen im Rahmen von Figurenreden (z. B. Dietrichs Auftrag, Rüdigers Tod zu verheimlichen, *B V. 2669-2677) lassen sich dieser Kategorie zurechnen. Sie werden in *J einer systematischen Kürzung unterzogen, die einmal mehr ein konsequent handlungsori‐ entiertes Erzählen dokumentiert, innerhalb dessen dem ›eigentlichen‹ Thema der Dichtung - d. h. der K l a g e - eine alternative Funktion zukommt als in den Langfassungen des Textes. 311 Zahlreiche Kürzungsstellen weisen keine Spuren der abbreviierenden Eingriffe auf. Das ist insbesondere bei Kürzungen einerseits weniger Verse, andererseits ganzer Abschnitte zu beobachten bzw. beim Zusammenfall der Kürzung mit einer Abschnittsgrenze, 312 sodass das Reimpaar als syntaktische Einheit intakt bleibt. Allerdings verhält es sich keineswegs so, als habe der *J-Redaktor gewissermaßen mittels mechanischer Arbeit einfach Abschnitte getilgt; mehrfache Auslassungen auch außerhalb von Abschnitts-, die meist auch ›Szenen‐ grenzen‹ bilden, lassen einen konsequent planvollen Zugriff auf den Klage-Text erkennen, der ein spezifisches, von den Langfassungen divergierendes Sinnangebot herauspräpariert. Diese Tendenz zur Modellierung eines neuen Deutungsrahmens wird an modifizierenden Eingriffen evident, die das Ziel haben, aus dem Kürzungsvorgang resultierende Störungen der syntaktischen Kohärenz zu beheben, darunter die Verdichtung zweier Verse zu einem oder das Hinzufügen eines neuen Verses, um das ›korrupte‹ Satzgefüge zu ›heilen‹ (s. unten). 313 Bemerkenswert ist dieses Vorgehen deshalb, weil es an vielen Stellen minutiös den bearbeitenden Umgang mit einer schriftlichen Vorlage dokumentiert und der *J-Klage damit einen eindeutig sekundären Status gegenüber der Fassung *B zuweist. 314 Denn die Modifikationen bedienen sich in der Regel des Wort-, gelegentlich auch Reimmaterials des längeren Prätextes, aus dem sich die ›Plusverse‹ an den Kürzungsstellen jeweils zusammensetzen. Zu beobachten sind kleinere Eingriffe, z. B. die Umformulierung einzelner Wörter an den Kürzungsstellen unter Beibehaltung der Verse der Vorlage: 148 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="149"?> ez waere maget oder wîp, ez waere magt oder wîp, den muose ir wünne entwîchen. - Ezeln den künec rîchen - sach man vil jâmerlîche stân. - ez was nû allez daz getân, - daz dâ ze tuonne was, - sît daz ir einer niht genas, - die dâ wâfen torsten tragen. - die lâgen alle dâ erslagen - und tôt gevallen in daz bluot. - des was beswaert in der muot, - die mit vreuden wânden leben. - die swaere het in got gegeben, - wande man anders dâ niht pflac wan niemen anders niht dâ pflac beidiu naht und tac beidiu naht und den tac niwan weinens und klagen. niwan weinen und klagen. (*B V.-530-545) (*J V.-168-171; Hervorhebung: J.F.) Daneben erscheinen zumeist ein Verspaar betreffende Umformulierungen an der Kürzungs‐ stelle, die das Hinzutreten eines neuen Verses mit entsprechendem Reimpartner notwendig machen; hier das Beispiel von Dietrichs und Hildebrands Reise nach Bechelaren (*B V.-4207-4294), die in *J fehlt: wie erz [sc. Etzel] sît bedâhte, wie er ez sît bedâhte daz hât uns niemen noch geseit, des kan ich iu niht gesagen, dô her Dietrîch dan gereit. wan daz er leit muoste tragen. (*B V.-4204-4206) (*J V.-914-916; Hervorhebung: J.F.) Häufig findet sich die Zusammenziehung mehrerer Verse zu einem, bei der neue syntakti‐ sche Fügungen gestiftet werden (z. B. ein konzessiver Nebensatz anstelle eines mit daz eingeleiteten Objektsatzes), auch im Kontext längerer Auslassungen: diz ist doch selten geschehen, daz ist doch selten geschehen: daz ich [sc. Dietlind] sô wênic habe gesehen ich hân vil lützel gesehen her bî mînen zîten her bî mînen zîten mînes vater boten rîten. mînes vater boten rîten, swenne ab si her quâmen, - wie wol wir daz vernâmen, - daz si wâren wol gemuot! sine waeren wol gemuot. (*B V.-2871-2877) (*J V.-507-511; Hervorhebung: J.F.) - - „[…] Ir sult heln“, sprach Dietrîch, - „disiu maere jaemerlîch - allenthalben ûf den strâzen. - ir sult daz liut niht lâzen - 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 149 <?page no="150"?> 315 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-291. des schaden werden innen, sô ir nû scheidet hinnen. - so müeten si iuch ze sêre. - ir sult von Rüedegêre - niemen sagen sînen tôt. sagt niemen Rüedegêres tôt! (*B V.-2669 -2677) (*J V.-477; Hervorhebung: J.F.) Ein anschauliches Beispiel für das systematische Vorgehen des *J-Redaktors ist der Beginn von Swämmels Rede an Brünhild in Worms, bei der er Etzels und Dietrichs Ausdruck der Dienstbereitschaft sowie die Botschaft Bischof Pilgrims überbringt (*B V. 3627-3649). Auf‐ grund der Auslassung der Passau-Episode in der Kurzfassung fällt Pilgrims Aufforderung, das Klagen zu mäßigen (*B V. 3635-3644), an dieser Stelle in *J konsequenterweise aus; sein Auftrag zur Herrschaftssicherung durch die Krönung des Königssohnes wird jedoch Dietrich zugeschrieben, auch wenn dessen »Einmischung in die burgundische Innenpolitik […] zumindest etwas befremdlich [wirkt]«: 315 von dem herren Dietrîche von dem hern Dietrîche ist iu dienest her bekomen. ist iu ouch dienst her bekomen. wir haben daz vil wol vernomen, wir haben daz vil wol vernomen, daz in allez iuwer leit daz in allez iuwer leit ist sorge unde ouch arebeit. ist sorge und ouch arbeit. Iu enbiutet ouch den dienest sîn - der guote bischof Pilgrîn - und heizet iu daz, vrouwe, sagen, - daz man maezlîche klagen - sül ein ieslîchez leit. - er ist iu allez des bereit - mit werken unde mit lêre, - daz iu an vrume und êre - ze dirre werlde müge komen. - Ouch hân ich daz von im vernomen, - er bitet alle des küneges man, her Dietrîch bitte des küneges man, die iht triuwe wellen hân, die iht triuwe kunnen hân, daz si iuch und iuwer kindelîn daz si iuch und iuwer kindelîn in wol bevolhen lâzen sîn […]. in bevolhen lâzen sîn […]. (*B V.-3630-3648) (*J V.-660-668; Hervorhebung: J.F.) Ein ganz ähnliches Verfahren der Textmodellierung zeichnet sich auch an den wenigen Stellen ab, die tatsächlich eine ›Verkürzung‹, d. h. eine dezidierte Zusammenfassung der ausgelassenen Passagen anstelle von deren Streichung bei gleichzeitig modifizierender Formulierung an den ›Bruchstellen‹ bieten. Eine solche Verdichtung betrifft die Klagen um die Gefallenen und deren Bestattung im Anschluss an die Bergung von Kriemhilds Leichnam, die wohl umfangreichste Auslassung 150 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="151"?> 316 Die Referenzen sind nachgewiesen bei Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 284f. Zu dieser Passage siehe unten, Kap.-2.2.4. 317 Zur erzählerischen ›Sinnhaftigkeit‹ des Lüge-Gebots vgl. Schäper, Vertuschungsversuche (2019), S. 147-166. »Das Misslingen der Lüge charakterisiert das Geschehene als bahnbrechend und von enormer Evidenz. Die Katastrophe ist emotional von solcher Wucht, dass ihr niemand standhalten kann und sie sich unbedingt mitteilen muss.« (Ebd., S.-160). gegenüber *B (V. 873-2278). Ein Kürze-Topos (waz sol man mê davon sagen? *J V. 313) als Signal für die nicht realisierte Erzähloption leitet eine summarische Aufzählung der ausgelassenen Handlung ein, die sich des Wortmaterials aus der gekürzten Passage (und daneben anderen Klage-typischen Vokabulars) bedient: waz sol man mê dâ von sagen? - si wurden beserkt und begraben [*B V.-2298] an den selben stunden, [*B V.-1098] die geste und die kunden, [*B V.-273] die dâ gelegen wâren tôt. - der künec het jâmer und nôt. [*B V.-1008] Also het ouch her Dietrîch [*B V.-1044f.] umb sîne recken lobelîch. [*B V.-1245] (*J V.-313-320) - Auch der in *J gegenüber *B neu eingesetzte, zehn Verse umfassende knappe Bericht über die Abreise Dietrichs und Hildebrands aus Etzelburg nimmt wörtlich auf die gekürzte Passage Bezug (*J V. 883-892 / *B V. 4100-4182). 316 Diese Bearbeitungspraxis verweist auf den Stellenwert der betreffenden Textpartien als handlungslogisch relevante Konstanten, deren Darstellung sich - wiewohl nicht in der ursprünglichen Breite - doch zumindest in ›Kurzform‹ als unverzichtbar erwies. Trotz der weitgehend systematisch verdichtenden Tätigkeit des *J-Redaktors ergeben sich an manchen Kürzungsstellen Erzählbrüche und Widersprüche, die stehen gebliebene ›Relikte‹ einer längeren Fassung des Textes repräsentieren. In *B versuchen die Boten nach ihrer Ankunft in Bechelaren, Rüdigers Auftrag gemäß zu handeln und die Botschaft zu verheimlichen (*B V. 2669 -2677); dieser Aspekt fällt in *J hingegen aus. Ohne dass der Empfang der Boten durch die Markgräfin und ihre Tochter geschildert würde, setzt Gotelinds Frage nach dem Verbleib ihres Mannes Rüdiger abrupt ein (*J V. 521-531). Der sich anschließende Verweis auf die Lüge der Boten (dô muost diu lüge ein ende hân, *J V. 532), die in *J selbst nicht erzählt wird, bleibt als ›blindes‹ Motiv ohne Referenzkontext. 317 In der Worms-Episode lässt sich Ähnliches beobachten. Gunthers Mundschenk Sindold spricht im Namen der Fürsten seine Bereitschaft aus, dem jungen Königssohn ebenso wie dessen Vater zu Diensten zu sein; die hierauf in *B folgende Botenrede Swämmels, die die Rekapitulation der Kämpfe an Etzels Hof enthält (*B V. 3777-3951) fehlt in *J ersatzlos, sodass sich an Sindolds Aussprache der Bericht von Uotes Tod direkt anschließt, der in *B wiederum erst als Reaktion auf die durch Swämmel vorgebrachte Botschaft erfolgt (*B V. 3948-3959). Die durch den Vorgang der Kürzung in *J entstandene, »unvermittelte Art 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 151 <?page no="152"?> 318 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-290. 319 Zu den Formen der Variation Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-286-288, hier: S.-289. der Szenenverknüpfung« 318 manifestiert sich im Wechsel des Pronomens, dessen Bezug erst in den Folgeversen aufgelöst wird: des küneges schenke Sindolt, […] - zuo der künegîn er sprach: - „vrouwe, mâzet iuch der klagen! […] - vrouwe, ez sol in kurzen tagen - iuwer sun bî iu gekrient sîn. - sô ergetzet iuch daz kindelîn - und uns der grôzen leide. - vil liebe ougenweide - mugt ir noch hie vinden. - iu und iuren kinden - dienen wir als vorhtlîchen - als Gunthêrn dem rîchen.“ [*B V.-3742-3764] Doch het si schaden und nôt. [*B V.-3951] si klagte hinz an iren tôt, - Uote diu vil rîche […]. - (*J V.-741-765) - Über die Kürzungen im Textbestand hinaus weist die *J-Klage auch Varianz im Wortlaut auf, die sich im Rahmen des für die Überlieferung mittelhochdeutscher Werke üblichen Phänomenspektrums bewegt. Aus diesen Varianten wird deutlich, daß sich die Tätigkeit des *J-Redaktors nicht darauf be‐ schränkte, die ›Klage‹ um drei Viertel ihres Umfangs zu kürzen und die Kürzungsstellen zu überbrücken, sondern daß er den ganzen Text mit einem eigenen Gestaltungs- und Formulie‐ rungswillen bearbeitet hat. Das zeigt sich auch in der Abschnittsgliederung: ein Drittel der Abschnittsinitialen in *J kommt in keiner anderen ›Klage‹-Fassung vor. 319 Im Rahmen dieser Varianz lassen sich auch kleinräumigere Reduktionen nachweisen, die das brevitas-Prinzip auf mikrostruktureller Ebene, innerhalb eines einzigen Verses bzw. eines Verspaares, exponieren. In der Regel handelt es sich dabei um Auslassungen einzelner Wörter oder Wortverbindungen, z. B. die Tilgung von bestimmten oder unbestimmten Artikeln: beide die marcgrâvinne (*B V.-3145) - beide marcgrâvinne (*J V.-555); verstärkenden Adverbien: von ir vil lieben kinden (*B V.-3693) - von ir lieben kinden (*J V.-713); Modalpartikeln: und ouch ir edeln tohter guot (*B V.-3126) - und ir lieben tohter guot (*J V.-552); 152 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="153"?> 320 Zur epischen »Einstimmigkeit« in Bezug auf die Nibelungenklage siehe J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-210. Ausrufen: Ach, ach und leider (*B V.-3152) - ach unde leider (*J V.-562). Außerdem: die abbreviierende Zusammenziehung von Adjektiv und Substantiv: Hagen der übermüete hêre (*B V.-230) - Hagen der überhêre (*J V.-100); auf Reduktion angelegte Umformulierungen eines Verses: daz ich sô wênic habe gesehen (*B V.-2872) - ich hân vil lützel gesehen (*J V.-508). Diese Eingriffe können, über den Eindruck eines ›strafferen‹ Erzählens hinaus, im Sinne einer gegenüber *B sich abhebenden Deutungsoption funktionalisiert sein, indem sie bestimmte Aspekte der Narration verstärken bzw. abmildern. Das zeigt sich am Beginn der Klage, wo der Erzähler ausführlich über Kriemhilds Schuld am Untergang der Burgunden reflektiert. Nach der Beteuerung, sie habe einzig Hagen von den anderen trennen wollen, was jedoch misslungen sei (*B V. 238-263; *J V. 108-117), wechselt die Perspektive zu Etzel als demjenigen, in dessen Macht die Abwendung der Katastrophe gestanden hätte - allerdings unter der Voraussetzung, dass er von Anfang an ›richtig‹ informiert worden wäre: der Ezeln hete kunt getân der Etzeln het kunt getân von êrste diu rehten maere, von êrsten diu maere, sô het er die starken swaere sô het er die swaere harte lîhteclîch erwant. harte lîhte wol erwant. (*B V.-284-287; Hervorhebung: J.F.) (*J V.-130-133; Hervorhebung: J.F.) Der Erzähler argumentiert hier mit der Vermeidbarkeit des tragischen Ausgangs. Die Adjektive rehte und starke zu den im Reim stehenden und auf diese Weise aufeinander bezogenen Substantiven maere und swaere rekurrieren einerseits auf das im Nibelungenlied und im Anfangsteil der Klage vermittelte Wissen (diu rehten maere) von Kriemhilds Trauer, ihrer triuwe zu Siegfried und ihrer daraus resultierenden Rachepläne, andererseits auf den tragischen Untergang nicht nur der burgundischen Gäste, sondern auch der hunnischen Krieger (starke swaere). In *J fehlen diese Adjektive, sodass die genannten Aspekte tendentiell relativiert werden und sich konzeptuell in das Profil der in *J forcierten Entlastung der Kriemhildfigur einfügen. Dieses auf unterschiedlichen Ebenen zu lokalisierende Bearbeitungsprinzip dokumentiert eine produktive Tätigkeit in und mit der Tradition, die auf dem Prinzip literarischer Kürzung als substantiellem Parameter basiert. Das Gestaltungsprinzip der abbreviatio bietet die Möglichkeit, alternative Konzepte aus dem vorliegenden Material heraus zu entwickeln, ohne dass eine grundsätzliche Reformulierung des gesamten Textes notwendig wäre; vielmehr wird durch gezielte kürzende und modifizierende Eingriffe eine Neu-Ak‐ zentuierung des Textes erreicht, die mit der Favorisierung erzählerischer Stringenz und ›epischer‹ Eindeutigkeit 320 eine spezifische Option des Bewältigungsnarrativs im Kontext 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 153 <?page no="154"?> 321 Zum Motiv vgl. Schmid, Stimme(n) des Klagens (2017), S. 279-308; Miedema, Klagen (2010), S. 105- 133, bes. S. 123-128. - Zu den ›Spielregeln für das Überleben‹ in der nachnibelungischen Heldenepik Lienert, Perspektiven der Deutung (2003), S.-108. 322 Zur Fokalisierungstechnik in den Klage-Fassungen *B und *C vgl. Frick, Narrative Ordnung? (2021), S.-82-103. 323 J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-199. 324 Hübner, Erzählform im höfischen Roman (2003), S.-200. 325 Die Erzählerbemerkung (ich waene, si ir alten sünde / engulten und niht mêre. [*B V. 196f.]) korreliert mit Hildebrands Aussage: ine kan michs anders niht verstên, / wan daz die helde ûzerkorn / den vreislîchen gotes zorn / nû lange her verdienet hân. / dône kundez langer niht gestân / über ir zil einen tac. / dô muosen si den gotes slac / lîden durch ir übermuot. (*B V.-1270-1277). 326 Vgl. das Abhalten von Totenmessen und die Gebete zum Seelenheil der Verstorbenen (*B V. 3378- 3392) sowie Pilgrims Kommentar zum Geschehen: der Nibelunge golt rôt, / heten si [sc. die Burgunden] daz vermiten, / sô möhten si wol sîn geriten / zir swester mit ir hulden. / von ir selber schulden / und von ir starken übermuot / sô habe wir die recken guot / verlorn al gelîche / in Etzeln rîche (*B V. 3430-3438). 327 Vgl. J.-D. Müller, Der Spielmann erzählt (1996), S.-85-96. der überlieferungsbedingten Koppelung der Klage an das Nibelungenlied bereitstellt. Die Ausrichtung dieses neuen Sinnhorizonts wird in den folgenden Kapiteln exemplarisch vertieft. 2.2.2 Modus und Funktion der Klage Aufgrund des spezifischen Charakters der Nibelungenklage als narrativer Bewältigung der von den überlebenden Figuren Etzel, Dietrich und Hildebrand miterlebten Ereignisse wird die Handlung in den Langfassungen des Textes zu einem nicht unerheblichen Teil durch Kommentare verschiedener Stimmen über das Nibelungengeschehen vorangetrieben. 321 Der Modus des Klagens basiert im Wesentlichen auf dem Typus des Planctus, der die Mög‐ lichkeit zu perspektivischer Vervielfältigung mittels unterschiedlich fokalisierter Informa‐ tionen in Klagemonologen und -dialogen eröffnet. 322 In der Zuweisung von »Redeanteilen einerseits an den Erzähler, andererseits an die Figuren« 323 lassen sich spezifische Muster narrativer Sinnstiftung beobachten, die das Geschehen aus der subjektiven Wahrnehmung der einzelnen Figuren heraus präsentieren. Zahlreichen Vertretern der Hinterbliebenen (neben den drei oben genannten: Dietlind, Pilgrim, Herzog Else, Brünhild, Rumold) werden Stellungnahmen zum Geschehen zugeordnet, die mit verschiedenen, mit der Erzählinstanz nur teilweise kongruenten Deutungsangeboten operieren und insofern Einsichten in die tendentielle »Relativität von Verhalten und Urteil« 324 vermitteln. So deutet zwar Hildebrand den Nibelungenuntergang im Einklang mit der Erzählerstimme als gerechte Strafe Gottes 325 - eine Perspektive, für die gerade der durch Bischof Pilgrim repräsentierte christliche Referenzrahmen eintritt. 326 Dennoch harmoniert diese ›Auslegung‹ nicht restlos mit dem vom Erzähler für Kriemhilds Handeln etablierten Movens der triuwe (*B V. 146-158), das seinerseits durch Verweise auf den zorn der Königin (*B V. 264f.; 918; 1209; 3022 f.), beson‐ ders aber durch die metadiegetische Erzählordnung in Swämmels Botenbericht ergänzt wird (*B V. 3778-3947). Als Spiegelung des Rahmenerzählers angelegt, tritt dieser in Kon‐ kurrenz zur Erzählerstimme und stellt so, mittels eines sorgsam konstruierten offiziellen Beglaubigungsgestus, 327 die grundsätzliche Arbitrarität von Meinungsbildungsprozessen 154 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="155"?> 328 J.-D. Müler, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-200. 329 Zum »Nachdenken über Alternativen« vgl. J.-D. Müller, Die Klage (2003), S. 178. - Zum christlichen Referenzrahmen der Nibelungenklage vgl. Henkel, Die Nibelungenklage (2003), bes. S.-118-122. 330 Vgl. dazu aus epistemologischen und erzähltheoretischen Gesichtspunkten die Fallstudien in Fuhr‐ mann / Selmayr (Hg.), Erzählte Ordnungen (2021). 331 Hammer, Das Unfassbare in Worte fassen (2019), S.-9. 332 Hübner, Erzählform im höfischen Roman (2003), S.-75. 333 Hübner, Erzählform im höfischen Roman (2003), S.-76. 334 Zu diesem Aspekt des Perspektivenwechsels Wachinger, Die Klage und das Nibelungenlied (1981), S.-264-275. 335 Vgl. Henkel, Die Nibelungenklage (2003), S.-113. Siehe dazu Kap. 2.2.2. 336 Exemplarisch Küsters, Klagefiguren (1991), S. 9-75; Kiening, Aspekte einer Geschichte der Trauer (1995), S.-31-53; Frenzen, Klagebilder und Klagegebärden (1936). 337 Prototypisch exemplifiziert vor allem an den Figuren Etzel, Dietrich und Hildebrand (vgl. *B V. 818- 2074). aus. Er dokumentiert damit eine interessenspezifische »Diversität von Weltsichten«, 328 d. h. eine explizite und innerhalb der erzählten Welt unentscheidbare Konkurrenz der je nach situativem Kontext modellierbaren Wertungsparameter, die Kriemhilds haz auf die Burgunden exponieren - verstärkt durch den Einsatz eines Unbeschreiblichkeitstopos: ine gevriesch nie haz sô leiden, als in diu vrouwe [sc. Kriemhild] geleit hât. Mîn sin der krefte niht enhât, daz ich ez iu wol künne sagen […]. (*B V.-3778-3789) Im Rahmen der erzählten Geschichte repräsentiert Swämmels Bericht einen pragmatischen Akt der Wahrheitssicherung im Erzählen und fungiert gleichzeitig als Setzung eines alternativen Deutungshorizonts. Die in unterschiedlicher Perspektivierung fokussierte Frage nach den Kausalitäten des Nibelungenuntergangs und möglichen Alternativen sucht die erzählte Irritation der Gesellschaftsordnung durch sinnstiftende christliche Denkkategorien der Zeit aufzuheben und zu stabilisieren. 329 Diese Struktur bietet einen Reflexionsrahmen für das zentrale Modell narrativer Ordnung, 330 dessen mit evidenten Axiologien besetzte Eindeutigkeit - eine nur vordergründige »Dichotomie von Schuld und Unschuld« 331 - infolge der über die Figurenstimmen eingebrachten differierenden Sichtweisen auf das Nibelungengeschehen unterlaufen wird. Weil die Figuren als »Subjekte der Erfahrung der erzählten Welt« 332 erscheinen, führen ihre divergierenden Kommentare zu pluralen Antworten, die auf die »Abhängigkeit normativer Urteile von Standpunkten« 333 im Sinne eines alternativ akzentuierten Bewältigungsnarrativs verweisen. 334 Damit entsteht ein Panorama teils ineinandergreifender, teils einander kontrastierender Wahrnehmungsoptionen, das einen internen Kommunikationsprozess inszeniert, 335 in dem sich nicht einfach die e i n e , gesetzte ›Wahrheit‹ bzw. deren dichotomische Strukturen reproduzieren lassen, sondern in dem die Notwendigkeit einer produktiven Aushandlung der geltenden Deutungsmaximen in den mono- und dialogischen Klage-Anteilen diskursiv entfaltet wird. Die Darstellung der Klagen selbst folgt konventionalisierten literarischen Mustern, 336 deren Intensität sich sowohl in den konkret geäußerten expressiven Wehklagen 337 als auch in spezifischen Trauergesten und -gebärden (z. B. Weinen, Raufen der Haare, Schlagen der 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 155 <?page no="156"?> 338 Er [sc. Etzel] begunde houbt und hant / winden alsô sêre (*B V. 614f.); swie lût der künec schrê, / die vrouwen schrîten allez mite (*B V. 652f.); daz liut dort und hie / wüefens und schrîens pflac. / vil manegen grôzen brustslac / sluogen in diu werden wîp. (*B V.-876-879). 339 Vgl. Koch, Die Vergemeinschaftung von Affekten in der Klage (2011), S.-61-82. 340 Kiening, Schwierige Modernität (1998), S.-404. 341 Zum literarischen Status und der Meta-Dimension der Klagen vgl. Miedema, Klagen (2010), S.-105- 133. Brust etc.) verdichtet. 338 Eine besonders intensive Beschreibung von Trauer und Klage wird dabei Rüdiger, dem vater maniger bzw. aller tugende, so das Urteil der Langfassungen (*B V.-2133 / *C V.-2239), zuteil: si ruoften al gelîche, beide arm und rîche, gar âne vreudehaften sin, daz diu erde under in sich möhte haben ûf getân. meide, wîp und man die klagten Rüedegêre sô herzenlîchen sêre, daz die türne und palas, und swaz gemiuwers dâ was, antwurte von dem schalle. der ougen gruntwalle von herzen dô den vluz truoc. man sach dâ sinnelôs genuoc vil der schoenen wîbe. diu wât von ir lîbe waz in zerizzen sêre. vil manec magt hêre von ir houbte brach daz hâr. ir het der ungenâden var oberhant gewunnen. mit bluote brunnen man manec antlüze vant, dâ wart maneger wîzen hant gein herzen geswungen. (*B V.-2141-2165) Weil diese Elemente auf literarische Traditionen Bezug nehmen, sind sie nicht als indi‐ viduell-emotionale Ausdrucksformen zu verstehen, 339 sondern spiegeln Momente »gene‐ ralisierter sozialer Praxis«. 340 In ihrer dauerhaften Perpetuierung markieren sie in den Langfassungen der Nibelungenklage ein metareflexives Moment, das die poetologische Di‐ mension der Klage als primären Modus der literarisch gestalteten Trauerarbeit thematisiert, aber auch problematisiert: 341 Die unaufhörlich von verschiedenen Figuren, allen voran 156 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="157"?> 342 Vgl. Dietrich (*B V. 854-857; 1042-1049; 2444 f.), Hildebrand (*B V. 1018-1025; 1229 f.; 1367; 1752- 1760), Pilgrim (*B V. 3367-3375; 3427 f.), Swämmel (*B V. 3636-3639), Sindold (*B V. 3747), Rumold (*B V. 4078f.). Zahlreiche Figurenkommentare thematisieren Etzels maßlose Trauer, die einem Herrscher nicht zuträglich sei. Vgl. Dietrich: „ir tuot dem ungelîch, / daz ir sît ein wîse man. / daz iuch niht vervâhen kan, / daz lât: daz ist mîn lêre […].“ (*B V. 854-857); Hildebrand: „Ach, wê dirre maere, / gevreischet man diu in daz lant, / daz ir mit wintender hant / stêt als ein bloede wîp, / diu ir zuht und ir lîp / nâch vriunden sêre hât gesent! / des sint wir von iu ungewent, / daz ir unmanlîche tuot. […].“ (*B V.-1018-1025). 343 Die Ambivalenz der »radikal individualisiert[en], nurmehr auf eine Person gerichtet[en]« triuwe im Nibelungenlied beschreibt J.-D. Müller, Spielregeln für den Untergang (1998), S.-167. Hildebrand, artikulierten Meta-Klagen 342 und Aufforderungen, das Klagen doch endlich einzustellen - gipfelnd in der für das Konzept des Textes regelrecht paradoxen Formulie‐ rung: klage diu ist niemen guot (*B V. 1760) -, stellen die Klage als kohärenzstiftendes Motiv und gewissermaßen Repräsentationsmedium der Dichtung einerseits aus, andererseits aber den Stellenwert der Klage als angemessene Reaktion auf kollektive Verlusterfahrung infrage. Die formal-ästhetische Affirmation des literarischen Modells geht also zugleich mit dessen transgressiver Dispensierung einher. Und offenbar erschien diese Frage, die in den Fassungen *B und *C einen so dominanten Platz beansprucht, schon in engerem zeitlichem Umfeld als diskutabel, ja sogar insoweit als irrelevant, dass sie in *J als Dokument einer historischen Diskursordnung mittels der abbreviatio-Technik auf ein kaum wahrnehmbares Minimum reduziert ist. Infolge der Streichungen umfangreicherer Teile der Handlung in der Kurzfassung *J sind, wie in Kap. 2.2.1 verzeichnet, die analeptisch ausgerichtete Anfangspartie und die nachfolgende Bestattung der Toten einschließlich der Klage um die Gefallenen (*B V. 1- 2418) radikal zusammengezogen (*J V. 1-414). Die paradigmatisch auf den im Anfangsteil etablierten axiologischen Wertehorizont rekurrierenden Figurenstimmen im Mittelteil des Textes entfallen damit fast vollständig. Der Fokus liegt zunächst auf Kriemhild, der Ursache ihres Todes durch unbedingte triuwe zu Siegfried 343 sowie der Trauer und Klage um sie. An den triuwe-Exkurs, den die *J-Klage mit *B gemeinsam hat und der Kriemhilds Handeln plausibilisiert (*B V. 546-570 / *J V. 172-196), schließt sich nahtlos die Auffindung ihres Leichnams an, die in *B durch knapp zweihundert, Etzels Trauer und ersten ›Aufräumar‐ beiten‹ gewidmete Verse separiert ist (*B V.-587-759): […] sît si von triuwen tôt gelac, in gotes hulden manegen tac sol si ze himel noch geleben. got hât uns allen daz gegeben; swes lîp mit triuwen ende nimt, daz der in himel wol gezimt. [*B V.-571-576] dô kom der herre Dietrîch [*B V.-759-771] mit einem muote klägelîch, dâ er Kriemhilden vant. er bat die liute al zehant, daz si ir weinen liezen sîn. doch klagt er die künegîn. 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 157 <?page no="158"?> 344 Köbele / Rippl, Narrative Synchronisierung (2015), S.-12. dô sprach der herre Dietrîch […]. (*J V.-197-209) Dietrichs Klage um Kriemhild, die programmatisch den (in *J stark gerafften) Klage-Dialog zwischen Etzel, Dietrich und Hildebrand eröffnet, stimmt in ihrer Form weitgehend mit der in *B überlieferten Version überein (*B V. 772-791). Bemerkenswert im Hinblick auf den Kürzungsvorgang ist dabei, dass die von Dietrich vorgenommene Akzentuierung von Kriemhilds triuwe als Konnex zu dem in *J vorausgehenden triuwe-Exkurs des Erzählers dient und so die in *B auf paradigmatischer Ebene zu situierende Kohärenzstruktur ins Syntagma verlagert: „jâ hân ich manec vürstin rîch gesehen her bî mînen tagen. ich hôrte nie gesagen von schoenerem wîbe. ôwê, daz dînem lîbe der tôt sô schiere solte komen! swie mir dîn rât hât benomen mîn aller bestez künne, ich muoz mit unwünne klagen beidiu dich unde mich. deis wâr, daz tuon ouch ich mit sô grôzer riuwe, daz ich [dich] dîner triuwe niht sol lân engelten. du hâst mir vil selten versaget, des ich dich bat. nû ist ez komen an die stat, daz ich ez, vrouwe, dienen sol. dâ mit ist mir selten wol, swaz ich nâch dînem tôde tuo.“ (*J V.-210-229) An den topischen Schönheitspreis (*J V. 210-213) ist die Klage um den zu frühen Tod Kriemhilds gebunden. Obwohl ihr rât (*J V. 216) die Amelungen das Leben gekostet habe, seien die Tote wie der Trauernde als Lebender gleichermaßen zu beklagen: ich muoz mit unwünne / klagen beidiu dich unde mich (*J V. 218f.). Diese in der Figurenrede perspektivierte Reflexion rückt eigentlich dissonante Positionen (Tod / Leben) in ein Gleichzeitigkeitsverhältnis, indem sie die »zeitliche[n] Proportionen« 344 von Vergangenheit und Gegenwart ineinander übergehen lässt. Zentrum von Dietrichs Klage ist Kriemhilds ge‐ genüber ihrem Gefolgsmann erwiesene triuwe (*J V. 222), die ein auf künftige Kompensation gerichtetes reziprokes Äquivalenzverhältnis impliziert. Auch wenn hier das Augenmerk primär auf dem Dienstverhältnis zwischen Herrscherin und Vasall liegt, eröffnet der infolge 158 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="159"?> 345 J.-D. Müller, Spielregeln für den Untergang (1998), S.-168. 346 J.-D. Müller, Die Klage (2003), S.-176. 347 In anderem Zusammenhang Hasebrink, Überlegungen zur Ästhetik der Klage (2007), S.-103. der Abbreviierung direkte Anschluss der Stelle an den triuwe-Exkurs eine alternative Semantisierung von Dietrichs Klage im Sinne einer intern fokalisierten Bestätigung der als eines undiskutierten »Höchstwert[s]« 345 definierten »individuellen Tugend einer liebenden Frau«: 346 swer daz maere merken kan, der sagt unschuldic ir lîp, wan daz diz vil edel wîp tet al nâch ir triuwe. ir râche was in grôzer riuwe. (*J V.-82-86) Nach der Aufbahrung der Königin setzt Etzels Klage um seine Ehefrau und ihren gemein‐ samen Sohn Ortlieb ein, die genau diesen Faktor - Kriemhild als Musterbeispiel an positiv verstandener triuwe - im Stil einer reimtechnisch realisierten Wiederholungsfigur (riuwe : triuwe) reproduziert: „owê mîner swaere! “ sprach der künec wolgeborn. „wie hân ich arm man verlorn beidiu mîn kint und mîn wîp! […] wie bin ich müedinc gegeben alsus in grôze riuwe? het ich sô staete triuwe an ir vil reinem lîp erkant, ich het mit ir alliu lant gerûmt, ê ich si het verlorn. getriuwer wîp wart nie geborn von deheiner muoter mêr. […]“ (*J V.-256-273; Hervorhebung: J.F.) Der auf Kriemhild konzentrierte narrative Fokus verstärkt die iterative Dynamik der Klagen, in denen das Erleben der Figuren mit den Reflexionen des Erzählers gleichge‐ schaltet wird. Die exemplarische Prämierung der triuwe (getriuwer wîp wart nie geborn, *J V. 272) wirkt umso unabweisbarer, je größer das Spannungsverhältnis zwischen den erzählten Ereignissen und der triuwe-basierten handlungslogischen Alternative imaginiert wird: Allein Kriemhild, ihrem Überleben gilt die in einer »mentale[n] Repräsentation« 347 entworfene Differenz einer in der Vergangenheit als möglich gedachten Handlungsoption zur aktuellen Gegenwart (*J V.-268-271). Die darauf folgenden ›Aufräumarbeiten‹ sind in *J rasch berichtet: Kriemhild, Ortlieb und Bloedelin legt man zur Vorbereitung für die Bestattung nebeneinander (*J V. 298-311). Die in *B ausführliche Klage des Hunnenkönigs um seinen Bruder (*B V. 887-1007), in der 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 159 <?page no="160"?> 348 Dazu siehe oben, Kap. 2.2.1: si wurden beserkt und begraben / an den selben stunden, […] / der künec het jâmer und nôt. / Alsô het ouch her Dietrîch / umb sîne recken lobelîch. (*J V.-313-320). 349 Fridrich / Hammer / Witthöft, Anfang und Ende (2014), S.-18. 350 Zum Erzählbeginn in *J siehe eingehender Kap.-2.2.4. 351 Dô sprach daz Rüedegêres kint: / „vil liebiu muoter Gotelint, / diz ist doch selten geschehen, / ich hân vil lützel gesehen / her bî mînen zîten / mînes vater boten rîten, / sine waeren wol gemuot. / waer et diu hôchzît guot / gewesen mîner vrouwen? / Des mac ich übel trouwen.“ (*J V. 505-514 / *B V. 2869-2880). er die eigene Abkehr vom christlichen Glauben (das vernogieren, *B V. 988) als Ursache für das erfahrene Leid reflektiert, fällt in *J aus. Die Klagemonologe und -dialoge um die toten Krieger der Burgunden und Amelungen, die den Mittelteil der Langfassungen kennzeichnen (*B V. 759-2174 / *C V. 777-2394), werden im Anschluss an den bereits genannten Kürze-Topos (waz sol man mê dâ von sagen? *J V. 313) summarisch kompri‐ miert. 348 Damit ist die ›Diskussion‹ der Frage nach Schuld oder Unschuld Kriemhilds am Burgundenuntergang, d. h. die Sinnsuche, die unter Heranziehung einer Werteskala die »Matrix für das Aushandeln kultureller Orientierung« 349 gestaltet, am Ende. Sie wird, außer in Brünhilds Selbstanklage (*J V. 788-796), konsequenterweise nicht mehr im Text thematisiert, sodass der Erzählbeginn in *J als eine axiologische Denkform erscheint, ein auf die Figur Kriemhild zugeschnittener Kommentar, der mittels der Klagereden Dietrichs und Etzels in die narrative Gegenwart der Überlebenden hereingeholt und mit dem Bestattungsprozess abgeschlossen wird. 350 Nicht nur der Mittelteil der *J-Klage, auch die Dialoge in Bechelaren zwischen den klagenden Frauen Gotelind und Dietlind sind stark verkürzt. So fehlt bei der untypisch sorgenvollen Ankunft der Boten die Traumerzählung der Markgräfin, die Rüdigers Tod und den seines Gefolges prophezeit, sowie der damit initiierte, in *B etwa 100 Verse umfassende Klage-Dialog von Mutter und Tochter (*B V. 2881-2984) samt dem Empfang der Boten (*B V. 2915-2936). Die Episode beschränkt sich in *J im Grunde genommen nur auf wenige Elemente, erzählt in rund 90 Versen (*J V. 493-582, gegenüber *B V. 2807-3286): Dietlinds düstere Vorahnung beim Anblick der herannahenden Boten, 351 die gekürzte Klage von Mutter und Tochter (*J V. 515-520), Gotelinds Frage nach dem Verbleib ihres Mannes, die Swämmel knapp beantwortet (*J V. 521-540), die schmerzvolle Reaktion der Frauen (*J V. 541-559). Als einzige nennenswerte Klage - neben den Verweisen auf das Leid der Frauen im Erzählerbericht - bleibt nur Dietlinds lamentatio auf ihren Vater Rüdiger und die ihn auszeichnende vortreffliche Eigenschaft der êre erhalten: „ach unde leider wirt meide nimmer mêre! wâ wil nû mîn vrouwe Êre belîben in dem rîche, sît alsô jâmerlîche die êre tragenden sint gelegen? wer sol si danne widerwegen, swenn ir gesîget diu kraft? des het gar die meisterschaft mîn lieber vater Rüedegêr. vrouwe Êre, diu wirt nimmer mêr 160 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="161"?> 352 Vgl. Splett, Rüdiger von Bechelaren (1968); Keller / Kragl / Müller (Hg.), Die Nibelungenklage. Rüdiger von Bechelaren (2019). 353 Kiening, Schwierige Modernität (1998), S.-404. 354 Dabei handelt es sich um eine Perspektive, für die in den Langfassungen (und hier expliziter in *C) Bischof Pilgrim eintritt: man muoz die varen lâzen, / die uns tägelîch nimt der tôt. / daz ist ein gewonlîch nôt, / swâ man daz von im vernimt, / wan im anders niht enzimt, / wan daz er liep von liebe schelt, / unz er uns alle hin gezelt. / der tôt anders niht enkan. (*C V.-3540-3547). 355 Toepfer, Dietlinds Wahrheitssuche (2019), S. 167-193, interpretiert gerade die Stellungnahmen von Rüdigers Tochter zu den Aussagen der Boten als »Versuch einer Wahrheitssuche«, die Nibelungen‐ klage mithin als »Entwurf eines hermeneutischen Modells« (ebd., S.-169). mit solhem wunsch getragen, als er si truoc bî sînen tagen. […]“ (*J V.-562-574) Die substantielle Raffung der Bechelaren-Episode insbesondere im Hinblick auf die im Modus sowohl expressiv vorgebrachter Klagemonologe als auch im reziproken Steige‐ rungsverhältnis angelegter Klagedialoge zwischen Mutter und Tochter korreliert mit der weitgehenden Reduktion der Trauer- und Affektdarstellung durch den Erzähler. Eigentlich, so ließe sich aus der geänderten Konzeption des Textes in *J folgern, hätte die Station in Bechelaren als einzige auf dem Weg nach Worms entbehrlich erscheinen können, zumal auch Rüdiger selbst in Worms nicht mehr erwähnt wird. Dass sie dennoch in maximal abbreviierter Form Eingang in die Kurzfassung gefunden hat, dürfte wohl als Signal für Rüdigers bedeutungstragende Rolle im Kontext des nibelungischen Erzählkontinuums zu sehen sein, 352 die sich nicht zurückdrängen ließ. Darüber hinaus ist an der Passage, wie im Fall von Kriemhilds triuwe, die Konzession an eine in *J priorisierte syntagmatische Kohärenzstruktur der Handlungsorganisation zu beobachten: Mit Swämmel werden auch Rüdigers Boten entsendet (*J V.-425-428; 466 f.), ferner lautet Dietrichs Weisung, Rüdigers Tod zu verheimlich (sagt niemen Rüedegêres tôt! *J V. 477), denn er wolle selbst innerhalb weniger Tage der Überbringer der Nachricht sein (ich welle si [sc. Gotelind und Dietlind] sehen in kurzen tagen, *J V. 487). Letzterer Aspekt, der in *B am Schluss des Textes realisiert wird (*B V.-4207-4294), ist in *J allerdings gestrichen. Aufgrund dieser Konstellation kam der Bechelaren-Passage einiges Gewicht zur Siche‐ rung narrativer Stringenz zu, setzt diese doch genau mit dem Blick Gotelinds und ihrer Tochter auf die Straße ein und dem Erkennen der heimischen Boten, deren Verhalten sich so eklatant von dem sonst gewohnten unterscheidet (*J V. 493-498). Es verhält sich also m. E. keineswegs so, als diene die Bechelaren-Episode dazu, die Trauer der Frauen zu exponieren. Dafür fehlen gerade diejenigen Mono- und Dialoge sowie Erzählerkommentare, in denen dies in *B vorzugsweise geschieht. Vielmehr stehen der geänderte Modus und die Reduktion des Klagens auch hier im Dienste einer bestimmten Funktion, nämlich der Akzentsetzung auf die Unvermeidlichkeit des Todes als des allen Menschen bevorstehenden Schicksals (communis hominum condicio). Vor dem Hintergrund eines »Modell[s] der Aufhebung alles Irdischen, das die christliche Anthropologie prägt«, 353 bedarf der erlittene Verlust nicht der Klage, sondern allein der Akzeptanz. 354 Diese Perspektive konkretisiert sich in Dietlinds letzten Worten, die in *J den Abschluss der Episode bilden: 355 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 161 <?page no="162"?> 356 die marcgrâvinne beide, / die dâ ze Bechelâren / ouch mit klage wâren, / die klagten nie sô sêre, / Brünhilt diu klagt mêre / mit grôzen unmâzen. (*J V.-686-691). 357 In anderem Zusammenhang Emmelius, Zeit der Klage (2011), S.-215f. Der tôt, der hât die unzuht, daz er niemen keine vlucht ze sînen vriunden haben lât, swenn ez an die rede gât, daz er entwîche gerne. (*J V.-575-579) Nach einem ähnlichen Muster erfolgt auch die Abbreviierung der erzählten Handlung in Worms. Die spiegelbildlich zum Erzählerdiskurs im ersten Teil des Textes angelegte Funktion des Botenberichts ist ersatzlos gestrichen. Dafür rückt die an Brünhild gerichtete, auch in den Langfassungen lakonisch anmutende Sachinformation über den Tod der drei Könige in den Fokus: „[…] wan iuwer man, der ist tôt. Gîselhêr und Gêrnôt mugen hie niht krône tragen. si sint alle drî erslagen.“ (*J V.-669-672) Markant herausgehoben ist damit nicht etwa Bründilds Trauer, wiewohl ein agonaler As‐ pekt hinsichtlich der Klage-Intensität im Vergleich zu den beiden Markgräfinnen durchaus eingespielt wird. 356 Die Episode in Worms dokumentiert vielmehr als längste szenische Einheit und damit Nucleus im Umgang mit Tod und Vergänglichkeit den adäquaten Umgang mit dem Medium ›Klage‹. Auf die Darstellung des allgemeinen Klageverhaltens (*J V. 694-726) folgt die Versammlung der lantschaft, der Führungspersonen des Reiches, in die erst Brünhilds Klagemonolog als Ausdruck einer ›institutionalisierten‹ Kommunikati‐ onsstruktur eingelassen ist: „owê, daz ich ie gesach der edeln Kriemhilde lîp! dô daz êre gernde wîp mit rede erzürnte mir den muot, des verlôs der helt guot daz leben, Sîvrit, ir man. dâ von ich nû den schaden hân. daz ir ir vreude wart benomen, daz ist mir nû her heim komen“. (*J V.-788-796) Der Königinnenstreit erhält damit aus der Retrospektive eine »determinierende[ ] Relevanz für die Gegenwart«, 357 die dem vergangenen Geschehen einen Präsenzeffekt verschafft und die Herrscherin zum Ziel öffentlich wirksam inszenierten ›Trostes‹ (und trôsten die 162 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="163"?> 358 Zum trôst nicht im Sinne einer emotionalen Geste, sondern als Reaktion von rechtlichem Charakter auf einen durch trûren beschädigten Weltzustand vgl. J.-D. Müller, Spielregeln für den Untergang (1998), bes.-S. 208-212. 359 Kiening, Schwierige Modernität (1998), S.-404. 360 Ebd. 361 Vgl. aus anderer Perspektive Frick, Reflexionen des Untergangs (2020), S.-125-142. 362 Zum höfischen ›Trauerprotokoll‹ vgl. Küsters, Klagefiguren (1991), bes. S.-31-33. 363 Reuvekamp-Felber, Kollektivtod (2016), S.-96. künegîn, *J V. 813), d. h. der durch ihre Vasallen erfolgenden rechtlichen Bestätigung der Gefolgschaftstreue, disponiert. 358 In diesem Rahmen vor der lantschaft markiert Brünhilds Klage eine Irritation des sozialen Herrschaftsgefüges, die die »Gesellschaft zur Neubestim‐ mung zwingt«. 359 Diese Irritation besitzt freilich nur momenthaften Charakter: Mit dem Entschluss zur Krönung des jungen Königssohnes wird sie sogleich der Restitution sym‐ bolisch-identischer Ordnung zugeführt (dâ von muost erleschen sint / ein teil ir ungevüegen klage, *J V. 818f.). Dieser »kulturellen Normierung« 360 dient auch der Kommentar des Küchenmeisters Rumold (*J V. 838-863), der als Inhaber eines hohen Hofamtes und damit Repräsentant vergangener Herrschaftsstrukturen die ›alt-neue‹ Ordnung bestätigt: waz mac nû helfen elliu klage? nû schaffet et, daz krône trage unser herre der junge! (*J V.-861-863) Im Zentrum steht insofern weniger der Umgang des leidenden Individuums mit der Erfahrung des Todes, 361 sondern die Klage als Akt und Repräsentationsform höfischen ›Zeremoniells‹, 362 als punktuell realisierte, öffentliche Kontingenzexposition mit ihrer simultan stattfindenden Bewältigung, die gesellschaftliche Kontinuität und institutionelle Herrschaftslegitimation im Angesicht der Katastrophe erfahrbar werden lässt. Das »genea‐ logische Modell [ermöglicht] eine innerweltliche Überwindung der kollektiven Vergäng‐ lichkeit in der dynastischen Erbfolge«, 363 die die Endlichkeit menschlicher Existenz und den Tod als innerweltliches summum malum akzeptabel macht und im Kontinuitätsparadigma überwindet - jenseits exzessiv perpetuierten Klage-Handelns, für dessen Sinnlosigkeit Etzels ›Verschwinden‹ aus der Dichtung exemplarisch eintritt: der künec viel nider vür tôt. der jâmer gap im solhe nôt, daz er der witze niht behielt und sô kranker sinne wielt, daz er unversunnen lac. lebt er sît deheinen tac, des het er vil kleinen vrumen. im was in sîn herze kumen diu riuwe alsô mannicvalt, daz in daz leit mit gewalt lie nimmer mêr gesprechen wort. er was weder hie noch dort, 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 163 <?page no="164"?> 364 Zur Semantik von verklagen vgl. Koch, Zur Vergemeinschaftung von Affekten (2011), S.-61-82. 365 Miedema, Klagen (2010), S.-128. 366 Zur Klage als Form heroischen ›Gedächtnisses‹ vgl. Küsters, Klagefiguren (1991), bes. S. 20-25; in Bezug auf die Nibelungenklage kritisch Lienert, Der Körper des Kriegers (2001), S. 127-142. Zu diesem Aspekt siehe Kap.-2.2.4. 367 Reuvekamp-Felber, Kollektivtod (2016), S.-97. 368 Insofern ist die Zukunftsperspektive der anderen Hinterbliebenen keineswegs offengehalten, son‐ dern in diesem Modell aufgehoben. Zum Fehlen einer Zukunftshoffnung in der Klage außerhalb von Worms vgl. Philipowski, Wider die Bewältigungsthese (2019), bes. S.-136 u. 140. er was tôt noch lebte. in einem twalm er swebte dar nâch, ich enweiz, wie mangen tac. swie grôzer hêrschaft er ê pflac, dar zuo was er nû gedigen, daz si in eine liezen ligen, und niemen ûf in ahte. wie er ez sît bedâhte des kann ich iu niht gesagen, wan daz er leit muoste tragen. (*J V.-895-916) Der in der Kurzfassung *J grundlegend geänderte Modus des Klagens geht mit einer Funk‐ tionsverschiebung einher und indiziert einen gegenüber den Langfassungen alternativen Status des Textes. Dieser fokussiert nicht mehr einen metaphorisch bzw. metapoetisch semantisierten Prozess des Klagens, in dem die primäre Form der Trauerbewältigung auf dem Akt des verklagen basiert, 364 wie ihn Nine Miedema für die Langfassungen des Textes festgehalten hat: Der Autor der Nibelungenklage schafft damit ein komplexes Geflecht von Klagen und Kom‐ mentaren zum Klagen, das trotz der möglichen literarischen Schwächen des Textes ein hohes Reflexionsniveau über die literarische Klage aufweist. Er lässt aus dem statischen Klagemonolog, der in anderen Erzählstoffen überliefert ist, eine Handlung, einen Erzähltext entstehen, in dem das Klagen als solches reflektiert und problematisiert - und dennoch über 4000 Verse hinweg fortgesetzt wird. 365 Favorisiert wird in *J demgegenüber eine ›nüchterne‹, d. h. stärker faktenorientierte Erzählweise, die die emotional besetzten Trauer- und Klageelemente, aber auch Aspekte heroischer Memorialkultur 366 reduziert zugunsten einer sachlicheren Darstellung, die auf die »Vorstellung einer Kontinuität des kollektiven Körpers« 367 zielt. Sie findet ihre Realisierung in der Worms-Episode, der innerhalb der *J-Klage paradigmatische Bedeu‐ tung und situationsabstrakte Geltung innerhalb des Textes zuwächst. 368 Die konsequente Tilgung der textkonstitutiven Paradoxie, die sich in den zahlreichen Metakommentaren zum Klagen verdichtet sowie die Eliminierung perpetuierten Klagens (verkörpert v. a. durch Etzel), verweist auf ein offenbar wesentlich geändertes Verständnis des Mediums Klage als eines ›institutionellen‹ Instruments, das dem rituellen Vollzug der Trauer einen 164 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="165"?> 369 Zur rechtlichen Bedeutung von Trauer und Klage vgl. Küsters, Klagefiguren (1991), bes. S.-31-38. 370 Strohschneider, Zum Verhältnis (2001), S.-1. 371 Vgl. die für diesen Zusammenhang systematisch herausgearbeiteten Kategorien in Köbele / Rippl, Narrative Synchronisierung (2015), S.-9. 372 Kiening, Reflexion - Narration (1991), S.-17. 373 Zum literarischen Umgang mit den Polen Anfang und Ende als »elementaren Kategorien der Orientierung, die den Rahmen von komplexen Ordnungsleistungen markieren«, vgl. Fried‐ rich-/ Hammer / Witthöft, Anfang und Ende (2014), S.-11. 374 Zur Frage nach der Perspektivierung des Klage-Geschehens siehe Kap.-2.2.2. öffentlich-rechtlichen Charakter zuweist. 369 Die Funktion der Klage geht demnach nicht in der Demonstration kollektiven bzw. individuellen Umgangs mit Verlusterfahrung auf - das ist nur e i n (und keineswegs d e r wesentliche) Aspekt des in *J herauspräparierten Bewältigungsnarrativs. Der Fluchtpunkt liegt vielmehr auf handlungsbasierten Elementen im Sinne der Prämierung syntagmatischer Relationen, innerhalb derer das literarische Modell des Planctus mit seiner Tendenz zur Stimmenvervielfältigung und Klage-Zentriert‐ heit zurücktritt hinter einem kohärent-konzisen Weitererzählen, das in der Stiftung neuer Herrschaft und Restitution genealogischer Kontinuität einen Kulminationspunkt erreicht und damit die »kulturelle[ ] Konstruktion von sozialer Kohärenz« 370 als Bezugssystem der Dichtung demonstriert. 2.2.3 Zeit der Klage Anhand des Umgangs mit dem kollektiven Untergang in der Nibelungenklage wird die Reflexion von Zeitkonzepten auf unterschiedlichen Ebenen historisch beobachtbar: im Rahmen des discours in der »systematische[n] Gestaltung diegetischer Zeit« 371 (Erzählzeit und erzählte Zeit), besonders aber in der für den Text konstitutiven Verschränkung von diachroner Erzähltradition, die die Handlung der Klage in einer »epische[n] Tota‐ lität« 372 situiert, und Synchronie der Ereignisse im Erzählvorgang. Auf der medialen Ebene der handschriftlichen Überlieferung repräsentieren Lang- und Kurzfassung des Textes grundlegend veränderte Konzeptionen der Arbeit an den im Nibelungenlied offen gebliebenen Sinnhorizonten. 373 Während die Fassungen *B und *C ein breit angelegtes Panorama durchaus divergierender kollektiver Vergangenheitsbewältigung präsentieren, dokumentiert die Kurzfassung *J den Versuch, thematische und perspektivische Kohärenz herzustellen und damit einen neuen Fokus auf das Erzählte zu etablieren. 374 Zwei Aspekte erscheinen für die Dynamik des Erzählprozesses von besonderer Relevanz: 1) Die narrative Modellierung von Zeitlichkeit, der infolge der abbreviationes hand‐ lungstragender, aber auch exkursorischer bzw. allgemein digressiver Passagen ein höheres Erzähltempo zuwächst. 2) Die Totenklagen als Signum der Erfahrung von Heterochronie, deren weitgehende Reduktion einer elementar geänderten Zeitlichkeitsstruktur und -semantik des Textes Vorschub leistet. Die ersten rund 600 Verse der Nibelungenklage-Fassungen *B und *C bieten eine Abbre‐ viatur des epischen Grundgerüsts, indem sie die vergangene Handlung des Nibelungenliedes in die Gegenwart des Erzählprozesses überführen. Damit wird an der Ausgangsposition des 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 165 <?page no="166"?> 375 Zur Einordnung der Nibelungenklage in den »Kontext mittelalterlicher Memorialkultur« J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S. 157. Zum Konzept des ›Speichergedächtnisses‹ vgl. auch St. Müller, Datenträger (2002), S. 91-124. Aus der Perspektive der Wissenstradierung innerhalb kultureller Gemeinschaften einschlägig Assmann, Das kulturelle Gedächtnis ( 8 2018). 376 J.-D. Müller, Memoriales Erzählen (2015), S.-257. 377 Kiening, Reflexion - Narration (1991), S.-5. 378 Hasebrink, Überlegungen zur Ästhetik der Klage (2007), S.-105. 379 Zur Totenklage in der mittelhochdeutschen Literatur Köbele, Ironische Heterochronien (2018), S. 429-462; Küsters, Klagefiguren (1991), S. 9-75; Leicher, Die Totenklage in der deutschen Epik (1977). Textes die erzählerische Kontinuität und Gegenwartsbezogenheit des Gegenstandes sowie dessen Situierung in der literarischen Tradition markiert: Hie hebt sich ein maere daz waere vil redebaere und waere guot ze sagene, niwan daz ez ze klagene den liuten allen gezimt. swer ez rehte vernimt, der muoz ez jâmerlîche klagen und jâmer in dem herzen tragen. Hete ich nû die sinne, daz siz gar ze minne heten, die ez ervunden! ez ist von alten stunden her vil waerlîch gesagt. (*B V.-1-13) Erzählungen von vergangenen Ereignissen, gewissermaßen Speichermedien eines kollektiv geteilten, vielstimmigen Sagenwissens in der Form kulturellen Gedächtnisses, 375 konstru‐ ieren ein spezifisches Zeitverhältnis zwischen der vergegenwärtigten temporalen Ordnung und deren grundsätzlich universellem Geltungsanspruch: Die memoria, obwohl auf einmal Wahrgenommenes, Gedachtes, Erlebtes gerichtet, ist nicht an seinem Vergangen-sein […] interessiert, sondern an seiner Relevanz für die Gegenwart der Erinnernden. 376 Das in der Nibelungenklage greifbare Panorama unterschiedlicher Temporalitäten ist mehrdimensional strukturiert. Einerseits werden die ›denkwürdigen‹ Begebenheiten in je situativ gebundenen, reflexiv angelegten Rückgriffen an den Zyklus nibelungischen Erzählens angeschlossen und aktualisiert, andererseits in die linear konstruierte continuatio der epischen Handlung überführt. Die »immanente Diachronie der Erzählung« 377 mani‐ festiert sich nicht zuletzt in der sprachlichen Form der Totenklage, in der als »Medium der Vergegenwärtigung« 378 die Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft inein‐ ander konvergieren. 379 Ihre determinierende Rolle für das in der Nibelungenklage erzählte gegenwärtige Geschehen lässt die narrative Sukzession der Handlung immer wieder zum 166 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="167"?> 380 Zum Konzept der Heterochronie mit Blick auf mittelhochdeutsche Literatur vgl. Weit‐ brecht / Bihrer-/ Felber (Hg.), Die Zeit der letzten Dinge (2020). 381 Deutlich in der Kommentierung bestimmter Ereignisse, z. B. Siegfrieds Tod (dem helde sterben niht gezam / von deheines recken hant, *B V. 106f.), der Schuldzuweisung vor allem an die Burgunden (ich waene, sie ir alten sünde / engulten und niht mêre, *B V. 196f.), der Entlastung Kriemhilds (*B V. 128-133). - Zu den ›narrativen Strategien‹ von Nibelungenlied und Klage vgl. Schmid, Erzählen von den Nibelungen (2015), S.-161-208. 382 Vgl. z. B. die wiederholten triuwe-Exkurse mit Bezug auf Kriemhild (*B V.-139-158; 546-586). 383 Vgl. Diu rede ist genuog wizzenlîch (*B V. 47); Nû ist iu wol geseit daz (*B V. 71); Iu ist dicke wol gesagt (*B V.-159). 384 Vgl. dâ von dô Etzel gewan / die aller groezesten nôt, / die ein künec âne tôt / ie gewan an sînem lîbe (*B V.-254-257). Stillstand kommen, sodass dem Text der Status als Präsenzeffekt der mittels des Mediums Klage organisierten Verdichtung heterochroner Zeitsemantiken zuwächst. 380 Die narrative Gestaltung der Langfassungen ist durch die im Modus der Erzählerrefle‐ xion vorgetragene epistemische Perspektive strukturiert, die das vergangene Geschehen nach aktuell geltenden Wertekategorien bemisst. 381 Die zahlreichen, zum Teil repetitiv angelegten Einschübe des Erzählers, 382 die das summarische Tableau des Anfangsteils (*B V. 25-586) - selbst eine Art abbreviatio der Nibelungenhandlung - immer wieder unterbrechen, lassen Momente des Innehaltens im zeitlichen Ablauf des narrativen Progresses entstehen. Sie verleihen der analeptisch anmutenden Rekapitulation einen exegetisch-kommentierenden Charakter, der die erzählte Zeit zunächst stillstellt, ja in ihr zurückgeht, um den Untergang unter geänderter Perspektive und aus reflektierender, quasi rationaler Distanz von Neuem erlebbar und damit handhabbar zu machen. Wiederkehrende Verweise auf eine vorgängige Erzähltradition 383 betonen dabei die temporale Distanz von gegenwärtigem Erzählen und erzähltem Gegenstand, die eine Spannung generiert zwischen bereits bekanntem Sagenwissen und im Akt des Erzählens sich konstituierender axiologischer Differenzierung, wie sie den ersten Teil der Nibelungenklage kennzeichnet. Dieses retrospektiv-kommentierende Erzählen mündet mit *B V. 587f. in der erzählten Gegenwart der Figuren ein: Daz hûs das lac gevallen ob den recken allen (*B V. 587 f.) Symptomatisch erscheint die (diegetisch realisierte) ›Zeit der Klage‹ am Beispiel Etzels als schier endlose Folge von Traueraktivitäten (dem wirte gie diu zît hin / mit leide und ouch mit sêre, *B V. 590f.), die der lange Mittelteil der Dichtung als narratives Paradigma performativ inszeniert (*B V. 587-2278). Hier kommt ein Prozess der Klage-Kommunikation in Gang, der die Aufräum- und Bestattungsarbeiten überlagert und das vergangene Geschehen in den zahlreichen Totenklagen und unterschiedlich akzentuierten Rückblenden fortwährend aktualisiert. Die zahllosen Beteuerungen des Erzählers, es habe nie ein größeres Leid als den Nibelungenuntergang gegeben, 384 der anhaltende Gestus des Klagens der Figuren Dietrich und Hildebrand sowie schließlich die unaufhörlich getadelte Verzweiflung Etzels model‐ lieren Gleichzeitigkeitseffekte im Erleben von Verlust und Trauer, die die Simultaneität des Erzählten und die Sukzession des Erzählens ineinander umschlagen lassen und so Spiel‐ 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 167 <?page no="168"?> 385 Zum Phänomen erzählter ›Gleichzeitigkeiten‹ in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. Kö‐ bele-/ Rippl, Narrative Synchronisierung (2015), S.-7-25, bes. S.-8. 386 Siehe dazu oben, Kap.-2.2.2. 387 J.-D. Müller, Memoriales Erzählen (2015), S.-260. 388 Vgl. Linden, Exkurse (2017), bes. S.-32. räume narrativer Vervielfältigung der vom Erzähler etablierten Kommentierungs-Technik generieren. 385 Erst mit dem Einsetzen der Rückkehrhandlung nach Worms löst sich das Erzählen ein Stückweit aus dem dominierenden Reflexionsmodus und bindet das Geschehen an den Anfang der Nibelungenhandlung zurück. Dass die Rückwärtsbewegung im Raum konzep‐ tuell gerade nicht mit einem temporalen Progress korreliert, sondern diesen gleichsam durch beständige Referentialisierung mit dem Vergangenen unterläuft, dokumentiert das Verhältnis zwischen der nur knapp geschilderten Reisezeit und der ausführlichen Erzählzeit des Boten, die der internen Diskursivierung der zurückliegenden Ereignisse gewidmet ist. 386 Die narrative Spezifik solch einer »Strukturierung des Erinnerten« 387 im zeitlichen Neben- und Miteinander des Vergangenen und Gegenwärtigen ist auf das Medium Klage als symbolischer Repräsentation des Textes abgestellt. Ihre ›Reichweite‹ übersteigt diejenige der erzählten Handlung, sodass die Narration sich eher als moraldidaktisch perspektivierter, mono- und dialogisch realisierter ›Klage-Diskurs‹ beschreiben ließe, der aus der Einlassung in das epische Kontinuum seine gegenwartsbezogene Relevanz schöpft. Das Erzählen in *J unterscheidet sich davon grundlegend. Schon der Beginn des Textes mit dem programmatischen Nû verweist auf einen Neueinsatz, der gerade nicht, wie dies in den Langfassungen der Fall ist, das vorliegende maere in einer meta- und zugleich proleptischen Perspektive als Gegenstand wie Medium der Klage semantisiert (*B V. 1-13, s.-oben), sondern den Fokus auf die Zeit des Erzählens selbst richtet: Nû ist iu wol gesagt daz, wie Kriemhilt zen Hiunen saz (*J V.-1f.) Der im Folgenden stark gekürzte Rückblick gilt allein Kriemhilds Situation nach Siegfrieds Ermordung und mündet im triuwe-Diskurs des Erzählers ein (*J V. 195-202). Auch wenn die Anfangspartie in *J nicht primär narrativ organisiert ist, sondern einen reflektierenden Gestus ausstellt, so deutet der alternative Beginn, der sich in den Langfassungen auf das zuvor Erzählte, d. h. die später im Epilog referentialisierte alrêste stunde (*B V. 4302) der ›Geschichte‹, bezieht, ein anderes Verhältnis zur vorgängigen Stofftradition an. Sie wird als gut bekannt (wol gesagt) vorgestellt, zumal diese Aussage auf das in der Überlieferung vorausgehende Nibelungenlied anschließt. Insofern erscheint der Akt des Erzählens in *J konstitutiv anders disponiert. Der vor allem Kriemhilds Motivation kommentierende Anfangsteil (*J V.-1-202) mündet mit der Auffindung der Königin durch Dietrich direkt in die eigentliche Handlung ein: dô kom der herre Dietrîch […], dâ er Kriemhilden vant (*J V.-203-205) Ihm kommt die Bedeutung einer reflexiv gehaltenen Digression zu, 388 die den narrativen Ablauf zwischen dem Ende des Liedes und dem folgenden Geschehen unterbricht, um mit‐ 168 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="169"?> 389 Vgl. Köbele, Registerwechsel (2017), S.-167-202. 390 Linden, Exkurse (2017), S.-1. 391 Siehe dazu Kap.-2.2.2. 392 Köbele, Ironische Heterochronien (2018), S.-430. 393 Köbele, Ironische Heterochronien (2018), S.-432. 394 Schmid, Stimme(n) des Klagens (2017), S.-289. 395 Zu diesem Aspekt exemplarisch Miedema, Klagen (2010), S. 105-133; Schmid, Stimme(n) des Klagens (2017), S. 279-308; Lienert, Der Körper des Kriegers (2001), S. 127-142; Böhm, Worüber klagt die Nibelungenklage? (1998), S.-201-242; Knapp, Tragoedia und Planctus (1987), S.-152-170. 396 Hasebrink, Überlegungen zur Ästhetik der Klage (2007), S.-103. 397 Weitbrecht / Bihrer / Felber, Einleitung (2020), S.-7. 398 Hasebrink, Überlegungen zur Ästhetik der Klage (2007), S.-105. tels eines Registerwechsels eine allgemeingültige axiologische Sinnebene zu etablieren. 389 Die Differenzqualität der »alternativen Sprechhandlung« 390 zieht eine allgemeingültige Perspektive ein, deren Geltungsbereich jenseits des stofflichen Gegenstandes durch die verwendeten Temporaladverbien (nû - dô) als zeitlich aus dem Erzählvorgang herausge‐ hoben markiert wird. Das Element der Totenklage und mit ihr der Aspekt des verklagens als Überwindung von Trauer, Tod und Vergänglichkeit spielen in *J nur eine randständige Rolle, 391 während insbesondere diese Elemente den Langfassungen der Nibelungenklage ihren spezifischen Charakter verleihen. Die zahlreichen Totenklagen auf die gefallenen Helden entwerfen ein Spannungsfeld von »Vergangenheit und Aktualität, Vergänglichkeit und Dauer«, 392 innerhalb dessen Phänomene ungleichzeitiger Temporalitäten beobachtbar werden. To‐ tenklagen repräsentieren Rituale, »denen grundsätzlich eine heterochrone Dimension eignet«. 393 Eine vergangene menschliche Existenz wird »mit der Gegenwart der klagenden Figur« verknüpft; 394 das Transzendieren der Endlichkeit durch ihre Überführung in die kollektive memoria markiert eine in die Zukunft gerichtete Erinnerungsarbeit, die in jeder Aktualisierung aufs Neue wirksam wird. 395 Im performativen Vollzug mittels der direkten Rede werden wechselnde Temporalitäten zwischen Vergangenheit und Dauer reflektiert. Intendiert sind »Präsenzeffekt[e]«, 396 die die »Erfahrung von Unentrinnbarkeit und Irreversibilität des Todes« übersteigen. 397 Die Totenklage zielt »mit ihrer Bekundung einer Abwesenheit zugleich mit ihrer ganzen Intensität auf Vergegenwärtigung« 398 und bildet damit eine Figur der narrativen Synchronisierung unterschiedlicher Zeitsemantiken. Indem die Klage Abwesenheit konstatiert, ist sie Sprachform der Differenz - und in diesem Modus zugleich Medium der Vergegenwärtigung. Diese narrativ modellierte Zeitlichkeitsstruktur wird in *J bezeichnenderweise nur in Bezug auf die Figur Kriemhild beibehalten. Während alle übrigen Totenklagen systematisch gestrichen sind, bieten, wie oben bereits erwähnt, einzig die Klagemonologe Dietrichs und Etzels Momente gesteigerter Präsenzerfahrung. Im Zentrum von Dietrichs Rede steht dabei die Reziprozität des durch Kriemhilds triuwe grundierten, tendentiell auf künftige Taten des Vasallen gerichteten Dienst-Verhältnisses (hier noch einmal die einschlägige Textstelle): „[…] du hâst mir vil selten versaget, des ich dich bat. nû ist ez komen an die stat, daz ich ez, vrouwe, dienen sol. 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 169 <?page no="170"?> 399 Hasebrink, Überlegungen zur Ästhetik der Klage (2007), S.-106. 400 Siehe oben, Kap.-2.2.2. 401 Emmelius, Zeit der Klage (2011), S.-221. 402 Vgl. besonders Etzels Klage: „wie hân ich arm man verlorn / beidiu mîn kint und mîn wîp! / […] / wie bin ich müedinc gegeben / alsus in grôze riuwe? / […] wie kund ich immer verklagen / die guoten wîgande, / die ich von mangem lande / zuo mîner hôchzît gewan? / dar zuo alle mîne man, / der ich iu niht kann bescheiden, / der kristen und der heiden, / von den mîn êre hôhe steic? “ (*J V.-258-287). 403 Kiening, Reflexion - Narration (1991), S.-226. 404 Siehe dazu Kap.-2.2.4. dâ mit ist mir selten wol, swaz ich nâch dînem tôde tuo.“ (*J V.-224-229) Die präsentische Formulierung: nû ist ez komen an die stat, / dâz ich ez, vrouwe, dienen sol (*J V.-226f.; ›Nun ist die Gelegenheit gekommen, Herrin, dass ich dies durch Dienst vergelten soll/ werde‹), verweist auf die Notwendigkeit einer sich aus vergangenen Ereignissen legitimierenden Handlung in der Gegenwart bzw. deren Fortdauer bis in die Zukunft hinein (dienen sol). Verstärkt wird der Eindruck »imaginativer Präsenz« 399 der Abwesenden durch die Anredeform vrouwe, die das gegenwärtige Gespräch mit dem Gegenüber fingiert. Dietrichs Klage fokussiert eine Zukunft, in der sich die aus der Vergangenheit erwachsende (Dienst-)Verpflichtung als nicht mehr realisierbar erweist (daz ich dich dîner triuwe / niht sol lân engelten, *J V. 222f.). Indem daraus überzeitlich gültige Konsequenzen für die Figur des Klagenden abgeleitet werden (dâ mit ist mir selten wol, / swaz ich nâch dînem tode tuo, *J V. 228f.), erscheint die Geltung der erzählten Verlusterfahrung in den Aktionsradius des Überlebenden Dietrich hinein verlängert. Die Verengung der Perspektive auf Kriemhild, eine auch Etzels Klage bestimmende Figur (*J V. 256-287), 400 verschafft ihr »gerade dadurch Anwesenheit, Dauer und Geltung«, 401 zumal der Hunnenkönig im Sinne einer vermeintlich optionalen Handlungsalternative eine als möglich gedachte Vergangenheit mit dem tatsächlichen Geschehen konfrontiert: het ich sô staete triuwe an ir vil reinem lîp erkant, ich het mit ir alliu lant gerûmt, ê ich si het verlorn. (*J V.-268-271) Dietrichs und Etzels Klagen vereinen in ihrer temporalen Struktur retrospektive, gegen‐ wartsbezogene wie prospektive Aspekte. Durch ihre selbstreflexiven Bezüge rückt zudem die Situation des Klagenden jeweils in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selbst in den Vordergrund. Das heterochrone Modell der Totenklage wird damit zum Reflexi‐ onsraum der eigenen Position, in dem sich das zeitliche Nacheinander der vergangenen wie gegenwärtigen Handlung durch rhetorische Fragen und affizierende Ausrufe in einem Synchronisierungsprozess ineinander schichtet. 402 Die damit evozierte »Univozität des Schmerzes« 403 gilt gleichwohl ausschließlich Kriemhild und blendet die ›epische‹ Zeit des heroischen Kampfes durch die Streichung aller weiteren Klagereden nahezu vollständig aus. 404 So wird die Erfahrung von Heterochronie, deren Unüberwindbarkeit 170 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="171"?> 405 Vgl. Küsters, Klagefiguren (1991), bes. S.-31-33. 406 Vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), S.-353-378. 407 Siehe oben, Kap.-2.1.1. 408 Zu ›Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit‹ vgl. Weitbrecht / Bihrer / Felber (Hg.), Die Zeit der letzten Dinge (2020). 409 Zum Erzähltempo in historischer Perspektive zusammenfassend Reichlin, Zeit - Mittelalter (2019), S. 186f. - Zum Zusammenhang von rhetorischer brevitas und narrativer velocitas vgl. Kallen‐ dorf / Gondos (Übers.), Art. ›Brevitas‹ (1994), bes. Sp. 55. Am Beispiel des Liet von Troye exemplarisch Kap. 2.1.2. die Langfassungen vor allem an der Figur des Hunnenkönigs exemplifizieren, überführt in ein anders akzentuiertes Narrativ: Die Funktion der Klage als Mittel der Konfrontation unterschiedlicher Temporalitäten tritt zurück hinter ihre ›politische‹ Instrumentalisierung, die soziale Relationen symbolisiert und von daher folgerichtig nur Kriemhild und ihrem Sohn als engster familia des Königs vorbehalten bleibt. 405 [W]az sol man mê da von sagen? (*J V. 313). Der Kürze-Topos signalisiert den Wendepunkt vom Reflexionsmodus der beiden Totenklagen zum von nun an stärker am narrativen Progress orientierten Erzählen. 406 Der Vorgang der abbreviatio der Klage-Handlung zeitigt gleichwohl Repetitionsphänomene. Die in wenigen Versen erfolgende Verdichtung der Aufräumarbeiten präsentiert den Begräbnisvorgang zunächst als abgeschlossen: si wurden beserkt und begraben an den selben stunden, die geste und die kunden, die dâ gelegen wâren tôt. (*J V.-314-317) Beinahe bruchlos schließt sich an diese in *J eigens hinzugefügte Stelle 407 allerdings die detailliertere Darstellung der Begräbniszeremonie zu Ehren Kriemhilds, Ortliebs und Bloedelins (*J V. 347-370), aber auch der Burgunden und weiterer Krieger an (*J V. 371-413). Die narrative Wiederholung, die den Prozess des Klagens in der Handlungsfolge aufgehen lässt, zeigt, dass die Kurzfassung offenbar nicht so sehr daran arbeitet, kollektiv erlittenes Leid mittels einer temporalen Synchronisierung in die erlebte Gegenwart hereinzuholen. Sie dokumentiert demgegenüber ein Interesse an den herrschenden sozialen Hierarchien (Stichwort: Königsfamilie), die die Deutungsordnung bestimmen, sowie am stofflichen Substrat der ›Zeit‹ nach dem Untergang. 408 Im Rahmen der Rückkehrhandlung lässt sich nämlich eine zeitlich straff organisierte Handlungsfolge beobachten: Von der Auswahl des Boten Swämmel (*J V. 415-428), der zu überbringenden Botschaft Etzels und Dietrichs (*J V. 432-487), bis zur Ankunft in Bechelaren (*J V. 493), wobei die Ereignisse während der Reise ausgelassen sind (*B V. 2709-2807). Generell werden in *J keine Wege erzählt. Die Zeit zwischen den einzelnen Stationen erscheint insofern merklich gerafft, unterstrichen durch pointierte Kürzebzw. Abbruchsformeln, die das Moment narrativer velocitas im Sinne einer erhöhten Erzählge‐ schwindigkeit exponieren: 409 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 171 <?page no="172"?> 410 Köbele, Ironische Heterochronien (2018), S.-432. 411 Vgl. die Perspektive Bischof Pilgrims: man muoz die varn lâzen, / die uns tegelîch der tôt nimt, / wande im anders niht enzimt, / wan scheiden liep mit sêre. (*B V.-3444-3447). 412 Lienert, Intertextualität in der Heldendichtung (1998), S.-294. 413 Zum Zusammenhang der Entstehung von Kurzfassungen und der spätmittelalterlichen Reimchronistik und deren gemeinsamer Überlieferung vgl. Schnell, Prosaauflösung (1984), bes. S. 228-231. Die Frage nach den Transpositionen höfischer Epen ins chronikalische Paradigma ist diskutiert in Kap.-3.1.2.3. 414 Kropik, Reflexionen des Geschichtlichen (2008), S.-144. Die rede lâzen wir nû sîn. dô die boten über Rîn hin ze Worms wâren komen, dô wart ir vaste war genomen. (*J V.-583-586) Die in *J erzählte Handlung ist im Grunde auf drei (quantitativ unterschiedlich gewichtete) Episoden zentriert. Alles außerhalb der ›neuen‹, d. h. die Nibelungenhandlung prozessierenden Ereignisse in Etzelburg, Bechelaren und Worms existiert nur jenseits des erzählten Zeithori‐ zonts. Dass sogar Bischof Pilgrim - von seiner Rolle als Beglaubigungsinstanz am Ende des Textes abgesehen (*J V.-917-944) - aus der Dichtung getilgt ist, lässt sich im Sinne eines Zu‐ rückdrängens der christlichen Transzendenzlogik verstehen, die das »Diskontinuierliche des Todes« 410 in das zeitenthobene Weiterleben der Seele überführt. 411 Die in *J weitgehenden Kür‐ zungen sowohl expressiver Klagen als auch der diskursiven wie dialogischen Verhandlung von Trauer und Tod, ebenso der in den Langfassungen zum Teil ausführlichen Rekapitulationen des vergangenen Geschehens (darunter z. B. Swämmels Bericht vor Brünhild), die ein »nachtrag‐ hafte[s] Erzählen« repräsentieren, 412 leisten eine Transformation der auf Affizierungseffekte abzielenden temporalen Dynamik des Prätextes. Die Kurzfassung *J inszeniert sich nicht als performativer ›Sprechakt‹ des Klagens, der Präsenzeffekte und Geltungsbedingungen des Vergangenen permanent aushandelt. Stattdessen dominiert eine sachliche Perspektive eines ›Erzählens vom Ende‹, deren über weite Strecken zu beobachtender Berichtcharakter vom chronikalischen Erzählgestus beeinflusst zu sein scheint. 413 Und dies umso mehr, als die *J-Klage »die für eine an den res gesta[e] orientierte Geschichtsschreibung eigentlich uninteressante Reaktion der Überlebenden«, 414 die in den Langfassungen im Mittelpunkt der Dichtung steht, radikal zurücknimmt. Die Rückwärtsbewegung im Raum entspricht dabei einer konsequenten Vorwärtsbewegung in der Zeit, die mit der abbreviatio von Dietrichs und Hildebrands Aufbruch ihr Ziel erreicht (vgl. *B V.-4100-4183): dô enwolte der Bernaere dâ niht langer bestân, er und Hildebrant, sîn man. zehant er urloup dô nam. den helden dô niht anders zam, niwan weinen und klagen. daz mac man lîhte gesagen. (*J V.-886-892) 172 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="173"?> 415 Belege bei Lienert, Intertextualität in der Heldendichtung (1998), S. 285-289. Dazu auch Bumke, Die vier Fassungen (1996), bes. S. 560f. - Nach Wachinger (Die Klage und das Nibelungenlied [1981], S. 269), beweisen »[d]ie zahllosen wörtlichen Anklänge an das Lied […] eine genaue Kenntnis bestimmter Stellen des Liedes«. 416 Vgl. etwa die unterschiedlichen Perspektiven beim ›Wiedererzählen‹ der Kampfhandlungen einmal durch den Erzähler (*B V. 317-518), einmal durch Swämmel (*B V. 3778-3947), aber auch die Kommentare Dietrichs oder Hildebrands bei der Auffindung der Amelungen, die im Lied nur angedeutete Hintergründe nachtragen (v. a. *B V.-1453-1750). 417 Zum »mehrfach wiederholte[n] Motiv von der Nutzlosigkeit durch frühere Heldentaten erworbenen Kampfesruhms« Lienert, Der Körper des Kriegers (2001), S. 138. Zusammenfassend auch Philipowski, Wider die Bewältigungsthese (2019), S.-113-145. 418 Lienert, Der Körper des Kriegers (2001), S.-142. 419 Lienert, Der Körper des Kriegers (2001), S.-140. 420 Ebd. 421 Am Beispiel der Dietrich-Figur Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S. 310-334, bes. S. 330. 422 Exemplarisch Althoff, Spielregeln der Politik (1997); Althoff, Wolfram von Eschenbach (2000), S.-102-120. Einzig Etzels perpetuiertes Klagen löst sich im ›Zeitlosen‹ auf, wird aber als solches vom eigentlichen Geschehen distanziert: wie er ez sit bedâhte des kann ich iu niht gesagen, wan daz er leit muoste tragen. (*J V.-914-916). 2.2.4 Reduktion der Referenzhorizonte Die Nibelungenklage bietet zwar nicht in formaler, aber inhaltlicher und stoffgeschichtlicher Hinsicht einen engen Anschluss an das ihr überlieferungshistorisch eng verbundene stro‐ phische Epos: durch dezidierte sprachliche Rekurrenzen, die eine schriftlich fixierte Version des Nibelungenliedes als Bezugsgröße voraussetzen, 415 durch das Auserzählen bestimmter Details, die handlungslogische Aspekte des vergangenen Geschehens vertiefen und in die teils umfangreichen Rekapitulationen inseriert sind, die heldenepische Modelle aufrufen. 416 Insbesondere im Kontext der Totenklagen werden mit der Nennung nibelungischer Helden sowie deren exzeptioneller Qualitäten heroische Elemente des Erzählens aktuell gehalten, auch wenn sich im ›endlichen‹ Totengedächtnis eine Distanzierung vom ›unendlichen‹ Heldenpreis vollzieht. 417 Mit den damit zur Schau gestellten »Aporien von Heroik« 418 positioniert sich die Klage jenseits der »heroischen Welt«, 419 die sie zugleich präsent hält. Die ›Klage‹ erzählt den Anfang von Heldenepik und zugleich das Ende der Heldenwelt. Das hat seine Logik: wenn die Heldenzeit zu Ende ist, ist sie literaturfähig. 420 Sie entwirft ›Spielregeln für das Weiterleben‹, 421 die sich an der zeitgenössischen politischen und rechtlichen Praxis orientieren. 422 Damit eignet ihr eine Perspektive auf das Erzählte, die Christoph Petersen am Beispiel des althochdeutschen Hildebrandsliedes jüngst als eine ›postheroische‹ beschrieben hat: [W]eil Erzählen stets in einem zeitlichen ›Nachher‹ gegenüber dem Erzählten angesiedelt ist […], lässt sich die Perspektive ›von außen‹, die im Hildebrandslied beschreibbar ist, auch als Perspektive 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 173 <?page no="174"?> 423 Petersen, Postheroische Perspektiven (2020), S. 440. - Zur Abkehr der Klage von der Heldendichtung in einem ›post-heroischen‹ Modell vgl. Philipowski, Wider die Bewältigungsthese (2019), bes. S. 143 u. 145. - Dass die Klage »massiv gegen den heroischen Faszinationskern« arbeite, argumentiert Kragl, Die Unerträglichkeit der Heldendichtung (2019), S.-76. 424 Bsp. dem getriuwen tuot untriuwe wê (*B V. 570) nach Prv 29,27: abominantur iusti virum impium et abominantur impii eos, qui in recta sunt via (›Die Gerechten verabscheuen den gottlosen Menschen und die Gottlosen verwünschen diejenigen, die auf dem rechten Weg sind.‹). Vgl. Voorwinden, Nibelungenklage und Nibelungenlied (1981), S.-276-287. 425 Zum klerikalen Entstehungsumfeld der Klage vgl. Knapp, Tragoedia und Planctus (1987), S. 152-170. 426 Siehe oben, Kap.-2.2.1 u. Kap.-2.2.3. 427 Diese Neuorientierung der Kurzfassung könnte zugleich die These plausibilisieren, dass die Kop‐ pelung der Klage-Fassungen *B und *C an das Nibelungenlied in der Überlieferung nicht schon entstehungsbedingt ist, sondern sekundären Charakter hat. Vgl. zu diesem Ansatz schon Cursch‐ mann (Nibelungenlied und Nibelungenklage [1979], S. 85-119), der eine voneinander unabhängige Konzeption beider Werke annimmt im Sinne von zwei unterschiedlichen »literarisch-ästhetischen Antworten auf ein und dieselbe Situation« (ebd., S. 86). - Die Klage als »Parallelaktion« zum Epos beschreibt Mertens, Konstruktion und Dekonstruktion (1996), S.-367. 428 Vgl. J.-D. Müller, Memoriales Erzählen (2015), S. 255-280; Lienert, Intertextualität in der Helden‐ dichtung (1998), bes. S. 287f.; Böhm, Worüber klagt die Nibelungenklage? (1998), S. 201-242. Zur kulturellen Dimension der memoria exemplarisch Oexle, Memoria in der Gesellschaft (1999), S. 297- 323. begreifen, die aus einer ›Nachwelt‹ auf die erzählte Heroik gerichtet ist, als eine stricto sensu ›postheroische‹ Perspektive. 423 Zugleich ermöglichen die produktive Instrumentierung des Planctus-Modells mit der spe‐ zifisch rituellen Codierung der Klagen sowie die Reflexe von Bibelworten 424 den Anschluss an gelehrt-lateinische Traditionen. 425 Mit der konzeptuellen Kürzung des Ausgangstextes in *J geht ein merklicher Abbau unterschiedlicher Bezugsebenen einher, der sich vor allem in der Reduktion stoff- und wissenshistorischer sowie systemstruktureller Referenzen konkretisiert. Dass die Bezugnahmen der Klage auf das Nibelungenlied, die vorzugsweise mit den Rekapitulationen der Untergangshandlung und der für sie ursächlichen Figurenkonstella‐ tionen realisiert sind, in der Kurzfassung kaum mehr eine tragende Rolle spielen, wurde bereits erläutert. 426 Außer dem knappen, auf Kriemhild als Exponentin fragloser triuwe zugeschnittenen Abriss ihrer Situation und Beweggründe (*J V. 1-202), Brünhilds Selbst‐ anklage, in welcher sie den Königinnenstreit als initiale causa für den kollektiven Untergang benennt (*J 788-796), sowie Rumolds Stellungnahme (*J V. 838-863) sind sämtliche andere Referenzen auf das epische Geschehen um die Nibelungen konsequent getilgt. Zwar mag das Vermeiden von inhaltlicher Redundanz im Rahmen der Überlieferungssymbiose möglicherweise eine Rolle gespielt haben in dem Sinne, dass die Kürzungen in *J auf eine engere Koppelung des Erzählten an das I-Lied reagieren, demgemäß das verfügbare literarische Wissen als bekannt voraussetzt werden kann. 427 Jedoch dürfte dieser Aspekt wohl kaum den entscheidenden Faktor darstellen. Deutlich wird dies an der spezifischen Funktionalisierung der Referenzen in den Langfassungen, die auf ein heroisch grundiertes Memorialhandeln im Medium der Klage abzielen. 428 Indem die zahlreichen Totenklagen, aber auch die in den Langfassungen befindlichen Rekapitulationen der Kampfestaten die 174 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="175"?> 429 Zum Konzept heroischer Exorbitanz grundsätzlich von See, Held und Kollektiv (1993), S. 1-35; weiter präzisiert in von See, Die Exorbitanz des Helden (2003), S.-153-164. 430 J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-60. 431 Zur Problematisierung heroischen Heldentums in der Klage vgl. Philipowski, Wider die Bewälti‐ gungsthese (2019), S.-120. 432 J.-D. Müller, Die Klage (2003), S. 180. - Zur Frage nach der Objektivierbarkeit historiographischer Konzepte vgl. am Beispiel der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert White, Metahistory ( 2 2015). 433 Vgl. Iu ist nach sage wol bekant (*C V. 29); als uns ist gesaget sît (*C V. 66); Diu rede ist genuog wizzenlîch (*B V. 47); Nû ist iu wol geseit (*B V. 71); Iu ist daz dicke wol gesagt (*B V. 159); als man uns hât gesaget sider (*C V.-349); Man sagt, als ich hân vernomen (*B V. 393) et passim. - Zur Interferenz von Oralität und Schriftkultur in der Nibelungen-Überlieferung einschlägig Schulze, Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2007), S.-1-18. 434 klagte man tûsent jâre lanc, / sô müese mans doch vergezzen (*B V. 1778f.). Zur Relativierung des »Zusammenhang[s] von Tod, Klage und Ehre« durch »Signale[ ] der Desillusionierung« in den Langfassungen der Nibelungenklage vgl. Lienert, Der Körper des Kriegers (2001), S.-136f. 435 Siehe Kap.-2.2.2. 436 Zur Bestätigung alternativer ›Handlungsregeln‹ am Beispiel Dietrichs von Bern in der Nibelungen‐ klage vgl. Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S.-310-334. 437 Petersen, Postheroische Perspektiven (2020), S.-441. 438 Ausschließlich vom heroischen Deutungsrahmen her argumentiert Philipowski, Wider die Bewälti‐ gungsthese (2019), bes. S.-117 u. 132 Exorbitanz burgundischer und anderer Heroen über ihren Tod hinaus perpetuieren, 429 entsteht ein »Erinnerungsraum«, 430 in dem heldenepische Exzeptionalität zwar durchaus problematisierend diskutiert werden kann, 431 aber gerade deswegen weiterlebt, weil ihr die Überführung in ›höfische Realität‹ den Status historischer ›Objektivierbarkeit‹ sichert. Die Klage »garantierte, dass das Monströse anschließbar an ›normale‹ Lebensordnungen blieb.« 432 Mit dem Wegfall sowohl des ›Katalogs‹ der Gefallenen als auch der übrigen Referenzen auf die Nibelungen-Handlung geht in *J eine Umbesetzung der entsprechenden Funkti‐ onsaspekte einher. Gattungsbezüge auf die Heldenepik, die sich nicht zuletzt in der wiederholten Nennung der Namen und ihrer ›Geschichten‹ sowie in den Hinweisen auf eine mündliche Tradierung des Stoffes manifestieren, 433 werden reduziert. Die Kurzfassung dokumentiert eine Abkehr vom heroischen Habitus der nibelungischen Welt, indem nicht ein einziger Krieger individuell herausgehoben ist. Vielmehr verschwinden die Heroen in der namenlosen Masse derjenigen, deren Bestattung der Erzähler in *J summarisch berichtet (s. oben; *J V. 313-317). Damit ist die Identität von verklagen und vergezzen der Toten, die schon in *B desillusionierende Signale andeuten, 434 in der Kurzfassung selbst im Akt des Weitererzählens in Szene gesetzt. Kollektive memoria wird verweigert, Kriemhild allein gilt die Klage des Textes. 435 Damit offeriert *J einen Referenzrahmen, der die symbolische Darstellung der Prinzipien und Geltungsansprüche einer institutionellen Ordnung in nuce exemplifiziert. An die Stelle heldenepischer Handlungsmodelle tritt ein feudal organisiertes Herrschaftssystem, das die zeitgenössisch geltenden ›postheroischen‹ Regeln im Kontrast mit den überkommenen archaischen Mustern priorisiert und bestä‐ tigt. 436 Insofern dokumentiert die Nibelungenklage *J die sinnstiftende Funktionalisierung der »Perspektive einer ›Nachwelt‹ auf erzählte Heroik« 437 und keineswegs das Fehlen alternativer Deutungskonzepte. 438 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 175 <?page no="176"?> 439 Lienert, Dietrich contra Nibelungen (2009), S.-29. 440 Zur »zyklischen Struktur« der Klage gegenüber der »linearen Katastrophenstruktur des Nibelun‐ genliedes« (mit weiterführender Literatur) Lienert, Dietrich contra Nibelungen (2009), S. 43. Zur historischen Dietrichepik einschlägig Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik (1978). 441 Lienert, Dietrich contra Nibelungen (2009), S.-39. 442 Zur ›Kritik an Dietrich von Bern in der historischen Dietrichepik‹ Gottzmann, Heldendichtung (1987), S.-109-136. 443 Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S.-329. 444 Basierend auf den Faktoren triuwe und Deeskalation sowie dem Bestreben nach rechtlicher Einigung (ergetzen): »Mit Hilfe der Dietrichfigur werden Spielregeln für ein Überleben entwickelt, die nur deshalb nicht funktionieren, weil Dietrich in der nibelungischen Welt keine Mitspieler findet, die sich dauerhaft an seine Regeln halten.« Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S.-312. 445 Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S.-329. 446 Ebd. 447 Zur Klage als einziger Dichtrich-Dichtung des Mittelalters, in der die Rückkehr des Helden zumindest prospektiv eröffnet wird, vgl. Lienert, Die Nibelungenklage als Dietrichdichtung (2019), S.-93-112. 448 Zu Dietrichs Totenklage um Kriemhild siehe Kap.-2.2.2. Neben den »Responsionen« 439 auf das Nibelungenlied wird eine weitere stoffgeschicht‐ liche Komponente in der Klage forciert. Es ist der Sagenkreis um Dietrich von Bern, mit dessen Heimkehr die zyklische Struktur des Sagenkomplexes (zwischen Dietrichs glücklosen Siegen, wiederholtem Exil und Rückeroberungsversuchen) geschlossen wird. 440 Die Langfassungen der Klage arbeiten bekanntermaßen daran, das »Signum der Vergeb‐ lichkeit«, 441 das Dietrichs Aktionen im Nibelungenlied sowie teilweise in der historischen Dietrichepik anhaftet, zugunsten positiv auf das Weiterleben und die Bewältigung von Trauer und Tod gerichteter Handlungsmaximen zu transformieren. 442 Als einzige wirklich ›aktive‹ Figur unter den Überlebenden am Hunnenhof ist es Dietrich, der die ›Aufräum‐ arbeiten‹ initiiert und beaufsichtigt (*B V. 759-763; 11631-1635), Anweisungen gibt (*B V. 1512f.; 1583; 1708 f.), Mahnungen ausspricht (*B V. 1041-1064), Botschaften an die Hinterbliebenen übermittelt (*B V. 2661-2703) und so zum »entscheidende[n] Handlungs‐ träger« 443 avanciert. Obwohl auch er durch den mit Ausnahme Hildebrands vollständigen Verlust seiner Gefolgsleute vor dem Nichts steht, geben seine schon im Nibelungenlied entwickelten »Spielregeln für das Überleben« 444 die Richtung vor, nach der »das literarische Geschehen in der Klage konstruiert wird«. 445 Indem die Klage programmatisch die eigent‐ liche Handlung mit Dietrichs, seiner Verlobten Herrat und Hildebrands Aufbruch enden lässt (*B V. 4100-4182; 4207-4294), kommt der Dichtung der Status einer »konsequenten Weiterführung« 446 des stoffgeschichtlichen Kontinuums zu, die eine positive Perspektive auf künftige Ereignisse impliziert. 447 In der Kurzfassung *J ist diese tragende Rolle Dietrichs von Bern hingegen kaum noch zu erkennen. Bei seinem ersten Auftreten ist er als Klagender um Kriemhild gezeichnet (dô kom der herre Dietrîch / mit einem muote klägelîch / dâ er Kriemhilden vant, *J V. 203- 205). 448 Zwar lässt er die Königin von den Umstehenden aufbahren (*J V.-230-232), das tut freilich auch Etzel mit Ortlieb und Bloedelin (*J V.-310f.), sodass keine Favorisierung eines Aktanten für den Fortgang der Handlung stattfindet. Dietrich als aktive Figur tritt zurück hinter eine kollektiv verantwortete Ereignisfolge, die in der unpersönlich gehaltenen Zusammenfassung der Klage- und Bestattungsarbeiten (*B V. 883-2278) pointiert Ausdruck findet: 176 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="177"?> 449 Insofern kann Lienerts (Die Nibelungenklage als Dietrichdichtung [2019]) Feststellung nur unter einer spezifischen ›Dietrich-zentrierten‹ Perspektive eine gewisse Geltung beanspruchen, nicht aber in textglobaler Hinsicht: »Aber selbst in *J hängen die Bewältigung der Katastrophe an Dietrichs Initiative, die Umdeutung des Geschehens und die Aufwertung Kriemhilds an Dietrichs Votum.« (Ebd., S.-95). 450 Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S.-329. si wurden beserkt und begraben an den selben stunden, die geste und die kunden, die dâ gelegen wâren tôt. der künec het jâmer und nôt. Alsô het ouch her Dietrîch umb sine recken lobelîch. (*J V.-314-320) Auch in der folgenden Passage, die von der Bestattung Kriemhilds und ausgewählter Fürsten (darunter: die burgundischen Könige, Hagen, Volker, Dankwart) sowie von der Massenbeisetzung der namenlos bleibenden Menge an Gefallenen erzählt (*J V. 347-414), sind individuelle Verantwortlichkeiten für den Ablauf der Riten weitgehend reduziert: Dô was bereitet ein sarc […] / dâ man si în legen solde (*J V.-359-361); alsus bestatte man ir lîp (*J V.-368); die künege wurden werde / bestat in mangem sarke (*J V.-374f.); man îlte si alle bringen […] / zer langen bettereste (*J V.-390-392). Einzig der Hinweis darauf, dass Dietrich und Hildebrand für die adäquate Beisetzung von Gunther, Gernot und Giselher sorgen (*J V. 340f.) und es gar Dietrichs Umsicht zu verdanken sei, die burgundischen Könige überhaupt von den anderen gesondert zu haben (*J V. 342- 346), bleibt gewissermaßen als Relikt eines anders akzentuierten Narrativs erhalten, kommt aber angesichts der umfangreichen Kürzungen gerade von Dietrichs Aktionsradius kaum noch zur Geltung. 449 Verstärkt ist die Abkehr von einer »Dietrich-Handlung« 450 in *J auch dadurch, dass der Akzent auf Hildebrand liegt als demjenigen, der im Anschluss an die knapp referierten Bestattungsarbeiten (s. oben) die Aussendung eines Boten an die Hinterbliebenen einfordert: Dô sprach meister Hildebrant: „Wer sol in Burgunde lant dirre maere bote wesen, sît ir niemen ist genesen, der ritter noch der knehte? der künec sol von rehte sîn selbes boten über Rîn senden“. „daz sî Swämmelîn“, sprach der künec al zehant, 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 177 <?page no="178"?> 451 Siehe oben, Kap.-2.2.3. 452 Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S.-330. 453 Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S.-332. 454 »Die ›Klage‹ beschreibt mittels ihrer Buchfiktion die Genese und die Funktionsweise von schriftli‐ cher Geschichtsüberlieferung, so wie das ›Lied‹ mittels seiner Inszenierung als Sage die Genese und die Funktionsweise mündlicher Geschichtsüberlieferung beschreibt.« Kropik, Reflexionen des Geschichtlichen (2008), S.-167. 455 Der heuristische Terminus ›postheroisch‹ fungiert in diesem Sinne als Distanzmarker »zwischen den erzählten Welten und den Rezipientenwelten der Heldenepik«. Petersen, Postheroische Perspektiven (2020), S. 441. - Eine Anthropologie der Heldenepik rekonstruiert J.-D. Müller, Spielregeln für den Untergang (1998). 456 Zum Aspekt der Systemreferenz (mit Angabe weiterführender Literatur) vgl. Kerth, Gattungsinter‐ ferenzen (2008). 457 Siehe Kap.-2.2.2 zum ›Modus der Klage‹. „dem sint die wege wol bekannt.“ (*J V.-415-425) Dietrich reiht sich nurmehr mit seiner Nachricht an Gotelind und Dietlind hinter Etzels Botschaft ein (*J V. 469-487). Und auch der auf Swämmels Rückkehr aus Worms folgende stark geraffte Auszug aus Etzelburg (*B V. 4100-4183 / *J V. 886-892) 451 deutet keine »positiv besetzte Zukunft« 452 an, sondern steht unter dem Signum der Trauer: den helden dô niht anders zam, / niwan weinen und klagen (*J V. 890f.). Dietrichs aus dem Nibelun‐ genlied vertraute ›Regeln‹ als »bestimmende[s] Normensystem« 453 für das Überleben der Katastrophe und das Weiterleben nach ihr haben, wie die systematische Kürzung der entsprechenden Passagen dokumentiert, offenbar nicht im Interesse der historischen Anschlusskommunikation in *J gestanden. Zumal der Zwischenhalt in Bechalaren, wo Dietrich Rüdigers Tochter Dietlind einen Mann verspricht und damit die Hoffnung auf dynastische Kontinuität restituiert (*B V.-4207-4294), ersatzlos fehlt. Diese Tendenz des Umgangs mit dem Referenzhorizont der Dietrich-Sage korreliert mit den Befunden zu den Bezügen auf das Nibelungenlied. Die allenfalls auf grobe Kon‐ turen sich beschränkenden Verweise auf heldenepisches Erzählen deuten eine alternative Haltung zur heroischen Tradition an, die einem dezidiert anderen literarischen Prinzip verpflichtet scheint. So lässt sich die narrative Struktur in *J nicht mehr als zyklischer ›Abschluss‹ der Dietrich-Handlung verstehen, dessen aktive Rolle als zentrale Figur im Rahmen der Aufräumarbeiten nivelliert ist. Sie reflektiert weniger sagengeschichtliche Konstanten, 454 als dass sie einen tatsächlich und nicht nur formal durchgeführten Neuansatz bietet, der jenseits der heroischen Erzähltradition neue Wege einschlägt und in der quantitativen Schwerpunktsetzung auf das dynastisch ausgerichtete Handeln im Wormser Herrschaftsverband (*J V. 583-881) das ›postheroische‹ Gegenmodell zu einer spezifisch heldenepischen Anthropologie fokussiert. 455 Diese neue Ausrichtung der *J-Klage spiegelt sich im Abbau systemstruktureller Refe‐ renzen, die gattungsspezifische ›Bauformen‹ und damit Fragen nach literarischer Typen‐ bildung betreffen. 456 Die Abkehr von der Planctus-Tradition, wie sie in der Streichung beinahe sämtlicher Klage-Passagen zum Ausdruck kommt, 457 bedingt eine grundsätzlich modifizierte Struktur des Textes, die nicht nur auf spezifische Komponenten (z. B. dialo‐ gische bzw. gestische Rituale) der Klage verzichtet, sondern auch auf im engeren Sinne 178 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="179"?> 458 Am Beispiel der antiken Literatur vgl. Reitz / Finkmann (Hg.), Structures of Epic Poetry (2019). 459 Kerth, Gattungsinterferenzen (2008), S. 70. Zu rhetorischen und narrativen Schemata heldenepischen Erzählens vgl. ebd., S.-62-84. 460 Vgl. Knapp, Tragoedia und Planctus (1987), S.-152-170. 461 Zur ›Kürzung im chronikalischen Paradigma‹ siehe Kap. 3.1.2.3. - Zur Nähe von Klage und historiographischer Tradition Lienert, Intertextualität in der Heldendichtung (1998), bes. S.-289. 462 Mertens, Konstruktion und Dekonstruktion (1996), S. 368. - Die umstrittene Frage nach der Bedeutung der latînischen buochstaben (*B V. 4299 / *J V. 921) zwischen Legitimationstopos und genereller Schriftlichkeitsfiktion diskutiert Schmid, Die Fassung *C (2018), S.-92f. 463 J.-D. Müller, Der Spielmann erzählt (1996), S. 95. - Zur Inszenierung der Klage als Geschichtsdichtung Kropik, Reflexionen des Geschichtlichen (2008), S. 141-147. »Es geht der ›Klage‹ offenbar nicht so sehr darum, den Inhalt des ›Nibelungenliedes‹ in Historiographie zu übersetzen. Ihr Ziel scheint es vielmehr zu sein, in historiographieähnlicher Manier zu beschreiben, wie die Katastrophe beklagt, gedeutet und weitererzählt wird und wie sie schließlich den Weg ins historiographische Buch findet.« (Ebd., S.-144). 464 In umgekehrter Logik für die Langfassungen der Klage Kropik, Reflexionen des Geschichtlichen (2008), S.-144. 465 Zum Verhältnis von heroischer Normüberschreitung und ihrer Begrenzung durch gesellschaftlich akzeptierte Modelle heroischer Idealität vgl. Petersen, Postheroische Perspektiven (2020), S.-438f. 466 Toepfer, Spielregeln für das Überleben (2012), S.-310-334. ›epische‹ Systemreferenzen. 458 Dazu zählen Elemente wie Kataloge (hier: der gefallenen Helden), bekannte Handlungsschauplätze, Ankunfts- und Abschiedsszenen, Wegbeschrei‐ bungen, Botenberichte, durch die sich in den Langfassungen der Klage das Erzählen maßgeblich konstituiert und deren Reduktion der Kurzfassung *J ein distinktes Merkmal gegenüber den konventionalisierten Mustern der »Prägattung Heldenepik« 459 verleiht. Nur der Schlussvers erinnert in *J an das Modell des Planctus - ditze liet heizt diu Klage (*J V. 944) 460 -, während der in *B (und *C) die Klage-Zentriertheit des Textes exponierende Prolog entfällt (*B V. 1-24). Vor dem Hintergrund der neuen Ausrichtung der Kurzfassung wirkt der Schlussvers allerdings merkwürdig dysfunktional. Denn gerade das weitgehende Fehlen der Klagen signalisiert einen alternativen Status des Textes, der sich dem konstitutiven Planctus-Typus entzieht und damit vom literarischen Schemawissen her erwartbare Gattungsstrukturen, wie sie der Schlussvers nahelegt, unterminiert. Die systematische Kürzung legt ein handlungs- und ergebnisorientiertes Erzählmodell offen, das nicht an der Prozessierung heldenepischer Motive und Muster sowie speziell rhetorisch-typologischer Formaspekte (Planctus) interessiert ist. Es verweist in die Sphäre gelehrter Historiographie anstelle der mündlich grundierten, ›heroischen‹ Tradition. 461 Dazu passt, dass der Epilog (*J V. 917-944) mit der Beibehaltung der Verschriftlichungsfik‐ tion die »chronikale[ ] Wahrheit« der Latinität insinuiert. 462 Auch die Transformation der in *B bzw. *C dargestellten narrativen Inszenierung von Geschichtsdichtung gewissermaßen »in statu nascendi« 463 deutet auf ein prononciert chronikalisches Konzept: Die *J-Klage will nicht mehr nur »Geschichtsdichtung d a r s t e l l e n« - sie will »Geschichtsdichtung s e i n«. 464 Das neue ›Erzählen vom Ende‹ fokussiert nicht das verklagen als Überwindung kollektiver Todeserfahrung im rituellen Vollzug des Klagens, sondern die Modalitäten der Überführung heroischer Exorbitanz in ›postheroische‹ kollektive ›Normalität‹ 465 und insofern die Auflösung in genealogische Strukturen. »Spielregeln für das Überleben« 466 bzw. das Weiterleben nach dem Untergang werden damit nicht formuliert, wohl aber 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 179 <?page no="180"?> 467 Vgl. Reuvekamp-Felber, Kollektivtod (2016), S.-75-97. 468 Petersen, Postheroische Perspektiven (2020), S.-441. 469 Mit der Bezeichnung ›I/ J‹ folge ich der seit Bumkes Studie (Die vier Fassungen [1996], bes. S. 172- 177) etablierten Benennung, die innerhalb der Handschrift nach Nibelungenlied- (I) und Klage-Teil ( J) differenziert. Zur Handschrift siehe Schneider, Gotische Schriften (1987), Bd. 1, S. 253f. Zum Gesamtzusammenhang innerhalb der Überlieferung vgl. Klein, Beschreibendes Verzeichnis (2003), S.-213-238. 470 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-175. 471 Ebd. 472 »Angesichts dieser Konstellation schien eine vom ›Lied‹ unabhängige Untersuchung der ›Klage‹-Überlieferung [lange Zeit] nicht erforderlich zu sein.« Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-114. 473 Von einem »Mischkomplex« spricht Heinzle, Die Handschriften (2003), S. 202. Heinzle verwendet nicht die Begriffe ›Fassung‹ oder ›Redaktion‹, sondern ›Formen‹ der Überlieferung. Dazu Phili‐ powski, Rez. Joachim Heinzle (Hg.), Das Nibelungenlied und die Klage (2015), S.-187-190. 474 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S. 7. - Die »Verknüpfung der nôt- und liet-Teile« in den »Misch- und Sonderredaktionen« analysiert Kofler, Zu den Handschriftenverhältnissen Strategien des Umgangs mit dem - angesichts der Omnipräsenz des Todes - alltäglichen Verlust, deren Sinnzentrum in der Demonstration dynastischer Kontinuität als universaler Ordnungsfunktion liegt. 467 An der Kurzfassung der Nibelungenklage lassen sich - das dürfte deutlich geworden sein - in noch stärkerem Maße als in ihren Langversionen symptoma‐ tisch »die Wandlungsprozesse im Verhältnis der Kommunikationsgemeinschaften zu den heldenepischen Stoffen und Texten« studieren. 468 2.2.5 Synergieeffekte der Kürzung. Nibelungenlied und Klage im Überlieferungsverbund (Hs. I/ J) Die wohl um 1300 entstandene Handschrift I/ J (Berlin, Staatsbibliothek, mgf 474) bildet innerhalb der Überlieferung von Nibelungenlied und Klage einen interessanten Sonderfall. 469 Das gilt zum einen für die formale Einrichtung der Texte, die von einer zweispaltigen Beschriftung für das strophische Epos mitten auf der Seite (fol. 57 v ) zu einer dreispaltigen Anlage für den Reimpaartext wechselt und damit »in der ›Nibelungen‹-Überlieferung […] ohne Parallele« 470 ist. Der Schreiber muß bereits, als er die Beschriftung der Seite begann, entschlossen gewesen sein, mit dem Anfang der ›Klage‹ von zweispaltiger zu dreispaltiger Beschriftung überzugehen. Die letzten Strophen des ›Liedes‹ auf dieser Seite sind nämlich deutlich breiter geschrieben als auf den vorangehenden Seiten, so daß die Langverse des ›Liedes‹ nicht, wie vorher, nur bis zur Mitte der Seite reichen, sondern fast zwei Drittel der Breite einnehmen. 471 Das gilt zum anderen und besonders im Hinblick auf die Überlieferungsverhältnisse. Für die lange unhinterfragt gebliebene Annahme, dass sich die Lied- und Klage-Fassungen denselben Handschriftengruppen zuordnen lassen, 472 scheint gerade die Hs. I/ J ein exem‐ plarischer Prüfstein zu sein. Während der in I/ J tradierte Text des Nibelungenliedes zu den Mischredaktionen gehört (hier: Redaktion *I), 473 die Lesarten und Strophenmaterial sowohl nach *B als auch *C bieten und damit eine »zentrale Stellung […] zwischen nôt- und liet-Fassung« einnehmen, 474 repräsentiert der in der Hs. I/ J überlieferte Klage-Text eindeutig 180 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="181"?> (2011), S. 54-66. - Zur Bedeutung der Mischhandschriften und Fragmente des Nibelungenliedes für eine Neubewertung der Überlieferungsverhältnisse vgl. J.-D. Müller, Vulgatfassung? (2016), S. 227-263, sowie jetzt J.-D. Müller, Varianz (2023), S. 234-238. Zur Kontaminationsthese auf der Basis schriftlicher Überlieferung vgl. Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S. 305-334. 475 »Keine Zweifel gibt es darüber, daß die *J-Fassung näher mit *B verwandt ist als mit *C und *D. […] Angesichts der tiefgreifenden Unterschiede zwischen *B und *C im Textbestand und in den Formulierungen ist die Verwandtschaft von *J und *B so eindeutig, daß es keiner Belege bedarf.« Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-292. 476 Die Fassungen seien als »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sekundär verfertigte Schreibtischprodukte« anzusehen. Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S.-317. 477 Neu ediert und beschrieben von Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage. Die Fragmente (2020). 478 Hingegen hatte Bumke (Die vier Fassungen [1996], S. 282) angenommen, dass die Fragmente »nur Teile des ›Liedes‹, nicht der ›Klage‹« überliefern. 479 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 282. - Die übrigen Fragmente (QWYI), die nur Teile des Epos enthalten, bezeugen eine Nähe zum Nibelungenlied-Text in der Hs. I, lassen aber keine Aussagen über eine mögliche Mitüberlieferung der Klage-Kurzfassung zu. Vgl. Heinzle, Die Handschriften (2003), S. 191-212; Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S. 305-334. - Zur überlieferungs‐ historischen Bedeutung der *C-Version des Nibelungenliedes vgl. Heinzle, Mißerfolg oder Vulgata? (2000), S.-207-220, bes. S.-213. 480 Vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-296. Siehe dazu oben, Kap.-2, Anm.-277. 481 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 117. - Kofler ([Hg.], Nibelungenlied und Klage [2011], S. 22) setzt für die Entstehung der I-Redaktion »die Hs. W aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts« als terminus ante quem an. - Zu Kompilationen unterschiedlicher Fassungen als Normalfall mittel‐ hochdeutscher Epenüberlieferung vgl. Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S.-331. 482 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-22. 483 Zur Annahme einer auf Anschlussfähigkeit von I-Lied und J-Klage hin erfolgten Konzeption vgl. Hammer, Das Unfassbare in Worte fassen (2019), S.-23f. 484 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-22. die *B-Fassung. 475 Der Befund einer distinkten Fassungenzugehörigkeit deutet darauf hin, dass *I-Lied und *J-Klage keine ursprünglich ›integrale‹ Textgemeinschaft gebildet haben dürften, sondern möglicherweise erst in einer sekundären Symbiose aus unterschiedlichen Vorlagen zusammengestellt worden sind. 476 Zur Redaktion I von Lied und Klage zählen ferner einige Fragmente (K, Q, W, Y, l), 477 von denen jedoch nur K (Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. fol. 587) Teile der Klage-Kurzfassung überliefert (V. 609-920) und damit neben J ein weiteres Zeugnis für die Fassung *J repräsentiert. 478 Die ebenfalls zur *J-Fassung zäh‐ lende Handschrift h besitzt als direkte Abschrift von J »keinen selbständigen textkritischen Wert«. 479 Folgt man der Annahme Joachim Bumkes, nach der die Entstehung der *J-Klage in der direkten Umgebung der *B-Klage zu verorten sei, 480 würde sich die Kurzfassung gegenüber der Lied-Redaktion *I mit den darin manifesten Reflexen der *C-Fassung als überlieferungshistorisch prioritär erweisen. Dies gilt insofern, als die Mischredaktion I des Nibelungenliedes den Rückgriff auf eine *C-Fassung des Textes voraussetzt und damit gegenüber der *B-Gruppe von Lied und Klage als »sekundäre Bearbeitung« einzustufen ist. 481 Auf der Basis dieser Konstellation ließe sich - so eine tentative Hypothese - der in der Hs. I greifbare »generelle[ ] Trend zur Kürze« 482 als Ergebnis eines produktiven Synergieeffektes verstehen, der im Prozess des ›Neu-Arrangements‹ von *B- und *C-nahen Vorstufen von der Kurzfassung evoziert worden sein könnte. 483 Zwar lässt sich die Herausbildung und komplexe Struktur der für die Lied-Redaktion-*I spezifischen Überarbeitungsprozesse »nicht im Detail ermitteln« und rekonstruieren. 484 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 181 <?page no="182"?> 485 Vgl. Kofler, Zu den Handschriftenverhältnissen (2011), S. 53. Es »scheint, dass die Kürzungen mit der Hinzuziehung einer liet-Handschrift als Zweitvorlage zusammenhängen, aus der auch die Sonderstrophen stammen.« (Ebd., S. 55). Zur Anordnung der Zusatzstrophen aus *C vgl. ebd., S. 62f. 486 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-22. 487 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-26. 488 Dies betrifft vor allem die Exposition des Burgundenhofes (Str. 2-6) sowie das Gespräch zwischen Kriemhild und Ute mit der Deutung des Falkentraums (Str. 15-18). Dazu Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S. 26. - Für die *J-Klage gilt dieser Befund, so Bumke (Die vier Fassungen [1996], S. 293 mit Anm. 128), nur sehr eingeschränkt: allenfalls für den ersten Teil des Textes, und auch dort nur für die kleineren Auslassungen. 489 Vgl. die Zusammenstellung bei Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-21f. 490 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage. Die Fragmente (2020), S.-XXXIII. 491 Diese »Lücke« habe »[j]edenfalls […] der Schreiber von I (oder sein Vorgänger) bemerkt und sorgfältig kaschiert.« J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-234. 492 Zitiert hier und im Folgenden nach Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011). Dennoch dominiert in der jüngeren Forschung die Annahme, dass gerade die Hereinnahme der *C-Strophen in einem engen Zusammenhang mit den Kürzungstendenzen des Über‐ lieferungsverbunds gesehen werden muss. 485 Offenbar bedingte insbesondere die »sehr selektiv« 486 erfolgte Übernahme von Sonderstrophen aus dem *C-Kontext in das I-Lied gezielte Kürzungen gerade dort, wo die beiden vom Redaktor verwendeten Vorlagen »divergierende[ ] Strophenanordnungen« 487 enthielten, in erster Linie im Anfangsteil des Textes. 488 Denn darüber hinaus sind kaum nennenswerte Reduktionen oder Strophenzu‐ sammenziehungen zu verzeichnen 489 - mit einer signifikanten Ausnahme: Die Strophen 1513-1624, die die Reise der Burgunden durch Bayern und deren Kampf gegen den Markgrafen Gelpfrat sowie seinen Bruder Else enthalten, seien »bewusst ausgelassen«. 490 Erst der Schreiber von I hat wohl Str. 1625 so modifiziert, 491 dass sich der Empfang der Burgunden durch Bischof Pilgrim in Passau einigermaßen bruchlos an deren Abreise aus Worms anschließt: Gezelt und hútte spien man an daz gras Gezelt und hütten spien man an daz gras anderhalp dez Rines. do daz geschehen was, anderthalp des Rînes. dô daz geschehen was, der kunc bat noch biten sin vil schones wip; der künec bat noch belîben sîn vil schœne wîp; si trut noch dez nahtes den sinen wætlichen lip. si trûte noch des nahtes den sînen wætlîchen lîp. (I, Str.-1512) (Bo, Str.-1515) - - Des morgens, do ez taget, gen Passau si do riten, Der edekn künege œheim, der bischof Pilgerîn, do si der pischof Bilgrin in herlichen siten dem was vil wol ze muote, dô die neven sîn mit also vil der recken sah comen in daz lant. mit alsô vil recken kômen in daz lant. daz er in willic wær, daz wart in schier becant. daz er in willec wære, daz wart in schiere bekant. (I, Str.-1625; Hervorhebung: J.F.) 492 (Bo, Str.-1628) Die Streichung der Bayern-Passage ist nicht nur für die gesamte Überlieferung von Nibe‐ lungenlied und Klage singulär, sondern offenbar auch für die Redaktion *I. Das dokumentiert K als einziges Fragment der Handschriftengruppe, aus dem sich zumindest ein Teil der Passage rekonstruieren lässt (Str. 1513-1531). »Das Fehlen des Bayernteils in Hs. J kann 182 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="183"?> 493 J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-237. 494 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage. Die Fragmente (2020), S.-XXXIII. Zu dieser Annahme schon Braune, Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes (1900), S.-137-147. 495 Zu dieser Stelle siehe oben, Kap.-2.1.1. folglich nicht für eine Fassung *J insgesamt geltend gemacht werden; es könnte sich auf J und die Abschrift h beschränkt haben.« 493 Koflers Analyse zufolge nimmt »K gegenüber IQWY eine etwas eigenständigere Position ein[ ]« und zwar insofern, als »K dem Grundtext mitunter näherstehen könnte als I«. 494 Dafür bietet gerade der Klage-Teil mit einigen *B-Lesarten, von denen sich J entfernt, markante Hinweise (Hervorhebungen: J.F.): Brunhilt diu here Brunhilt diu clagt mer klaget wol in ir mazen mit grozzen unmazzen. (K V.-690f. / *B V.-3670f.) ( J V.-690f.) - - nie frowen wůf so swinden nie frawen wůf so swinden hete man mer nie vernomen het man so claglich vernomen. (K V.-714f. / *B V.-3694f.) ( J V.-714f.) - - uil kvͦme vonder selben not diu kungin von der selben not genas diu chuneginne vil hart cum genas. si lak in unsinne in unsinne si lang was (K V.-772-774 / *B V.-3960-3962) ( J V.-772-774) - - done wolte der Bernære do enwolt der Bernær da niht langer bestan da niht langer bistan, er v̅ Hiltebrand sin man er und Hiltprant, sin man. Herrat urloup do nam zehant er urlop do nam. den frowen do niht anders zam den helden do niht anders zam, niwan weinen un̅ klagen wan niun wainen und clagen. (K V.-886-891-/ *B V. 3670 f.) ( J V.-886-819) Insbesondere die in *J gegenüber *B neu eingefügte Zusammenfassung von Dietrichs und Hildebrands Rückkehr (*J V. 886-892) ist in diesem Kontext bedeutsam. Offenbar ist der Name von Dietrichs Verlobter Herrat, die ihn und Hildebrand beim Aufbruch begleitet (*B V. 4145-4147) zunächst übernommen worden, jedoch fehlte ihm aufgrund des Ausfalls der Passage (*B V. 4108-4182) in *J jegliche Referenz, sodass der I/ J-Redaktor den entsprechenden Vers umformulierte. Im selben Zug änderte er wohl auch das in der neuen Konstellation sinnlos gewordene Objekt der Trauer in den Versen K V. 890f. (wörtlich nach *B V.-4154f.) 495 von den Herrat verbundenen Frauen zu den Helden ab. Darüber hinaus sind kaum Abweichungen im Textbestand zwischen K und I/ J zu beobachten. Eine Folgerung könnte sein, dass erst der Redaktor von Hs. I/ J die Änderungen im Wortlaut der Klage vorgenommen hat, um die durch die Kürzung entstandenen Kohärenzbrüche zu glätten (vor allem V. 886-892). In diesem redaktionellen Prozess wäre möglicherweise auch die Auslassung der Bayern-Passage im I-Lied zu verorten. Denn der Versuch, sie mit einer lokalpatriotischen Präferenz eines hochstehenden bayerischen 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 183 <?page no="184"?> 496 Lienert, Intertextualität in der Heldendichtung (1998), S.-290. 497 »Der naheliegende Grund für diese Auslassung ist wohl, dass aus Rücksicht auf einen bayerischen Auftraggeber die kompromittierende Episode […] gestrichen wurde.« Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S. 21. So auch J.-D. Müller, Varianz (2023), S. 237: »Das könnte ein Hinweis auf eine Fassung sein, die die ›bayernfeindliche‹ Episode tilgte«. 498 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-21. 499 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-22. 500 Kofler, Zu den Handschriftenverhältnissen (2011), S.-69. 501 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-25. 502 Kofler, Zu den Handschriftenverhältnissen (2011), S.-69. 503 Vgl. exemplarisch den Neuansatz von J.-D. Müller, Typen von Varianz (2020), S. 361, der zwar »Beispiele aus der gesamten Nibelungenüberlieferung anführ[t]«, die Klage aber aus seinen Überle‐ gungen - wie schon in J.-D. Müller, Vulgatfassung? (2016), S.-234 - ausklammert. 504 Auch Kofler ([Hg.], Nibelungenlied und Klage [2011], S. 21) bemerkt, dass sich der Schreiber von I womöglich an »den übrigen Reisebeschreibungen orientierte, die […] kaum Details vermerken«. Das gilt umso mehr für die Rückreise der Boten in der *J-Klage. 505 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S. 24. - Zu den ›Verbindungen zwischen den Redaktionen I, d, n und k‹ vgl. Kofler, Zu den Handschriftenverhältnissen (2011), S.-51-82. Auftraggebers zu erklären, aus Rücksicht auf dessen Interessen die Darstellung der Bayern »als notorische[r] Straßenräuber« 496 getilgt worden sei, 497 bleibt angesichts zahlreicher stehen gebliebener »negative[r] Bemerkungen über Baiern bzw. dessen Bewohner« 498 sowie des Überlieferungsbefunds in K relativ vage und daher logisch nicht zwingend. Auch die Zuschreibung der quantitativen Reduktion der J-Klage »auf das Konto des ersten Redak‐ tors« 499 von *I, der »die radikalen Kürzungen […] weitgehend freihändig vorgenommen« habe und dabei »nur einige Überleitungsverse neu formulieren [musste]«, 500 erscheint vor dem Hintergrund des in der *J-Klage beobachteten systematischen Kürzungsverfahrens eher unsicher. Gerade die strukturellen Modifikationen, die sich im Abbau heldenepischer, aber auch Planctus-zentrierter Referenzhorizonte manifestieren und auf ein geändertes Verständnis der Dichtung verweisen, lassen sich weder mit einer ad-hoc-Bearbeitung noch mit der »selektive[n] Umarbeitung« 501 des I-Liedes plausibel koordinieren. Unklar bleibt Koflers Annahme, warum der *I-Redaktor für die im Vergleich zur Klage doch sehr viel weniger weitreichenden Änderungen am Lied-Text eine »Bearbeitungs‐ schablone« hinterlassen haben mag, 502 die nicht zugleich auch die Reimpaardichtung enthielt. Zumal die systematische Kürzungstendenz der *J-Klage von wesentlich größerer Umsicht zeugt als ein ›mechanisches‹ Verfahren, bei dem lediglich die ›Scharnierstellen‹ zu überbrücken gewesen wären. Die aktuell geführte Forschungsdiskussion dokumentiert, dass die Berücksichtigung der Klage-Überlieferung im Hinblick auf die Bedeutung der Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes noch immer ein Desiderat ist. 503 Naheliegender wäre vielleicht ein von der *J-Klage ausgehender Rückkoppelungseffekt. Das Fehlen der Bayern-Passage, in der die Boten um Swämmel dem Grafen Else wieder‐ begegnen (*B V. 3485-3526), wie der Beschreibung von Reisewegen überhaupt dürfte womöglich als Faktor für die Streichung der im I-Lied aufgrund des Referenzausfalls in der Klage funktionslos gewordenen Episode anzusetzen sein. 504 Weiterführend für die Frage nach dem Verhältnis von I-Lied und J-Klage sind die »20,5 Plusstrophen aus dem liet-Kontext«. 505 184 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="185"?> 506 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S. 24. 507 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-25. Anders perspektiviert von J.-D. Müller, Varianz (2023), S. 255: »Die Erweiterung des Textbestandes durch Zusatzstrophen verstärkt also die Aussage des nôt-Textes.« 508 »Sie will etwas, was in der nibelungischen Ordnung unmöglich ist.« J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-255. 509 J.-D. Müller, Varianz (2023), S.-251 u. 253. 510 Siehe eingehender Kap.-2.2.2. 511 Dazu oben, Kap.-2.2.4. 512 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-22. 513 Ebd. 514 Kofler (Hg.), Nibelungenlied und Klage (2011), S.-26. Bemerkenswert sind dabei folgende Tatsachen: Es wurde nur rund ein Fünftel der Plusstrophen der liet-Fassung übernommen, die Strophen sind mitunter anders angeordnet als in Ca und k und sie weisen eigenständige Lesarten auf […]. 506 Das »Programm« der Plusstrophen besteht schwerpunktmäßig darin, »Kriemhilds Gegen‐ spieler anzuschwärzen (10 Str.) und sie selbst, sowie Sifrit und Etzel als unschuldig oder doch in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen (5 Str.).« 507 Wenn die Zusatzstrophen damit handlungsrelevante Optionen vervollständigen und plausibilisieren, Motivationen ergänzen, offen gebliebene Fragen klären, demonstrieren sie doch in ihrer Summe die Unmöglichkeit von Kriemhilds Wollen und Handeln. 508 »Die wesentliche Funktion der Zusatzstrophen ist […] eine Intensivierung und Zuspitzung der Konflikte«, sodass die »Ambivalenzen und Widersprüche der Prinzipien, auf denen die nibelungische Ordnung beruht, noch gesteigert [werden]«. 509 Dieses ›Programm‹ deckt sich jedoch allenfalls partiell mit den Tendenzen der Kurzfas‐ sung. Wie herausgearbeitet werden konnte, stehen hier nicht spezifische Entlastungsbzw. Belastungsstrategien im Fokus, vielmehr ist - mit Ausnahme des Einleitungsteils (*J V. 1-202) - das Gros der das Geschehen betreffenden Kommentare sowohl auf Erzählerals auch Figurenebene herausgekürzt. 510 Die *J-Klage lässt insofern kein markantes Interesse an der Diskussion moralischer Wertmaßstäbe oder der ›Schuldfrage‹ für den Untergang erkennen, wofür als deutlichstes Indiz die Streichung der Passau-Episode dient, in der Pilgrim als Vertreter einer christlichen Perspektive ein axiologisches Wertesystem institu‐ tionell bestätigt. Das narrative Zentrum der Kurzfassung konstituiert sich hingegen in der Worms-Episode, auf welche die straffere Handlungsorganisation zuläuft und deren Fluchtpunkt in der Restitution bzw. Demonstration genealogisch-dynastischer Kontinuität liegt. 511 Es ließe sich also durchaus vermuten, dass »die Hereinnahme der Liet-Strophen und die Kürzung des Einleitungsteils« durch den Redaktor von *I wohl »in einem Schritt« erfolgt sein könnten, dass diesem aber offenbar nicht auch die »Reduktion des Umfangs der ›Klage‹« zuzurechnen ist. 512 Die Klage-Kurzfassung dürfte womöglich schon in der *B-nahen Vorlage gestanden haben, auf deren Basis eine »Angleichung des [*I-]Textes an die liet-Fassung« 513 mittels einer »liet-Handschrift als Zweitvorlage« 514 vorgenommen wurde. Die Eingriffe in den Klage-Text von Handschrift I/ J gegenüber dem Fragment K lassen ein Weiterarbeiten am Überlieferungskomplex erkennen, in dessen Rahmen die in der Umgebung der *B-Klage entstandene Kurzfassung *J selbst wieder produktive 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 185 <?page no="186"?> 515 Siehe die Nachweise in Kap.-2.2.1. 516 Vgl. Henkel, Die Nibelungenklage (2003), bes. S.-113. 517 Zum Konzept des ›Mythischen‹ als Analysekategorie für mittelalterliche Texte am Beispiel von Konrads von Würzburg Trojanerkrieg vgl. Gebert, Mythos als Wissensform (2013), bes. S. 21-103. Mit einem narratologischen Ansatz Poser, Raum in Bewegung (2018). 518 Zu diesem Aspekt siehe Kap.-2.2.2. Textveränderungen veranlasst haben könnte. Sie spiegeln - wenn auch nur auf eine, doch längere Episode (Str. 1513-1624) beschränkt - potentiell denkbare Synergieeffekte der Kürzung wider. 2.2.6 Systematische Kürzung. Poetische Überformung erzählter Ordnung Das am Beispiel der Nibelungenklage *J analysierte Phänomen der systematischen Kür‐ zung repräsentiert eine Verfahrensweise literarisch produktiver Arbeit an vorgängigem Textmaterial, in der sich ein eigenständiges Profil der Redaktion gegenüber den deutlich längeren Fassungen der Nibelungenklage konstituiert. Sie lässt eine minutiöse, wohl in einem Schritt systematisch durchgeführte Umgestaltungspraxis auf buchliterarischer Basis erkennen, 515 die auf ein spezifisches historisches Rezeptionsinteresse an einer stringen‐ teren, grundsätzlich anders perspektivierten ›Komplettierung‹ des Nibelungengeschehens verweist. Denn mit der weitreichenden quantitativen Reduktion des Umfangs auf etwa ein Viertel des in den Fassungen *B und *C überlieferten Textbestandes geht eine fundamentale Neuorganisation der narrativen Qualitäten einher. Gerade die Streichung der zahlreichen, für die Langfassungen der Klage konstitutiven Elemente des Planctus (Klagereden und -gesten, Totenklagen auf die gefallenen Helden) markiert einen alternativen Status der durch die Hs. I/ J repräsentierten Kurzfassung, der die Rückkehrbewegung nach Worms unter erzähltechnisch veränderten Prämissen vermittelt. Das Anliegen des Textes besteht demnach weder in einer Demonstration der Überwindung kollektiver Verlusterfahrung im Modus des verklagen noch in einer Exposition individueller, von den Frauenfiguren erfahrener Trauer (Kriemhild, Gotelind, Dietlind, Brünhild). Auch geht es nicht in der Suche nach Sinnzuweisungen für die causa fatalis auf - diese hatte offensichtlich als Anlass eines literarischen ›Gesprächs‹ an Aktualität eingebüßt. 516 Als Anschlusskommunikation an die längeren Narrative fokussiert die Klage-Kurzfassung *J vielmehr die Anbindung helden‐ epischer Zeit, der ja immer auch eine - wenn auch mythisch überformte - geschichtliche Dimension eignet, 517 an historisch etablierte, feudalrechtlich organisierte Handlungsmuster und Herrschaftsstrukturen. Und diese favorisieren die dynastische Kontinuität durch genealogische Absicherung. Die Worms-Passage als neues ›Zentrum‹ der Kurzfassung dokumentiert diesen Sachverhalt und spiegelt die geänderte Ausrichtung des Textes symptomatisch wider. 518 Blickt man auf das Verfahren der Kürzung als literarische Technik, so lässt sich in *J ein ausgesprochen souveräner Umgang mit dem Vorlagenmaterial beobachten. Jenseits eines ›mechanischen‹ Prozesses im Sinne eines bloßen Herausstreichens einzelner Verse bzw. Verspaare oder -gruppen deutet etwa der Umgang mit der Kriemhild-Figur, die als einziges ›Opfer‹ des historischen Massakers in einem axiologisch grundierten Kommentar exponiert 186 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="187"?> 519 Siehe die Befunde in Kap.-2.2.1. 520 Sommermeier, Die Klage in der Handschrift J (1905), S. 44; an anderer Stelle spricht er vom »Flickwerk« (ebd., S.-32). 521 Abeling, Das Nibelungenlied und seine Literatur (1909), S.-34. Vgl. dazu auch Kap.-2, Anm.-278. 522 Zum Problem analytischer Wertung historischer Textzustände siehe Kap.-3.1. 523 Beide Zitate Koschorke, Wahrheit und Erfindung (2012), S.-39 u. 29. 524 Zum Verhältnis von syntagmatischer und paradigmatischer Kohärenz vgl. Schulz, Erzähltheorie (2012), S.-325-327. wird, auf einen funktionalen Einsatz der Kürzungen hin. In der Regel sind nämlich nicht nur die Auslassungen kleinerer Partien, sondern auch umfangreicherer Handlungsabschnitte so gestaltet, dass sich an den Kürzungsstellen keine sichtbaren Brüche ergeben. Diesem Zweck dienen die Zusammenfassungen oder kleineren Umformulierungen des Textes an den entsprechenden Stellen, welche die abbreviierten Elemente explizit aufnehmen oder auch nur implizit anklingen lassen. 519 Von »Flickverse[n] der übelsten Art« 520 kann jedenfalls nicht die Rede sein. Die Annahme der frühen Nibelungenlied-Forschung, *J biete gar keine Kürzung, sondern »vielleicht die älteste vorhandene Gestalt« 521 der Nibelungen‐ klage, macht jedenfalls das ästhetische Potential einer Poetik der abbreviatio und - aus der Perspektive moderner Rezeption und analytischer Interpretation - dessen zugleich zeithistorisch variable Einschätzung augenfällig. 522 Dass sie auch als eine historische verstanden werden kann, legen die potentiell denkbaren Synergieeffekte der Kürzung im Überlieferungsverbund (Hs. I/ J) nahe. Die ›Technik‹ der Kürzung ist in diesem Fall als eine genuin literarische zu bezeichnen. Das wird nicht zuletzt in einer Neukonzeption der im Text erzählten Ordnung manifest. Sie äußert sich gleichermaßen durch einen gezielten Abbau texttypologischer ›Bauformen‹, die die Anbindung an die Planctus-Tradition markieren (vor allem der Klagemono- und -dialoge), wie gattungsspezifischer Referenzen, die das heldenepische Modell in Rekapitula‐ tionen der Untergangshandlung, der Nennung nibelungischer Namen, ihrer ›Geschichten‹ und nicht zuletzt der mit ihnen verknüpften Stoffkomplexe (z. B. Dietrich von Bern) präsent halten. Kürzungen von Elementen, die der strukturellen Kohärenz der Dichtung dienen, wie z. B. Wiederholungen und Redundanzen, aber auch das Weglassen handlungstragender Partien, haben einerseits die Reduktion »episodische[r] Dichte« zur Folge. Diese eröffnet andererseits durch die Selektion dessen, was berichtet wird, eine »Formungsenergie«, 523 die die narrative Ordnung im Kern tangiert und auf der Ebene der Erzähllogik sowie der darin modellierten Zeithorizonte wirksam wird. Betrachtet man die Nibelungenklage *J also nicht primär aus einer relationalen Perspektive als gegenüber den Langfassungen defizienter, weil um essentielle Elemente ›verkürzter‹ Text, lässt sich die Priorisierung syntagmatischer Kohärenzstrukturen und eine damit einhergehende Geschwindigkeit des Erzählens (Stichwort: velocitas) im Sinne eines strafferen Duktus erkennen. Die Tendenz zu narrativer Stringenz wird damit zum Kennzeichen des abbreviierten Textes. Als Form systematischer Kürzung, die ambivalente und für die angezielte Sinngebung der Erzählung als irrelevant angesehene Elemente konsequent beseitigt, 524 präsentiert die *J-Klage ein verdichtetes Erzählschema der Rückkehrhandlung nach Worms. Kürzung erscheint hier als Verfahren der Reproduktion, das ausgesprochen nah am Prätext operiert und mittels rhetorisch-poetischer Techniken der Kondensierung und Reformulierung 2.2 Kürzung als Reproduktionsprinzip: Die Nibelungenklage *J 187 <?page no="188"?> 525 Siehe die Beispiele in Kap.-2.2.1. 526 Kürzung im chronikalischen Paradigma ist diskutiert in Kap.-3.1.2.3. eine im Text angelegte, durch andere Zusammenhänge überlagerte narrative Dimension herauspräpariert. Und diese zieht durchaus nicht unerhebliche Modifikationen des textu‐ ellen ›Rahmens‹ nach sich, ja sogar eine markante Verschiebung der Schwerpunkte. Die Kürzung verleiht der *J-Klage ein gänzlich anderes Gepräge, und zwar sowohl hinsicht‐ lich des performativ entfalteten, auf literarische Traditionen rekurrierenden Gestus des Textes (Stichwort: Klagen, Planctus) als auch besonders im Hinblick auf seinen Status als Repräsentationsmedium heroischer Überlieferung. Die alternative Erzählhaltung, die sich infolge der Kürzung einstellt, deutet durch die weitgehende Reduktion von System- und Wissensreferenzen eine Abwendung von der heroischen Tradition an. Favorisiert werden formal wie inhaltlich Muster chronikalischen Erzählens, die sich in der geänderten temporalen Struktur sowie der genealogischen Kontinuität als Fluchtpunkt des Textes konstituieren. Was lässt sich bilanzieren? Literarische Kürzung wird in der Nibelungenklage *J zur Re-Or‐ ganisation des vorgängigen Textmaterials instrumentiert. Dabei lassen sich rhetorische Parameter der brevitas beobachten, die den Prozess der abbreviatio auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung abbilden. 525 Gleichwohl ist der Kürzung ein weitaus größeres Möglichkeitsspektrum inhärent als eine ›rein‹ formalistische Reduktion umfangreicherer Textbestände. Denn die systematisch durchgeführte Neukonzeption des *J-Textes schlägt auch auf die Ebene der narrativen Organisation selbst durch. Der Stellenwert des textpro‐ duktiven Parameters der abbreviatio als eines poetischen Prinzips zeigt sich gerade in dieser doppelten Ausrichtung: einer rhetorisch-poetischen Faktur, die zugleich Implikationen auf der Ebene der Narration nach sich zieht. Resultat ist eine eigenständige Akzentsetzung im Rahmen einer ›Kurz-Erzählung‹ vom Ende der Nibelungenhandlung. Sie verdankt sich einer systematisch verfolgten Konzeption, die eine resultathafte Präsentation der Ereignisse im historiographischen Paradigma prämiert. Kürzung als Prinzip rhetorisch-poetisch induzierter Arbeit am Text zielt also auf die Etablierung einer gegenüber dem Ausgangstext abweichenden narrativen Ordnung. Sie changiert zwischen einer primär reduktiven Disposition (Stichwort: Streichung) und der Komprimierung (erzähl-)zeitlicher Strukturen und systemreferentieller Verweise. Die Verfahren der Kürzung reagieren dabei auf jeweils relevante Gattungs- und Diskursinter‐ ferenzen, indem sie die Tektonik der Dichtung mit ihrem eigentlichen ›Klage‹-Thema - im Hinblick auf mediale, funktionale und temporale Aspekte - markant transformieren. Effekt ist eine narrative Verdichtung und Neuperspektivierung des in der Nibelungenklage *J vor‐ liegenden Erzählens. Wesentliches Merkmal ist die Anbindung an alternative literarische Schemata (Chronistik), die die ursprüngliche, thematisch wie systemreferentiell indizierte Gattungsspezifik in ein neues Modell für den Abschluss des Nibelungenkomplexes über‐ führen. 526 188 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="189"?> 527 Am Beispiel der Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme siehe Kap.-1.3.2. 528 Zu diesem Problemkomplex vgl. Schneider, Logiken des Erzählens (2021), bes. S.-112-188. 529 Diese Konstellation ist entwickelt in Kap.-1.4.2.1. 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n Dass die Verfahren der Abbreviation und Amplifikation nicht als oppositäre Kategorien in je distinkten Feldern operieren, sondern als gleichwertige Optionen innerhalb desselben Bezugssystems, zeigt schon der Blick auf ihre Konzeption in den mittellateinischen Artes poetriae. Kürzung und Erweiterung gehören damit zum integralen Instrumentarium einer historischen Praxis, die über rhetorisch-poetische Prinzipien literarischen Gestaltens organisiert ist. Im Sinne der in der mittellateinischen Poetik skizzierten Logik (Kürzung des Bekannten, Ausweitung des nur knapp Erzählten) können sie der Steuerung eines bestimmten Rezeptionsinteresses dienen, das Schwerpunkte gegenüber dem zugrundelie‐ genden Prätext einzieht. 527 Weil damit zugleich die textuelle Strukturierung und narrative Verknüpfungen tangiert sind, kommen Fragen literarischer Kohärenz in den Blick. Für die mittelalterliche Textualität ist schon vielfach eine partikulare Organisation der Erzähl- und Sinneinheiten beobachtet worden. 528 Deshalb lohnt sich eine genaue Analyse von Kürzung und Erweiterung als Interferenzphänomenen. In entgegengesetzter Verfahrensweise arbeiten sie auf unterschiedlichen Ebenen und erfassen sowohl die quantitative Dimension, die rhetorische Formgebung als auch die poetische Qualität und mit ihr die narrative Gestaltung des jeweils vorliegenden Textes. Indem sie als solch integrale Prinzipien der Textmodellierung in Inhalt u n d Form jeweils zur ein oder anderen Seite hin ausschlagen können (reduktionsbedingte ›Latenzen‹ vs. amplifikatorische ›Kom‐ pensationsphänomene‹), 529 lassen sie Implikationen für die Organisation des Erzählens beobachtbar werden: ein spezifischer Umgang mit der paradigmatischen Sinnkonstitution, auch wenn dieser nicht der kausallogischen Stringenz der Gesamtkomposition gilt, sondern an partikularen Kohärenzstrukturen ansetzt und diese über Wiederholungen und Redun‐ danzen stellenweise ausbauen kann. Literarische Kürzung schließt in diesem Sinne ein Streben nach stoff- und textgeschichtlicher Vollständigkeit nicht aus. Die synergetische Verbindung von Kürzung und Erweiterung erweist sich vielmehr als Bestandteil einer historischen Poetik, die gerade im heldenepischen Kontext texttypenspezifische Konturen annehmen kann: zwischen selektiver Reduktion sowie Re-Strukturierung stoffgeschichtli‐ cher Konstellationen und Summenbildung als textimmanentem Prinzip der Kompletion. Kürzung und Erweiterung als Interferenzphänomenen eignet insofern ein dynamisches Moment, das für die Frage nach Formen der Kohärenz epischen Erzählens signifikante Befunde bietet. Sie werden im Folgenden an einem markanten Fallbeispiel diskutiert, dem Nibelungenlied in der Hs. n, das aufgrund seines charakteristischen Profils eine integrale Kombination von abbreviativer Verdichtung und amplifizierender ›Sammlungs‹-Tendenz dokumentiert. 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 189 <?page no="190"?> 530 Erstmals beschrieben bei Vorderstemann, Eine unbekannte Handschrift (1976), S. 115-122. Die beiden Editionen, die kurz hintereinander erschienen sind, weichen in der Strophenzählung voneinander ab: Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999); Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000). Im Folgenden wird nach der Ausgabe von Vorderstemann zitiert. - Zur Hs. n vgl. Klein, Beschreibendes Verzeichnis (2003), bes. S. 234f. - Zur Einordnung von Hs. n in den Kontext der Nibelungenlied-Überlieferung Hennig, Die Nibelungenhandschrift n (2000), S. 427-431. Vgl. auch die Überblicksdarstellungen bei Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S. 305-334, und Kofler, Zu den Handschriftenverhältnissen (2011), S.-51-82. 531 Voetz, Die Nibelungenlied-Handschriften (2003), S.-291. 532 Vgl. Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S.-XIII. 533 Die Datierungsfrage resümiert Voetz, Die Nibelungenlied-Handschriften (2003), S.-284f. 534 So die Darstellung der Ergebnisse bei Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S.-X. 535 Vgl. Staub / Weimann-Hilberg, Johann von Würzburg (II) (1987), S. 265f. - Das Explicit »könnte auch am Ende einer umfangreicheren Textsammlung durch Johann Lang gestanden haben«. So Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S.-10. 536 Heinzle, Wiedererzählen (2005), S.-140. 537 Es lässt sich allerdings (auf der Grundlage des Umgangs mit hinzugefügtem Strophenmaterial) durchaus eine Strophenmarkierung zu je vier Versen erkennen, deutlich auch an der metrischen Heraushebung des jeweils letzten Verses einer Strophe (siehe unten, Kap. 2.3.2). Dazu auch Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S. 9; Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S. XI. - Zu den Einrichtungstypen innerhalb der Nibelungenlied-Überlieferung Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-217f. 538 Eine ausführliche Analyse der in Hs. n dominanten Bearbeitungstendenzen bietet Kofler, Nibelun‐ genlied n (2014), S.-76-120, hier: S.-78. 2.3.1 Selektion und Amplifizierung Die von Jürgen Vorderstemann in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt aufgefundene Hs. n (Hs. 4257) 530 entstammt »der letzten Phase der Überlieferung des Nibelungenliedes«. 531 Sie lässt sich aufgrund sprachlicher Kriterien im rheinfränkischen Raum lokalisieren. 532 Als Entstehungszeit werden die Jahre zwischen 1470 und 1480 vermutet. 533 Ein Befund, den die Auswertung der Wasserzeichen des Papiers am ehesten nahelegt, 534 wohingegen der an die Schlussstrophe des Nibelungen-Teils angegliederte Kolophon die Angabe enthält, Johann Lang habe die Abschrift am Samstag vor Palmsonntag 1449 vollendet: Geschreben von Johanin Langen vnd geendet Am samstag in der fasten, am palmobent genenet, Da man zalt noch Crystus gebort, das yst war, Mcccc vnd in dem nun vnd viertzigsten jar. (n 901) Weil dieser Vermerk die Strophenform des vorausgehenden Textes aufnimmt, dürfte er beim Kopiervorgang vom Schreiber der Handschrift übernommen worden sein. 535 Nach Joachim Heinzle kann nämlich als sicher gelten, »dass die Handschrift [n] nicht das Original der Bearbeitung des ›Nibelungenliedes‹, sondern eine Abschrift ist«. 536 Die einspaltige Einrichtung des Textes in Hs. n weist eine Absetzung der Verse, nicht jedoch der einzelnen Strophen auf. 537 Eine Gliederung nach Âventiuren, z. B. durch Überschriften, fehlt, stattdessen zeigen Absätze sowie Stellvertreter für 86 nicht ausgeführte Initialen eine Strukturierung des Textes an. 538 Innerhalb der handschriftlichen Überliefe‐ rung des Nibelungenliedes kommt der Hs. n ein besonderer Status zu. Erstens, weil der 190 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="191"?> 539 Zu den Kürzungen kommen einige Blattverluste. Die Handschrift enthielt ursprünglich 62 Blätter (so die Zählung aus dem 15. Jh.), wobei mit den Bl. 8-11 und 29 bis zu 80 Strophen fehlen. Vgl. Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S.-XI. 540 Vgl. Hennig, Die Nibelungenhandschrift n (2000), S. 429. - »Insbesondere enthält n Sonderstrophen, deren Anordnung und Lesarten weitgehend mit Handschriften der Redaktion I und d überein‐ stimmen.« Kofler, Nibelungenlied n (2014), S. 78f. Die *B-nahen Partien von Hs. n gehen wohl »auf eine l-ähnliche Vorlage zurück[-].« (Ebd., S.-79). 541 Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-80. 542 Die Übereinstimmungen verzeichnet Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-82-99. 543 Aufgrund der auffälligen Gemeinsamkeiten in den Lesarten von n und k nimmt Kofler (Nibelungen‐ lied n [2014], S. 79f.) eine gemeinsame Vorlage *n an: Diese muss selbst schon viele eigenständige Lesarten enthalten haben, die nicht auf den Redaktor von n zurückgehen. Dazu auch Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S. XIX; Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S.-12-14; Hennig, Die Nibelungenhandschrift n (2000), S.-427-431. 544 Zum komplizierten Überlieferungsbefund gerade hinsichtlich der für n charakteristischen ›Mi‐ schungsverhältnisse‹ zwischen Nôt- und Lied-Fassung Kofler, Nibelungenlied n (2014), S. 76-120; Kofler, Zu den Handschriftenverhältnissen (2011), S. 51-82. - »Die Verbindung von Nôt- und Liet-Fassung ist m. E. nicht durchgehend auf ein Prinzip und einen einmaligen Akt der Vermischung zurückzuführen, deswegen rechne ich mit einem längerfristigen Prozeß in der Vorgeschichte der Hs.-n.« Hennig, Rez. zu: Göhler / Vorderstemann (2002), S.-371. 545 Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S.-XXIV. 546 Vgl. Hennig, Die Nibelungenhandschrift n (2000), S. 429. Einige der fraglichen Stellen verzeichnet Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S. 14. Sie sind besprochen von Hennig, Rez. zu: Göhler / Vorderstemann (2002), S.-370-373. Siehe auch Kap.-3.3.3. 547 Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S.-333. 548 Siehe dazu Kap.-3.3.2. Textbestand infolge der stark kürzenden Bearbeitung des ersten Handlungsteils (Âv. 1-24), der auf 20 Strophen verdichtet wird (n 1-20), nur etwa ein Drittel des durch die Fassungen *B bzw. *C repräsentierten Textes umfasst. 539 Zweitens, weil sich der eigentliche Hauptteil der Handschrift (n 21-901) durch charakteristische ›Mischungsverhältnisse‹ auszeichnet. Er ist nämlich auf der Basis eines *B-nahen Textes, der vermutlich der Redaktion *I angehörte, 540 sowie eines *C-Textes gearbeitet, der aber »offenbar nicht immer mit der Haupthandschrift C konform [ging].« 541 Stellenweise dokumentieren Sonderstrophen und Lesarten Übereinstimmungen mit den Redaktionen I und d sowie den Handschriften b und k. 542 Insbesondere mit der späten Hs. k geteilte Lesarten deuten auf eine gemeinsame, nicht genauer zu bestimmende Vorlage hin. 543 Als gesichert dürfte für den in der Hs. n überlie‐ ferten Nibelungenlied-Text gelten, dass er - in nicht mehr näher rekonstruierbaren Über‐ arbeitungsschichten - unter Zuhilfenahme zweier (oder sogar mehrerer) Handschriften kompiliert worden ist. 544 Das Nibelungenlied n vereint, wie es Brackert [1963, S. 172f.] schon für das Sondergut der einzelnen Redaktionen formuliert hat, ›Textbestände von sehr verschiedener Provenienz und sehr verschie‐ denem Alter in dichter, für uns nicht mehr entwirrbarer Verflechtung und Verschichtung.‹ 545 Direkte Vorlagenwechsel sowie die kumulierende Aneinanderreihung von *B- und *C-Stro‐ phen an mehreren Stellen zeigen an, 546 dass »der Redaktor [von n] den ›Lied‹- und den ›Not‹-Text auf dem Schreibtisch liegen hatte und die beiden Fassungen zusammenre‐ digierte.« 547 Daneben sind - gerade für den neu eingesetzten Eingangsteil 548 - Reflexe mündlicher Traditionen nachweisbar, die das Nibelungenlied n gewissermaßen als Kul‐ 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 191 <?page no="192"?> 549 »In ihr [sc. Hs. n] scheint die gesamte Überlieferung, die mündliche wie die schriftliche zusammen‐ zulaufen«. Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S. 331. - Kritisch zur Kontaminati‐ onsthese Müller, Vulgatfassung? (2016), S. 258: »Wie ist solch kompilierende Abschreibarbeit ›am Schreibtisch‹ vorzustellen? « 550 Vgl. Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-81. 551 Vgl. Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S. XI; Kornrumpf, Strophik (1984), bes. S. 334 mit Anm.-7. 552 Vgl. Staub / Weimann-Hilberg, Johann von Würzburg (II) (1987), S.-263-268. 553 Zur Schwerpunktverschiebung in Hs.-n weiter unten, Kap.-3.3.2 u. Kap.-3.3.3. 554 Vgl. den Überblick bei Heinzle, Art. ›Heldenbücher‹ (1981), Sp. 947-956. Zusammenfassend Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik (2015), S. 163-168. - Zur Rosengarten-Überlieferung Lie‐ nert / Kerth / Nierentz (Hg.), Rosengarten (2015), bes. Teilbd.-1, S.-XIII-LXVII. 555 Heinzle, Wiedererzählen (2005), S. 157f. - Zur Hypothese, dass Alpharts Tod die ebenfalls im Hildebrandston verfassten Texte Ortnit / Wolfdietrich D sowie der Rosengarten D vorausgegangen sein könnten, vgl. schon Kornrumpf, Strophik im Zeitalter der Prosa (1981), S. 334f. - Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich könnte, so Heinzle (Wiedererzählen [2005], S. 140), später aus einer anderen Vorlage in die Sammelhandschrift hinzugekommen sein. Zusammenfassend Firestone, Alpharts Tod and Nibelungenlied n (1999), S.-229-251. 556 Exemplarisch Hoffmann, Die spätmittelalterliche Bearbeitung des Nibelungenliedes (1979), S. 129- 145; Kornrumpf, Strophik im Zeitalter der Prosa (1984), S. 316-340; Kornrumpf, Lienhard Scheubels Heldenbuch (2011), S.-321f. 557 Vgl. Klarer (Hg.), Kaiser Maximilian I. und das Ambraser Heldenbuch (2019). - Zum Nibelungenlied in der Hs. d vgl. Kofler, Töchter, Schwestern, Basen (2013), bes. S.-21-23. 558 Anknüpfend an Bumke (Die vier Fassungen [1996], S. 213), bewertet Vorderstemann eine solche Zusammenstellung in der »Schlußphase der handschriftlichen Überlieferung« des Nibelungenliedes als »Normalfall« (Vorderstemann [Hg.], Das Nibelungenlied [2000], S. XII). - Zum Zusammenhang von Nibelungenlied und Dietrichepik im Spätmittelalter Curschmann, Zur Wechselwirkung (1989), S.-380-410. minationspunkt der gesamten, mündlichen wie schriftlichen Überlieferung erscheinen lassen. 549 Die Entstehung der Fassung *n dürfte wohl nicht vor der Wende vom 14. zum 15.-Jahrhundert anzusetzen sein. 550 Ursprünglich gehörte das Nibelungenlied n einer Sammelhandschrift an, deren weitere Bestandteile als heute selbständige Codices erhalten sind (Alpharts Tod, Berlin, SBB SPK, mgf 856; Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich, Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Hs. 4314). 551 Der Wasserzeichenbefund erlaubt eine Rekonstruktion der Lagen und somit folgende Annahme über die Reihung der Texte innerhalb der Sammlung: Alpharts Tod, Nibelungenlied n, Wilhelm von Österreich. Dieser Gruppe ging mindestens noch ein weiterer Text voraus. 552 Referenzen auf den Rosengarten sowie Modi‐ fikationen des Kriemhildbildes hin zu einem Negativexempel rachsüchtigen Begehrens lassen vermuten, 553 dass das Nibelungenlied n Teil einer ›Heldenbuch‹-Konzeption gewesen ist, 554 die neben Alpharts Tod auch den Rosengarten »als Vorgeschichte zur Kriemhild-Diet‐ rich-Kontroverse« 555 enthalten haben könnte. Die Verbindung des Nibelungenliedes in der Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts mit Texten der Dietrichepik ist über die Hs. n hinaus sowohl mit dem Nibelungenlied k (Lienhard Scheubels Heldenbuch) 556 als auch d (Ambraser Heldenbuch) 557 bezeugt und dokumentiert ein für die Spätphase der Überliefe‐ rung nicht ungewöhnliches Phänomen. 558 Für die Möglichkeit solch einer Eingliederung des n-Liedes in den Kontext spätmittelalterlichen Interesses an älterer volkssprachiger 192 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="193"?> 559 Der Rekonstruktion der Lagenstruktur zufolge hat der Wilhelm von Österreich direkt an das Nibelungenlied n angeschlossen. Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S.-XII. 560 Zu den Indizien (gewonnen vor allem anhand der Pilgrim-Strophe n 808) siehe Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S. 8 mit Anm. 8; Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S. XII. - Auch die Vorlage der Nibelungenlied-Hs. k dürfte, wie »drei Plusstrophen nach Str. 2080 beweisen«, die Klage enthalten haben. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-257 mit Anm.-1. 561 Siehe dazu oben, Kap.-2.2.4. 562 Kornrumpf, Strophik im Zeitalter der Prosa (1989), S. 319. - Mit weiterführender Literatur Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik (1978); Heinzle, Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik (1999); Lienert, Historische Dietrichepik (2010). - Zur Zyklenbildung im Bereich der spätmittelalter‐ lichen Überlieferung höfischer Epik vgl. auch Sietz, Erzählstrategien (2017); Brinker-von der Heyde, Höfische Epik neu erzählt (2021), S.-191-209. 563 Zur Einpassung des n-Liedes an einen neuen Verständnishorizont, der von der âventiurehaften Dietrichepik geprägt ist, vgl. Hufnagel, Das Nibelungenlied im 15.-Jahrhundert (2021). 564 Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-78. 565 Das Nibelungenlied n als Kurzfassung bei Schulze, Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2007), S. 15; Bumke, Retextualisierung (2005), S. 28; Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 51. - Mit Fokus auf den Möglichkeiten der Retextualisierung Hufnagel, Zum Wiedererzählen (2020), S.-385-408. 566 Siehe dazu, Kap.-3.3.3. Heldendichtung spricht auch das Fehlen der Klage in Hs. n, 559 obwohl es Hinweise darauf gibt, dass sie in der Vorlage der Handschrift durchaus vorhanden gewesen sein könnte. 560 Tatsächlich hätte sich die in der Klage formal wie konzeptuell vollzogene Abkehr vom heroischen Paradigma hin zu genealogischen, vom chronikalischen Erzählen inspirierten Deutungsstrukturen wohl kaum in ein ›Heldenbuch‹-Modell integrieren lassen. 561 Viel‐ mehr deuten die weitreichenden Bearbeitungstendenzen in Hs. n darauf hin, dass hier eine bewusst vorgenommene Aktualisierung und Adaptation des Nibelungenliedes an ein offenbar im Spätmittelalter rekurrentes ›Lektüre-Programm‹ vorliegt, das heldenepische Zusammenhänge im Rahmen eines zyklischen Erzählkontinuums situiert. Während Mären- und Bispel- oder Minnereden-Kollektionen Gleichartiges (zum gleichen Thema) bündeln, werden in den Heldenbüchern Texte zu einem buchhaften Ganzen vereinigt, die, einzeln vorgetragen und tradiert, immer schon auf eine umfassendere Helden-Welt verweisen […]. 562 Die in Hs. n vorliegenden Eingriffe verweisen auf einen Sinnhorizont, dessen Spezifika sich erst aus der Eingliederung des Textes in den ihm übergeordneten Sammlungskontext ergeben. 563 Die Hs. n ist nämlich, wie bereits vermerkt, »das Produkt einer umfassenden Überarbei‐ tung«. 564 Sie bietet das Nibelungenlied in einer Kurzfassung von eigenständigem Profil. 565 Diese zeichnet sich durch eine Schwerpunktverschiebung auf den zweiten Handlungsteil des Nibelungenliedes aus, sodass einerseits die heroischen Momente des Kampfes stärker fo‐ kussiert werden, andererseits das Kriemhild-Bild aufgrund der weitgehenden Aussparung der Kausalmotivation für ihr Handeln negativer erscheinen muss. 566 Insofern tangieren die erheblichen Eingriffe in die Makrostruktur die Substanz des Textes: Die Siegfried-Figur verliert durch ihre Rolle als Objekt von Erzähler- oder Figurenrede an Bedeutung, während die burgundischen Helden als »geschlossene (Kampf-)Einheit« aufgewertet werden. Durch das Fehlen der ›Minnehandlung‹ des ersten Teils gewinnt das Bild von Kriemhild als »streit- und rachsüchtige[r] Königin« deutlich negative - mit Kofler - die »negativste[n]« 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 193 <?page no="194"?> 567 Kofler, Nibelungenlied n (2014), Zitate: S.-113 u. 118. 568 Die Strophe n 900 ist in Hs. n an die bekannte Schlussstrophe des Nibelungenliedes (Bo 2379; vgl. n-899,4: Hye hat das liet ein ende vnd heyst Nebelong liet) angegliedert. 569 Heinzle, Wiedererzählen (2005), S.-155. 570 Zu den Verweisen auf den Rosengarten vgl. Vorderstemann (Hg), Das Nibelungenlied (2000), S.-XXI; Vorderstemann, Eine unbekannte Handschrift (1976), S. 121; Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S.-21f.; Göhler, Bemerkungen zur Überlieferung (1995), S.-77f. 571 »Der stärkste Impetus für eine negative Zeichnung Kriemhilts kam zweifellos aus dem ›Rosen‐ garten‹.« Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-116. 572 Dazu Heinzle, Wiedererzählen (2005), S.-156. 573 Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S.-331. 574 J.-D. Müller, Vulgatfassung? (2016), S. 234. - Kofler (Nibelungenlied n [2014]), weist in Detailunter‐ suchungen nach (ebd., S. 82-99), dass dem Redaktor von n - trotz der Kürzung der ersten 24 Âventiuren - an einer vollständigen Zusammenstellung des schriftliterarisch verfügbaren Materials zum Nibelungenuntergang gelegen war (ebd., S.-109). Konturen »innerhalb der ›Nibelungenlied‹-Überlieferung«. 567 Diese Tendenz findet in der eigentlichen, dem Kolophon vorausgehenden Schlussstrophe des n-Textes eine pointierte Ausprägung, in der eine eindeutige Schuldzuweisung an Kriemhild erfolgt: hye hat ein ende fraw Cremhylten hochtzit, Dye wart gemacht in großem haß vnd nit. Da von manch stoltz helt dot lyt. Auch wart sye von Hilbranden zuhauwen zu derselben zyt. (n-900) 568 Diese Sonderstrophe ist in ihrem zeittypischen Verständnishorizont zu sehen, im Zusam‐ menhang der »spezifisch spätmittelalterliche[n] Ausprägung des negativen Kriemhild‐ bildes«. 569 Denn nicht nur sind, wie bereits erwähnt, Bezüge zum Rosengarten vorhanden (z. B. n 265,4; n 368,1), 570 auch die genannten Verschiebungen in der Figurenbewertung, insbesondere Kriemhilds, sind wohl unter dessen Einfluss entstanden. 571 Ferner erscheint der Text durch die Kürzung des ersten Handlungsteils - im Rahmen einer hypothetischen Überlieferungssymbiose - geradezu zu einer Fortsetzung des Rosengartens selbst funktio‐ nalisiert. 572 Über Fragen nach der potentiellen Kontextbezogenheit der Bearbeitung hinaus lassen sich an Hs. n scheinbar gegenläufige Tendenzen in systematischer Perspektive beobachten. Die auf der einen Seite zu situierende Kürzung von mehr als der Hälfte des Textbestandes wird nämlich auf der anderen Seite flankiert durch eine Erweiterungstendenz, die sich u. a. in einer »Strophenkumulation« 573 niederschlägt. Sie weist die Handschrift mit 80 Sonderstrophen, die sich nur in n finden, »als Ergebnis gezielten Sammelns aus.« 574 Diese Beobachtungsparadoxie kann als Indiz gelten für die ›gleichwertigen‹ Spielräume von abbreviatio und amplificatio im Kontinuum kultureller Sinnfindungsprozesse. Insofern beide literarische Techniken darauf abzielen, die Qualitäten eines Textes unter spezifi‐ schen Verstehens- und Kontextzusammenhängen herauszupräparieren, repräsentieren Kürzung und Erweiterung keine dichotomischen Konstellationen, sondern relationale Kategorien, die aufeinander bezogen sein und ein synergetisches Potential ausbilden können. Ihre Instrumentierung für den Vorgang der Textbearbeitung steht im Dienste der kulturgeschichtlichen Trias, die sich hinsichtlich des Umgangs mit überliefertem 194 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="195"?> 575 Für die Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte vgl. Henkel, Sammeln (2022), bes. S. 183- 189. 576 Mit Bezug auf Sammlungsbewegungen vgl. Stagl, Homo collector (1998), S.-41. 577 Voetz, Die Nibelungenlied-Handschriften (2003), S. 296. Zu diesem Aspekt auch Haymes, Die Nibelungen im Spätmittelalter (2000), S.-447-461. 578 Vgl. Leuzinger, Heroische Anfänge (2015), bes. S.-50-73. 579 Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S. 334 (nach: Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik [1978], S.-121f.). 580 Zum Problem der axiologischen Festlegung bei der Bewertung historischer Texte siehe einführend Kap.-1.1. 581 Voetz, Die Nibelungenlied-Handschriften (2003), S.-299. 582 Dazu zählt Voetz, ebd., gewandelte Überlieferungsverbünde, die Auslassung der Klage, Kürzungen und Erweiterungen, die Aufnahme mündlicher Traditionen sowie durchgreifende Veränderungen des Textbestandes. Material durch die Prinzipien des Sammelns, Ordnens und Strukturierens auszeichnet. 575 Die perspektivgebundene Hierarchisierung des verfügbaren literarischen Wissens mittels Abstraktion und Selektion arbeitet einer epistemischen Logik zu, nach der das jeweils infrage stehende kulturhistorische Dispositiv entfaltet wird. In diesem Zusammenhang erscheinen die Verfahren des Kürzens und Erweiterns als integrale, rhetorisch-poetisch induzierte Phänomene narrativer Strukturierung und Kohärenzbildung, in denen sich mediale und temporale Aspekte, mentale Konzepte, aber auch historische Diskurse und gat‐ tungsspezifische Konstanten verdichten. Sie archivieren die solchermaßen zur ›Sammlung‹ geronnen Wissensstrukturen über die Zeit und transzendieren diese zu »materialisierte[n] Gedächtnisse[n]«. 576 Welche Akzente werden mit dem ›heldenepischen‹ Modell der Kürzung, das sich »nicht allein auf die verschriftete Form der Dichtung stützt, sondern auch zahlreiche Elemente der nur mündlichen Tradierung des Nibelungenstoffes aufgreift«, 577 im Hinblick auf die Re-Strukturierung des Gesamtnarrativs gesetzt? Welche emergenten Konstellationen evoziert die Etablierung eines alternativen Anfangs? 578 Wie lassen sich die signifikanten Erweiterungstendenzen in der neuen ›Kurzerzählung‹ vom Untergang der Nibelungen beschreiben - als »redundante Textmischung« 579 oder, absehend von strikten Kohärenzer‐ wartungen, 580 als narrative Alternativen und Anschlusskommunikation an teilweise nur noch schemenhaft rekonstruierbare literarische Diskurse? Die Verfahren der Kürzung und Erweiterung, so ließe sich zusammenfassen, bilden kom‐ plementäre Prinzipien einer im Nibelungelied n auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Sammlungsordnung: innerhalb des Codex, aber auch des Textes selbst, innerhalb seiner Oberflächenwie Tiefendimension. Sie bieten damit Einblicke in die zeit- und kontextspe‐ zifischen Bedingungen der Vermittlung heroischer Wissensbestände in der Volkssprache, wie sie sich in einer »eher ›offenen‹ Art des Umgangs mit dem Text des Nibelungenliedes« 581 in den spätmittelalterlichen Überlieferungszeugen formiert. 582 Die Interdependenz der scheinbar konträr ausgerichteten literarischen Verfahren im Rahmen der in Inhalt und Form beobachtbaren Neuperspektivierung des Nibelungenliedes zu erschließen, ist Ziel der folgenden Überlegungen. 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 195 <?page no="196"?> 583 Siehe Kap.-2.2. 584 Brünhild ist dabei die Herausforderin, was wohl auch ursächlich für den vermutlich aus dem 18. Jahrhundert stammenden fehlerhaften Eintrag auf dem Vorsatzblatt gewesen sein dürfte: Brünhild Gemahlin Sigeberti / Königs zu Frankreich, ein listiges / böss und grimmiges Weib (Vorderstemann [Hg.], Das Nibelungenlied [2000], S. XI). Dazu auch Vorderstemann, Eine unbekannte Handschrift (1976), S.-122; Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S.-456. 585 In ihrer determinierenden Logik rekonstruiert von J.-D. Müller, Spielregeln für den Untergang (1998). 586 Sämtliche Initialen, durch die der gesamte Text gegliedert werden sollte, wurden nicht ausgeführt. Vgl. Heinzle, Wiedererzählen (2005), S. 141; Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S.-27 mit Anm.-48. 587 Heinzle, Wiedererzählen (2005), S.-146. 588 Die Übereinstimmungen mit der nordischen Dichtung sind verzeichnet bei Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S. XXIf.; Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S. 21f.; summarisch auch Haymes, Die Nibelungen im Spätmittelalter (2000), S.-458. 2.3.2 Alternative Anfänge. Kürzung als Strukturelement (n-1-20) Die Kürzung des ersten Handlungsteils in der Hs. n dokumentiert einen anderen, diskurs‐ bedingt interessegeleiteten Zugriff auf die tradierte Textgestalt des Nibelungenliedes als die durchgängig an schriftlichem Vorlagenmaterial orientierte, systematische abbreviatio in der Nibelungenklage *J. 583 Offenbar erschien im Hinblick auf das Sammlungsprinzip der Handschrift nur die Rachehandlung, die im Nibelungenuntergang ihren Zielpunkt erreicht, als relevant. Die ›Vorgeschichte‹ interessiert nur insoweit, als sie die für die antagonistische Dynamik des Untergangstablaus elementaren Zusammenhänge zu einer kausallogischen Evidenz kondensiert und an ein Schlüsselmoment zurückbindet: Der Königinnenstreit (n-1-3) 584 wird als causa efficiens vorgestellt, die die unvermeidbare Fatalität der Ereignisse in Gang bringt, 585 Siegfrieds Tod besiegelt (n 4-10) und damit Kriemhilds Rachemotiv, gesteigert noch durch den grausigen Umgang mit dem Leichnam des Helden (n 11-14), initiiert. Die Planungen zur Realisierung der Rache (n 15-19) fungieren im Rahmen des einleitenden narrativen Grundgerüsts gewissermaßen als Hinführung zum eigentlichen Hauptteil des Textes, der mit dem Aufbruch der Burgunden aus Worms einsetzt (n-20). Joachim Heinzle hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der Hs. n eine deutliche Gliederung des ›Einleitungsteils‹ durch zwei vorgesehene, aber nicht ausgeführte Initialen vorgenommen worden ist. 586 Der erste Teil (n 1-14) erzählt vom Königinnenstreit und Siegfrieds Ermordung; der kürzere zweite Teil (n 15-19) bietet in komprimierter Form die Ereignisse bis zum Aufbruch der Burgunden. Heinzle weist nach, dass die Geschichte von Siegfrieds Tod (n 1-14) in den Grundlinien mit der »entsprechenden Sequenz der ›Thidrekssaga‹ übereinstimmt«. 587 Auf die Thidreksbzw. Völsungasaga sind nämlich folgende Elemente und Motive zurückzuführen: 588 1. die Provokation geht von Brünhild aus (n-1); 2. Kriemhild reagiert mit der Aufdeckung des Bettbetrugs (n-2,3f.); 3. die Beleidigung Brünhilds findet in aller Öffentlichkeit statt (n-4,4); 4. Siegfried habe Kriemhild von dem Drachenstein befreit (n-8,4); 5. Darstellung des Mordes: Hagen, der zugleich als Siegfrieds Schwager bezeichnet wird, sticht den Spieß zwischen dessen Schulterblätter (n-10,2); 6. die grausige Behandlung der Leiche, die Kriemhild ins Bett gelegt wird (n-11); 196 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="197"?> 589 Heinzle, Wiedererzählen (2005), S. 146. Für diese These führt Heinzle (ebd., S. 148) u. a. den »bündigen, durchaus ›balladenhaften‹ Erzähleinsatz« an. 590 Heinzle, Wiedererzählen (2005), S.-147f. 591 Diese zeige sich vor allem an »syntaktische[n] Defekt[en]« sowie der ab n 20 zu beobachtenden Strophenkompilation (z. B. der ›Verdoppelung‹ von Bo 1523 als n 20 und, leicht abgewandelt, n 24), deren Verknüpfung mit dem Vorausgehenden kaum von derselben Souveränität wie n 1-14 zeuge. Vgl. Heinzle, Wiedererzählen (2005), S.-149f. 592 Heinzle, Wiedererzählen (2005), S.-151. 593 Zu den sprachlichen Eigenheiten des n-Textes Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S.-XIV. 594 Die Einzelheiten sind verzeichnet bei Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-82-86. 595 Haymes, Die Nibelungen im Spätmittelalter (2000), S.-454. 596 Vgl. Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S. XIX. - Zu den Entsprechungen der sechs mit dem Nibelungenlied »weitgehend übereinstimmenden« Strophen mit den Lesarten von *B, *C und Hs.-k vgl. Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-82-86. 597 Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-85. 598 Zu den alternativen Quellen des Redaktors vgl. Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-107f. 599 Heinzle, Wiedererzählen (2005), S.-146. 600 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S. 422. Zu Strohschneiders Definition einer ›Kurzredaktion‹ im Sinne einer ersten Vorverständigung siehe Kap.-1.1. 7. die Begründung der Einladung ins Hunnenreich durch die Abwesenheit oder den Tod Etzels (n-19,4). Dahinter könne, so Heinzle weiter, eine ältere mündliche Tradition, vielleicht eine »Helden-Ballade« 589 , vermutet werden, die zusammen mit den aus dem Nibelungenlied adaptierten Strophen in Redaktion n eine charakteristische Form gefunden habe. 590 Die Überleitung zur Rachehandlung (n 15-20), die durch eine geplante Initiale als neuer Abschnitt markiert ist, bewertet Heinzle hingegen als tatsächliche Arbeit am Text, 591 deren Ergebnis aber aufgrund inhaltlicher Ungereimtheiten und stilistischer Inkonsequenzen »erbärmlich« ausfalle. 592 Die knappe Reformulierung der Ereignisse basiert auf der Âventiurestruktur des Ni‐ belungenliedes; charakteristisch ist außerdem die Beibehaltung des Reimgefüges sowie eine Orientierung am ›nibelungischen‹ Register. 593 Bei sechs Strophen lassen sich bis in sprachliche Parallelen hinein Anleihen aus den Âv. 14.-17. sowie 19.-23. erkennen, 594 die wohl nicht, wie Haymes vermutet hat, »aus dem fehlerhaften Gedächtnis eines Schreibers (bzw. Nachdichters)« 595 stammen. Die Verwendung von Sprachmaterial aus dem Nibelungenlied in den Strophen n 1, n 2, n 6, n 13, n 16 und n 20 zeigt vielmehr, dass der Redaktor von n durchaus mit einer schriftlichen Fassung des Epos gearbeitet hat, aus der er passende Verse oder ganze Strophen übernahm. 596 Ob er den Rest »mit seinem eigenen Sagenwissen füllte«, 597 einer alternativen Erzähltradition (z. B. dem Nibelungenlied m, dem Hürnen Seyfried) 598 oder einem ursprünglich eigenständigen Text entnahm, muss offenbleiben. Fest steht, dass die Hs. n zweifellos »ein wichtiges Dokument für die Praxis des Reformulierens im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit« 599 darstellt. Die Kürzungsvorgänge sind deshalb nicht mit einem auf genuin buchliterarischen Quellen basierenden Vorgang der abbreviatio wie in der Nibelungenklage *J vergleichbar, die »in ihrem Kernbestand auf den Wortlaut des gekürzten Textes zurückgehen«, 600 und dokumentieren ein anderes, heldenepisch zu nennendes Modell der Arbeit am Text. Mit 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 197 <?page no="198"?> 601 Vgl. J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017)‚ S.-23. 602 Göhler (Hg), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S.-11. 603 Vgl. Kornrumpf, Strophik im Zeitalter der Prosa (1981), S. 316-340. Zur Prosaliteratur in Spätmittel‐ alter und Früher Neuzeit zusammenfassend Schnell, Prosaauflösung (1984), S. 214-248; J.-D. Müller, Volksbuch/ Prosaroman (1985), S. 1-128. - Zu den jüngeren, auch monographischen Ansätzen exem‐ plarisch Bertelsmeier-Kierst, Erzählen in Prosa (2014), S. 141-165; Speth, Dimensionen narrativer Sinnstiftung (2017); Knaeble, Zukunftsvorstellungen (2019). den Verweisen auf die nordische Überlieferung sowie auf den Rosengarten rekurriert das im Nibelungenlied n präsentierte ›epische‹ Erzählen auf die Vielstimmigkeit eines kollektiven Erzählprozesses und setzt sich so programmatisch von der schriftliterarisch verankerten narrativen Technik des höfischen Erzählens ab. 601 Die Beobachtung, dass die Strophen n 1-20 nicht nur in formaler, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht in zwei Komplexe mit jeweils spezifischen Erzählmodi zerfallen, erscheint vor dem Hintergrund des in der Hs. n emergenten Retextualisierungskonzepts bemerkenswert. Denn der alternative Anfang tritt nicht etwa im Sinne einer ›Kurzfassung‹ an die Stelle der ausgelassenen 24 Âventiuren. Das ist keine Kurzfassung des ersten Teils, sondern lediglich eine Einleitung, die für das Ver‐ ständnis des Folgenden unbedingt notwendige Informationen bietet und dabei interessanterweise einige Zeilen des hochmittelalterlichen Epos übernimmt. 602 Der alternative Anfang bietet vielmehr, jedenfalls für n 1-14, eine Art eigenständiges kom‐ paktes Narrativ von Siegfrieds Ermordung, das um ausgewählte Figurenkonstellationen und Schauplätze zentriert ist und so eine zwar (auch phraseologisch) auf das Nibelungenlied bezogene, aber infolge der Referenzen auf die Sagentradition doch auch davon unabhängige Erzählform bereitstellt. Erst n 15-19 lassen sich (mit n 15 als ›Scharnierstrophe‹) im engeren Sinne als Kürzung des ausgelassenen Handlungsabschnitts vom Zustandekommen der Einladung beschreiben, der in äußerster Verknappung geradezu nacherzählt wird und sich durch eine grundsätzlich andere temporale Struktur auszeichnet als die vorausgehenden Strophen. Es ist evident, dass der Ausfall von mehr als der Hälfte des ursprünglichen Textbestandes in Hs. n und dessen Reduktion auf wenige Kernelemente signifikante Prozesse der Selek‐ tion, Re-Organisation und Neu-Strukturierung des bekannten Erzählgerüsts bedingen. Kürzung erscheint hier als literarische Technik im Dienste einer spezifischen Textsemantik, deren Qualität sich im Spielraum von Erzähltradition, Rezipientenwissen und Gattungsre‐ ferenz entfaltet. Die im folgenden skizzierten Beobachtungsebenen lassen sich für die neue Sinnkonstitution und modifizierte Akzentsetzung des ›alternativen Anfangs‹ in Anschlag bringen. Strophenform Die metrische Bauform indiziert, auch wenn in der Handschrift keine explizite Markierung der strophischen Einheiten vorgenommen worden ist, die Perpetuierung der heldenepi‐ schen Tradition. Gerade angesichts der im Spätmittelalter zunehmenden Tendenz zur prosaischen Abfassung gerade auch narrativer volkssprachiger Texte, gewinnt die Frage der Form eine besondere Dynamik. 603 Vor dem Hintergrund einer Ausdifferenzierung des 198 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="199"?> 604 Zu Heldenbüchern als Dokumenten eines spätmittelalterlichen Sammelimpetus vgl. J.-D. Müller, Sammeln (2012), bes. S.-558. 605 Kornrumpf, Strophik (1981), S.-319. 606 Nur wenige der mittelhochdeutschen höfischen Romane gelangten in den Druck, und auch das nur über eine Auflösung in Prosa (z. B. Wilhelm von Österreich [1481], Tristrant [1484], Wigoleis [1493]). Dazu Kornrumpf, Strophik (1981), S.-342f., sowie zusammenfassend Kap.-3.1.2.4. 607 Kornrumpf, Strophik (1981), S.-331. 608 Vgl. summarisch Hoffmann, Das Nibelungenlied (1992), S.-114f. literarhistorischen Kontinuums in einer gewandelten medialen Umgebung unterliegen die heldenepischen Strophenformate (wie z. B. der Bernerton, Hildebrandston, die Nibelun‐ genstrophe) einem Spannungsverhältnis, das mit einem Funktionswandel der ›alten‹ Form einhergeht. Die Strophe wird einerseits zum Träger eines Gattungsbewusstseins, das sich in der Etablierung eines Heldenbuch-Konzepts im Spätmittelalter konstituiert, 604 andererseits zum Repräsentationsmedium einer »umfassende[n] Helden-Welt«, 605 innerhalb derer der Einzeltext in einer zyklischen Struktur von intertextuellem Verweischarakter situiert wird. Die potentielle Sangbarkeit der Strophe nimmt auf genuin volkssprachige Erzähltraditionen Bezug und profiliert diese gegenüber der zeitgenössischen Dominanz der Prosa vor allem im Kontext des romanhaften, aber auch chronikalischen oder legendarischen Erzählens. 606 [D]ie Strophe dient, gerade da, wo die Heldendichtung in der späten Überlieferung am konse‐ quentesten und ›öffentlichsten‹ als Lese-Buch auftritt, als Indikator ihrer Zugehörigkeit zur nicht-chronikalischen, ›gesungenen‹ Tradition […]. 607 Als literarisches Muster aktualisiert die Strophenform, hier: die Nibelungenstrophe, zu‐ gleich ein Schemawissen um die narrative Spezifik sowohl der Gattung im Allgemeinen als auch - auf der Ebene unterhalb der Systemreferenz - der syntaktischen Einheit im Besonderen. Unverkennbares Merkmal der nibelungischen ›Bauform‹ sind Prolepsen auf den Untergang, die vorzugsweise in der letzten der vier Langzeilen, und hier mit einer Betonung auf dem Abvers realisiert werden. Denn im Gegensatz zu den ersten drei ist der letzte Abvers vierhebig wie die Anverse und erscheint oftmals, unter Ausfall der Senkungssilbe, mit einer ›beschwerten Hebung‹, die den Abschluss der Sinneinheit in metrischer Hinsicht akustisch betont und deswegen eine besondere Aussagefunktion übernehmen kann. 608 Die durch charakteristische Vorausdeutungen auf kommendes Unheil etablierte paradigmatische Struktur der Dichtung wird auch im ›Einleitungsteil‹ des n-Liedes (wenn auch nicht immer gleich konsequent) aktualisiert und zwar mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Siegfrieds Ermordung und ihren fatalen Folgen. Schon in der dritten Strophe wird Siegfrieds Tod von der öffentlich bloßgestellten Brünhild insinuiert: Syffert der starck wyrt dar umb vergyßen sin blut (n 3,4). Auch im Kontext der Jagdvorbereitungen, der Bereitstellung von vil scharpen garn (n 6,3) zur Erlegung von Bären und anderen wilden Tieren, deutet eine rhetorische Frage des Erzählers bedeutungsvoll auf eine andere Intention der Jäger hin: […] sye wolden jagen swin Bern vnd wilde dyrer. was kont freysamer gesyn? (n-6,3f.) 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 199 <?page no="200"?> An Dynamik und Frequenz gewinnen die Vorausdeutungen aber erst mit Siegfrieds Tod. Deswegen kommt Kriemhild auf ›böse Gedanken‹ (Des gewan frauw Kremhylt manchen bosen gedang, n 10,4), und das umso mehr, als sie den Verrat erkennt (No erken got von hymel, ab das nit mortlich wer gethan, n 11,4) und daraufhin Rache schwört (»[…] Er kann sych kume gefrysten, ys muß jm an das leben gan.« n 13,4). Letztlich avanciert das Begräbnis zum Kulminationspunkt der Trauer: Da von vil manchem recken wart groß schade bereyt. (n-14,4). Mord und Rache bilden also nicht nur in inhaltlicher Hinsicht den Fokus des ›Einlei‐ tungsteils‹ n 1-20, sondern werden auch über die formale Struktur der Strophen als Kausalzusammenhang und als das zentrale Movens für die anschließend auserzählte Untergangshandlung modelliert. Eine Konstellation, deren innere Logik durch Verweise auf Kriemhilds Leid am bedeutungsvoll betonten Strophenbzw. Versende herausgearbeitet wird. Selbst nach dem Verstreichen von 30 Jahren und der Hochzeit mit Etzel ist Kriemhilds Trauer ungebrochen: Noch dan claget sye sere Syffert, das wißet ane wan, Syfferten den degen edel, yren aller liebsten man. (n-15,3f.) Erst die neue Verbindung eröffnet zuvor ungeahnte Möglichkeiten: Da wolt sye erst rechen yr aldes vngemach. Davon manchem helden kune großer schade geschach. (n-18,3f.) Die metrische Bauform der Nibelungenstrophe zitiert im dicht formulierten ›Einleitungs‐ teil‹ der Hs. n das Erzählkontinuum als Ganzes an und hält damit den in extremer Reduktion präsentierten Anfang auf das Ende hin transparent. Mit den Prolepsen wird dabei die Handlungsebene mit dem Erzählerdiskurs verschränkt und der Anfang der ›Geschichte‹ signifikanterweise nicht im Sinne einer chronologischen Erzählfolge gefasst, sondern in systematischer Hinsicht auf ein für das Untergangsgeschehen ursächliches Momentum zurückgeführt: eine eindeutige Verkettung von Ursache und Wirkung, die, vom Königinnenstreit ausgehend, Siegfrieds Ermordung und diese wiederum Kriemhilds Racheverlangen nach sich zieht. Ein Blick auf die programmatische Schlussstrophe der Dichtung in Hs. n zeigt, dass gerade der in n 1-20 inhaltlich und formal begründete Kausalzusammenhang auf die Rachehandlung als Gravitationszentrum der vorliegenden Version des Nibelungenliedes zielt (hier noch einmal): hye hat ein ende fraw Chremhylten hochtzit, Dye wart gemacht in großem haß vnd nit. Da von manch stoltz helt dot lyt. Auch wart sye von Hilbranden zuhauwen zu derselben zyt. (n-900) Der alternative Anfang fungiert indes nicht im Sinne einer ›Verkürzung‹, d. h. der Reduktion - auch im Hinblick auf Komplexitätskriterien - vorgängiger Handlungsstruk‐ turen und Sinnhorizonte. Diese werden in gezielten Referenzen auf ein literarisches (Gattungs-)Wissen durchaus präsent gehalten (dazu gleich mehr). Das Verfahren der Kürzung arbeitet im Fall der Redaktion n vielmehr einer Verdichtung des Erzählten zu in dem Sinne, dass aus der umfangreichen Vorgeschichte einige wesentliche Konstel‐ 200 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="201"?> 609 Zur Diskussion der Forschung (mit weiterführender Literatur) vgl. Saurma-Jeltsch / Eisenbeiß (Hg.), The Power of Things (2010); Mühlherr u. a. (Hg.), Dingkulturen (2016). - Mit besonderer Berücksichtigung der höfischen Epik vgl. Selmayr, Der Lauf der Dinge (2017). 610 Terminus nach Gebert, Mythos als Wissensform (2013), S. 300. Als ›Module‹ sind »wiederkehrende ›Grundelemente‹« des Erzählens zu verstehen im Sinne einer »festen Koppelung von semantischen Kernen (wie z. B. Eintritt, Zweikampf, Massenschlacht) mit jeweils spezifischen Erzählmodi«. (Ebd., S.-304 u.-311). 611 Vgl. dazu Kap.-2, Anm.-584. 612 Vorderstemann, Eine unbekannte Handschrift (1976), S.-121. 613 Zur ›Arbeit am Schema‹ in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. zusammenfassend Schulz, Erzähltheorie (2012), bes. S.-159-290. lationen selegiert und neu geordnet werden. Kürzung erscheint insofern als integrale Strukturkomponente eines alternativ akzentuierten Narrativs, die am nur andeutungsweise präsentierten ›Systemwissen‹ teilhat und zugleich eine spezifische Deutungsdimensionen fokussierende Anschlusskommunikation ermöglicht. Figuren und ihre ›Dinge‹ Die Referenzen auf das übergeordnete Gattungskontinuum erfolgen in n 1-20 nicht nur über die formalen Aspekte der Strophenstruktur, sondern auch über das Aufrufen von Namen und der ihnen zugeordneten Objekte. 609 Sie rekurrieren auf spezifische, im kultu‐ rellen Gedächtnis verankerte Erzählzusammenhänge und aktualisieren diese auf der Basis einer prototypischen, d. h. für ein umfangreicheres Sujet bzw. ein ›Erzählmodul‹ kennzeich‐ nenden Konstellation. 610 So markiert der Streit der Königinnen den Ausgangspunkt, wobei die Kontrahentinnen entgegen der bekannten schriftlichen Nibelungenlied-Tradition in vertauschten Rollen agieren. 611 Die Stilisierung Brünhilds zur Herausforderin mag vorder‐ gründig als »rätselhafte Vertauschung« 612 wirken, erscheint aber im neuen Zusammenhang aus handlungslogischer Perspektive durchaus folgerichtig. Der Anfang des Textes (n 1-3) verzichtet auf jegliche Kontextualisierung der Szene, die damit zu einem literarischen Schema des Frauenzanks auf der Basis eines Männervergleichs umfunktionalisiert ist. 613 Dass Brünhild im Rahmen dieses Rangstreits als erste die Konfrontation sucht, dient einer Zuspitzung zweier Vergleichsebenen auf engstem Raum: der sozialen Ordnung, wie sie Brünhild artikuliert (»ich han myr eynen man, / An dem dyeße rych wol sycherlich musten stan.« n 1,3f.), und der sexuell definierten Geschlechterordnung, über die Kriemhild ihren Vorrang behauptet: Da sprach frauw Kremhylt: »das mocht gar wol syn, Lebt anders nyemant dan du vnd der man dyn. Syffert der vil kune dyr din magetum nam. Syech her an myn hende, wo ich das wartzeychen han! « (n-2) Das mit diesen Worten zur Schau gestellte wartzeychen (n 2,4) fungiert als Substitut der für diese Szene ursächlichen Ereignisse mitsamt des Bettbetrugs (vgl. Bo 667-678), freilich ohne präziser konturiert zu werden. Das ist offenbar auch gar nicht nötig gewesen, tritt doch das wartzeychen (n 3,1) in Brünhilds Reaktion auf die öffentliche Demütigung an die Stelle eines umfangreicheren, eigenständigen Erzählkomplexes. Dieser wird zu Beginn der Dichtung in 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 201 <?page no="202"?> 614 Einschlägig Haferland / Schulz, Metonymisches Erzählen (2010), S.-3-43. 615 »Man gewinnt den Eindruck, daß den n-Bearbeiter Gestaltung von Gesellschaft weniger interes‐ siert.« Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S.-18. 616 Namen als Chiffren für kulturelle Wissenskontexte auf der Basis des ›intellektuellen Kontrakts‹ beschreibt Henkel, Reduktion (2017), bes. S.-43-49. 617 Zum Konzept des Objekts als Bedeutungsträger (Semiophor) vgl. Pomian, Der Ursprung des Museums (1988), bes. S. 49. Zur produktiven Anwendung auf die mittelhochdeutsche Literatur vgl. Selmayr, Der Lauf der Dinge (2017). 618 Zu den Elementen aus der Thidreksbzw. Völsungasaga siehe oben, S.-196. Hs. n in einer modellhaften Szene komprimiert, die über die Namen der Protagonistinnen und das vieldiskutierte Objekt geradezu metonymisches Potential entfaltet. 614 Zu diesem ›voraussetzungsreichen‹ Erzählen gehört auch der Umstand, dass kaum eine der Figuren eingeführt bzw. in der sozialen Hierarchie der Gesellschaft verankert wird. 615 Nur Kriemhild, Gunther und Etzel werden die Status-Attribute konigyn (n 14,3) bzw. konig (n 6,1; n 15,2) zuteil; ferner werden Kriemhild und Hagen in verwandtschaftliche Relation zu ihren ›Kontrahenten‹ Gunther (myn swester, n 5,1) und Siegfried (syn swager, n 10,2) gesetzt. Die nibelungischen Namen bilden jeweils markante Indikatoren einer umfangrei‐ cheren ›Geschichte‹, deren Reduktion auf elementare Grundzüge eine Verankerung im kulturellen Gedächtnis der Zeit rekurriert. Die bloße Anspielung scheint zum Aufrufen des dahinterstehenden Kontexts und Diskurshorizonts ausgereicht zu haben. 616 Durch eine ähnliche Struktur zeichnet sich der Umgang in n 1-20 mit dem weiteren Figurenpersonal aus, das auf die wesentlichen Konstellationen reduziert ist und hand‐ lungsrelevante Oppositionen sowie personale Bindungen aufruft: Brünhild, die Siegfried bei Gunther anklagt (n 4); Gunther und Hagen als Initiatoren des Mordes an Siegfried (n 6); Hagen und Kriemhild, die ihren Mann nicht zur Jagd gehen lassen möchte und diese dennoch nicht zu verhindern weiß (n 7-9); Kriemhilds Erwachen neben dem Toten (n 12; n 13); schließlich ihre neue Bindung an den Hunnenkönig Etzel (n 17; n 18). Jede der genannten Konstellationen repräsentiert einen umfassenderen Aspekt im größeren Erzählzusammenhang von den Nibelungen, der jeweils mit den Namen und den mit ihnen verbundenen ›Beziehungsnetzen‹ verknüpft ist. Dabei übernehmen die Objekte als bedeutungstragende Aktanten im übergreifenden narrativen Arrangement eine ähnliche strukturbildende Funktion wie die Figuren, denen sie zugeordnet sind. 617 So fungiert nicht nur das wartzeychen als Referenzmarker für vorausgegangenes Geschehen, sondern auch die zur Jagd präparierten schneidend ›scharfen‹ Netze (vil scharpen garn, n 6,3), die eine andere Beute als das zu erjagende Wild erahnen lassen. Die Nennung von Siegfrieds verwundbarer Stelle zwischen den Schulterblättern (n-10,1), die Lokalisierung des Mordes an einer kühlen Quelle (Vber eym kalden born, n 10,3) sowie der unversehrte Schild des Helden (n 13,1) oder die Anspielung auf Kriemhilds Befreiung vom Drachenstein (n 8,4) zitieren Versatzstücke unterschiedlicher Traditionen an, 618 von denen jedes auf ein spezifisches Erzählgerüst Bezug nimmt, dessen Kenntnis bei den zeitgenössischen Rezipienten vorausgesetzt werden konnte. Die Kombination der bekannten Elemente in einer neuen narrativen Ordnung bietet zwar eine auch ohne vertiefte Kenntnisse verständ‐ liche ›Kurzform‹ des literarisch produktiven Erzählkontinuums von den Nibelungen bzw. 202 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="203"?> 619 Jemandem, der außerhalb der nibelungischen (mündlichen wie schriftlichen) Erzähltradition stand, bot die ›Einleitung‹ des Textes in n 1-20 »für das Verständnis des Folgenden unbedingt notwendige Informationen«. Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S. 11. Freilich muss der Redaktor der Hs. n mit einem kundigen Publikum gerechnet haben; das dokumentiert der bewusste Verzicht auf das Auserzählen von Details bei gleichzeitig evidenter Anspielung auf weiterführende Kontexte. 620 Vgl. zur ›ursprünglichen‹ Verwendungsweise des Begriffs Waltenberger, ›Bedeutungsschwanger‐ schaften‹ (2019), S.-30. Siehe dazu die Ausführungen in Kap.-1.1. 621 Die Textherstellung unter Zugrundelegung mehrerer Vorlagen bespricht Kofler, Nibelungenlied n (2014), bes. S.-78-90. Siehe dazu oben, Kap.-3.3.1. 622 Siehe zu den nordischen Erzähltraditionen oben, S.-196. 623 Zur Diskussion siehe weiter unten, Kap.-2.3.4. genauer: von Siegfrieds Ermordung, 619 hält diese aber zugleich auf den übergeordneten heldenepischen Bezugsrahmen hin offen. So wird die der Stofftradition inhärente Dynamik in einer modellhaften Anordnung verdichtet, aber so prägnant im wörtlichen Sinne, 620 dass deren Vielschichtigkeit durch eine Referentialisierung mit textexternem (Gattungs-)Wissen im Prozess der Lektüre schrittweise erfahrbar gemacht werden kann. Zeit- und Erzählstruktur Die Feststellung, dass die knappe Hinführung zur Untergangshandlung in n 1-20 in zwei Teile zerfällt, gilt auch im Hinblick auf strukturelle Aspekte der Narration. Es fällt auf, dass vor allem der erste Teil (n 1-14) auf wenige Einzelszenen fokussiert, während der zweite (n 15-20) eine Zusammenfassung im engeren Sinne bietet, d. h. eine sich auf die Kernelemente beschränkende Darstellung des narrativen Progresses. Mit der Unterredung der Königinnen (n 1-3), der Planung und Durchführung der Jagd (n 4-10), der Kemenatenszene (n 11-13) sowie der anschließenden Bestattung Siegfrieds (n 14) werden die wesentlichen Stationen der ›Vorgeschichte‹ erfasst und zu kompakten Erzählmodulen gebündelt bzw. neu geordnet. Dabei wird das dem Redaktor zur Verfügung stehende schriftliche Vorlagenmaterial (vermutlich: zu unterschiedlichen Fassungen sich gruppie‐ rende Handschriften des Nibelungenliedes) 621 mit mündlich kursierendem Sagenwissen ergänzt. 622 Diese Reminiszenzen halten den Text auf das hinter seiner schriftlichen Form stehende Erzählkontinuum transparent. Sie evozieren durch die Amalgamierung mit den auf das Nibelungenlied rekurrierenden sprachlichen Elementen sowie den über Namen und Objekte aufgerufenen Systemreferenzen den Eindruck von narrativer Bezugsdichte auf engstem Raum. Eine nur scheinbare Grundparadoxie, die für die Einschätzung der historisch sinnfällig werdenden Wahrnehmung der abbreviatio als Changieren zwischen Fülle und Mangel ganz wesentlich ist. 623 Die innere Gliederung der jeweils zu einer szenischen Geschlossenheit tendierenden Erzählmodule erfolgt - bis auf den Kontext der Jagd (n 6; n 10; n 11) und die Begräbnis‐ szene (n 14) - über direkte Reden, die die konflikttragenden Figurenkonstellationen in modellhafter Reduktion etablieren. Kennzeichen der Narration ist damit ein diskursives Moment, das Handlung gleichsam gefiltert durch die Perspektive der Figuren ›verbalisiert‹. Die auffällige Strukturierung von n 1-13 durch inquit-Formeln (Da sprach frauw Brunhylt, n 1,3; Sye sprach, n 4,2 et passim) folgt einer Steigerungsdynamik, die die kontrastierenden ›Parteien‹ (Kriemhild vs. Brünhild, Gunther, Hagen) einander gegenüberstellt und den 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 203 <?page no="204"?> 624 Figuren des Anfangs als narratologische Kategorien untersucht Leuzinger, Heroische Anfänge (2015), S.-50-72. Dialog zugleich als Signum einer unaufhebbaren Differenz von Standpunkten einzieht. So ist es Kriemhild, die - provoziert zwar - mit dem Vorweisen des wartzeychen Siegfrieds Tod besiegelt (n-1; n-2); Gunthers Antwort ist eindeutig: Er sprach: »was vch myn swester Kremhylt zu leyde hat getan, Das mag dem hylt Syffert wol an das leben gan. […]« (n-5,1f.) Auch widersetzt sich Kriemhild Gunthers und Hagens Aufforderung, Siegfried möge sie zur geplanten Jagd begleiten, vehement (Dorch nyemants wyllen so lyhen jch uch sin nit, n-8,2), doch letztlich ohne Erfolg. Vielmehr wird mit Hagens zynischer Versicherung eine weitere Eskalationsstufe des mit dem wartzeychen initiierten Konflikts eingezogen, die Siegfried zum Objekt und zu Kriemhilds ›wundem Punkt‹ funktionalisiert: »Wyr brengen jne werlich herweder schyr gesont, Es sy dan das eyn, das jne yrre der dot.« (n-9,2f.) Die erbitterte Unversöhnlichkeit der Gegner - denn als solche werden die Figuren in n 1-14 konsequent präsentiert - gipfelt in Kriemhilds ›Gespräch‹ mit dem Toten, der den Akt der Vergeltung, zu deren Medium er selbst geworden ist, spiegelbildlich auslöst: »[…] Nyemant yst so kune, der dyr ys hab gethan, Er kann sych kume gefrysten, ys muß jm an das leben gan.« (n 13,3f.) Dass es sich dabei um eine Steigerungsfigur handelt, lässt sich an der programmatisch am Ende des Abschnitts platzierten Vorausdeutung ablesen: Da von vil manchem recken wart groß schade bereyt. (n-14,4). Mit der Fokussierung auf Einzelszenen und die schwerpunktmäßig dialogisch verfah‐ rende und insofern intern fokalisierte Narration stellt sich eine spezifische Zeit- und Raumstruktur des ersten Teils (n 1-14) ein, die sich eklatant von der Zusammenfassung der Ereignisse nach Siegfrieds Tod (n 15-20) unterscheidet. Hauptsächliches Merkmal ist die relative Zeit- und Ortlosigkeit des Anfangs, die die Handlung in medias res beginnen lässt und so deren kognitive Einordnung in ein übergeordnetes kulturelles Erzählparadigma voraussetzt wie zugleich evoziert: 624 Der Königinnenstreit ist nicht näher lokalisiert (frauw Brunhylt vnd frauw Kremhylt da zusamen gesaßen, n 1,1); dass es sich um einen öffentlich zugänglichen und damit für die Allgemeinheit sichtbaren Ort handeln muss, deutet Brünhilds Klagerede gegenüber Gunther an (das horten frauwen vnd man, n 4,4). Ansonsten erscheinen die direkten Reden in auffälliger narrativer Reduktion geradezu kontextlos: Sowohl die Unterredung von Brünhild und Gunther (Frauw Brunhylt ging von dan, da sye konig Gonter fant, n 4,1) als auch diejenige von Hagen und Kriemhild sind unspezifisch in ihrem ›Setting‹; einzig Kriemhilds Ansprache an den ermordeten Siegfried hat mit der Kemenate (n 11,2) einen festen, als private Sphäre konnotierten Ort, allerdings wird dessen Nennung aus der ›Gesprächsszene‹ in eine der narrativen Passagen ausgelagert. Im eigentlichen Sinne erzählt werden nur vier Schlüsselmomente, die für die Untergangs‐ handlung von zentraler Bedeutung sind: Die Planung der Jagd (n 6), Siegfrieds Ermordung 204 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="205"?> 625 Vgl. Reichlin, Zeit - Mittelalter (2019), S. 181-193. Am Beispiel des Rolandsliedes vgl. Reichlin, Nach- oder Nebeneinander? (2012), S.-167-205. durch Hagen (n 10), die Platzierung seines Leichnams in Kriemhilds Bett (n 11) und seine Bestattung (n 14). Die Strophen bilden jeweils Sinneinheiten, die eine narrative Beschleu‐ nigung gegenüber dem Dialogmodus bieten, der aktuelles Erleben favorisiert, und mittels temporaler Marker die jeweilige Gegenwärtigkeit der Sprechsituationen durchbrechen. Dazu zählt z. B. der Einsatz von Zeitadverbien oder parallel gestalteter Gefüge innerhalb von Handlungsabläufen, wie im Kontext von Siegfrieds Ermordung: Da stach jn syn swager zu den schultern hynden jne (n-10,2) […] Sye namen jne also dot als sye der konig hyeß. Sye trugen jn in dye kemenaden, da dye frauw in slyff. Sye leyten jn yr an yren arm […]. (n-11,1-3) Die anaphorische und zudem asyndetische Struktur der Passage evoziert ein erhöhtes Tempo der Narration, die die aufeinander folgenden Handlungsabläufe stringent forciert. Effekt dieser Erzähltechnik ist eine dynamische Bewegung zwischen der Fokussierung auf figureninterne, den Handlungsprogress retardierende Perspektiven und einem davon distanzierteren Erzählstandpunkt, der in typischem Gestus der Nibelungenstrophe mit pointierten Kommentaren und Prolepsen arbeitet: No erken got von hymel, ab das nit mortlich wer gethan. (n 11,4). Die Zeitstruktur von n 1-14 erscheint also durch punktuelle, dialogisch arrangierte Retardation und gezielte (Zeit-)Raffung gleichsam ›rhythmisiert‹ 625 und insofern dynamisiert, als durchgehend Referenzen auf heldenepisches Wissen einge‐ spielt werden, die das Vergangene in die Gesprächs- und Erzählgegenwart hereinholen und auf Künftiges beziehbar machen. Dass die Strophen n 15-20 sich als eigentliche ›Kurzfassung‹ der Ereignisse nach Siegfrieds Tod lesen lassen, wurde bereits erläutert. Dieser Aspekt lässt sich insbesondere an der temporalen Strukturierung der Passage beobachten. Denn hier findet eine konkrete zeitliche Fixierung der Rachehandlung statt. Exakt dreißig Jahre nach Siegfrieds Tod heiratet Kriemhild den Hunnenkönig Etzel: dYe [sc. Kriemhild] in dryßig jaren nye keyn frolichen tag gewan, Ee dan das sye da zu den Hůnen den rychen konig Etzel genam, Noch dan claget sye sere Syffert, das wißet ane wan, Syfferten den degen edel, yren aller liebsten man. (n-15) Die Strophe n 15 bildet eine Art Scharnierstelle, die die beiden im ›Einleitungsteil‹ des Textes thematisierten Handlungsstränge miteinander verbindet. Ihr Einsatz mit einem Demonstrativum (dYe [sic], n 15,1) bezieht sich einerseits zurück auf die vorausgehende Begräbnisstrophe und akzentuiert die durch keine temporale Distanz zu stillende Trauer der Königin (Dye konigyn Kremhylt hat da vil großes leyt, n 14,3), während der zweite Vers (n 15,2) die mit der nächsten Strophe einsetzende Erzählung vom Zustandekommen der neuen Ehe vorwegnimmt. 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 205 <?page no="206"?> 626 J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-158. Diese ist wiederum Ergebnis ›zeitlicher‹ Umstände: Das was by den zytten, das frauw Herch starb (n 16,1). Hiermit beginnt ein narratives, extern fokalisiertes ›Abschreiten‹ der einzelnen Ereignisse, von denen jeweils in rascher Folge nur die zentralen, für ein zusammenhängendes Verständnis notwendigen Elemente genannt und in einem tempo‐ ralen Nacheinander präsentiert werden: Helches Tod (n 16), Etzels Werbung (n 17), Kriemhilds Ankunft im Hunnenreich (n 18), die Einladung der Burgunden, die durch Etzels Tod begründet wird (n 19). Strophe n 20 leitet mit den Vorbereitungen der Reise zum eigentlichen Haupttext über. Die Erzählgeschwindigkeit ist im Vergleich zu den changierenden Perspektiven und Tempowechseln in n 1-14 merklich erhöht. An die Stelle retardierender Momente durch dialogische Partien tritt ein faktenorientiertes Erzählen, das die Modellierung zeitlicher Sukzession in den Vordergrund rückt. Deutlich wird dies an einer Häufung von Tempusmarkern, die in n 1-14 (mit Ausnahme der genannten Erzählpartien) fast gänzlich fehlen: by den zytten (n-16,1); Da ryeden jm [sc. Etzel] dye synen (n-16,3); Als sye [sc. Kriemhild] der konig Etzel zum ersten da ersach (n-17,3); Als dye frauw Kremhylt kam jn das selbe lant (n-18,1); Da wolt sye erst rechen yr aldes vngemach (n-18,3); Kremhylt […] sant da boden vß (n-19,1); Das er [sc. Gunther] balde keme (n-19,3); Konig Etzel wer verscheden (n-19,4). Das temporale Ordnungsprinzip der Narration in n 15-20 favorisiert eine lineare Ab‐ folge der Handlung gegenüber der in n 1-14 dominierenden ›integrativen‹ Organisati‐ onsstruktur, die über Fokalisierungswechsel einen affizierenden Gestus der erzählten Ereignisse erzeugt. Damit kommen zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Kürzung nebeneinander zum Stehen. Erstens, eine Verdichtung, die den Prätext auf wenige Ele‐ mente und Szenen kondensiert und in ein eigenständiges ›Mini-Narrativ‹ transformiert, in dem verschiedene Erzählverfahren kombiniert werden. Zweitens, eine stärker auf erzählerische Sukzession abgestellte ›Zusammenfassung‹. Als gemeinsames Merkmal dieser beiden Kürzungs-Formate fungiert die Aktualisierung von gattungsrelevantem Hintergrundwissen, das über nibelungische Figurenamen und Objekte als einer spezi‐ fisch referentialisierbaren Verweisstruktur aufgerufen wird. Was dahinter aufscheint, ist durchaus ein intellektueller Anspruch, der jenseits des konkret Erzählten liegende Wis‐ sensdimensionen inkorporiert. Gerade der ›Einleitungsteil‹ der Handschrift n (1-20) ordnet das Geschehen »in sagengeschichtliche Zusammenhänge jenseits« der schriftlich fixierten Textgestalt des Nibelungenliedes ein und verankert sie in »einer umfassenden Erzählwelt«, die eine »überindividuelle[ ] Gedächtniskultur« manifestiert. 626 Kürzung erscheint hier, so 206 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="207"?> 627 Die Parallelstellen zum n-Text folgen für Hs. B Bartsch / de Boor (Hg.), Das Nibelungenlied (1959) [Sigle: Bo]; für Hs. C Hennig (Hg.), Das Nibelungenlied (1977) [Sigle: He]. 628 Siehe oben, Kap.-2.3.1. 629 Am Beispiel von n 83-88 bespricht Hennig (Die Nibelungenhandschrift n [2000], S. 430) die »Verschränkung von Nôt- und Liet-Strophen«: »Auf die Strophe B 1583 folgen die Strophen C 1621, 1622 und 1623; danach erst die Abschlußstrophen von B 1584 und 1585.« Dieser Befund könnte, so Hennig, ebd., »auf eine ältere Stufe der Bearbeitung innerhalb der Vorgeschichte von n weisen.« 630 Dabei erscheint »ein und dieselbe Strophenreihe nacheinander in der ›Not‹- und ›Lied‹-Version«. Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S. 331. Diese Beobachtung führt Heinzle am Beispiel der Volker-Szene in n 512-517 aus (ebd., S. 331-333). Weitere Stellen bei Göhler (Hg), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S.-14. 631 Vgl. die Zusammenstellung bei Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-103-106. 632 Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-109. 633 Vgl. Hufnagel, Das Nibelungenlied im 15. Jahrhundert (2021). - Zum Ansatz einer Bewertung der unterschiedlichen Varianten innerhalb der Nibelungenlied-Überlieferung nach semantischen Gesichtspunkten jetzt J.-D. Müller, Varianz (2023), bes. S.-165-206. lässt sich resümieren, als Prinzip der Selektion, Re-Organisation und Neu-Strukturierung eines umfassenden Bezugsnarrativs mit dem Ziel, die für den Untergang kausallogisch einschlägige Motivation freizulegen. In dieser reduktiven Tendenz der Kürzung werden zugleich Momente des Transgressiven emergent, die den umfassenden Kontext, in den die Kürzung eingelassen ist, durch sinnträchtige Reminiszenzen präsent und somit jederzeit für kundige Rezipienten abrufbar halten. 2.3.3 Die Potentialität des Textes. Kohärenz durch Summenbildung Die ›Kurzerzählung‹ der Vorgeschichte führt mit n 21 zum eigentlichen Haupttext der Handschrift über, der mit den Reisevorbereitungen der Burgunden am Anfang der 25. Âventiure des Nibelungenliedes einsetzt (Bo 1520 / He 1554). 627 Wie die Forschung herausgearbeitet hat, zeichnet sich dieser durch eine markante Verschränkung von *B- und *C-Lesarten und -Strophen aus. 628 Dies dokumentieren nicht nur zum Teil mitten in der Strophe erfolgende Vorlagenwechsel, 629 sondern eine regelrechte Verdoppelung einzelner Erzählsequenzen durch eine Kumulation der aus den verwendeten Vorlagen entnommenen und nebenbzw. nacheinander ›montierten‹ Strophen. 630 Mit dieser Tendenz korrelieren zahlreiche eigenständige Erweiterungen, die sich in 80 für Hs. n gegenüber der *B- und *C-Fassung exklusiven Strophen formieren. 631 Damit wird ein »Streben nach Vollständigkeit« 632 greifbar, das auf den ersten Blick der eklatanten Kürzung der ersten 24 Âventiuren diametral entgegensteht. Im Kontext der semantischen Dimensionen, die in den Erweiterungen Ausdruck gewinnen, sowie im Hinblick auf den rekonstruierbaren Überlieferungsverbund lässt sich jedoch zeigen, dass im Falle der Hs. n die Verfahren der abbreviatio und amplificatio zwei komplementäre Modi des Textarrangements bilden, die beide e i n e m Ziel zuarbeiten: die Potentialität bzw. Optionalität der im ›Text‹ - als Summe seiner schriftlich fixierten wie mündlich kursierenden Versionen - angelegten Deutungsstrukturen auf ein im Spätmittelalter offenbar dominantes Paradigma, das zykli‐ sche Erzählen von einer ›Heldenwelt‹, hin zu ordnen. 633 In Kriemhilds Rachebegehren konstituiert sich ein Erzählmotiv, das vor dem Hintergrund der in den Rosengarten-Dich‐ 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 207 <?page no="208"?> 634 Zu den Referenzen auf den Rosengarten in Hs. n (n 8; 264; 368) siehe Kofler, Nibelungenlied n (2014), S. 78, 92, 106 f. Vgl. hierzu oben, Kap. 2, Anm. 570. - Zur Einbettung des Nibelungenlieds n in den spätmittelalterlichen »Kriemhild-Dietrich-Diskurs« Heinzle, Wiedererzählen (2005), S. 156-158, hier: S.-156. 635 Der Fokus in Hs. n liegt, so Botschan (Der bewegliche Text [2011], S. 234), auf der Reise der Burgunden in den Untergang. Zur »heroische[n] Identität der Burgunden« als Fokus des Textes vgl. auch Hufnagel, Zum Wiedererzählen des Nibelungenliedes (2020), S.-397. 636 Vgl. die Vorüberlegungen in Frick, abbreviatio (2018), S.-37-50. 637 Exemplarisch Masser, Von Alternativstrophen (1981), S.-299-311. 638 Dass der ›Hauptteil‹ in Hs. n auf der Basis mehrerer schriftlicher Vorlagen gearbeitet ist, dürfte wohl kaum zu bezweifeln sein. Vgl. Göhler (Hg.), Eine spätmittelalterliche Fassung (1999), S. 14; Hennig, Die Nibelungenhandschrift n (2000), S. 429f. Heinzle (Zu den Handschriftenverhältnissen [2008], S. 334) sieht Hs. n als Beleg dafür, »daß man in den Schreibstuben tatsächlich verschiedene Fassungen des Nibelungenliedes verglich und kompilierte«. Die »permanente Nutzung von zwei Vorlagen« ist nachgewiesen von Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-109. 639 Zu dieser Stelle vgl. Heinzle, Die Handschriftenverhältnisse (2008), S.-331-333. tungen entworfenen Konstellationen produktiv instrumentiert werden konnte, 634 um die Heroisierung des burgundischen Personenverbandes im Rahmen der Untergangshandlung als sinnfälliges Zentrum des Textes herauszuarbeiten. 635 Diesem Zweck dient auf der einen Seite die evidente quantitative Schwerpunktsetzung durch die Kürzung von rund zwei Dritteln des ursprünglichen Versbestandes. Auf der anderen Seite bedingt die gewählte Akzentverschiebung Einfügungen und Zusätze, die die neue Sinngebung des Textes durch die Implementierung alternativen Strophenmaterials profilieren. Die beiden bereits verzeichneten Ebenen der Erweiterungen sind im Folgenden etwas näher zu skizzieren, um vor diesem Hintergrund die Spezifik der Interaktion von abbreviatio und amplificatio in der Hs.-n präziser zu erfassen. 636 Strophenkumulation und Wiederholung Das Phänomen der sog. ›Alternativ‹bzw. ›Doppelstrophen‹ in der Überlieferung des Nibelungenliedes ist in der Forschung schon lange bekannt. Es wurde vornehmlich in Verbindung mit oralen Varianten der performativen Realisierung des Textes gesehen. 637 Im besonderen Fall der Hs. n handelt es sich freilich wohl kaum um Alternativen für den mündlichen Gesangsvortrag, 638 sondern um den Reflex eines gezielten Sammelinteresses, das die Existenz unterschiedlicher Versionen der jeweiligen ›Textbausteine‹ - und damit je unterschiedlich akzentuierter Bedeutungsnuancen - ostentativ ausstellt. Dieser Aspekt der ›Summenbildung‹ lässt sich am Beispiel einer Szene illustrieren, in der Volker die Hunnen verspottet, die ihrem König - trotz der von Kriemhild auf Hagens Kopf ausgesetzten reichen Prämie (rôtes golt, bürge unde lant, Bo 2025 / He 2079) - nicht beistehen mögen. Die Hs. n bietet Volkers Reaktion zunächst, mit einzelnen Modifikationen im Wortlaut, nach der *B-Version und »wiederholt sie dann, mit der Zusatzstrophe He 2081 einsetzend, nach der *C-Version«: 639 Da sprach von Byrgonden Folcker der spelman: »Ich gesach nye recken so lesterlich stan, Dye vch hern bytten so richen solt. Ja solt vch konig Etzel dar vmb nommer werden holt, [Bo 2026] 208 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="209"?> 640 Die Stellen sind zusammengetragen von Botschan, Der bewegliche Text (2011): u. a. Dietrichs Warnung (ebd., S. 86f.), die Doppelung des Rededuells zwischen Kriemhild und Hagen (ebd., S. 126- 133), Volkers blutiges ›Fideln‹ (ebd., S.-188-191). 641 Vgl. dazu weiter unten, S.-214. 642 Botschan, Der bewegliche Text (2011), S.-228. 643 Botschan, Der bewegliche Text (2011), S.-80. Das yr als lesterlich eßet hye sin brot, Vnd yr jm dach wychet hie in syner großen not. Der sehen ich uwer manchen lesterlichen stan. Ere wolt als sin kvne, yr mußet laster han.« [Bo 2027] Etzel der konig rych hat jamer vnd not. Er claget jemerlich mage vnd der manne dot. Da stont von manchem lande vil recken so gemeyt, Dye weinten alle myt Etzeln sin crefftges leyt. [He 2081] Des begonde spotten der kune Folcker: »Ich sen hye weinen stan manchen recken her. Sye stan yrm hern vbel in siner großen not, Ja eßent hye myt schanden vil lange sin brot.« [He 2082] (n-512-515) Effekt einer solchen Verdoppelung der Redesequenz ist indes keine Redundanz im Sinne einer lediglich additiven Reihung unterschiedlicher Erzählvarianten. Die vordergründige ›Sammlungstendenz‹ arbeitet, wie an zahlreichen vergleichbaren Fällen von Strophen‐ kumulation bzw. auch -interpolation zu beobachten ist, 640 vielmehr einer verstärkten Sinnkonstitution zu, die die im Text angelegten Kohärenzen durch eine syntagmatische Integration verschiedener Versionen zu bündeln sucht. Dass dieser Prozess vor allem über die Profilierung der Figuren geschieht, dokumentieren auch die Exklusivstrophen, die die Rollen der Akteure größtenteils über direkte Reden sowie über die Ausfaltung von Kampfszenen ausbauen. 641 Beispielsweise wird so gerade Volker, neben Hagens Bruder Dankwart, zum »Protagonisten eigenen Rechts« 642 stilisiert. Dass die Integration thematisch verwandten Materials auch auf der paradigmatischen Ebene der Erzählung wirksam wird, lässt sich an der Figur Dietrich von Bern exemplifi‐ zieren. Sein Status als »Instanz der Sympathielenkung« 643 und Gegenspieler Kriemhilds wird gegenüber der *B- und *C-Fassung des Nibelungenliedes intensiviert, indem er die Verschlagenheit der Königin schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen offenlegt und eine Beteiligung an ihrem Vorhaben entschieden zurückweist: »Ich mane vch aller truwe, von Bern vnd Hylbrant, Ab yr ye gabe entphingt von myner geben hant, So recht mych an Hagen, der myr Syfferden erslug! Ja han ich von dem selben großes hertzen leyts gnug.« »So wolt yr rechen uwern alden niet, Vnd wolt sere swechen uwer selbst hochtzit! Neyn, konigin, no laße dye rede stan! 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 209 <?page no="210"?> 644 Vorderstemann ([Hg.], Das Nibelungenlied [2000], S. 26), setzt den Vers n 169,4 in cruces, allerdings ohne weiter auf den Wortlaut einzugehen, der an dieser Stelle der Handschrift vorliegt. Göhler ([Hg.], Eine spätmittelalterliche Fassung [1999], S. 54), vermerkt zu diesem Vers lediglich, dass mene »wohl niene heißen« müsse. 645 Vgl. J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-351f. 646 J.-D. Müller, ›Episches‹ Erzählen (2017), S.-376. 647 »Hs. n […] legt den funktionalen Schwerpunkt [sc. der Interpolationen] klar auf die Strategie verstärkter paradigmatischer Sinnkonstitution, indem sie Themen und Problemkonstellationen der Vorlagen […] variiert und intensiviert.« Botschan, Der bewegliche Text (2011), S.-230. Ich rech Syfferden mene zu rume dan alles das ich han.«  644 (n-168f.) Diese Textstelle hat eine Parallele in n 363-368, worin Dietrich unter Anspielung auf den Rosengarten den Kampf gegen die Burgunden verweigert und Kriemhilds Ansinnen als Unrecht verurteilt: Sye [sc. Kriemhild] sprach zu dem von Bern: »ich such din rat, Drost vnd hulff, wan ys myr komerlich stat.« (n 363,3-4) […] Da sprach myt guden zochten von Bern her Dyetherich: »Das bieden das yst vnbilch, das las bliben, kongin rych! Myr hant dyn frunde zu leyde nicht gethan. Das ich dye forsten edel myt stryde wolt bestan. Des glychen begonte du auch in den rosen rot Vnd wolt auch dynen brudern raden hye in den dot. Sye sint dorch gantz truw komen her in dyß lant. Syffert yst vngerachen von myner hant.« (n 367 f.) Solche Verdoppelungen im Text nahegelegter Konstellationen antizipieren spätere Erzählelemente, die sie gleichwohl nicht einfach eins zu eins abbilden. Vielmehr wird über das Moment der inhaltlichen Referenzierung eine paradigmatische Struktur eingezogen, die auf eine Intensivierung des Wiederholten durch die Variation einiger Details zielt. 645 Im obigen Beispiel etwa verweist Dietrich auf Kriemhilds aus dem Rosengarten bekannte Haltung (n 367,1f.); seine Rede aktualisiert damit außerhalb des vorgängigen Textes liegende Sinndimensionen und situiert die Handlung innerhalb eines Erzählzyklus, aus dem heraus erst das Rachebegehren als irrational und unberechenbar semantisiert wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Themen und Problemkonstellationen der älteren Handschriften des Nibelungenliedes durch Wiederholungen als »typische Mittel epischen Erzählens« 646 variiert werden, um eine verstärkte Sinnkonstitution des Textes zu erreichen. 647 Für die narrative Progression bedeutet das keinen Komplexitätsverlust, sondern eine Steigerung der paradigmatischen Kohärenz, indem die Figuren von Anfang an der Bearbeitungstendenz entsprechend eindeutiger profiliert und Inkonsistenzen insofern konsequenter umgangen werden. Das Nibelungenlied in der Hs. n präsentiert in einem 210 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="211"?> 648 Die Tendenz der Redaktion n liege darin, »den nibelungischen Heroismus in seiner Fremdartigkeit als Faszinosum aus[zustellen].« Botschan, Der bewegliche Text (2011), S. 233. Dazu auch Hufnagel, Das Nibelungenlied im 15.-Jahrhundert (2021). 649 Sie finden sich auch in Hs. b; zur Übereinstimmung Vorderstemann (Hg.), Das Nibelungenlied (2000), S.-25f. Prozess der Selektion und Variation tradierter narrativer Muster und Motive ein Erzählen, dessen Fokus ganz auf die Darstellung des burgundischen Heroismus verlagert ist. 648 Kohärenzlogiken von Kürzung und Erweiterung Die zweite Ebene, die im Kontext der Erweiterungen bedeutsam wird, betrifft das Be‐ mühen um immanente Kohärenz innerhalb der zwei quantitativ ungleichgewichtigen Textteile (n 1-20; n 21-901). Als Folge der Kürzung des ersten Handlungsteils lässt sich nämlich an zahlreichen Stellen ein Motivationsbzw. Informationsdefizit beobachten, das einige Zusätze und Exklusivstrophen durch explikative Tendenzen aufzufangen suchen. Dieser Aspekt betrifft insbesondere solche Passagen des ›Haupttextes‹, die vergangenes Geschehen als kausallogische Motivierung für aktuelles Figurenhandeln aufrufen. Dies gilt zumal für solche Zusatzstrophen, in denen der für Kriemhilds Rachebegehren grundlegende Konflikt, dem infolge der abbreviierten Anfangshandlung seine spezifischen Konturen fehlen, exponiert wird. An die Ankunft der Burgunden (n 161; vgl. Bo 1718 / He 1758) sind 18 Sonderstrophen angelagert (n 162-179), 649 die einerseits Kriemhilds Reaktion auf die Ankunft ihrer Gäste schildern und andererseits Dietrich als ihren Gegenspieler ausstellen. In affizierendem Gestus spricht Kriemhild über ihre noch immer tief empfundene Liebe zu Siegfried: Da ging dye frauw Kremhelt an ein fenster stan. Sye sach vff dem gefylde vil manchen werden man. Des frauwet sich ‹in› yr gemude Kremhylt das edel wip, Sye sprach: »erst wyrt gerachen des starcken Syferts lip, Der myr jn dem walde zu dode wart erslagen. Ich kan jne bys an myn ende nommer meine verclagen. Wee myr sins libes, das ich jne ye gewan! Es lag an frawen armen nye so dogenthaffter man. Wan ich dar an gedencken, wye er von myr reyt Myt synem gesonden libe, so meret sych myn leyt.« Sye begonde heyß weinen, yr augen worden yr naß. »Wer wel myr des verkeren, ab ich dar vmb trage haß? « (n-163-165) Hier werden zwei temporale Aspekte miteinander verschränkt. Die Freude der Königin über die nahende Realisierung ihres Vorhabens bildet einen markanten Kontrast zu ihrer innerlich empfundenen, im Weinen sich öffentlich artikulierenden Trauer über den Verlust des Geliebten. Die knappe Rekapitulation von Siegfrieds Todesumständen rekurriert auf die im ersten Teil des Textes nicht auserzählte Bindung und fungiert insofern als prägnanter Referenztyp, um »den Ausfall des entsprechenden Handlungsstrangs […] ansatzweise 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 211 <?page no="212"?> 650 Botschan, Der bewegliche Text (2011), S.-72. zu kompensieren« 650 bzw. mit literarischem Gattungswissen aufzufüllen. Die Funktion der Rede liegt offensichtlich auf der Legitimierung der Rache durch eine gewaltsam beigebrachte, emotionale Verlusterfahrung. Kriemhlids Rede bildet die Unüberwindbarkeit des Schmerzes geradezu durch topisches Verstummen im Weinen ab, das die Erinnerung an vergangenes Glück wachruft. Sie gipfelt gleichsam symptomatisch im auch metrisch herausgehobenen Schlussvers der Strophe: »Wer wel myr des verkeren, ab ich dar vmb trage haß? « (n-165,4). Der zweite Teil des Einschubs (n 167-178) lässt sich hingegen der eingangs beschriebenen Tendenz zurechnen, durch Wiederholungsstrukturen paradigmatische Bezugsetzungen zu etablieren, die die im Text entworfenen Konstellationen intensivieren und der Nuancierung unterschiedlicher Aspekte dienen, wie am Beispiel von Kriemhilds Bitte um Unterstützung durch Dietrich deutlich geworden ist (s. oben). Darüber hinaus lässt sich in dieser Passage eine weitere narrative Verdoppelung beobachten. Dietrich entsendet Hildebrand, der die Gäste auf die von Kriemhilds Racheplänen ausgehende Gefahr hinweisen soll (n 170-174), bevor er seine Bedenken etwas später - hier wieder gemäß der Vorlagen (Bo 1720 / He 1760) - persönlich vorbringt (n 185-187). Die Warnungen freilich sind keineswegs identisch oder gar redundant. Hildebrand rät den Burgunden, die ihnen zugewiesene Herberge nicht zu beziehen, denn Kriemhild habe die Säulen des Saales mit (brennbarem) Schwefel und Pech präparieren lassen (n-174): »Synt got wilkom, her Gonther vnd auch her Gernot, Gyseler der jonge, myn her vch sin dynst enbot Vnd byt vch hye vßen bliben nit mene dan desen dag, So wel er vch dan raden das aller best, das er mag. Er hat vch auch enboden, als liep als vch das leben sy, Das yr vff der Donaw laßent sin uwer herberg fry. Komen yr hin jn, yr sint an were. Ere must alle verborn, vnd were uwer eyn gantzes her. Es yst gebuwen myt sueln, dye sint alles hol. Myt swebel vnd myt bech sint sye alles vol, Daz wel man anzonden, yr hylden lobesam. Da solt yr vch vor huden, myn her vch alles guden gan.« (n-172-174) Hildebrand agiert hier als Überbringer einer konkreten, auf die aktuelle Gefahrensituation bezogenen Handlungsanweisung, die Dietrichs freundschaftliche Haltung gegenüber den Burgunden und damit die Sorge um ihr Überleben zum Ausdruck bringt. Der Hinweis auf seinen persönlich noch erfolgenden Rat (raden, n-172,4) bereitet in proleptischer Perspektive die respektvolle Begrüßung des Berners und dessen Gefolge durch die Gäste vor, zu der Hagen seine Herren auffordert: Ere solt ys jne wol byeden, das rade ich (n 182,4). Während also Hildebrands Botschaft mit der brennbaren Präparierung der Herberge eine akute, aber doch zu umgehende Bedrohung entlarvt, sind Dietrichs eigene Äußerungen auf die im Hunnenreich für die Burgunden generell lebensbedrohliche Situation konzentriert, aus der 212 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="213"?> 651 Zur ›Doppelung‹ des Rededuells zwischen Kriemhild und Hagen ausführlich Botschan, Der beweg‐ liche Text (2011), S.-126-134. 652 Siehe oben, Kap.-3.3.2. es keinen Ausweg zu geben scheint. Insofern gehen in seinem Hinweis auf die für Kriemhilds Unversöhnlichkeit ursächlichen Zusammenhänge - Siegfrieds Tod (n-185,3) - sämtliche als möglich zu denkende Bedrohnungsszenarien abstrahierend auf (bes. n-187, 2-4): »Synt gotwylkom, herre Gonther, Gernolt vnd Gyseler, Hagen vnd Danckwart vnd alsam Folcker Vnd alles uwer gesinde an Syffert, der yst dot! Den weynet frauw Cremhylt nach in engstlicher not.« (n-185) […] »Syffert wonden laßen wyr no hye stan. Erlebet ys fraw Cremhylt, ys mag wol schaden ergan. Sye budet das rode golt, Hagen, vber dich, Drost der Nebelonge, vnd da vor hude auch dich! « (n-187) Auch die in weiteren Einschüben forcierte Auseinandersetzung zwischen Kriemhild und Hagen nimmt Handlungsmotive des ersten Teils auf und expliziert die in der ›Kurzer‐ zählung‹ narrativ nur in Grundzügen entwickelten antagonistischen Positionen. 651 Dies geschieht vorzugsweise in dialogischem Format; Muster ist das Rededuell der beiden Kontrahenten (n 253-258; vgl. Bo 1786-1791 / He 1827-1832), in dem Kriemhild Hagen seine alte Schuld zum Vorwurf macht: »[…] Du slugt myr Syfferden, den myn lieben man Des ich bys vff myn ende gnung zu weinen han.« (n-256,3f.) Diese unüberbrückbare Differenz wird an etwas späterer Stelle in acht Zusatzstrophen vertieft (n 338-345; zwischen Bo 1867 und 1868 inseriert). Die Szene ist als Reminiszenz und Spiegelung des Königinnenstreits vor dem Münster angelegt, die in Hs. n aufgrund der Kürzung des Anfangsteils in einer modellhaften Konstellation verdichtet ist (n-1-3). 652 Vor dem Gang zur Messe versperrt Hagen Kriemhild mit seinem Schild den Weg - eine Akzeleration des Konflikts, in dem Kriemhild den Mordvorwurf beinahe wörtlich wiederholt: Dye kongin stont stylle vnd sach Hagen an: »Vwe, was großer leyde hastu myr gethan. Du sluget myr Syfferten, myn lieben man, Des ich byß an myn ende gnung zu weyn han.« (n 339) Die Repetition des Gesagten weist Siegfrieds gewaltsamen Tod als zentralen Impetus für die Rachehandlung aus, die auch in der Hs. n zunächst allein Hagen gelten soll. Damit ist ein struktureller Referenztyp narrativ etabliert, der bis zum Schluss als Movens für Kriemhilds Handeln präsent gehalten wird. Entsprechend folgt die Hs. n in Kriemhilds Reaktion auf Hagens triumphierend-spöttische Antwort am Schluss des Textes (n 890f.; vgl. Bo 2370 / He 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 213 <?page no="214"?> 653 Vgl. die entsprechenden Verse nach der *B-Version: daz truoc mîn holder vriedel, do ich in jungest sach, / an dem mir herzeleide von iuwern schulden geschach. (Bo-2372,3-4). 654 Vgl. Botschan, Der bewegliche Text (2011), S.-233. 655 Am Beispiel von Dankwart und Volker vgl. Botschan, Der bewegliche Text (2011), S. 146-153; 188-195. 656 Botschan, Der bewegliche Text (2011), S. 37. - Zur tendentiell positiveren Darstellung Hagens in Hs.-n vgl. auch Hufnagel, Das Nibelungenlied im 15.-Jahrhundert (2021). 2430) der *C-Lesart, in der der kalkulierte Mordakt ganz explizit als kausallogisches Prinzip von Ursache und Konsequenz markiert ist: Sye sprach: »so hant yr vbel geltes mych gewert. So wel ich doch behalten des Nebellonges swert, Das trug myn edel fredel, da yr ‹ym› nampt den lip Mortlich myt vntrw,« sprach das jamerhafftig wip. (n-892; vgl. He-2432) 653 Die verstärkte Etablierung paradigmatischer Sinnstrukturen intensiviert die logische Ver‐ knüpfung der makrostrukturellen Motivierung der Handlung. So liegt der Fokus im Nibelungenlied n auf der Reise und dem Untergang der Burgunden, deren Heroentum als »Faszinosum« ausgestellt wird. 654 Dieser Konzeption entspricht z. B. die wechselseitige Angleichung der Rollen und Verantwortlichkeiten beim burgundischen Personenverband, deutlich in der Profilierung der Volker-Figur (z. B. n 194-198) gegenüber Hagens Rolle als fast alleinigem Anführer der Burgunden in den Nibelungenlied-Fassungen *B und *C. 655 Mit der Homogenisierung des burgundischen Personals geht eine moralisch-ethische Aufwertung einher, indem die gewaltsame Gegenwehr als zwangsläufige Reaktion auf das durch Kriemhilds Aggression verletzte Gastrecht legitimiert wird. Die Sympathielenkung erfolgt durch die Streichung solcher Handlungszüge, welche die Burgunden belasten, und zwar insbesondere im ersten, abbreviierten Teil des Textes (n 1-20), der die für die neue Akzentsetzung signifikanten Konstellationen auf prägnante Weise herausarbeitet. Die ›Kurzerzählung‹ zielt auf die Entlastung Hagens als Verantwortlichem für den Mord an Siegfried sowie den Hortraub. Strophe n 5 exponiert Gunther als denjenigen, der den Wunsch, Siegfried zu töten, äußert, während Hagen die Rolle des Schlichtenden einnimmt: Er sprach: »was vch [sc. Brünhild] myn swester Kremhylt zu leyde hat getan, Das mag dem hylt Syffert wol an das leben gan. Es mag sych gefugen, ich benymen im syn lyp.« Da sprach der kune Hagen: »ee soln wyr scheyden dyß wip! « (n-5) Auch Hagens Versprechen an Kriemhild ist so modifiziert, dass ihn nicht die Schuld des Eidbruchs trifft: Er sagt nicht zu, Siegfried zu beschützen, sondern lediglich ihn zurückzubringen, es sei denn, das jne yrre der dot (n-9,3). Eine »partielle Verschiebung der Schuld« 656 an Siegfrieds Tod erfolgt durch den Abtransport des Toten auf Befehl und unter Beteiligung Gunthers, pointiert betont durch die dreimalige Anapher des Pronomens sye: Sye namen jne also dot als sye der konig hyeß. Sye trugen jn in dye kemenaden, da dye frauw in slyff. Sye leyten jn yr an yren arm, das wyßet ane wan. (n-11,1-3) 214 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="215"?> 657 So etwa im Kontext des Saalbrandes, in dem Kriemhilds verräterische Einladung von Gernot in ihrer mörderischen Absicht verurteilt wird: Da sprach von Borgentrich der starcke Gernot: / »Wel vns also verleyden myn swester in den dot / Dorch alden haß willen als dorch kein falschen rat, / Es yst eyn groß untruwe, die got nit vngerachen lat.« (n-175). 658 Vgl. Botschan, Der bewegliche Text (2011), S.-39 u. 228 f. 659 Zu diesem Aspekt siehe oben, Kap.-3.3.2. Die Verminderung von Hagens Schuld erfolgt außerdem über die Tilgung der Hortraubepisode. Demgegenüber verschiebt sich das Kriemhild-Bild von der durch ihre triuwe tendentiell positiv besetzten, dem Unrecht Hagens ausgelieferten Frau zur feindseligen Aggressorin, deren Handeln allein durch Siegfrieds Tod motiviert und ausdrücklich als Verrat bzw. Treuebruch gegenüber dem Sozialverband markiert wird, dem sie entstammt. 657 Der Fokus zu Beginn der Erzählung rückt so weg von der Frage nach Siegfrieds Schuld hin zu einer Perspektivierung von Kriemhilds verräterischer Einladung, die sich zumal - mit Blick auf den ›Haupttext‹ - einer dezidierten Lüge bedient: Als dye frauw Kremhylt kam jn das selbe lant, Sye entphing manch degen kune vnd manch wygant. Da wolt sye erst rechen yr aldes vngemach. Davon manchem helden kune großer schade geschach. Kremhylt dye wolgedan sant da boden vß Vber dye Donaw zu yrs lieben bruder huß, Das er bald keme, sye seyt jm des vmber danck, Konig Etzel wer verscheden, sin helff wer gar kranck. (n-18f.) Die Stiftung paradigmatischer Kohärenz erfolgt auf der narrativen Ebene durch die Exkulpation der Hagen- und Diffamierung der Kriemhild-Figur im ersten Handlungsteil, die mit deren jeweils tendentiell positiver bzw. negativer gehaltenen Darstellung insbesondere in den amplifizierenden Einschüben des ›Hauptteils‹ konsistent ist. 658 Trotz der offenkundigen Tendenz der Bearbeitung zur Intensivierung immanenter Kohä‐ renzstrukturen bleiben latente Widersprüche und eklatante ›Brüche‹ als direkte Folge der weitreichenden Kürzung an vielen Stellen unübersehbar stehen. So finden sich nicht nur Erzählerkommentare, sondern auch Figurenstimmen, die Kriemhilds Mitschuld an Siegfrieds Tod exponieren und diese über die öffentliche Bloßstellung Brünhilds begründen, obgleich doch die Rollen der Frauen im ›Einleitungsteil‹ der Hs. n vertauscht sind, was Kriemhilds partielle Entlastung als Provokateurin des fatalen Streits impliziert. 659 So referiert der Erzähler bei der Ankunft der Burgunden in Etzelburg (n 200) und hier besonders im Kontext der augenscheinlichen Faszination, die von Hagen ausgeht, auf den Königinnenstreit: Da wondert da dye Hunen vil manchen kunen man Vmb Hagen von Troyen, wye der were gethan, (n 199,3f.) Das sye jne mochten sehen vil gnug, Den der vß Nyederlande Syfferden erslug, Eyn hylt zu synen handen. des er sere entgalt, 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 215 <?page no="216"?> 660 Er ist in der *B- und *C-Fassung als ›Werbungszusage‹ gestaltet. Vgl. Er [sc. Rüdiger] sprach zer küneginne: «lât iuwer weinen sîn. / ob ir zen Hiunen hêtet niemen danne mîn, / getriuwer mîner mâge, und ouch der mîner man, / er müeses sêr’ engelten, unt het iu iemen iht getân.» / / Dâ von wart wol geringet dô der vrouwen muot. / sie sprach: «sô swert mir eide, swaz mir iemen getuot, / daz ir sît der næhste, der büeze mîniu leit.» / dô sprach der marcgrâve: «des bin ich, vrouwe, bereit.» / / Mit allen sînen mannen swuor dô Rüedegêr / mit triuwen immer dienen, unt daz die recken hêr / ir nimmer niht versageten ûz Etzelen lant, / des si êre haben solde, des sichert’ ir Rüedegêres hant. (Bo 1256-1258; vgl.-He 1278-1280). 661 Zu Rüdigers Dilemma einschlägig Hasebrink, Aporie, Dialog, Destruktion (2003), S.-1-20. 662 Stattdessen ist im ›Einleitungsteil‹ der Hs. n nur von nicht eigens spezifizierten boden die Rede: Der konig sant boden vß vber dye Donaw her an den Ryn / Noch der schonen frauwen, der edeln konigin (n-17,1f.). Auch die ›Werbungszusagen‹ werden nicht aufgerufen. 663 Zu diesem Motiv in der nordischen Überlieferung siehe Kap.-2.3.2. Das dye frauw Cremhylt dye schonen Brunhylten schalt. (n-200) Eine auf wörtliche Entsprechung zielende Formulierung bietet auch Hagens Entgegnung auf Kriemhilds fyntlichen gruß (n-253,4) im Rahmen ihrer ersten Konfrontation (s. oben): »Was hylfet vch dye rede? yr wer hutde lange gnug. Ja bin ich alles Hagen, der Syfferden slug, Eyn helt zu [-] synen handen. des er sere engalt, Vnd das yr, fraw Cremhylt, die schonen Brunhylten schalt. […].« (n-257) Der von Kriemhild gegenüber Hagen wiederholt vorgebrachte Vorwurf des Hortraubs (Eyn mort vnd zwen raube, die hastu myr gnomen, n 211,3; ähnlich n 208) lässt sich aufgrund des Ausfalls der entsprechenden Passagen in der ›Vorgeschichte‹ nicht im Text selbst referentialisieren. Ähnlich verhält es sich mit weiteren, in den ersten 24 Âventiuren grundgelegten Motiven: Zu beobachten etwa am Beispiel der in der ›Kurzerzählung‹ namentlich nicht genannten Boten Swämmel und Wärbel (vgl. Bo 1430 / He 1458), von denen letzterer an seine Unschuld beim Überbringen der Botschaft appelliert, während ihm Hagen in einer feindseligen Attacke eine Hand abschlägt (n 447f.). Ein weiteres Beispiel ist Rüdigers Eid, 660 auf den sich Kriemhild explizit beruft und der den Markgrafen nach dem Ausbruch der Kämpfe als Opfer konkurrierender triuwe-Bindungen in eine dilemmatische Situation hineinmanövriert (n 646-651). 661 Zwar aktualisiert Kriemhild hier eine in der Vergangenheit getätigte Zusicherung (»gedenck, Rudeger, das du myr hast gesworn […]« n 647,1; auch n 649); ihre konkrete narrative Realisierung ist im Text selbst allerdings gestrichen. 662 Nicht zuletzt die alternativen Erzähltraditionen verpflichtete Motivation für die Einladung der Burgunden ins Hunnenreich, die durch Etzels Tod begründet wird (Konig Etzel wer verscheden, n 19,4), 663 mag mit Blick auf den ›Haupttext‹ irritieren, in dem Etzel als fraglos agiler Gastgeber figuriert. In der Handschrift n lässt sich also einerseits eine Tendenz zur Intensivierung narrativer Stringenz durch Hinzufügungen alternativen Strophenmaterials sowie vor allem von Exklusivstrophen erkennen, andererseits weisen zahlreiche Rekurrenzen auf vergangenes Geschehen infolge der Kürzung des ersten Handlungsteils ins Leere und müssen aus dem Textbzw. Sagenwissen der Rezipienten rekonstruiert werden. Narrative Alternativen, die durch Amplifikationen bereits erzählter Elemente in Zusatzstrophen und Interpolationen implementiert werden, verunsichern bisweilen sogar die Ordnung des unmittelbaren 216 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="217"?> 664 Das narrative Modell des infans eloquens analysiert Botschan, Der bewegliche Text (2011), S. 171-179. 665 Zum problematischen Verhältnis zwischen ›moderner‹ Kohärenzerwartung und den Kohärenzstruk‐ turen mittelhochdeutscher Texte siehe Kap. 1.4.2.1. Vgl. exemplarisch Schneider, Logiken des Erzählens (2021), S.-112-188. 666 Kofler, Nibelungenlied n (2014), S. 106f. - Zum Ende des ›heroischen Zeitalters‹ mit dem Burgunden‐ untergang in der Heldenbuchprosa vgl. J.-D. Müller, Sammeln (2012), S.-541-561. 667 Zum Konzept ›korrelativer Sinnstiftung‹ vgl. Stock, Kombinationssinn (2002), S.-17-32. Erzählgefüges selbst, in das sie inseriert sind. Auf Hagens Ankündigung, Ortlieb müsse für Bloedelins Verrat mit dem Leben büßen, reagiert das Kind - ein Novum in der Überlieferung des Nibelungenliedes  664 - mit einer affizierenden Bitte um Schonung (n 440-442). Daraufhin nimmt Kriemhild ihren Sohn auf den Arm und versucht, ihn auf diese Weise vor Hagen zu retten, welcher blitzschnell reagiert: Als dye fraw Cremhylt des kindes rede vernam, Sye ging zu dem dysch vnd wolt ene dragen von dan. Sye sloß jne vnder yr arm vnd wolt jne dan han getragen. Sye sumpt sych ein wenig zu lang, den slag hat getzogen Hagen. (n-443) Am Übergang vom Einschub in den Text der Vorlagen (Bo 1962 / He 2015) wechselt die Perspektive abrupt auf den für Ortliebs Obhut zuständigen zochtmeynster (n 445,1), der durch Hagens Zorn nach dem Kind als erster fällt (Auch slug er dem zochtmeynster ein swinden slag, n 445,1) - freilich bleibt eine gewisse Dissonanz zur zuvor entfalteten mütterlichen Fürsorge, die den Schutz des Kindes selbst in die Hand nimmt, unübersehbar stehen. Es bleibt festzuhalten: Das Nibelungenlied in der Hs. n folgt anderen Kohärenzkriterien als ›textglobalen‹ im Sinne einer durchgehend stringent angelegten Handlungsstruktur, die sich in Prinzipien der ›Stimmigkeit‹ bzw. ›Abgestimmtheit‹ aller einzelnen Elemente zum Ganzen äußert. 665 Vielmehr erscheint die in Hs. n zu beobachtende Kohärenzstiftung vom narrativen Fokus des Textes, dem Nibelungenuntergang, her determiniert. Kohärenz formiert sich paradigmatisch über das heroische Handeln der Burgunden als einer erzähl‐ logisch dominanten Struktur sowie über die Einbindung des Einzeltextes in ein zyklisches Erzählkontinuum, das über intertextuelle Referenzen (Rosengarten, nordische Traditionen, s. oben) und den Überlieferungskontext der ursprünglichen Sammelhandschrift aufgerufen wird. Es handelt sich um ein Erzählkontinuum, in dem der durch Kriemhilds Rache initiierte Burgundenuntergang geradezu als liminaler Marker und in diesem Sinne als ›Endpunkt‹ des heroischen Zeitalters zentralen Stellenwert besaß. Redaktion n entstand zweifellos im Schatten des Rosengartens […]: Die Nibelungen-Handlung wurde stark verkürzt und zu einer Fortsetzungsgeschichte des Rosengartens umfunktioniert, wie dies auch ganz konkret in der Heldenbuchprosa passierte […]. 666 Insofern lässt sich durchaus eine kausale Linearität ausmachen, in der übergreifende Konstellationen und Motive in gleichsam korrelativ-komplementärer Komposition kohä‐ renzstiftend wirken, 667 weniger aber die Handlungslogik des Gesamttextes auf der Ebene einer widerspruchsfreien inhaltlich-thematischen Verknüpfung all seiner jeweiligen Ein‐ zelteile. 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 217 <?page no="218"?> 668 Vgl. Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-109. 669 Zur Annahme stufenweise erfolgter Überarbeitungsprozesse Hennig, Die Nibelungenhandschrift n (2000), S. 430. - Generell sind die Handschriftenverhältnisse in den sog. ›Mischhandschriften‹ auf der Basis *B- und *C-naher Vorlagen nur schwer konkret nachzuvollziehen oder gar präzise stemmato‐ logisch zu fassen: »Solche Textbeziehungen aber sind durch einen Handschriftenstammbaum gar nicht mehr anschaulich zu machen oder gar zu bestimmen.« (Hennig, ebd., S.-132). Gerade der alternative Erzähleingang, der durchaus andere Konstellationen als die im ›Haupttext‹ ausgeführten entwirft, ist in diesem Sinne zu sehen. Er reduziert Personal wie Schauplätze auf wenige zentrale Konfigurationen, die das Moment der Rache und die finale Determination des Untergangs vorzeichnen, auf die der folgende Text zuge‐ schnitten ist. Zugleich partizipiert die ›Kurzerzählung‹ der Vorgeschichte (n 1-20) selbst an unterschiedlichen Erzähltraditionen, die in äußerster formaler Knappheit eine Vielfalt nibelungischen Sagenwissens insinuieren. Wie der ›Haupttext‹ der Hs. n wird dieses erst über das zyklische Erzählgefüge als kognitiver ›Summe‹ vollständig erfahrbar. Der Aspekt der Summenbildung fungiert, so lässt sich konstatieren, als integrierendes Merkmal der Textredaktion und insofern quasi als Sammlungs-Prinzip der Hs. n. Das Aufzählen von Wissensbeständen um die nibelungische Überlieferung geschieht sowohl auf der Ebene maximal reduzierender, doch höchst anspielungsreicher Verdichtung als auch im Modus der Erweiterung, indem Strophen aus unterschiedlichen Fassungen nebeneinander geschaltet oder Exklusivstrophen neu eingesetzt werden. Dieses Bearbeitungsprinzip offenbart eine Potentialität des Textes, in der implizite wie explizite, auf mündliche wie schriftliche Quellen rekurrierende ›Summen‹ heldenepisch-nibelungischer Erzählhorizonte gebündelt aufscheinen. Sie sind auf eine literarische Bezugsmatrix hin perspektiviert, in deren Zentrum die heroische Exorbitanz des Untergangskampfes liegt. Das Nibelungenlied in der Hs. n bildet damit ein signifikantes Zeugnis für die Emergenz vordergründig paradoxer Konstellationen, die sich durch eine weitreichende Kürzung und zahlreiche, geradezu auf Vollständigkeit angelegte Erweiterungen auszeichnen. 668 Auch wenn sich mit der Genese des Textes in der Hs. n Unklarheiten verbinden, 669 indiziert dieses Phänomen, dass Kürzung und Erweiterung nicht als dichotomische, nur in eine Änderungsrichtung zielende Verfahren funktionieren, sondern als aufeinander bezogene, durchaus souverän gehandhabte, integrale Elemente zur Strukturierung und alternativen Ordnung der Narration, mit deren Hilfe die einzelnen Komponenten eines Textes in charak‐ teristischen Referenztypen und -strukturen komprimiert sowie paradigmatisch entfaltend auserzählt werden können. Die zunächst konträr anmutenden Verfahren von Kürzung u n d Erweiterung fungieren, wie das Beispiel der Nibelungenlied-Hs. n gezeigt hat, als Mittel der narrativen Integration mündlicher wie schriftliterarischer Stofftraditionen und erscheinen daher für die Herausarbeitung poetischer Merkmale eines Erzählens jenseits strikter Alternativsetzungen von abbreviatio o d e ramplificatio von tragender Bedeutung. 218 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="219"?> 670 Heinzle, Zu den Handschriftenverhältnissen (2008), S.-331. 671 Die Rolle Brünhilds ist z. B. ganz anders gewichtet: Ihr kommt nurmehr die Funktion als Initiatorin des Konflikts mit Kriemhild zu, während die ›Vorgeschichte‹ (u. a. mit Gunthers Brautwerbung auf Isenstein und der damit verbundenen Standeslüge) ausgeblendet wird (und allenfalls im wartzeychen anzitiert ist). Siehe Kap.-2.3.2. 672 Zur ›mythischen‹ Logik im Nibelungenlied vgl. Poser, Raum in Bewegung (2018), bes. S.-47-52. 2.3.4 Texttypenspezifische Eigenlogiken. Dichtegrade von Kürzung und Vollständigkeit im heldenepischen Kontext Die in der Hs. n überlieferte Fassung des Nibelungenliedes hat Joachim Heinzle als einen der »erstaunlichsten Nibelungen-Texte[ ]« bezeichnet. 670 Und das nicht zu unrecht. Denn die am Nibelungenlied n zu beobachtende Bearbeitungstendenz ist Ergebnis mehrerer Redaktionsvorgänge und inkorporiert nicht zuletzt im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu situierende Erzähltraditionen. Die markante Modellierung eines ge‐ genüber der schriftliterarischen Tradition des Textes alternativen Anfangs nimmt zentrale Neu-Konfigurationen im Hinblick auf das Narrativ vom Nibelungenuntergang vor. Im Modus gezielter Verdichtung, die das Sprach- und Strophenmaterial einer schriftlichen Fassung des Textes mit Elementen eines mündlichen Erzählens nordischer Provenienz (Thidrekssaga, Völsungasaga) kombiniert, sowie kumulativer Summenbildung werden un‐ terschiedliche Verfahrensweisen literarisch produktiver Arbeit am vorgängigen Stoffkon‐ tinuum evident. Sie lenken den Blick auf texttypenspezifische Eigenlogiken heldenepischen Erzählens, in dem die Modi von Kürzung und Erweiterung als dynamische Größen in Erscheinung treten: als komplementäre Praktiken der Textgestaltung, die gleichermaßen einer Neudimensionierung von Oberflächen- und Tiefenstruktur zuarbeiten. Gegenüber einer stärker prätextgebundenen redaktionellen Kürzung (wie z. B. in der Nibelungenklage *J) zeichnet sich die Verdichtung der ersten 24 Âventiuren auf 20 Stro‐ phen durch eine Reduktion der narrativen Horizonte auf repräsentative Figuren und Einzelszenen aus. Sie ist nicht im Sinne einer Zusammenfassung zu verstehen, die auf einen konkreten, inhaltlichen Nachvollzug der erzählten Handlung abzielt. Charakteristisch ist hingegen eine narrative Organisation, die, das formale Idiom des Nibelungenliedes aufnehmend, solche Erzählszenen und -momente koordiniert, die ausreichen, um die Kausallogiken von Siegfrieds Ermordung aufzurufen (n 1-14). 671 Die relative ›mytische‹ Zeit- und Raumlosigkeit des Anfangs wird dabei in eine dezidiert markierte Zeitstruktur überführt, die in der resultativ verfahrenden Raffung der Ereignisse bis zum Aufbruch der Burgunden aus Worms zum Tragen kommt (n 15-20). 672 Damit lässt die abbreviatio der Vorgeschichte zum Nibelungenuntergang in Hs. n zwei divergente Prinzipien als grundsätzlich optionale Verfahrensweisen von Kürzung erkennen (n 1-14; n 15-20): eine dialogisch strukturierte Minimalanordnung der auf Wiedererkennbarkeit angelegten antagonistischen Dynamik einerseits sowie, andererseits, eine summarische Rekapitulation der Ereignisse nach Siegfrieds Tod. Kürzung wird hier also auf einer doppelten Ebene wirksam: als Mittel der Strukturbil‐ dung, das die Handlung in je unterschiedlicher Dichte auf die für das Weitererzählen 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 219 <?page no="220"?> 673 Vgl. den Ansatz von Spoerhase, Skalierung (2020), bes. S. 10f.: »Jeder Erzählakt erweist sich so gesehen als ein Reskalierungsakt, der die erzählte Zeit im Medium des Erzählens wiedergibt - und sich narrativer Verfahren der Verdichtung und Ausdehnung bedient.« 674 Kofler, Nibelungenlied n (2014), S.-109. 675 Vgl. zum Gegensatzpaar in historisch-epistemischer und mediologischer Perspektive Kiening, Fülle und Mangel (2016), bes. S.-16-38. essentiellen Stationen ›reskaliert‹. 673 Zugleich bleibt das gerüsthafte Neu-Arrangement auf ein Gattungskontinuum hin geöffnet, indem gezielte Anspielungen und Reminiszenzen das übergeordnete Systemwissen präsent halten, an dem der Text - auch innerhalb seines Überlieferungsverbunds - partizipiert. Thematische und narrative Kohärenz erscheinen so in unterschiedlichen Dichtegraden der Kürzung gebündelt: im Aspekt der Formkonstanz auf der Oberflächenstruktur, die mit dem nibelungischen Idiom eine textinterne argumen‐ tative Explikationslogik perpetuiert; auf der Tiefenstruktur, die einen Assoziationsraum ermöglicht, der über textintern fokussierte Zusammenhänge in n 1-20 hinausführt. Die ›kurze‹ Form als Produkt einer abbreviatio-basierten literarischen Neugestaltung größerer Erzählzusammenhänge lässt insofern ein Moment ihrer Überschreitung erkennen: eine tendentiell assoziative Fülle, die den heldenepischen Erzählzyklus als externen Referenz‐ rahmen in der Lektüre emergieren lassen kann. In diesem Sinne erscheint die Relation von Form und Inhalt nicht als kategoriale Größe, sondern unterliegt einer je graduellen Ausfaltung, die texttypenspezifischen Eigenlogiken folgt. Das spezifische Erzählverfahren im Eingangsteil des Nibelungenliedes n zeichnet sich als Anwendungsform der abbreviatio gerade über diese doppelte Bewegung von System‐ bezug und Entgrenzung aus. Ihr korrespondiert auf einer systematischen Ebene das Prinzip der dilatatio, das eine partikulare Intensivierung textimmanenter Kohärenzen evoziert. Kürzung und Erweiterung repräsentieren in diesem Kontext zwei synergetische Möglichkeiten der Organisation vorgängiger Narrative, indem sie gleichermaßen an der im anzunehmenden Überlieferungskontext (›Heldenbuch‹) favorisierten Deutungsdimen‐ sion des Nibelungenliedes n mitarbeiten. Dabei antwortet das ›Sammlungs‹-Prinzip im Hauptteil des Textes (Stichwort: Strophenkumulation; Sondergut), dem die Forschung ein »Streben nach Vollständigkeit« attestiert, 674 auf eine grundsätzliche Komponente der abbreviatio-induzierten Poetik. Weil diese aufgrund der dichten rhetorisch-poetischen Formung zwischen kompendiösem Gestus und einem Horizont an Anspielungsreichtum changiert, eignet ihr ein transgressives Potential, insofern der erzählte ›Mangel‹ mittels gattungsspezifischer Referenzen in eine assoziative ›Fülle‹ umschlagen kann. 675 Diese Kippmomente spiegeln sich buchstäblich im ›Hauptteil‹ des n-Textes, dessen Tendenz zur Summenbildung die narrativen Qualitäten auf einer paradigmatischen Ebene des Erzählens auslotet. Damit ist die ›Kurzfassung‹ des Anfangs gleichermaßen tangiert. Die in Hs. n inserierten Zusatzstrophen, Einschübe und Erweiterungen machen eine vielstimmige Texttradition transparent, die im Eingangsteil nicht voll auserzählt werden muss, deren thematisch fokussierte Kohärenz sich vielmehr in narrativen Verdoppelungen oder auch im Ausgleich reduktiv bedingter Motivationsbzw. Informationsdefizite formiert. Diese amplifikatorische Dichte unterscheidet sich verfahrenstechnisch von derjenigen des abbreviierten Einleitungsteils (n 1-20) grundlegend. Sie ist ihr gleichwohl strukturell äquivalent: hinsichtlich einer Öffnung des Textes auf Erzählzusammenhänge, die dort als 220 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="221"?> 676 Vgl. J.-D. Müller, Varianz (2023), bes. S.-46-81. 677 Vgl. die Annahme von Heinzle, Wiedererzählen (2005), bes. S.-147. 678 Koschorke, Wahrheit und Erfindung (2012), S.-28. 679 Dabei ist Kürzung nur eine Möglichkeit innerhalb des Spektrums denkbarer Bearbeitungsprozesse, die ähnliche, wenn auch weniger radikale Effekte auf das Erzählte, wie es in Hs. n modelliert wird, mit anderen Mitteln erreichen. Zur zeitgenössischen Tendenz nibelungischer ›Heroisierung‹ vgl. Hufnagel, Das Nibelungenlied im 15.-Jahrhundert (2021). Erzählkontinuum in eine je neu und unterschiedlich ansetzende kognitive Repräsentation ausgelagert, hier aber in den Text selbst hereingeholt werden. Die Interdependenz von Kürzung und Erweiterung ist damit als integrales Verfahren poetischer Sinngebung zu verstehen. Seinen Status als literarische Technik gewinnt es durch Prozesse gradueller Verdichtung auf der einen sowie selektiver Öffnung auf der anderen Seite, die zur Profilie‐ rung neuer Sinnhorizonte entscheidend beitragen. Diese liegen - das zeigen die reduktiven Tendenzen von n 1-20 sowie die kumulierende Zusammenstellung von Strophenmaterial aus den Nibelungenlied-Fassungen *B und *C im ›Hauptteil‹ des n-Textes - in einer Demonstration und positiven Konnotation epischer Heroik und Exorbitanz, die sich vorzugsweise in den Kämpfen an Etzels Hof dokumentiert. Mit den komplementären Modi von subtraktiver Kürzung und partikularer Erweiterung resp. Summenbildung lassen sich texttypenspezifische Eigenlogiken genauer beschreiben. Im Rahmen heldenepischen Erzählens, das sich durch charakteristische ›Mischungsver‐ hältnisse‹ zwischen oraler und skripturaler Tradierungspraxis auszeichnet, 676 stehen Kür‐ zung und Erweiterung in einem engen Verhältnis wechselseitiger Perspektivierung. Sie verknüpfen zwei unterschiedliche Optionen literarischer Stoffgestaltung miteinander - mündliche Traditionen, eventuell sogar eine ganze Heldenballade bzw. ein Heldenlied, 677 und die Arbeit an schriftliterarischem Quellenmaterial - und zwar in einem integralen Erzählgefüge. Die jeweiligen Dichtegrade von Kürzung und Vollständigkeit sind dabei in Bezug auf die zentralen Aspekte der Sinnbildung relational gebunden. Sie entfalten eine im Erzählprogress je abgestufte Intensität, die semantische Qualitäten im Umschlageffekt von narrativ-evozierter Öffnung und narrativ-realisierter Schließung modelliert. Für die Frage nach einer historischen Spezifik der abbreviatio im Spannungsfeld scheinbar gegenläufiger Tendenzen lässt sich damit folgendes Resümee ziehen: Kürzung erscheint im Nibelungenlied n als rhetorisch-poetische Technik, die gekennzeichnet ist durch das Kriterium der ›Formung‹ bzw. einer an vorliegendem Material sich entfaltenden »Formungsenergie«. 678 Dass diese auch über die abbreviierte Passage hinaus prozessieren und gegenläufige Tendenzen freisetzen kann, liegt nicht nur im Arsenal rhetorisch-poe‐ tischer Gestaltungsweisen begründet, sondern schließt texttypologische Eigenlogiken dezidiert mit ein. Ergebnis ist ein Verfahren zur Profilierung literarischer Horizonte, 679 das narrative Qualitäten durch Formkonstanz und Reskalierung in je unterschiedlichen Dichtegraden herauspräpariert. Noch einmal: Literarische Kürzung operiert jenseits dichotomischer Kategorien und ist damit nicht auf ein ›technisch-mechanisches‹ Modell zu verpflichten. Rhetorische Para‐ meter der brevitas können in einem reziproken Verhältnis zur quantitativen Reduktion des jeweils vorliegenden (Text-)Materials stehen und in kompendiöser Dichte einen Assoziati‐ onsraum für textexternes Gattungswissen emergieren lassen. Kürzung als Konstante einer 2.3 Kürzung und Vollständigkeit. Interferenzphänomene im Nibelungenlied-n 221 <?page no="222"?> 680 Vgl. Frick, Historische Abbreviationspoetik (2023), S.-9-45. 681 Zum Spannungsfeld formal-inhaltlicher Korrespondenzen vgl. Frick / Rippl, Dynamiken literari‐ scher Form (2020), S.-7-9. historischen Arbeit an der literarischen Faktur unterliegt insofern poetologischen Kriterien, diskurs- und gattungsspezifischen sowie textbzw. stoffgeschichtlichen Kontexten. Sie bildet, indem sie vorgängige Narrative neu ordnet und strukturiert, eine mediale Form literarischer Vermittlung, die offen bleibt für komplementär gerichtete Sammlungs- und Selektionsprozesse. 680 Die mit den paradigmatischen Konstellationen fokussierten historischen Textzustände belegen unterschiedliche, mitunter auch inhomogene Prinzipien und Synergieeffekte der Kürzung. Während z. B. die Tendenz der *J-Klage zu einer resultathaften Präsentation der Ereignisse im historiographischen Paradigma sich einer offenbar ganz systematisch verfolgten Konzeption verdankt, erscheint die Kürzung des Nibelungenliedes in Hs. n als ›freiere‹ Form des Verfügens über die Erzähltradition, in der trotz der massiven Reduktion kollektive Wissensbestände aktualisiert werden, die die vorliegende ›Kurz-Erzählung‹ des Einleitungsteils mit inhärentem Sagenmaterial anreichen und die verschriftlichte Form selbst damit überschreiten. Nicht zuletzt die mit der Kürzung korrelierende Erweiterung im eigentlichen ›Hauptteil‹ des Textes lässt auf Form-Inhalts-Konstellationen schließen, 681 die sich nicht im Sinne paradoxer Strukturen zueinander verhalten, sondern zu einem integralen Bezugssystem literarischer Arbeit an vorgegebenen Texten und Stoffen gehören. Kürzung als Prinzip der Re-Organisation von Texten arbeitet im Nibelungenlied n einer textimmanenten narrativen Fokussierung auf die Untergangshandlung zu, die eine dezidierte Rückbindung an spätmittelalterliche Formationen heldenepischer Traditionen leistet. Sie lässt sich auf der Basis dieser Ergebnisse als spezifisch poetisches Prinzip beschreiben, in dem sich Praktiken narrativer Selektion und Strukturbildung dokumentieren, die, gerade auch im Rahmen des jeweiligen Überlieferungsverbunds, unterschiedlich ausgeschöpft werden können. Insofern repräsentieren sie nicht eindimensionale Kategorien und Ver‐ fahren textueller Verdichtung, sondern können immer auch scheinbar gegenläufige, ja paradoxe Tendenzen selbst produzieren. Kürzung - wie auch Erweiterung als deren Kom‐ plement - fungiert damit als literarische Technik, die nicht einer prinzipiell vordefinierten epistemischen oder textpragmatischen Logik folgt, der vielmehr eine je nach Text- und Kontext sich neu und anders aktualisierende Optionalität poetischen Gestaltens inhärent ist. 222 2 Paradigmatische Konstellationen in der mittelhochdeutschen Epik <?page no="223"?> 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="225"?> 1 Der Entwurf einer Poetik der Kürzung ist systematisch perspektiviert in Kap.-3.2. 2 Vgl. im Hinblick auf Spielräume und ›kreative‹ Eigendynamiken des volkssprachigen Erzählens Kiening, Literarische Schöpfung (2015). 3 Zur Optionalität als Kennzeichen einer Vielgestaltigkeit erzählerischer Realisierung im Rahmen der religiösen Kommunikation vgl. Weitbrecht u. a., Legendarisches Erzählen (2019), bes. S.-9-21. 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung Literarische Kürzung operiert nicht in einem geschlossenen System feststehender Regeln und Anwendungsformen. Für das Gattungsspektrum der mittelhochdeutschen Epik lassen sich auf paradigmatischer Ebene drei Referenztypen beschreiben, in denen das auf der brevitas-Rhetorik aufruhende poetische Verfahren der abbreviatio wirksam wird: 1. Adaptationspraxis und Rezeptionssteuerung (Kap.-2.1); 2. systematische Kürzungstendenzen (Kap.-2.2); 3. Synergien gegenläufiger Zugänge: Interferenzphänomene von Kürzung und Erweite‐ rung (Kap.-2.3). Die damit konturierte modellhafte Matrix, die die gattungsspezifischen Register, dis‐ kursiven Felder und Überlieferungskontexte reflektiert, repräsentiert einen ›Ordnungs‐ rahmen‹, innerhalb dessen sich die spezifischen Erzählmodi literarischer Kürzung bewegen können. 1 Inwiefern diese dabei in ihrer für die Komponenten der Textproduktion wie -rezeption konstitutiven Valenz ausgeschöpft werden, hängt jeweils von den situativen (Gebrauchs-)Zusammenhängen ab, in die das abbreviierte Reprodukt Eingang findet bzw. finden soll. Der Rahmen des grundsätzlich Möglichen, der als determinierendes Dispositiv literarischer Kürzung fungiert, bleibt also variabel besetzwie umsetzbar. abbreviatio er‐ scheint damit nicht etwa als Gestaltungsprinzip oder als ›Schreibweise‹, deren Umsetzung sich in den Texten auf eindimensionale Weise vollzieht, sondern als Verfahren, das an der für literarische Schaffensprozesse grundsätzlich konstitutiven Interferenz von divergierenden Aneignungsformen und Tradierungsprozessen teilhat. 2 Unterschiedliche Grade und Stufen der Evidenz sind charakteristisch für das weiter gesteckte phänomenologische Spektrum literarischer Kürzung, das die paradigmatischen Befunde mit Blick auf die typologische Vielfalt redaktioneller Kürzungsverfahren komplet‐ tieren soll. Sie stehen symptomatisch für eine Optionalität des literarisch-modellierenden Zugriffs auf vorgängiges Material, 3 die weder einen stabilen, prototypischen ›Bauplan‹ im Sinne einer a priori feststehenden, auf dichotomische Relationen verpflichteten (Kürzungs-)Prozedur vorsieht noch auch nur impliziert. Vielmehr setzt das Prinzip der abbre‐ viatio als je flexibel handhabbare rhetorisch-poetische Praxis Sinndimensionen frei, die auf gattungstypologische, narrative, strukturelle und diskursive Formationen sowie auf überlieferungshistorische Funktionalisierungen antworten, die aber auch - gewissermaßen quer dazu - nur jeweils als eine Option neben anderen realisiert, nur partiell abgerufen werden oder auch stärker sachbezogener Natur sein können. Diese Potentialität konkre‐ tisiert sich in situativ differenzierten bzw. punktuell zu beobachtenden redaktionellen Praktiken. Der Befund, dass sich das Konzept der Kürzung - jenseits der paradigmatischen Grundkonstellationen - in Abhängigkeit vom jeweiligen literarischen Interesse und den 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 225 <?page no="226"?> 4 Baisch, Fassungenbildung (2021), S.-332. 5 Vgl. im Hinblick auf die Faktur kleiner Formen v. a. moderner Literatur Jäger / de Mazza / Vogl, Einleitung (2021), S.-1-12. 6 Vgl. Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S. 425; Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 45f.; Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 46f.; Bumke, Retextualisierungen (2005), S. 27f. - Vgl. zusammenfassend Baisch, Fassungenbildung (2021), S.-321-343. 7 Zur Datierung Schneider, Gotische Schriften (1987), Bd. 1, S. 152f. - Die historischen Zusammen‐ hänge mit Bezug auf den Werkstattkontext bespricht Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-32-66. 8 Auch stemmatologisch kann der Cgm 51 eine herausragende Position für die Rekonstruktion des Ar‐ chetyp-nahen Leitastes X beanspruchen. Vgl. Schäfer / Tomasek, Die münstersche Tristan-Ausgabe (2022), S. 303-318. Die Neuausgabe ist jüngst erschienen: Tomasek (Hg.), Gottfried von Straßburg. Tristan und Isolde (2023). 9 Zahlen nach Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S. 128. Grundlage sind die Berechnungen von Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-61. auch pragmatischen Erfordernissen an den zu bearbeitenden Text immer wieder neu artikuliert, verweist auf einen als offener zu konzipierenden Spielraum poetischer Gestal‐ tungsmöglichkeiten, die im Akt des abbreviierenden Reproduzierens bekannter Texte und Stoffe aktualisiert werden können, aber nicht im Sinne präskriptiver Vorgaben immer schon aktualisiert werden müssen. Die Frage nach dem spezifischen »historischen Index« 4 einer Poetik der Kürzung hat also die typologische Vielfalt redaktioneller Kürzungsverfahren zu berücksichtigen, um das paradigmatisch konstituierte Spektrum mit Formen der Kürzung zu konfrontieren, die nicht oder zumindest nicht uneingeschränkt in einem systematischen Bezugshorizont aufgehen. Ziel ist die Zusammenschau solcherart ›gestufter‹ Evidenzen, in denen literarische Kürzung auf heteronome (Form-)Vorgaben, Gattungs- und Diskursinterferenzen, Transpositionen wie situative Logiken reagiert. 5 3.1.1 Befund und Deutung. Emergente Kürzungsphänomene in der Münchener Tristan-Handschrift M (Cgm 51) In der Diskussion um Fassungsdivergenz höfischer Romane hat die Forschung schon früh den Textbefund in der Münchener Handschrift M (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 51) registriert, die sowohl den Tristan Gottfrieds von Straßburg als auch dessen durch Ulrich von Türheim angefertigte Fortsetzung in unterschiedlich stark gekürzter Form überliefert. 6 Mit der Datierung des Codex auf das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts reichen die erhaltenen Textzustände nahe, im Falle Ulrichs sogar unmittelbar an die Lebenszeit der Autoren heran. 7 Diese u. a. auf der Basis paläographischer und kodikologischer Merkmale gewonnene Einschätzung ist deswegen so bedeutsam, weil der Cgm 51 die älteste (beinahe) vollständige Tristan-Handschrift repräsentiert und aufgrund seiner Lokalisierung in einem Werkstattkontext wichtige Einblicke in Spezifika einer historischen Reproduktionspraxis liefert. 8 Gegenüber den in der weiteren Überlieferung dokumentierten umfangreicheren Versionen der Werke Gottfrieds und Ulrichs bietet die Hs. M einen um etwa 12 Prozent des Textbestandes kürzeren Tristan-Text; Ulrichs Fortsetzung ist um knapp 37 Prozent des Textbestandes in anderen Überlieferungszeugen reduziert. 9 Auffällig ist dabei die ungleiche Verteilung der Kürzungen: Sie setzen in nennenswerter Weise erst in der Mitte des Tristan 226 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="227"?> 10 Die Proportionen verzeichnet Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 51 (1992), S. 61. - Eine eingehende Analyse der Kürzungen unter funktionsanalytischen Aspekten bietet Baisch, Textkritik (2006), S.-148-297. 11 Der mechanische Blattverlust umfasst mit fol. 71/ 72 die Tristan-Verse 11599-13574 sowie, in Ulrichs Fortsetzung, mit fol. 100-102 die Verse 461-2584. Vgl. Baisch, Textkritik (2006), S. 109. - Ob die verlorenen Blätter auch Kürzungen enthalten haben könnten, wie Deighton (Zur handschriftlichen Überlieferung [1983], S. 206) zumindest für den Blattverlust in Ulrichs Tristan-Fortsetzung annimmt, muss Spekulation bleiben. Denn die Zeilenzahl für die fehlenden Blätter lässt sich nicht exakt, sondern nur annäherungsweise rekonstruieren: Es gehört zu den Eigenheiten des Hauptschreibers I des Cgm 51 (und auch Cgm 19), teilweise oder auch ganz auf eine Vorliniierung verzichtet zu haben, sodass die »Zeilenzahl in den einzelnen Spalten schwankt«. Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-100. 12 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 47. - Einen Vorschlag, das Konzept ›Kurzfassung‹ neu zu denken, bietet Kap.-3.2. 13 Dazu einschlägig Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), bes. S. 53. »Nicht weniger als neun Schreiber« sollen für das Skriptorium gearbeitet haben, so der Befund in Klein, ebd., S. 33. - Charakteristisch sei vor allem die alemannisch-bairische Sprachmischung in den Handschriften, die dem Skriptorium zugeordnet werden. »Diese Tatsache lässt auf eine größere regionale Streuung der Schreiber schließen, die einem weiteren Einzugsgebiet im alemannisch-bairischen Raum ent‐ stammen dürften.« Die Ergebnisse der Forschung zusammenfassend Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-103. ein und erfahren vor allem zum letzten Drittel und zum Ende des Textes hin eine deutliche, kontinuierlich voranschreitende Zunahme. Ulrichs Fortsetzung wird von den Kürzungen in weitaus stärkerem Maße tangiert als Gottfrieds Romanfragment. 10 Insgesamt fehlen in M etwa 4000 Verse, wobei ca. die Hälfte auf Blattverlust zurückzuführen ist. 11 Diese Konstellation hat - zumal sie in der frühesten Überlieferung der beiden Texte begegnet - zu ganz unterschiedlich argumentierenden wissenschaftlichen Deutungsversu‐ chen Anlass geboten. Denn die im Cgm 51 zutage tretende disproportionale Verteilung der Kürzungen lässt sich nicht in gleichem Maße wie bei anderen Kurzfassungen mittelhoch‐ deutscher Epik (z. B. der Nibelungenklage *J) mit der Annahme einer auf das Textganze zielenden konzeptuellen Stringenz eines vorauszusetzenden ›Bearbeitungsprogramms‹ vereinbaren. Diese Problematik und das aus ihr erwachsende Irritationspotential spiegelt sich schon in Bumkes Einschätzung des im Cgm 51 vorliegenden Textensembles, dessen Status er zwischen Bearbeitung und Fassung situiert: Wir machen also die etwas irritierende Beobachtung, daß von den beiden ›Tristan‹-Kurzfassungen im Cgm 51 die eine, die von Gottfried, als Bearbeitung, die andere dagegen als Fassung anzuspre‐ chen ist. 12 Es gilt im Folgenden, den Blick auf einen Befund zu richten, der je nach Erkenntnisinteresse abweichende, einander teilweise widersprechende (überlieferungsgeschichtliche, texther‐ meneutische) ›Lösungen‹ mit unterschiedlich stark belastbaren Plausibilitätsansprüchen evoziert hat. Ausgangslage der Beobachtungen ist die Zuordnung des Cgm 51 zu einer Schreiber‐ werkstatt, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts im ostalemannisch-bairischen Raum tätig gewesen ist. 13 Forschungen haben gezeigt, dass sie »im Umfeld des Staufers Konrad IV. und seiner Ehefrau Elisabeth«, der Tochter des wittelsbachischen Herzogs Otto I., zu 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 227 <?page no="228"?> 14 »In diesen bayerisch-schwäbischen Kontext würde der Cgm 19 gut passen.« Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S. 203. Vgl. schon Bumke, Epenhandschriften (1987), S. 45-69, bes. S. 56f. - Siehe zum Entstehungsumfeld der Handschriften um den Cgm 19 und 51 auch Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-65; Baisch, Das Skriptorium des Cgm 51 (2013), S.-669-690. 15 Vgl. die Übersicht in Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S. 32; Baisch, Das Skriptorium des Cgm 51 (2013), S.-669-676. Dazu auch Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-101. 16 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S. 38, mit Bezug auf Schneider, Gotische Schriften (1987), Bd.-1. 17 Baisch, Textkritik (2006), S.-109. 18 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S. 58. Dazu auch Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S. 100f.: »Eine weitere Übereinstimmung der Codices besteht darin, dass sich die darin überlieferten Texte im Vergleich zur sonstigen Überlieferung als kürzende Bearbeitungen erweisen.« lokalisieren ist. 14 Das Profil dieses von den Schrifttypen her im Zusammenhang mit einer professionellen Kanzlei zu sehenden Skriptoriums liegt - nimmt man den Sektor volkssprachiger Literaturproduktion - in einer Fokussierung auf die mittelhochdeutsche Epik der Zeit. Neben Gottfrieds Tristan und Ulrichs Fortsetzung im Cgm 51 werden dem Skriptorium folgende Manuskripte zugewiesen: Wolframs von Eschenbach Parzival und die Titurel-Fragmente im Cgm 19 (München, Bayerische Staatsbibliothek), das Par‐ zival-Fragment E bzw. 17 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 194/ III) sowie die Fragmente S, die Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens enthalten (Salzburg, St. Peter, a. VI. 56). 15 Zentrales Charakteristikum der Werkstatt ist ein Changieren zwischen mo‐ dernen Ausstattungselementen (z. B. einer dreispaltige Anlage der Textseiten, der Beigabe von Illustrationen) und konservativen Schrifttypen: Die Codices sind ihrer Anlage und Einrichtung nach nicht nur anspruchsvoll, sondern auch modern; das gilt besonders auch für die kopierten Texte […]. Bei der Schrift dagegen handelt es sich nach K. Schneider um einen Typ, ›der schon zu Anfang des 13. Jahrhunderts […] verwendet wurde (S. 151) und noch auffällig viele altertümliche Kriterien aufweist‹ (S. 152) […]. Altertümlich wirken übrigens auch die Bildbeischriften […]. 16 Auf der Ebene des formalen Zugriffs auf die Vorlagen liegt das Charakteristikum in einer Redaktionstätigkeit, die sich in einer zum Teil nicht unerheblichen Varianz in »Textbestand, Textfolge und Textformulierungen« 17 aller ebendieser Schreibstube zugeordneten Überlie‐ ferungszeugen gegenüber den Textzuständen anderer Handschriften der jeweiligen Texte manifestiert. Und es ist gerade der kürzende Zugriff auf das vorliegende Textmaterial, der in diesem Zusammenhang von der Forschung immer wieder in Rechnung gestellt worden ist: Es darf daher als besonders wichtiges Merkmal des G-Skriptoriums festgehalten werden, daß man dort nicht nur in größerem Umfang deutsche Epik abgeschrieben, sondern auch kürzend redigiert hat. 18 Martin Baisch weist in seiner Studie zur Tristan-Handschrift M allerdings zurecht darauf hin, dass eine signifikante Kürzung des Textes nachweislich nur in diesem Münchener Codex (Cgm 51) als Phänomen größeren Ausmaßes zu fassen ist: Die einzelnen Überlieferungsträger des Skriptoriums sind von Kürzungen und Bearbeitungen in ganz unterschiedlichem Maß betroffen. Am stärksten sind Gottfrieds Romanfragment und die 228 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="229"?> 19 Baisch, Textkritik (2006), S.-109. 20 Vgl. zur ›Münchener Wolfram-Handschrift Cgm 19‹ die Ergebnisse der digitalen Neuausgabe der gesamten Parzival-Überlieferung in Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-77-143. 21 »Der Text des Parzival im Münchner Wolfram-Codex kann hingegen keinesfalls als kürzende Redak‐ tion bezeichnet werden.« Baisch, Textkritik (2006), S. 112. - Vgl. zur Auswertung der Auslassungen Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-61. 22 Zu den Salzburger Fragmenten von Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens vgl. Baisch, Das Skriptorium des Cgm 51 (2013), S. 686f. Es handelt sich um zwei Blätter einer ehemals dreispaltig beschriebenen Handschrift im Quartformat. Die Spalten an den Randseiten der Blätter sind jeweils weggeschnitten, sodass die insgesamt überlieferten 530 Verse lückenhaft sind. Vgl. mit Teilabdruck Karajan, Über zwei Bruchstücke eines deutschen Gedichtes (1854), S. 91-108, bes. S. 92f. Neue Erkenntnisse (mit Textabdruck) bietet Hayer, Ein neues Salzburger Fragment (1977), S. 21-32. - Zu den Parzival-Fragmenten Cgm 194/ III vgl. Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-126-136. 23 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-60. 24 Diese Tendenz wird vor allem mit Schreiber I (Klein, ebd.: G1) in Verbindung gebracht, dem Hauptschreiber von Wolframs Parzival im Cgm 19 sowie von Gottfrieds Tristan und Ulrichs Fortsetzung im Cgm 51. Dazu ausführlich Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S. 95-103; Baisch, Textkritik (2006), S.-103-108. 25 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S. 65. Mit Konrad von Winterstetten als Mäzen gehörten Rudolf von Ems und Ulrich von Türheim diesem »spätstaufischen Literaturzirkel[ ]« an. (Ebd., S.-63). 26 Vgl. die handschriftlichen Überlieferungsverbünde von Parzival und Titurel-Fragmenten im Cgm 19 sowie von Gottfrieds Tristan und seiner Fortsetzung durch Ulrich von Türheim. Dazu Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S. 136-143; Baisch, Textkritik (2006), S. 115-133. - Siehe zum Aspekt der Zyklenbildung unten, Kap.-3.1.2.1. 27 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-65. Fortsetzung durch Ulrich von Türheim im Münchner Tristan-Codex einer Redaktion ausgesetzt gewesen. 19 Der Parzival des Cgm 19, der der Fassung *G angehört, 20 ist nur minimal, gerade einmal knapp unter einem Prozent von Streichungen betroffen, 21 während die genannten Frag‐ mente zwar gegenüber anderen Überlieferungszeugen ebenfalls Kürzungen aufweisen, jedoch für zureichend valide Aussagen eine insgesamt zu geringe Textmenge tradieren. 22 Weil also das »Ausmaß, in dem die einzelnen Texte [sc. des Skriptoriums] von den Streichungen betroffen sind«, »höchst unterschiedlich[ ]« 23 ausfällt, lässt sich zwar sehr wohl die Tendenz zu einer formalen Bearbeitung der zugrundeliegenden Werke ansetzen, 24 die aber nicht mit einer generellen Kürzungspraxis im Sinne einer werkstattimmanenten Reproduktionsstrategie gleichzusetzen ist. Auffällig am Profil des Skriptoriums ist aus inhaltlicher Hinsicht - neben der bereits erwähnten Fokussierung auf die höfische Epik - eine Vorliebe für hochaktuelle Literatur aus dem Umkreis der »staufischen Literaturszene um Konrad von Winterstetten«. 25 Da‐ neben zeigt sich ein für die mittelalterliche Textauffassung vielfach zu beobachtendes Interesse an einer continuatio der stoffgeschichtlichen Zusammenhänge der abgeschrie‐ benen Texte. 26 Die »bayerische Besitzgeschichte aller erhaltenen Handschriften« 27 der Schreiberwerkstatt legt den spätstaufisch-wittelsbachischen Hof des jungen Konrad IV. als Auftraggeber nahe. Kodikologische Untersuchungen sprechen ferner dafür, dass die Re‐ produktion mittelhochdeutscher Epen als ›Nischensegment‹ einer größeren, professionell arbeitenden (Königs-)Kanzlei betrieben wurde, die kaum »auf die Herstellung volksspra‐ 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 229 <?page no="230"?> 28 Ebd. - Karin Schneider verweist auf die »Verwandtschaft, teilweise Identität der Schriften mit Urkundenschrift« und auf das »Zusammenwirken[ ] mehrerer gleichzeitiger, sämtlich auf einen bestimmten Schrifttyp eingelernter Schreiber«. Schneider, Gotische Schriften (1987), Bd. 1, S. 154. Aus diesem Grund deutet sie die Handschriftenherstellung als »Nebenproduktion einer Kanzlei« (Ebd.). - Zur Handschriftenproduktion »im Auftrag der staufisch-wittelsbachischen Königskanzlei« Baisch, Textkritik (2006), S.-99. 29 Vgl. Bumke, Epenhandschriften (1987), S. 45-59. Vgl. die nach wie vor unverzichtbaren Be‐ funde in Bumke, Mäzene im Mittelalter (1979), sowie, in europäischer Perspektivierung, Bas‐ tert / Bihrer / Reuvekamp-Felber (Hg.), Mäzenaten im Mittelalter (2017). 30 Zur Vermutung, »dass wir in der in M(BE) vorliegenden Textgestalt die erste Redaktion des Gedichts durch Gottfried sehen können, die er dann erweiterte […]«, vgl. Marold / Schröder (Hg.), Gottfried von Straßburg. Tristan (1977), S. LVI. Dazu schon Peschel, Prologprogramm (1976), S. 117-123. - Zur Identifikation des Redaktors mit einem in Straßburg urkundlich bezeugten Meister Hesse vgl. die These von Ranke, Die Überlieferung von Gottfrieds Tristan (1917), S. 156. - Die bisherigen ›Deutungen der Textbearbeitung und -kürzung‹ zusammenfassend Baisch, Textkritik (2006), S. 115- 122. 31 Vgl. Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-32-66. 32 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-54. 33 Vgl. die tabellarische Übersicht über die Verteilung der Kürzungen im Cgm 51 in Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-61. 34 Ebd. 35 Zur schlechten Qualität des Pergaments des Cgm 51 schon Montag, Die Handschrift Cgm 51 (1979), S.-31. chiger Handschriften […] spezialisiert« war. 28 Offenbar als Sonderfälle im regulären amtli‐ chen Schriftverkehr einer Kanzlei entstanden, dokumentieren die überlieferten Textzeugen mittelhochdeutscher Epik damit den für das Hochmittelalter als symptomatisch geltenden, heteronomen Charakter dieses Segments der Schriftbzw. Literaturproduktion. 29 Gerade deshalb aber liefern sie wichtige Einblicke in Strukturen literarischer Organisation und Kommunikation, aus denen sich Konturen einer historischen Rezeptionsordnung gewinnen lassen. In diesem Zusammenhang ist also aller Voraussicht nach die im Cgm 51 vorliegende Version des Tristan Gottfrieds von Straßburg sowie die Fortsetzung des Ulrich von Türheim aufgeschrieben worden. Die pointierteste Kurzfassung des Skriptoriums war schon mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Deutungsversuche, die in ihrer Divergenz eindrücklich belegen, dass sich die Kennzeichen der im Cgm 51 vorliegenden quantitativen Reduktion der beiden Texte jenseits eindeutiger interpretatorischer Sinnzuschreibungen bewegen. Während die ältere Forschung Gottfried selbst als Redaktor seines Werkes vermutete und die Werkstatt im elsässischen Raum lokalisierte, 30 hat Thomas Klein mit einer detailreichen Untersuchung zur Schreibsprache des Skriptoriums eine nach wie vor einschlägige überlieferungshistorische und kodikologische Perspektivierung vorgelegt. 31 Dominierend ist dabei die Ansicht, die Kürzungen in der Handschrift M seien »aus Sparsamkeit« 32 vorgenommen worden: So deute das Hauptgewicht der Eingriffe, das auf dem Schlussteil des Tristan-Komplexes liegt, 33 darauf hin, dass »der Wille zu kürzen erst während des Schreibens gewachsen zu sein [scheint] - vielleicht auch gefördert vom Streben, schneller fertig zu werden oder aber Pergament zu sparen«. 34 Dafür sprechen einerseits die wenig professionelle Aufbereitung des Pergaments 35 sowie andererseits Indi‐ 230 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="231"?> 36 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-61f. 37 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-37. 38 Beide Zitate Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-66. 39 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-61. 40 Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-128. 41 Siehe zu dieser Problematik die Ausführungen in Kap.-1.1. 42 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S. 61. - Den höheren Zeitaufwand für Planung und Durchführung vieler Textkürzungen geringeren Umfangs bemerkt auch Baisch, Textkritik (2006), S.-121. 43 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-54 u. 61. 44 Deighton, Studies in the Reception (1979), zitiert nach Baisch, Textkritik (2006), S.-119. 45 Deighton, Studies in the Reception (1979); Neubauer, Menschen - Bilder (1989). zien für eine tendentielle Materialknappheit, die offenbar eine gegen Ende der Handschrift hin zunehmend kompaktere Beschreibungspraxis bedingt habe: Dagegen zeigt auch Beschaffenheit der letzten Lage des Cgm 51, daß man mit dem Pergament sehr sparsam umging; offenbar wollte der Schreiber G1 schon auf dem vorletzten Blatt 108 den Text beenden: er hat hier noch einmal kräftig gekürzt, nämlich 132 von 319 Versen, hatte aber gleichwohl noch 10 Verse übrig, die er dann auf das Einzelblatt 109 schrieb. 36 Das »Streben nach sparsamer Ausnutzung des Pergaments« manifestiert sich »vor allem im zweiten Teil der Handschrift darin, daß öfters zwei Verse in eine Zeile geschrieben wurden.« 37 Zwar kann »die Diskrepanz von Anspruch und Vermögen«, die sich in einer hinter der als repräsentativ geplanten Ausstattung zurückbleibenden Ausführung äußert, angesichts des »chronischen Geldmangel[s] der letzten Staufer« einige Plausibilität für sich beanspruchen. 38 Gleichwohl lässt sich der »Wunsch nach Zeitersparnis« 39 nicht wider‐ spruchsfrei mit dem geschickt durchgeführten Kürzungsverfahren vereinbaren, das »eine genaue Textkenntnis des Bearbeiters verrät«. 40 Denn gerade die punktuelle Streichung kleinerer Passagen statt größerer Episoden erfordert ein höheres Maß an Zeitaufwand, um einen Text zu garantieren, dem nicht der Eindruck des ›Entstellten‹ anhaftet. 41 Die Ökonomie-These besitzt demnach eine ambivalente Implikation. Der Mangel an Material führt gerade nicht zu einer temporalen Beschleunigung des Produktionsprozesses; dieser wird vielmehr infolge der denkbar intensiveren Arbeitsbelastung in die Länge gezogen (dazu gleich mehr): Gegen den Wunsch nach Zeitersparnis als vorherrschende Triebfeder spricht allerdings, daß viele kleinere Kürzungen […] in Planung und Durchführung mehr Zeit gekostet haben dürften als das Schreiben des ungekürzten Textes; zumal dann, wenn vorhandene Verse umformuliert oder gar Überleitungsverse neu geschrieben werden mußten. 42 Ein zweiter Punkt, die Kürzung »um des Kürzens willen« als »Hauptmotiv für die Auslassungen im Cgm 51« 43 zu veranschlagen, greift ebenfalls nur auf einer Argumentati‐ onsebene. Ein »desire for brevity« 44 als allgemeine, kategorial gesetzte Tendenz der im Cgm 51 greifbaren Redaktion lässt sich mit der ungleichen Verteilung der Kürzungen vor allem auch zwischen Gottfrieds und Ulrichs Text nur ansatzweise stichhaltig erklären. Standpunktabhängig bleibt auch eine im Kern texthermeneutische Argumentation, wie sie - im Anschluss an die Forschungen Deightons und Neubauers 45 - Martin Baisch 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 231 <?page no="232"?> 46 Neben der monographischen Abhandlung (Baisch, Textkritik [2006]) vgl. in Auswahl: Baisch, abbreviatio (2005), S. 101-120; Baisch, Das Skriptorium des Cgm 51 (2013), 669-690; Baisch, Fassungenbildung (2021), S.-321-343. 47 Baisch, Das Skriptorium des Cgm 51 (2013), S.-684. 48 Baisch, Das Skriptorium des Cgm 51 (2013), S.-686. 49 Wie Baisch (Textkritik [2006], bes. S. 148-297) nachweisen kann, betreffen die typologisch unter‐ schiedlichen Kürzungen - neben digressiven Elementen wie Exkursen und Beschreibungen - auch narrative Zusammenhänge, die in Bezug zu bestimmten Figuren stehen (Isolde, Truchsess, Tristan), direkte Reden oder strukturelle Analogien und Wiederholungen. 50 Baisch, Textkritik (2006), S.-146. 51 Vgl. Schröder, Irrwege und Wege (1991), S.-140-156; Bonath, Überlieferung (1970/ 71). 52 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-54. 53 Baisch, Textkritik (2006), S.-146f. 54 Baisch, ebd., spricht immer wieder von »Minusstelle[n]« (S. 149 et passim), die der Münchener Codex gegenüber anderen Überlieferungszeugen aufweist. 55 Die Annahme einer aktiven, textgestalterischen Rolle des Redaktors kommt in zahlreichen ent‐ sprechenden Formulierungen zum Tragen. Vgl. Baisch, Textkritik (2006): Der Redaktor »leugnet« vorgelegt und nachdrücklich vertreten hat. 46 Auf der Basis einer Zusammenschau der Kürzungen entwirft er ein Gegenkonzept zur »Sparthese«, 47 aus dem heraus »ein gezielter Bearbeitungswille und ein vielschichtiges Bearbeitungskonzept sichtbar [werden]«. 48 Aus typologischer Hinsicht ist das Bearbeitungskonzept dabei in der Tat als ›vielschichtig‹ einzustufen: Die detailreiche Besprechung der einzelnen Kürzungsstellen dokumentiert Eingriffe unterschiedlichen Zuschnitts und Formats, 49 deren funktionsanalytische Zuord‐ nung zu einer dominanten ›Motivation‹ freilich nur um den Preis einer als absolut gesetzten »Absicht[ ] des Redaktors« 50 und einer daraus abzuleitenden textglobalen Konzeption zu haben ist. Den von Baisch minutiös nachgezeichneten Kürzungen liegt, wie schon die ältere Forschung bemerkt hat, zweifellos keine Regellosigkeit, sondern eine sinnhafte Tendenz zugrunde. 51 Weil sie sich allerdings stärker situativ im jeweils spezifischen mikrostrukturellen Kontext artikuliert, lässt sie im Grunde genommen - und hier wäre Klein beizupflichten - »kein durchgängiges redaktionelles Konzept, kein[en] inhaltliche[n] gemeinsame[n] Nenner für die Streichungen« erkennen, 52 die als leitende Vorstellungen für die Bearbeitung des g e s a m t e n Textensembles im Cgm 51 anzusetzen wären. Auf das methodische Risiko eines forcierten texthermeneutischen Zugangs weist Martin Baisch dabei selbst bewusst hin: Denn die Annahme, dass jede Kürzung des Textes, jede Textumformulierung und -umstellung eine interpretatorisch aufschließbare Relevanz innerhalb eines Bearbeitungskonzepts für sich beanspruchen kann, ist von methodisch nicht einholbarem Rekonstruktionsoptimismus geprägt. 53 Die konsequent texthermeneutische Lektüre erweist sich insbesondere deshalb als metho‐ disch ›heikel‹, weil sie stets den Ergebnissen moderner Interpretation und Rekonstruktion von Gottfrieds Romankonzept verpflichtet bleibt, mit denen die Befunde in M als eines ausgesprochenen ›Minustextes‹ abgeglichen werden und aus denen heraus sie erst ihren deutungsrelevanten Status beziehen. 54 Das Bestreben, jede einzelne Kürzungsstelle mit einer übergreifenden Bearbeitungstendenz erklären zu wollen, ja zu müssen, stößt gerade dort an Grenzen, wo die analytisch verfahrende Auslegeordnung gewissermaßen auf den Schreiber bzw. den Redaktor des Cgm 51 (rück-)projiziert wird. 55 Dass sich nämlich 232 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="233"?> (S. 244), »zensiert« (ebd.), ›lässt etwas zu‹ bzw. ›nicht zu‹ (S. 255), »instrumentalisiert« (S. 256), ihm »liegt daran« (S. 274). Die Aufzählung ließe sich leicht vermehren, z. B. »Der Texteingriff des Redaktors signalisiert seine Sympathie für das betrügerische Paar und desambiguisiert die Aussage des Exkurses, indem nun allein Melot und Majordo valscheit attestiert wird.« (Ebd., S.-208). 56 Baisch (Textkritik [2006]) konstatiert das selbst an einigen Stellen, z. B.: »Dass der Redaktor ausgerechnet in einem leidenschaftlichen Bekenntnis Isoldes zu Tristan kürzt, passt auf den ersten Blick nicht in den bisher deutlich gewordenen Rahmen.« (Ebd., S.-228). 57 Siehe Kap.-2.2. 58 Siehe die Ergebnisse in Kap.-2.1-2.3. 59 Die erste Hälfte von Gottfrieds Text weist so gut wie keine Kürzungen auf: »In der Textmitte beginnt der Redaktor des Cgm 51, Gottfrieds Romanfragment mittels Textauslassungen und Textumformulierungen zu bearbeiten.« Baisch, Textkritik (2006), S. 148. - Vgl. die Zusammenstellung der Kürzungsproportionen in Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-61. nicht sämtliche Texteingriffe mit einer allgemeingültigen Tendenz systematisieren und harmonisieren lassen, ist für historische Textzustände ein unumgängliches Faktum. 56 Diese Gleichzeitigkeit des Divergenten offenbart den alteritären Status mittelalterlichen Erzählens in der Volkssprache, dessen Spezifikum sie zugleich markiert. Mit den mehrdeutigen Lektürephänomenen germanistisch-mediävistischer Forschung kommt die methodische Grenze interpretierender Konstruktion in den Blick. Die Kür‐ zungen im Cgm 51 weisen, das kann als communisopinio gelten, weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht ein ähnlich durchstrukturiertes Profil auf, das beispielsweise dem konsequenten Kürzungsprinzip der Nibelungenklage *J vergleichbar wäre. 57 Folglich bezeugen die Textbefunde im Cgm 51 eine Arbeit am Text, die offenkundig keineswegs ›ordnungslos‹ verlaufen ist, deren Ergebnis sich aber einer letztgültigen, an den Kriterien absoluter narrativer Stringenz und Kohärenz orientierten Interpretation und dezidierten Festlegung bzw. ›Entschlüsselung‹ eines hinter dem Verfahren stehenden konzeptuellen Programms entzieht. Wie ist vor diesem Hintergrund das Phänomen einer abbreviier‐ enden Textbearbeitung im Cgm 51 zu bewerten? Scheinen doch die von der Forschung bisher vorgeschlagenen ambivalenten Deutungsversuche jeweils nur aus einer bestimmten (kodikologischen, textgeschichtlichen, texthermeneutischen) Perspektive heraus Geltung beanspruchen zu können. Die Tristan-Handschrift M gereicht, das lässt sich an diesem Punkt festhalten, zu einem veritablen Modellfall, an dem gestufte Evidenzen literarischer Kürzung beobachtbar werden. Denn anders als die in den Fallstudien fokussierten paradigmatischen Konstellationen (s. Kap. 2), in denen literarische Kürzung als gezieltes Instrument der Textmodellierung auf der Ebene der Textpoetik wirksam, als Adaptationspraxis oder auch als Element der Rezeptionssteuerung eingesetzt wird, 58 weist schon die Verteilung der Kürzungen im Cgm 51 auf ein Verfahren hin, das nicht dem gesamten Text in gleichem Maße gegolten haben kann. 59 Die Kürzungsprozeduren, die gegen Ende des Codex einen signifikanten Kulminationspunkt erreichen, lassen vielmehr Emergenzphänomene der Kürzung sichtbar werden, die - je situativ gebunden und in ihrem jeweiligen Kontext planvoll umgesetzt - an unterschiedlichen Qualitäten von Gottfrieds und Ulrichs Text ansetzen. Neben Kürzungen geringeren Umfangs innerhalb von Narration oder Figurenrede ist insbesondere im letzten Drittel der Handschrift M eine zunehmende Tendenz zu größeren Reduktionen innerhalb diskursiver Passagen zu beobachten. Wie Baisch herausgearbeitet hat, sind es in erster 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 233 <?page no="234"?> 60 Baisch, Textkritik (2006), S.-303. 61 Zu Kürzungen von descriptiones und dem Zurückdrängen einer »Kommentarbzw. Exkursebene« vgl. Baisch, Textkritik (2006), S. 303f. »[G]erade die Kommentarebene ist ja immer wieder gezieltes Objekt der Texteingriffe des Redaktors.« (Ebd., S. 255). - Zu diesem Verfahren zählt z. B. die Kürzung der deskriptiven Partien innerhalb der Minnegrotten-Episode (sie betreffen v. a. das Grotteninnere, den Lektürekanon, das gemeinsame Musizieren der Protagonisten und die in die Jagdbeschreibung verlegte, eigentliche descriptio der Grotte). Vgl. ebd., S.-228-248. 62 Vgl. exemplarisch Baischs Resümee zum Ende von Gottfrieds Text im Cgm 51 (Textkritik [2006], S. 273): »Der Bearbeiter der Münchner Tristan-Handschrift erzählt das sich fortsetzende Wechselspiel von Annäherung und Distanzierung zwischen Tristan und Isolde Weißhand nicht weiter. Er kürzt die dritte und vierte Versuchung des Helden. Er tilgt ebenso den letzten Monolog Tristans […].« Auch der »umfangreiche[ ] innere[ ] Monolog Isoldes ist nicht übernommen«. (Ebd., S. 262). - Zu den Wiederholungsstrukturen als eines konstitutiven Elements von Gottfrieds Poetik einschlägig Warning, Erzählen im Paradigma (2001), S. 176-209; Köbele, Wiederholung in Gottfrieds Tristan (2002), S.-97-115. 63 Baisch, Textkritik (2006), S.-263 u. 305. 64 Zum »Stillstand« des narrativen Prozesses durch diskursive Partien vgl. Baisch, Textkritik (2006), S.-237. 65 Das Pecia-System der Werkstatt bespricht Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-96. 66 Siehe oben, Kap.-3, Anm.-11. 67 Baisch, Textkritik (2006), S.-297. Linie »Abneigungen des Bearbeiters gegenüber Erscheinungsformen des Höfischen im Roman«, 60 die zu Streichungen von Exkursen, descriptiones und Erzählerkommentaren führen, also die Ebene der Manifestation höfischer Form- und Erzählkunst tangieren und zu den typischen Elemente zeitgenössischen romanhaften Erzählens gerechnet werden können (Stichwort: dilatatio materiae). 61 Aber auch Eingriffe im Bereich direkter Reden (Monobzw. Dialoge) zeigen immer wieder eine Präferenz zur Redundanzvermeidung, indem z. B. Wiederholungen inhaltlicher, sprachlicher wie struktureller Natur minimiert werden. 62 Als Effekt dieser »Reduktion der Sprachfülle« stellt sich dabei durchaus je situativ der Eindruck eines ergebnisbzw. »handlungsorientiertere[n] Erzählen[s]« ein, 63 wenn etwa diskursive Passagen oder umfangreichere Monologe, die zu einer Retardation des narrativen Progresses führen, entfallen oder knapper gehalten sind. 64 Dieser Eindruck gilt gleichwohl nur in einem enger umgrenzten Rahmen der betreffenden Kürzungsstellen und lässt kaum probate Rückschlüsse auf eine über konkrete Einzelbefunde hinausweisende Deutungsdimension zu im Sinne eines alternativen, vom Redaktor intentional verfolgten Textk o n z e p t s . Als problematisch erscheint eine solche Annahme nicht zuletzt vor dem Hintergrund des arbeitsteiligen Pecia-Systems, nach dem die Werkstatt, so die Befunde für den Cgm 19 und in Teilen für den Cgm 51, produziert hat. 65 Auch angesichts der insgesamt gut 4000, wohlgemerkt zur Hälfte durch mechanischen Verlust verantworteter Fehlverse, 66 die sich sowohl über Gottfrieds als auch Ulrichs Text verteilen, erscheint eine abstrahierende Gesamtdeutung unter der Prämisse einer »Entproblematisierung bzw. Harmonisierung der Konflikte« 67 im Tristan als hermeneutisch riskantes Postulat. Der emergente Charakter der Kürzungen im Cgm 51 lässt sich unter Einbeziehung der Überlieferungssymbiose sowie des für das Skriptorium charakteristischen Profils noch einmal anders perspektivieren. Die Tatsache nämlich, dass die Mehrzahl der Kürzungen auf den Schlussteil des Cgm 51, also auf Ulrichs von Türheim Fortsetzung des Tristan entfällt, führt zu einem Aspekt zurück, der in Zusammenhang mit der Ökonomie-These gesehen 234 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="235"?> 68 Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-63. 69 Zur Tristan-Fortsetzung Ulrichs von Türheim vgl. Strohschneider, Alternatives Erzählen (1991). 70 Ein ähnliches Beispiel für deutliche Qualitätsunterschiede innerhalb eines Bandes bietet der Gießener Codex von Hartmanns von Aue Iwein (Universitätsbibl., Hs. 97): Während für die »zweite Hälfte […] gleich für mehrere Lagen, Kosten sparend aufbereitetes Pergament zum Einsatz [kam]«, blieb »die Einrichtung und die Qualität des Textes […] auf hohem Niveau«. Wolf, Hartmannlektüre (2020), S.-69. 71 Zu den Spezifika des Zuende-Erzählens in den Tristan-Fortsetzungen, das sich als intertextuell angelegtes »Weitererzählenwollen« erweise, vgl. Strohschneider, Gotfrit-Fortsetzungen (1991), bes. S.-77. 72 Die Illustrationen, die dem Cgm 51 beigegeben sind, sind auf separaten Blättern gefertigt und eingebunden worden. Deshalb liegt es nahe, eine von den Textseiten getrennte Anfertigung der Bilder anzunehmen: »Skriptorium und Malschule müssen also nicht am gleichen Ort gelegen haben«. Baisch, Das Skriptorium des Cgm 51 (2013), S.-690. werden kann. Da Ulrich den Schenken Konrad von Winterstetten, der dem »engeren Umkreis des spätstaufischen Literaturzirkels« 68 angehörte, in seinem Text als Gönner erwähnt, muss als terminus ante quem für die Fertigstellung seines Textes das Todesjahr Konrads (1243) angesetzt werden. Das ist bekanntes Terrain. 69 Ulrichs Tristan-Fortsetzung ist damit - aus der Sicht der rekonstruierbaren Werkstatttätigkeit um die Mitte des 13. Jahrhunderts - ›brandneue‹ Literatur. Es ist denkbar, dass die Schreibarbeit in einem Skriptorium, das nachweislich arbeitsteilig verfahren ist, zunächst ausschließlich Gottfrieds Tristan galt, wofür eine begrenzte Menge an Pergament zur Verfügung gestanden hat. Ein Defizit hinsichtlich dieses Materialreservoirs könnte erst dann akut geworden sein, als man Ulrichs Text - möglicherweise nicht ursprünglicher Bestandteil der Handschrif‐ tenkonzeption - bald nach seiner Fertigstellung in das Manuskript habe integrieren und an die noch abzuschreibenden Teile des Tristan angleichen wollen. Der Einsatz der Kürzungen etwa in der Mitte von Gottfrieds Romanfragment und deren kontinuierliche Steigerung zum Ende hin sowie die offenkundige Sparsamkeit im Umgang mit dem Material vor allem in den letzten Lagen des Codex wären in dieser tentativen Versuchsanordnung Ausdruck eines heteronom gesteuerten, spezifischen historischen Interesses, welches an das aktuelle literarische Geschehen sowie die ökonomische Potenz des unmittelbaren Rezeptionshorizonts gebunden ist. 70 Auffällig ist nämlich allemal die typologische Verteilung der Kürzungen, die in der Regel nicht auf der Handlungsebene zu situieren sind, sondern schwerpunktmäßig die Ebene des Diskurses berühren (s. oben). Sie verweisen auf literarhistorische Präferenzen eines ›Zu-Ende-Erzählens‹ des stofflichen Kontinuums, 71 innerhalb dessen nicht-narrative Elemente als disponibel und für das Erfassen der Handlung bzw. der Sinndimension des ›ganzen‹ Textensembles als verzichtbar erscheinen können. Das belegen die im Einzelfall planvoll und geschickt durchgeführten Streichungen, auch wenn sie sich nicht zwanglos zu einer textglobalen Einheit gruppieren, sondern je punktuell alternative (Erzähl-)Strukturen infolge des Wegfalls diskursiver Einheiten emergieren lassen. Das Ergebnis eines solchen Bearbeitungsprozesses, der Cgm 51 in seiner überlieferten Gestalt, bildet damit eine Art Kompromiss: Er bietet die ›sinnvolle‹ Lektüre der kompletten Tristan-Geschichte (d. h. ohne Verluste auf der Handlungsebene) in einer repräsentativen, bebilderten Handschrift. 72 Und dennoch: Auch diese Annahme einer ›Nachzüglerrolle‹ von Ulrichs Text, die versucht, die unterschiedlichen historischen (kodikologischen, textgeschichtlichen, text‐ 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 235 <?page no="236"?> 73 Zur Scheidung der Schreiberhände zusammenfassend Baisch, Textkritik (2006), S. 103-109. Zu den Eigenheiten des Hauptschreibers (Schreiber I bzw. G1) vgl. Klein, Die Parzivalhandschrift Cgm 19 (1992), S.-32f. u. 54-58; Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-95-101. 74 Beide Zitate Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-47. 75 »In beiden Handschriften [sc. Cgm 19 und Cgm 51] beruhen die Kürzungen auf einem geschickten Vorgehen, das in seinen Verfugungen eine genaue Textkenntnis des Bearbeiters verrät.« Stolz, Parzival im Manuskript (2020), S.-128. hermeneutischen) Kategorien zusammenzudenken, bleibt konstruierter Befund. Es ließe sich einwenden: Was mag einen Redaktor (im Falle des Cgm 51: den Schreiber I bzw. G1) 73 bewogen haben, einen im literarischen Tagesgeschäft hochaktuellen Text so einschneidend zu bearbeiten? Zumal in dem Wissen, dass der Autor des Textes, Ulrich von Türheim, genau dem literarischen Zentrum angehörte, für das die Abschrift seines Textes (im Verbund mit Gottfrieds Tristan) mutmaßlich bestimmt war? Schon Joachim Bumke hat zu bedenken gegeben, dass Ulrich »die Textfassung seines Werkes im Cgm 51 gekannt« haben könnte. »Vielleicht hat er sie selbst verfaßt.« 74 In diesem Fall wäre die Kurzfassung von Ulrichs Werk, die nachweislich mit großer Detailkenntnis des Textes gearbeitet ist, 75 als Autorvariante bzw. Autorfassung einzustufen - mit wiederum unterschiedlich zu beurteilenden Implikationen auf die Frage nach den leitenden Gesichtspunkten für die im Text emergenten Kürzungsoperationen und deren semantisches Potential. Es bleibt festzuhalten: Die skizzierten Deutungsoptionen bewegen sich, was ihre Rück‐ koppelung mit dem historischen Befund betrifft, in einem Feld gestufter Evidenzen. Aus dieser grundsätzlichen Beobachtung heraus lassen sich zwei Indizien ableiten, die für das Verfahren literarischer Kürzung konstitutiven Charakter besitzen. Erstens: Kürzungsprozeduren sind nicht mit einem ›mechanischen‹ Programm zu verwechseln. Sie operieren jenseits eines dualistischen Bezugssystems, das für die Textbearbeitung eine Ausschließlichkeit des gewählten Zugriffs fordert (abbreviatio vs. amplificatio). Ihr Status changiert insofern zwischen den Polen einer aufs Textganze gerichteten konzeptuellen Matrix und einer sich je punktuell realisierenden Modellierung von Form-Inhalts-Rela‐ tionen. Dabei müssen unterschiedliche, einander zum Teil widerstrebende Faktoren als bedingende Konstituenten in Rechnung gestellt werden. Aufgrund ihrer typologischen Vielgestaltigkeit lässt sich anhand der Formen literarischer Kürzung nur im Einzelfall eine präsupponierte Kohärenzerwartung an ein Prinzip von textglobaler Stringenz rekonstru‐ ieren. Vielmehr artikuliert sich die literarisch instruierte Technik quantitativer Reduktion in einer spezifischen Qualität, die, auch ohne mit einer universalen Intentionalitätsbehaup‐ tung harmonisierbar zu sein, als abstrakte Orientierungsgröße anzusetzen ist. Daraus folgt, zweitens, freilich nicht, dass die einzelnen Eingriffe und die abbreviierende Arbeit am Text quasi ›blindlings‹ erfolgen. Die im Cgm 51 in weiten Teilen zu beobachtende akkurate Vorgehensweise an den Kürzungsstellen dokumentiert, dass, wenn nicht das Textganze, so doch der unmittelbare und angrenzende Kontext der jeweils abbreviierten Partie im Blick war. Die Kürzungen setzen damit je neu und punktuell an bestimmten Strukturen des Erzählens an, ohne dabei zwangsläufig in eine integrale, absolut gesetzte Konzeption überführbar zu sein. In dieser Hinsicht erscheint Kürzung als emergentes Phänomen, das eine sich jeweils situativ entfaltende Formungsenergie freisetzt. Ein alter‐ natives Deutungsprofil für einzelne Passagen des gekürzten Textes mag sich im Einzelfall 236 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="237"?> 76 Anders und programmatisch in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. Siehe Kap.-2.1.1. 77 Siehe Kap.-2. aus der Interferenz der Kürzungsmerkmale und deren Relationierung gewinnen lassen. Der Unterschied gegenüber der in Kap. 2 geschilderten konzeptuellen Paradigmatik ist dabei ein gradueller: Im Gegensatz zu expliziten (Herborts von Fritzlar Liet von Troye) und impliziten ›Selbstauslegungen‹ der Texte (Nibelungenklage *J; Nibelungenlied n) muss eine historisch valide Funktionsbestimmung der Kürzung im Falle gestufter Evidenzen mehrdeutige Lektüren einkalkulieren, die an die Grenze des methodisch Kontrollierbaren führen. Dessen ungeachtet wird an der Typologie der Kürzungen im Cgm 51 eine historische Po‐ sition evident, die Erzählstrukturen hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit für das Erzähl-Kon‐ tinuum evaluiert. Diskursive Formationen (v. a. descriptiones, Exkurse, Kommentare) stehen, wie deren häufige Streichung belegt, hinter handlungstragenden Komponenten des Erzählens zurück. Sie erscheinen dadurch aber nicht als grundsätzlich verzichtbare Elemente höfischen Erzählens. 76 Erst das Erfordernis, ›sich kürzer zu fassen‹, das aufgrund anzunehmender Materialknappheit virulent geworden sein könnte, lässt einen Prozess der Selektion und Evaluation des Erzählten in Gang kommen. Ein Prozess, der in seiner situativ gebundenen Manifestation die wesentlichen Komponenten der Handlungsstruktur favorisiert. Literarische Kürzung - und als solche ist der Bearbeitungsmodus im Cgm 51 zweifellos zu bezeichnen - erweist sich also auch dort, wo sie nur punktuell und im Dienste differenter, mitunter heteronomer und heterologer Formansprüche zum Einsatz kommt, als poetisches Strukturprinzip, das mittels Verfahren der Reduktion, Reformulierung und Rekombination narrative Qualitäten profiliert. 3.1.2 Typologische Vielfalt redaktioneller Kürzungsverfahren Der Blick auf Kürzungsphänomene im Cgm 51 und deren divergierende Bewertung in der Tristan-Philologie führt die methodische Grenze interpretierender Konstruktion schlaglichtartig vor Augen. Neben den paradigmatischen Vergleichsfällen, bei denen eine Heuristik der Kürzungen, wie oben ausgeführt, aufgrund der implizit eingeschriebenen oder explizit markierten ›Poetiken‹ historisch plausibel angesetzt werden kann, 77 verweisen die unterschiedlich akzentuierten Befunde zu Gottfrieds Tristan und Ulrichs Fortsetzung in der Münchener Handschrift M (Cgm 51) auf ein Feld gestufter Evidenzen, innerhalb dessen das Profil literarischer Kürzung historisch signifikant wird. Je nach Einzelfall handelt es sich dabei nicht um Konstellationen, bei denen sich das hinter der Reduktion stehende ›Kalkül‹ unmittelbar aus dem Material selbst erschließt, sondern um heterogene, ja zum Teil disparate Gemengelagen, die den nicht systematischen Charakter der Kürzung dokumen‐ tieren. Ihr emergenter Status - der nicht zugleich ein kontingenter ist - manifestiert sich in einem Ebenenwechsel der abbreviierenden Eingriffe, die zwischen den Polen Diskurs und Narration ganz unterschiedliche Dimensionen der Texte in jeweils verschiedener Dichte, Intensität und Frequenz erfassen können (sprachliche Bezugsnetze und Kongru‐ enzen, semantische Differenzierungen, Kohäsion und Kohärenz von Satzgefügen und Abschnitten, Erzählsequenzen, diskursive Elemente etc.). Ihre Zusammenschau lässt nur je 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 237 <?page no="238"?> 78 »Die zugrundeliegenden Tendenzen und Motivationen der Kurzfassungen lassen sich freilich nur ansatzweise fassen.« Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 58. - Auf »alternative redaktionelle Konzepte« und Funktionen der Kürzung verweist auch Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-429. 79 Zum Intentionalitätspostulat als Definitionskriterium einer Fassung vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-32. Es ist problematisiert in Kap.-1.2. 80 Der römische Rhetoriklehrer Quintilian warnt vor allzu forcierter brevitas-Rhetorik wie derjenigen des Sallust (vitanda est etiam illa Sallustiana […] brevitas, Inst. or. 4,2,45), weil extreme Kürze dem Erfassen der Aussage durch den Zuhörer bzw. Leser hinderlich sei und deshalb zur obscuritas tendiere. Stattdessen solle man sich an einen ›mittleren Weg‹ halten: ›So viel wie nötig zu sagen und so viel wie ausreichend ist‹ (media haec tenenda sit via dicendi: ›quantum opus est et quantum satis est.‹ Inst. or.-4,2,46). fallbezogen ein stringentes Konzept oder eine konsequente Bearbeitungstendenz erkennen. Jenseits solcher paradigmatischen Manifestationen existieren nicht wenige Exponenten einer im Bereich der mittelhochdeutschen Epik verbreiteten Überlieferungsvarianz, bei denen die Rekonstruktion einer Systematik der kürzenden Eingriffe ›uneindeutigere‹ Resultate einkalkulieren muss. 78 Analytisch fundierte Evidenz in Bezug auf die Gruppierung der Kürzungen zu einem Gesamtbefund ist dann nur partiell für spezifische Textbzw. Versarrangements, aber nicht im Sinne einer auf einen Gesamtbefund zu applizierenden prononcierten Intentionalitätsbehauptung zu gewinnen. Der abbreviierende Zugriff auf vorgängiges Material unterliegt, wie die Ausführungen gezeigt haben, keinen normativen Vorgaben. Er formiert sich in Abhängigkeit von unter‐ schiedlichen Referenzgrößen wie der Interaktion zwischen gattungsspezifischen Bezugs‐ systemen, diskursiven Kontexten und variablen Ausprägungen des jeweiligen historischen Interesses an und mit dem Text. Deshalb bildet die Kürzungspraxis eine typologische Vielfalt aus, die im Folgenden exemplarisch umrissen werden soll. Diese ›offene‹ Bewegung zeigt, dass die hermeneutische Konstruktion einer programmatischen Einheitlichkeit der Texteingriffe (Stichwort: »Formulierungs- und Gestaltungswille«) 79 für das breite Spektrum der erhaltenen Kurzfassungen ein für die wissenschaftliche Analyse letztlich uneinholbares Postulat bleibt. Vielmehr hält das Verfahren literarischer Kürzung mit seinen mehrdimen‐ sional zu instrumentierenden Techniken der Textbearbeitung ein Reservoir epistemischer und rhetorisch-poetischer Spielräume bereit, die je situativ und in Abhängigkeit von den kontextuellen Voraussetzungen, überlieferungshistorischen Implikationen sowie hetero‐ nomen Zielvorgaben realisiert werden können. Dass die Einschätzung literarischen Stils, speziell eines solchen, der auf zentralen Kom‐ ponenten der brevitas-Rhetorik aufruht, zeitbedingten Einschätzungen mit schwankenden Axiologien unterworfen ist, dokumentieren - im Feld der lateinischen Philologie - die wissenschaftlichen Qualitätsurteile zur schon in der Antike topisch gewordenen brevitas des römischen Historikers Sallust (Sallustiana brevitas). 80 Insbesondere die Tatsache, dass sie »an vielen Stellen zu einer bewußt gepflegten, durch Unvermitteltheit entstehenden 238 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="239"?> 81 Kallendorf / Gondos (Übers.), Art. ›Brevitas‹ (1994), Sp. 54. »Seneca nennt als Merkmale der ›brevitas sallustiana‹ die verkürzten Sätze (amputatae sententiae), unerwartet auftauchende Wörter (verba ante exspectatum cadentia) und die dunkle Kürze (obscura brevitas). Zu Sallusts Vorlieben zählen Asyndeton und Ellipse.« (Ebd., Sp.-55). 82 Zur obscuritas als ›Gegenpol‹ des rhetorischen Ideals der perspicuitas vgl. Walde, Art. ›Obscuritas‹ (2003), Sp. 358-368. - Mit Fokus auf die volkssprachige Literatur des Mittelalters vgl. Köbele / Frick (Hg.), wildekeit (2018). 83 Zitiert nach Reynolds (Hg.), S. Sallusti Crispi Catilina, Iugurtha […] (2016). Unverständlichkeit« 81 tendiert und damit die Grenze zur obscuritas zu überschreiten droht, 82 war Gegenstand einer mitunter kontrovers geführten Debatte um die Konstitution des ›richtigen‹ Textes. Im Zentrum der Rekonstruktionsversuche stand (und steht) also mit der Frage nach dem ›authentischen‹ Charakter des auf rhetorische Kürze angelegten Stils zugleich diejenige nach den Möglichkeiten von dessen historisch adäquater Bewertung: Non enim deerunt lectores qui obscuram illam Sallusti breuitatem uel minus obscuram facere uelint uel minus breuem, qui se oleum perdere non putent si efficiant ut paulo lenius fluat quodcumque abruptum esse uideatur; conabuntur alii orationem magis etiam Sallustianam reddere quam ipse reliquerat. Itaque qui haec scripta ad priscum eorum statum reuocare conantur cum codices qui ea nobis tradiderunt tum antiquorum auctorum testimonia summa diligentia excutere debent ut orationis uere Sallustianae uestigia deprehendant auctorique suo uindicent. Hoc propositum nobis semper tenendum est, cum ueritatem ex hac uasta testium turba elicere temptamus. (praefatio, S. Vf.) 83 Es wird aber nicht an Lesern fehlen, die jene dunkle Kürze (obscuram breuitatem) des Sallust entweder weniger dunkel werden machen wollen oder weniger kurz, die glauben werden, dass sie nicht vergeblich Mühe aufwenden, wenn sie bewirken, dass alles das ein wenig gelinder daherfließt, was (allzu) abgehackt (abruptum) zu sein scheint. Andere werden versuchen, die Rede sogar in noch höherem Maße ›Sallustianisch‹ wiederzugeben (magis Sallustianam), als er sie selbst hinterlassen hat. Deshalb müssen diejenigen, die versuchen, diese Schriften in ihren früheren Zustand zu versetzen, sowohl die Handschriften, die uns diese überliefert haben, als auch besonders die Zeugnisse der antiken Autoren mit größter Sorgfalt prüfen, um die Spuren des Sallustianischen Sprachgebrauchs (orationis Sallustianae uestigia) nach den richtigen Grundsätzen erfassen und ihrem Urheber zuschreiben zu können. An diesen Vorsatz müssen wir uns immer halten, wenn wir versuchen, die ›Wahrheit‹ (ueritatem) aus dieser weiten Menge an Textzeugen auszuwählen. Der Umgang der Sallust-Philologie mit der für sein Werk konstitutiven brevitas-Rhetorik ist ein schlagendes Beispiel für die Notwendigkeit eines historisch validen Zugangs zu adäquaten Bewertungskriterien der je zeit- und kontextgebundenen Ausprägungen eines bestimmten literarischen Stils. Gerade die Frage nach den Spezifika historischer Stilistik bedarf der Referentialisierung mit den zeitgenössischen Bezugsgrößen, die die historische ›Richtigkeit‹ des Wertungsmaßstabs im Sinne der Erschließung einer möglichst unverfälschten Diskursebene garantieren (Stichwort: veritas). Diese Einsicht ist keineswegs so banal wie selbstverständlich. Denn sie muss, wie der renommierte Altphilologe L. D. Reynolds in der Praefatio zur einschlägigen Sallust-Edition betont, erst als Ergebnis eines längeren Prozesses textkritischer und hermeneutischer Arbeit gesehen werden. Mutatis mutandis lässt sich demnach auch für volkssprachige Texte des Mittelalters geltend machen: Das rhetorisch-poetische Verfahren der abbreviatio steht in einem Span‐ 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 239 <?page no="240"?> 84 Zu den Formen und Funktionen literarischer abbreviatio in der lateinischen Tradition und im Bereich deutschsprachiger Schriftlichkeit siehe Kap. 1.3 u. Kap. 1.4. Vgl. zusammenfassend Frick, Historische Abbreviationspoetik (2023), S.-9-45. 85 Ziel ist keine auf Vollständigkeit und Systematik angelegte Übersicht. Vielmehr soll das Spektrum skizziert werden, innerhalb dessen die Verfahren literarischer Kürzung Kontur gewinnen. Die dabei angesetzten Kategorien sind insofern als exemplarisch zu verstehen, als sie nur einen bestimmten Aspekt der jeweils skizzierten Modellfälle fokussieren. - Zur systematischen Präzisierung einer Poetik der Kürzung siehe Kap.-3.2. 86 Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S. 367: »Nicht einig ist sich die Forschung über die den Kürzungen zugrunde liegenden Motivationen.« 87 Vgl. zur Textgenese und der Analyse der Kopiervorgänge Fasching, Original und Kopie (2020), S.-145-271. nungsfeld divergierender Anforderungen, kombinatorischer Bearbeitungsprozeduren und kaum mehr im Detail zu rekonstruierender Reproduktionsparameter. D a s s die abbreviatio zu den gängigen und je nach Diskurshorizont artifiziell kultivierten Techniken literarischer Arbeit am Text gehört hat, steht aufgrund der erhaltenen Zeugnisse mit den ihnen inhä‐ renten Verweisstrukturen außer Frage. 84 Eine historisch-analytisch verfahrende Deutung der Befunde muss angesichts der unterschiedlichen Erscheinungsformen der Kürzung mit einem jeweils gestuften Grad an (Selbst-)Evidenz stets den schwierigen Balanceakt zwischen zwei miteinander interferierenden Beobachtungsebenen suchen: zwischen der Ebene der hermeneutischen Abstraktion und der Ebene der Konkretion der Textbefunde, aus der sich ein heuristischer Modellanspruch für das übergeordnet fokussierte Prinzip (hier: eine Poetik der Kürzung) überhaupt erst ableiten lässt. Die im Folgenden vorgelegte exemplarische Perspektivierung der typologischen Vielfalt redaktioneller Kürzungsver‐ fahren soll den Blick öffnen für Konstellationen und Formate, in denen literarische Kürzung über die paradigmatischen Grundkategorien hinaus operieren kann. Sie fungieren damit als Korrelat für die Frage nach der Geltung und literarhistorischen Reichweite abbreviierender Poetiken. 85 3.1.2.1 Heteronome Reproduktionsstrategien. Werkstattkontexte und Überlieferungsverbünde (Rappoltsteiner Parzifal) Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und seine Fortsetzung durch Ulrich von Türheim im Cgm 51 ist zwar einer der frühesten Belege für die Problematiken einer interpretie‐ renden Erschließung der Textbefunde, 86 aber keineswegs ein in diesem Bereich singuläres Phänomen. Gerade aus der Perspektive der rekonstruierbaren Werkstattkontexte und der in den Handschriften sich manifestierenden Überlieferungsverbünde lassen sich durchaus vergleichbare Befunde eines kürzenden Zugriffs auf den jeweiligen Prätext beobachten. Und selbst dort, wo sich die Vorlage des gekürzten Textes ausnahmsweise erhalten hat, lassen sich die Bearbeitungsmuster keineswegs immer eindeutig bewerten. Die im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandene Abschrift des Rappoltsteiner Parzifal (Roma, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409; Sigle V'), die auf dem nur wenig jüngeren Codex Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Don. 97 (Sigle: V), beruht, ist ein solch exzeptioneller Fall. 87 Auf der Basis detaillierter Analysen hat die Forschung das Verhältnis 240 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="241"?> 88 Den mit dem Terminus ›Transkription‹ gesetzten Bezugsrahmen der Texte diskutieren Stolz / Fa‐ sching, Original und Kopie (2021), S.-347f. 89 Insgesamt werden sieben Schreiber der im nordbairischen-fränkischen Raum zu lokalisierenden Werkstatt zugeordnet. Vgl. Schneider, Gotische Schriften (2009), Bd.-2, S.-121. 90 Der Werkstatt werden außer dem Nuwen Parzifal folgende epische Texte zugeordnet: Lohengrin, Albrechts Jüngerer Titurel, die sog. Willehalm-Trilogie sowie Fragmente von Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, Heinrichs von dem Türlin Diu Crône, Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. Vgl. die Übersicht bei Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-351. 91 Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-357. 92 Hier beschränken sich die »Kürzungstendenzen […] auf einen einzigen Kopisten, der im Skriptorium sonst nicht nachgewiesen werden kann.« Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-358. 93 Die Fortsetzungen sind »ursprünglich im Anschluss an Chrétiens Romanfragment entworfen […], nicht aber für Wolframs Version.« Sietz, Erzählstrategien (2017), S.-12. 94 Sietz, Erzählstrategien (2017), S. 18. - Zur auserzählenden Vollständigkeit als Charakteristikum des Umgangs mit Romanfragmenten des deutschen Mittelalters vgl. am Beispiel von Wolframs Willehalm vgl. Vetter, Textgeschichte(n) (2018). Siehe dazu am Beispiel von Konrads von Würzburg Trojanerkrieg unten, Kap.-3.1.2.4. 95 Für das Nibelungenlied-n siehe Kap.-2.3. 96 Diese ist auch für ›Transpositionen‹ höfischer Epen in neue, insbesondere chronikalisch geprägte Kontexte anzusetzen. Siehe Kap.-3.1.2.3. 97 Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-346. der beiden Texte als das von ›Original‹ und ›Kopie‹ bestimmt, 88 das direkte Einblicke in historische Prozesse der handschriftlichen Reproduktionspraxis erlaubt. Ähnlich wie der Cgm 51 wird auch der Codex Casanatensis einem Skriptorium zugeordnet, in dem jeweils mehrere Schreiber zugleich an einem Werk gearbeitet haben. 89 Dieser Schreibstube werden heute vollständig oder fragmentarisch erhaltene Abschriften von Texten zugewiesen, die sich schwerpunktmäßig im Stoffkreis der Wolfram’schen Werke und deren Fortsetzungen bzw. Vorgeschichten bewegen, aber auch andere Vertreter der mittelhochdeutschen Epik umfassen. 90 Wie Michael Stolz und Richard Fasching zeigen konnten, bietet die Analyse der aus dieser Werkstatt hervorgegangenen ›Transkripte‹ keinen Hinweis auf spezifische Usancen im Umgang mit dem vorgängigen Material. Anhand derjenigen erhaltenen Manuskripte, deren Textbestand repräsentativere Aussagen über die Kopierpraxis der Epenwerkstatt zulässt, sind »gegenüber den Vorlagen keine auffälligen Kürzungstendenzen erkennbar«. 91 Umso signifikanter erscheint vor diesem Hintergrund die durch V' repräsen‐ tierte gekürzte Version des Rappoltsteiner Parzifal. 92 Der Codex Casanatensis überliefert Kompilationen der ins Deutsche übertragenen Conte du Graal-Fortsetzungen, an die sich die letzten beiden Bücher von Wolframs Parzival anschließen (sog. Nuwer Parzifal). 93 Er dokumentiert damit - wie das ihm zugrundeliegende ›Original‹ - ein historisches Interesse an einer Zyklenbildung als »für die Literatur des Spätmittelalters« typisches Phänomen, 94 das auch im Heldenbuchkontext beobachtet werden kann. 95 Die abbreviatio zielt also einerseits auf die Ebene der narrativen Selektion, die sich an der anvisierten Tektonik der ›Sammlung‹ orientiert. 96 [E]s gibt Anzeichen dafür, dass in diesem Manuskript die in der Karlsruher Handschrift als erster Teil sehr wohl vorhandenen Bücher 1-14 von Wolframs Parzival gar nie abgeschrieben worden sind. 97 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 241 <?page no="242"?> 98 Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-349. 99 Von den 37.000 Versen in V fehlen in V' 5.300 Verse. Zur Beschreibung der Varianz ausführlich Fasching, Original und Kopie (2021), S.-227-267. 100 Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S. 357. - Eine Graphik, die die Verteilung der Kürzungen visualisiert, bietet Sietz, Erzählstrategien (2017), S.-133, Abb. 13. 101 Sietz, Erzählstrategien (2017), S.-133. 102 Die Arbeitsprozesse sind exemplarisch beschrieben in Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-350 u. 365; mit eingehender Analyse auch Fasching, Original und Kopie (2020), S.-255-267. 103 Vgl. die Befunde zur Überlieferung von Heinrichs von Veldeke Eneasroman in der Hs. w (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2861) in Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), der die ad hoc verfahrende Kürzungspraxis dokumentiert (ebd., S. 318; 326; 332). Siehe unten Kap. 3.1.2.3. 104 Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-364. 105 Diese Elemente fasst Henkel (Kurzfassungen [1993]), S. 49f.) zu einer Typologie zusammen. - Für das Liet von Troye und die Nibelungenklage *J siehe Kap.-2.1.3 u. Kap.-2.2.1. 106 Der Reimpaarverses fungiert als formale Orientierung beim Verfassen von Überleitungen, beim Einfügen neuer Verse etc., um die metrische Struktur an den Kürzungsstellen zu erhalten. Vgl. Sietz, Andererseits weist der in V' enthaltene Textbestand des Parzival (die Bücher 15 und 16) im Vergleich mit V »zum Teil umfangreiche Kürzungen« auf. 98 Insgesamt bemisst sich die Reduktion des ursprünglichen Textbestandes auf 14 Prozent. 99 Die kürzenden Eingriffe setzen - wiederum in gewisser Weise strukturanalog zum Befund im Cgm 51 - abgesehen von wenigen Ausnahmen erst etwa in der Mitte des Textes ein und nehmen »gegen Ende der Handschrift deutlich zu[-]«. 100 Diese Verteilung spricht dafür, dass die Kürzungen nicht programmatisch begründet, sondern auf die zunehmend und spontan eingreifende Arbeit eines einzigen Schreiber-Redaktors zurück‐ zuführen sind. 101 Für das Auftreten solcher sich ›spontan‹, d. h. im jeweiligen situativen Zusammenhang, einstellender Kürzungen lässt sich kein kohärentes Prinzip im Sinne eines genuinen, für die gesamte Abschrift projektierten Bearbeitungskonzepts geltend machen. Die ›Spontaneität‹ der reduktiven Kopiervorgänge kann vielmehr gerade in der konstellierenden Lektüre von ›Original‹ und ›Transkript‹ nachvollzogen werden. Einige Stellen liefern Indizien für Streichungen und Auslassungen, die der Schreiber im Arbeitsprozess ad hoc vorgenommen hat. So sind mehrmals Wörter durchgestrichen oder mehrere Verse zu einem zusammen‐ gezogen. Andere Stellen zeigen, wie der Schreiber zunächst mit dem Kopieren einer Passage der Vorlage, die er offenbar nicht zur Gänze überblickte, beginnt, sich dann für Kürzungen entscheidet und den Rest der Passage entweder zusammenfasst oder ganz überspringt. 102 Solche Tendenzen der spontanen Arbeit am Text sind auch für weitere Kurzfassungen höfischer Epik zum Teil am kodikologischen Befund zu erhärten. 103 Im Spezialfall des Codex Casanatensis bieten sie jedoch die Möglichkeit, »im direkten Vergleich mit der Vorlage Kürzungsprozesse in situ am Material zu beobachten.« 104 Die Verfahrensweise der abbreviatio entspricht dabei den im Bereich der Überlieferung mittelhochdeutscher Epik verbreiteten Modi der Arbeit am Text: Kürzungen im Einzelvers, die Zusammenziehung zweier oder mehrerer Verse zu einem, die Kondensierung von Versgruppen oder umfangreicheren Passagen, die ersatzlose Streichung ganzer Episoden oder Textabschnitte. 105 Formales Charakteristikum ist die Wahrung von Metrik und Reim‐ struktur. 106 In inhaltlicher Hinsicht tangieren die Kürzungen vorzugsweise diskursive 242 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="243"?> Erzählstrategien (2017), S. 122-126. - Ähnliches lässt sich für das Beibehalten des Strophenschemas für die Retextualisierung des Nibelungenliedes in der Hs.-n beobachten. Siehe Kap.-2.3. 107 Dabei kommt es zu »ersatzlosen Tilgungen, zur Zusammenfassung von Handlungskomponenten, was mitunter zu erläuternden Ergänzungen führen kann, sowie zu Kürzungen bei Aufzählungen und Beschreibungen.« Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-358. 108 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-49. 109 Auf das Material-Argument von Wolf (Buch und Text [2008], S. 130) verweisen Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-368f. 110 Beide Aspekte in Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-368f., Zitat S.-369. 111 Die ›Materialthese‹ gewinnt durch einen weiteren Befund an Plausibilität: Die aus demselben Skriptorium wie der Codex Casanatensis stammende Abschrift von Albrechts Jüngerem Titurel weist große Lücken im Textbestand auf, für die offensichtlich mit einer an den entsprechenden Stellen defekten Vorlage ursächlich gewesen sein dürfte. Denn der Schreiber hat jeweils von mehreren Strophen nur Teilverse kopiert und für die fehlenden Verse Platz gelassen, um für diese ›Lücken‹ »die Möglichkeit für eine spätere Ergänzung […] nach einer anderen Vorlage« zu schaffen. Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-357. Elemente (Aufzählungen, descriptiones, Exkurse), seltener handlungstragende Partien. 107 Sie zeigen insofern durchaus einen »produktiv mit- und weitergestaltende[n] Redaktor« 108 bei der Arbeit - freilich mit der Einschränkung, dass sich die komprimierenden Eingriffe im Falle des Codex Casanatensis (analog zum Cgm 51) nicht mit eindeutigen Evidenzkriterien zu einem schlüssigen, in sich konsistenten Gesamtbild fügen. Hier wie dort sind nämlich durchaus - für die hermeneutische Interpretation zwar ›unbeliebte‹, für die mittelalterliche Manuskriptkultur aber fundamentale - heteronome Reproduktionspragmatiken als funk‐ tionale Alternativen mitzubedenken: Am Pergament bzw. an den Rohstoffen ließ sich am einfachsten sparen, ohne das Buch in seiner sichtbaren Kostbarkeit vollständig zu diskreditieren. 109 Und so könnten materielle Gründe - die mindere Qualität des Pergaments, das für die Herstellung des Codex Casanatensis verwendet worden ist, möglicherweise auch die »zeitlich beschränkte Verfügbarkeit der Vorlage« 110 - zusätzliche Indizien dafür liefern, dass der Kürzungsprozess nicht per se als geplante Größe anzusehen ist, sondern sich auch während des Kopiervorgangs je situativ, gewissermaßen spontan und in Abhängigkeit von textexternen Faktoren einstellen kann. 111 3.1.2.2 Situative Logiken redaktioneller Kürzung (Hartmann von Aue, Iwein) Solche Reflexe einer spontanen Arbeit am Text lassen sich nicht nur an der Abschrift des Rappoltsteiner Parzifal im Codex Casanatensis beobachten, sondern gehören auch in anderen Überlieferungskontexten zu den typischen Bearbeitungmodalitäten kürzender Redaktionen. Sie können für Transpositionen höfischer Epen in neue, im Spätmittelalter bevorzugt chronikalisch geprägte Zusammenhänge in Anschlag gebracht werden, bei denen das historiographische Paradigma den dominanten Orientierungsrahmen bietet für die je situativ differierende, produktive Assimilierung im Prozess schriftliterarischer Reproduktion (s. unten, Kap. 3.1.2.3). Aber auch wenn textexterne Bedingungen wie Über‐ lieferungssymbiosen nicht auszumachen sind, verweisen die strukturellen und formalen Analogien der Kürzung auf ein rhetorisch-poetisches Prinzip, das nicht zwingend als 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 243 <?page no="244"?> 112 Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S. 364. Am Beispiel der Abschrift des Rappoltsteiner Parzifal ist nachweisbar, dass »die Kürzungen erst in Hs. V' und nicht etwa in einer (verlorenen) Zwischenstufe erfolgt« sind. (Ebd., S.-364). 113 Vgl. die Belege in Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-360-365. 114 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-51. 115 Den entscheidenden Faktor zur Bewertung der Varianz innerhalb mehrerer Versionen eines Textes bildet dabei die Einschätzung von deren intentionalem Charakter: Eine Fassung liegt demnach genau dann vor, wenn »die Unterschiede nicht zufällig entstanden sein können, vielmehr in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar wird«. Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-32. Dazu Kap.-1.2 mit Anm.-126. 116 So auch bei Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S. 369f.: »Die spezifische Anwendung von teilweise spontanen Kürzungsverfahren lassen den zweiten Schreiber (G) von Hs. V' nicht als Redaktor erkennen, dessen Intention es war, eine Kurzfassung im Sinne des Fassungskonzepts von Joachim Bumke zu erstellen.« - Neuüberlegungen zum Konzept der ›Kurzfassung‹ in Kap.-3.2. 117 Zum hohen Grad an Varianz in der Iwein-Überlieferung, die keine »stemmatische Präsentierung« erlaubt, vgl. die Übersicht in Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 53 (mit der dort verzeichneten Literatur). - Zu den Iwein-Fassungen A und B zusammenfassend Bumke, Die vier Fassungen (1996), S. 33-42. Zur Problematik des Schlusses vgl. exemplarisch Herweg, Epiloge eines ›Klassikers‹ (2014), S.-111-151; Hausmann, Mittelalterliche Überlieferung (2001), S.-72-95. 118 Vgl. die Übersicht bei Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 44: »Hs. b (Heidelberg, UB, Cpg 391, 15. Jh.) - Hs. f (Dresden, Sächs. LB, Ms. M 65; 1415). - Hs. p (Paris, Bibliothèque National, Ms. Allemand 115; wohl 14. Jh.). - Hs. z (Prag, Státni knihovna CSFR - Universitní knihovna, Cod. R VI Fc 26; 1464).« - Zur vergleichenden Analyse siehe Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-357-409. 119 Eine solche liegt den Überlegungen von Henkel (Kurzfassungen [1993], S. 54) und Strohschneider (Höfische Romane in Kurzfassungen [1991], S.-425) zugrunde. 120 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-392. Ergebnis mehrstufiger oder intentional gelenkter Texttradierung anzusehen ist, sondern das »nachweislich spontan während des Kopierprozesses« realisiert werden kann. 112 Punktuelle Eingriffe in den Text manifestieren sich, wie das Beispiel von ›Original‹ und ›Kopie‹ des Rappoltsteiner Parzifal zeigt, z. B. in punktuellen Streichungen einzelner Verse, die eine Zusammenziehung oder knappe Reformulierung der ihnen folgenden Partien unterschiedlichen Umfangs initiieren, oder in der Neukombination ausgelassenen Versma‐ terials, ohne dass dabei jeder einzelne Eingriff in einer einheitlichen Bearbeitungstendenz aufginge. 113 Gewichtig ist diese Erkenntnis für die grundsätzliche Annahme eines für das Textganze statuierten »Gestaltungswillen[s]«, 114 der für die Klassifizierung eines Textes als ›Kurzfassung‹ - in Anlehnung an das Fassungskonzept Joachim Bumkes 115 - in der Forschung nach wie vor einen leitenden Maßstab bildet. 116 Ein symptomatisches Zeugnis für die kürzende Gestaltung von Texten im Schreibpro‐ zess, die keinen einsinnigen (Kohärenz-)Prinzipien folgt, sondern graduell divergierende, situativ bedingte Logiken freisetzt, ist die Überlieferung des Iwein Hartmanns von Aue. 117 Vier Handschriften (p, z, f, b) aus dem 14. und 15. Jahrhundert präsentieren den Artusroman in jeweils unterschiedlich stark gekürzter Form. 118 In einer detaillierten Untersuchung der redaktionellen Kürzungsverfahren konnte sich die anfängliche Annahme von konzeptuell begründeten, bewusst vorgenommenen Modifikationenen nicht bestätigen. 119 Die Textbe‐ funde lassen demgegenüber in allen vier Handschriften ein »divergentes Spektrum von Texteingriffen und redaktionellen Schreibweisen« erkennen. 120 Ausdruck finden diese in 244 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="245"?> 121 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-369f. 122 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-379. 123 Thematisch an den Überlieferungskontext anschließbare Kürzungen lassen sich vor allem für die Raudnitzer Hs. z beobachten. Dazu Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S. 363-374. »Der aufgezeigte, mehrfach neu einsetzende Sammel- und Schreibvorgang scheint auf eine codexinterne Diskursivierung von triuwe-Konzeptionen unterschiedlicher Gattungen und divergierender Perspektiven zu zielen, die […] eine normative Geltung festschreiben wollen.« (Ebd., S.-374). 124 Vgl. das ›Verzeichnis der Plus- und Minusstellen‹ der vier untersuchten Iwein-Codices gegenüber der Überlieferung in den Iwein-Fassungen A und B in Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-394-408. 125 Zum »entgegengesetzten Schreibvorgang der Texterweiterung« in der Dresdner Hs. f vgl. Krusen‐ baum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-374-382. 126 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-391. 127 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-382. 128 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S. 393. - Zu einer Neuperspektivie‐ rung des Konzepts ›Kurzfassung‹ siehe unten, Kap.-3.2. 129 Für die Iwein-Überlieferung zeigt sich die Überlagerung »heterogene[r] Schreibprozesse« besonders in der Dresdner Hs. f. Vgl. Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S. 374. - Siehe zu diesem Aspekt am Beispiel des Nibelungenlieds n, bei dem zusätzlich Interferenzen mit mündlichen Erzähltraditionen in Rechnung gestellt werden müssen, Kap.-2.3. einer »selektiven Aktualisierung« 121 spezifischer, auch gegensätzlich ausgerichteter Ver‐ fahrenskategorien. In den vier Iwein-›Kurzfassungen‹ zeichnen sich »nur z. T. koordinierte Eingriffe« ab, 122 die - neben einzelnen Codex-internen Faktoren (Sammlungsinteresse, thematische Schwerpunkte) 123 - vor allem situativer Natur sind und sich z. B. in der sporadischen Auslassung einzelner Verse oder Versgruppen äußern gegenüber wenigen deutlicher konturierten Reduktionen. 124 Ein Wille zur bearbeitenden Formung des Textes ist dabei an den entsprechenden Einzelstellen durchaus anzusetzen, insbesondere wenn der Versausfall den gegensätzlichen Vorgang der Texterweiterung entweder durch ›Scharnier‐ verse‹ oder (auch an späterer Stelle lokalisierte) Zusatzverse bedingt. 125 Dieser freilich nur punktuell »evident[ ] werdende[ ] Kürzungswille[ ]« ist jedoch nicht mit einem stringenten Konzept der Umgestaltung im Sinne einer »spezifische[n] übergeordnete[n] Tendenz« 126 in Einklang zu bringen. Es scheint - so lässt sich in diesem Zusammenhang resümieren -, als ob die »palimpsestartige Überlagerung von unterschiedlich motivierten und konturierten Bearbeitungspraxen« 127 den bisherigen methodischen Zugang zum literarhistorischen Konzept ›Kurzfassung‹ grundsätzlich infrage stellt. Bereits jetzt deutet sich aber an, dass dem Konzept ›Kurzfassung‹ für die überlieferten Textformen von Hartmanns ›Iwein‹ nicht die Relevanz zukommt, die ihm Nikolaus Henkel und Peter Strohschneider in ihren programmatischen Studien zu den ›Kurzfassungen‹ höfischer Romane einst beigemessen haben. 128 Weder mit textkritischen noch hermeneutischen Verfahren ist für die abbreviierten Ver‐ sionen des Iwein eine historisch ›gesicherte‹ Evidenz über die den Kürzungen zugrun‐ deliegenden Motivationen zu gewinnen. Zumal für die spätere Überlieferung mittelhoch‐ deutscher Epen - wie im Falle der ›Kurzfassungen‹ von Hartmanns Roman - teilweise mehrstufige Entstehungsprozesse angesetzt werden müssen. 129 Die schriftliche Referenz‐ größe der jeweiligen Bearbeitung rückt damit als hypothetischer, mit den Mitteln der 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 245 <?page no="246"?> 130 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-385. 131 Diese von Krusenbaum-Verheugen / Seebald (Der höfische Roman [2012], S. 359) aufgeworfene Frage diskutiert Kap.-3.2. 132 Siehe Kap.-2. 133 Vgl. Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-58. 134 Zum Konzept der epischen ›Bauform‹ siehe Kap.-1.1, S.-15 mit Anm.-36. 135 Für den Iwein am Beispiel der Heidelberger Hs. b vgl. Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-389. 136 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-58. Textkritik (re-)konstruierter heuristischer Bezugspunkt von einer konkret überlieferten Form ab. Unter diesen Gegebenheiten bleibt es problematisch zu bestimmen, inwieweit »die ›Auslassungen‹ […] als genuine redaktionelle Eingriffe des Schreibers oder Redaktors […] einzuschätzen [sind] oder aber als überlieferungsgeschichtlich bedingte Verluste«. 130 Das ist freilich kein Grund, einer Poetik der Kürzung die historische Relevanz abzusprechen. 131 Die überlieferten Konstellationen und Erscheinungsformen der Kürzung verweisen vielmehr - jenseits der in den meisten Fällen kaum letztgültig zu bestimmenden Abhängig‐ keitsverhältnisse - auf ein Instrumentarium poetisch-rhetorischer Techniken und formaler Gestaltungsparameter, deren Wirkradius zwar graduell skalierbar ist, innerhalb dessen aber eine Verfahrensäquivalenz ausgemacht werden kann. Die für Kürzungsprozesse charakteristischen Mechanismen fungieren jeweils als Ordnungskriterien für die Heraus‐ arbeitung alternativer Sinnschichten. Indem sie an gewissen (rhetorischen, narrativen) Qualitäten des bearbeiteten Textes ansetzen, können sie einerseits eine paradigmatische Spezifik mit einem prononcierten Profil ausbilden; 132 andererseits und zugleich bleiben auch diejenigen Fälle, in denen die Eingriffe situativ und spontan erfolgen, in ihrer typologischen Operationalität an das poetische Prinzip der Kürzung gebunden. Denn selbst geringfügige Textauslassungen, die sich nicht zu einem ›Konzept‹ bündeln lassen, basieren auf dem rhetorisch Verfahren der Reduktion (z. B. die Streichung einzelner Wörter bzw. Verse, die Kondensierung mehrerer Verse zu einem). 133 Ihre ›Zielvorstellungen‹ (z. B. Redundanz‐ vermeidung, Straffung des Erzählduktus u. a. m.) werden dabei jeweils nur punktuell aktualisiert. Auch die im engeren Sinne poetischen Praktiken, die die Modellierung der ›Bauformen‹ epischen Erzählens prägen, 134 sind keineswegs konzeptuell ›einheitlichen‹ Kürzungstendenzen vorbehalten. Auch die Kurzfassungen des Iwein dokumentieren die Arbeit an nicht primär handlungstragenden Elementen des Erzählens insbesondere beim Vorliegen größerer Reduktionen (wie Mono- und Dialogen, Beschreibungen, Exkursen etc.). 135 Beide Tendenzen - sowohl die Kürzung »ohne erkennbare spezifische Zielsetzung« als auch die »gezielte Reduktion der rhetorischen Ausgestaltung der Texte« - sind also gleichermaßen »dem Prinzip der brevitas verpflichtet, zeigen das vielfach in der zeitgenössischen lateinischen Literatur zu beobachtende Verfahren der abbreviatio.« 136 Das Kennzeichen einer historischen Poetik der Kürzung scheint demnach weniger in ihrer ›absoluten‹ Geltung als exklusive Maxime der Textbearbeitung zu liegen, als in einem habitualisierten Möglichkeitsspektrum, das eine je ›anlassbezogene‹ Instrumentierung der Formen und Praktiken literarischer Kürzung erlaubt. Ihr eignet damit - bei verfahrens‐ technischer Äquivalenz - eine prinzipiell mehrdimensionale Optionalität, die typologisch unterschiedliche, ja geradezu divergente ›Ergebnisse‹ evozieren kann. 246 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="247"?> 137 Siehe die Ergebnisse in Kap.-2.2.4 u. Kap.-2.2.6. 138 Einschlägig Herweg, Wege zur Verbindlichkeit (2010), bes. S.-138-184. 139 Zuerst beschrieben bei Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-214-248. 140 Neben der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Hs. C ist sie der einzige vollständige Überliefe‐ rungszeuge, der die Lietbzw. *C-Fassung des Nibelungenliedes repräsentiert. Vgl. dazu Hennig, Zu den Handschriftenverhältnissen (1972), S.-113-133. 141 Vgl. Breternitz / Ubl (Hg.), Pippin der Jüngere (2020). 142 Bartsch (Hg.), Der Nibelunge Nôt (1966), Bd.-1, S.-XII. 143 Eine unmittelbare Vorlage lässt sich nicht ausmachen. Rekonstruktionsversuche auf der Grundlage zweier Quellen sind verzeichnet bei Hennig, Zu den Handschriftenverhältnissen (1972), S. 117, Zitat ebd., S.-115. 144 Hennig, Zu den Handschriftenverhältnissen (1972), S.-114. 3.1.2.3 Transpositionen. Kürzung im chronikalischen Paradigma (Nibelungenlied a; Heinrich von Veldeke, Eneasroman) Die Analyse der Nibelungenklage Kurzfassung *J hat gezeigt, dass die grundlegend geän‐ derte Konzeption des Textes mit dem Fokus auf der Rückkehranstelle der Klagehandlung sich einem chronikalischen Erzählduktus annähert. 137 Eine solche Tendenz, die ein ›histo‐ riographisches‹ Interesse an der mittelhochdeutschen Epik gegenüber den ihr eingeschrie‐ benen höfischen Komponenten favorisiert, hat die Forschung für die um 1300 entstandenen ›Ausläufer‹ der Gattung in Rechnung gestellt. 138 Aus überlieferungsgeschichtlicher Per‐ spektive lässt sie sich besonders bei Stoffkomplexen beobachten, die als Repräsentanten eines ›geschichtlich‹ begründeten Vorzeitwissens gelten können (vor allem Trojabzw. Antikenromane, Chansons de geste, germanische Heldenepik). 139 So bietet die ins zweite Viertel des 15. Jahrhunderts datierte Handschrift a des Nibelungenliedes (Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodm. 117) eine bemerkenswerte Rückbindung des Textes an historische Gegebenheiten. 140 Die ersten fünf Âventiuren sind durch eine kurze Prosa‐ vorrede ersetzt, die das erzählte Geschehen in der Zeit Pippins III., des Vaters von Karl d. Gr., 141 verankert und mit anderen, in der chronologischen Ordnung zum Teil asynchronen Ereignissen verschränkt. Sinnfällig für das Bemühen um eine exakte temporale Fixierung ist die mehrmalige Wiederholung der ›zeitlichen‹ (kultur-)politischen Umstände (tzeitt), unter denen sich die Handlung des pueches vonn denn Rekchenn vnd vonn Kreymhilldenn abgespielt haben soll: Da mann tzalt vonn ckrist gepurde Sibenn Hunndertt Jar darnach Inn dem Vietzistenn iar Da was Pipanus vonn Frankchreich romischer Augustus der Hueb Sich ze Ram vnd satztt Sich genn ckostanntinopell vonn ungehorsam der Römār vnd verswuer das er nimer mer dar chām Auch Satztt er zee vogt ann seiner statt Herdietreich chunig zw gottlanntt denn Mann die tzeit nennt Herrdietreich vonn pernn pey denn tzeite lebt der Weis römer Boetzius denn Herdietreich vieng vmb das daz er die Romar vast vor Im frist mit seiner weishaitt vnd lag geuange vnntz ann seinenn tod Pein Herdietrichs tzeitten dez Romischen vogtz vergiennt sich die auenteur dez pueches vonn denn Rekchenn vnd vonn Kreymhilldenn.  142 Die offensichtlich »fabulös[e]« Geschichtklitterung, die wohl auf der Kompilation unter‐ schiedlicher Quellen beruht, 143 ist nicht als kompensierendes Moment für den ausgefallenen Textbeginn, sondern »durchaus als Einleitung eines vollständigen Werkes zu verstehen«. 144 Beim Fehlen der ersten fünf Âventiuren sowie weiter Textteile innerhalb der Âventiuren 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 247 <?page no="248"?> 145 Hennig, Zu den Handschriftenverhältnissen (1972), S. 114. »Erst von der 13. Aventiure an (Wie Kriemhilt mit ir man zer hochgezite fuor) bietet die Hs. a einen durchgehenden Paralleltext zur Hs. C.« (Ebd.). 146 Henkel, Kurzfassungen (1991), S.-51. 147 »Grundlage […] ist die der lateinischen Chronistik des Mittelalters wohlbewußte Identität des ›histo‐ rischen‹ Theoderich mit dem Dietrich der Heldensage.« Hennig, Zu den Handschriftenverhältnissen (1972), S.-115. 148 Das Phänomen der ›Annäherung‹ dieser beiden Gattungen ist beschrieben bei Schnell, Prosaauflö‐ sung (1984), bes. S.-229-231. 149 Schnell (Prosaauflösung [1984], S. 229) verweist in diesem Zusammenhang exemplarisch auf die Weltchronik Heinrichs von München (ca. 1320/ 30), in die höfische Versromane Eingang gefunden haben (u. a. Ottes Eraclius, Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, Ulrichs von dem Türlin Wille‐ halm-Vorgeschichte [Arabel]). - Einen Ausblick auf die mittelhochdeutsche Troja-Literatur, die im Verbund mit Chroniken überliefert ist, gibt Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-357-366. - Zu diesem Aspekt mit einem Seitenblick auf Konrads Trojanerkrieg siehe Kap.-3.1.2.4. 150 Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-234. sechs bis zwölf in der Nibelungenlied-Hs. a dürfte es sich um »das Ergebnis einer späten Kürzung eines vollständigen Textes« handeln. 145 Es lässt sich zwar nicht mehr eindeutig rekonstruieren, ob die Kürzung des Textes und Hinzufügung der vorangesetzten Prosavorrede in einem einzigen Bearbeitungsschritt entstanden sind. Bemerkenswert ist dennoch, dass der chronikalisch informierte ›Prolog‹ eine selektive Perspektivierung der historischen Verortung der Handlung vornimmt. Die Prosaeinleitung signalisiert die zugrundeliegende Tendenz: Überführung des Liedes in ein (wie auch immer geartetes) Geschichtsinteresse. 146 Für den angezielten Zusammenhang - Pippins Romzug und Dietrichs Statthalterfunktion während dessen Abwesenheit - erscheint die in den ersten Âventiuren des Nibelungenliedes vorgenommene Exposition des burgundischen Personenverbandes und des Herrschaftsge‐ füges in Xanten als entbehrlich, ja gar hinderlich, führte sie doch von der Grundlegung des ›Geschichtswissens‹ im historischen Aktionsradius des Dietrich von Bern resp. Theoderich d.-Gr. 147 ab in ganz anders gelagerte historische Kontexte und Konfliktsituationen. Am Beispiel der Nibelungenlied-Hs. a deutet sich die Interferenz zweier unterschiedlicher Gattungen und Diskurse an, die mit literarisch distinkten Mitteln gleichermaßen der Vermittlung historischer Vorzeitkunde zuarbeiten. Explizit greifbar wird diese Interferenz in Überlieferungssymbiosen des 14. und 15. Jahrhunderts, in denen spezifische mittelhoch‐ deutsche Epen als Vertreter einer ›historisierenden‹ Gattung mit der Reimchronistik engge‐ führt werden. 148 Bei solchen Transpositionen handelt es sich um Assimilierungstendenzen formal-ästhetisch heterologer literarischer Traditionen im Hinblick auf eine im Spätmittel‐ alter offenbar zunehmend dominierende Präferenz für geschichtliche Darstellungen. Dabei erfahren die ursprünglich einem höfischen Horizont entstammenden Epen (bes. Trojabzw. Antikenromane, Chansons de geste) entweder eine kürzende Umarbeitung oder sie werden Gegenstand einer exzerpierenden Praxis, die sie primär als Vorbzw. Binnengeschichten zu den in der Regel weitaus umfangreicheren (Welt-)Chroniken funktionalisiert. 149 Ihr neuer Platz im Überlieferungsgefüge verweist mit der »[v]eränderte[n] Gebrauchssitua‐ tion« 150 der Texte auf Transformationen des zeitgenössischen Rezeptionsinteresses, die 248 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="249"?> 151 Zum exzerpierenden, kompilatorischen Umgang mit der Willehalm-Trilogie (Arabel, Willehalm, Rennewart) in der Arolser Weltchronik vgl. Brinker-von der Heyde, Höfische Epik neu erzählt (2021), S.-191-209. Dazu auch Bastert, Rewriting Willehalm? (2005), S.-117-138. 152 Zum Codex vgl. Unterkircher, Die datierten Handschriften (1974), S. 48; Krämer, Die sogenannte Weihenstephaner Chronik (1972). 153 Die Frage nach der sozialen Zuordnung des Schreibers und den Umständen der Niederschrift bespricht Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-35-47. 154 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-57. 155 Auf den ausführlichen ›Karlsteil‹ der Chronik, der für den »Translatio-Gedanken[ ]« einschlägig ist, verweist Henkel, Kurzfassungen (1993), S. 57. - Zur Funktionalisierung des Eneasromans als Vorgeschichte der Papst- und Kaiserchronik vgl. Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S. 357. 156 »Unter Erwähnung des Eneas und der Zerstörung Trojas beginnt sie [d. h. die Chronik] mit einer knappen Zusammenfassung der Vor- und Frühgeschichte Roms.« Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-57. 157 Die Kürzungen sind vollständig dokumentiert und systematisch ausgewertet bei Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-263-330. 158 Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-331. 159 Belege für spontane Streichungen und Auslassungen verzeichnet Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S. 318. - Der Schreiber orientiert sich offenbar bei den Kürzungen an geschlossenen Passagen, die er als ganze streicht oder in neuen Versen zusammenfasst, aber oftmals erst, nachdem er den Beginn bereits übernommen hatte (vgl. ebd.). wegführen von den höfischen Komponenten des Erzählens hin zu historiographischen, ›faktenbasierten‹ Wissensstrukturen. Im Zuge dieser Kombination von ursprünglich heterogenem Material hat sich das Ver‐ fahren quantitativer Reduktion der höfischen Prätexte - neben der Kompilationstechnik 151 - als kardinales Prinzip der Assimilierungsprozesse erwiesen. Es lässt sich exemplarisch an der Überlieferung des Eneasromans Heinrichs von Veldeke im Verbund mit der Weihen‐ stephaner Chronik studieren (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2861). Die laut dem Vermerk des Schreibers Jorg von Ellerbach im Jahr 1474 vollendete Handschrift enthält auf fol. 1 r -96 v eine Abschrift des Eneasromans (w); diesem folgt auf fol. 97 r -209 r eine Papst- und Kaiserchronik, die sog. Weihenstephaner Chronik. 152 Beide Texte stammen von derselben Schreiberhand. 153 Das Textensemble muss damit als konzeptuelle Einheit angesehen werden, das über die »Eckpunkte[ ] Troja und Rom« 154 eine thematische Linie im Sinne einer Vorgeschichte des Römischen Reichs und dessen Verkörperung durch Kaiser und Papst in der jüngeren Zeitgeschichte einzieht. 155 Die in der Wiener Handschrift überlieferte Version von Veldekes Roman zeichnet sich durch einen kürzenden Zugriff des Schreibers auf den Text aus, der »vom Überliefe‐ rungskontext gesteuert ist«. 156 Gegenüber den älteren Überlieferungszeugen fehlen dem Eneasroman in der Handschrift w rund 2000 Verse. 157 Ähnlich wie im Fall der Abschrift des Rappoltsteiner Parzifal im Codex Casanatensis (s. oben) ist auch hier kein eigentliches, den Einzeltext fokussierendes ›Programm‹ für die Kürzung und Kondensierung zum Teil umfangreicherer Passagen der Vorlage auszumachen. Vielmehr scheint der Eneasroman »in ganz spezifischer Weise auf die Konzeption einer ›historischen‹ Handschrift hin bearbeitet worden zu sein«. 158 Und diese abbreviierende Arbeit am Text ist stellenweise einer spontanen, situativ verfahrenden Bearbeitungspraxis verpflichtet, 159 die weniger eine alternative Sinndimension des kopierten Romans im Blick hat als dessen Integration in das durch die Chronik auch quantitativ bestimmte Gesamtgefüge der Handschrift: 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 249 <?page no="250"?> 160 Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-331. 161 Bspw. die topische descriptio der Camille (V. 5161-5208), ihres Grabmals (V. 9395-9574); die detaillierte Beschreibung von Rückführung und Bestattung des Pallas sowie seines Grabmals und dessen Wiederentdeckung durch Friedrich Barbarossa (V. 7987-8020; 8067-8076; 8089-8108; 8144- 8419); Beschreibungen der Minnesymptomatik sind besonders häufig von Streichungen betroffen. Nachweise bei Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-263-330. 162 Bspw. die Totenklage des Eneas um den gefallenen Pallas (V. 8027-8077), die Klage des Turnus um den Tod der Camille (V. 9223-9353), die Selbstanklage der Lavine (V. 11543-11582). Nachweise bei Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-263-330. 163 Vor allem im letzten Drittel des Textes fallen die Mono- und Dialoge, die der Minnehandlung zwischen Eneas und Lavine dienen, vielfach aus (z. B. V. 10117-11074; 11087-11338; 11381-11482). Vgl. Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-303-318. 164 Vgl. Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-313-330. 165 Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-297. 166 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-57. 167 »[M]ehr als die Hälfte aller Eingriffe in den Text [befindet sich] im Bereich der letzten 3954 Verse«. Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-330. 168 Frick, Thomas Murners Aeneis-Übersetzung (2019), Bd-1, S.-54f. Die Erzählung vom Untergang Trojas […] dient als eine vornehmlich an den ›historischen‹ Fakten orientierte ›Vorgeschichte‹ der ›Weihenstephaner Chronik‹. 160 Auffällig ist die Konzentration der Kürzungen auf die typischen Elemente romanhaften Er‐ zählens, vornehmlich die diskursiven Passagen und solche mono- und dialogischen Partien, welche die Handlung nicht direkt voranbringen, sondern auf einer reflexiven Metaebene verhandeln: Beschreibungen, 161 Totenklagen, 162 ausführlich gehaltene Gesprächsszenen. 163 Die Minnehandlung zwischen Eneas und Lavine, auf die sich in Veldekes Roman das letzte Drittel des Textes konzentriert, erfährt durch weitreichende Streichungen der jeweils konstitutiven Komponenten (wie der Beschreibung der Minnesymptomatik, der Mono- und Dialoge der Liebenden, der höfischen Pracht beim Festakt etc.) ein signifikant geändertes Profil. 164 Es dokumentiert eine »Straffung der Erzählung auf ihre wesentlichen Bestand‐ teile«, 165 der freilich keine im Hinblick auf die Erzählqualitäten des Eneasromans vorge‐ nommene Neuorientierung zugrunde liegt. Es ist vielmehr umgekehrt: Die Neuorientierung erfolgt im Zuge der Transposition des höfischen Romans in einen »auf Geschichtswissen ausgerichteten chronikalischen Zusammenhang«, 166 dessen Tendenz zum faktenbasierten Erzählen das höfische Paradigma überlagert und auf die Geschichtsdichtung hin zentriert. Dass die Kürzungen dabei erst etwa in der Mitte des Eneasromans einsetzen, ist aus dieser Perspektive heraus zu verstehen. 167 Denn genau im letzten Drittel des Textes entfaltet sich eine sowohl in rhetorisch-poetischer als auch besonders in werkstruktureller Hinsicht essentielle Neuerung des mittelalterlichen Textverständnisses gegenüber der antiken Tradition des Stoffes: Das von Vergil übernommene Modell der epischen Zweiteilung wird neu gefüllt mit einer Thematik, die für das 12. Jahrhundert aktuelle Relevanz besaß und die maßgeblich von der Rezeption Ovids geprägt ist - eine gegenüber Vergil neue Themenkoppelung von Liebe und Landesherrschaft. Nur die rechtmäßige Liebe in ehelicher Bindung zwischen Eneas und Lavinia kann - anders als die scheiternde Verbindung mit Dido - die Begründung und den Erhalt der Dynastie sichern. 168 250 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="251"?> 169 Vgl. Frick, Vergilrezeption (2017), S.-177-194. 170 Die Eingriffe zeigen, dass der Bearbeiter nicht an der Ausgestaltung der Lavine-Handlung interessiert war und damit »gerade nicht an dem Teil des Epos […], der den größten Teil der Neuerungen in der hochmittelalterlichen Auffassung des Stoffes in sich vereinigte.« Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S. 330. - Schröter, ebd., verweist in diesem Zusammenhang auf einen ähnlichen Fall in der spätmittelalterlichen Überlieferung des Eneasromans in der Heidelberger Hs.-h, in welcher der Text analog zu Vergils Aeneis mit dem Tod des Turnus abbricht. 171 Eine Untersuchung und lateinisch-deutsche Edition bietet Frick, Thomas Murners Aeneis-Überset‐ zung (2019), 2 Bde. - Zur Maxime semantischer wie ästhetisch-formaler Äquivalenz von Original und Translat in der Frühen Neuzeit vgl. ebd., Bd.-1, bes. S.-119-121. 172 Vgl. die Angaben zur Kürzungstechnik in der Nibelungenklage *J (Kap. 2.2.1) und in den Sko‐ kloster-Fragmenten von Herborts Liet von Troye (Kap.-2.1.3). 173 Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-333. 174 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-50. 175 Zum Verhältnis von Kürzung, Kürze und Zeit(-regie) siehe Kap. 1.4.2.2. Am Beispiel antiker Epitomai vgl. Reitz, Verkürzen und erweitern (2007), S. 334-351; Reitz, Homer in Kürze (2021), S. 45-65. Für die mittelhochdeutsche Kleinepik Linden, abbreviatio als Beschleunigung (2021), S.-407-431. Möglicherweise war der Redaktor an der antiken Verlaufsform der Geschichte interessiert, deren Kenntnis in Form von Vergils Aeneis - eines Leittextes in der lateinisch geprägten Bildungskultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit - bei den in der Schriftlichkeit sozialisierten Lesern vorausgesetzt werden konnte. 169 Und für diese besaß die Lavine-Hand‐ lung mit ihrer für das 12. Jahrhundert spezifisch höfischen Ausrichtung, insbesondere der elaborierten Ausgestaltung der Minnekonzeption und -reflexion, keine Relevanz. 170 Die erste ›eigentliche‹ Übersetzung von Vergils Epos, die sich am humanistischen Axiom sprachlich differenter bei gleichzeitig formal-stilistischer und inhaltlicher Äquivalenz orientiert, erscheint im Jahr 1515. 171 Die im Wiener Eneasroman zu beobachtende Kürzungstechnik ist dem wiederholt nach‐ gezeichneten Reservoir rhetorisch-poetischer Gestaltungsweisen verpflichtet. 172 Kleinräu‐ migere oder auch umfangreichere Streichungen kommen neben knappen Verdichtungen der abbreviierten Passagen zum Stehen, wobei sich die »konsequente Bewahrung der Reimpaarstruktur als Grundelement epischen Erzählens« erweist. 173 Mit der Ebene des Dis‐ kurses (descriptiones, Exkurse, Kommentare), bestimmten Formen der Diegese (Erzähler-, Figurenrede) sowie - seltener - Momenten der inneren und äußeren Handlung fehlen die für das romanhafte Erzählen typischen ›Bauformen‹ und Finessen höfischer Darstel‐ lungskunst. Sie erscheinen hinsichtlich des in der Überlieferungssymbiose dokumentierten historischen Interesses als »disponibel, ja verzichtbar«. 174 Aus den Kürzungen resultieren zwar Verschiebungen im narrativen Progress der Handlung (Stichwort: Beschleunigung, velocitas), 175 sie sind aber als Ausdruck der funktionalen Assimilation des Romans an den Erzählduktus des in der Handschrift favorisierten chronikalischen Paradigmas zu sehen und nicht als ein auf die separate Lektüre des Eneasromans hin berechnetes Prinzip alternativer Sinnstiftung. 3.1.2.4 Mediale Umstrukturierungen (Vers-Prosa; Handschrift-Druck) Die enge Verbindung insbesondere von Troja-Thematik und Chronistik dokumentieren auch andere Adaptationsprozesse, die - wie die Forschung vermutet hat - im Zusammen‐ 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 251 <?page no="252"?> 176 Vgl. Schnell, Prosaauflösung (1984), bes. S. 229-231. - Zum frühneuhochdeutschen Prosaroman vgl. die exemplarische Grundlegung bei J.-D. Müller, Volksbuch/ Prosaroman (1985), S. 1-128, sowie die jüngeren Ansätze in Bertelsmeier-Kierst, Erzählen in Prosa (2014), S. 141-165; Speth, Dimensionen narrativer Sinnstiftung (2017); Bamberger, Poetologie im Prosaroman (2018); Knaeble, Zukunftsvorstellungen (2019); Scheibel, Ambivalentes Erzählen (2020). 177 Zum Medienwechsel am Beispiel des historischen Materials vgl. Schmitz, Grundriss der Inkunabel‐ kunde (2018). 178 Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-231. 179 Zu den aus dem Umkreis der Elisabeth von Lothringen und Nassau-Saarbrücken stammenden Prosaromanen vgl. die Editionen der Reihe ›Texte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit‹ (hg. von Bernd Bastert / Ute von Bloh). Zur Ausgabe der Melusine und Magelone (mit weiterführender Literatur) vgl. J.-D. Müller (Hg.), Romane des 15. und 16. Jahrhunderts (1990). Eine neu perspektivierte Lektüre des im Jahr 1509 erschienenen Fortunatus, für den keine direkte Vorlage auszumachen ist, bietet Kiening, Fortunatus. Eine dichte Beschreibung (2021). 180 Den »Umschlag vom Verszum Prosaroman« analysiert Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-214. 181 Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S.-69. hang der literarhistorischen Entwicklung im Spätmittelalter mit ihrer Präferenz für die Prosaform gerade für die Genres Roman und Geschichtsschreibung stehen. 176 Neben der für das Phänomen der Transposition beschriebenen Koppelung der ›alten‹ Verstexte an neue Überlieferungsgemeinschaften zeichnet sich im Spätmittelalter ein Trend zur medialen Neukonfiguration des überlieferten Materials ab, forciert nicht zuletzt durch die Etablierung bisher ungekannter Möglichkeiten der buchtechnischen Vervielfältigung. 177 Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die Versromane mit historischem Inhalt als erste in Prosa aufgelöst worden sind - nach Rüdiger Schnell ein »Indiz dafür, daß bestimmte Versromane der Gattung Chronik, die längst sich die Prosaform angeeignet hatte, nicht mehr so fern standen.« 178 Gleichzeitig muss das zunehmende Interesse an neuen, aus dem französischen Sprachraum importierten Stoffkomplexen (repräsentiert z. B. durch die Werke Melusine, Magelone, Herzog Herpin, Loher und Maller, Huge Scheppel u. a.) 179 und ihrer primären Vermittlungsformen in Prosa als Katalysator für eine mediale Neuorientiertung auch im Umgang mit tradiertem Material aus dem Bereich der Versepik gewirkt haben. 180 Denn schon für die mises en prose im französischsprachigen Raum hält Richard Trachsler fest: In der ursprünglichen Form waren die Verstexte des 12. und 13. Jahrhunderts nicht mehr zu konsumieren und noch viel weniger zu verkaufen. Die dominante Form für eine moderne Erzählung war mittlerweile die Prosa, und die Sprache der Versvorlagen war so sehr veraltet, dass man sie kaum mehr verstand. 181 So lassen sich jenseits chronikalischer Zusammenhänge im 15. Jahrhundert Prosaauflö‐ sungen höfischer Versepen beobachten, die das grundsätzlich gewandelte formal-ästheti‐ sche Anspruchsniveau an romanhaftes Erzählen dokumentieren. Zwei Pole des Phänomen‐ spektrums seien im Folgenden knapp umrissen: 1) Gleichzeitigkeiten von Vers und Prosa, Lang und Kurzfassung; 2) Prosaauflösungen höfischer Versepen im frühen Buchdruck. 252 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="253"?> 182 Zitate im Folgenden nach Thoelen / Häberlein (Hg.), Konrad von Würzburg. Trojanerkrieg (2015). - Zu Datierung und Entstehungsumfeld des Textes sowie zu seinen inhaltlichen Konturen vgl. zusammenfassend Lienert, Deutsche Antikenromane (2001), S. 120-136. Siehe jetzt auch Stock (Hg.), Konrad von Würzburg. Ein Handbuch (2023). 183 Zum Forschungsstand (mit Angabe weiterführender Literatur) vgl. den Überblick in Gebert, Troja‐ nerkrieg (2023), S. 306-332. - Siehe nur die exemplarisch genannten Studien, die Leitfragen des Forschungsfeldes vermessen: Brunner (Hg.), Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (1990); Lienert, Geschichte und Erzählen (1996); Gebert, Mythos als Wissensform (2013). 184 Zur Einschätzung der exorbitanten Werkdimension vgl. Worstbrock, Die Erfindung der wahren Geschichte (2009), S.-155. 185 Lienert, Geschichte und Erzählen (1996), S.-202. 186 Zu Konrads ›geblümtem Stil‹ vgl. Hübner, Lobblumen (2000), bes. S.-129-139. 187 Zum poetologischen ›Erneuerungs‹-Programm kunstvoller Integration der verschiedenen Einzelge‐ schichten siehe einschlägig Kellner, Poetologie im Spannungsfeld (2006), bes. S.-246-261. 188 In anderem Zusammenfang mit Fokus auf den Bedingungen (poetologisch, medial, pragmatisch) des Fragmentarischen in Konrads Trojanerkrieg vgl. Frick, Vollständigkeit und Fragmentierung (2025). 189 Demnächst in überlieferungsgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive Herberichs (Hg.), Fragmente und Fragmentierungen (2025). 190 Vgl. Lienert, Die Überlieferung (1990), bes. S.-327- 340. 191 Lienert, Die Überlieferung (1990), S.-396. 192 Vgl. den Überblick in Alfen / Fochler / Lienert, Deutsche Trojatexte (1990), S.-23-25. 1) Gleichzeitigkeiten von Vers und Prosa, Lang- und Kurzfassung Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, entstanden in Basel zwischen 1281 und 1287, 182 repräsentiert die umfangreichste Troja-Dichtung des deutschsprachigen Mittelalters. 183 Das einschlägigen Schätzungen zufolge wohl auf eine Gesamtdimension von etwa 100.000 Versen ausgelegte Werk ist aufgrund von Konrads Tod unvollendet geblieben; es bricht am Beginn der vierten Schlacht ab (in V. 40424). 184 Der »programmatisch auf Breite ausgerichtete[ ] Erzählduktus« kultiviert, wie die Forschung gezeigt hat, eine »Ästhetik der Fülle« 185 und zwar im Hinblick auf die inhaltlich-stoffliche wie formal-rhetorische Faktur des Textes. Konrad stilisiert sein Erzählen der Troja-Geschichte in gebluomter rede […], / diu schœne ist unde wæhe (V. 12f.). 186 Die kunstvolle sprachliche Gestaltung korrespondiert dabei auf der Erzähl-Ebene mit der Fülle des Stoffes, den Konrad in seinen Trojanerkrieg integriert. 187 Und bekanntlich ist es gerade die Unabschließbarkeit der Stofffülle - gleich dem endelôsen pflûme, worin man den Boden nicht finden kann (V. 222-225) -, die sich quasi als konstitutiv für den fragmentarischen Status eines derart ›totalen‹ Erzählanspruchs erweist. 188 Sie setzt ein aus- und zuendeerzählendes Ergänzen der Vollständigkeit in Gang: Die narrative Integration von Texttorso und Continuatio kann als Kennzeichen des historischen Umgangs mit Romanfragmenten des deutschen Mittelalters gelten. 189 Alle vollständigen Textzeugen des Trojanerkriegs überliefern, nimmt man die nach Brandverlust nur noch in einer Abschrift Karl Georg Frommanns verfügbare Straßburger Handschrift (A) hinzu, Konrads Romantorso zusammen mit einer anonymen Fortsetzung. 190 Hier wird eine »Tendenz zur Summe, zur Komplettierung des Torsos deutlich.« 191 Der wohl kurz nach 1300 im alemannischen Raum entstandene Text erzählt in 9412 Versen die Geschichte um den Trojanischen Krieg hauptsächlich auf der Grundlage von Dictys’ Ephe‐ meris belli Troiani zuende. 192 Mit einer Konzentration auf den Stoffkern, einer »Reduktion 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 253 <?page no="254"?> 193 Lienert, Art. ›Trojanerkrieg-Fortsetzung‹ (1996), Sp.-1070. 194 Das »intertextuelle[ ] Verhältnis von ›Trojanerkrieg‹ und ›Trojanerkriegs-Forsetzung‹« diskutiert Lienert, Geschichte und Erzählen (1996), S.-332-350, hier: S.-332. 195 Strohschneider, Gotfrit-Fortsetzungen (1991), S.-98. 196 Lienert, Art. ›Trojanerkrieg-Fortsetzung‹ (1996), Sp.-1071. 197 Gebert, Trojanerkrieg (2023), S.-307. 198 Lienert, Die Überlieferung (1990), S.-393. Nachweise in ebd., S.-393-396. 199 Begriff nach Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-39. 200 Zum Stellenwert der »Weltchronistik-Überlieferung des Trojanerkriegs […] für einen textkritischen Neuansatz« vgl. Lienert, Die Überlieferung (1990), S.-376. 201 Lienert, Die Überlieferung (1990), S.-397 et passim. 202 Gebert, Trojanerkrieg (2023), S. 326. - Zur »geographische[n] Trennung [der Überlieferungszeugen] nach Gattungskontexten« siehe Lienert, Die Überlieferung (1990), S.-378. 203 Zur Handschriftenbeschreibung vgl. von Scarpatetti, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen (2003), S. 211-213. Das Digitalisat ist einsehbar unter: https: / / www.e-codices.unifr.ch/ de/ li st/ one/ csg/ 0617 (27.01.2022). Vgl. auch Alfen / Fochler / Lienert, Deutsche Trojatexte (1990), S. 18, sowie Lienert, Die Überlieferung (1990), S.-331-333. auf das Faktische«, 193 folgt die Fortsetzung nicht Konrads exzeptionellem Entwurf einer poetischen Realisierung der Erzähltradition im Einzelwerk, sondern handelt sich durch die strikte Vorlagenbindung Widersprüche zu Konrads Text ein. 194 Zentral ist freilich der Erzählzusammenhang, eine Erwartung »an narrative Gestaltung in der höfischen Epik des 13.-Jahrhunderts« 195 bzw. um 1300, auf die der Überlieferungsbefund lenkt: »[D]as Ganze wurde anscheinend als die eine Geschichte von Troja betrachtet, für deren Einheit nur Stoffliches eine Rolle spielt.« 196 Neben dem »frühe[n] Interesse an einer möglichst vollständigen Trojaerzählung« 197 lassen sich spezifische Möglichkeiten historischen Weiterarbeitens an und mit dem schrift‐ lich niedergelegten Text beobachten: Selektionsverfahren, die »bewußt ausgewählt[e]« 198 Abschnitte aus Konrads Trojanerkrieg in alternative mediale und materiale »Aggregat‐ zustände« 199 überführen und damit neue ›Ganzheiten‹ produzieren. Es handelt sich um Prozesse intentionaler, literarischer Fragmentierung und Eingliederung in situative Gebrauchskontexte (Chronistik, Minnereden), die für die Textgeschichte gleichermaßen relevant sind. 200 Solche Textbzw. ›Zitat‹-Fragmente, die Elisabeth Lienert von »echten« (Handschriften-)Fragmenten des Trojanerkriegs absetzt, 201 haben exzerpierenden und kom‐ pilatorischen Charakter und verweisen damit auf gezielte Techniken literarischer ›Zer‐ gliederung‹, die sich auf einer komplementären Ebene zum narrativen Vollständigkeitsan‐ spruch bewegen. Sie sind abhängig von Gattungs- und Diskursinterferenzen, innerhalb derer sich eine »Durchlässigkeit und Übergängigkeit zwischen Romanliteratur, Rhetorik und Geschichtsschreibung« 202 ausbilden kann. Ein markanter Fall im Bereich der spätmittelalterlichen Überlieferung ist mit der Trojanerkrieg-Handschrift Sg (Bartsch a) erhalten, die ein Nebeneinander von Vers und Prosa, Lang- und Kurzfassung dokumentiert und damit Einblicke erlaubt in historische Organisationsformen literarischer Kompletion, medialer Umstrukturierung wie zugleich situativer Selektion und verdichtender Retextualisierung. Der Codex St. Gallen, Stiftsbibliothek (Cod. Sang. 617), 203 ein laut Schreibervermerk im Jahr 1471 vollendetes Papiermanuskript, enthält den Trojanerkrieg Konrads von Würzburg mitsamt der anonymen Fortsetzung und Bruchstücken einer Trojanerkriegs-Prosa nach 254 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="255"?> 204 Der Versbestand des Trojanerkriegs und dessen Fortsetzung im Cod. Sang. 617 ist verzeichnet bei Lienert, Die Überlieferung (1990), S. 332f.; zur anonymen Prosaisierung vgl. Alfen / Fochler / Lienert, Deutsche Trojatexte (1990), S.-111f. 205 Kellner, Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (2010), S.-104. 206 Der Text »fortlaufend: S. 897 - S. 896 - S. 895«. Vgl. die Angaben bei Lienert, Die Überlieferung (1990), S. 112. Die Blätter seien wohl, so Lienert (ebd.) weiter, »in falscher Reihenfolge« dem Konvolut aus Konrads Trojanerkrieg und Fortsetzung beigebunden worden. Dagegen spricht die Art und Weise der Beschriftung der Blätter: Eher könnte es sich um die gängige Praxis handeln, frei gebliebene Buchbinderblätter vom Schluss her sukzessive zu beschriften. Ich danke Christoph Mackert (Leipzig) für diesen Hinweis. 207 Lienert, Die Überlieferung (1990), S. 112. Außer Konrads Text sind keine weiteren Quellen für die anonyme Prosaisierung auszumachen. 208 Beck, Trojasummen (2015), S.-17. 209 Beck, Trojasummen (2015), S.-70. 210 Die nachweisbaren Kürzungen sind »wohl im wesentlichen auf Schreiberversehen und Flüchtig‐ keitsfehler zurückzuführen und daher weitgehend ohne Aussagewert«. Lienert, Die Überlieferung (1990), S.-389. 211 »Rezipiert wird im einen Fall der ›historiographische‹ Konrad, im anderen der Meister der Rhetorik.« Lienert, Die Überlieferung (1990), S.-395. Konrad. 204 Das als Musterbeispiel für das Erzählprinzip der »Proliferation« 205 geltende Werk monumentalen Ausmaßes füllt zusammen mit der Continuatio des unvollständig gebliebenen Romans 893 paginierte Seiten der 31,3x21,1cm messenden, im Anfangsteil defekten Handschrift. Dem Bemühen um stoffliche Vervollständigung des Verstextes steht auf den letzten Blättern des Codex (p. 895-897) eine stark raffende Prosaisierung gegenüber. 206 Der von einer etwas späteren Hand (wohl um 1500) vorgenommene und aufgrund von Blattverlust sowie mechanischen Schäden fragmentarische Eintrag bietet eine »stark kürzende, sehr freie Nacherzählung von Konrads ›Trojanerkrieg‹«. 207 Sie steht in keiner erkennbaren Abhängigkeit zu der als Buch von Troja I bzw. als Elsässisches Trojabuch bekannten Prosabearbeitung und Ergänzung des Trojanerkriegs aus dem späten 14. Jahrhundert, einer »im chronistischen Stil gehaltene[n] Nacherzählung des Trojani‐ schen Krieges«, 208 die sich durch eine vergleichbare Reduktion der Erzählmasse auf die »reine Handlung« auszeichnet. 209 Das Phänomen der Gleichzeitigkeit einer intendierten Summenbildung sowie den Verfahren der abbreviierenden Neujustierung ist im Kontext der Überlieferung von Kon‐ rads Trojanerkrieg bemerkenswert. Denn keine der den Text vollständig überliefernden Handschriften lässt eine nennenswerte Tendenz zur Kürzung des immensen Umfangs erkennen. 210 Sie tradieren das um die Fortsetzung ergänzte Werk als ›romanhaftes‹ und ›historiographisches‹ Muster, das ein Reservoir für exzerpierende Typen der weiteren Textbearbeitung bereithält. 211 Und gerade in dieser Hinsicht deutet der Prosa-Anhang im Cod. Sang. 617 eine spezifische Text-Kontext-Konstellation an: eine Interferenz von extremer Länge auf der einen neben einer ebenso extremen Kürzung auf der anderen Seite, die die Synergien von literarischer Vollständigkeit und Kürzung in nuce ausstellt. Das um die Fortsetzung komplettierte Werkfragment fungiert in der Einheit des Codex als relationierbare Größe für eine textbasierte Praxis der Verdichtung, die an die Grenzen des Exzerpthaften führt. Im Gegenzug komplettiert die selektive Kürzung des Prosa-Anhangs den Zusammenhang der Handschrift um ein zwar fragmentarisch gebliebenes, indes historisch signifikantes Rezeptionsmodell für narrative Vollständigkeit in einem episodisch 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 255 <?page no="256"?> 212 Alfen / Fochler / Lienert, Deutsche Trojatexte (1990), S.-111. 213 Zum Verweispotential der Kürze-Signale im Trojanerkrieg vgl. Frick, ›Kürze-Topoi‹ (2020), bes. S.-371-376. 214 Mit dem Terminus »Werkstattsplitter« verweist Kurt Ruh auf Spuren einer Konzeption von Wolframs Parzival, die der Autor nicht beibehalten habe. Besprochen von Nellmann, Produktive Missverständ‐ nisse (1996), S.-147. 215 Zu den Interferenzhorizonten der Gattungen Vers- und Prosa-Roman mit chronikalischen Erzähl‐ verfahren vgl. die Beiträge in Herweg / Kipf / Werle (Hg.), Enzyklopädisches Erzählen (2019). 216 Vgl. Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-214-248. ausgerichteten Kombinationsprinzip. Ausgewählt sind nämlich nur einige wenige ›Sta‐ tionen‹ der Troja-Handlung: Streit zwischen Jupiter und Priamus um Paris; Identifizierung des Paris als Priamussohn durch seinen Pflegevater und den Diener des Priamus; Jason und die Nachricht vom goldenen Vlies. 212 Wiederholte Kürzungssignale weisen die abbreviatio als adäquate Form und - im Codex neben die Kompletion gestellt - als integrale Option einer aktualisierenden Aneignung des Konrad’schen Textes aus, 213 die die Wahrnehmung des in Trojanerkrieg und Fortsetzung gefassten Erzählens von Troja strukturieren - wie ganz zu Beginn nach der Exposition der Paris-Geschichte: des gelichen nit vast gehortt worden ist es wer vil zuo sagend das jch von kürtz wegen […] nit vast sagen wil es wer zuo lang (p.-897). Dieses auf einige wenige Basismomente reduzierte Modell besitzt selbst einen Entwurf‐ charakter, erweist sich als ein ›Splitter‹ prozesshafter Arbeit am Text. 214 Es demonstriert das Interesse an jeweils bestimmten Komponenten der von Konrad anvisierten Meisterer‐ zählung von Troja, die sich durch eine prononcierte Wort- und Materialfülle universalen Ausmaßes konstituiert. Die mediale Form der ›Kurzfassung‹ aktualisiert eine selektive Rezeption einzelner Episoden der im Lektüreprozess kaum zu bewältigenden und mit über 40.000 Versen noch schwieriger zu überblickenden ›enzyklopädischen‹ Erzählsubstanz. 215 Ihre materielle Kombination in einem Verbund mit textueller Vollständigkeit verweist auf eine historisch-pragmatische Praxis zurück. Insofern literarische Kürzung durch Reinte‐ gration in ein thematisch kohärentes, als Sinnwie Bucheinheit geschlossenes ›Ganzes‹ in einen medial konzipierten Funktionstyp überführt wird, geht sie in einer konkret referentialisierbaren Teil-Ganzes-Relation tendentiell auf. 2) Prosaauflösungen höfischer Versepen im frühen Buchdruck Mit der zunehmenden Verbreitung des Typendrucks mit beweglichen Lettern werden seit den 1480er Jahren im deutschen Sprachraum mittelhochdeutsche Versromane in Prosafassungen veröffentlicht. 216 Es handelt sich dabei um eine vergleichsweise schmale Reihe von handschriftlich überlieferten Texten, die den Selektionsmechanismen des neuen Vervielfältigungsmediums haben standhalten und in diesem teilweise eine nachhaltige Präsenz entwickeln können: Dazu zählen die Prosabearbeitungen des Wilhelm von Öster‐ 256 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="257"?> 217 Vgl. Podleiszek (Hg.), Volksbücher (1936), S.-191-284; 293-303. 218 Vgl. Buschinger (Hg.), Tristrant und Isalde (1993); Bußmann (Hg.), Eilhart von Oberg: Tristrant (1969); Brandstetter (Hg.), Tristrant und Isalde (1966). 219 Vgl. Melzer (Hg.), Wigalois (1973); Brandstetter, Prosaauflösung (1971), S.-190-235. 220 Vgl. Brandstetter, Prosaauflösung (1971). Vgl. auch Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-233f. u. 225f. 221 Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-221. 222 Die »Beschränkung auf die summa facti« exemplifiziert Schnell (Prosaauflösung [1984], S. 221- 224) am Beispiel der Kurzfassung von Ulrichs von Etzenbach Alexander sowie am Beispiel der Prosaauflösung des Wilhelm von Österreich. 223 Laut Trachsler (Wie lang ist kürzer? [2021], S. 80) »scheint es keine allgemeine Tendenz zu geben, die Werke auf ein bestimmtes Kaliber reduzieren zu wollen. Die abbreviatio zielt also darauf ab, gefühlte Längen zu eliminieren und müsste deshalb nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ großflächig untersucht werden.« 224 Vgl. exemplarisch für den Standpunkt der älteren Forschung die Monographie von Brandstetter, Prosaauflösung (1971), S. 136: »Allen Veränderungen der Prosaromane ihren nach rhetorischer Kunst gestalteten Versepen gegenüber ist eines gemeinsam: Sie laufen auf eine Vereinfachung der Erzählung hinaus.« 225 Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-220. 226 Siehe dazu die Ergebnisse in Kap.-2. reich (Augsburg: Sorg 1481), 217 Eilharts von Oberge Tristrant (Augsburg: Sorg 1484), 218 Wirnts von Grafenberg Wigalois (Wigoleis vom Rade, Augsburg: Schönsperger 1493) 219 sowie andere mehr. 220 Die Kennzeichen der medialen Aktualisierung hat Rüdiger Schnell mit der Tendenz zur »summa facti« beschrieben. 221 Grundlegend ist eine De-Rhetorisierung der Texte, die mittels eines Registerwechsels zur Prosa die poetischen Qualitäten der epischen Dichtungen auf einen möglichst einsträngigen Erzählverlauf reduziert. 222 Damit geht in vielen Fällen eine Kürzung um die als spezifisch höfisch geltenden Passagen und Formmuster (z. B. elaborierte Beschreibungen, Erzählerkommentare und -exkurse, Figurenreden) zugunsten eines am Stoffsubstrat orientierten narrativen Duktus einher. Ob allerdings die medienhistorische ›Modernität‹ der neu aufbereiteten Texte auch eine - wie von den zeitgenössischen Herausgebern regelmäßig postuliert - ›kurzweiligere‹, d. h. nicht durch rhetorischen Pomp und narrative ›Umwege‹ prolongierte Lektüre garantiert, bleibt letztlich historisch nicht zweifelsfrei validierbar. Dass die Transponierung der Versform in Prosa an sich keine quantitative Reduktion - nicht zuletzt im Hinblick auf die effektive Rezeptionsbzw. Rezitationsdauer - zeitigt, hat zuletzt Richard Trachsler am Beispiel der französischen mises en proses zu bedenken gegeben. 223 Die germanistisch-mediävistische Forschung zu Prosaauflösungen höfischer Versro‐ mane hat bisher in der Regel aus einer Oppositionsrelation heraus argumentiert, deren Bewertungskategorien sich an der sprachlich-stilistischen, poetischen und inhaltlichen Faktur der mittelhochdeutschen Prätexte bemessen. 224 Als typisches Kennzeichen wird in diesem Zusammenhang, wie bereits erwähnt, die abbreviatio der jeweiligen Vorlagen ge‐ nannt, die als ›Ver-Kürzung‹ nicht narrativer Passagen das Erzählte auf eine am Faktischen interessierte, »knappe, handlungsorientierte Darstellung« ausrichtet. 225 Diese Tendenz, die Prosaauflösungen mit Kurzfassungen höfischer Epen bis zu einem gewissen Grad teilen, 226 wird mit der Dominanz der Chronistik als einem generellen Impulsgeber im Feld der 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 257 <?page no="258"?> 227 Zur deutschen Chronikliteratur als erster Erzählgattung, die »den Schritt zur Prosa« getan habe, vgl. Schnell, Prosaauflösung (1984), S. 230. - Zur Trojaliteratur als dem »älteste[n] bekannte[n] Vertreter der im Spätmittelalter entstehenden Gattung ›Prosaroman‹« vgl. Beck, Trojasummen (2015), S.-13. 228 Die qualitativen und quantitativen Dimensionen der brevitas sind zusammengeführt von Frick, Literarische Kürzung (2021), S.-9-41. 229 Ader, Die Abkehr von der Tradition (2010), S. 457f. - Einschlägig diskutiert wird die Frage nach der ›Einfachheit‹ bzw. ›Vereinfachung‹ in sprachlich formaler Hinsicht in Frick, Einfachheit (vorauss. 2025). 230 Die Sinnhaftigkeit der »Zuschreibung eines pauschalen Index von geringerer oder höherer Komple‐ xität« reflektiert Koschorke, Einleitung (2017), S.-4. 231 Siehe Kap.-1.4.2.2. 232 Vgl. Betten, Veränderungen in Bestand und Funktion (1984), S. 305-316; Buschinger, Zur Verbstellung (2007), S.-237-243; Koppitz, Einige Beobachtungen zum Stil (1979), S.-553-574. 233 Dazu Koppitz, Einige Beobachtungen zum Stil (1979), S.-555. Zum Bestand vgl. Knape, Repertorium deutschsprachiger Rhetorikdrucke (2018), S. 407-413. - In einem praxeologischen Sinne sind diese frühneuzeitlichen Briefstillehren daher mit den mittellateinischen Artes poetriae vergleichbar. Vgl. zusammenfassend Grévin, Die ars dictaminis (2019), S.-566-612. volkssprachigen Literatur des Spätmittelalters in Verbindung gebracht. 227 Gerade über die immer wieder postulierte brevitas der Darstellung (die als solche ja einem rhetorischen Prinzip verpflichtet sein müsste) 228 scheinen sich stereotype Beschreibungskategorien zu reproduzieren, die den Prosaauflösungen mit der quantitativen Kürzung zugleich Defizite auf der qualitativen Ebene attestieren, genauer: eine »generelle Tendenz zur Vereinfachung« und Reduzierung von Komplexität. 229 ›Vereinfachung‹ erscheint in diesem Sinne als dezidiertes Minus-Verfahren. Als Be‐ schreibungskategorie wird sie damit zu einem pauschal angesetzten Parameter für einen historischen Prozess literarischen Umgestaltens, dessen analytische Prägnanz - ebenso wie die seines Konterparts, der Komplexität - fraglich wird. 230 Denn genau wie das Postulat der brevitas - bei dem die quantitativen Vergleichsrelationen stillschweigend vorausgesetzt, aber kaum je genau geklärt werden (Länge des Textes vs. Länge der Lektüren) 231 - droht das Postulat der ›Vereinfachung‹ als Instrument präziser Textbeschreibung seinen Gegenstand zu verfehlen. Dabei haben schon die älteren linguistischen und literaturwissenschaftlichen Beiträge zum Phänomen der Prosaauflösung auf die historischen Eigenheiten sprachlich-formaler Kommunikation in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hingewiesen. Diese konstitu‐ ieren sich - jenseits der einschlägigen Fokussierung auf die Chronistik oder die lateinische Literatur der Zeit - insbesondere in der gewandelten Gebrauchsfunktion der schriftsprach‐ lichen Kommunikation. Immer wieder sind evidente Parallelen zwischen dem zeitgenössi‐ schen Kanzleistil und den stilistischen Charakteristika der Prosaauflösungen offengelegt worden (am Beispiel der Trias Wilhelm von Österreich, 1481; Tristrant, 1484; Wigoleis, 1493). 232 Sie sind rückgebunden an die deutschsprachigen Briefstillehren, Rhetorikbücher, Formel- und Titularbücher, die sich im 15. Jahrhundert in zahlreichen Druckausgaben nachweisen lassen und die zum selbstverständlichen Wissensarsenal der Schreiber, Notare und Kanzlisten der Zeit gehören 233 - Berufsfelder, denen gerade in Augsburg als d e m Zen‐ trum der Prosaromanproduktion und -distribution im späten 15. Jahrhundert bedeutende 258 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="259"?> 234 Die Markterfahrung der Schreiber, die zugleich als handwerkliches Personal in den Offizinen tätig gewesen sind oder diese selbst geführt haben, betont Knape, Augsburger Prosaroman-Drucke (1995), bes. S.-332. 235 Vgl. Betten, Veränderungen in Bestand und Funktion (1984), bes. S.-305f. 236 Zu den rekurrenten Themen und Schwerpunkten im Spätmittelalter, die über die Lauber-Auswahl oder die Buchanzeigen von Günther Zainer und Anton Sorg rekonstruierbar sind, vgl. Knape, Augsburger Prosaroman-Drucke (1995), S.-332. 237 Betten, Veränderungen in Bestand und Funktion (1984), S.-313. 238 Ebd. 239 Zu den deutschsprachigen Rhetorikbüchern der Zeit als Kodifizierungsmedien einer stilistischen ›Mode‹ vgl. Koppitz, Einige Beobachtungen zum Stil (1979), bes. S. 561-563. Siehe zum Zusammen‐ hang von Ars dictaminis und Ars poetica auch Kap.-1.3.2. Druckerherren entstammten (namentlich Johann Bämler und Anton Sorg). 234 Die in den zeitgenössischen Kompendien kodifizierten Rhetorikanweisungen und Mustertexte spie‐ geln einen veränderten ästhetischen Kanon schriftliterarischen Gestaltens wider, dessen ›neue‹ textsortenspezifische Dominanten im Verbund mit dem generellen Ausbau der frühneuhochdeutschen Syntax und Lexik auch in der Umsetzung mittelhochdeutscher Verse in Prosa beobachtbar sind. 235 Dieses Segment scheint m. E. ein noch nicht ausgeschöpftes Potential zu bieten im Hinblick auf die Historisierung des Bezugsfeldes für eine sprachlich-formale Praxis, deren Orientierungs- und Zielpunkt nicht die ›alten‹ Texte sind, sondern das Erzählen der ›alten‹, im Spätmittelalter offenbar durchaus noch bekannten und verbreiteten Geschichten in einer Form, die an zeitgenössisch etablierte Muster und Modelle anknüpft. 236 Wenn nämlich die Prosaauflöser die »Hypotaxen ihrer Vorlagen aufgeben zugunsten syntaktischer Reihung mit Nivellierung komplexer Abhängigkeitsverhältnisse«, 237 so ist das nicht als Unvermögen im Umgang mit dem künstlerischen Niveau der Vorlagen zu sehen. Vielmehr zeigt sich darin die zeitgenössische Tendenz zur »enge[n] logische[n] Verzahnung des Berichteten […] mithilfe eines breiteren Spektrums alter und neuer Kon- und Subjunktionen, aber in auffälligem Umfang auch durch Vermehrung und Neubildung adverbialer Mittel«. 238 Die Systemstelle, an der die stilistische Faktur der Prosaauflösungen anzusetzen ist, liegt also in der zeitgenössischen Ars dictaminis-Literatur in deutscher Sprache, die eine adressaten- und anlassbezogene Gestaltung der Rede gemäß den für den Schriftverkehr geltenden ›Regularien‹ prämiert. 239 Diese Reflexe auf die Modalitäten ›erfolgreichen‹, da vermarktungswürdigen und -fähigen Erzählens lassen sich gerade dort historisch signifikant beobachten, wo die ›neuen‹ Formate mit ›alten‹, über die handschriftliche Reproduktionskultur übermittelten (und daher an personale Kommunikationspraktiken gebundenen) narrativen Formen konfron‐ tiert werden können. Indiziert wäre damit eine medienhistorische Perspektive auf die Praktiken sprachlich-formaler Vereinfachung und Ökonomisierung des Erzählens, die dem Übergang vom Vers zur Prosa, von der Handschrift zum Druck gilt. Exemplarisch hierfür ist die Prosaauflösung von Eilharts von Oberge Tristrant-Roman (Augsburg: Anton Sorg 1484). Von dyser hystorj hat vonn erste geschriben der maister von Britanie. vnnd nach mals sein buoch gelühen einem mit namen Filhart von oberet. der hat es darnach in reym geschriben. Aber von der leüt wegen, die söllicher gereymter bücher nicht genad haben. auch etlich die die kunst der reymen nit 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 259 <?page no="260"?> 240 Zitiert nach Brandstetter (Hg.), Tristrant und Isalde (1966). Abbreviaturen und Supraskripta sind aufgelöst. 241 Die ältere These, die dem Genus nach unmarkierte Formulierung jch Ungenannt als Indiz für eine weibliche Verfasserschaft des Prosa-Tristrant zu sehen, die im Nachdruck (Augsburg: Johann Schönsperger 1498) zu ich Ungenannter präzisiert wurde, ruht auf nicht objektivierbaren Argumen‐ tationskriterien auf. Vgl. dazu Koppitz, Einige Beobachtungen zum Stil (1979), S.-573f. 242 Zum breiten Spektrum handschriftlicher Prosaauflösungen, die nicht in den Druck gelangt sind, vgl. den Überblick in Bertelsmeier-Kierst, Erzählen in Prosa (2014), bes. S.-163-165. 243 Die Frage nach einem Gattungsverständnis für das Corpus der Prosaromane - auf der Grundlage einer Revision von Müllers Thesen (Volksbuch/ Prosaroman [1985]) - bespricht Schnyder, Der deutsche Prosaroman (2010), bes. S.-21f. 244 Der Faktor einer gegenüber mittelalterlichen Verstexten geänderten Rezeptionshaltung (Eigenlek‐ türe statt rezeptiver Aufnahme in einer Vortragssituation) wird immer wieder als Kriterium für eine geänderte Erzählhaltung der Prosaromane genannt. Vgl. schon J.-D. Müller, Volksbuch/ Prosaroman (1985), S.-15-25. - Siehe auch Rautenberg, Typographie und Leseweisen (2010), S.-341-363. 245 Die ›Kurzweil‹ als thematisches Motiv und kommunikative Strategie im schwankhaften Erzählen behandelt Waltenberger, ›Einfachheit‹ (2006), S.-265-287. Siehe auch Kap.-2.1. 246 Es gibt durchaus solche Fälle, bei denen die konkrete Praxis des Kürzens direkt thematisiert wird und am Text selbst nachvollzogen werden kann. Beck, Trojasummen (2015), S. 69, analysiert dieses Phänomen am Beispiel der frühen Prosaauflösungen von Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. - Auch für andere Prosaauflösungen lässt sich eine kürzende Bearbeitung beobachten, vgl. zusam‐ menfassend von Ertzdorff, Romane und Novellen (1989), bes. S.-77-101. aigentlich versteen kündent hab jch Vngenannt dise Hystorj in die form gebracht. Wo aber jch geirret hab bitt jch zuo bessern. die daz lesen. oder abschreybent. (S.-197f., Z.-5184-5190) 240 Der anonyme Herausgeber des neuen Prosaromans gibt das Stichwort vor: 241 in die form gebracht. Diese formale Innovation vollzieht sich als zweifacher Medienwechsel, der die schon im handschriftlichen Bereich entwickelten Modalitäten des Transfers aufnimmt, 242 hier aber als Indikator eines literarischen Kompositionstypus auf dem sich etablierenden Buchmarkt gelesen werden kann. 243 Dessen Produktions- und Distributionsmechanismen folgen einem ökonomischen Prinzip, das die geänderten Lektürepraktiken und Vorlieben des Publikums auf die Ökonomien des Erzählens selbst bezieht. 244 Der geänderte Funkti‐ onskontext der Prosaliteratur gegenüber dem höfischen Versroman macht sich offenbar in einer spezifischen Rezeptionshaltung geltend, die sich - so jedenfalls die in den zeitgenös‐ sischen Druckwerken rekurrente brevitas-Topik - an dem (in der Frühen Neuzeit topisch gewordenen) Potential der Texte zur Verkürzung der Zeit bemisst. Entsprechend möchte der Herausgeber des Prosa-Tristrant die Leser: innen denn auch nicht mit ausführlichen Vorreden langweilen: Hienach volget die histori von herren Tristrant vnd der schönen Jsalden von irlannde / weliche histori einer vorrede wol würdige wäre / vnd doch vnnutz / dann die lesenden vnnd zuohörenden / in langen vorreden verdriessen nemend Darumb sag ich die histori auff das kürtzt / die also lawt (S.-1, Z.-1-6) Das weitere Stichwort - auff das kürtzt - benennt mit dem Zeitfaktor eine präsupponierte Rezipientenerwartung. 245 Sie zielt nicht auf ein absolut kurzes Erzählen ab, das auf der Basis abbreviierender Textbearbeitung entsteht, 246 sondern realisiert sich in einem spe‐ ziellen sprachlichen Duktus als Differenzkriterium gegenüber den Erzählverfahren der ursprünglichen Versversion des Textes. Weil die brevitas-Topoi im Prosa-Tristrant sich auch innerhalb des Romans an Stellen finden, »ohne daß überhaupt Kürzungen gegenüber dem 260 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="261"?> 247 Mit Angabe der Belegstellen Koppitz, Einige Beobachtungen zum Stil (1979), S.-559. 248 Vgl. Henkel, Text - Glosse - Kommentar (2010), S.-237-262. 249 Die große Nachfrage nach Erzähltexten in Prosa spiegelt sich symptomatisch in der Produktion der Augsburger Offizinen als Zentrum für den Druck frühneuhochdeutscher weltlicher Erzählprosa. Augsburg erscheint damit als »der herausragende Ort in der Topographie literarischer Landschaft in Deutschland«. Eine Übersicht über die quantitative Verteilung bietet Knape, Augsburger Prosa‐ roman-Drucke (1995), S.-348-357, hier: S.-330. 250 Unter dem Stichwort des »Ambivalenten Erzählens« als bündelnder Kategorie für literarische, äs‐ thetische und narrative Dimensionen des frühneuhochdeutschen Prosaromans (Melusine, Fortunatus, Appolonius) mit einem Ausblick zum Prosa-Tristrant vgl. Scheibel, Ambivalentes Erzählen (2020), bes. S.-358-380. 251 Vgl. Schnell, Prosaauflösung (1984), S.-224. 252 Trachsler, Wie lang ist kürzer? (2021), S.-69. Original festzustellen sind«, 247 sind solche Hinweise nicht zwingend vom vorgängigen Verstext her zu lesen. Das Postulat der Kürze erscheint insofern nicht als grundsätzliche Kategorie des Umfangs, denn als Programm einer ökonomischen Textorganisation, die die in Versform vorliegende Erzählung mittels sprachlich-rhetorischer Vereinfachung auf die zeitgenössischen Ansprüche einer ›modernen‹ literarischen Kommunikation hin orientiert. Als reduktive Tendenz lässt sich diese Praxis insofern (in einem wörtlichen Sinne) beschreiben, als die Versmasse der Vorlage in eine prosaische, der natürlichen Wortfolge verpflichtete narratio ›zurück-geführt‹ (re-ducere) wird - eine im Bildungssektor des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ubiquitäre Technik der Klassikerlektüre und -erschließung. 248 Mit den Stichwörtern in die form gebracht und auff das kürtzt ist genau das Prinzip literarischer Restrukturierung benannt. Es äußert sich in einem Verfahren sprachlich-rheto‐ rischer Vereinfachung im Sinne der verständnissichernden Aufbereitung des in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts offenbar nur noch schwer rezipierbaren und zu vermarktenden Verstextes. 249 Die Spezifika der Prosaisierung liegen damit nicht in einem absoluten Kriterium begründet, sondern manifestieren sich auf unterschiedlichen Ebenen - formalen Einheiten, ihren Beziehungsgeflechten, Kohärenzstrukturen, Kohäsionsstrategien -, die die sprachlich-rhetorischen, narrativen, epistemologischen und medialen Ökonomien des Textes reflektieren. 250 Damit lässt sich festhalten: Die »Tendenz zum Kurzfassungstyp« 251 ist sowohl für die (spät-)mittelalterliche Überlieferung höfischer Epen als auch für deren Auflösungen in Prosa gleichermaßen anzusetzen. Die »Angleichung an die neuen Gattungsdominanten« 252 erfolgt mittels eines Registerwechsels, der gegenüber den Versdichtungen eine alternative formal-stilistische Faktur sowie eine anders akzentuierte poetische Konzeption favorisiert. Damit liegen die Verfahrensweisen der Kürzung jeweils auf unterschiedlichen Ebenen. Während bei Kurzfassungen mittelhochdeutscher Epen, wie gezeigt werden konnte, das Reimpaar das konstitutive Element bildet, an dem sich die abbreviatio in formaler Hinsicht orientiert, erfolgt die formale Auflösung in Prosa nach gänzlich anderen poetologischen Kriterien. Die mediale Disposition der voraufgängigen Verstexte geschieht im Anschluss an das sich neu etablierende Genre des Prosaromans französischer Provenienz. Die Prosaisie‐ rung ist in diesem literarhistorischen und diskursiven Kontext als intendierte Adaptation des ›alten‹ Materials an eine aktuelle Gattung zu sehen, deren formal-stilistische Merkmale 3.1 Gestufte Evidenzen. Ein Ausblick zur Optionalität literarischer Kürzung 261 <?page no="262"?> 253 Auf diese grundlegende Differenz weist schon Strohschneider (Höfische Romane in Kurzfassungen [1991], S.-422) hin, auch wenn sich das Phänomen der Prosaauflösung (wie dasjenige der Textmon‐ tagen) »einerseits unter überlieferungs- und rezeptionshistorischen, andererseits poetisch-narrato‐ logischen Gesichtspunkten mit jenem der Kurzfassungen eng berührt.« (Ebd., S.-423). 254 So die Zusammenfassung bei Roloff, Rez. zu: Brandstetter, Prosaroman (1980), S.-620. 255 Häberlein, Kurzfassungen in Prosa? (2018), S.-169-182. 256 Diese Konsequenz ist argumentativ ausgeführt in Frick, Einfachheit (vorauss. 2025). die bestimmenden Kriterien für die mediale Umstrukturierung bilden. Deshalb lassen sich die Modalitäten der Kürzung von Vers und Prosa nicht eins zu eins miteinander verrechnen. 253 Die Orientierung an einem neuen Gattungsverständnis ›Roman‹ distanziert die Prosaauflösungen höfischer Epik insofern von deren genuinen Charakteristika in Stil- und Formensprache. Schon Brandstetter hat mit seiner Analyse der Prosaauflösungen (Wilhelm von Österreich, Tristrant, Wigoleis vom Rade) zeigen können, daß ein Epos wie einen aus ihm entstandenen Prosaroman als zwei selbständige und eigenständige Kunstwerke anzusehen hat, die durch nichts anderes als durch den Stoff miteinander verbunden sind. 254 Aufgrund dieses medialen Assimilierungsprozesses erscheint es nur bedingt praktikabel, eine solche Differenzierung der Gattung Prosaroman hinsichtlich der Provenienz der Ma‐ terie einzuziehen, wie sie Bianca Häberlein vornimmt, die Prosaauflösungen höfischer Epik den ›Kurzfassungen‹ der Verstexte zuschlägt. 255 Eine Poetik der Kürzung, die die narrativen Eigenheiten der Prosaromane in den Blick nehmen will, muss sich, um heuristisch operabel zu bleiben und Befunde von historischer Signifikanz erzielen zu können, im entsprechenden Gattungskontinuum bewegen, dem die mediale Umstrukturierung mittelhochdeutscher Versepen verpflichtet ist. 256 262 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="263"?> 257 Zu diesem grundlegenden Charakteristikum, das sich auch im Rahmen gestufter Evidenzen als Richtschnur erweist, siehe Kap.-3.1.2. 258 Kiening, Schwierige Modernität (1998), S.-463. 3.2 Spezifika einer Poetik der Kürzung. ›Kurzfassungen‹ in der mittelhochdeutschen Epik Der Blick auf gestufte Evidenzen, die im Rahmen der typologischen Vielfalt redaktioneller Kürzungsverfahren auftreten können, zeigt, wie abbreviierende Eingriffe unter jeweils distinkten Überlieferungsbedingungen zwischen verschiedenen Ebenen wechseln können, zugleich aber an ein Inventar grundlegender Techniken als fundamentaler Bezugsgrößen gebunden bleiben. Der Kürzungspraxis eignet damit - das lässt sich aus den Untersu‐ chungsergebnissen folgern - eine Optionalität hinsichtlich der konkreten Instrumentie‐ rung einzelner Bearbeitungsmodi. Diese können gewissermaßen als paradigmatische Leitkategorien fungieren, die in einer systematischen Umsetzung modellhafte Strukturen und Referenztypen der Kürzung zutage treten lassen. Daneben und zugleich können sie aber auch makrowie mikrostrukturell in jeweils unterschiedlichem Maße selektiv und situativ aktualisiert werden, ohne eine für den Gesamttext konsequente Stringenz auszubilden. Als grundlegende Konstante für Kurzfassungen höfischer Epik kann die Wahrung des Versschemas - der Reimpaarform - gelten, an der die im engeren Sinne rhetorische Arbeit an der poetischen Faktur eines Textes ansetzt. 257 Symptomatisch sind Re- und Neuformulierungen, die durch kürzende Eingriffe in den Prätext evoziert sind und in der Reduktion zum Teil Überschüsse produzieren, um an der jeweiligen Stelle die Prinzipien sprachlicher Kohäsion und inhaltlicher Kohärenz zu wahren. Kürzung ist - so die wiederholte Feststellung - nicht mit ›bloßer‹ mechanischer Streichung von Text- und Versmaterial gleichzusetzen. Ihre literarische Dimension offenbart sich nicht nur in einem Potential zur poetischen ›Neu-Dichtung‹, sondern vor allem auch in dem Grad, nach dem sich die abbreviatio auf gattungsspezifische Konstanten und ›Bauformen‹ des Textes richtet. Das Verfahren quantitativer Reduktion bei gleichzeitig qualitativer Akzentuierung verweist auf epistemische und rhetorisch-poetische Spielräume, die es erlauben, die historische Signatur einer Poetik der Kürzung zu konturieren. Literarische Kürzung als textimmanentes Prinzip ist stets einer Spannungshaftigkeit zwischen zeitgenössischen Gattungs- und Diskursinterferenzen sowie ihrem Fluktuieren im diachronen Wandel unterworfen und nur im Rückgriff auf diese »Uneinheitlichkeit historischer Prozesse« 258 in der wissenschaftlichen Analyse zu beschreiben. Wenn Kürzung sich als Adaptationspraxis und Rezeptionsphänomen vermittelt - wie am Beispiel von Herborts von Fritzlar Liet von Troye (s. Kap. 2.1) -, sind damit poetologische Präferenzen indiziert, die als Gegenmodell zu etablierten Erzählformen in Anschlag gebracht werden. Sie repräsentieren freilich nicht ein a priori gesetztes Prinzip, sondern unterliegen einer Relationalität, die zwischen texttypen- und diskursspezifischen Kürze-Länge-Postulaten changiert. Während die Maximen eines auf rhetorische Kürze und poetische Dichte abgestellten Duktus in der lateinischen Literatur des 12. Jahrhunderts auf höchst artifi‐ zielle Weise zur Anwendung kommen können, stehen ihnen in der Volkssprache grund‐ sätzlich andere sprachlich-stilistische Möglichkeiten zur Verfügung. Unter veränderten Bedingungen stecken diese den Rahmen ab, in dem eine abbreviatio-Poetik sich im Bereich 3.2 Spezifika einer Poetik der Kürzung. ›Kurzfassungen‹ in der mittelhochdeutschen Epik 263 <?page no="264"?> 259 Siehe zusammenfassend Kap.-2.1.4. 260 Historische Gemengelagen literarischer Ordnungsprozesse sind beschrieben bei Fuhrmann / Sel‐ mayr, Ordnen, Wissen, Verstehen (2021), S.-1-33. 261 Siehe die Ergebnisse der Analyse in Kap.-2.2.3 u. Kap.-2.2.4. 262 Dazu besonders Kap.-2.2.3. 263 Siehe zusammenfassend Kap.-2.3.4. der höfischen Epik bewegen kann. Durch eine prononcierte Selbstreferentialität, die die literarische Form als sinntragende Komponente des Erzählens rezipierbar macht, erscheint der Modus kürzender Bearbeitung als Ordnungsleistung angesichts eines als ›abundant‹ markierten höfischen Erzählprogramms. 259 Die Kürzung gerade derjenigen Komponenten, die für ein solches Erzählen als prototypisch gelten können (z. B. elaborierte descriptiones weiblicher Schönheit, höfischer Pracht oder ritterlicher Tugend), bildet einen Prozess der Selektion und Evaluation des Erzählten im Sinne einer Ordnung auf das als ›richtig‹ erachtete Maß ab. 260 Das ostentativ auf Wahrnehmbarkeit angelegte Verfahren literarischer Kürzung ist als Plädoyer für eine Erzählf o r m zu verstehen, die ihre narrativen Spezifika aus der Umsetzung rhetorisch-poetischer Muster und Modelle heraus bezieht. Dass sich eine solche Semantisierung der Form auch jenseits direkter Verweisstrukturen als Reproduktionsprinzip entfalten kann, dokumentiert das Beispiel der Nibelungenklage *J (s. Kap. 2.2). Die systematisch durchgeführte Reduktion des Ausgangstextes steht im Dienste einer grundsätzlichen Re-Organisation der narrativen Logik des Textes. Auch hier setzt die Kürzung an Strukturelementen an, die als konstitutiv für die Bezugsmatrix der Gattung gelten können. Mit der Streichung weiter Passagen der Klage-Handlung sowie der im Gattungskontinuum präsenten Referenztypen heldenepischen Erzählens wird ein Prozess narrativer Neuordnung greifbar, der nicht unerhebliche Implikationen auf das Erzählen selbst besitzt. 261 Kürzung als rhetorisch-poetisches Verfahren, das auf der Ebene literarischer Form operiert, wird damit erzähltechnisch produktiv. Effekt einer insbesondere das Verhältnis von Narration und Diskurs betreffenden Umstrukturierung ist ein strafferes Erzählen, das sich durch eine Intensivierung des (Erzähl-)Tempos auszeichnet (velocitas). 262 Indem die auf dem rhetorischen Prinzip der brevitas fußende Poetik der Kürzung dabei sowohl sprachlich als auch strukturell zu Buche schlägt, wird sie als Moment narrativer Skalierung wirksam. Ein solches Prinzip ließ sich auch in der Nibelungenlied-Handschrift n beobachten (s. Kap. 2.3). Der extremen Verdichtung des ersten Handlungsteils des Textes (Âv. 1-24) auf 20 Strophen entspricht ein Streben nach Vollständigkeit, das den zweiten Teil mit der eigentlichen Untergangshandlung auszeichnet. Das markante Interferenzphänomen von abbreviatio auf der einen und amplificatio auf der anderen Seite verweist auf einen Aspekt, der für die beiden scheinbar konträren Parameter gestaltender Arbeit am Text von zentraler Bedeutung ist: Kürzung und Erweiterung lassen sich nicht als absolute Kategorien veranschlagen; sie entfalten vielmehr als integrale, rhetorisch grundierte Ver‐ fahren narrativer Organisation ein synergetisches Potential, das die Qualitäten eines Textes mit jeweils unterschiedlichen Mitteln aber mit dem gleichen Ziel der Neu-Fokussierung herauspräpariert. 263 Kürzung hebt also als rhetorisch-poetische Verfahrenskategorie, die die narrative Praxis mitdeterminiert, auf die Etablierung neuer Logiken und Profilbildungen des Erzählens im 264 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="265"?> 264 Am Beispiel von Nibelungenklage *J und Nibelungenlied n siehe Kap.-2.2.5 u. Kap.-2.3.1. 265 Siehe zur historischen Abbreviationspoetik Kap.-1.3.2 u. Kap.-1.3.3. 266 Während die Forschung für die Entstehung von Parallelfassungen höfischer Epik »semi-orale[ ] Produktions- und Rezeptionsbedingungen« (Stolz / Fasching, Original und Kopie [2021], S. 347) ansetzt, zeichnen sich Kurzfassungen als sekundäre Textbearbeitungen durch den Zugriff auf einen konkret vorliegenden Text aus. Vgl. zu diesem Zusammenhang Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-260. Rahmen eines zugrundeliegenden literarischen Kontinuums ab. Sie changiert zwischen einer primär reduktiven Disposition (Stichwort: Streichung) und Prozessen der Komprimie‐ rung, die die Vielfalt des Nichtgesagten systemreferentiell abrufbar halten können. Damit reagieren Verfahren der Kürzung nicht nur auf epistemische Bedingungen, sondern auch auf jeweils relevante Gattungs- und Diskursinterferenzen. Die Verdichtung des zugrunde‐ liegenden Narrativs priorisiert im Fall des Nibelungenlied n eine textimmanente narrative Fokussierung auf die Untergangshandlung, die eine dezidierte Rückbindung an spätmittel‐ alterliche Formationen heldenepischer Traditionen leistet (Heldenbuch, negatives Kriem‐ hildbild). Kürzung lässt sich insofern als spezifisch poetisches Prinzip beschreiben, in dem sich Praktiken narrativer Selektion und Strukturbildung dokumentieren, die gerade auch im Zusammenhang des jeweiligen Überlieferungsverbundes unterschiedlich funktionalisiert werden und jeweils verschiedenartige Synergieeffekte auslösen können. 264 Die drei exemplarischen ›Stationen‹ aus dem Kontext der mittelhochdeutschen Epik, in denen die Nuclei literarischer Kürzung sinnfällig werden, illustrieren, dass abbreviatio - wie auch amplificatio als deren Komplement - nicht einer ›einfachen‹, invariablen Logik folgt, sondern eine je nach Text- und Kontext sich neu aktualisierende literarische Potenz entfaltet. Diese kann - wie anhand der skizzierten Konstellationen deutlich geworden ist (s. Kap. 2) - einem spezifischen Profil verpflichtet sein, das sich im Text explizit oder auch implizit formiert. Darüber hinaus kann die Kürzung aber auch nur je punktuell und mit einem hermeneutisch kaum noch eindeutig bestimmbaren historischen Interesse realisiert werden (s. Kap.-3.1). Aus der Zusammenschau der paradigmatischen Modellfälle mit dem Feld gestufter Evidenzen kristallisiert sich ein Oszillieren der Kürzungen zwischen der Ebene des Dis‐ kurses und derjenigen der Narration heraus. Als typisch für das Verfahren literarischer Kürzung in Bezug auf die Ebene der Textpoetik erscheint die Reduktion spezifisch epischer Formmuster und Modellierungen. Sie betrifft vorzugsweise diskursive Elemente (z. B. descriptiones, Exkurse, Erzählerkommentare, Kataloge), Formen der Diegese (v. a. Mono- und Dialoge) und - wiewohl seltener - mit handlungstragenden Partien die Narration als solche. Die Arbeit an diesen poetischen Strukturen, die als ›Bausteine‹ zeitgenössischer Dichtung in den mittellateinischen Artes poetriae konzipiert werden, 265 ist dabei einer genuin buchliterarischen Situation verpflichtet, die eine konkret vorliegende textuelle Gestalt dokumentiert und voraussetzt. 266 Deshalb ist sie in weitaus höherem Maße als etwa mündliches Erzählen an schriftliterarisch verbürgte Formen und Dichtungstraditionen gebunden, auf die im Reproduktionsprozess in je unterschiedlich skalierten Dichtegraden modifizierend, aktualisierend oder auch sich demonstrativ distanzierend Bezug genommen werden kann. Kürzung als poetisches Prinzip realisiert sich also in topisch gewordenen 3.2 Spezifika einer Poetik der Kürzung. ›Kurzfassungen‹ in der mittelhochdeutschen Epik 265 <?page no="266"?> 267 Zur Konzeption der ›Bauformen‹ epischen Erzählens für die antike Epik Reitz / Finkmann (Hg.), Structures of Epic Poetry (2019), 3 Bde. Siehe dazu Kap.-1.1, Anm.-36. 268 Kiening, Schwierige Modernität (1998), S.-462. 269 Die ambivalente Spannung historischer Formsemantiken analysiert Köbele, Immer schneller kürzer (2021), S.-85-123. rhetorischen Mustern und gattungsspezifischen ›Bauformen‹ im Sinne einer Tradition epischen Erzählens. 267 Eine literarhistorische Differenzierung, die Kürzungsprozesse im historischen Wandel erfassen soll, ist auf die Konstruktion und Rekonstruktion verschiedener Sinnebenen an‐ gewiesen, vor deren Hintergrund sich die beobachteten Befunde zu philologisch nachweis‐ baren Konfigurationen bündeln lassen. Dabei muss die Vermittlung synchron-diachroner Form-, Gattungs- und Diskursinterferenzen zwar eine Ebenentrennung einziehen, die aber nicht in einer ›einfachen‹ Distinktion zwischen einer brevitas-Rhetorik auf der Ebene der sprachlichen Faktur und dem Verfahren der abbreviatio im Sinne der Kultivierung spezifisch poetischer Ausdrucksmittel aufgeht. Vielmehr ist von einer produktiven Spannung auszu‐ gehen, die scheinbar gegenläufige, überschüssige Phänomene von emergentem Charakter produziert. Das Partikulare erscheint in Bezug auf das Ganze nicht selten unterdetermi‐ niert, sodass sich das historische Bewegungsmoment des gekürzten Textes ›eindeutigen‹ Antworten insofern entzieht, als es die Vielschichtigkeit ineinander konvergierender epis‐ temologischer, bildungsgeschichtlicher und medienhistorischer Komplexitäten erkennen lässt. Überlieferungs- und Reproduktionsprozesse unterliegen einer spezifischen Aneignung der Texte, »die nur bedingt der Entfaltung ursprünglicher Sinnpotentiale« gilt. 268 Ihre Abhängigkeit von heteronomen Voraussetzungen, z. B. sozio-politischen und ökonomi‐ schen, aber auch kulturellen Praktiken, erfordert einen Blick, der die einzelnen ›Optionen‹ schriftliterarischer Retextualisierung zu einem Gesamtbild zusammenzieht. Denn gerade w e i l die Texte im Zentrum unterschiedlicher historischer Konfigurationen, literarischer Interessenslagen und mitunter mehrschichtiger Produktionsprozesse stehen, sind abstrak‐ tere Kategorien notwendig, um die phänomenologische Vielfalt mit ihren latenten wie manifesten Verfahrensparadoxien literarischer Kürzung zu erfassen. Damit sind Elemente einer Heuristik zur Beschreibung der heterogenen und heterochronen Formansprüche, Gattungstraditionen und Wissensdiskurse indiziert, die die Techniken der Kürzung nicht stillstellen bzw. auf e i n dominantes Grundparadigma verpflichten, sondern ihr textpro‐ duktives Potential mittels einer vergleichenden Poetik als - jeweils fallbezogen - unab‐ hängige Spannung von Emergenz-›Effekt‹ und literarischer ›Strategie‹ offenlegen und entwickeln. 269 Für die Signatur einer Poetik der Kürzung bedeutet das: Sie ist nicht in Bezug auf ein einziges Kriterium (das des planvoll gearbeiteten Textes), sondern nur über die Zusammenführung interwie intratextuell vermittelter Differenzen zu bestimmen. Um ihre historische Spezifik auf einer Ebene zu erfassen, die über Einzelbefunde hinausführt, muss sie als abstrakte Kategorie konzipiert werden. Nur so lässt sich den Dynamiken, die die literarische Kürzung als Verfahrensform ausbildet, adäquat begegnen. abbreviatio ist nämlich mitnichten - genau wie andere Modalitäten der Textbearbeitung - ein statisches 266 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="267"?> 270 Eine solche - auf einer Ebene jenseits des Einzeltextes - konzipierte Poetik der Kürzung ließe sich auch für anderen Gattungskontexte ansetzen, wo sie sich in der für diese jeweils charakteristischen Formelsprache, den Strukturen etc. manifestieren kann - und auch nachweislich manifestiert. Vgl. dazu die Einzelstudien in Frick / Grütter (Hg.), abbreviatio (2021). 271 Hübner, Historische Narratologie (2015), S.-28. 272 Vgl. Bezner, Zwischen ›Sinnlosigkeit‹ und ›Sinnhaftigkeit‹ (2005), S.-205-237. 273 Für die Nibelungenklage *J siehe exemplarisch Kap.-2.2. 274 Zum Feld ›gestufter Evidenzen‹ siehe Kap.-3.1. 275 Siehe dazu die Analyse in Kap.-2 sowie den Referenzrahmen situativer Kürzung in Kap.-3.1.2. 276 Sietz, Erzählstrategien (2017), S.-12. Prinzip. Ihren optionalen Charakter im Sinne eines Ermöglichungsraums dokumentiert das Oszillieren zwischen einer je unterschiedlich stark ausgeprägten Funktionalisierung der kürzenden Eingriffe und ihrer situativen, bisweilen nur punktuellen Implementierung. Die Poetik der Kürzung erweist sich damit als habitualisierte Praxis, die sich in Abhängigkeit von den gattungsgebundenen rhetorischen Formmustern und poetischen Strukturen, aber in einer typologischen Verfahrensäquivalenz konstituiert. 270 Auf einer vom Einzeltext abstrahierten Ebene stellt sie damit ein Reservoir an poetischen Vermittlungsformen mittels kürzender Textbearbeitung bereit, die als Bestandteile eines »kulturellen Praxiswissens« 271 gelten können. Dass der Poetik der Kürzung keine absolute, d. h. definitive ›Programmatik‹ im Sinne eines gegenüber dem jeweiligen Prätext angezielten alternativen Deutungsprofils einge‐ schrieben ist, bedeutet freilich keinen Verlust an ›Sinnhaftigkeit‹ - oder wäre gar als Zeichen für ihre Beliebigkeit zu verstehen. 272 Die Tatsache, dass literarische Kürzung nicht nur dann auftritt, wenn ein Redaktor mit einer planvoll angelegten Konzeption der Textmodellierung agiert, 273 sondern auch dort zu beobachten ist, wo die philologisch verfah‐ rende Analyse an der Rekonstruktion eines solchen Konzepts von textglobalem Anspruch scheitert, 274 illustriert ein für die Poetik der Kürzung wesentliches Merkmal: Die abbreviier‐ enden Eingriffe basieren auf derselben Technik der Textbearbeitung, deren Modalitäten für Formen schriftliterarischer Arbeit an und mit dem vorgängigen Material als paradigmatisch gelten können. 275 Mehr noch: Sowohl hinsichtlich ihrer ›Machart‹, der Faktur, als auch der typologischen Muster bewegen sich die Kürzungen auf derselben (synchronen) Ebene. Der Unterschied hingegen ist auf der Beobachtungsebene zu verorten. Er konstituiert sich erst aus der Perspektive historischer Distanz, die für das Gesamtarrangement (des Textes, der Handschrift) eine ›Intentionalität‹ postuliert, für die der historische Befund oftmals keine zureichend valide Basis bieten kann. In diesem Sinne spiegelt die Suche nach einem hinter dem Kopiervorgang vermuteten »einheitliche[n] originäre[n] Programm« 276 eine moderne Kohärenzerwartung an eine konzeptuelle Homogenität des Einzeltextes wie der Sammlung, an der er - wie im Falle der Kürzung des Rappoltsteiner Parzifal im Codex Casanatensis - partizipiert. Die historischen Befunde mit ihren Uneindeutigkeiten, scheinbaren Widersprüchen und Gleichzeitigkeiten unterschiedlicher Entwürfe offerieren ein wesentlich differenzierteres Spektrum möglicher Verfahrensweisen, die eine Poetik der Kürzung konturieren helfen, ohne sie deshalb a priori als absolute Kategorie zu veranschlagen. Diese Neubestimmung einer Poetik der Kürzung hat Implikationen für das Konzept von ›Kurzfassungen‹ im Bereich der mittelhochdeutschen Epik. Traditionellerweise wird 3.2 Spezifika einer Poetik der Kürzung. ›Kurzfassungen‹ in der mittelhochdeutschen Epik 267 <?page no="268"?> 277 Vgl. Bumke, Die vier Fassungen (1996); Bumke (Hg.), Die Nibelungenklage (1999). 278 Bumke, Die vier Fassungen (1996), S.-32. 279 Ebd. 280 Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-422. 281 Siehe die Fassungendiskussion in Kap.-1.2. Am Beispiel der Nibelungenklage *J Kap.-2.1. 282 Henkel, Kurzfassungen (1993), S.-54. 283 Kiening, Schwierige Modernität (1998), S.-463. 284 Schröter, Der Wiener Eneasroman (2000/ 01), S.-231. Siehe dazu Kap.-3.1.2.3. dieses im Anschluss an Bumkes nach wie vor einschlägige Studien zu epischen Paral‐ lelfassungen bestimmt. 277 Grundlegend für Bumkes Fassungskonzept ist einerseits eine stemmatologische Gleichrangigkeit der Texte, bei denen »kein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der klassischen Textkritik vorliegt«. 278 Andererseits setzt das Konzept als Richtgröße für eine Distinktion nicht nur einen »Formulierungs-«, sondern vor allem auch einen »Gestaltungswille[n]« an, 279 der eine spezifische Intentionalität im Sinne einer ganzheit‐ lich verstandenen Bearbeitungstendenz sichtbar und - mit Strohschneider - »historisch interpretierendem Verständnis zugänglich« 280 werden lässt. Diesen Kriterien zufolge sind Kurzfassungen immer als Bearbeitungen zu verstehen, tritt doch ihr gegenüber einem Prätext jeweils sekundärer Status offen zutage, auch wenn sich nur in den seltensten Fällen eine direkte Vorlage erhalten hat. 281 Doch gerade der Blick auf das Feld gestufter Evidenzen literarischer Kürzung demonstriert die Inkommensurabilität eines ›Bearbeitungs-‹ bzw. ›Gestaltungswillens‹ als Kategorie der Beschreibungebene, deren Intentionalitätsanspruch sich auf den Text als Gesamtkontinuum richtet - argumentiert doch dieses Postulat aus einer das Textganze souverän überblickenden Position und einer daraus abzuleitenden aktiven Absicht eines die Kürzung verantwortenden Redaktors heraus. Eine solche kann aber, so die entscheidende Quintessenz der exemplarischen Studien, nur in Spezialfällen als historische Größe rekonstruiert werden, während sie in zahlreichen anderen Konstel‐ lationen kaum validierbar bleibt. Die in dieser funktionsanalytischen Hinsicht offenkundige Defizienz auf der Ebene der methodischen Modellbildung (Stichwort: Fassungendefinition) macht eine Neukonzep‐ tualisierung des Fassungsbegriffs für das Phänomen kürzender Redaktionen mittelhoch‐ deutscher Epen notwendig. Diese hat an einer Abkehr vom Intentionalitätspostulat im Sinne einer für die Kürzungen veranschlagten eigentlichen »Zielrichtung« 282 anzusetzen, die ohnehin vielfach hinter dem »philologisch Nachweisbare[n]« 283 zurückbleiben muss. Versuche der Forschung, sich angesichts der geltenden methodischen Konfigurationen auf diesem Sektor zu behelfen, dokumentieren die terminologische Unsicherheit, die sich im Umgang gerade mit jüngeren, im Spätmittelalter entstandenen Kurzfassungen einstellt: So spricht Marcus Schröter der in der Wiener Handschrift im Verbund mit der Weihenstephaner Chronik überlieferten Version des Eneasromans (w) den Status als eigenständige ›Fassung‹ - »im Sinne einer […] ›gleichwertigen Parallelversion‹« - ab und bestimmt sie als »kürzende ›Bearbeitung‹« einer oberdeutschen Vorlage. 284 Dennoch hält er am Begriff ›Kurzfassung‹ im Rahmen der Textanalyse fest. Ähnlich argumentieren Michael Stolz und Richard Fasching: Im Codex Casanatensis sehen sie »nicht eine eigenständige ›Fassung‹ des Nuwen Parzifal, sondern eine Umschrift, deren Eigenart Verstehensakte im Überliefe‐ 268 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="269"?> 285 Stolz / Fasching, Original und Kopie (2021), S.-370. 286 Zu schwankenden Terminologien vgl. auch Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), bes. S. 360f.; Baisch, Textkritik (2006), bes. S. 14-24; Strohschneider, Höfische Romane in Kurzfassungen (1991), S.-419-439. 287 Die »sich überlagernden und widersprechenden Reduktionsformen« in der Überlieferung des Iwein verweisen auf eine nicht einsinnige Motivation der Textbearbeitung, »die nicht in den Verfahren der abbreviatio aufgeht, sondern vielfältige Vermittlungsstrategien höfischen Erzählens offenlegt und damit zugleich die Angemessenheit des geläufigen Konzepts der ›Kurzfassung‹ in Frage stellt.« Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-359. 288 Kritisch gegenüber dem Kohärenzkriterium auch Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S. 360. - Zur Schwierigkeit, historische Kohärenzkriterien adäquat zu rekonstruieren, vgl. Schneider, Narrationis contextus (2013), S.-155-186. 289 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-359. rungsprozess nachvollziehen lässt.« 285 Weitere Beispiele wären hinzuzufügen. 286 Termini wie Bearbeitung, Umschrift, Redaktion - sie dienen im Grunde als Hilfskonstruktionen für ein Phänomen, dessen formale Charakteristika (solche der Kürzung) sich zwar zu einem Merkmalbündel gruppieren lassen, dessen fundamentales Prinzip aber nicht mit e i n e r absoluten Zielvorstellung zur Deckung zu bringen ist. Das ist freilich kein Grund, die »Angemessenheit des geläufigen Konzepts der ›Kurz‐ fassung‹ in Frage« zu stellen, wie dies Krusenbaum-Verheugen und Seebald angesichts ihrer Befunde zu den gekürzten Versionen von Hartmanns Iwein andeuten. 287 Ziel muss es vielmehr sein, das Konzept ›Kurzfassung‹ für die wissenschaftliche Analyse so zu präzisieren, dass es trotz seiner Rückbindung an das traditionelle textkritische Vokabular operabel bleibt. Ein Ansatz, dieses Konzept neu zu denken, muss sich distanzieren von der Voraussetzung einer auf das Textganze gerichteten, intentionalen Bearbeitungsbzw. Gestaltungstendenz eines Redaktors, deren Zweck per se mit der Konstruktion alternativer Sinnhorizonte und neuer Kohärenzen zu fassen wäre. 288 Die oben dargelegten Spezifika einer vom Einzeltext abstrahierten Poetik der Kürzung, deren Spielräume jeweils unterschiedlich ausgeschöpft werden können, dokumentieren ja gerade nicht das Exis‐ tieren einer in der Kürzung eines Einzeltextes verbürgten exklusiven und »einsinnige[n] Poetik«, 289 sondern eine in der schriftlichen Materialisierung divergierende Instrumentie‐ rung der habitualisierten Kürzungspraktik. Für Kurzfassungen höfischer Epik im Sinne eigenständiger, aber gegenüber den Vorlagen nicht ›gleich-wertiger‹ Textzustände wäre demnach - jenseits quantitativ skalierbarer Relationen (›Wie lang ist eigentlich kürzer? ‹) - eine stärker resultative Orientierung anzusetzen. Sie fokussiert die rhetorisch-poetisch instruierten Verfahren der Kürzung, die sich auf der Ebene der sprachlichen Faktur wie zugleich des modifizierenden Umgangs mit Mustern und Strukturen epischen Erzählens manifestieren: als Konstituenten für eine je neu und anders akzentuierte Version des zugrundeliegenden Prätextes. Im Rahmen dieses Vorschlags würde die Bestimmung einer exakten Referenzgröße, die der wissenschaftlichen Analyse aufgrund der Kontingenzen innerhalb der mittelalterlichen Überlieferung weitgehend entzogen bleibt, heuristisch dadurch eingeholt, dass nicht quantitative Gesichtspunkte der kürzenden Eingriffe, sondern deren Qualität zur Bemes‐ sensgrundlage wird. Dabei ginge es nicht um die Dokumentation ›bloßer‹ Streichungen von einzelnen Versen, Versgruppen oder Erzählsequenzen, sondern um das Aufzeigen einer 3.2 Spezifika einer Poetik der Kürzung. ›Kurzfassungen‹ in der mittelhochdeutschen Epik 269 <?page no="270"?> 290 Vgl. schon Bumkes Bedenken gegenüber dem Ansatz einer einzigen zielgerichteten Bearbeitungs‐ tendenz im Kontext der Fassungendiskussion: »Man kann jedoch bezweifeln, daß Kürzungs- oder Erweiterungsabsichten der primäre Faktor für die Hervorbringung von Parallelfassungen gewesen sind: die Abweichungen im Textbestand gehen überall mit bedeutenden Unterschieden in den Lesarten Hand in Hand.« Bumke, Überlieferungsgeschichte (1991), S.-303 mit Anm.-184. 291 Krusenbaum-Verheugen / Seebald, Der höfische Roman (2012), S.-358. textproduktiven Dynamik, die sich insbesondere im Umgang mit spezifischen poetischen Elementen und ›Bauformen‹ epischen Erzählens vollzieht. Eine solche Neuorientierung hätte nicht die Intentionalität eines Textganzen im Blick, 290 sondern eine sich jeweils optional realisierende rhetorisch-poetische Praxis, die die Ebene des Diskurses bzw. der Narration auf signifikante Weise tangiert, auch wenn sie sich nicht in jedem Einzelfall auf eine Gesamtdeutung des vorliegenden Textes hin festlegen lässt. Der analytische Gewinn eines solchermaßen präzisierten Konzepts der ›Kurzfassungen‹ höfischer Epik liegt auf der Hand: Rückgebunden an eine Poetik der Kürzung, die sich in den Verfahren der Reduktion, Reformulierung und Rekombination konstituiert, erscheinen Reichweite und Geltung des Modells über ein System typologischer Rekurrenzen und Ver‐ fahrensanalogien klar umrissen. Dabei ist nicht die »eine übereinstimmende konzeptuelle Basis« 291 für die Erscheinungsformen a l l e r Derivate in gleichem Maße anzusetzen. Noch einmal: Jenseits ihrer konkreten Realisierung fungiert die Poetik der Kürzung als abstrakte Größe, die in einer gegenüber dem ursprünglichen Format differenten Kurzfassung das Nebeneinander von Divergentem ebenso inkorporiert wie sie Fragen nach ausrechenbaren Kürze-Länge-Proportionen als methodisch inadäquat ausweist. 270 3 Poetik der Kürzung. Eine Bilanzierung <?page no="271"?> 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ Wie in Kap. 2.1.3 verhandelt, ist Herborts von Fritzlar Liet von Troye in einer frühen Kurz‐ fassung erhalten, deren Konturen sich in den Fragmenten aus Skokloster (S) konkretisieren. Die folgende Gegenüberstellung enthält den Text von S, unverändert in Graphie, Inter‐ punktion und Verszählung, nach der Ausgabe von Psilander (1917); Ausnahme: Nasalstriche werden zu <n> aufgelöst, Anführungszeichen stehen nur jeweils am Beginn und am Ende direkter Reden. Der entsprechende Abschnitt des Liet von Troye (V.-7735-8510) folgt der Ausgabe von Frommann (1837 [1966]) mit wenigen Modifikationen (Abbreviaturen werden aufgelöst, graphematische Spezifika, z. B. Schaft-s, geschweiftes z, normalisiert). Die Synopse soll eine konstellierende Lektüre von ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ des Liet von Troye ermöglichen. - Frommann (1837 [1966]) Psilander (1917) - 7735 Diesen valant bestan »Diesin duvil bestan. 1 - Vernemet wes ich gedacht han - - - Wir wollen in alvmbe fahen Wir wollin in gewisliche unbeuan - - Daz ist daz beste vns getan - - - An einesit vnd andersit Ein sit und andirsit. - 7740 Wol dane schiere des ist zit Wol dane is ist zit». - - Sie ranten alle sament zv Sie rantin alle samin zv̊ 5 - Vnd vmbe fingen in do Vnd unbeuiengin in dů. - - Sie begunden in vmberingen Sie begundin in unberingin: - - Als er wolte enspringen So er here wolde springin, - 7745 So wart im hie ein stoz So wart ime hie ein stoz; - - So er aber dare schoz So er hin abe schoz, 10 - So wart im ein stich So wart ime da* ein stich; - - Als er da bewarte sich So er hie bewarte sich, - - So wart im ein slac anderswa So wart ime ein slac andirswa, - 7750 Beide hie vnd da Beide hie unde da, - - Also dicke vnd also lange Also dicke und also lange, 15 - Daz er vor gedrange Daz er uor gedwange - - Vnd vor irme getwenge Vnd vor ir gedrenge - <?page no="272"?> Beherten die lenge Behertin die lenge 7755 Noch mochte noch enkvnde In mohte ioch inkunde; - - Des gewan er vbel stunde Des gewan er ůbele stunde; 20 - Auch gwunnen die crichen vbel zit Alse* gewunnin die Criechin ůbil zit; - - Iedoch wart er gar zv schit Idoch wart er al zv̊ schit. - - Do er was gefallen Als er was geuallin, - 7760 Die crichen begunden schallen Die Criechin begundin schallin - - Mit werken vnd mit worten Mit werkin und mit wortin; 25 - Ir swert sie vrborten Ir swert sie urbortin - - Vil baz danne e Harte uiele baz dan ê. - - Sie slugen der von troyane me Sie irslůgin der uon Troien me - 7765 Den der crichen were erslagen Dan der Criechin were irslagin. - - Sie begunden vaste zv iagen Sie begundin uaste zv̊ iagin; 30 - Da behilden sie den pris Da behielden sie den pris. - - Da er fiel filemenis Da iruiel Filemenis, - - Der kvnic von palatine Der k. uon palatine. - 7770 Vnd als die sine Alse do die sine - - Sere klageten vnder des Sere clagetin, undirdes 35 - Quam her achilles Quam her Achilles - - Mit sime schafte zv getriben Mit sineme schafte zv̊ getriebin: - - Da ir klage was bliben Da ir clage was bliebin, - 7775 Da wart sie vollen erhaben Da wart sie uollin irhabin. - - Hector begonde ouch zv draben Hector begunde ouch zv̊ drabin 40 - Sie riten zornlich Sie rietin zornliche - - Beide wol gliche Beide geliche. - - Mit menlicher crefte Mit harde starkir crefte - 7780 Zv brachen sie die schefte ………… - - Sie griffen zv den swerten - - - Die wile daz die gewerten - - - Riten sie slahende durch den creiz Sie rietin slahinde durh den creiz, - - Daz in blut vnd sweiz Daz in blůt und sweiz - 7785 Durch die sarawat floz Durh die sarewat floz. - 272 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="273"?> Do wart daz gedrenge also groz Da wart daz gedrenge also groz, 50 - Daz sie zv fvz quamen Daz sie ze fůz quamin. - - Ir iegelich begonde ramen Ir iegelich begunde ramin, - - Beide hector vnd anchilles - - 7790 Wie der ein dem andern vnderdes Wie er dem andrin sin ors neme, - - Sin ors gemene - - - E er dar vf queme E er wiedir dar ůf queme. - - Achilles doch zv rosse quam Achilles zv̊ orse ê quam: 55 - Hector der wolte ouch alsam Hector wolde důn alsam; - 7795 Daz werte achilles Daz werete ime Achilles - - Vnd begreif sin ros vnderdes Vnd begreif sin ors undirdes. - - Daz ros hiez galathea Daz ors hiez Galathea, - - Hector lief im zv fuzzen na Hector lief ze fůzin na. 60 - Vil snellichen (er) lief - - 7800 Starke er im nach rief - - - Kere helt kere »Kere helit kere: - - Mir ist aso mere Mir ist also mere, - - Daz ich den tot kiese Daz ich den dot kiese - - Als ich min ros vurliese Als ich min ors uirliese. - 7805 Waz nv ir troyre Wa nu edele troiere: 65 - Wol dane schiere Wol dane zouwit schiere, - - Helfet mir min ros retten Helfit mir min ors retin; - - Ich wil mich lazzen ertretten Ich will mich ê lazin irtretin, - - E ich alsus han verlorn E ich iz alsus habe uirlorn». - 7810 Sie rurten die ros mit den sporn Sie růrtin die ors mit den sporn 70 - Vnd quamen so zv getrieben Vnd quamin so zv̊ getriebin, - - Daz die erde mochte erbiben Daz die erde mohte irbiebin - - - Von ir gerenne. - - - Sie beretin iz ettiswenne, - - Da nach der vnd der Wilin behielt iz der. 75 - Da vur durch den schilt daz sper Da fůr durh den schilt daz sper, - 7815 Durch den halsberc daz swert Durh den halsberc daz swert.* - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 273 <?page no="274"?> Da bleip man vnd phert Da bleip man und phert - Vffe deme ringe Vffe dem ringe, - - Von schone iungelingen Schone jungelinge 80 - Beide erslagen vnd ertrat Beide irslagin und irtrat. - 7820 Doch so wart daz ros berat Ouch so wart iz* berat - - Von den bastharten Von den bastardin: - - Irn fliz sie darzv karten Irin fliz sie dar zv̊ kardin, - - Daz ez behilt hector Daz iz behielt Hector. 85 - Do wart gefangen antenor Geuangin wart Antenor. - 7825 Als er gefangen was Als er geuangin do was, - - Do rante zv polidamas Zv̊ rante polidamas - - Sie begunden aber zv draben Sie begindin abir zv̊ trabin - - Do hette sich die not erhaben ………… - - Als von erst bedersit - - 7830 Wen daz die vesper zit - - - Vnd die abent stunde Vnd die abint stunde - - In strites niht engunde In stritis niht inegunde; - - Sie riten an ir gemach Sie rietin an ir gemach. 95 - Als in da vor geschach Als in da uor geschach, - 7835 Also enphinc man sie do Also imphienc man sie nů - - Vnd baz dar zo Vnd ioch baz danne dů. - - Priamus vnd ecuba Priamus und Hecuba - - Enphingen irn svn da Imphingen ire sůne da 100 - Vnd furten sie zv danke Vnd fůretin sie ze danke - 7840 Mit azze vnd mit tranke Mit aze und mit dranke, - - Als in harte wol gezam Als in harte wol gezam. - - Ir spise die was lobesam Ir spise die was lobesam; - - In waren ir bette bereit In warin ir bette bereit 105 - Nach der gewonheit Nach der gewonheit. - 7845 Ir iegelich an sin bette lac Ir igelich an sin bette lac - - Vnd ruweten biz an den tac Vnd růwete biz an den dac. - - Waz die crichen teten Waz die Criechin detin, - 274 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="275"?> Do sie gezzen heten Dů sie gezzin hetin, 110 - Als ich ez gescriben funden han Als ich iz geschriebin fundin han, - 7850 Also mvget irs an mir verstan Also sůlit irz an mir uirstan. - - Agomennon besante Agomennon die besante, - - Die herren die er erkante Die er rehte irkante, - - Daz sie von den iaren Daz sie uon den iarin 115 - Vnd anders wise waren Vnd andirs wis warin. - 7855 Die sin gebot vernamen Dů sie sin gebot uirnamin, - - Vil schiere sie dar quamen Viel schiere sie dare quamin. - - Er sprach nv ratet alle Er sprach: »nu ratit alle, - - Wie ez vch gefalle Wie iz iv̂ geualle. 120 - Gefangen ist hie anthenor Hie ist geuangin Antenor; - 7860 So hat ouch her hector So hat der herre Hector - - Thoam gefangen Toam ouch geuangin, - - Daz ist vnlange ergangen Daz ist lange irgangin; - - Man wil sines gedinges niet Man inwil sinis gedingis niet. 125 - Ob nv wessel geschiet Ob nu wandil geschiet - 7865 Vnder in beiden Vndir in beidin, - - So ist ez wol gescheiden So ist iz wol gescheidin. - - Wir senden morgen boten dare Wir sendin morne botin dare, - - Daz man an in er vare Daz man an in iruare, 130 - Ob in der wessel behage Ob in der wehsil behage. - 7870 Ich weiz wol sie hant klage Ich weiz wol sie hant clage, - - Daz wir ir also vil han erslagen Daz wir der ire* so uil han irslagin; - - Daz selbe mvgen ouch wir klagen Daz selbe moge wir wol clagin.» - - Sie lobeten alle den rat Sie lobetin alle den rat. 135 - Rechte als ir geraten hat ………… - 7875 Mac ez geschehen also - - - So sin wirs alle vil fro - - - Rechte vm die selben zit Rehte unbe die selbin zit - - Klaugeten iene dort andersit Clagetin giene andersit, 140 - Daz antenor gefangen was Daz Antenor geuangin was, - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 275 <?page no="276"?> 7880 Do rieten sie daz thoas Dů rietin sie daz Toas - Gegen im wider gegeben wart Gegin ime gegebin wart, - - Als ir vor sit gelart Als ir uore sit gelart. - - Die nacht erginc der tac quam Die naht irgienc, der dac quam. 145 - Die tacsterne in beiden nam Der dagesterre in beidin nam - 7885 Irn schin biz vf den morgen Irn schin unze an den* morgin, - - Der da was vurborgen Der da was uirborgin, - - Vnd der mit der svnnen vf ginc Mit der sunnin ůf gienc, - - Daz velt da den tou enphinc Und daz uelt den dôu imphienc 150 - Do nazzete ouch daz gras Und nazzede daz gras, - 7890 Die wilde daz die kvlde was Die wile daz die kulde noch was. - - Die da solden striten - - - Die quamen von beiden siten - - - Vnd riten vz als da vor Sie rietin uz also da uor: - - Von troygen ector Diese sit her Hector, - 7895 Agomennon da engein Agomennon da ingein 155 - Vnd die da vol geten in zwein Vnd die uolgetin in zwein. - - Da wart lenger niht gebit Da ne wart langir niht gebit: - - Sie huben beidersit den strit Sie lostin die zit - - Mit slegen vnd mit stichen Mit slegin und mit stiechin; - 7900 Die lebenden daz tichen Die lebindin daz tiechin, 160 - Daz die toten waren tot Daz die dotin warin dot. - - Funfaltic was e ir not Funfvledic vas ê ir not: - - Vber die manicfalticheit Ubir die manicfaldicheit - - Nv wart sie sehsvalt gebreit Nv̊ wart sie sehsfalt gebreit. - 7905 In entstunt ein vnselic tac In intstunt ein unselic dac; 165 - Slac vnd wider slac Slac unde wiedirslac, - - Stich vnd wunde Stiech unde wunde. - - Gegen der morgen stunde Gegin der morginstunde - - Vf den tac vurbaz V̊ ffe den dac fůrebaz - 7910 Rachen sie nit vnd haz Rachin sie nit und haz 170 - So sere vnd so nehe So sere unde nehe, - 276 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="277"?> Swelich man ez sehe Swelich man irsehe - Vnd ez rechte weste Vnd rehte weste, - - Er enwere nie so veste Er in were nie so ueste, - 7915 Daz er sich enthalden kvnde Daz er sich inthaldin kunde, 175 - In iamerte durch die sunde In iamirte ir sunde - - Vnd vmbe den grimmigen mort Vnbe den harte grozin mort. - - Dannoch vf den tac vort V̊ ffe den dac noch dant uort - - Gingen sie so houwen Giengin sie houwin, - 7920 Daz in der stat die frouwen Daz in der stat die frouwin 180 - Von der grozzen bitterkeit Von der grozin bittircheit - - Weinten so daz ir kleit ………… - - Von den zeheren wurden naz - - - Ir iegeliche also leidic saz - - 7925 Vnd an sulcher gebere Vnd an sulhir gebere 185 - Als sie halp tot were Alse sie halp dot were. - - Vf den tag nach prime zit V̊ ffe den dac nach prime zit - - Er hup sich da so groz strit Hůb sich so groz strit - - Vnd sulich vechte Vnd sulhich uehte, - 7930 Daz daz funfte geslechte Daz daz funfte geslehte, 190 - Daz nach disen quam Daz nach diesin quam, - - An sime kvnne schaden nam An sineme kunne schadin nam. - - Dannoch e mitten tage Noch dan ê mitteme dage - - Quamen sie so zv slage Quamin sie so sere ze slage, - 7935 Daz ir blut nider goz Daz ir blůt niedir goz 195 - Vnd in daz mer schoz Vnd in daz mere schoz - - Also starke vnd also sere So starke und so sere, - - Alz ez ouch ein wazzer were Als iz ouwic wazzir were. - - Daz da rvnne vnd fluzze - - 7940 Vnd in daz mer schuzze - - - Rechte vm den mitten tag Rehte unbe mittin dac - - Des folkes so vil tot lag Des uolkis so uil dot lac, 200 - Sie mochten noch enkvnden Sie ne mohtin ioch inkundin - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 277 <?page no="278"?> Vor den toten noch vor den gewunden Von den dotin ioch uon den wundin, 7945 Noch vor den seren Noch uor den serin - - Niergen sich bekeren Sich niergin bekerin. - - Dannoch vmbe nvne Noch dant unbe nůne 205 - Geschach da dehein svne In geschach da ioch sůne - - Noch der rede dehein teil Noch der rede dechein deil, - 7950 Da in abe queme heil Da in abe queme heil. - - Vor vesper zit ein lvzzel e Vor vespirzit ein deil ê - - Geschach da zehenstunt me Geschach da zehin stunt me 210 - Von noten vnd von sorgen Von not unde uon sorgin, - - Den von dem morgen Danne uon dem morgin - 7955 Geschehen were baz dare Geschehin were unze dare. - - Sie wurden der wesper zit geware Sie wurdin der uespirzit geware, - - Daz der funfte kvme genas Daz der funfte kume genas, 215 - Der in dem strite was Daz ir in deme strite was, - - Er enlege tot oder lam Er inlege dot odir lam. - 7960 Do ez an den abunt quam Dů iz an den abint quam, - - Ir dehein was so starc Ir ne was dechein so starc - - Noch so vbel noch so arc Noch so ůbil noch so arc, 220 - Im enginge die kraft Ime intgienge craft und maht. - - Wen daz sie schiet die swarze nacht Wene daz sie schiet die naht, - 7965 Sie weren zv samne gekrochen Sie werin ze samene gekrochin - - Vn hetten sich gerochen Vnd hettin sich gerochin - - Vf der hant vnd vf die knie V̊ ffe der hant und ůffe deme knîe. 225 - Ez engeschach grozzer not nie Iz ingescach grozir not nîe - - Noch von strite grozzer vngemach Noch ouch grozir ungemach - 7970 Den an dem tage da geschach ………… - - Waz sol vmbe rede me - - - Sie riten heim als ouch e - - - Do claugete clacas Vndir den Criechin clagete Calcas, - - Der der crichen wissage was Der ir wissage was: - 7975 Vns ist missegangen »Vns ist missegangin. - 278 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="279"?> Vns ist abe gefangen Sie hant uns abe geuangin - Vil manic kvne swert degen Harte manichin kůnin degin; 235 - Ouch ist ir vns tot vil gelegen Ouch ist ir uns uil dot gelegin. - - Nv lazzet ir herren werden schin So mir got, nu werde schin, - 7980 Ob ir geuolgit wollet sin Ob ir geuolgic wollit sin, - - So wil ich raten harten wol So wil ich ratin harte wol, - - Ob ich tar vnd ob ich sol Ob ich dar odir sol 240 - Vnd ob ir mit mir bestat Vnd ob ir is mir bestat: - - So sol daz wesen min rat So ist daz rehte min rat, - 7985 Daz wir werben vm einen fride Daz wir werbin unbe einin* friede, - - Vnz wir vnse sichen lide Vnz wir unsir sieche liede - - Geheilen vnd vnse wunden Geheilin und unsir wundin. 245 - Binnen den stunden Binnin den selbin stundin - - Lichte vns zv wizzene geschiet - - 7990 Des wir noch enwizzen niet - - - - Muge wir uirnemin daz mere - - - Daz gesenftit unsir swere.» - - Als calcas diz gesprach Als er sine wort gesprach, - - Agomennon des iach Agomennon des iach, 250 - Er hette wol geraten Er hete wol geratin. - - Die crichen alle baten Die Criechin alle batin, - 7995 Daz ez also geschee Daz iz also geschehe, - - Biz daz man gesehe Vnz man gesehe, - - Waz in baz gezeme Waz in baz gezeme. 255 - Sie rieten wer in bequeme Sie sprachin, wer in queme - - Vnder der ritterschaft Vndir al der rittirschaf - 8000 Baz zv der botschaft Baz zv̊ der bodeschaf - - Denne her vlixes Dan der wise Vlixes - - Vnd diomedes Vnd her Diomedes; 260 - Daz waren zwene wise man Daz warin zwene wise man. - - Sie schutten ir halsperge an Sie schůttin ir halsberc an - 8005 Vnd schuffen ir gewarheit Vnd schůfin ir gewarheit. - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 279 <?page no="280"?> Ir itweder saz vf vnd reit Ir igelich saz ůf und reit; - Ez was an der vinstern nacht Iz waz an der uienstir naht. 265 - Do quam in gein in geraht Dů quam ingegin in geraht - - Ein ritter snelliche Ein rittir snelliche, - 8010 Hubisch vnd riche Gefůge unde riche: - - Dolon was er genant Dolon was er genant. - - Er was vz der stat gesant Er was ůz der stat gesant 270 - Daz er solte horen vnd sehen Beide horin und sehin - - Vnd forshen vnd spehen Vnd uorhschin unde spehin. - 8015 In was beidersit ga In was beidirsit ga. - - Er sprach wer ritet da Er sprach: »wer ridit da*»? - - Wer fraget des daz tun ich ………… 275 - Wer bist du er nante sich - - - Ich han gesaget. nv saget mir - - 8020 Waz svullen wir sagen wer sit ir »Waz sole wir sagin»? »wer sit ir»? - - Wir sin geborn von vber mer »Wir sin geborin ubir mere - - Vnd riten vz disme her Vnd rietin uze dieseme here 280 - Vnd sullen werben ein teil Vnd solin werbin ein teil: - - So dir gebe got gut heil So dir got gebe heil - 8025 Zv diner hubesheite Zv̊ dinir hubischeide, - - Wis vnser geleite Wis unsir geleide - - In die stat wir wollen dar in In die stat; wir wollin dar in. 285 - Zv zwein mannen oder zv drin Zv̊ zwein manedin* odir zv̊ drin - - Eines friedes sullen wir biten Vnbe einin friede sole wir bietin». - 8030 Ir bitet mit so guten siten »Ir bittit mit so gůtin sietin - - Vnd so gezogenliche Vnd so gezogincliche, - - Ich tete bosliche Ich dete bosliche, 290 - Ich enleiste uwer bete Ich in leistede uwir bete». - - Er gelobete vnd tete Er gelobete und dete - 8035 Des er gebeten was Des er uon in gebetin was. - - Er brachte sie uf daz palas Er brahte sie ůffe daz palas, - - Da der kvnic vffe saz Da der k. uffe saz 295 280 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="281"?> Mit sinen kinden vnd az Mit sinin kindin und az - Vnd ander sine ritterschaft Vnd andir sine rittirschaf. - 8040 Sie wurben ir botschaft Sie wurbin ire bodeschaf - - Mit so getanen worten Mit so getanin wortin, - - Alse darzv gehorten Die dar zv̊ gehortin. 300 - Der kvnic hiz sie dannen gan Der k. hiez sie ezzin gan, - - Vnd als da gezzen was san Vnd alse das geheizin was san, - 8045 Ginc er mit sinen rate Gienc er mit sineme rade - - In eine kemennaten In eine kemenade - - Vmbe daz ir vurnomen hat Vnbe daz ir uirnůmin hat. 305 - Den herre behauge der rat Den herrin behagete der rat - - Allen gemeine Allin gemeine: - 8050 Hector alleine Iz wiedir redete Hector eine. - - Der begunde ez widerreden - - - Vnd wolde ez niht freden - - - Er sprach vernemet alle Er sprach: »uirnemit alle, - - War vmbe ez mir misseualle War unbe iz mir niht geualle: 310 8055 Wirdet in gegeben tac Wirt in zv̊ zwein manedin dac, - - So meret sich ir beiac So merit harte ir beiac - - Vnd vnse spise wirt verzert Vnd wirt unsir spise uirzerit, - - Vnd vns die schiffart ist bewert Want uns ist die schifart bewerit; - - Vnd aller vnser gewin Daz was unsir gewin. 315 8060 Als daz ich nih wise enbin Vnbe daz ich niht wise bin - - Vnd vch widertriben niht ensol Vnd uch niht wiedir dribin sol: - - Ez enbehaget mir niht wol Iz behagit mir niht wol. - - Wizzet waz ich vch sagen Wizzit waz ich iv sagin: - - Von vns zv fierzehen tagen Von uns zv̊ uierzehin tagin 320 8065 Mugen sie wol fride haben ………… - - Daz wir die toten begraben - - - Seht waz ir darvmbe tut Seht* waz ir dar unbe dut; - - Daz ist vns beidersit gut Daz ist uns beidir sit gůt». - - Do wart manic rede getan Da wart manic rede getan: 325 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 281 <?page no="282"?> 8070 Ir iegelicher sagete sinen wan Ir igelich sagete sinin wan - Beide sus vnd so Beide sus unde so. - - Do vureinten sie sich do Doch uirendetin sie sich so, - - Daz der fride gegeben wart Daz der friede gegebin wart. - - Die boten huben sich vf die vart Die botin hubin sich ůffe die uart. 330 8075 Dolon ir geleite [was] Dolon ir geleite - - Was alda bereite Was da bereite. - - Er nam ir gute ware Er nam ir harte wol ware - - Vnd geleitte sie biz dare Vnd geleidete sie wiedir dare - - Da er in e zv was kvmen Da er ê* zv̊ in was kůmin, 335 8080 Als ir da vor hat vermvmen Als ir uor hat uirnůmin. - - Do sie riten vnder des Dů sie rietin, undir des - - Fragete im vlixes Fragete in Vlixes - - Maniger hande mere Manichirhande mere - - Wa ir burc were Wa* ir burc were, 340 8085 Kranc oder stete Cranc odir stete. - - Des er gefreget hete Des er gefragit hete - - Mit grozzer kvndekeit Mit harte grozir kundicheit, - - Des hette in iener bereit Des hat ine genir bereit - - Svnder argeliste Sundir arge liste, 345 8090 So er ez best wiste So er beste wiste. - - Dolon sprach gebietet mir Dolon sprach: »gebietit mir; - - Got segen vch gotlone dir Got segene iuch». »got lone dir. - - Du hast dich wol an vns behut Dů has dich an uns wol behůt: - - Got gebe dir immer gut Got gebe dir immir mer gut.» 350 8095 Dolon dannen karte Dolon dannin karde; - - Sie zwene ilten harte Sie zwene iledin harde. - - Do sie zv gezelde quamen wider Alse sie zv̊ den gezeldin quamin wiedir, - - Sie sazzen von den rossen nider Sie sazin uon den orsin niedir - - Vnd sageten agomennon vor Vnd sagetin Priamus wort, 355 8100 Als iz biz her hat gehort Als irz here hat gehort, - - Daz in friede wer gegeben Daz in friede were gegebin, - 282 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="283"?> Vnd mit gemache solden leben Vnd sie mit gemache soldin lebin. - Die boten schuffen ir gemach Die botin schůfen ir gemach - - Daz in zv schaffene geschach Daz in zv̊ schaffene gescach. 360 8105 Hoc vf den andern tac Hohe ůffe den anderin dac, - - Als man zv den ziten pflac Als man zv̊ den zitin phlac, - - Waren sie den toten mite Warin sie den dotin miete. - - Sie hetten zweigerhande site Sie hetin zweier hande siete: - - Sie hiezzen vur machen Sie hiezin fîvr machin 365 8110 Von holzze vnd von sphachen Von speldin und von spachin - - Vnd als ez aller meist bran ………… - - So warf man den toten man - - - Vnd als er gar verbrunnen was Alse er gar uirbrunnin was, - - Sine aschen man zv samne las Sine aschin man zesamene las 370 8115 Vnd behielt sie vil reine Vnd hielt sie harte reine - - In der erden oder in eime steine Vndir erdin ordir undir eineme steine - - An sulcher stat da sie lac Also wol swa sie lac. - - Daz dehein boser smac Daz der drat ioch bosir gesmac - - Noch vbel ruch quam dar abe Noch ůbil roch nie in quam abe. 375 8120 Iegelichen truc man zv grabe Etteliche drůc man ze grabe, - - Als man noch hute phligit Alse man noch hute phlit. - - Sie bestatten ir toten beidersit Sie bestadetin ir dotin beidirsit - - Mit vil grozzen eren Mit harte grozin erin. - - E sie begraben weren E sîe bestadit werin, 380 8125 Waren liden vierzehen nacht So warin irgangin uirzehin naht. - - Ouch so was die erde entacht Ouch so was die erde implaht - - Vnd grunte als e Vnd gerumit als ê - - Vz der burc biz an den se Von der burch biz an den se, - - In was frides not gewesen In was friedis not gewesin: 385 8130 Sie enkvnden deheinewis genesen Si ne kundin decheine wis sin ge‐ nesin - - Vor dem stanke Vor deme grozin stanke; - - Des waz ez in zv danke Des was iz in zv̊ danke. - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 283 <?page no="284"?> Do daz was vurrochen Vnd als iz was uirrochin - In der dritten wochen In der drittin wochin, 390 8135 Schuffen sie anders ir dinc Sie schůfin andirs ir dinc. - - Agomennon zv rate ginc Agomennon zv̊ rade ginc, - - Also tet auch hector Also dete ouch Hector, - - Dise dar inne die da vor Die da inne, diese hie uor, - - Eine wis vnd anderwis Eine wis unde andirwis: 395 8140 Dirre wolde den pris Diese woldin den pris, - - Also wolde auch der iene Also woldin die giene. - - Also ginc die zit hine Da miete gienc die zit hiene. - - Die wile daz ir vride was Die wile daz ir friede was, - - Die wile klaugete calcas Die wile clagete Calcas, 400 8145 Daz er in der stat hete Daz er in der stat hete - - Eine tochter harte stete Eine dohtir harte stete, - - Schone hubesch vnd wis Schone, hobisch und wis, - - Die was geheizzen priseis Die was geheizin Briseis. - - Die mochte da niht bliben »Sie ne mac da niht blibin; 405 8150 Sie wolten sie vertriben Sie woldin sie da uirdribin. - - Durch ir gotinne Is inwil* Frov Pallas die godinne, - - Die sie hetten dar inne Die sie da hant inne. - - Sie claugeten daz alle tage Sie clagetin daz alle dage, - - Daz ich were ir wisage Daz ich were ein wissage 410 8155 Vnd vber were gekart Vnd ich were ůbere gekart, - - Ich tet als geboten wart Ich dete als iz gebotin wart - - Priamus sprach ich were wert ………… - - Daz mich zv furte ein phert - - - Von den vntruwen Von den untruwin 415 8160 Ez sulle mich beruwen Iz sole mich geruwin; - - Ich si boser denne ein hunt Ich si bosir dan ein hunt.» - - Sie sprachen vns ist wol kvnt Sie sprachin: »uns ist wol kunt, - - Daz ir vnschuldic sit Daz ir unschuldic sit; - - Ouch sprechen siz dur nit Ouch sprechint siz durh nit.» 420 284 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="285"?> 8165 Do sprach clacas vurbaz Calcas sprach do furebaz: - Ratent ir herren daz »Radint ir herrin daz, - - Daz ich mine tochter zv mir neme Daz ich mine dohtir zv̊ mir neme, - - Seht ob vns daz wol gezeme Seht ob iz so gezeme, - - So kvme ich gerne an den rat So důn ich gerne uwerin rat.» 425 8170 Sie sprachen tut als ir gesprochen hat »Nu důt als ir gesprochin hat.» - - Daz geschach also Daz geschach rehte also; - - Des wart er sint vnfro Des wart er sit unfro. - - Die herren vz vnd innen Die herrin uze und inne - - Mit fride vnd mit minnen Mit friede und mit sinne 430 8175 Dicke vnd aller tegelich Dicke und allir dagelich - - Vnder banichten sich Vndirbanekedin sich. - - Achilles zv hectore reit Achilles zv̊ Hectore reit; - - Sie waren harte wol bekleit Sie warin harte wol becleit - - Vnd harte richliche Vnd ioch uil riliche, 435 8180 Beide gliche Beide geliche. - - Sie saugeten ir mere Sie sagetin ir mere, - - Wie ez comen were Wie iz kůmin were, - - Disme hie deme da Dieseme hie, deme da, - - Beide nein vnd ia Vnd lachedin dar na 440 8185 Sie hetten groz ioie Vnd hattin groze ioye - - In der stat zv troyge In der stat zv̊ Troie, - - Vnd bewilen ouch da vor Ouch bewilin da uor. - - Do hette hector Do hete* der herre Hector - - Schone kleinote Vil schone cleinote: 445 8190 Steine harte rote Steine wundir* rote, - - Grune vnd wizze Grůne vnd wize, - - Gemachet wol mit flizze Gemachit mit flize - - In daz silber vnd in daz golt In daz silbir und in daz golt. - - Im was ouch ein frouwe holt Im was ouch ein frouwe holt; 450 8195 Pentesilea genant Pentheseleia was sie genant. - - Die hette im allez daz gesant Die hete ime daz alliz gesant, - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 285 <?page no="286"?> Ein edel kvneginne Ein edele kuninginne. - Durch der frouwen minne Durh der frouwin minne - - Truc er daz golt an siner hant Drůc er golt an der hant, 455 8200 Vnd ein guldin harbant V̊ ffe deme houbete guldin harbant. - - In den selben stunden - - - Vm sin houbet gebunden - - - Er was ein harte schone man Er was ein harte schone man. - - Sine gezirde sach achilles an Achilles sach sin zirode an. - 8205 Als er in lange ane gesach ………… - - Nv horet wie er zv im sprach - 460 - Ir sit hubisch so mir got »Ir sit hůbisch, so mir got: - - Ein ist ernst ein ander ist spot Ein ist ernist, ein ist spot. - - Nv lat es vch betragen In lat is iv niht tragin, - 8210 Saget mir des ich vch fragen Sagit mir des ich iv fragin; - - Ich enfrage anders niet me Ich in fragin andirs niht me: 465 - Wunder hat mich wie ez erge Wundir hat mich wie iz irge - - Vnder vns beiden Vndir uns beidin, - - E wir hinnen scheiden E wir hinnin scheidin. - 8215 Ir hat mir leide getan Ir hat mir leide getan: - - Den frunt den ich verlorn han Den gesellin, den ich uirlorin han, 470 - Patroclun wil ich immer klagen Patoclun wil ich immir clagin. - - Her hector den ir hat erslagen Den daz ir hat irslagin, - - Daz kvmet vch zv vnheile Daz kůmet iv̂ ze unheile: - 8220 Min lip ist dar vmbe veile Min lip ist dar unbe ueile; - - Die selben sarwat Vnd die selbin sarewat, 475 - Die ir im genomen hat Die ir ime genůmin hat, - - Sie werde mir widere Sie inwerdin mir wiedere, - - Ich gesetze vch so nidere Ich gesetzin uch noch niedere - 8225 Also lesterliche Harte lestirliche - - Hie in uwerme riche In uwirme riche. 480 - Daz irs immer laster hat - - - Die wile diese werlt stat - - 286 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="287"?> Ich gesach vch also rechte nie Ich in gesach uch se rehte nie 8230 So an dirre stat hie So an dirre stat nu hie. - - Vm daz ich zv vch haben haz Vnbe daz ich zv̊ iv̂ han haz, - - Ich sprechen von wareiten daz Ich sprieche uon warheide idoch daz, - - Ir sit starc vnd kvne Ir sit gewisliche kůne; 485 - Doch enwirde ich nimmer grune Idoch inwirdich ninmir grůne, - 8235 Also kvne als ir sit Also kůne als ir sit, - - Ez enkvme noch die zit Iz kůmit lihte noch die zit, - - Daz ich vch leide getu Daz ich iv̂ leide getů, - - Ez si spate oder fru Iz si spede odir frů.» 490 - Hector antwurte des Hector antwerdete des: - 8240 Nv horet her anchilles »Nv̊ horit, her Achilles, - - Vil rechte waz ich vch sage Waz ist dirre sage? - - Ich wer immer ein zage Ich were rehte ein zage, - - Vurzaget ich von worten Virzagete ich uon wortin; 495 - Iedoch den vorhten Idoch des uortin*, - 8245 Den ich von diser drowe han - - - Der sol harte wol zv gan - - - Ich wene uwer herze baz ste Daz uwir* rede baz ge - - Denne uwer rede hie ge Danne iv* daz herze ste. - - Daz patroclus ist erslagen - - 8250 Wollet ir daz so sere clagen - - - - Ist iv̂ leide geschehin, - - - Also han ich uiele daz gesehin; 500 - - Daz ich ungelucke sach, - - - Mir ist leit min ungemach. - - Daz mvzze immer also wesen In mac ich uor iv̂ niht genesin, - - En mag ich vor vch niht genesen Daz můz idoch also wesin. - - Daz mvz sin als ez sin mac ………… 505 - Ich ensterbe niht vur minen tac - - 8255 Nv versinnet vch idoch - - - Ich entrinne vch niht noch - - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 287 <?page no="288"?> In wazzer. noch ni (in) welde In wazzere noch in uelde. - Bin ich vch zv gelde Bin ich iv̂ zv̊ gelde - - Oder zv eigen gegeben Odir zv̊ eigene gegebin, - 8260 Daz ir mir dreuwet an daz leben Daz ir mir drouwit an daz lebin? 510 - Mir ist leit die schande Mir ist leit die schande, - - Daz man mich in disme lande Daz man uns in dieseme lande - - Mit stolzen worten wber gat Mit stolzin wortin ubirgat. - - Ich weiz wol daz ez vbel stat Ich weiz wol, daz iz ůbele stat - 8265 Vnd vil vbel gezimet - - - Daz ir vurgeben vch sus grimet - - - Ouch enstet ez vns niet wol Vnd geziemit niht wol, 515 - Ob ich ouch nv sprechen sol Daz ich doch sprechin sol - - Ein teil stoltzliche Ein deil stolzliche. - 8270 Vnd so vch got der riche Vnd so iv̂ got der riche, - - Wer wenet ir daz ir sit Wer wenit ir wer ir sit? - - Wolde got (ez? ) wer die zit Wolde got were die zit, 520 - Daz wir quemen vf daz felt Daz wir quemin uffe daz uelt, - - Ir fundet an mir widergelt Ir fundit an mir wiedirgelt.» - 8275 Do zvrnte achilles sere Achilles zv̊ rnede sere, - - Er sprach mir ist vmmere Er sprach: »mir ist unmere, - - Daz ich ie wart geborn Daz ich îe wart geborn: 525 - Ich gereche disen zorn Ich gerieche diesin zorn - - Al hie noch hute Al hie noch hude. - 8280 Wa nv mine lute Wa nu, mine lude, - - Bringet min ros vnd min swert Min ros und min swert! - - Er sol der zit sin gewert Er sol der zit werdin gewert 530 - Vnd des werdes dar zv Vnd des ueldis dar zv̊ ; - - Nv werde schin waz er tu Nu werde* schin waz er dů.» - 8285 Sie sprungen vf der vnd der Sie sprundin ůf dirre und der - - Vnd hischen swert schilt vnd sper Vnd hieschin swert und sper; - - Hette man sie beide niht gehat In hette man sie beide niht gehat, 535 - Sie hetten alda an der stat Sie hettin da uor der stat - 288 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="289"?> Den fride zv brochen Den friede beide gebrochin. 8290 Des wart in gesprochen Des wart in gesprochin - - Beiden vil leide Beidirsit leide; - - Des schamten sie sich beide Des schametin sie sich beide. 540 - Priamus schuldigete sinen son Priamus schuldigete sinin son, - - Achillen agomennon Achillem Agomennon. - 8295 Ouch klaugeten die frouwen sere Ovch clagetin die frouwin sere, - - Daz ez also kvmen were Daz iz so kůmin were; - - Des ensolde niht me not geschen Iz insolde niht me not geschehin. 545 - Sie hetten gerne fride gesehen Sie hettin gerne friede gesehin, - - Daz die vnkvnden Daz die unkundin - 8300 Zv irn frunden Ir igelich zv̊ sinin frundin - - Durch tanz vnd durch singen Durch danz odir durh singin - - In die stat gingen In die stat gingin, 550 - Do gelac beidersit ………… - - Beide zorn vnd nit - - 8305 Der rede was deheine not me Der rede was dechein not me; - - Sie gingen zv samne als e Sie giengin zesamene als ê. - - Do dis leides geswigen was Als des leidis* geswiegin was, 555 - Hern troylum bat do calcas Herin Troilum bat Calcas - - Durch die alden kvnde Durh die aldin kunde, - 8310 Daz er im zv staten stunde Daz er ime ze stadin stunde; - - Sine tochter er bat Sine dohtir er in bat - - Im geben vz der stat Ime gebin wiedir uz der stat. 560 - Do troylus vries Dů Troilus daz gefriesch - - Daz er sine tochter wider hies Daz er sine dohtir wiedir hiesch, - 8315 Sere er daz vnder quam Harte sere er undirquam - - Vmbe die schone briseidam Vnbe die schone Briseydam, - - Sine amie sin wip Sine amien, sin wip; 565 - Sie was im liep als der lip Truric was ime allir der lip. - - Torste (sie) ez wider redet han Dorste er iz wiedirredit han, - 8320 Er hette ez nimmer getan Er in hetiz nimmir getan, - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 289 <?page no="290"?> Daz er sie hette wider gegeben Daz er sie hete wiedir gegebin; - Er mochte vbel gestreben Er mohte ubele gestrebin 570 - Wider sie alle gemeine Wiedir sie al eine. - - Ouch was daz niht cleine Ouch in was iz niht cleine, - 8325 Daz er durch ir schulde - - - Siner gote hulde - - - Vnd ir mine hette verlorn Daz er sine gote hete uirlorn - - Vnd grozlichen irn zorn Vnd eweliche irin zorn - - Hette immer mere Hete immir mere; 575 8330 Des was sin rede swere Des was sin rede swere. - - Do briseida gesach Alse Briseyda gesach, - - Daz ir zv rumene geschach Daz ir ze rumene gescach - - Die stat da sie inne was geborn Die stat, da sie inne was geborn - - Sie sprach wer ich groz als ein torm Sie sprach* »Were ich also groz als ein torn, 580 8335 Ich mvste kleine werden Ich muste cleine werdin - - Von sorgen vnd von swerden Von ruwin, von swerdin, - - Vnd von grozzen leiden Von sorgin, uon leidin, - - Sol ich hinnen scheiden Soldich hinnin scheidin. - - Wie scheide ich ioch hinne Wie scheidin ich hinne? 585 8340 Ich bin ein kvneginne Ich bin ein kuninginne, - - Nv mvz ich hinnen kere Nv̊ můz ich hinnin kerin - - Als ein betelere Als ein bedelerin, - - Vnd rumen daz lant Vnde rumin daz lant. - - Hette ich daz in der hant Hettich daz in der hant, 590 8345 Daz ich han in dem gemvte Daz ich han in deme gemůte, - - Ein mezzer wute Ein mezzir daz wůte - - Mitten durch daz herze min Mittin durh min herze in. - - Wen daz ich hoffende bin Wen daz ich andirs hoffinde bin, - - Daz mir zv blibene gesche Daz mir ze blibene gesche, 595 8350 Mines lebens enwer niht me ………… - - Iemerlicher den ich vch sauge - - - Wart der frauwen klauge - - 290 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="291"?> Sie sprach owe vnd owe - Owe nv vnd immer me - - 8355 Owe daz ich den lip ie gwan - - - Troyle herze lieber man - - - Mir ist min vnselickeit Mir ist min unselicheit - - Herre vm dich einer leit Durh dich einigin leit; 600 - Ez ist mir allez vmbe dich Iz ist mir alliz unbe dich, - 8360 Ich enruche niht vmbe mich Ich in růchin* niht unbe mich, - - Enweres du herre alleine Wene dů al eine. - - Wurde ich danne zv eime steine Wurde ich zv̊ eineme steine, - - Des wurde gut rat Des wurde harte gůt rat; 605 - Ginge ich als ein crete gat Gienge ich als ein crete gat - 8365 Vnd solde ich bi eime zvne gan Vnd solde ich bi eineme zvne gan, - - Vnd mochte ich din also vil han Vnd mohte ich din also uiele han, - - Daz ich dich gesehe Daz ich dich gesehe; - - Swaz mir geschee Swaz mir dan geschehe, 610 - Daz vertruge harte wol Daz uirtrůge ich harte wol; - 8370 Nv enweiz ich waz ich tvn sol Nu inweiz ich waz ich důn sol. - - Selic nacht vnd selic tag Selic naht und selic dac, - - An sweder ich bi dir gelac An swedir ich iê bi dir gelac. - - Eya troyesh kvnne Eia Troiesh* kunne, 615 - Swer ie liep gwunne Der ie liep gwunne, - 8375 Der vurgune mir des Der uirgunne mir des, - - Daz ich engelde ich enweiz wes Daz ich ingeltin ich in weiz wes, - - Daz ich lazzen einen helt Daz ich lezin einin helt, - - Den ich arme hette erwelt Den ich arme hete irwelt 620 - Zv mime libe Zv̊ min selbis libe. - 8380 An mir armen wibe Waz riechit man an mir wibe - - Nv weiz ich waz man richet Odir waz wil man an mir rechin? - - Daz man mir leide sprichet Waz mac ich nu sprechin? - - Vnd tribet von dem man - - - Den ich von herzen liep han - - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 291 <?page no="292"?> 8385 Owe vnd owe - Owi nv vnd immer me - - - Waz wil man an mir rechen - - - Oder waz mac ich nv sprechen - - - Ich en weiz ob ich engulde Ob ich nu ingulde 625 8390 Mines vater schulde Minis uatir schulde, - - So genieze ich mit rechte So genuzze ich uon rehte - - Daz min geslechte Daz andir min geslehte, - - Min man vnd min kint Min man und min kint - - Von dirre stat geborn sint In grozin truwin hie sint. 630 8395 Owi vnd owe - - - Owi vn vnd immer me - - - Ist ieman der daz vernvmen hat Ob iz iman uirnůmin hat, - - Daz ich mit worten oder mit tat Daz ich mit wortin odir mit dat - - Oder mit gerete Odir mit gerede - 8400 Vbel ie getete Iê ůbil getede, - - Daz ich verschuldet han den tot - - - So tut mir schendichen not - - - So sult ir niht beiten Wes můgit ir langir nů betin? 635 - Heizzet fur bereiten Heizit ein groz fiv̂ r geretin* - 8405 Vnd lazzet mich vurbunnen Vnd lazit mich uirbrinnin*. - - Kere ich alsus hunnen Kerin ich sus hinnin - - In ein vnkvnde In ein unkunde, - - Des hat ir alle svnde Ir hat is alle sunde.» 640 - Troylus hette gehort Troilus hatte gehort - 8410 Ir klauge vnd ir wort ………… - - Vnd ob er were steinen - - - So mvste er balde weinen - - - Groz iamer im ane ginc Groz iamir in da ane gienc: 645 - Mit armen er sie vmbe fienc Mit armin er sie unbeuinc. - 8415 Do stunden sie beide Da stůndin sie beide - - In so grozzer leide In so grozir leide; - 292 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="293"?> Daz sie enwisten waz sie wolden Sie ne wistin waz sie woldin, - Oder waz sie tun solden Sie ne wistin waz sie soldin, 650 - Sie enwisten waz raten Sie ne wistin waz ratin, - 8420 Sie enwisten waz sie taten Sie ne wistin waz sie datin, - - Sie enwosten waz sie waren Sie ne wistin wa sie warin, - - Sie wosten wie gebaren Sie ne wistin wie gebarin, - - Sie enwosten waz sie kvnden Sie ne wistin waz sie kundin. 655 - Beide samt sie stunden Beide samint sie stundin - 8425 In solchen gebaren In sulichin geberin, - - Als sie vurzaget waren Alse sie uirzagit werin. - - Sie hilt in er hilt sie Sie hielt in, er hielt sîe. - - Grozzer iamer enwart nie Iz in wart grozir iamir nîe 660 - Dan da was vnder in zwein Dan iz was undir in zwein. - 8430 Er were harter den ein stein Er were hartir dan ein stein, - - Swer daz iamer gesach Swer daz iamir gesach, - - Ob im zv weinen niht geschach Ob ime ze weinene niht gescach. - - Priamus sprach troylo zv Priamus sprach Troilo zv̊ : 665 - Weistu son waz du tu »Weistu sun, waz du dů; - 8435 Gehabe dich menliche Gehalt dich menliche. - - Ez stet dir bosliche Iz stet dir bosliche, - - Was wilt du beginnen - - - Du salt dich versinnen - - - Daz du ein man bist Sit du des herzin ein man bist, - 8440 Vnd dir din sin engangen ist Daz dir der sin ingangin ist. 670 - Ez mac vns schiere got geben Iz mac schiere geschehin - - Daz wir vns liebe geleben Daz ir iv̂ liebe solit gesehin - - In disme lande In dieseme lande; - - Waz tut ir ez ist schande Vnd důt ir sůs, iz ist schande.» - 8445 Do im der trost gegeben wart Als in der trost gegebin wart, 675 - Do was in als sie bekart Als ir iewedir do* bekart - - Von einer suchte weren Von einir sůhte were, - - Von ir herze sweren Also intliez sich ir swere. - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 293 <?page no="294"?> Musten sie sich twingen 8450 Mit swerlichen dingen - - - Do hiez troilus ir gewant Troilus hiez ir gewant - - Vf binden da zv hant V̊ f bindin ze hant 680 - Vnd hiez sie dannen riten Vnd hiez den satil ůf leîn; - - Er enliez sie niht biten Sie můste ritin ůbir ein; - 8455 Des saz sie vf vnd reit Des saz sie ůf vnd reit. - - Vil schone was ir kleit So schone warin ire cleit - - Von golde vnd von gesteine Von golde und uon gesteine, 685 - Wen ir varwe eine Wen ir varewe eine - - Die was also schone - - 8460 Ir gezeme wol die krone - - - Ir ein mochte niht glichen So inkunde sich in niht gelichin. - - Man sach da beide blichen Man sach da beide blichin - - Die kleider vnd die frouwen ………… - - Swer ez wolde schowen - 690 8465 Ir wart durch ir schone Daz sach sie so schone, - - Zv minnen vnd zv lone Daz ir wart zv̂ lone - - Vil dicke gegeben Vor ir schone gegebin - - Suzzer wuns vnd suzze leben Sůzir wůnsch, senfte lebin. - - Man sauget von irn gewanden Man sagit uon ir gewande, 695 8470 Daz ez von eime ferren lande Daz iz uon Terdien lande - - Zv troyge was gesant Zv̊ Troien was gesant. - - Gefuget was daz gewant Gefugit was daz gewant - - Mit so getaner liste Mit so getanir liste, - - Daz nieman enwiste Daz iz nieman in wiste, 700 8475 Wa engein were sin nat Wa ingegin were sin nat. - - Die kvrse vnder der wat Die curse undir der wat, - - Die was von grozzer ziere Die was uon grozir ziere; - - Von einer hande tiere Die uel uon eineme tiere - - Was die kvrse genomen Zv̊ der cursin warin genůmin* 705 8480 Vnd was von eime lande komen Vnd warin uon deme lande kůmin, - 294 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ <?page no="295"?> Da die sunne vf gat Da die sunne ůf gat, - So der morgen enstat So sie des morgenis intstat. - - Ir kleit was gut in alle wis Ir gewant was gůt alle wis: - - Die steine die daz paradis Die steine, die daz paradis 710 8485 In sime wazzer treit In sineme wazzere dreit, - - Waren vurwort in ir kleit Die warin geworht an daz cleit. - - Sol ich vch saugen vurbaz Waz woldich sprechin furebaz? - - Da die frouwe vfe saz Daz zeldinte phert da sie uffe saz, - - Daz was ein zeldende phert Daz was ein also gůt phert, 715 8490 Vnd was wo hundert marke wert Iz was dusint marke wert. - - Do sie vz der stat quam Alse sie uz der stat quam - - Vnd vrloub genam Vnd da urloup genam, - - Sie waren alle vnfro Sie warin alle unfro, - - Daz sie dannen schiet also Daz sie dannin schiet also, 720 8495 Also vil oder me Also uil odir me - - Denne da leides was e Dan da leidis were ê. - - Was da zv stunden - - - Klaugen do begunden - - - Vnd weinen ecuba Da weinete sere Hekuba - 8500 Vnd die schone elena Vnd die frouwe Helena, - - Vnd die frouwen alle gemeine Die frouwin al gemeine, 725 - Groz vnd kleine Groz unde cleine, - - Alde vnd iunge Alde unde junge - - Durch die scheidunge Durh die scheidunge. - 8505 Do die frouwe inwec vur Alse sie inwec fůr, - - Troylus bi gote swur Troilus bi gote swur, 730 - Daz er dehein ander wip Daz er nimmir andir wip - - Legete mer bi sinen lip Gelegin wolde bi sinin lip, - - Er bat daz sie ir ere Vnd bat sie daz siv̂ ir ere - 8510 Behilde vnd stete were Behielde und stede were* - 4 Anhang. Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Synopse der ›Lang-‹ und ›Kurzfassung‹ 295 <?page no="297"?> Bibliographie Abkürzungsverzeichnis Zeitschriften, Buchreihen ATB Altdeutsche Textbibliothek BmE Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte FMSt Frühmittelalterliche Studien GAG Göppinger Arbeiten zur Germanistik GLMF Germania Litteraria Mediaevalis Francigena, s. auch 5.2.2: Classens / Knapp / Pé‐ rennec (Hg.) GRM Germanisch-Romanische Monatsschrift IASL Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur MGH Monumenta Germaniae Historica MlatJb Mittellateinisches Jahrbuch MTU Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters PBB Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur ZfGerm Zeitschrift für Germanistik ZfdA Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie Lexika und Wörterbücher BMZ Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke, ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 4 Bde., Leipzig 1854-1866 (ND Stuttgart 1990). DNP Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Stuttgart / Weimar 1996-2003. DWb Jacob Grimm / Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Hg. von der Berlin- Bran‐ denburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 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