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Banm yon ti limyè: Vergemeinschaftung und Zusammenleben in haitianischen Romanen nach 1986

0212
2024
978-3-3811-0882-4
978-3-3811-0881-7
Gunter Narr Verlag 
Lisa Brunke
10.24053/9783381108824

1986 endete in Haiti die gewaltvolle Duvalierdiktatur. In den darauffolgenden Jahrzehnten setzt sich die haitianische Literatur nicht nur mit der vergangenen Gewalt auseinander, sondern sucht auch nach neuen Formen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung. Dieser Suche geht die vorliegende literaturwissenschaftliche Studie anhand der vier französischsprachigen, haitianischen Romane Passages von Emile Ollivier, Kasalé von Kettly Mars, L'île du bout des rêves von Louis-Philippe Dalembert und Lyonel Trouillots La belle amour humaine nach. Im Fokus steht dabei auch das Fortwirken von Einflüssen aus der Aufklärung und der Haitianischen Revolution von 1804.

<?page no="0"?> lendemains ISBN 978-3-381-10881-7 1986 endete in Haiti die gewaltvolle Duvalierdiktatur. In den darauffolgenden Jahrzehnten setzt sich die haitianische Literatur nicht nur mit der vergangenen Gewalt auseinander, sondern sucht auch nach neuen Formen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung. Dieser Suche geht die vorliegende literaturwissenschaftliche Studie anhand der vier französischsprachigen, haitianischen Romane Passages von Emile Ollivier, Kasalé von Kettly Mars, L’île du bout des rêves von Louis-Philippe Dalembert und Lyonel Trouillots La belle amour humaine nach. Im Fokus steht dabei auch das Fortwirken von Einflüssen aus der Aufklärung und der Haitianischen Revolution von 1804. Brunke Banm yon ti limyè Lisa Brunke Banm yon ti limyè: Vergemeinschaftung und Zusammenleben in haitianischen Romanen nach 1986 edition lendemains 52 <?page no="1"?> Banm yon ti limyè: Vergemeinschaftung und Zusammenleben in haitianischen Romanen nach 1986 <?page no="2"?> edition lendemains 52 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel) † und Andreas Gelz (Freiburg) <?page no="3"?> Lisa Brunke Banm yon ti limyè: Vergemeinschaftung und Zusammenleben in haitianischen Romanen nach 1986 <?page no="4"?> Die vorliegende Publikation wurde durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Projektes Transatlantische Ideenzirkulation und -transformation: Die Wirkung der Aufklärung in den neueren frankokaribischen Literaturen gefördert. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381108824 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-381-10881-7 (Print) ISBN 978-3-381-10882-4 (ePDF) ISBN 978-3-381-10883-1 (ePub) Umschlagabbildung: Josué Azor / April 2016 / Port-au-Prince / Präsentation des Foto‐ workshops für Kinder „Timoun jodi, sitwayen.èn modèl demen“. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 1 19 1.1 19 1.2 38 44 1.3 46 1.3.1 50 1.3.2 54 1.3.3 56 1.3.4 59 1.4 63 1.5 70 74 2 79 2.1 79 2.2 88 2.2.1 88 2.2.2 90 2.2.3 96 Inhalt Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Haitianischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Haitianische Revolution als Universalisierung von 1789 . Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 . . . Exkurs: Gesellschaftsvertrag und citoyenneté bei Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bürgerliche und antirassistische Tendenzen der constitution impériale von 1805 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Potentiale einer citoyenneté transnationale . . . . . . . . . . Tout moun se moun? — Citoyenneté neudenken nach 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Libète ou lamò? — Freiheit als revolutionäres Vergemeinschaftungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radikaler Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzenloser Humanismus? — Kosmopolitisches Ideal und die Realität der Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . No such thing as community? - Grenzen und Möglichkeiten Gemeinschaft zu denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionsräume - Räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohabitation und Koexistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs — Familie und lakou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verortungen des Zusammenlebens in globaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.3 99 2.3.1 99 2.3.2 101 2.3.3 103 2.4 105 2.4.1 105 2.4.2 112 3 115 3.1 118 3.1.1 118 121 3.1.2 123 3.1.3 124 3.1.4 127 127 3.1.5 130 131 3.2 135 3.3 141 3.3.1 143 3.3.2 146 148 3.3.3 150 152 3.3.4 154 3.3.5 157 Konstitutive Momente von Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . Mechanismen der Inklusion: Rausch, Ritual und Ekstase Mechanismen der Exklusion: Grenzen und Differenzen Zur Rolle von Erinnerungen und Gedächtnis . . . . . . . . Erzählen als vergemeinschaftende Praxis: Imaginationen, Mythen, Narrative und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs - Imagined communities: Nation und Diaspora Literatur als privilegierter Ort von Vergemeinschaftung Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarisches Nation-Building nach 1804 . . . . . . . . . . . . Exkurs — Émeric Bergeaud: Stella (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die amerikanische Besatzung als moment déclencheur und Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Neuanfänge — Die Entwicklung vom bovarysme culturel zum indigénisme . . . . . . . . . . . . . . . . Die ‚Entdeckung‘ des ländlichen Raums im roman paysan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs — Jacques Roumain: Gouverneurs de la Rosée (1944) . . (Literarische) Realitäten im 20. Jahrhundert — Réalisme socialiste und réalisme merveilleux . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs — Jacques Stephen Alexis : Compère Général Soleil (1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen des Schreibens und des (Über)Lebens zwischen 1957 und 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Déchoukaj und die Verfassung von 1987 . . . . . . . . . . . . . Die Amtszeit(en) Aristides 1991-2004 . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs — Lyonel Trouillot : Rue des Pas-Perdus (1996) . . . . . . ‚Désenchantement‘ — das Ende der Regierungszeit Aristides 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs — Lyonel Trouillot: Bicentenaire (2004) . . . . . . . . . . . . . Literarische Produktion nach dem Erdbeben . . . . . . . . . „On tire lamentablement dans ma rue“ - Poetiken des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4 163 4.1 163 4.1.1 163 4.1.2 169 4.1.3 174 4.1.4 177 4.1.5 181 4.1.6 184 4.1.7 191 4.2 197 4.2.1 197 4.2.2 200 4.2.3 204 4.2.4 210 4.2.5 217 4.2.6 221 4.2.7 226 4.2.8 231 4.3 235 4.3.1 235 4.3.2 237 4.3.3 243 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz in literarischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Émile Ollivier — Eine Écriture migrante zwischen Quebec und Port-au-Prince . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haiti, Miami, Montreal — Topografie(n) der Migration Relater et relier — narrative Verfahren der Sinnbildung Der Niedergang des dörflichen (Zusammen-)Lebens in Port-à-l‘Ecus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Nous pourrons aller jusqu’en Guinée, si le cœur nous en dit“ — Diasporische Sehnsüchte . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen des Kosmopolitismus’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Desillusion und Literarische Solidarität(en) Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intime Schreibweisen des Politischen bei Kettly Mars . Kasalé : Eine reécriture des roman paysan ? . . . . . . . . . . Kohabitationen zwischen menschlichem und aborealen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt, Erkenntnis und Neuanfang - Die verschiedenen Aspekte von Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Verortung und konkurrierende Weltbezüge in Kasalé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomien des Mangels und Ökonomien der Fürsorge Männlich codierte Gewaltsysteme — Einschreibungen der Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weibliche Gegen(welt)entwürfe und posthumanistische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosmopolitische Unternehmungen zwischen vagabondage und Verflechtung — Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreibbewegungen bei Louis-Philippe Dalembert . . . ‘Quête de trésor, Quête de soi’ — Die Ilusion des Abenteuerromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythen der Autonomie von Odysseus bis Robinson . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 4.3.4 248 4.3.5 251 4.3.6 260 4.4 268 4.4.1 268 4.4.2 271 4.4.3 275 4.4.4 281 4.4.5 284 4.4.6 291 5 299 5.1 300 5.2 306 5.3 312 6 317 7 319 Widerstreitende Begriffe von Freiheit zwischen libertären Kosmopolitismus und kollektivem Befreiungskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überzeitliche Zirkulationen im karibischen Raum: koloniale Pirat: innen und anti-imperialistische Hydra ‚The power of the erotic‘ — Historische Verflechtungen und erotisches Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseits der Individualités monstrueuses — Lyonel Trouillot: La belle amour humaine (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lyonel Trouillot — Literarisches Schreiben als Kommentar zur (politischen) Gegenwart . . . . . . . . . . . Dialogisches Erzählen in La belle amour humaine . . . . La belle amour humaine und réalisme merveilleux — Die intertextuelle Präsenz von Jacques Stephen Alexis’ Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ecriture und Kodifizierungen des Zusammenlebens . . . Das utopische Potential der ‚Peripherie‘ . . . . . . . . . . . . Vom konbit zum Gesang — Formen des Widerstands und vergemeinschaftende Praktiken in Anse-à-Foleur Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Topografien des Zusammenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Haiti aus denken: Rekonfigurierte Aufklärung . . . . . . . . . In Erwartung einer Belle amour humaine . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Banm yon ti limyè […] Ban m yon ti limyè Pou m wè sa k ap pase […] Poukisa se nèg pa ka manje Poukisa yo mande lanmò ò Jan yo di la vi dous Men se pa tout moun ki jwi privilèj sa […] Si n ap ret chita tann Nou gen pou n pase tout vi n lan Se touse ponyèt nou pou n lite Car lamann pa tonbe ankò Solèy a klere pou nou tout E nou tout va jwenn menm chalè …… <?page no="10"?> Donnez-moi un peu de lumière/ Eclairez-moi […] Donnez-moi un peu de lumière Je veux voir ce qui se passe […] Pourquoi il y a que les pauvres qui ne peuvent pas se nourrir Pourquoi vouent-ils tous mourir- On dit souvent que la vie est belle Mais tout le monde ne jouit pas ces privilèges de la vie […] Si nous restons assis à attendre- Nous passerons toute notre vie dans une salle d'attente- […] Retroussons les manches pour lutter Parce que la manne ne tombe plus Le Soleil brillera pour nous tous Et nous tous jouirons de la même chaleur … Manno Charlemagne „Banm yon ti limyé“, in: Soukar, Mi‐ chel (2016): Manno Charlemagne. Pou lavie fleri. Haiti: C 3 Editions. (Französische Übersetzung Junior Borgella, 2022) 10 Inhalt <?page no="11"?> 1 Im kreyòlen Original heißt es: „Solèy va klere pou nou tout / E nou tout moun va jwenn menm chalè“ (vgl. Soukar 2016), französische Übersetzung von Junior Borgella. 2 In l’Internationale heißt es „Le soleil brillera toujours! “ (vgl. Pottier 1871) und Alexis’ Roman endet mit der aufgehenden Sonne (vgl. Alexis [1955] 1992). 3 Im Folgenden wird die Schreibweise ‚kreyòl‘ gewählt, wenn von der Sprache die Rede ist, um Verwechslungen zu vermeiden. Der Begriff ‚Kreol‘ hingegen bleibt in seiner Verwendung auf die Unterscheidung zwischen den afrodeszendenten und den euro-afrodeszendenten Gruppen, wie bei Barthélémy ([2000] 2015), beschränkt. 4 Auch Manno Charlemagnes eigenes Leben reflektiert, ebenso wie sein Werk, mehrere dieser Aspekte. So engagierte er sich gegen die Diktatur Duvaliers, ging mehrere Male ins Exil, unterstützte den Wahlkampf Aristides, wurde Bürgermeister von Port-au-Prince und sang auf Französisch und haitianischem kreyòl Texte, die u. a. von Lyonel und Michel-Rolph Trouillot verfasst wurden (vgl. Biondi 2006). Preface 1988 erscheint das Album Organizasyon Mondyal des haitianischen Sängers und Aktivisten Manno Charlemagne, auf dem sich ein Stück mit dem Titel „Banm yon ti limyè“ findet. In diesem Lied, dessen Veröffentlichung in die Zeit unmittelbar nach Ende der Diktatur fällt, klagt Charlemagne miserable Lebens‐ bedingungen und soziale Ungleichheit an. Als einziger Ausweg, so der Text, verbleibt der gemeinsame Kampf der Armen, um zu erwirken, ‚dass die Sonne für alle scheinen wird und alle von der gleichen Wärme profitieren werden’ 1 . Licht und Sonne fungieren in dem Song sowohl als ein Symbol für Erkenntnis, vergleichbar mit der Motivik der Lumières, als auch als Bild einer besseren Zukunft, ähnlich ihrer metaphorischen Verwendung in Jacques Stephen Alexis’ Roman Compère Général Soleil (1955) oder in L’Internationale (Pottier 1871). 2 Damit vereint dieses Stück Charlemagnes die Frage nach neuen Formen des Zusammenlebens und die Kritik an bestehenden Ungleichsverhältnissen nach 1986, mit der Bildsprache der Lumières und dem haitianischen kreyòl ,3 weshalb das Musikstück als Auftakt ausgewählt wurde. 4 Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojektes Transatlantische Ideenzirkulation und - transformation: Die Wirkung der Aufklärung in den neueren frankokaribischen Literaturen von Ende 2017 bis Mitte 2022. Ebenso wie der Titel des Gesamtprojektes evoziert auch die Thematik dieser Studie unter dem Begriff der Zirkulation die Prä‐ senz mehrerer Orte, Epochen und kultureller Kontexte. Das Frankreich der Aufklärung und das revolutionäre Haiti des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der post-koloniale Karibikstaat der Gegenwart spielen dabei ebenso eine Rolle wie philosophisch-politische Konzepte und literarische Entwürfe. Damit vollziehen <?page no="12"?> 5 Der Begriff Universalisierung nimmt Bezug auf Überlegungen von Ernesto Laclau und Nora Sternfeld. Hierbei ist mit Universalisierung ein Prozess gemeint, der gewis‐ sermaßen nicht realisierte Potentiale eines als universell begriffenen Prinzips sichtbar macht und/ oder verwirklicht. In diesem Sinne stellt das Universale eben keinen abgeschlossenen Zustand, sondern eine dynamische Leerstelle dar (vgl. Sternfeld 2007). Auf diese Überlegungen wird in dem Kapitel Die Haitianische Revolution als Universalisierung von 1789 noch einmal ausführlicher eingegangen 6 Der Begriff ‘Vergemeinschaftung’ wird in Abgrenzung und als Alternative zu Gemein‐ schaft verwendet. Die Gründe dafür werden in No such thing as community? - Grenzen und Möglichkeiten Gemeinschaft zu denken genauer erläutert sich unter dem Begriff der Wissenszirkulation nicht nur Zirkulations-, Transfor‐ mations- und Austauschprozesse zwischen verschiedenen Räumen der Welt und Übertragungen aus vergangenen Epochen, sondern auch Wechselwirkungen zwischen Ideengeschichte, politisch-philosophischen Texten und literarischen Werken. In diesem Sinne verbindet das Projekt unterschiedliche geisteswis‐ senschaftliche Disziplinen und Forschungsbereiche, darunter die politische Ideengeschichte und kulturtheoretische, postkoloniale Ansätze aus der Karibik sowie die aktuelle Literatur Haitis, und bewegt sich somit an der Schnittstelle zwischen politischer Philosophie, frankoromanistischer Literaturwissenschaft und post-kolonialen Caribbean und Haitian Studies. Grundlegend für diese Studie sind mehrere Annahmen: erstens die Prämisse, dass mit dem Komplex Aufklärung/ Kolonialismus bzw. Frankreich/ Haiti Zir‐ kulationsbewegungen in Gang gesetzt wurden, welche die Universalisierung 5 aufklärerischer Ideen durch die Haitianische Revolution ermöglichte; zweitens die Annahme, dass Formen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung 6 sich in starkem Maße über narrative und imaginäre Formen vermitteln, wes‐ halb Literatur ein prädestiniertes Medium für ihre Auseinandersetzung und Untersuchung ist, und abschließend, dass mit dem Ende der Duvalier-Diktatur 1986 Fragen des Zusammenlebens in Haiti an Relevanz gewinnen, und dass die Literatur den Entwicklungen dieser Zeit Rechnung trägt. Diese Auseinan‐ dersetzung mit dem konvivialen Potential der haitianischen Literatur nach 1986 ist zentral für das dargestellte Forschungsvorhaben. Konkret wird gefragt: Welche Bilder der Vergemeinschaftung und Entwürfe von Zusammenleben werden in den haitianischen frankophonen Romanen ab 1986 verhandelt und auf welche Weise reflektieren diese die Übergangsphase nach der Diktatur? Inwiefern greifen diese Texte Konzepte bzw. Denktraditionen der Aufklärung wie citoyenneté und contrat social, Freiheit, Humanismus und Kosmopolitismus auf ? Welche Antworten auf aktuelle Herausforderungen in der haitianischen Gesellschaft, aber auch welche Entwürfe für ein globalisiertes Zusammenleben in einer post-kolonialen Gegenwart lassen sich in der Literatur finden? Damit 12 Preface <?page no="13"?> 7 Die Studie kann es nicht leisten die detaillierten Ergebnisse der einzelnen Textanalysen erschöpfend auf den globalen Kontext zu übertragen noch eine umfassende Theore‐ tisierung der gesellschaftlichen Situation umzusetzen. Aus diesem Grund wird hier von Tendenzen gesprochen, die sich z. B. in posthumanistischen Ansätzen oder einer aktualisierten condition humaine andeuten. untersucht diese Arbeit die Wirkung der Aufklärung und die Entwürfe von Zusammenleben und Vergemeinschaftung in haitianischen Romanen nach 1986 und stellt die Frage, welche Tendenzen sich daraus für den spezifischen haitia‐ nischen Kontext, aber mitunter auch für globale Zusammenhänge, 7 ableiten lassen. Es lässt sich kritisch fragen, ob tatsächlich die Aufklärung, als eine von Europa her gedachte Annäherung, die beste bzw. einzige Wahl für die Auseinandersetzung mit der Literatur Haiti sein kann und sollte. So birgt dieser Zugriff die Gefahr eurozentrische Denkweisen zu reproduzieren, die literari‐ schen Erzeugnisse in bestimmte Konzepte einzupassen oder andere mögliche (afrodeszendente) Interpretationen zu vernachlässigen. Trotz dieses berechtigen Einwandes kann eine eindeutige Austauschbeziehung zwischen Konzepten der Aufklärung und Haiti zur Zeit der Revolution nachgezeichnet und auch eine verstärkte Präsenz dieser Konzepte ab 1986 festgestellt werden. Es ist das Ziel dieser Studie, dieser Tendenz in literarischen und gesellschaftlichen Diskursen in Haiti nach Duvalier nachzugehen und dabei den Versuch zu unternehmen, die Aufklärung konsequent aus der Perspektive der Haitianischen Revolution und damit von der ‚Unterseite‘ her post-kolonial und nicht hegemonial zu lesen. Aufgrund der Zielrichtung dieser Studie kann die Auseinandersetzung mit der Genese philosophischer Schlüsselbegriffe nicht erschöpfend erfolgen. Gleichsam knüpft der Zugriff über reaktualisierte Konzepte der Aufklärung, nicht nur an Fragen an, die Natascha Ueckmann und Gisela Febel in ihrer Einleitung zu Pluraler Humanismus. Négritude und Negrismo weitergedacht (2018) aufwerfen, sondern diese Perspektivierung erweist sich als hochgradig produktiv für die Lektüre der ausgewählten Romane und erfährt durch aktuelle Stellungnahmen haitianischer Autor: innen Bestätigung (vgl. u. a. Lahens 2019, 2021; Trouillot 2017; Le Nouvelliste 2019; Peck 2021). Febel und Ueckmann verweisen auf die Karibik als Ort der Kritik an universalisierten Menschheits- und Vergemeinschaftungskonzepten und als einer der prädestinierten und produktivsten Orte für Kulturtheorien der Gegenwart zugleich. Angesichts der Beobachtung ausgeprägter kollektiver Tendenzen in der Karibik, die sich im ‚aufgeklärten‘ Europa längst verindividualisiert haben, werfen sie die Frage auf, ob die Karibik nicht heute sogar als besserer Erbe des humanistischen Denkens betrachtet werden könnte und fragen dabei ebenso nach den humanistischen Ideen, der Präsenz und Form von citoyenneté und volonté générale, wie auch Preface 13 <?page no="14"?> nach dem Transzendieren der Aufklärung. Als erste anti-koloniale Republik und freier, frankokaribischer Staat kommt Haiti hierbei eine besondere Position zu, die die Insel zusätzlich für post-koloniale Perspektiven auf Fragen des Zusammenlebens auszeichnen. Im Anschluss an diese Reflexionen und an meine eigenen Beobachtungen lautet die These dieser Studie, dass die in den Romanen verhandelten Verge‐ meinschaftungen und Entwürfe des Zusammenlebens die Rolle des Individuums auf eine Weise verhandeln, die einem bürgerlichen bzw. liberalistischen Indivi‐ dualismus westlicher Traditionen widerspricht. Dabei jedoch, so der zweite Teil der These, verfallen diese alternativen Entwürfe keinesfalls einem starren Kommunitarismus und abgeschlossenen, kollektiven Gebilde, sondern bringen innovative Formen hervor, die Vernetzung, Interdependenzen und Kollektivität privilegieren und so der post-kolonialen Vergangenheit, der Präsenz unter‐ schiedlicher kultureller Einflüsse, aber auch der starken Verbreitung kollektiver Lebensformen in Haiti, Rechnung tragen. Um diese These im Rahmen der vorliegenden Studie zu überprüfen und dabei neuen Vergemeinschaftungsentwürfen und Konzepten des Zusammenle‐ bens für ein post-koloniales und egalitäreres 21. Jahrhunderts nachzugehen, beginnt diese Untersuchung mit dem Zeitalter der Aufklärung, d. h. in der Zeit zwischen 1650 und 1800. So wendet sich die Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung dieser Epoche und einer Auswahl ihrer Vergemeinschaftungskonzepte zu und nimmt dabei eine universalisierenden Relektüre zentraler Schlüsselbegriffe (citoyenneté/ contrat social, Freiheit, Humanismus und Kosmopolitismus) durch die Ereignisse und Ideen der Haitianischen Revolution vor. Das darauffolgende Kapitel Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen nähert sich dem Begriff der Vergemeinschaftung an und legt dabei u. a. dar, weshalb dieser in der vorliegenden Studie anstelle von ‚Gemeinschaft‘ gebraucht wird. Desweiteren setzt sich dieser Teil mit der Opera‐ tionalisierung zentraler vergemeinschaftender Prozesse und Strukturen für die Erzähltextanalyse auseinander und stellt in diesem Zuge soziale Formen vor, die für den karibischen, post-plantation-Kontext und Haiti zentral und relevant sind. Eine Besonderheit der vorliegenden Studie stellt die Anwendung eines prozedu‐ ralen Gemeinschaftsbegriffes und dessen Anwendung auf narrative, literarische Texte dar. Bereits Celia Britton, Valérie Loichot, und Raphaël Lambert haben sich mit der Verhandlung von Gemeinschaft in (franko)karibischen Texten auseinan‐ 14 Preface <?page no="15"?> 8 Vgl. Valérie Loichot: Orphan narratives. The postplantation literature of Faulkner, Glis‐ sant, Morrison, and Saint-John Perse (2007); Celia Britton: The sense of community in French Caribbean fiction (2010) und Raphaël Lambert: Narrating the slave trade, theorizing community (2019). 9 Konkret bedeutet das, dass auch Romane, die nach 2011 erschienen sind, rezipiert wurden. Die Wahl fiel jedoch auf die behandelten vier Romane, da diese sich hinsichtlich der Fragestellungen dieser Arbeit als besonders produktiv erwiesen haben. Es handelt sich somit bei dem Jahr 2011 um keinen bewusst gesetzten Endpunkt. dergesetzt, 8 ihre Arbeiten legen jedoch keinen Fokus auf haitianische Texte und die von den Autor: innen verwendeten Begriffe von Gemeinschaft unterscheiden sich erheblich von dem in dieser Studie entwickelten prozessualen, offenen Vergemeinschaftungsbegriff. Dieser besitzt den Vorteil, dass er, ähnlich wie das Konzept der Universalisierung, stärker auf Dynamiken und unabgeschlossene Prozesse, als auf festgeschriebene, monolithische Entitäten referiert. Dabei integriert er verschiedene, sich ergänzende, soziologische Ansätze zur Gemein‐ schaft, macht diese für die literarische Analyse operationalisierbar und vermag so letztlich auch diffusere Formen von Vergemeinschaftung zu erfassen. Das sich anschließende Kapitel Haïti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg führt in die literarischen Traditionen und zentrale Texte der franko-haitianischen Literatur ein und gibt unter dem Gesichtspunkt der Verknüpfungen zwischen politischen Raum und literarischem Feld einen Überblick über wichtige litera‐ rische Akteur: innen. Dieser Teil verbindet folglich das Zeitalter der Aufklärung und der Haitianischen Revolution mit der Gegenwart und schlägt auf diese Weise eine Brücke hin zum zeitlichen Entstehungskontext der analysierten, literarischen Texte. Die Zeit ab 1986 wurde als Untersuchungszeitraum 9 für diese Studie ge‐ wählt, wobei die exemplarisch analysierten Romane zwischen 1991 und 2011 erschienen sind. Alle ausgewählten Romane wurden damit nach Ende der fast 30jährigen Duvalier-Diktatur und in einer bis heute andauernden Phase der Transition veröffentlicht. Diese Zeit ist gezeichnet von einer Vielzahl politischer und gesellschaftlicher Ereignisse, die die Lebensbedingungen und Konzeptionen des Zusammenlebens in dem Karibikstaat nachhaltig geprägt haben. Der Fokus liegt dabei ausschließlich auf französischsprachigen Romanen von Autor: innen, die in Haiti geboren und aufgewachsen sind, und blendet damit die kreyòlsprachige Literatur weitestgehend aus. Bei der Auswahl waren vor allem drei Kriterien ausschlaggebend: die implizite oder auch explizite Verhandlung von Vergemeinschaftung und Zusammenleben (z. B. in Gestalt von intertextuellen Verweisen und von in dem Text verhandelten Diskursen oder durch Figurengruppen), eine gewisse Heterogenität der ausgewählten Texte — d. h. insbesondere hinsichtlich ihrer Figuren und deren Konstellationen sowie Preface 15 <?page no="16"?> 10 Ein wichtiger Anlass für diese Proteste waren die verschwundenen öffentlichen Mittel aus dem Petro-Caribe-Fond, die in private Taschen wanderten (vgl. Maurer 2020b: 48 f.). Allerdings sind die Kritik großer Teile der Bevölkerung an der Regierung und dem politischen Eliten nicht auf den Korruptionsskandal beschränkt, sondern fordern um‐ fassende gesellschaftliche und politische Veränderungen sowie eine Verbesserung der Lebensbedingungen (vgl. Boumba/ Maurer 2020; Institute for Justice and Democracy in Haiti 2019). im Hinblick auf Handlung, Raumstruktur und Aufbau — sowie weitestgehend unterschiedliche Erscheinungsjahre. Ausgewählt wurden vier Romane: Emile Olliviers Passages (1991), Kettly Mars’ Kasalé (2003), Louis-Philippe Dalemberts L’île du bout des rêves (2003) und Lyonel Trouillots La belle amour humaine (2011). Im Analysekapitel Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemein‐ schaftung und Konvivenz in literarischen Texten werden die verschiedenen theoretischen Fäden zusammengeführt und die vier Texte exemplarisch auf die Repräsentationen von Vergemeinschaftung und Zusammenleben, die Kon‐ zeptualisierungen von citoyenneté, contrat social, Humanismus, Freiheit und Kosmopolitismus, sowie auf die Bearbeitung von Fragen der Konvivialität mit Blick auf eine haitianische Gegenwart und Zukunft, untersucht. Die Analysen der vier Romane weisen dabei eine gewisse Autonomie auf und stehen für sich, werden jedoch auch immer wieder auf die in den vorangegangenen Kapiteln explizierten Fragestellungen und herausgestellten Konzepte und Tendenzen befragt. Eine Auseinandersetzung mit haitianischen Texten seit 1986, die nicht die Auseinandersetzung mit der Diktatur oder die Verarbeitung des Erdbebens 2010 ins Zentrum stellt, sondern das in die zukunftsgerichtete Potential der Li‐ teratur befragt, erweist sich dabei als wichtig, denn es konturiert die Hoffnungen der Zeit seit 1986 neu. In dieser spezifischen Perspektive gilt es keineswegs die einschneidenden traumatischen Ereignisse zu nivellieren, gleichzeitig aber darüber auch nicht die Produktivität der Literatur und den Veränderungswillen großer Teile der haitianischen Bevölkerung außer Acht zu lassen, der sich in den Protesten seit 2018 10 abermals bestätigt. Ein solches Vorgehen ist in der Lage vorhandene Zukunftsentwürfe zu erfassen und damit Haiti nicht auf Gewalt, Katastrophen, Ausweglosigkeit und Misere zu abonnieren. Zugleich zielt dieser Ansatz darauf ab, das Bild von Haiti als reine Empfängerin von Hilfeleistungen, Aufklärung und Demokratisierungsmission zu dekonstruieren und auch das produktive, universalisierende und emanzipatorische Potential vergangener und z.T. auch gegenwärtiger Denk- und Schreibbewegungen sichtbar zu ma‐ chen. Es wird dementsprechend Aufgabe des Fazits sein, die Kontinuitäten und Divergenzen der vier Texte noch einmal deutlich herauszustellen und 16 Preface <?page no="17"?> dabei hinsichtlich ihrer Bedeutung und Aussagekraft bezüglich literarisierter, haitianischer Zukunftsentwürfe zu befragen. Preface 17 <?page no="19"?> 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 Concrètement, la modernité c’est le moment où la subjectivité est reconnue dans sa souveraineté, et où l’individu se détache du monde et du corps social pour se constituer dans son autonomie […] Le monde est devenu le monde de l’homme et pour l’homme. Prise en charge du monde et prise en charge de l’homme par lui-même, telle est la spécificité de la modernité à partir de laquelle le monde a pu rêver comme habitable [..] Mais dans la Caraïbe, […] quelle signification revêt-elle pour nous ? Il est clair que nous avons éprouvé la modernité avant tout comme phénomène dont les effets se nomment : déportation par rapport à notre espace […], assujettissement politique […], déracinement par rapport à nos cultures (Hurbon 2001a: 88 f). Der Soziologe Laënnec Hurbon eröffnet in seinem Resümee zwei Perspektiven auf die Moderne: Eine europäische, welche den Menschen als freies Individuum in die Welt stellt, und eine karibische, in welcher sich stattdessen der gewaltsame Verlust jeglicher räumlichen und kulturellen Verortung und Selbstbestimmung zeigt. Um sich einem umfassenden Bild der Moderne anzunähern, bedarf es der Diskurse und Konzepte der Französischen Aufklärung samt der politischen Umwälzung von 1789 ebenso wie dem häufig verleugneten Wissen um den transatlantischen Sklavenhandel und die anti-koloniale Revolution von 1791- 1804 in Saint-Domingue, welche die Sklaverei auf der Karibikinsel beendete, wie Carey und Festa in der Einleitung zu The Postcolonial Enlightenment schreiben: The denied or disavowed history of revolutionary antislavery is a constitutive element of a heterogeneous modernity, rather than a strangely intractable barrier hindering the consummation of an as-yet unfinished project of Enlightenment (Carey/ Festa 2015: 16 f.). Im Sinne einer modernity disavowed (vgl. Fischer 2005) durchaus als neuralgi‐ scher Punkt des Komplexes Aufklärung und Kolonialismus zu betrachten, bietet die historische Beziehung zwischen Saint-Domingue/ Haiti und Frankreich die Gelegenheit transatlantische Zirkulationen samt den komplexen Verflech‐ tungen und Überlagerungen nachzuverfolgen, sowie das kolonial-repressive als <?page no="20"?> 11 Welche Bewandtnis es mit dem Begriff der Vergemeinschaftung hat, wird in dem Kapitel Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen ausführlich diskutiert. 12 Antoine Lilti spricht zwar von einem Triumph der Lumières in Union mit dem politi‐ schen Liberalismus zum Ende des 20. Jahrhunderts, er verweist jedoch auch auf eine Vielzahl an anhaltenden Debatten um die Bewertung und Einordnung der Aufklärung (vgl. Lilti 2019: 8). Aktualisierungen und Anrufungen der Aufklärungen als Impetus tagesaktuellen politischen Geschehens finden sich sowohl von rechter bis konservativer Seite als auch im linken politischen Spektrum aufgegriffen (vgl. Lilti 2019: 7 f.). 13 Die beiden Historiker Andreas Pečar und Damien Tricoire wenden sich in Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? eindeutig gegen eine solche Inanspruchnahme der Aufklärung für die Moderne und gegen „eine Geschichtsschreibung, die im 18.-Jahrhundert den Traditionsbruch verortet, nach dem auch das anti-koloniale, emanzipatorische Potential aufklärerischer Konzepte herauszustellen. Die unhintergehbare Bedeutung der Kolonien als ‚Laboratorien der Moderne‘ tritt erst vor dem Hintergrund ihrer politischen und ökonomi‐ schen Einbettung deutlich hervor. Die Haitianische Revolution nimmt in diesem Gesamtkomplex als Universalisierung der Französischen Revolution (vgl. Stern‐ feld 2007), als anti-koloniale Kritik und konsequenter Ausdruck marginalisierter Handlungsmacht, aber auch als radikale Relektüre von zentralen Konzepten der Französischen Aufklärung eine herausragende Stellung ein. Bevor wir uns jedoch der Relektüre zentraler Begriffe der Französischen Aufklärung aus der Perspektive der Haitianischen Revolution und der Erweite‐ rung hegemonialer Konzepte durch marginalisierte Erfahrungen und situiertes Wissen (vgl. Sheller 2012: 2 ff.) im zweiten Teilkapitel zuwenden, gilt es zunächst den Komplex Aufklärung-Kolonialismus zu umreißen, sowie einen Einblick in die Bewegungen und Relationen zu geben, die sich über den Atlantik hinweg erstreckten und Entwicklungen nachzuzeichnen, die sich in der Zeit von 1650- 1800 — zwischen Plantagenökonomie und Revolution — vollzogen. Im Übergang von der Frühen Neuzeit zu der Moderne durchläuft das Zusam‐ menleben in vielen Teilen der Welt grundlegende Veränderungen: Die Bezie‐ hungen zwischen Mensch und Umwelt, Individuum und Gruppe werden neu justiert. Es werden neue Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der politischen Ordnung geschaffen und politisch eingefordert. Moderni‐ sierte ökonomische Produktionsweisen und wissenschaftliche Erkenntnisse stellen ein Netz globalisierter Beziehungen her und bringen neue Formen der Vergemeinschaftung 11 hervor. In der Zeit zwischen 1650 und 1800 vollzieht sich ein umfassender Wandel des Zusammenlebens, welcher bis heute in die Gegen‐ wart ausstrahlt. 12 Diese Epoche wird gemeinhin als Zeitalter der Aufklärung verstanden und wirkt bis heute als eines der stärksten vergemeinschaftenden Narrativen für das Selbstverständnis Europas nach. 13 Die Jahre zwischen 1650 20 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="21"?> Motto: davor Akzeptanz von und danach Skepsis gegenüber überliefertem Wissen“ (vgl. Pečar/ Tricoire 2015: 14.). 14 Pečar und Tricoire treten für ein dynamisches Verständnis der Aufklärung ein und betonen die Bedeutung von Kommunikationsstrukturen: „Die République des lettres des 18. Jahrhunderts war keine soziale Gruppe, sondern ein Kommunikationsraum von Akteuren, die die Rolle der Aufklärer für sich in Anspruch nahmen. Die Möglichkeiten, sich in dieser Rolle in Szene zu setzen, nahmen im Laufe des Jahrhunderts immer mehr zu, verbunden mit dem starken Zuwachs an Druckerzeugnissen, an Büchern, Zeitschriften, Zeitungen. Dabei waren es keineswegs alles Gleichgesinnte, die sich dieser Rolle bedienten. Vielmehr wurde der Meinungskampf auch gegeneinander ausgetragen“ (Pečar/ Tricoire 2015: 31). und 1800 gelten dabei als philosophisch-politische Grundsteinlegung für den Aufbruch in die ‚bürgerliche‘ Moderne und den Beginn liberaler Denktradi‐ tionen (vgl. Mbembe 2015: 93). In einem epochalen Umbruch, in dem die „tra‐ dierten Verkehrs- und Denkformen dysfunktional wurden“ (Thoma 2015a: 67) und die Zustimmung zu Herrschafts- und Weltordnungen wie z. B. dem Got‐ tesgnadentum und der Ständegesellschaft aufgekündigt wurden (vgl. Thoma 2015a), werden Vorstellungen zum Naturrecht und vertraglichen Grundlagen des Zusammenlebens, Reflexionen über religiöse Toleranz sowie neue naturwis‐ senschaftliche Erkenntnisse und die ‚Entdeckung‘ neuer Weltteile zukunftswei‐ send. Kaffeehäuser, Akademien, Salons, Lese- und Geheimgesellschaften ebenso wie (Reform)Universitäten zwischen Edinburgh und Glasgow, Paris, Göttingen, Halle, Amsterdam, Den Haag oder Genf sowie neu gegründete Zeitschriften und Revuen werden zu wichtigen Orten des intellektuellen Austausches (vgl. Füssel 2017; Meyer 2018). 14 Besonders rege entwickeln sich Strömungen der Aufklärung in England, Frankreich und Deutschland, sie bleiben jedoch keines‐ wegs auf diese Gebiete beschränkt (vgl. Thoma 2015a), so dass ebenfalls von einer italienischen, niederländischen oder jüdischen Aufklärung zu sprechen ist (vgl. Thoma 2015b). Während sich zum Teil länderspezifische Diskursforma‐ tionen und Akzentuierungen herausbilden (vgl. Lilti 2019: 10), so ist zugleich eine gegenseitige Beeinflussung über Grenzen hinweg zu verzeichnen (vgl. Füssel 2017: 279). Die Aufklärung(en) können als Teil eines „sukzessive[n] Erkenntniswandel[s]“ begriffen werden, der sich seit dem 16. Jahrhundert vollzog und von der Forschung allgemeinhin in drei Phasen periodisiert wird: die wissenschaftliche Revolution der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Frühaufklärung des 17. Jahrhunderts und die Spätaufklärung des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts (vgl. Füssel 2017: 278; Meyer 2018: 34). Während die wissenschaftlichen Entdeckungen der ersten Phase zur Destabilisierung des mittelalterlichen Weltbilds beitrugen und alternative Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Welt und Mensch aufkommen, erfahren diese Deutungs‐ 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 21 <?page no="22"?> angebote in der zweiten Phase eine Radikalisierung, welche wiederum in der Spätaufklärung, neben materiellen Notwendigkeiten, zu ihrer Übersetzung in politische Forderungen beiträgt (vgl. Meyer 2018: 34). Für die Thematik dieser Untersuchung ist insbesondere diese letzte Periode und die in ihr angesiedelte Übertragung — mehr oder weniger — abstrakter Reflexionen und Entwürfe in (radikale) konkrete, politische Forderungen und Handlungen relevant, denn der Zugriff auf die Texte und Theoreme des 17. und 18. Jahrhunderts erfolgt vor dem Hintergrund eklatanter politischer Umwälzungen. So schreiben Lynn Festa und Daniel Carey in ihrem Aufsatz „Some answers to the question: ‚What is Postcolonial Enlightenment? ’ ”: „That the age of Enlightenment is also sometimes characterized as the age of revolutions reminds us that we cannot approach the century through texts alone” (Carey/ Festa 2013: 16). Die Paradig‐ menwechsel, welche sich von 1650-1800 als Aufklärung(en) vollzogen, greifen über die Ideenwelt hinaus und materialisieren sich als politische Umstürze u. a. in (Nord)Amerika, Frankreich und in der französischen Kolonie St. Domingue (heute Haiti), wodurch auch Vergemeinschaftungsnarrative und Formen des Zusammenlebens nachhaltig verändert wurden. Während die Erinnerung an die Haitianische Revolution weitgehend aus dem kolonialen Gedächtnis abge‐ spalten und verdrängt wurde (vgl. Trouillot 2015), wurden die Amerikanische und die Französische Revolution zu identitätsstiftenden Ereignissen für den Okzident: In der politischen Geschichtsschreibung firmiert das Zeitalter der europäischen Revolutionen als Entstehungszeitraum der politischen Moderne […] Spätestens die Französische Revolution wird als Austragungsort der politischen Ziele der Aufklärung interpretiert. Sie gilt als historischer Geburtsort der Moderne, an dem ihre zentralen Ziele formuliert wurden (Meyer 2018: 16). Es ist vor allem die Französische Revolution von 1789-1799, die als radikalster Ausdruck der Aufklärung verstanden wird und das Bild Frankreichs als „Kern‐ land“ und „Maßstab der Aufklärung“ nährt, welches bis heute in einem gesamt‐ europäischen Selbstverständnis als ‚Wiege der Menschenrechte‘ nachwirkt (vgl. Thoma 2015b: 95). Während der Sturm auf die Bastille, die Überwindung des absolutistischen Ancien régime und die Etablierung der ersten französischen Republik über die Grenzen Frankreichs hinaus als lieux de mémoire (vgl. Nora 1984) gelten kann, fristete die Haitianische Revolution (1791-1804), welche nur wenige Jahre auf die Französische folgte, lange ein Schattendasein in 22 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="23"?> 15 Seit einiger Zeit ist eine steigende Zahl an Publikationen zu vermerken, die sich der Haitianischen Revolution zuwenden, so dass einige Wissenschaftler: innen mittlerweile von einem Haitian turn sprechen (vgl. Joseph 2012; Bandau: 2013). 16 Der Begriff Zeitalter der Revolution (Age of revolution) wurde u. a. durch den britischen Historiker Eric Hobsbawm geprägt. Bei Hobsbawm liegt dieses Zeitalter jedoch zwi‐ schen 1789-1848 (vgl. Hobsbawm [1962] 1996). globalen Erinnerungspolitiken. 15 Die Revolutionen in den Amerikas (konkret in Nordamerika und Haiti) lenken den Blick, von Europa weg, hin auf die ‚neue‘ kolonial(isiert)e Welt. Diese Hinwendung über kontinentale Ränder hinaus kommt nicht an der Handels- und Kontaktzone Atlantik vorbei, welche mehrere Revolutionen miteinander verbindet. Denn nicht nur in Amerika und Frankreich, so schreibt Janet Polasky in Revolutions without borders — The Call to Liberty in the Atlantic world (2015), stürzten Revolutionen vorherige Regime: Revolutions cascaded through all of the continents bordering the Atlantic. From the Americas to Geneva, the Netherlands, Ireland, the Belgian provinces, France, Saint-Domingue, Guadeloupe, Poland, Martinique, Sierra Leone, Italy, Hungary, and Haiti, revolutionaries challenged the privileges of aristocrats, clerics, and monarchs to claim their sovereignty (Polasky 2015: 2). Angesichts dieses turbulenten, globalen Geschehens scheint es angebracht nicht nur von einem Zeitalter der Aufklärung, sondern von einem Zeitalter der (atlantischen) Revolutionen 16 zu sprechen. Obwohl viele der hier von Polasky genannten revolutionären Bewegungen Verbindungen zu Ideen der Aufklärung(en) aufweisen, stehen im Zentrum dieser Studie vor allem zwei historische Ereignisse, welche die vorherigen politischen Ordnungen radikal infrage stellen und als solche in die damalige Welt ausstrahlten: die Französische Revolution von 1789-1799 und die Haitianische Revolution von 1791-1804. So sind die Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts, in denen Elemente der Ideenwelt und abstrakte Ideale mit materiellen Notwendigkeiten und konkreten politischen Handlungen eine Allianz eingehen, Ausdruck einer Verzeitlichung des Denkens, mit der sich durch die Vorstellung vom Fortschritt des Menschen ein neues historisches Bewusstsein etabliert (vgl. Meyer 2018: 15). In der Über‐ tragung des vormals astronomischen Begriffes ‚Revolution‘ auf grundlegende politische Umwälzungen kündigen sich neue Denkkonstellationen im Zeichen der Aufklärung an (vgl. Meyer 2018: 16). Revolution, dieses Schlüsselwort des Zeitalters der Aufklärung rückt nicht nur den Menschen als historischen Akteur ins Zentrum, er zeugt auch von einem neuen, säkularisierten Weltbild sowie eines Geschichts- und Politikverständnisses, welches auf Emanzipation und Fortschritt zielt (vgl. Reichardt 2014: 1079). Jenes Geschichtsverständnis, 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 23 <?page no="24"?> 17 Daniel Carey und Lynn Festa greifen eine Vielzahl dieser Vereinheitlichungen der diversen Aufklärungsdiskurse in ihrer Einleitung zu Postcolonial Enlightenment auf. Dort schreiben sie u.a.: „If the ‚West’, as Lazarus claims, has become oddly detached from any specific territories or terrains, so too has Enlightenment become abstracted from its textual and historical origins, serving instead as a kind of placeholder for a set of putatively European ideas or ideals. The elusiveness of the Enlightenment welches das Fortschreiten der Menschheit in Richtung einer besseren Zukunft verinnerlicht hat, wird sowohl zum Motor kritischer und emanzipatorischer Bewegungen und Analysen als auch von zentraler Bedeutung für imperiale Herrschaftspraktiken, die mit der Vorstellung der mission civilisatrice ihre Legitimation erhalten. Dieses Verhältnis zwischen universalisme des lumières und impéralisme coloniale beschreibt der Romanist Hans-Jürgen Lüsebrink folgendermaßen: L’universalisme des Lumières, qui constitue le fondement de l’universalisme occidental, est à la fois un récit - une narration historiographique - et un ensemble de concepts et de valeurs. Ce grand récit du progrès universel des Lumières oppose un passé souvent qualifié de ténèbres à un présent et un futur caractérisé par les lumières de la raison et du progrès, la barbarie (située dans le passé ou dans un ailleurs géographique lointain) à la civilisation, tout en établissant, au sein des sociétés et des cultures du globe, de fortes différenciations […] Le concept de civilisation […] impliquait un projet civilisateur et une politique civilisatrice.[…] Cette formation discursive fondée sur le grand récit du progrès civilisationnel et développée en premier lieu en France au XVIIIe siècle, plus précisément entre 1751 et 1789, est enracinée sur un versant, dominant et même hégémonique, du discours des Lumières sur l’évolution de l’humanité et la diversité des cultures (Lüsebrink 2021: 55 ff.). Wie Lüsebrink in seinem Artikel anhand von Guillaume-Thomas Raynals His‐ toire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (1770) herausstellt, bestehen enge Verknüpfungen zwischen für die Aufklärung relevanten, universalistischen Konzepten von Zivilisation und Fortschritt und der kolonialen Expansion samt ihrer als mission civilisatrice begriffenen, gewaltsamen Unterwerfung nicht-europäischer Bevölkerungen (vgl. Ziai 2012: 291; Castro Varela/ Dhawan 2015: 34; Thoma 2015b: 96; Lüsebrink 2021: 59; ). Nicht nur im Hinblick auf die zwei von Lüsebrink angeführten Pole, emanzipatorischer Universalismus und kolonialer Imperialismus, erweist sich eine eindeutige Bewertung der Aufklärung(en) als schwierig bis unmöglich und eine Reduktion der diversen, mitunter widersprüchlichen, Strömungen und Positionen auf einen schlichten Rationalismus als sehr verkürzt (vgl. Lifschitz 2021). 17 Vielmehr lässt sich sagen, dass sich in den knapp zwei Jahrhunderten 24 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="25"?> as a kind of invisible colossus is thus paradoxically part of its utility for postcolonial thinkers […] All too often a single aspect of Enlightenment thought — or a single thinker or even a single essay such as Kant’s ‚What is Enlightenment? ’— is invited to stand for the entire concept or period. Worse still, ‚Enlightenment’ is made into a kind of shorthand notation for a group of familiar abstractions: rationalism, universalism, equality, human rights, and science. At times ‚Enlightenment’ and ‘post-Enlightenment’ seem to be used interchangeably, as if nineteenth-century liberal political thought were a seamless continuation of eighteenth-century philosophy. As Gayatri Spivak puts it, ‚philosophy has been and continues to be travestied in the service of the narrativization of history’ “(Carey/ Festa 2013: 10 f.). 18 In ihrem Aufsatz „Creolizing Freedom: French-Creole Translations of Liberty and Equality in the Haitian Revolution” zeichnet Annette Joseph-Gabriel diese sprachlichen Zirkulations-, Transfer- und Translationsprozesse in der Revolutionsphase nach: „Li‐ berty, equality and citizenship as both philosophy and reality, were constantly in flux and participants in the revolutions on both sides of the Atlantic were continually re-defining and re-shaping Enlightenment discourse. Translators contributed to this discourse by rendering the original proclamations into Creole, but also by adding, subtracting and sometimes contradicting the French through translations that diverged, sometimes drastically, from the original works” ( Joseph-Gabriel 2015: 114). von 1650- 1800 unter den Namen Aufklärung, Enlightenment, Illuminismo oder Lumières ein heterogenes diskursives Kraftfeld aufspannt, welches bis heute gleichermaßen Anziehung und Abstoßung produziert (vgl. Garcés 2020). Statt eines engen starren Aufklärungsbegriffes legen Polyphonie, Ambiva‐ lenz und Unabgeschlossenheit des Phänomens (vgl. Stollberg-Rilinger 2010: 133) Begriffsbildungen nahe, die auf die Kommunikativität, Prozessualität und Dis‐ kursivität explizit verweisen (vgl. Füssel 2017: 280). So sind es weniger die spezifischen Ideen, welche die europäischen Ständegesellschaften des 17. Jahr‐ hunderts revolutionieren, vielmehr handelt es sich um „neue Formen Ideen zu artikulieren, auszutauschen, zu verbreiten und vor allem in die Praxis um‐ zusetzen“ (Stollberg-Rilinger 2010: 132), welche die Besonderheit des Zeitalters der Aufklärung begründen. Die Mobilität von Ideen, Wissen und Weltbildern, ihr Austausch, ihre Transformation, ihre Zirkulation, aber auch die Versuche Ideen zu materialisieren, 18 kann als ein zentrales Kennzeichen der Konfiguration Aufklärung betrachtet werden (vgl. D’Aprile 2016). Diese Bewegung, welche ab dem 17. Jahrhundert in beschleunigter Form jahrhundertelang verfestigte Besitzstände, Machtgefüge, Wahrnehmungsmuster und Deutungshoheiten dy‐ namisiert, findet nicht nur in den Köpfen und Institutionen statt. Vielmehr laufen die großen intellektuellen und politischen Mobilisierungen des 17. und 18. Jahrhunderts parallel zur Bewegung von Menschen und Waren über den Atlantik. Die expansive Entdeckung neuer Welten seit dem 15. Jahrhundert ist ebenso vorstrukturierend für die Herausbildung des Diskursnetzes Aufklärung wie die europäischen Glaubenskriege (Stollberg-Rilinger 2010: 134). Damit ist 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 25 <?page no="26"?> 19 Lange Zeit dominierte stattdessen der Begriff ‚Imperialismus‘ (vgl. Brahm 2017; Tarrade 2014). 20 Laut Sebastian Conrad wird hier der Unterschied zum Begriff des Imperialismus deutlich, „der auch Formen der informellen Steuerung ohne Ansprüche auf der Gebiets‐ herrschaft miteinschließt“ (Conrad 2012: 3). 21 Auf dieser Grundüberzeugung baut auch die mission civilisatrice auf. die außereuropäische Welt von Beginn an Bestandteil dieses europäischen Projektes und die Präsenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts evident für dessen Konstruktionsprozesse (vgl. Neumann 2015: 9). Die europäische Expansion, die ausgehend von Spanien und Portugal, über Frankreich, England, Belgien, die Niederlande, Dänemark und Deutschland nach und nach große Teil der Erde ‘entdeckt‘, ausbeutet und besetzt, etabliert eine neue hegemoniale Weltordnung. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird auf diese weltgeschichtliche Periode und die durch sie ins Werk gesetzten Machtverhältnisse mit dem Begriff ‚Kolonialismus‘ Bezug genommen (vgl. Brahm 2017: 287), wenngleich dieser Begriff im 18. Jahrhundert so nicht geläufig war (vgl. Tarrade 2014: 271). 19 Grundsätzlich lässt sich eine Fülle an sozialen, kulturellen, epistemologischen, ökonomischen und politischen Prozessen und Erscheinungen beobachten, die als kolonial eingestuft bzw. deren enge Verbindung zum Kolonialismus nach‐ gewiesen wurden. Konkretisieren lässt sich der Begriff Kolonialismus durch folgende drei Elemente: „ein territorial bestimmtes Herrschaftsverhältnis“; 20 Fremdherrschaft, wobei die kolonisierte und die kolonialisierende Gruppe unterschiedlich gesellschaftlich strukturiert sind; sowie „die Vorstellung seitens der Kolonisatoren, dass beide Gesellschaften durch einen unterschiedlichen Ent‐ wicklungsstand voneinander getrennt sind“ (Conrad 2012: 3). 21 Zugleich jedoch ist die genaue Bestimmung der Begriffe Kolonialismus und Kolonialisierung sowohl in den Geschichtswissenschaften als auch in den Postcolonial Studies immer wieder Gegenstand von Diskussionen, wie Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan aufzeigen (vgl. Castro Varela/ Dhawan 2015: 20 ff.). Die beiden Wissenschaftler: innen sprechen in diesem Zusammenhang im Rückgriff auf Stuart Hall von Kolonialisierung/ Kolonialismus als einem „Kräftefeld […], welches von Macht und Wissen regiert wird“ und dessen „Diskurs essentiell auf einer Bedeutungsfixierung, die in der Konstruktion und Festsetzung der ausnahmslos Anderen zum Ausdruck kommt“ beruht (Castro Varela/ Dhawan 2015: 22). Trotz dieser groben Eingrenzungen des Begriffes weisen doch die konkreten historischen Kolonisierungsprozesse und -perioden in den fast 500 Jahren des Kolonialismus vom 15. Jahrhundert — als Zeitalter der Entdeckungen — bis in die 1960er-Jahre, wo weltweit antikoloniale Befreiungsbewegungen an Bedeutung gewinnen, eklatante Unterschiede auf (vgl. Castro Varela/ Dhawan 26 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="27"?> 22 Castro Varela und Dhawan definieren Siedlungskolonien als ein Typ von Kolonien, „bei denen billiges oder enteignetes Land unter Ausbeutung indigener oder ‚eingeführter‘ Sklaven und Sklavinnen bearbeitet und von europäischen Farmern und Plantagenbe‐ sitzern verwaltet wurde“ (Castro Varela/ Dhawan 2015: 25). 2015: 27 f.). Für den Kontext dieser Studie liegt der Fokus auf den karibischen Territorien, die in der Forschung als Siedlungskolonien 22 gelten. Im Zuge des Prozesses der „allmähliche[n] Unterwerfung weiter Teile der Welt unter europäische Herrschaft“ und der „immer intensiveren Vernetzung unterschied‐ lichster Regionen“ (Zimmerer 2012: 10) werden diese im Atlantik gelegenen, dem mittelamerikanischen Kontinent vorgelagerten, karibischen Inseln im 16. und 17. Jahrhundert zu wichtigen wirtschaftlichen und geostrategischen Faktoren, wie der Historiker Michael Zeuske zusammenfasst: In der Karibik, insofern ein globaler Sklaverei-Verdichtungsraum par excellence, entstanden Enklaven-Plantagenwirtschaften auf Inseln, an Flussmündungen oder auf Küstenebenen unter englischer, französischer, dänischer und niederländischer Kontrolle […] Die karibische Sklaverei als kolonialer Plantagen-Kapitalismus mensch‐ licher Körper begründete und prägte zusammen mit dem afrikanisch-atlantischen Slaving eine lange Phase der Atlantisierung Afrikas, Amerikas und der Globalisierung Europas sowie die Durchsetzung des Merkantil-, Manufaktur- und Industriekapita‐ lismus in Europa (1650-1880) und in den Amerikas 1800- 1900 (Zeuske 2018: 210). Die Inseln Martinique, Guadeloupe und der westliche Teil der Insel Hispaniola, St. Domingue (Ayiti), werden im 17. Jahrhundert im europäischen Ringen um Einflusssphären zu französischen Besitzungen und zu bedeutsamen Produkti‐ onsorten für koloniale Luxusgüter. Die auf den Inseln lebenden indigenen Bevölkerungen der Kariben und Taïno werden bereits im 15. Jahrhundert durch die spanischen Eroberer erheblich dezimiert und im Verlauf der Jahrzehnte nahezu vernichtet. Die bald darauffolgende Kolonialgeschichte des Zuckers ist, so schreibt Nikolay Kamenov (2016), eine Geschichte der Karibik, wo schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Zuckerplantagen in französischen und englischen Kolonien gegründet wurden. Die sich etablierende Plantagen‐ wirtschaft, welche Zucker und andere Luxus- und Genussmittel produzierte und in die europäischen Metropolen verschiffte, basierte maßgeblich auf der Ausbeutung versklavter Menschen vom afrikanischen Kontinent, vorrangig der Westküste. Mit den Kolonien als Produktionsstätte von Konsumgütern für die ‚zivilisierte Welt‘, Europa als Produktionsort für Tausch- und Handelsgüter 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 27 <?page no="28"?> 23 Zur Illustration dieses Profits ist ein Blick auf europäische Handelsstädte wie Nantes, Bordeaux, Hamburg oder Liverpool geboten, an deren architektonischen Reichtums sich der Gewinn der europäischen Kaufleute und Händler: innen abschätzen lässt. 24 Der Begriff vom ‚Transatlantischen Sklav: innenhandel‘ hat den Term ‚Atlantischer Dreieckshandel‘ abgelöst, den Castro Varela und Dhawan folgendermaßen umreißen: „Der Beginn des so genannten ‚Atlantischen Dreieckshandels‘ wird bereits auf das 17. Jahrhundert datiert […] Es handelt sich dabei um eine geschlossene Handelskette, bei der drei Etappen unterschieden werden: Europa bringt Schiffladungen mit Waffen, Stahl, grobem Tuch und Manufakturwaren an die westafrikanische Küste, wo die Waren gegen Sklaven und Sklavinnen eingetauscht werden. Danach steuern die Schiffe die Karibik an (dieser Teil wird auch als middle passage bezeichnet), wo Sklaven und Sklavinnen gegen Zucker, Rum und Melasse sowie Baumwolle gehandelt werden. Diese werden dann auf dem europäischen Markt mit erheblichem Gewinn verkauft. An diesem gewinnträchtigen Geschäft waren von Beginn an große europäische Handels‐ kompanien beteiligt“ (Castro Varela/ Dhawan 2015: 33). sowie als größter finanzieller Profiteur 23 und Afrika — zynisch gesprochen — zur Lieferantin ‚verwertbaren Humankapitals‘ reduziert, entspannte sich ein transnationales Handelsgeflecht auf der Basis von Menschenhandel, welches unterschiedlichste Gruppen zusammenwarf. 24 Für diese „Expansion der euro‐ päischen Mächte in Asien und Afrika wie auch in den Amerikas“ (Castro Varela/ Dhawan 2015: 33) sind eine neue Form der Zirkulation von Waren, Ideen und Menschen sowie Transfervorgänge zentral, wie Jürgen Osterhammel aufzeigt: Diese Gesellschaften — man denke an das englische Jamaika oder das französische Saint- Domingue — sind unter dem Gesichtspunkt des Wissenstransfers von höchstem Interesse, waren sie doch in einer historisch beispiellosen Weise selbst Produkte von Transfervorgängen […] Technologietransfer und Sklavenhandel zusammen schufen die Voraussetzung dafür, dass die Plantagenwirtschaft auf den so genannten Zucker‐ inseln zu einem der dynamischsten Wachstumspol der Weltwirtschaft im 18. Jahrhun‐ dert wurde (Osterhammel 2006: 30). Im Zuge dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen steigerte sich der Atlantik zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert zu einer hochproduk‐ tiven Sphäre des Austauschs, zur Kontaktzone, zum Begegnungsraum sowie zu einem Dazwischen der Zirkulation und Transformation (vgl. Mayer 2005: 81). Mit dem Begriff der (Wissens-)Zirkulation wird hierbei auf eine Bewegung zwischen verschiedenen Orten, bei welcher auf nichtlineare und multidirektio‐ nale Weise Aneignungs-, Modifikations- und Übertragungsprozesse stattfinden und das solchermaßen Transformierte als Verändertes an den ersten Ort der Übertragung zurückgesendet wird (vgl. Bandau/ von Mallinckrodt 2010: 22). Statt eindimensionaler Ursache-Wirkungsbeziehungen produziert die Zirkula‐ 28 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="29"?> 25 Zu den genauen Zahlen finden sich verschiedene Angaben. Ich beziehe mich hier auf die von Gualdé angegebenen Zahlen, die von den Relationen vergleichbar sind mit jenen, die der Historiker Michael Zeuske angibt (vgl. Zeuske 2018: 457 f.). tion vielfältige Kontakte und ephemere Begegnungen, ist dabei aber trotzdem im hohen Maße durch Machtkonstellationen strukturiert und mit diesen ver‐ flochten (vgl. Bandau/ von Mallinckrodt 2010: 22). Obwohl Bandau und von Mallinckrodt vor allem „Zirkulationen und Verflechtungen von Wissen“ (vgl. Bandau/ von Mallinckrodt 2010) ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, ist diese immaterielle Zirkulation von Wissen, Kulturtechniken und Ideen un‐ bestreitbar von materiellen Zirkulationen im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels bedingt. Um die 13 Millionen Männer, Frauen und Kinder waren zwischen der zweiten Hälfte des 16. und dem Ende des 19. Jahrhunderts von dem atlantischen Sklav: innenhandel betroffen, von dieser Gesamtsumme entfällt die französische Verantwortlichkeit auf 13 Prozent (vgl. Gualdé 2017: 49 f.). 25 Die erzwungene Überfahrt über den Atlantik transformierte nicht nur Wis‐ sensformen, sie modifizierte auch diejenigen, die sie erleiden; wie sie auch jene Gesellschaften veränderte, die von ihr profitierten. Der Bauch des Skla‐ venschiffes markiert, um mit den Worten des martinikanischen Schriftstellers Edouard Glissant zu sprechen, den Ursprung der kreolisierten, karibischen Gesellschaften: „La Genèse des sociétés créoles des Amériques se fond à une autre obscurité, celle du ventre du bateau négrier. C’est ce que j’appelle une digenèse“ (Glissant 1997: 36). Die destruktive Neugeburt aus dem Bauch des Sklavenschiffes, welche Glissant anführt, kann in Verbindung gesehen werden mit der natal alienation, welche Orlando Patterson als ein konstitutives Element der Sklaverei ausmacht (vgl. Patterson 1982: 5). Der Soziologe Patterson definiert die Versklavten als socially dead person, womit er auf den Ausschluss von der Zugehörigkeit zu jeglicher legitimen sozialen Ordnung, Ansprüchen oder Verpflichtungen gegenüber Nachkommen oder Verwandten sowie die kulturelle Isolation vom sozialen Erbe der Vorfahren hinweist (vgl. Patterson 1982: 5) , wodurch vorherige Formen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung weitgehend zerstört sind. Gleichwohl, so führt Patterson an, ist die natal alienation nicht gleichzusetzen mit der Abwesenheit jeglicher Art von sozialen Beziehungen, sondern vor allem dadurch bestimmt, dass die von Sklav: innen unterhaltenen Beziehungen niemals als legitim oder bindend anerkannt werden (vgl. Patterson 1982: 6). Diese ‚Verwandlung‘, welche Sklav: innen mit der middle passage widerfährt, findet ihren Ausdruck auch in symbolischen Praktiken wie der Neubenennung durch koloniale Autoritäten (vgl. Patterson 1982: 57). Vor diesem Hintergrund wird die Moderne in der Karibik zu einer Erfahrung der Deportation (Sklavenhandel, Versklavung, Kolonisation), der Unterwerfung 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 29 <?page no="30"?> 26 Das Adjektiv ‚schwarz‘ wird in dieser Arbeit großgeschrieben um die spezifische Position afrodeszendenter und rassifizierter Menschen in weiß dominierten Gesell‐ schaften, den Konstruktionscharakter vermeintlicher biologischer Zuordnungsmuster hervorzuheben und dabei statt Fremdbezeichnungen die gewählte Selbstbezeichnung aufzugreifen (vgl. Amnesty International 2017; Neue deutsche Medienmacher*innen 2021; Diversity Arts Culture 2021). Schwarz und weiß sind dabei nicht als feste, biologische Eigenschaften zu verstehen, vielmehr geht es darum soziale Positionen in einer rassifizierenden und rassistischen Gesellschaft zu benennen. 27 Das N-Wort wird in dieser Arbeit nur an jenen Stellen auftauchen, bei denen es sich um direkte, meist historische, Zitate handelt. 28 So schreibt C.L.R. James in The Black Jacobins: „The Negro Code, Louis XIV’s attempt to ensure them human treatment” ( James [1938] 2001: 8). (Besetzung) und der kulturellen Entwurzelung (kulturelle Amnesie, Verlust der Sprache, des Namens und der Abstammung) (vgl. Hurbon 2001a: 88 f). Die Dehumanisierung und Objektivierung Schwarzer 26 Menschen wird im kolo‐ nialen Handels- und Produktionsprozess auf verschiedenen Ebenen (juristisch, materiell, ideologisch und diskursiv) vollzogen und mit dem von Jean-Baptiste Colbert auf den Weg gebrachtem und ab 1685 gültigen Edit du Roi concernant la discipline, l’état et la qualité des nègres  27 esclaves aux Isles de l‘Amérique, bekannt als Code Noir, juristisch festgeschrieben. So heißt es im Artikel 44 des besagten Dokumentes: „Declarons les esclaves être meubles“ (Sala-Molins 2007: 178). Angesichts dessen liest der Philosoph Louis Sala-Molin in seiner vielbeachteten Studie Le Code Noir ou le calvaire de Canaan ([1987] 2007) Texte der Französischen Aufklärung vor dem Hintergrund des Code Noir. Trotz seines hochgradig problematischen Charakter erweist sich der Code Noir doch als ein komplexes Dokument, der die Bedingungen von Heirat und Freilassung (affranchissement) regelt, sprich, eine gewisse humanité anerkennt 28 und doch zugleich vor allem die Dehumanisierung festschreibt (vgl. Niort 2012: 6). Festzu‐ halten bleibt, dass der Wert der Versklavten als Menschen hinter ihrem Wert als Produktionsmittel und Reproduktionsmittel verschwindet, wie der Philosoph und Politikwissenschaftler Achille Mbembe deutlich zum Ausdruck bringt: Dans la perspective de la raison mercantiliste, l’esclave nègre est à la fois un objet, un corps et une marchandise. En tant que corps-objet ou objet-corps, il a une forme. Il est également une substance potentielle. Cette substance, qui fait sa valeur, découle de son énergie physique. C’est la substance-travail. Le Nègre est, de ce point de vue, une matière énergétique. Telle est la première porte par laquelle il rentre dans le processus de l’échange. Il existe une seconde porte à laquelle il a accès par son statut d’objet d’usage qui peut être vendu, acheté et utilisé. Le planteur qui achète un esclave nègre ne l’achète ni pour le détruire ni pour le tuer, mais pour l’utiliser, pour produire et augmenter sa propre force (Mbembe 2015 : 129). 30 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="31"?> 29 Dieser ökonomische Umbau wird von Michael Zeuske folgendermaßen umrissen: „Europäische, zunächst vor allem iberische Sklavenhändler, Bänker, Monarchien, Schmuggler (oft in komplizierten Konkurrenzen / Symbiosen mit Piraten / Korsaren und Atlantikkreolen) und Sklavenhalter schufen auf diesen Grundlagen im 16. Jahr‐ hundert eine ‚large scale trans-oceanic agricultural slavery‘ mit einer atlantischen Menschenhandelsakkumulationsmaschine sowie sklavereibasierten Plantagen-Export‐ wirtschaften von Luxusgütern und Drogen (Zucker, Rum, Kakao, Tabak, später auch Kaffee und Indigo), gestützt auf Schiffe und befestigte Handelsenklaven (Faktoreien) sowie auf Offshore-Inseln (bis 1800), erst danach auch kontinentale Territorien. Das unterschied das von Europäern dominierte Slaving als Gesamtsystem, zusammen mit Rassismus als Theorie (seit 1780), von allen anderen großen Sklavereien, vor allem von den islamischen Sklavereien, die im Wesentlichen urbane Haus- und Palastsklaverei mit Razzienökonomien und Menschenhandel blieben“ (Zeuske 2018: 511). Achille Mbembe legt diesen Prozess der Objektivierung und Kapitalisierung von Schwarzen Menschen in Critique de la raison nègre mit direktem Bezug zur Aufklärung dar. Die Kapitalisierung von vorrangig Schwarzen und afri‐ kanischen Körpern war wesentlich für den transatlantischen Sklavenhandel, seine Kolonien und Plantagengesellschaften. Diese Kapitalisierung von Körpern vollzieht sich im Kontext von Sklaverei in verschiedenen Bereichen wie Tausch, Geschenk, Kauf-Verkauf, Ausbeutung der Arbeitskraft, der Produktivität, der Energie sowie der Reproduktionskraft von Sklav: innen, Dienstleistungen (auch sexuelle), militärische Überlegenheit durch Sklavensoldaten und Leibwächter, Status- und Luxus-Präsentation (vgl. Zeuske 2018: 4). Die Kapitalisierung von Körpern (v. a. in Form von Ausbeutung der Produktions- und Reproduktions‐ kraft) im Zuge europäischer Kolonialisierungspolitiken bedeutet nicht nur die Reduzierung jener Körper auf wertschöpfende Produktionsmittel sowie die ursprüngliche Akkumulation großer Kapitalmengen (vgl. Habermann 2012: 20), sie etabliert auch mit fortschreitender Entwicklung neuartige Produktions-, Handels-, Finanz- und Arbeitsformen, welche zentral für die Herausbildung der modernen kapitalistischen (Industrie-) Gesellschaften werden: 29 Die systemischen Grundlagen der Moderne entstanden außerhalb Europas und wurden erst spät, im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts, importiert. Sie wurden weniger in Madrid, Paris und London ausgehandelt als auf den unzähligen Schiffen, die die Ozeane kreuzten: Hier begegneten sie sich, oft gewaltsam, die verschiedensten Menschen und Dinge, Wissenssysteme und Weltanschauungen; auf ihnen wurde die massenhafte Migration und Entrechtung von Arbeitern erprobt; sie wurden getragen von Börsenhandel, Versicherungen, Banken und waren Auslöser der ersten globalen Finanzkrisen; die Zuckermühlen, die sie versorgten, waren die Vorläufer industrieller Massenproduktion; und die atlantischen Sklavenaufstände und Revolu‐ 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 31 <?page no="32"?> 30 Um auf Ausbeutung und Unterdrückung zu treffen, bedurfte es dabei keinesfalls der Reise in die Kolonien. Parallel zu den Enteignungs- und Aneignungsprozessen in Übersee, wurden in Europa Einhegungen und das Ende der Allmende, sowie die ge‐ waltsame Zurückdrängung bäuerlicher Widerstände samt ‚moderner‘ Disziplinierungs‐ maßnahmen, vollzogen, die neue landlose, enteignete und arme Massen hervorbrachten (vgl. Linebaugh/ Rediker 2008: 356 f.; und aus feministischer Perspektive vgl. Federici [2004] 2015). tionen markieren die ersten organisierten Widerstände gegen ein sich etablierendes bürgerlich-kapitalistisches Weltsystem (Eckstein/ Peitsch/ Schwarz 2016: 175). Ebenso wie die Literatur- und Kulturwissenschaftler: innen Eckstein, Peitsch und Schwartz betont auch der Historiker Kamenov (2016) den technologischen Stand der kolonialen Zuckerproduktion, der in vielen anderen wirtschaftlichen Bereichen erst sehr viel später erreicht wurde und damit als protoindustriell gelten kann. Buck-Morss betrachtet diese kapitalistische Form als das Moderne an der Sklaverei in den Kolonien. Konkret versteht sie dabei unter kapitalis‐ tischer Form die Profitmaximierung durch die Ausbeutung von Land und Ar‐ beiter: innen, 30 um „die unstillbare Nachfrage der Konsumenten zu befriedigen“, welche die kolonialen Genuss- und Suchtmittel (Tabak, Zucker, Kaffee, Rum) erst hervorgebracht hatten (vgl. Buck-Morss 2011: 119). Die karibischen Planta‐ genökonomien waren für das vorrevolutionäre Frankreich ein unverzichtbarer wirtschaftlicher und geostrategischer Faktor. Insbesondere St. Domingue, die reichste Kolonie zur damaligen Zeit, von welcher zwei Drittel des Gesamthan‐ delsvolumens zwischen Frankreich und den westindischen Kolonien stammte (vgl. Fischer 2001: 1122), nahm in einer Welt, in der gut „zwanzig Prozent der Angehörigen der Bourgeoisie von Handelsaktivitäten abhängig [waren], bei denen Sklaven in irgendeiner Form eine Rolle spielten“ (Buck-Morss 2011: 50), einen wichtigen Platz in der Wirtschaft Frankreichs ein. Die hier skizzierte Bedeutung der Kolonien für den französischen Handel und die Entwicklungen neuer Produktionsformen verdeutlicht, dass der bis in die Gegenwart bedeut‐ same gesellschaftliche, ökonomische, soziale und epistemologische Umbau, welcher zwischen 1650 und 1800 stattfand, nur unter Einbeziehung des Kolo‐ nialismus, der Plantagenwirtschaft und ihrer transnationalen und transatlanti‐ schen Zirkulationsbewegungen verstanden werden kann. Haiti und die Karibik als Ganzes können vor diesem Hintergrund, wie Hurbon schreibt, eine gewisse Vorzeitigkeit bei der Entfaltung der Moderne (vgl. Hurbon 2001a: 89) und in der Erprobung von Konvivenz und Kohabitation unter veränderten Bedin‐ gungen (d. h. Erfahrungen von Migration, Verschleppung und Entwurzelung; das Brüchigwerden tradierter Vergemeinschaftungen; das Zusammentreffen verschiedener Sprachen, Glaubenssysteme und Kulturpraktiken sowie die Her‐ 32 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="33"?> 31 Raphaël Confiant fasst das karibische Laboratoire humain folgendermaßen zusammen: „Nos îles sont quasiment un laboratoire humain, au sens où, dans chacune de ces îles, on a eu face-à-face des maîtres blancs […] et une population servile, majoritairement originaire d’Afrique […] L’unité caribéenne s’est donc formée, objectivement si l’ on peut dire, du fait de l’existence, dans chacune de ces lieux, de ce laboratoire humain avec une société de plantation” (Chamoiseau/ Confiant/ Ette/ Ludwig 1993 : 10 f.). 32 Diese Akkumulation beschreibt Eduardo Grüner: „The paradox should be clear. From this perspective, modern slavery was part of the process of global proletarianization, a process that would have been cut short if the bourgeoisie had had to depend entirely on the labour of Western European peasants. I do not mean to suggest that slaves were juridically proletarians; on the contrary, members of the proletariat are, crucially, ‘free’ under the law. I mean instead that slaves were linked to the proletariat because functionally they served the interests of capitalist expansion and accumulation. This was also the function of the proletariat: to produce an excess of value — an unlimited surplus value — that would allow for the equally limitless reproduction and expansion of the newly formed world-system” (Grüner 2020: 31). ausbildung neuer kultureller und konvivialer Formen) für sich beanspruchen. Im Anbetracht dieser Vorzeitigkeit gilt die Karibik vielen Theoretiker: innen wie Aimé Césaire oder Edouard Glissant als Laboratoire du colonialisme, La‐ boratoire humain (vgl. Chamoiseau/ Confiant/ Ette/ Ludwig 1993 : 10 f. ) 31 oder als Laboratorium der Moderne (vgl. Ueckmann 2014: 37). Olaf Breidbach und Hartmut Rosa sprechen vom Laboratorium als „exzeptionellem Reaktions- und Verdichtungsraum“ (Breidbach/ Rosa 2010: 14), eine Beschreibung, die auch auf die koloniale Karibik übertragbar ist. So kommen auf Saint-Domingue nicht nur Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und sprachlichen Hintergründen zusammen, vielmehr geschieht dieses Zusammentreffen in einer spannungsreichen gesellschaftlichen Konstellation unter dem Druck enormer Gewaltanwendung. Dementsprechend findet Verdichtung nicht nur im geogra‐ fischen Raum, durch die insulare Situation, sondern vor allem auch im sozialen Raum statt. Die Reaktionen, welche aus diesem Raum heraus entstehen, reichen von neuen Produktionsweisen und kapitaler Akkumulation; 32 über Techniken der Disziplinierung und der Subordination samt einer rassistischen Ideologie, welche diese Ungleichheit zu stützen vermag; über neue kulturelle Formen und neue Weisen des ZusammenLebens (Ette 2010a); hin zu Widerstandspraktiken und erfolgreichen Revolutionen. In einem solchen Zusammenspiel kann der Raum des Laboratoriums nicht nur als ein produktiv-schaffender Ort verstanden werden, sondern insbesondere auch als ein hochgradig destruktives, explo‐ sives und störanfälliges Gefüge. Eng verknüpft mit naturwissenschaftlichen Techniken der Wissensproduktion ist das Laboratorium zugleich ein Ort der menschlichen Kontrolle über die Natur (vgl. Jackson 2017: 244) und im Falle der Karibik auch über Menschen. Jene werden im kolonialen Laboratorium 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 33 <?page no="34"?> der Moderne durch mühevolle (Zwangs-)Arbeit diszipliniert, transformiert und verbraucht. Als Laboratorium und kolonialer Experimentalraum wird die Karibik zur Erprobung der Zukunft. Jene Maschinerie, welche die Moderne hervorbringt, wird dabei jedoch angetrieben von einem verzehrenden Motor. So zeigt sich das Plantagensystem auf den karibischen Inseln nicht nur als heterotopisches Laboratorium einer abstrakten Moderne, sondern konkret auch als ein Experiment an Menschen, die durch diese kollektive Erfahrung irreversibel und transgenerational traumatisch geprägt sind. Laboratorium, Zirkulation, Transfer und Transformation sind allesamt kennzeichnend für die Gleichzeitigkeit von Kolonialismus bzw. transatlantischen Sklav: innenhandel und Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Hinsichtlich dieser destruktiven Erfahrung der Moderne in der Karibik hebt Laënnec Hurbon mit Bezug auf Haiti hervor: Sur cette base, la modernité paraissait mériter une condamnation en bloc, sans reste. Et le seul repli sur ce que nous avons pu sauver de nos cultures […] semble nous servir d’abri précaire contre une modernité perçue comme une apocalypse. Ou alors, on s’épuise dans des lamentations ou des imprécations contre cette modernité dont on sait pourtant l’envahissement inexorable. Cette attitude finit par rendre aveugle par rapport à soi-même comme par rapport à la modernité. Or ne faudrait-t-il pas s’interroger sur les impasses d'une telle attitude, quand elle risque d’abandonner à l’Occident les capacités de s’approprier le monde et de l’habiter ? Plus précisément, n’y aurait-il pas des valeurs à portée universelle donc non attribuables à l’Occident, qu’il faudrait savoir reconnaître, en vue de nous mettre sur le chemin d’une réappropriation de notre espace sans pourtant tomber dans une relation mimétique par rapport à l’Occident ? (Hurbon 2001a: 88 f). Diese Fragen nach der Universalität von Werten und nach dem Platz, wel‐ chen nichthegemonialen Erfahrungen in der Modernität geschaffen werden kann, werden uns im weiteren Verlauf dieser Untersuchung im Hinblick auf Konfigurationen des Zusammenlebens immer wieder beschäftigen. Wie es bei Hurbon bereits anklingt, gilt es gleichwohl die kolonialisierten und versklavten Subjekte in einer Erzählung der Moderne nicht auf passive Opfer- und Neben‐ rollen festzuschreiben, sondern auch ihre Handlungsmacht und Widerstände zu erzählen. Kolonialisierte, Versklavte und andere marginalisierte Gruppen bewegen sich im kolonialen System nicht nur als Objektivierte, vielmehr sind sie immer auch als Akteur: innen, die Wissen weitertragen und bewahren, neue soziale Praktiken entwickeln, Widerstand und Zusammenleben organisieren und rebellieren, präsent. Zu diesen verschiedenen Formen des Widerstandes gehörten: ‘Suizide‘, Abtreibungen, Vergiftungen, Brandstiftung, Infantizide, Re‐ 34 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="35"?> 33 Ähnlich wie Alessandra Benedicty-Kokken in ihrem Buch Spirit possession in French, Haitian, and Vodou thought (vgl. Benedicty-Kokken 2015: 22), werde auch ich in dieser Arbeit die kreyòle Schreibweise für jene Konzepte und kulturelle Praktiken verwenden, die im haitianischen Kontext entstehen, um zum einen die Ursprünge zu verdeutlichen und zum anderen Differenzen abzubilden (z. B. zwischen dem haitianischen lougawou und dem europäischen loup-garou/ Werwolf) (vgl. Métraux 1958: 266 ff.). 34 Bona verweist ausdrücklich auf die Spuren der indigenen Bevölkerungen der Karibik : „Pour qui sait écouter, dans ‘cimarron’ résonne encore le cri des Taïno : ils furent les premiers à être réduits en esclavage, et donc les premiers cimarrones des Amériques. Les Africains déportés emprunteront les mêmes lignes de fuite que leurs devanciers amérindiens ; et les marronnages des uns et des autres s’alimenteront mutuellement. C’est justement pour célébrer la mémoire de ces premières résistances à la colonisation que les ‘jacobins noirs’ de Saint-Domingue baptisèrent leur nouvelle nation ‘Haïti’ (un des noms originels de l’île) “ (Bona 2016 : 26 f.). volten sowie eine Vielzahl kultureller Praktiken (Kampfkünste wie Capoeira und Damnyé, Arbeitsgesänge wie den Blues, afro-christliche Kulte wie Santeria und vodou  33 ), mit denen die Versklavten ihre humanité neu erfanden‘ (vgl. Bona 2016: 13). Dementsprechend trugen viele der Versklavten trotz der existentiellen, traumatischen Erfahrungen von Dehumanisation, gewaltsamer Verschleppung, Ausbeutung und Objektivierung, ihre Sprachen, Religionen und Lebensformen mit in die ‚Neue Welt‘ und bewahrten so Fragmente ihres kulturellen Gedächt‐ nisses, aus denen „neuartige Kulturen der Sklaverei“ (vgl. Osterhammel 2006: 30) hervorgingen. Diese Kulturen sind defensiv, widerständig und Ressource einer „afro-amerikanischen Erneuerung — nicht nur in den prekären Gemeinschaften geflüchteter Sklaven, der cimarrons oder marrons, sondern auch im Herzen der Sklavensysteme selbst“ (Osterhammel 2006: 30). Dementsprechend war es nicht nur das europäische Herrschaftswissen, welches weitergetragen und verändert wurde, auch indigenes Wissen (z. B. in dem Wissen um die Zubereitung von Maniok oder in der Wiedereinführung des indigenen Namens Ayiti) 34 und afrikanische Wissensbestände wurden übermittelt. Der Atlantik nimmt in diesem weltumspannenden Gefüge eine wesentliche Rolle ein und es ist der Verdienst des britischen Kulturtheoretikers Paul Gilroy mit seinem Konzept des Black Atlantic (1993) die Komplexität und Multidirektionalität Schwarzer Beziehungen über und durch den Atlantik jenseits nationalstaatlicher, afro-zen‐ trischer Festschreibungen theoretisch zu fassen und dabei auch ihre kulturelle Produktivität herauszustellen (vgl. Gilroy 1993: 16; Mayer 2005: 81). Wie Sergio Costa betont, muss Gilroys Black Atlantic durchaus als ein Komplement zu den Bewegungen des Slav: innenhandels und dessen Macht- und Herrschafts‐ beziehungen verstanden werden (vgl. Costa 2012: 153). Das spatiale Konzept begründet Vergemeinschaftung nicht mehr auf der Grundlage von Herkunft im Sinne von Roots (Wurzeln), vielmehr erfasst es sie als Routes, also auf 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 35 <?page no="36"?> 35 In ihrer Studie Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks (2008) betonen Peter Linebaugh und Marcus Rediker die Bedeutung der Plantage und des Schiffes sowohl für den Ausbau eines globalisierten, kapitalistischen Welthandels als auch als Orte des Widerstandes gegen dessen Praktiken der Disziplinie‐ rung, Verarmung und Ausbeutung (vgl. Linebaugh/ Rediker 2008: 351). Sie tragen damit, ähnlich wie Gilroy, ebenfalls zum Verfassen eines nicht hegemonialen Gegen-Diskurses über den Atlantik bei. Grundlage geteilter Erfahrungen und Bewegungen (vgl. Gilroy 1993: 19; Costa 2012: 153). Als Speichermedium (Ette 2010b: 29) eines diasporischen Gedächtnis (vgl. Mayer 2005: 81) und Ersatz für eine „dialogisch organisierte […] bürgerliche […] Öffentlichkeit“, von der Sklav: innen völlig ausgeschlossen waren, sind kulturelle Ausdrucksformen wie z. B. Musik und Tanz als „Ausdrucks- und Kommunikationsmedium“ (Costa 2012: 157 f.) im Rahmen des Black Atlantics unerlässlich. So verhandelt der Black Atlantic kritisch die Widersprüche und Brüche der Moderne (vgl. Costa 2012: 159), wie Gilroy verdeutlicht: The distinctive historical experiences of this diaspora’s populations have created a unique body of reflection on modernity and its discontents which is an enduring presence in the cultural and political struggles of their descendants today […] This discontinuous “tradition” has been occluded by the dominance of European and American writings elites whose loud modernist voices have dominated the clamour of philosophical and political discourse that reaches out from the eighteenth century to haunt us now. […] In other words, I am seeking to contribute to some reconstructive intellectual labour which, through looking at the modern cultural history of blacks in the modern world, has a great bearing on ideas of what the West was and is today (Gilroy 1993: 45). Post-koloniale Ansätze wie jener des Black Atlantic ermöglichen das schärfere Hervortreten von Rupturen und brechen so mit einer eindimensionalen Erzäh‐ lung vom Übergang in die Moderne. Gleichzeitig richten sie den Blick auf vergemeinschaftende Widerstandstechniken und Versuche der körperlichen Wiederaneignung gegen die offiziell verordnete und praktisch, in den Kolonien umgesetzten Verfahren der Dehumanisierung und Kapitalisierung Schwarzer Körper. 35 Wird vor dem Hintergrund der aufgezeigten transatlantischen Verwo‐ benheiten bedacht, dass auch in den Salons der Aufklärung Kaffee, Tabak, Rum oder Zucker konsumiert wurde, dass Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu durchaus Bewunderung für die Zuckerkolonien übrig hatte (vgl. Pečar/ Tricoire 2015: 117), Voltaire sein Vermögen zum Teil in die Compagnie des Indes Orientales investierte und damit am Kolonialismus verdiente, oder dass Rousseau in seinen Schriften überraschend schweigsam 36 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="37"?> 36 Edouard Grüner kommentiert diese ökonomischen Verwicklungen folgendermaßen: „The problem is thus not that the philosophes were timid or wavering, but rather that they understood the economic reality of their own century all too well, and the exigencies and needs of the social class that they represented. The colonial question is thus at the center of the economic problematics of the Enlightenment” (Grüner 2020: 143) die Existenz des Code Noir ausspart (vgl. Buck-Morss 2011: 52), so scheinen Aufklärung und Kolonialismus nicht mehr als Antagonismen derselben Epoche, sondern als auf enge Weise ökonomisch, 36 epistemologisch-philosophisch und politisch verwobene Phänomene. In diesem Zusammenhang muss die koloniale, außereuropäische Welt verstanden werden als imaginiertes Anderes, Projek‐ tionsfläche und Kontrastfolie, als Experimentierfeld und Laboratorium, als Quelle für ökonomischen Reichtum und intellektuelle Inspiration. Über die außereuropäische Welt bildeten sich zentrale Konzepte, aber auch politische und ökonomische Grundlagen für den Eintritt in die Moderne überhaupt erst heraus, wie Patterson schreibt: The idea of freedom and the concept of property were both intimately bound of with the rise of slavery, their very antithesis […] The joint rise of slavery and the cultivation of freedom was no accident. It was, as we shall see, a sociohistorical necessity (Patterson 1982: viii). Die vermeintliche Antithese zwischen aufklärerischen Freiheitsideal und Rea‐ lität der Sklaverei, jedoch nicht das dialektische Verhältnis, verliert einen großen Teil ihrer Kraft in dem Moment, indem wir die Aufklärung zum einen nicht als eindimensionalen, linearen Diskurs begreifen und zum anderen, wenn wir der Versuchung widerstehen, materielle Implikationen auszusparen. Mit dem Wissen um den transatlantischen Sklavenhandel als existentielle Erfahrung der Entmenschlichung und des Social Death (Patterson 1982) müssen wir lernen, aufklärerische Entwürfe zum Zusammenleben wie citoyennèté, contrat social oder Humanismus und Kosmopolitismus neu zu betrachten, zu hinterfragen und zu denken. Mit dem Wissen um die Haitianische Revolution als Befreiung aus der Sklaverei und Emanzipationsbewegung unterworfener Subjekte sind wir gefordert, Postulate wie Freiheit und Gleichheit in ihrer idealistischen, verge‐ meinschaftenden Kraft aber auch in ihrer materiellen Realisierung ebenfalls neu zu betrachten, zu hinterfragen und zu denken. Genau um diese Betrachtungen wird es im Folgenden gehen: Es wird zu zeigen sein, wie die Haitianische Revolution die Französische Revolution universalisierte und so repressive wie emanzipatorische Potentiale der Aufklärung sichtbar machte. Des Weiteren geht es um die Frage, wie die anti-kolonialen Kämpfe auf Saint-Domingue 1.1 Die Gleichzeitigkeit von Sklaverei und Aufklärung — Zirkulationen vor 1791 37 <?page no="38"?> 37 Bei dem Namen (libres) gens de couleur handelt es sich um einen historischen Begriff. Dieser wird hier vorrangig im Hinblick auf die Revolutionszeit verwendet. 38 In vielen Quellen und Texten ist die Rede von Haiti als erster Schwarzer Republik. Historisch gesehen jedoch ernannte sich Jean-Jacques Dessalines 1804 zum Kaiser, wie auch in der Verfassung von 1805 festgehalten ist, so dass der Begriff der Republik hier mit Einschränkungen zu verwenden ist (vgl. Bernecker 1996: 207). 39 Eduardo Grüner betont die Einmaligkeit der Haitianischen Revolution, als einzige erfolgreiche Revolution von Sklav: innen, die zugleich unerwartet und unvorstellbar war (vgl. Grüner 2020: 42). 40 Diese verschiedenen Perspektivierungen setzen jeweils unterschiedliche Faktoren und Akteur: innen ins Zentrum um die historischen Entwicklungen zu verstehen. Sie betonen die Rolle der Zirkulation von Ideen der Französischen Revolution (vgl. Fischer 2005; Nesbitt 2008); die Rolle afrodeszendenter Akteur: innen und der Gruppen entflohenen Sklav: innen, genannt marrons (vgl. Fick [1990] 2004); oder die historische Notwendigkeit materieller Gegebenheiten (vgl. James 2001; Grüner 2020). Einige Schriften zur Haitianischen Revolution greifen zudem stark auf rassistische Narrative und Stereotype zurück, wie u. a. Florence Gauthier, Carlo A. Célius und Yanick Lahens kritisieren (vgl. Célius 1997; Gauthier 2008; Lahens/ Pollmeier 2020). 41 Die Unterrepräsentation der Haitianischen Revolution durchläuft, so Anja Bandau, mit dem Haitian turn, d.h. der seit 2004 gestiegenen Zahl von Publikationen zu diesem Thema, einen Wandel, so dass „Trouillots These gerade von Historikern als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet wurde“ (Bandau 2020: 15 ff.). C.L.R James widmet sich mit The Black Jacobins von 1938 hingegen schon sehr früh einer umfassenden Analyse der Revolution in Saint-Domingue (vgl. James 2001). aufklärerische Konzepte aufgreifen, transferieren und in dem Kontext eines post-kolonialen Zusammenlebens transformieren und somit Ansätze für ein dekoloniales 21.-Jahrhundert bieten. 1.2 Aspekte der Haitianischen Revolution Die Haitianische Revolution (1791-1804), in welcher Schwarze Sklav: innen und (libres) gens de couleurs  37 über 13 Jahre lang, die Abschaffung der Sklaverei sowie die Unabhängigkeit Saint-Domingues von Frankreich erkämpften und mit Haiti die erste Schwarze Republik 38 begründeten, stellt ein globalgeschicht‐ lich „einzigartiges“ politisches Ereignis „von überragendem Interesse“ (Fischer 2001: 1121) dar. 39 In den über zwei Jahrhunderten, die seitdem vergangen sind, war die Haitianische Revolution immer wieder Gegenstand unterschiedlicher ‚Lektüren‘, welche bestimmte Aspekte fokussierten und auf dieser Grundlage die Revolution vor dem Hintergrund marxistischer, anti-kolonialer (vgl. James [1938] 2001) und liberaler Traditionen interpretierten oder gar in rassistisch-ko‐ lonialer Manier als gefährliche „Perversion der Idee der Befreiung“ (Fischer 2001: 1122) dämonisierten. 40 Neben, oder besser gesagt, vor 41 diesen Reinter‐ 38 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="39"?> 42 Agency kann als Handlungsmacht und -fähigkeit einer Gruppe oder Individuen ver‐ standen werden, die sich im Hinblick auf gesellschaftliche Machtstrukturen und Einflusssphären in einer marginalen Position befinden (vgl. Melber 2017 : 128). Agency impliziert dabei nicht notwendigerweise erfolgreiche Einflussnahme oder eine tatsäch‐ liche Veränderung von Ungleichverhältnissen und ist zudem relational und kontextuell eingebettet (vgl. Melber 2017). 43 Im Hinblick auf nicht-weiße Agency ist es unerlässlich, entgegen einiger eurozentri‐ scher Lesarten, zu betonen, dass die Revolution nicht nur auf die Nachwirkungen 1789 zu reduzieren ist (vgl. Grüner 2020; Armitage/ Gaffield 2016). pretationen und Aneignungen der Revolution stellte ihr Ausstreichen aus den Narrativen der (revolutionären) Moderne eine Konstante dar. Der Anthro‐ pologe Michel-Rolph Trouillot arbeitet diesen Mechanismus in seinem 1995 publizierten Werk Silencing the Past. Power and the production of history anhand zweier Tropen heraus: The first kind of tropes are formulas that tend to erase directly the fact of revolution. I call them, for short, formulas of erasure. The second kind tends to empty a number of singular events of their revolutionary content so that the entire string of facts, gnawed from all sides, becomes trivialized. I call them formulas of banalization (Trouillot [1995] 2015: 96). Diese Formen der diskursiven Auslöschung und Banalisierung stellen Versuche dar, ein Ereignis ‚zum Schweigen zu bringen‘, welches zum Zeitpunkt seines Geschehens undenkbar („unthinkable“, vgl. Trouillot 2015: 95) scheint. Durch jene machtvolle Aussparung gelingt es nicht nur koloniale Narrative der Geschichtslosigkeit und der Barbarei weiterzuerzählen, sie erleichtert auch eine eurozentrische, hegemoniale Erzählung der Befreiung fortzuschreiben, in welcher Widersprüche nur als nachträgliche, an die Epoche der Aufklärung herangetragene erscheinen und in der radikaler, anti-kolonialer Widerstand und emanzipatorische Agency  42 nicht vorkommen. 43 Entgegen jedweder kolo‐ nialen Einverleibungen lese ich die Haitianische Revolution als anti-koloniales Gründungsmoment, als Universalisierung von 1789, vor allem aber als eine historische Etappe, in der wirkmächtig aus einer marginalisierten Position Anspruch auf eine radikale Neuordnung des Zusammenlebens erhoben wurde. Als gesellschaftlich und politisch radikalste Revolution in den Amerikas (vgl. Grüner 2020: 57 f.) stellte die Haitianische Revolution eine grundlegende Trans‐ formation der dominanten sozialen, politischen, ökonomischen, ideologischen und kulturellen Strukturen dar, die entscheidend für die Moderne war. Schauen wir auf die demografischen und politischen Begebenheiten in Saint-Domingue am Vorabend der Französischen Revolution, so bestand der Großteil der Bevöl‐ kerung aus ungefähr einer halben Million Schwarzen Sklav: innen, die auf den 1.2 Aspekte der Haitianischen Revolution 39 <?page no="40"?> 44 Weder die weiße Minderheit noch die affranchis stellten homogene Gruppen dar (vgl. Bénot 2005b). So setzte sich erstere aus den grand blancs d.h. den reichen Plantagenbesitzern, Händlern und Verwaltungsfunktionären und den besitzlosen petit blancs zusammen (vgl. Lammel 2015: 27), die unterschiedliche Interessen vertraten und daran geknüpft eher das Ancien Régime oder die Revolution unterstützen, wobei diese politischen Lager im Verlaufe der Revolution durchaus Brüche und Wechsel durchliefen (vgl. Gliech 2008: 57). Über die Gruppe der affranchis schreibt Florence Gauthier : „Il y avait deux groupes d’affranchis. Les ‘libres de savane’ qui, n’ayant pas de reconnaissance juridique, ne pouvaient quitter la plantation. Ils travaillent alors ‘librement’ sur et pour la plantation comme artisans ou cultivateurs. En plus, l’absence de titre juridique faisait de leur liberté un bien personnel non héréditaire et ils pouvaient être remis en esclavage au gré de leur maître. Par contre l’affranchi qui avait un titre de manumission enregistré devant notaire, car c’était un titre de propriété de sa personne, pouvait quitter la plantation, s’installer en ville et faire hériter sa descendance“ (Gauthier 2008 : 24). 45 Die Aufstände in Saint-Domingue waren beileibe nicht die einzigen Insurrektionen in der Karibik der Revolutionszeit, auch in Martinique, Jamaika und Saint-Lucie kam es zu Erhebungen (vgl. Bénot 2005a). Plantagen schufteten und denen eine, hauptsächlich städtische, weiße Minder‐ heit von 30.000 Personen 44 gegenüberstand (vgl. Lammel 2015: 26). Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Bevölkerungsgruppen existierten des Weiteren die affranchis, in der Mehrheit Freie mit afro-eurodeszendenter und vereinzelt afrodeszendenter Herkunft (vgl. Lammel 2015), die ebenfalls um die 30.000 Personen umfasste. Die Bevölkerung Haitis bestand folglich aus verschiedenen sozialen Gruppen: Schwarze Sklav: innen, libres gens de couleurs sowie arme petit blancs und reiche grand blancs, die in einem gewaltsamen Kontext ungleicher Besitzverhältnisse, Lebensbedingungen und Rechte zusammenlebten, welcher notwendigerweise politische Spannungen hervorbrachte. Die Entladung dieser Spannungen 45 erfolgte im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Paris. Denn als dort 1789 die Generalstände ausgerufen wurden, geriet der Umstand, dass die affranchis zwar durch den Besitz von Plantagen und Sklav: innen wirtschaftlichen Einfluss besaßen, aber ungeachtet dessen nicht im Besitz vollständiger politischer und bürgerlicher Rechte waren, zur Initialzün‐ dung. Während den weißen Plantagenbesitzern daran gelegen war, Saint-Do‐ mingue gänzlich durch weiße Abgeordnete zu repräsentieren, verfolgte die abolitionistische Organisation Société des Amis des Noirs, zu deren Mitgliedern u. a. Henri Grégoire und der Marquis de Condorcet gehörten, das Ziel den Einfluss der weißen Sklavenhalter mit dem Argument, dass diese unmöglich die libres gens de couleurs und die Sklav: innen repräsentieren könnten, zurück‐ zudrängen (vgl. Fischer 2001: 1123). Im Zuge der Auseinandersetzungen treten die Verwebungen von Eigentum, Freiheit, Bürgerrechte und epidermischen Logiken des Ausschlusses in der neu entstehenden post-feudalen Gesellschaft 40 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="41"?> 46 So beschränkte Vincent Ogé seine Forderungen auf die Gleichstellung zwischen weißen und nicht-weißen Maîtres, plädierte für die Einigkeit der Besitzenden angesichts möglicher Sklav: innenaufstände und für eine erleichterte Freilassung der kreolen Sklav: innen, von der die Schwarzen versklavten bossales jedoch ausgenommen waren. Julien Raimond hingegen, wie Ogé ebenfalls Mitglied der Société des Citoyens de Couleurs, vertrat die Meinung, dass die libres de couleurs niemals die rechtliche Gleichstellung erlangen würden, da der préjugé de couleur in direktem Zusammenhang mit der Sklaverei stand und dass, die citoyens de couleur sich stattdessen auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu beziehen hatten, um die koloniale Sklavenhaltergesellschaft anzugreifen (vgl. Gauthier 2008: 28 f.). 47 Die genaueren Zusammenhänge sowie die unterschiedlichen Etappen der Aushand‐ lungen zwischen den Revolutionären in Paris sowie den unterschiedlichen Interessen‐ gruppen der Kolonien, kann an dieser Stelle nur verkürzt wiedergegeben werden. Für detaillierte Betrachtungen siehe James [1938] 2001; Bénot 2005; Dubois 2005; Lammel 2015 und Grüner 2020. 48 Insbesondere der vodou spielte „bei der Vorbereitung sowie der Verbreitung des Aufstandes […] eine wichtige Rolle“ (Lammel 2015: 31), aber besaß auch eine wichtige Funktion als vergemeinschaftendes Element und als „Verständigungssystem, um ein gleichzeitiges Losschlagen beim Aufstand zu ermöglichen“ (Lammel 2015: 31). Darüber‐ hinausgehend muss der vodou auch in seiner Bedeutung als politisches Denksystem begriffen werden, wie Alessandra Benedictty-Kokken in Spirit possession in French, Haitian, and Vodou thought. An intellectual history (2015) detailliert herausarbeitet. offen zu Tage (vgl. Fischer 2001: 1123). So sind es zunächst konkrete Fragen von Bürgerrechten und Eigentumsverhältnissen und nicht grundsätzliche For‐ derungen nach Abschaffung von Sklaverei und Plantagenwirtschaft, 46 welche die Debatten im revolutionären Frankreich anheizten. Nachdem die Forderung der afro-eurodeszendenten Gesandtschaft unter Vincent Ogé nach bürgerlicher Gleichstellung scheiterten (vgl. Lammel 2015: 29 f.), 47 entflammten ab 1790 erste bewaffnete Aufstände unter der Führung Ogés und Jean-Baptiste Chavannes (vgl. Bénot 2005b; Lammel 2015: 29); diese wurden niedergeschlagen und die beiden Anführer hingerichtet.Während in Paris unterschiedliche revolutionäre und reaktionäre Gruppen über die Zukunft Saint-Domingues und der Sklaverei debattierten, schuf der Aufstand der Sklav: innen in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1791 Fakten. Die der bewaffneten Erhebung vorausgehende Zeremonie vom Bois Caiman in der Nähe von Cap Haïtien im Norden der Insel, bei der sich unter Leitung der vodoupriester: innen Dutty Boukman und Cécile Fatiman Sklav: innen aus den umliegenden Plantagen zusammenfanden, illustriert, dass kulturelle und politische Praktiken aus dem afrikanischen Erbe der Versklavten für die Revolution ebenso von Bedeutung waren wie Konzepte der Aufklärung. 48 Angesichts anhaltender Kämpfe sendet die Assemblée in Paris im April 1792 eine Kommission unter der Führung von Léger-Félicité Sonthonax in die umkämpfte Kolonie, betraut mit der Aufgabe den Aufstand 1.2 Aspekte der Haitianischen Revolution 41 <?page no="42"?> 49 Die Kulturwissenschaftlerin Isabell Lammel hat dem Mythos um Toussaint Louverture ein Buch gewidmet, in welchem sie sich mit der Präsenz Louvertures in der franzö‐ sischsprachigen Literatur auseinandersetzt (vgl. Lammel 2015). 50 Die historischen Vorgänge werden hier verknappt und damit nur unter Reduktion auf einige zentrale historische Entwicklungen aufgegriffen, so wird u. a. die Rolle der Konkurrenz zwischen den verschiedenen imperialen Mächten Frankreich, England und Spanien vernachlässigt (vgl. James 2001; Lammel 2015; Grüner 2020). der Sklav: innen niederzuschlagen und zugleich die politischen Rechte der freien gens de couleurs anzuerkennen (vgl. Gauthier 2008: 31 f.). Während, so schreibt Sybille Fischer, der französische Kommissar und Jakobiner Sonthonax sich „mit den Mulatten gegen die weißen Royalisten mit dem Ziel, Saint-Domingue in einen republikanischen Außenposten zu verwandeln“ (Fischer 2001: 1124), verbündet, übernimmt der ehemalige Sklave Toussaint Louverture die Führung der revolutionären Schwarzen Truppen (vgl. Fischer 2001; Lammel 2015). 49 Seinen Truppen gelingt es durch politisch wie militärisch geschicktes Vor‐ gehen die Revolution zu verteidigen und am 4. Februar 1794 erklärt die fran‐ zösische Assemblée die Sklaverei in einem Dekret für abgeschafft. 50 Im Mai 1801 konsolidiert Louverture mit einer Verfassung seine Macht (vgl. Lammel 2015: 41) und etabliert eine Präsidialautokratie, in der Frankreich nur noch formaler Einfluss zukommt. Das vormalige Plantagensystem hingegen wird, trotz Abschaffung der Sklaverei, in eine Art Zwangsarbeitssystem überführt, welches den wirtschaftlichen Erfolg sichern soll. Dieser caporalisme agraire (vgl. Trouillot 1990: 43) bringt Louverture vehemente Kritik und bewaffnete Aufstände ein (vgl. Dubois 2005: 256; Lammel 2015: 81 f.), ermöglicht jedoch zugleich die militärische Aufrüstung, welche angesichts des Risikos der Invasion durch konterrevolutionäre und kolonialistische Mächte, unvermeidlich scheint. Mit der Machtübernahme Napoleon Bonapartes wird diese Gefahr Realität: Bonaparte […] se présentait comme l’artisan du nouvel empire colonial français et avait annoncé sa volonté de mettre fin à la révolution de l’égalité de l’épiderme […] Bonaparte avait annoncé que la liberté générale n’était plus un principe constituant, mais une simple concession du gouvernement français (Gauthier 2008 : 38 f.) Gegenüber dem erneuten Erstarken kolonialer Ansprüche durch Napoléon bekräftigt Louverture erneut seine Bereitschaft die Revolution zu verteidigen, deren universellen Anspruch er in den folgenden Worten deutlich zum Aus‐ druck bringt: Ce n’est pas une liberté de circonstance concédée à nous seuls que nous voulons, c’est l’adoption absolue du principe que tout homme né rouge, noir ou blanc ne peut être la propriété de son semblable (Gauthier 2008 : 39). 42 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="43"?> 51 Es ist in diesem Kontext von Interesse, dass Napoleons Ehefrau Joséphine de Beau‐ harnais, geborene Marie Josephine Rose de Tascher de la Pagerie, Tochter eines Zuckerrohrplantagenbesitzers von Martinique war und somit enge Verbindung zwi‐ schen den Kreisen der colons und Napoleon bestanden (vgl. Lammel 2015: 44). In der martinikanischen Hauptstadt Fort-de-France befand sich auf dem zentralen Platz La Savane lange Zeit eine Statue von Joséphine. Nachdem die Statue 1991 bereits ‚geköpft‘ worden war, wurde sie im Juli 2020 endgültig durch Aktivist: innen gestürzt (vgl. Woods 2020). 52 Kommandeur dieser kolonialen Unternehmung war der Ehemann von Napoleons Schwester Pauline, Charles-Victor-Emmanuel Leclerc, der bereits zehn Monate später dem Gelbfieber erlag (vgl. Lammel 2015: 5). 53 Der 01. Januar gilt in Haiti weiterhin als Unabhängigkeits- und Feiertag in Haiti. Wenig überraschend ändert die radikale Berufung auf das Prinzip der Freiheit nichts an den imperialen Machtinteressen Frankreichs 51 und im Januar 1802 landet eine von Napoléon entsandte militärische Expedition mit dem Auftrag die Kolonien zurückzuerobern und die Sklaverei wieder einzuführen auf His‐ paniola (vgl. Gauthier 2008: 39; Lammel 2015: 44). Nach mehreren Kämpfen und Verhandlungen wird Louverture am 7. Juni 1802 festgenommen und im Anschluss daran nach Frankreich überführt, wo er bis zu seinem Tod im April 1803 im Fort de Joux im Jura im Gefängnis zubringt (vgl. Dubois 2005: 277 ff.). Ungeachtet der Verhaftung Louvertures formiert sich ab Oktober 1802 unter Alexandre Sabès Pétion, Augustin Clervaux, Henri Christophe und Jean-Jacques Dessalines erneut militärischer Widerstand (vgl. Lammel 2015: 49 ff.; Gauthier 2008: 39). 52 Dieser führte Ende Oktober 1803 zur Flucht der französischen Armee und zur Proklamation Saint-Domingues, unter dem Namen Haiti, zur ersten Schwarzen Republik durch Dessalines in Gonaives am 01. Januar 1804 (vgl. Lammel 2015: 51). 53 Trotz dieses bemerkenswerten Erfolges fand das anti-koloniale Staatsprojekt in einer Welt unter der Hegemonie kolonialer und imperialistischer Staaten wenig Anerkennung und Unterstützung. Tatsächlich ‚bestrafte‘ Frankreich die Unabhängigkeit seiner ehemaligen Kolonie mit hohen 1.2 Aspekte der Haitianischen Revolution 43 <?page no="44"?> 54 Diese Schuldenlast erwuchs u.-a. aus dem Embargo, welches Frankreich nach der Nie‐ derlage gegen den Karibikstaat 1804, unterstützt von den anderen Kolonial- und Han‐ delsmächten, verhängte (vgl. Pollmeier 2020a: 25). Auf diese Weise wurde „die damals ertragreichste Kolonie Amerikas“ aus Sorge vor der Wirkung, die die Unabhängigkeit auf die anderen Kolonien haben könnte, abgeschottet (vgl. Pollmeier 2020a: 25 ff.). „Als Preisdafür, dass Haiti wieder am Welthandel teilnehmen kann, verlangte Frankreich Ersatz für den verlorengegangenen Besitz, inklusive der Sklaven, die man wie Objekte in die Verlustrechnung der französischen Plantagenbesitzer einbezog. Um also als Staat anerkannt zu werden […] willigte der damalige haitianische Präsident Jean-Pierre Boyer ein, 150 Millionen Gold-Francs, d. h. über 300 Prozent des haitianischen Nationalein‐ kommens von 1825 (heute ca. 40 Milliarden Euro), Reparationsleistung an Frankreich zu zahlen“ (Pollmeier 2020a: 25 f.). Haiti konnte diese angebliche Schuld gegenüber Frankreich erst in den 1950er Jahren begleichen und die langjährige Schuldenlast hatte enorme ökonomische Auswirkungen auf die Entwicklungen des Staates (vgl. Pollmeier 2020a: 29). Der Wirtschaftswissenschaftler Simon Henochsberg hat zu den Auswirkungen dieser ‚Schuldenpolitik‘ 2016 eine Studie vorgelegt und in dem kürzlich erschienenen Sammelwerk Haïti-France. Les chaînes de la dette : le rapport Mackau (1825). wird nachvollzogen, warum der haitianische Präsident Jean-Pierre Boyer die Reparationszahlungen akzeptierte (vgl. Bruffaerts/ Dorigny/ Gaillard 2021). Reparationszahlungen, deren Schuldenlast den Karibikstaat für lange Zeit belasten sollte. 54 Die Haitianische Revolution als Universalisierung von 1789 Die materiellen Entwicklungen der Postrevolutionszeit beiseite lassend wenden wir uns im Folgenden der konzeptuellen Bedeutung der Revolution zu, die einer „radikale[n] Intervention innerhalb der aufklärerischen Ordnung“ (Nesbitt 2010: 229) gleichkam: Les Haïtiens n‘ont pas seulement répliqué à la Déclaration des Droits de l’homme et du citoyen de 1789 en la transplantant sous les latitudes tropicales; c’est précisément dans la transformation de ce texte qu’ils ont fait preuve d’une autonomie conceptuelle (Nesbitt 2010: 229). Wie bereits deutlich wurde, legte die Gleichzeitigkeit von Freiheits- und Gleich‐ heitsidealen einerseits und Sklaverei andererseits, schnell den Partikularismus einer als universell propagierten Französischen Revolution offen. Die Selbstbe‐ freiung der Sklav: innen und die Errichtung einer neuen politischen und sozialen 44 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="45"?> 55 Dieses Potential eines universellen Anspruchs ermöglicht Kritik aber auch Forde‐ rungen, welches widerständige Partikularismen nur sehr bedingt bereitzustellen ver‐ mögen: „Andererseits ist die Idee der Gleichheit, einmal ausgesprochen, als Horizont nicht mehr aufzuhalten. Sie markiert die Möglichkeit, Gleichheit zu reklamieren. Doch diese Reklamation konnte weder im Fall der Frauen oder der ArbeiterInnen noch im Fall der Schwarzen im Parlament entschieden werden. Gleichheit konnte in allen Fällen nur durch reale Kämpfe reklamiert werden“ (Sternfeld 2007: 3). Ordnung im Geiste allgemeingültiger Freiheit und Gleichheit attackierte hege‐ moniale Grenzziehungen und rekonfigurierte diese Konzepte: 55 Die Sache der Revolution, der Befreiungskampf in San Domingo radikalisiert die Be‐ griffe „Freiheit“ und „Gleichheit“. Indem er sie universalisiert und auf jene anwendet, für die sie nicht gelten sollten, gibt er ihnen eine neue Bedeutung und verleiht ihnen ihre eigentliche Kraft (Sternfeld 2007: 3). Nora Sternfeld interpretiert in Anlehnung an Ernesto Laclaus Überlegungen in Emancipations (1996), in welchem der Philosoph das Spannungsverhältnis zwischen Partikularismus und Universalismus verhandelt, die Haitianische Revolution als Universalisierung der Französischen Revolution. Indem die Haitianische Revolution die hegemonialen Verhältnisse in Frage stellte (vgl. Sternfeld 2007: 4), kann sie als Kritik an dem eurozentrischen Universalismus — als „ein zu einem bestimmten Zeitpunkt dominant gewordenes Partikulares“ (Laclau [1996] 2007: 52) — betrachtet werden, die jedoch den Anspruch auf Universalität nicht verwirft: Wie wir gesehen haben, war Eurozentrismus das Ergebnis eines Diskurses, der nicht zwischen den universalen Werten, für die der Westen eintrat, und den kon‐ kreten sozialen Agenten, die sie inkarnierten, unterschied. […] Wenn soziale Kämpfe neuer sozialer Agenten zeigen, daß die konkreten Praktiken unserer Gesellschaft den Universalismus unserer politischen Ideale auf begrenzte Bevölkerungssektoren beschränken, wird es möglich, die universale Dimension zu bewahren, während man ihre Anwendungsgebiete erweitert (Laclau 2007: 63). Wird Laclaus Auffassung gefolgt, so können die Revolutionär: innen Saint-Do‐ mingues als neue soziale Agent: innen verstanden werden, die die Universale Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sowie die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit von ihrer Limitiertheit auf weiße Europäer: innen befreiten, indem sie diese konsequent auf (libres) gens des couleurs und Sklav: innen anwandten. Indem die revolutionären Massen von Saint-Domingue als Erste einen radikalen Antirassismus und die Abschaffung der Sklaverei propagierten (vgl. Nesbitt 2010: 230), schrieben sie diese Ziele und Werte in einen neuen, erweiterten 1.2 Aspekte der Haitianischen Revolution 45 <?page no="46"?> 56 Sternfeld unterstreicht die Agency der revolutionären Gruppen der Haitianischen Revolution, wenn sie schreibt: „Zwischen dem Moment der Rebellion […] und jenem des Unabhängigkeitskrieges […] nahm die Revolution in San Domingo für wenige Jahre eine universalistische Perspektive ein und solidarisierte sich mit dem jakobinischen revolutionären Frankreich. […] Wenn die Revolution in Haiti jedoch Teil der Französi‐ schen Revolution wurde […] dann, weil Toussaint Louverture und seine Truppen sich im Mai 1794 dafür entschieden und nicht, weil ihnen irgendjemand aus Frankreich die Revolution gebracht oder beigebracht hätte“ (Sternfeld 2007: 5). 57 So findet in der französischen Verwendung des Begriffes constitution im Laufe des 18. Jahrhunderts ein Wandel statt, in dessen Zuge der Begriff im Sinne einer ordnenden Staats- und Gesellschaftsverfassung an Bedeutung gewinnt (vgl. Schmale 1992: 33). Diese Entwicklung wurde in Frankreich vor allem stark von Montesquieus De l'esprit des lois (1748) beeinflusst. Dessen Publikation sowie Diskussionen um die englische Verfassung ließen den Begriff zu einem der politischen Schlüsselbegriffe aufsteigen (vgl. Schmale 1992: 34 f.). Interessant ist hierbei u. a., dass der Begriff unter den verschiedenen sozialen Schichten Verbreitung fand (vgl. Schmale 1992: 38). 58 Dabei bewegt sich der Begriff gegen 1789 hin, zunehmend in einem Spannungsfeld zwischen natürlich-rechtlicher bzw. gewohnheitsrechtlicher und positiv-rechtlicher Ordnung, welches auch in der Frage der Verschriftlichung der Verfassung einhergeht Universalismus ein (vgl. Sternfeld 2007). 56 Das Universelle an sich besitzt weder bei Laclau noch bei Sternfeld einen abgeschlossenen Inhalt, „sondern ist der immer zurückweichende Horizont, der aus der Ausweitung einer unbegrenzten Kette äquivalentieller Forderungen resultiert“ (Laclau 2007: 63). Im Sinne einer dynamischen Leerstelle bleibt seine Realisierung damit „ebenso unmöglich wie ermöglichend“ (Sternfeld 2007: 4), wie Nora Sternfeld weiter ausführt: Aus der Perspektive Laclaus muss sich jeder Partikularismus, wenn er auf Hegemonie zielt, für seine Kämpfe dieses universalistischen Horizonts bedienen […] Wesentlicher Bestandteil dieser Kämpfe ist eine Infragestellung der hegemonialen Verhältnisse, die die Definitionsmacht über den Universalismus innehaben (Sternfeld 2007: 4). Die Universalisierungsbewegung, welche sich in der Haitianischen Revolution deutlich manifestiert und im Zuge derer abstrakte Konzepte durch die Realität sozialer Kämpfe erweitert und rekonfiguriert werden, ist von hoher Relevanz, wenn wir uns konkreten Konzepten der Aufklärung im Kontext Haitis, wie im Folgenden der citoyenneté, zuwenden. 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 Revolution und die Etablierung einer neuen Ordnung erfolgen sowohl 1789 als auch 1804/ 5 in Form von Verfassungen (vgl. Baker 1996; Dann 2015). 57 Als schriftliche Gründungsdokumente 58 legen Verfassungen Rahmenbedingungen 46 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="47"?> (vgl. Schmale 1992: 43): „Das Problem der Schriftlichkeit zeigt eine Veränderung der Bedeutungsstruktur an: Schriftlichkeit meint nicht nur die Positivierung von verfas‐ sungsrelevantem Recht und Gesetz, sondern die Zusammensetzung der Verfassungs‐ regeln in einem Dokument, der charte constitutionelle. Dieses Dokument reflektiert nicht einfach eine bestehende Verfassung, sondern setzt sie neu […] indem es endgültig definiert, ggf. ausgrenzt, jedenfalls entscheidet“ (Schmale 1992: 43). 59 Ich werde im Nachfolgenden vorzugsweise den Begriff citoyenneté verwenden, da die deutschen Übersetzungen Staatsbürgerschaft, Staatsangehörigkeit oder Bürgerschaft, die Dimension aktiver, politischer Teilhabe, die Teil des französischen Begriffes ist, nicht abbilden (vgl. Balibar 2012: 8). 60 So schreibt Lyonel Trouillot im Hinblick auf die Verfassungspräambel von 1987: „[Le] préambule qui pose justement (enfin ! ) la question du comment vivre ensemble et introduit à la base même du politique des valeurs humaines et sociales“ (Trouillot 2017 : 60). 61 Tatsächlich beendet erst die Konstitution von 1987 den Ausschluss der bäuerlichen Bevölkerung von der citoyenneté, wie Hurbon verdeutlicht: „La Constitution du 29 mars 1987 représentait certes déjà un pas considérable dans la transition démocratique. Elle proclame les droits fondamentaux pour chaque Haïtien, rompt avec la tradition qui marginalise les paysans, fait d’eux des citoyens à part entière, reconnaît la langue créole comme langue officielle au même titre que le français, sépare l’armée de la police et limite les pouvoirs du président. En particulier, la Constitution, nous l'avons vu, a confié le soin d'organiser les élections à un Conseil électoral indépendant, puis éloigne des fonctions électives les Tontons macoutes connus et les personnalités qui ont contribué au renforcement du régime duvaliériste“ (Hurbon 2001b: 78 f.). 62 Dieser Bruch erweist sich jedoch als weniger radikal als häufig angenommen, wie Michel-Rolph Trouillot in Haïti, state against nation (1990) oder Carlo A. Célius in Le contrat social haïtien (1998) insbesondere im Hinblick auf den Ausschluss der Landbevölkerung nachweisen. des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens fest und geben Auf‐ schluss über das, der, meist nationalen, Vergemeinschaftung, zugrundeliegende Wertesystem. Die Frage der citoyenneté  59 ist in all jenen Punkten zentral, denn an sie sind Vorstellungen des sozial erwünschten Verhaltens, Rechte und Pflichten des Individuums gegenüber der Gruppe ebenso geknüpft, wie über sie auch der Zugang zu dieser imaginierten Gemeinschaft geregelt ist. Die Bedeutung, welche der citoyenneté in der Französischen Revolution zukam, lässt sich daran ablesen, dass die Anrede ‚citoyen‘ eine Zeit lang andere Formen der Anrede ersetzte (vgl. Wallerstein 2003: 650). Aber auch in der ersten Verfassung Haitis 1805 und für den politischen ‚Neuanfang‘ nach der Diktatur 1987 60 bleiben Fragen der citoyenneté relevant. 61 Zeitlich klar zu verorten markiert die erste haitianische Verfassung von 1805 einen Bruch mit vorherigen Ordnungen, 62 indem sie eine neue Form des gesellschaftlich-politischen und sozialen Zusam‐ menlebens festschreibt und deren Grundlagen expliziert und materialisiert, wie Fischer kommentiert: 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 47 <?page no="48"?> 63 Dass die Verfassung von 1805 auch heute noch Inspiration für politisches Denken bietet, zeigt sich in aktuellen Debatten: Dany Laferrière bezieht sich in seiner Rede auf Dessalines und die Verfassung von 1805 (Laferrière 2020a) und auch Yanick Lahens hebt in ihrer Leçon inaugurale am Collège de France die Einmaligkeit der ersten Verfassung hervor (vgl. Lahens 2019: 29 ff.; Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957). No documents articulate more clearly the revolutionary nature of the new state, the radically syncretistic modernity of its ideological origins […] At a time when eighteenth-century racial taxonomies were beginning to mutate into racist biology and scientific racism, the Haitian constitution take the opposite direction and infuse distinctions of skin color with political meaning. In doing so, they enter into a difficult realm where universalist ideas of the equality of the races and identity-based claims of past injustices and future redemption need to be negotiated (Fischer 2005: 227 f.). Fischer nimmt hier direkten Bezug auf die Constitution de 2 mai 1805, welche als Constitution impériale die Grundzüge des haitianischen Staates unter Dessa‐ lines als ersten Kaiser Haitis skizzierte, jedoch dessen gewaltsamen Tod 1806 nicht überdauerte. Obwohl es sich bei dem Dokument eindeutig nicht um die Begründung einer demokratischen Republik handelt, so zeigen einige Artikel doch innovative und produktive Perspektive auf citoyenneté auf: 63 Article 2. L'esclavage est à jamais aboli. Article 3. Les citoyens haïtiens sont frères entre eux; l'égalité aux yeux de la loi est incontestablement reconnue, et il ne peut exister d'autre titre, avantages ou privilèges, que ceux qui résultent nécessairement de la considération et en récompense des services rendus à la liberté et à l'indépendance. […] Article 8. La qualité de citoyen haïtien est suspendue par l'effet des banqueroutes et faillites. Article 9. Nul n'est digne d'être Haïtien, s'il n'est bon père, bon fils, bon époux, et surtout bon soldat (Maury 2010b). Während Artikel 2 und 3 an dem universellen Anspruch der Revolution fest‐ halten und auf die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verweisen, werden in Artikel 8 und 9 die materiell-bürgerlichen Einschränkungen dieses Anspruchs deutlich. Diese Einschränkungen entsprechen der bürgerlichen Pro‐ venienz politischer Vergesellschaftungskonzepte in der Französischen Aufklä‐ rung, in denen trotz der erklärten Gleichheit ihrer Bürger: innen vor dem Gesetz der bürgerliche Status und die Ausübung positiver Freiheiten an Besitz und 48 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="49"?> 64 Sibylle Fischer merkt an, dass die Konstitution von 1805 in ihrer Form eher einer Unabhängigkeitserklärung als einer tatsächlichen Staatsverfassung nahekommt und zudem eine große Diskrepanz zwischen den formulierten Ansprüchen und Wünschen und der politischen und der rechtlichen Realität vorherrschte (vgl. Fischer 2005: 228 f.). 65 Diese lautet : „En face de la nature entière dont nous avons été si injustement et depuis si longtemps considérés comme les enfants réprouvés, Déclarons que la teneur de la présente Constitution est l'expression libre, spontanée et invariable de nos cœurs et de la volonté générale de nos constituants, la soumettons à la sanction de Sa Majesté l'empereur Jacques Dessalines, notre libérateur, pour recevoir sa prompte et entière exécution“ (Maury 2014a). 66 Diese Verbindung ist insofern nicht überraschend, als häufig ein starker Einfluss Rousseaus und seiner gesellschaftstheoretischen Schriften — insbesondere des contrat social (vgl. Manin 1996: 1308) — auf die Französische Revolution und den Jakobinismus betont wurde und die Revolutionär: innen von Saint-Domingue als Black Jacobins in dieser politischen Tradition gesehen werden (vgl. James 2001; vgl. Nesbitt 2008). Dass sich das Verhältnis von Rousseaus Ideen und der Französischen Revolution als durchaus wechselhafter erweist, arbeitet Manin heraus (vgl. Manin 1996). 67 Erschien zunächst 1755 als Artikel unter dem Titel „Economie politique“ in der Encyclopédie. 68 So ‚kreolisiert‘ die politische Theoretikerin Jane Anne Gordon Rousseaus politischen Ansätze, in dem sie diese mit den Schriften Frantzs Fanons zusammenbringt (vgl. heterosexuelle, kämpferische Männlichkeit geknüpft bleibt, wie Mimi Sheller herausarbeitet: As legal systems were modified to abolish slavery, to enfranchise the freed, and eventually to protect their civil rights, they did not necessarily undo the underlying principles of individual property that governed constraint and freedom. The questions of violations of the body, sexual rights, reproductive rights, and the protection of the child remained embroiled in institutionally embedded practices of racial subordination […] and patriarchal power (Sheller 2012: 252). Insofern stellt die erste Verfassung — selbst in ihren Direktiven 64 — keinesfalls die Verwirklichung universeller Freiheit und Gleichheit dar, sondern trägt die patriarchalen und bürgerlichen Implikationen der citoyenneté, wie wir sie auch bei Rousseau finden, weiter. Dass die constitution impériale durchaus in dieser Tradition des Gesellschaftsvertrages steht, verdeutlicht auch ihre Präambel 65 (vgl. Fischer 2005: 231). 66 Unabhängig von einer tatsächlichen transatlantischen Rezeption Rousseaus politiktheoretischer Schriften bieten insbesondere Du contrat social ou Principes du droit politique (1762) und der Discours sur l’Economie politique (1755), 67 welche prominent und umfassend die Umrisse einer bür‐ gerlichen (republikanischen) Gesellschaftsordnung zeichnen, wichtige Ansatz‐ punkte um Kernkonzepte der Aufklärung wie citoyenneté, Gesellschaftsvertrag und (bürgerliche) Freiheit zu erfassen. 68 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 49 <?page no="50"?> Gordon 2014). Der Band Creolizing Rousseau (2015) bietet weitere Anknüpfungspunkte für eine aktualisierte, post-koloniale Rousseau-Lektüre (vgl. Gordon/ Roberts 2015). 69 Gleichwohl, und dieser Punkt ist von besonderer Wichtigkeit, richtet sich diese Kritik in den meisten Fällen gegen abstrakte, individualisierte und antike Formen von Sklaverei und ist weniger an der konkreten Realität des Transatlantischen Sklavenhandels inter‐ essiert (vgl. Gordon 2014: 23). Mit der Präsenz von Sklaverei in Texten französischer Aufklärer hat sich u. a. Michael O’Dea auseinandergesetzt (vgl. O’Dea 2010), diese Fragestellung wird jedoch in dieser Arbeit nur am Rande aufgegriffen werden. 70 In Abgrenzung zu den Tieren sind es die fehlende Instinktgebundenheit d. h. die Unbestimmtheit, mit welcher der Mensch alles und nichts werden kann und der freie Wille, die ihn als differentia specifica kennzeichnen. In dieser Besonderheit begründet sich die Freiheit des Menschen, als Perfektibilität d. h. als Fähigkeit sich zu vervoll‐ kommnen (Durand 2007: 131; Scherl 2016: 44). Die Möglichkeit sich von der eigenen Natur abzulösen, welche der Mensch als einziger besitzt, bedeutet eine natürliche Handlungsfreiheit, die keinem teleologischen Sinn folgt (vgl. Scherl 2016: 231). Der Mensch ist demgemäß bei Rousseau als von Natur aus freies Wesen konzipiert. 71 Scherl spricht hier von einem Programm der Denaturierung, während sie Rousseaus pädagogisches Programm (Émile ou de l’éducation, 1762) als Renaturierung begreift (vgl. Scherl 2016: 96). 1.3.1 Exkurs: Gesellschaftsvertrag und citoyenneté bei Rousseau Die Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag fungiert als ein Modell, um den Übergang vom Naturzustand in eine Zivilgesellschaft bzw. ein Staatswesen zu erklären (vgl. Berding/ Dippel 2014). Dabei haben vertragstheoretische (kontraktualistische) Konzepte von Hugo Grotius und Samuel Pufendorf, über Thomas Hobbes und John Locke zur Legitimation unterschiedlicher politisch-wirtschaftlicher Systeme gedient, ihnen ist jedoch im Kern gemein, dass sie allesamt die vertragliche Übereinkunft verschiedener Individuen und nicht ein göttliches Gesetz als Grundlage politischer Macht definieren (vgl. Berding/ Dippel 2014). Radikaler und grundsätzlicher als seine Vorgänger theo‐ retisierte Rousseau menschliche Freiheit in der Gemeinschaft und kritisierte Sklaverei als unvereinbar mit dem Recht (vgl. Rousseau 2003c: 355 ff.). 69 Für Rousseau stellt sich die Frage nach dem Zusammenleben nicht nur im Hinblick auf eine zu errichtende politische Ordnung, sondern vor allem auch vor dem Hintergrund einer Zivilisationskritik. So geht Rousseau davon aus, dass der Mensch (infolge seiner genuinen Perfektibilität) 70 seinen solitären, freien und harmonischen Naturzustand (état naturel) verlässt und zur Gesellschaft kommt. Dort lebt der Mensch entfremdet von seinem natürlichen Wesen in Abhängig‐ keit und Unfreiheit (vgl. Rousseau 2003a: 169 ff.). Vor dieser Grundannahme ist das politische Programm, 71 welches Rousseau mit dem contrat social entwirft, dazu vorgesehen dem entfremdeten, unfreien Dasein des Menschen in der Vergesellschaftung ein Ende zu setzen, indem es die verlorene, individuelle 50 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="51"?> 72 Rousseau sieht die Bedingungen des Vertrages als selbstverständlich durch die Natur des Vertrages gegeben an, gleichzeitig gehen diese jedoch nicht notwendigerweise auf eine förmliche Aussprache zurück, sondern werden stillschweigend gegenseitig aner‐ kannt (vgl. Rousseau 2003c: 359 f..). Es zeigt sich, dass der contrat social weniger als realer Vertrag, sondern als gemeinsame Fiktion (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010: 84 f.) zu verstehen ist. Als kollektive Vorstellung/ Narration und als „ideale Norm einer rechtmäßigen politischen Organisation“ (Durand 2007: 49 f.) ist der Vertrag trotzdem gemeinschaftsstiftend, auch wenn er nicht auf einen historischen Gegenstand oder Zeitpunkt referiert. 73 Für Rousseau ergibt sich dieser Umstand aus der Gegenseitigkeit: „Enfin, chacun se donnant à tous ne se donne à personne ; et comme il n’y a pas un associé sur lequel on n'acquière le même droit qu’on lui cède sur soi, on gagne l’équivalent de tout ce qu'on perd, et plus de force pour conserver ce qu’on a“ (Rousseau 2003c : 361). Einheit des homme naturel durch die kollektive Einheit der Republik ersetzt. Auf diese Weise soll der Mensch als citoyen seine Freiheit im état civil wiedererlangen (vgl. Scherl 2016: 94 ff.). Ebenjener état civil wird durch den contrat social (Gesellschaftsvertrag) begründet, welcher als „prémiere convention“ (Rousseau 2003c: 359) den Rahmen und symbolischen Ursprung des Gemeinwesens festlegt und zugleich Wesen und Zweck des Zusammenschlusses‘ enthält: 72 „Trouver une forme d’association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun, s’unissant à tous, n’obéisse pourtant qu’à lui-même, et reste aussi libre qu’auparavant.“ Tel est le problème fondamental dont le Contrat social donne la solution (Rousseau 2003c: 360). Im Zentrum steht die aliénation totale, die vollständige Entäußerung jedes einzelnen Mitglieds mit all seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes. Da alle Mitglieder gleichermaßen ihre Rechte auf die Gemeinschaft übertragen, werden einseitige Abhängigkeitsverhältnisse aufgehoben. In der aliénation totale unterliegen alle den gleichen Bedingungen, so dass für keinen der Sinn oder die Möglichkeit besteht, andere zu übervorteilen. 73 Der contrat social stiftet damit eine republikanische Gemeinschaft, die statt auf Stärke und physischen Zwang auf inneren Überzeugungen und Pflichtbewusstsein gründet (vgl. Du‐ rand 2007: 49). Mit dem contrat social als (fiktiven) Gründungsakt tritt an die Stelle der einzelnen Vertragspartner ein „corps moral et collectif “ (Rousseau 2003c: 361), welches die bürgerlich-sittliche Freiheit (liberté civile) des Einzelnen als citoyen erst ermöglicht und hervorbringt: Réduisons toute cette balance à des termes faciles à comparer; ce que l'homme perd par le contrat social, c’est sa liberté naturelle et un droit illimité à tout ce qui le tente et qu’il peut atteindre ; ce qu’il gagne, c’est la liberté civile et la propriété de tout ce qu’il possède. Pour ne pas se tromper dans ces compensations, il faut bien distinguer 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 51 <?page no="52"?> 74 Wie Béatrice Durand anmerkt, weist der Begriff des Eigentums bei Rousseau eine gewisse Ambivalenz auf. Zum einen erfolgt mit der Einführung des Eigentums der Übergang zu einem gesellschaftlichen Zustand, der dem Verfall gleichkommt, zum anderen bildet das Eigentum die Grundlage des contrat social und steht unter dem Schutz des Staates. Eine eindeutige Einordnung des Inhalts und der Bewertung des Eigentums ist somit bei Rousseau nicht vollständig möglich, da der Begriff in den Werken verschiedene Funktionen erfüllt (vgl. Durand 2007: 129). la liberté naturelle, qui n'a pour bornes que les forces de l'individu, de la liberté civile, qui est limitée par la volonté générale (Rousseau 2003c: 364 f.). Die bürgerliche, rechtmäßige Ordnung ist somit als ‚Veredelung‘ der mensch‐ lichen Existenz zu begreifen, obwohl sie den Verlust der natürlichen Freiheit (liberté naturelle) und des unbegrenztem Recht auf alles bedeutet. Anstelle dieser unbegrenzten Möglichkeiten tritt nun die durch den Gemeinwillen (volonté générale) limitierte liberté civile. Der citoyen in Rousseaus Gesellschaftsentwurf ist folglich frei, insofern er Herr seiner selbst und autonom von seinen eigenen Trieben und fremder Willkür ist. Innere und äußere Grenzen der Freiheit werden aufgehoben und an ihrer Stelle dominiert das moralische Ich, welches sich in bürgerlichen Tugenden wie Gerechtigkeit, Moralität, Pflichtbewusstsein, Recht und Vernunft zeige (vgl. Scherl 2016: 118). Das von Rousseau theoretisierte Gemeinwesen stellt ein sittliches Wesen dar, welches über einen Willen verfügt. Diese volonté générale zielt gleichermaßen auf die Erhaltung und das Wohl des Ganzen wie auch jedes einzelnen Teiles ab. In der volonté générale verkörpert sich die Souveränität des Gemeinwesens, sie ist die Quelle der Gesetze und der Maßstab für Recht und Unrecht (vgl. Rousseau 2003b: 245). Die volonté générale setzt eine geteilte, kollektive Vorstellung des gemeinen Wohls voraus, denn in den durch sie verabschiedeten Gesetzen drückt sich idealerweise das Wohl des Gemeinwesens und damit das Wohl aller aus. Da die volonté générale auf das Gemeinwesen als corps politique abzielt, stellt jede Abweichung die Allgemeingültigkeit infrage. Im Gegensatz zur volonté à tous, welche als die Summe der Einzelwillen betrachtet werden kann, handelt es sich bei der volonté générale um den Willen des politischen Körpers als Kollektiv (vgl. Durand 2007: 54 f.). Sie markiert abstrakt die friedliche Gleichzeitigkeit der Freiheit eines Einzelnen und die Freiheit jedes Anderen und überbrückt so die Spaltung zwischen Individuum und Gemeinschaft (vgl. Scherl 2016: 104 f). Das Individuum erhält durch den Gesellschaftsvertrag neben dem Schutz seines eigenen Lebens eben gerade auch das „Eigentum an allem, was er besitzt“ (vgl. Rousseau 2003c: 364). 74 Schutz der Person und des Eigentums werden an dieser Stelle als gleichrangig behandelt, was als Hinweis auf die Bürgerlichkeit von Rousseaus Theorie der Gesellschaft gelten kann (vgl. Bro‐ 52 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="53"?> ckard 2011: 161). Eigentum wird folglich zu einem grundlegenden Element der citoyenneté und zum Garanten der bürgerlichen Verpflichtungen (vgl. Fetscher 1981: 217). Die republikanische Öffentlichkeit, in welcher der Bürger als solcher agiert, ist vorrangig ein Raum der Männer, die als Freunde, (Besitz-)Bürger und Soldaten der Gemeinschaft dienen (vgl. Scherl 2016). Obwohl Rousseau staatliche Herrschaft konsequent ablehnt, spricht er jedoch dem Vater die alleinige Befehlsmacht in der Familie zu (vgl. Rousseau 2003b: 260 ff.), die er eng an die Eigentumsverhältnisse knüpft. Sowohl die Kinder als auch die Frau sind in ihrem Besitz vom Vater/ Ehemann abhängig, der ihnen Güter aus seinem eigenen Besitz überlassen kann. Nur der Vater kann in der Familie die Eigentumsrechte für sich beanspruchen und das primäre Ziel der häuslichen Ökonomie liegt in der Erhaltung und Vermehrung des väterlichen Eigentums (vgl. Rousseau 2003b: 242). Dieses wird über Vererbung patrilinear weitergegeben und durch das Gemeinwesen rechtlich abgesichert. Wie Scherl anmerkt, zeichnet sich bei Rousseau eine enge Verzahnung von Familie und Staat ab, die am Eigentum deutlich wird: „Der Staat ist Garant der bestehenden Eigentumsordnung, die Familie sorgt für die Weitergabe des Eigentums an die nächste Generation. Das eine ist ohne das andere nicht möglich“ (Scherl 2016: 109 f.). Teilnahme am politischen-öffentlichen Leben als citoyen setzt folglich im Umkehrschluss ein gewisses Maß wirtschaftlicher Autonomie voraus, denn bürgerliche Freiheit und Gleichheit sind über das Eigentum vermittelt und eng miteinander verknüpft (vgl. Rétat 1988: 225 f.). Die Unabhängigkeit der Bürger voneinander, welche für Rousseau eine so wichtige Bedingung der bürgerlichen Freiheit ist, kann sich erst in einem Zustand ökonomischer Unabhängigkeit entfalten: Il est certain que le droit de propriété est le plus sacré de tous les droits des citoyens, et plus important à certains égards que la liberté même ; soit parce qu'il tient de plus près à la conservation de la vie […] soit enfin parce que la propriété est le vrai fondement de la société civile, et le vrai garant des engagements des citoyens : car si les biens ne répondaient pas des personnes, rien ne serait si facile que d'éluder ses devoirs et de se moquer des lois (Rousseau 2003b : 262 f.). So wird in der Zusammenschau des contrat socials und des Discours sur l’éco‐ nomie politique deutlich, dass Rousseaus theoretische Überlegungen trotz seiner zeitweilen radikaldemokratischen Passagen eindeutig einer liberalen Tradition verhaftet sind, der eine besitzbürgerliche, patriarchale Matrix zugrunde liegt (vgl. Scherl: 105). 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 53 <?page no="54"?> 75 Mimi Sheller setzt sich in Citizenship from below. Erotic agency and Caribbean freedom (2012) umfassend mit dem patriarchalen und androzentrischen Unterbau postrevolutionärer Entwürfe von citoyenneté auseinander: „The first constitution of 1805 institutionalized these republican military traditions in its vision o f a fraternal brotherhood-in arms of all men of African descent […] Thus, a fundamental aspect of the Haitian nation-building project was the elevation of the black man out of the depths of slavery into his rightful place as father, leader, and protector of his own people. Familial imagery was closely allied with a masculine call to arms and a depiction of women as grateful recipients of men’s protection” (Sheller 2012: 148). 76 So merkt Fleischmann eben jene Diskrepanz an : „La famille africaine, ancêtre de la famille ‘bossale’ en Haiti, est communautaire ; le ‘lakou’ traditionnel, hélas en voie de disparition, repose sur un bien commun et inaliénable : le ‘byien minè’ (bien des mineurs). La gestion des biens de l’ensemble de la famille élargie exige une hiérarchie et une autorité (du père) mais doit reposer sur le consensus entre tous ses membres […] Ceci signifie que dans la gestion des processus politiques en Haiti, la sauvegarde et l’intérêt économiques sont doublés par un conflit entre un concept de modernité, provenant de l’extérieur, et une tradition ‘bossale’ qui ne s’articule pas sous les formes ‘rationnelles’ de textes issues de la culture moderne et qui est donc ignorée comme projet politique viable“ (Fleischmann 2008 : 165). 77 Tatsächlich teilt auch ein Großteil der europäischen Bevölkerung um 1800 dieses Schicksal, da es sich bei dem‚gemeinen Volk‘ häufig eben nicht um Eigentümer: innen handelt. 1.3.2 Bürgerliche und antirassistische Tendenzen der constitution impériale von 1805 Der kurze Exkurs zu der Konzeptualisierung von citoyen und contrat social verdeutlicht u. a., dass Rousseaus republikanisches Gemeinwesen nicht ohne die Fiktion kollektiver Einheit und vergemeinschaftender Identifikation auskommt. Zugleich aber treten auch liberale, individualistische Grundannahmen deutlich zutage und es wird offenbar, dass Rousseau seine Republik vorrangig als Zusammenschluss männlicher Individuen, vorzugsweise Familienväter und Eigentümer, imaginiert. Obwohl sich die constitution impériale Haitis von 1805 im Hinblick auf die Staatsform sehr deutlich von Rousseaus Ansätzen unterscheidet, so weist sie im Hinblick auf die besitzbürgerlichen und patriar‐ chalen 75 Implikationen doch sehr deutliche Parallelen zum Gesellschaftsvertrag auf. Dieser Umstand ist insofern von Interesse, als er eine Gesellschaft aus bürgerlicher Familie und klaren Eigentumsverhältnissen zugrunde legt und andere Lebensrealitäten und Formen des (familiären) Zusammenlebens im post‐ revolutionären Haiti ausblendet. 76 Zugleich ist der Ausschluss großer Teile der Bevölkerung über die Kriterien Männlichkeit und Eigentum in die Konstitution eingeschrieben und negiert damit das Gleichheitsversprechen. 77 Jener interne Ausschluss findet seinen Ausdruck z. B. in der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver citoyenneté, d. h. der Möglichkeit der aktiven Teilhabe an politi‐ 54 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="55"?> 78 Das Wort ‚blan‘ kann im haitianischen kreyòl sowohl weiß als auch Fremder bedeuten (vgl. Fischer 2005: 235). schen Entscheidungsprozessen (vgl. Wallerstein 2003: 651). Der Zugang war im besitzbürgerlichen, patriarchalen, (post)revolutionären Staat in Haiti ebenso wie in Frankreich an Eigentum und Geschlecht geknüpft (vgl. Rétat 1988: 95). Das Ideal des Bürgers, so Artikel 9, basiert dabei auf Ehe und Nachkommenschaft sowie wehrhafter, kämpferischer Männlichkeit als Soldat und weist darin eine auffällige Ähnlichkeit zu Rousseaus Konzeption der republikanischen Tugend auf (vgl. Scherl 2016: 136 ff.). In beiden Fällen ist die Figur des citoyen — laut Pierre Rétat eine „Lieblingsgestalt der Aufklärer“ (Rétat 1988: 30) — eng ver‐ knüpft mit Ansprüchen auf individuelle Freiheits- und Besitzrechte einerseits und Vergemeinschaftung und gegenseitiger Verantwortung andererseits. Doch trotz dieser Parallelen handelt es sich bei der constitution impériale um ein eigenständiges Dokument, das konsequent neue Denkbewegungen vollzieht, in denen sich die historische Erfahrung widerspiegelt, wie sich in den folgenden Artikeln zeigt: Article 12. Aucun blanc, quelle que soit sa nation, ne mettra le pied sur ce territoire, à titre de maître ou de propriétaire et ne pourra à l'avenir y acquérir aucune propriété. Article 13. L’article précédent ne pourra produire aucun effet tant à l’égard des femmes blanches qui sont naturalisées haïtiennes par le gouvernement, qu’à l’égard des enfants nés ou à naître d’elles. Sont compris dans les dispositions du présent article, les Allemands et Polonais naturalisés par le gouvernement. Article 14. Toute acception de couleur parmi les enfants d’une seule et même famille, dont le chef de l’État est le père, devant nécessairement cesser, les Haïtiens ne seront désormais connus que sous la dénomination générique de Noirs (Maury 2010b). In diesen vier Verfassungsartikeln konstituiert sich eine citoyenneté, die, als Kon‐ sequenz aus der Geschichte, weiße Personen 78 weitestgehend von politischer Teilhabe, Eigentum und Machtpositionen ausschließt. Ausnahmen bilden weiße Frauen und einige auserwählte weiße Männer, welche sich um die Revolution verdient gemacht haben. Indem der über citoyenneté vermittelte Zugang zum Gemeinwesen an die Unterstützung der politischen Ziele in der Vergangenheit und den Beitrag zur Befreiung gemessen wird, verlässt sie bis zu einem gewissen Grad ihre üblichen nationalen oder ethnischen Beschränkungen. Die politische 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 55 <?page no="56"?> 79 Dass der junge Staat explizit nicht als Gesellschaft, sondern als Gemeinschaft imaginiert wird, verdeutlicht die Familiensymbolik in Artikel 14, welche den Staatschef zum Vater erklärt. Damit geht die Staatsgründung über einen rein nüchtern-rationellen Akt hinaus und zeigt klar affektiv-bindende Merkmale auf. 80 Diese Verknüpfung ist jedoch nicht die einzige mögliche ‚Form der Gemeinschaft der Bürger‘ wie Balibar schreibt (vgl. Balibar 2012: 22 f.). 81 Als vorgestellte Gemeinschaft der Bürger: innen tendiert auch die citoyenneté dazu Binnengleichheit über Differenz nach außen herzustellen. 82 Grüner liest Artikel 14 als Kritik an der Homogenitätsnorm des Nationalstaates, die Klassen-, Geschlechter- und rassistische Verhältnis ausblendet: „As I noted above, Article 14 and the whole constitution to which it belongs offer a critique in practice, and in advance, of a constitutional logic and ideology that imagines the modern nation-state as a homogenous unity, unaffected by distinctions between classes, races, or genders“ (Grüner 2020: 192). 83 Condition humaine wird verstanden als die Frage nach den Bedingungen und dem Wesen des Menschseins (vgl. Balmer 2018). Positionierung und damit auch ein militanter Antirassismus werden zum ent‐ scheidenden Kriterium für den Zugang zum nationalen Kollektiv. 79 1.3.3 Potentiale einer citoyenneté transnationale Konzeptualisierungen von citoyenneté sind in den meisten Fällen eng an Vor‐ stellungen territorialer Einheit in Form der Stadt oder der Nation gebunden worden, 80 so dass „die Begriffe der Staatsbürgerschaft und der Nationalität in der Moderne praktisch identisch verwendet wurden“ (Balibar 2012: 21), was notwendigerweise historisch und gegenwärtig immer wieder Ausschlüsse entlang imaginierter kollektiver (nationaler) Identitäten produziert hat (vgl. Wallerstein 2003: 651). Die Exklusion erfolgt dabei entlang territorialer Grenz‐ ziehungen, wird jedoch auch im Innenraum, d. h. zwischen verschiedenen Individuen und Gruppen, fortgeführt. Parallel dazu werden mitunter Personen als zugehörig betrachtet, die sich nicht (mehr) in dem territorialen Gebiet aufhalten oder dort leben. Citoyenneté als Vergemeinschaftungsform weist damit, auch aufgrund seines imaginierten Anteils, eine hohe Spannung zwi‐ schen seines inkludierenden und exkludierenden Potentials auf. 81 Vor diesem Zusammenhang verdienen Artikel 13 und 14 besondere Beachtung, 82 da sie den weißen Europäer als Normalfall menschlichen Daseins und als Grundvoraus‐ setzung für den Zugang zu Bürger: innenrechten und Eigentum dekonstruieren und so radikal mit den bis dahin geltenden Verschränkungen von race, class und citoyenneté brechen. Als neue condition humaine  83 ist Schwarzsein nicht mehr gleichbedeutend mit Unfreiheit, Dehumanisierung sowie Besitzlosigkeit, sondern wird zur Eigenschaft all jener, die aktiv Teil des Befreiungskampfes 56 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="57"?> 84 Der da lautet: „La recommandons à nos neveux, et en faisons hommage aux amis de la liberté, aux philanthropes de tous les pays, comme un gage signalé de la bonté divine, qui, par suite de ses décrets immortels, nous a procuré l'occasion de briser nos fers et de nous constituer en peuple libre, civilisé et indépendant“ (Maury 2010b) 85 Das Vorgehen von Pétion und Rigaud stellt hier eine Ausnahme dar (vgl. Fischer 2005: 236 ff.). sind. Damit wird eine vermeintliche Partikularität afrodeszendenter Subjekte in die Universalität menschlicher Existenz überführt. Sibylle Fischer hebt diese besondere Verknüpfung von Partikularismus und Universalismus im Hinblick auf die Präambel und die Artikel 12-14 hervor: Universalism and particularism continuously refer back to each other — racial equality cannot be achieved without particularistic claims, and particularism is ultimately justified by a claim of universal racial equality […] In an extraordinary bold move, Dessalines’ s constitution seizes the language of the colonizer and submits it to radical resignification […] Disrupting any biologistic or racialist expectations, they make “black” a mere implication of being Haitian and thus a political rather a biological category […] Calling all Haitians, regardless of their skin color, black […]asserts egalitarian and universalist institutions and puts them to a test by using the previously subordinated term of the opposition as the universal term (Fischer 2005: 232 f.). Es ist also festzustellen, dass die Konstitution von 1805 die universalisierenden Tendenzen der Revolution fortführt, diese jedoch im Kontakt mit der Realität nur bedingt ihre Wirkung entfalten konnten (vgl. Fischer 2005: 235). Als Grün‐ dungstext beschreibt die Konstitution „die haitianische Gemeinschaft“ (vgl. Fleischmann 2008: 162) und ihre historische Mission. Sie steckt damit einen ideologischen Rahmen für das Zusammenleben ab, der dabei individuelle Freiheitsrechte wie z. B. Besitz garantiert. Die legitime Bevölkerung Haitis konstitutiert sich folglich in Abgrenzung von weißer Herrschaft als Schwarz, frei, gleich und revolutionär. Jene Grundwerte zu teilen wird eine der Bedin‐ gungen für die haitianische citoyenneté und damit auch zur Grundlage einer kollektiven Identität. Diese ist, wie Sybille Fischer anhand des letzten Absatzes der Konstitution von 1805 84 und auf Basis der Verfassung von 1806 zeigt, ge‐ knüpft an die Idee eines transnationalen „emancipatory project of revolutionary antislavery“ (Fischer 2005: 236). Zwar zeigte der junge Staat wenig Ambitionen seine abolitionistische Politik auf andere Staaten auszuweiten, 85 allerdings findet sich in der ersten Verfassung eine relative Unbestimmtheit im Hinblick auf die citoyenneté nicht-weißer Personen, die Fischer als bewusste Leerstelle liest (vgl. Fischer 2005: 236ff). Diese Leerstelle bot, in der Interpretation Fischers, 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 57 <?page no="58"?> 86 Fischer zitiert u. a. Artikel 1 der Verfassung von 1807 in der es heißt : „Toute personne, résidente sur le territoire d'Haïti, est libre de plein droit “ (Maury 2014a) und Artikel 44 aus der Konstitution von 1816 : „Tout Africain, Indien et ceux issus de leur sang, nés dans les colonies ou en pays étrangers, qui viendraient résider dans la République seront reconnus Haïtiens, mais ne jouiront des droits de citoyen qu'après une année de résidence“ (Maury 2014b). 87 Im zweiten Weltkrieg klingt diese Dimension noch einmal an, als der haitianische Präsident Elié Lescot den verfolgten Juden und Jüdinnen Europas Asyl und die haitianische Staatsbürgerschaft anbietet. Diese Begegebenheit nimmt Dalembert zur Grundlage für seinen Roman Avant que les ombres s’effacent (2017) (vgl. Literarisches Nation-Building nach 1804) ebenso wie explizitere Paragraphen späterer Verfassungen, die Asyl vorsahen, 86 die Option für nicht-weiße Immigrant: innen zu Bürger: innen Haitis und damit frei zu werden (vgl. Fischer 238 ff.). In dem Zusammenspiel dieser historischen Dokumente lässt sich die Idee einer transnationalen citoyennete erkennen, die rassistische Unterdrückungserfahrungen und Unterstützung anti-kolonialer Kämpfe zu ihrer Grundlage macht und damit nationale Grenzziehungen ver‐ lässt: In any events, these clauses clearly point to the fact that Haiti’s radical antislavery stance is not easily limited by state borders. The vagueness on citizenship in the early constitutions is a trace of the transnational nature of radical antislavery. That the early constitutions do not give criteria for citizenship should not be seen as an omission or oversight that is later amended. Rather, it is evidence that the revolutionaries did not think of the state along the lines of a new nation family finally liberated from the fetters of colonialism. Indeed, we may go so far as to argue that the later specifications of citizenship are a measure of how fare subsequent politicians had been pushed away from the original transnationalism of antislavery (Fischer 2005: 240). Wenn auch diese grenzüberschreitende Option von citoyenneté, welche in den frühen Verfassungen noch enthalten ist, im Verlauf der Jahrzehnte seine Bedeutung verliert, 87 so bildet sie doch eine Denkbewegung ab, welche hinsicht‐ lich der Präsenz von Migration in und außerhalb Haitis und im Kontext von Globalisierungsprozessen wieder an Aktualität gewinnt und ein Neudenken von Zugehörigkeit nahelegt. 58 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="59"?> 88 Tout moun se moun bedeutet so viel wie‘Alle Menschen sind Menschen’. Diese Maxime wurde vor allem durch die Lavalas-Bewegung populär und verweist an dieser Stelle auf die Veränderungen in der Verfassung, die sich nach Ende der Diktatur vollziehen (vgl. Nesbitt: 2013 : 226). 89 Anklänge an Konzepte der citoyenneté finden sich u. a. auch bei Dalembert in Form der Republik: „Sur le principe, la République devrait pouvoir réunir tout le monde au-delà des communautés“ (vgl. Cooreman/ Gyssels 2008 : 144) oder bei Frankétienne (vgl. Bona 2004), sowie bei Yanick Lahens (Lahens 2019 : 43 u. 47 ; Lahens/ Pollmeier 2020 : 70), bei Laënnec Hurbon in Verwandtschaft mit der „utopie d’habiter“ (Hurbon 2001a), bei Raoul Peck ( Peck 2020 : 36 ff.) und eng geknüpft an die cité auch bei Emile Ollivier (Ollivier 2002). 1.3.4 Tout moun se moun? 88 — Citoyenneté neudenken nach 1986 Die Frage nach der Aktualität von citoyenneté als Konzept der Vergemeinschaf‐ tung stellt sich nicht nur bezüglich einer möglichen grenzüberschreitenden Relektüre, sondern auch mit dem Ende der Duvalier-Diktatur 1986. Ohne an dieser Stelle genauer auf die Verfassung von 1987 und die konkreten politischen Schritte der Post-Duvalier-Zeit einzugehen, gilt es vor allem darum festzustellen, dass sich 1986 ein politischer Umbruch zeigt, welcher einen theoretischen und literarischen Nachhall erzeugt, in dem Fragen der citoyenneté eine zentrale Rolle einnehmen. 89 2001, und damit bereits unter dem Eindruck des Militärputsches von 1991 und der Regierung Aristides, veröffentlicht der Schriftsteller Lyonel Trouillot einen Essay mit dem Titel Haïti, (Re)penser la citoyenneté (Trouillot 2017). Der Essay ist in zwei Teile unterteilt, eine Art Bestandsaufnahme unter dem Titel Déficit de citoyenneté und ein kürzerer Teil, Construire la citoyennetè, welcher in zehn kurzen Abschnitten Kernelemente einer zu konstruierenden citoyenneté aufgreift. Bereits zu Beginn des ersten Teiles konstatiert Trouillot die Dominanz eines monströsen Individualismus und der Mangel an einer gemeinsamen Sphäre der citoyenneté (vgl. Trouillot 2017): Être haïtien, c’est de plus en plus, se construire seule, se définir sans ressemblance ni solidarité. D’une certaine façon, être haïtien, ce n’est ne pas l’être. Refuser le partage d’une condition ou d’une identité: tu n’es pas mon égal et je serai pas ton semblable (Trouillot 2017 : 21). Angesichts dieses Mangels an Solidarität und Identifikation mit dem Anderen sind die Gleichheit der Bürger: innen und die Reziprozität ihrer Beziehungen zueinander als notwendige Bedingungen nicht gegeben. Das Fehlen jeglicher 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 59 <?page no="60"?> 90 Kohabitation und geteilte Räume erweisen sich, wie wir in dem Kapitel Interaktions‐ räume - räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung noch sehen werden, als wichtige Faktoren für Vergemeinschaftung und Konvivenz. 91 Über diese Gegenseitigkeit bei Rousseau schreibt Gordon, dass die gänzliche Hingabe eines jeden an das Gemeinwesen, gleiche Bedingungen für alle schafft: „What is more, in giving myself to a unit of which I am a part, I give myself to myself and to no individual, particular person. What is more, as part of the political whole, fundamentally implicated by it, I cannot wish for others what I would not for myself” (Gordon 2014: 100 f.). Diese Vereinigung im politischen Körper ermutigt die Subjekte, als Menschen und Glieder des Gemeinwesens, sich in ihren Handlungen von Pflichtbewusstsein und Interesse leiten zu lassen, einander zu helfen und zu unterstützen (vgl. Gordon 2014: 100 f.). In diesem Sinne liegt, Gordon zufolge, das Ziel darin, von Beginn an ein Einheitsgefühl zu erzeugen: „I am affected similarly to you and we are all mutually implicated — that is a living, rather than purely formal reality to members“ (Gordon 2014: 100 f.). 92 „Parce que je vis avec le sentiment que rien en dehors de moi ne me protège comme et contre l’autre. Et avec le sentiment que l’autre partage mon point de vue. Je me dis que l’autre sait lui aussi que rien ne le protège contre moi“ (Trouillot 2017: 24). Trouillots Schilderungen erinnern hier an diese Stelle mehr an die Beschreibungen des Naturzustandes bei Hobbes (vgl. Schröder 2012). Anders als Hobbbes sieht Trouillot darin weniger eine genuine Natur des Menschen, noch schreibt er sehnend einen autokratischen Herrscher herbei. 93 Die Opposition paysan vs. citoyen, verweist auf die Differenz zwischen Stadt- und Landbevölkerung, impliziert dabei jedoch gleichzeitig auch die durch Verfassung und Besitzverhältnisse zementierte Ungleichheit zwischen den bürgerlichen, vorwiegend städtischen Schichten und der marginalisierten Bauernschaft. Michel- Rolph Trouillot verhandelt dieses Spannungsverhältnis ausführlich in Haiti, state against nation. The positiven Beziehung zum Anderen und zum gemeinsam bewohnten Raum 90 (vgl. Trouillot 2017: 24) geht einher mit der Allgegenwärtigkeit von Furcht und Misstrauen. Wo wir bei Rousseau beobachten können, 91 dass in der Theorie, die Rechte und die Freiheit des Einzelnen durch die Veräußerung im Kollektiv garantiert sind, ist dieser Prozess in Trouillots Schilderungen nicht möglich. 92 Jenem Kernproblem gelten Trouillots Reflexionen und so wendet er sich den sozialen Spaltungen, welche das gesellschaftliche Zusammenleben in konkur‐ rierende Individualitäten zerfallen lassen und so jegliche Form des Gemeinwohls verunmöglichen, in ihren diversen Erscheinungsformen zu: La formation sociale haïtienne n’avait jamais produit […] de discours collectif fondé sur des valeurs identifiables assurant à chacun sa citoyenneté. Les discours exclusivistes et les identités parcellaires qui fonctionnaient chacun pour soi sont eux-mêmes aujourd‘hui en crise. Restent Dieu, l’ailleurs et l’individualisme (Trouillot 2017: 99). Das Aufsplittern der Bevölkerung in verschiedene, soziale Gruppen verläuft in Haiti entlang der Konfliktlinien des Status (citoyen vs. paysan) 93 , der Her‐ 60 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="61"?> origins and legacy of Duvalierism (1990). Dort arbeitet er Staat und Nation als politische Gegenspieler: innen in der haitianischen Geschichte heraus, so dass Lyonel Trouillots Hinweis auf die divergierenden staatlichen und nationalen Vergemeinschaftungen im folgenden Zitat in diesem Kontext betrachtet werden müssen. 94 Für Trouillot stellt die Revolution als „einziger gemeinsamer Erfolg“ (vgl. Trouillot 2017: 67) zwar das Gründungsereignis der haitianischen Nation dar, aber sie versäumt es die citoyenneté als Prinzip universaler Gleichheit zu realisieren, indem sie neue und alte Formen des Ausschlusses in die politische Realität einschrieb (Trouillot 2017: 55 ff.). Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Carlo A. Célius, der sich mit der Frage nach einem contrat social haïtien auseinandersetzt und konstatiert, dass ein solcher Gesellschaftsvertrag bis in die Gegenwart ausbleibt (vgl. Célius 1998: 63 ff.). 95 Trouillot denkt citoyenneté hier vor allem auf einen nationalen Rahmen beschränkt. kunft (afrodeszendent vs. euroafrodeszendent), der Klasse (arm vs. reich) und der Religion (vodou vs. Christentum) (vgl. Trouillot 2017). Über diese historisch gewachsenen Machtverhältnisse werden Ausschlüsse reproduziert, 94 die bestimmten Gruppen den Zugang zum Gemeinwesen verwehren. Trouillot plädiert für eine Überwindung der Ausschlüsse, jedoch ohne einen homogenen, politischen Körper, in welchem das Individuum nichts gilt, zu fordern: La citoyenneté est donc le lieu où toutes les questions quant à relation entre l’individuel et le collectif, les ordres public et privé, les différentes communautés qui forment l’Etat ou la nation sont posées. Elle est une réponse à ces questions (Trouillot 2017: 61 f.). Als Nexus zwischen Individuum und Kollektiv soll das Projekt der citoyenneté,  95 entgegen ihrer bürgerlichen Provenienz und der damit einhergehenden Exklu‐ sivität (vgl. Trouillot 2017: 26), eine gemeinsame Realität herstellen, die dem Prinzip der Gleichheit gerecht wird. Diese Gleichheit, und darin findet sich ein Bruch mit der Geschichte des Konzepts, imaginiert Trouillot als inklusive (vgl. Trouillot 2017: 26 ff.). Angesichts eines fehlenden, vergemeinschaftenden, poli‐ tischen Diskurses in der Öffentlichkeit wendet sich Trouillot der Literatur zu, der er attestiert, gegenwärtig der einzige Ort zu sein, an dem Werte propagiert wurden, die von einem Großteil der sozialen Gruppen geteilt werden könnten (vgl. Trouillot 2017: 98). So unternehmen bestimmte literarische Werke den Versuch, einen „discours de l’ensemble“ (vgl. Trouillot 2017: 98) zu formulieren, für den die Politik ihre Verantwortung längst von sich gewiesen hat. In dieser Bedeutung, welche Trouillot enttäuscht von der politischen Praxis, der Literatur zuspricht, wendet er sich dem Indigenismus und dem Sozialismus zu, welche gewagt haben ein ‚Haiti für alle‘ zu träumen (vgl. Trouillot 2017: 71). 1.3 Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804 61 <?page no="62"?> 96 Der socialisme/ marxisme kann in diesem Kontext eher als Inspiration für literarische Formen wie den réalisme socialiste oder den réalisme merveilleux gelten, als als eine eigene literarische Schule. 97 Wie das Versprechen der citoyenneté eingelöst werden kann, umreißt Trouillot im zweiten Teil seines Essays. Als konkrete Schritte schlägt er die Analyse der Exklu‐ sionsmechanismen und ihre rechtliche Abschaffung (vgl. Trouillot 2017: 127); die Abschaffung materiell-sozialer Ungleichheit und Armut (vgl. S. 129); die konsequente Gleichstellung von kreyòl und Französisch (vgl. S. 131); ein Bildungssystem, das allen Menschen gleichermaßenzugänglich ist (vgl. S. 133); ein öffentlicher Diskurs, welcher nicht mehr auf Exklusion aufbaut (vgl. S. 135); eine verantwortungsvolle Politik, welche durch Sanktionsmaßnahmen abgesichert ist (vgl. S. 137); die Ausbildung Beide Strömungen, 96 so Trouillot, haben sich darum verdient gemacht, die citoyenneté auf die Gleichheit hin zu befragen: L’indigénisme aborde d’un point de vue culturaliste la question de la citoyenneté […] Il cherche un dénominateur culturel commun pour fonder la citoyenneté […] Quant au marxisme haïtien, il essaie de résoudre la question de la citoyenneté par un économisme […] L’indigénisme et le Marxisme aurons ouverts en Haïti des débats connexes ou préalables à la question de la citoyenneté, soit celle des conditions sociales et juridiques du vivre-ensemble (Trouillot 2017 : 34). In der gegenwärtigen Ablehnung beider Strömungen befürchtet Trouillot das Verkennen ihres subversiven Potentials und ihrer gesellschaftlichen Analysen (vgl. Trouillot 2017: 33 ff.). Gleichwohl lässt sich die historisch bezeugte Gefahr, welche in den essentialistischen und totalitären Einschließungen liegt und auf die sich die Kritiken an Indigenismus und Marxismus beziehen, nicht von der Hand weisen (vgl. Trouillot 2017: 33 ff.). Trouillot verkennt diese Gefahr keineswegs und plädiert aus jenem Grund dafür, die historische Bedeutung beider Denkbewegungen anzuerkennen und sie anschließend zu überwinden. Als ‚construction sociale‘ (hier folgt Trouillot der kontraktualistischen Tra‐ dition) basiert die citoyennete nicht auf einer gegebenen, a priori existierenden homogenen Identität, sondern wird durch den vergemeinschaftenden Prozess der Identifikation und der Imagination immer wieder hergestellt: L’exercice de la citoyenneté réclame la construction d’un lieu parlant qui sera à la fois un héritage et un devenir. […] La citoyenneté ne repose pas sur rien […] La citoyenneté suppose une sagesse de la cité, des signes matériels et intellectuels qui témoignent de sa pertinence. Constitution d’un patrimoine, d’un savoir, de repères (Trouillot 2017: 30 f.) Die nach Trouillot aufzubauende citoyenneté gestaltet sich dementsprechend als ein offener Vorgang, welcher sich auf Praktiken der kollektiven Erinnerung sowie auf einer Vision des zukünftigen Zusammenlebens gründet. 97 Um die 62 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="63"?> eines patrimoine, welches nicht in Xenophobie und Nationalismus kippt (vgl. S. 139); sowie der Schutz individueller Freiheitsrechte und eine laizistische Organisation des öffentlichen Raumes (vgl. S.-141), vor. 98 Intérêt générale wird von Rousseau als Begriff nicht verwendet, stattdessen spricht er vom bien commun und der volonté générale. 99 ‘Libète ou lamò’ (‘Liberté ou la mort’), war eine der Parolen der Haitianischen Revolution (vgl. Nesbitt 2010). 100 Dieser ‚Erfolg‘ findet seine Meistererzählung in den Narrativen der Alternativlosigkeit des liberalen Kapitalismus und des Endes der Geschichte (vgl. Bernsen 2014: 262). 101 Wenn auch die Lumières meist als Ausgangspunkt eines liberalen/ liberalistischen Den‐ kens verstanden werden, so bildet sich doch der Begriff Liberalismus erst nachträglich heraus (vgl. Deleule 2014). 102 Für ein solches Verständnis von Freiheit ist selbstverständlich eine Konzeption des Menschen als Individuum Voraussetzung: „Im Leviathan zeigen sich die bereits vorhan‐ denen theoretischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ebenso wie das Paradigma und der Diskussionsrahmen für die politische Philosophie der Neuzeit, zudem bestimmt Gegenwart im Hinblick auf diese Zukunft zu gestalten, verweist Trouillot auf die ‚moralische Fiktion‘ des allgemeinen Interesses (intérêt générale), 98 welche Rechte und Pflichten der citoyens miteinander verzahnt und so die Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv reguliert (vgl. Trouillot 2017: 37 f.). 1.4 Libète ou lamò?   99 — Freiheit als revolutionäres Vergemeinschaftungskonzept Freiheit ist einer der politischen Kernbegriffe im Kontext moderner, bürgerlicher Konzeptionen des Zusammenlebens. Insbesondere in Gestalt des bis in die Gegenwart hinein sehr erfolgreichen 100 liberalistischen Diskurses kommt das Primat der individuellen Freiheit zum Tragen. Die Vorrangstellung des Indivi‐ duums und seiner Freiheiten zeigt sich in der liberalistischen Tradition auch in seiner Berufung auf das Naturrecht und der daraus erwachsenden vertragsthe‐ oretischen „Legitimation gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung“ (Noetzel 2008: 328). Der Liberalismus kann als normative und politische Grundlage „west‐ licher, liberal-demokratischer Systeme“ (Noetzel 2008: 328) in der Tradition der Aufklärung gelten 101 und ist dabei von Beginn an als „Philosophie- und Systembegriff “ (Noetzel 2008: 328) auch mit ökonomischen Grundannahmen verbunden, die sich in der Verknüpfung von individueller Freiheit und indivi‐ duellem Eigentum zeigen (vgl. Noetzel 2008). Damit derartige Reflexionen zum Gehalt und Wesen der Freiheit überhaupt erst entwickelt werden können, bedarf es zunächst der philosophischen Herauslösung des Menschen als unteilbare Einheit aus seinen sozialen Beziehungen und seiner Umwelt. 102 Der Mensch 1.4 Libète ou lamò?   — Freiheit als revolutionäres Vergemeinschaftungskonzept 63 <?page no="64"?> er bis heute die Grundidee des modernen Staates. Ausgangspunkt der politischen Theoriekonstruktion ist eine negative Anthropologie (‚homo homini lupus‘). Hobbes zerlegt den Staat in seine hypothetischen Atome, die Individuen“ (Kaufmann 2015: 223). 103 Die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit wird gemeinhin Isaiah Berlin zugerechnet. Dieser versteht unter ersterer, „die Bewahrung der Autonomie durch Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung und unter negativer Frei‐ heit so etwas wie die Schutzrechte, den Schutz der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Bewegungsfreiheit etc. versteht“ (Kaufmann 2015: 229). Kaufmann weist zudem daraufhin, dass Berlin beide Freiheitsbegriffe als unvereinbar begreift und in dieser Konsequenz der negativen Freiheit den Vorzug gibt (vgl. Kaufmann 2015: 229). Der politische Theoretiker Banor Hesse nimmt eine kritische Relektüre dieser Freiheits‐ begriffe vor dem Hintergrund von Sklaverei und Kolonialismus vor, die tiefer in die Implikationen liberaler Freiheitsvorstellungen eintaucht und dabei zugleich die Bedeutung Schwarzer Agency mit aufgreift (vgl. Hesse 2014). wird in der Fortentwicklung und Säkularisierung des Naturrechts Träger von ‚natürlichen‘ Rechten (vgl. Klippel 2015). Diese Annahme einer natürlichen Freiheit, als unveräußerliche Qualität des Menschseins, bildet die Grundlage, auf der die vertragstheoretischen Ausgestaltungen des Politischen durch Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Thomas Hobbes und Rousseau formuliert werden (vgl. Klippel 2015; Kaufmann 2015). Im Kontext der begrifflichen Ausdifferen‐ zierung eines politischen Freiheitsbegriffes wird dem Staat immer mehr die Aufgabe zuteil, die natürlichen Rechte des Menschen zu realisieren, d. h. die „Sicherung der Freiheitsrechte, insbesondere des Lebens und des Eigentums des Einzelnen“ (Klippel 2015: 376) wird zum liberalen Staatszweck, während zugleich die „Einhegung staatlicher Macht“ (Noetzel 2008: 328) Bestandteil liberaler Forderungen bleibt. Als „Bruch mit dem auf Knechtschaft beruhenden Ancien Régime“ (Ozouf 1996: 1103) begreift sich die Französische Revolution als Verwirklichung des Prinzips der Freiheit und so entwickelt sich ‚Freiheit‘ erfolgreich zu einem positiv konnotierten „Schlagwort mit hoher politischer Legitimationsfunktion“ (van den Heuvel 1992: 87), dessen Bedeutungsgehalt und konkrete politische Umsetzung über 1789 hinaus stark umkämpft bleibt (vgl. van den Heuvel 1992). Es hat sich etabliert, in der politischen Philosophie zwischen negativer Freiheit, als Abwesenheit von Zwang und positiver Freiheit, als Möglichkeit zur Selbstbestimmung und zur freien Entscheidung (vgl. Prechtl 1999: 184) zu unterscheiden. 103 Diese Unterscheidung ist bis zu einem gewissen Grad auf die Verteilung partizipativer Rechte im Kontext politischer Systeme der Post-Revolutionszeit übertragbar. Hier zeigte sich, dass große Teile der Bevölkerung (Besitzlose, Schwarze und andere rassifizierte Personen sowie Frauen) in Frankreich weitestgehend von der positiven Freiheit und damit von der Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen waren. Das Eigentum war in diesem Ausschluss breiter Bevölkerungsschichten ein ent‐ 64 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="65"?> 104 Wie Rüdiger schreibt, gingen sowohl Enzyklopädisten wie Physiokraten davon aus, „dass die bürgerliche Gesellschaft in politischer Hinsicht nur von den Eigentümern repräsentiert werden konnte, da nur Eigentum als soziales Scharnier zwischen zweckra‐ tionalem Interesse und wertrationaler Autorität fungieren könnte“ (Rüdiger 2015: 270). Großteile der arbeitenden Bevölkerung, welche ohne nennenswerten Besitz waren, wurden zwar als der bürgerlichen Gesellschaft zugehörig begriffen, „sie hatten jedoch keinen Anteil als politische Glieder der bürgerlichen Gesellschaft“ (Rüdiger 2015: 270). 105 Der Zusammenhang von Naturrecht und bürgerlicher Regierung zeigt sich bei John Locke besonders deutlich, wo „ein zweckrationaler Gesellschaftsvertrag zum Schutz des Eigentums und der daraus ableitbaren Interessen“ zur einzigen „legitime[n] Rechtsquelle der bürgerlichen Gesellschaft“ wird (Rüdiger 2015: 267). „Insofern wurden sämtliche bürgerliche Rechte und Privilegien (lives, liberties, estates) auf das Eigentum zurückgeführt“ (Rüdiger 2015: 267). 106 Bei den Thermidorianer handelte es sich eine rechts von den Jakobinern zu verortende politische Gruppierung der Französischen Revolution, die das Konzept eines besitzin‐ dividualistischen Aktivbürgertums vertrat (vgl. Rüdiger 2015: 272). scheidender Faktor an dem, wie bereits bei Rousseau zwischen „selbständigen“ Eigentümern und besitzlosen „Unselbstständigen“ unterschieden wurde (vgl. Kaufmann 2015: 224 ff.). 104 In der Tradition von Locke, der sich für einen Schutz des Eigentums (Property) vor dem Zugriff des Staates aussprach; das Leben, die Freiheit und den (Grund)besitz zu Eigentum erklärte und so Freiheit untrennbar mit Eigentum verschaltete (vgl. Kaufmann 2015: 224), 105 wird Eigentum zum Garanten von Autonomie und somit politischer Teilhabe und damit zu einem zentralen Baustein bürgerlicher Gesellschaften wie Hartmut Rosa ausführt: Wie zentral dieser Autonomiegedanke für die Kultur der Moderne von Anfang an ist, lässt sich auch daran ablesen, dass der politische Kampf des Bürgertums und des Liberalismus von Anfang an auf die Durchsetzung von Freiheits- und Abwehrrechten zielte, welche die autonome Selbstbestimmung […] schützen und sichern sollten. Der Autonomiegedanke liegt darüber hinaus auch an der Wurzel der Attraktivität des Geldes […] Geld und Recht werden damit zu den Basismedien der modernen Autonomiesicherung (Rosa 2010: 202). Rosa sieht diese Entwicklung eindeutig im aufklärerischen Freiheitsanspruch angelegt (vgl. Rosa 2010: 202) und so lässt sich eine Linie von der Vorstellung des autonomen Individuums hin zu kapitalistischen Besitzordnungen ziehen. Gleichwohl war diese besitzorientierte Auslegung des Freiheitsbegriffes immer wieder, insbesondere in der Zeitspanne von 1789 bis zur Konsolidierung der Macht der Thermidorianer 106 1799, Gegenstand politischer und philosophi‐ scher Auseinandersetzungen. In dem Maße wie Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft an Besitz geknüpft wird und damit notgedrungen bestimmte Bevölkerungsschichten ausschließt, gerät die Freiheit in Widerspruch zu einer 1.4 Libète ou lamò?   — Freiheit als revolutionäres Vergemeinschaftungskonzept 65 <?page no="66"?> 107 Im Zuge der Französischen Revolution und des universalen „Repräsentationsanspruch“ der Declaration des Droits l’Homme et du Citoyen tritt dieser Widerspruch deutlich zutage: „Die hierin formulierte Identität von Menschen- und Bürgerrechten basierte formal auf einem uneingeschränkten Recht auf Rechte, auf die prinzipiell jedes politi‐ sche Subjekt Anspruch erheben konnte. Diese radikale Entgrenzung rehabilitiert den politischen Körper auf Basis einer direkten Verkoppelung von Freiheit und Gleichheit […], kollidiert jedoch mit den besitzindividualistischen Voraussetzungen der bürger‐ lichen Gesellschaft. […] Im revolutionären Streit um die praktische Definition der bürgerlichen Gesellschaft setzte sich schließlich das besitzindividualistische Aktivbür‐ gerkonzept der Thermidorianer gegen den radikaldemokratischen Jakobinismus durch, so dass die politische Grenze wieder zwischen Besitzenden und Besitzlosen fixiert wurde“ (Rüdiger 2015: 271 f). 108 In die Verwebungen von Freiheit und Besitz fließt zudem mit ein, dass Sklav: innen gemeinhin als Eigentum der Kolonialherr: innen galten und dass erstere nur in sehr eingeschränktem Maße selber Eigentümer: innen sein konnten. Orlando Patterson legt dar, dass eine Definition, welche Sklaverei vorrangig durch Eigentumsrechte an Menschen verstanden wissen will, zu kurz greife und die weitverbreitete Eigen‐ tumsförmigkeit menschlicher Beziehungen übersähe (vgl. Patterson 1982: 21). Eine Besonderheit der Beziehung zwischen Versklavten und Sklavenhaltern ist die Tatsache, dass Letztere die totale Macht in allen Bereichen des Lebens ihrer Sklaven besitzen (vgl. Patterson 1982: 26). In diesem Sinne gibt es keine anderen Personen, die über rechtliche Ansprüche an den Versklavten verfügen und diese haben keine Anrechte an anderen Personen oder Objekten: „The slave was a slave not because he was the object of property but because he could not be the subject of property“ (Patterson 1982: 28). Diese Beschreibung antizipiert bereits die darausfolgende sozioökonomische Situation des Versklavten. Dementsprechend verfügt der Versklavte weder über An‐ sprüche an den Ergebnissen seiner Arbeit, irgendeiner Form von Eigentum, noch über seine Nachkommen. Selbst freigelassene Sklaven, fanden sich häufig in fortdauernder ökonomischer Abhängigkeit von ihren ehemaligen Herr: innen wieder (vgl. Patterson 1982: 241 ff.). Die Unmöglichkeit der Sklav: innen, Subjekte in Eigentumsbeziehungen zu sein, bringt die Unmöglichkeit Herr: in seiner selbst bzw. seiner Arbeit zu sein, insofern mit sich, als dass Eigentum als Voraussetzung der Freiheit galt (vgl. Buck Morss 2011: 49) proklamierten universellen Gültigkeit des Prinzips der Gleichheit. 107 Das Zu‐ sammenbringen von Freiheit und Eigentum in einer Zeit, in der die französische Wirtschaft zu großen Teilen auf der Versklavung der ‚Anderen‘ — vor allem von Nichteuropäern und Nichtweißen — fußte, verdient einer besonderen Aufmerksamkeit ( vgl. Buck-Morss 2011). Der Freiheitsdiskurs sowie der öko‐ nomische Einfluss, die es dem europäischen Bürgertum ermöglichten sich zu emanzipieren, sind untrennbar mit der Existenz der Kolonien verwoben (vgl. Patterson 1982). Bürgerliche Vorstellungen von Autonomie und Freiheit, die stark auf wirtschaftlicher Selbstständigkeit basieren, bildeten sich folglich in einem Netz globaler Ausbeutungs- und Aneignungsbeziehungen heraus, welche diese illusorische Autonomie erst ermöglicht. 108 Die Formen der Aneignung und Ausbeutung der Arbeit Anderer wird über die Schwäche, Abhängigkeit und 66 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="67"?> 109 Das Verhältnis zwischen Versklavten und Herr: in ist nicht die einzige ‚parasitäre‘ Machtbeziehung. Ähnliches ließe sich auch über das Verhältnis zwischen den Ge‐ schlechtern (insbesondere im Modell der patriarchalen Familie) und zwischen Arbeit‐ nehmer: innen und Arbeitgeber: innen sagen. 110 Die Produktivität dieser Anfechtungen und Übersetzungprozesse zeigt Annette Jo‐ seph-Gabriel auf: „The Creole translation of Sonthonax’s proclamation disavows class hierarchy and attests to the fact that the Haitian Revolution was shaped not only by slaves’ desire to take back their freedom, but also to overthrow the system of racial and class inequality. If the Proclamation Le Cap and its Creole translation diverge on the definitions of liberty and equality, they also present fundamental differences on how to achieve these republican ideals“ ( Joseph-Gabriel 2015: 116). 111 Die Vorstellung freier Individuen und autonomer Subjekte, die der Freiheit für die Ausübung ihrer ‚Geschäfte‘ benötigen ist zentral für das liberale Modell und wird von Karl Marx später als Ideologie der dominierenden sozialen Klassen kritisiert, wie Nesbitt schreibt (vgl. Nesbitt 2010 : 234). Minderwertigkeit der Ausgebeuteten begründet, wodurch eine Umkehrung und Verschleierung der Abhängigkeitsverhältnisse stattfindet, welche Patterson als Camouflage beschreibt: The slaveholder camouflaged his dependence, his parasitism, by various ideological strategies. Paradoxically, he defined the slave as dependent. This is consistent with the distinctively human technique of camouflaging a relation by defining it as the opposite of what it really is (Patterson 1982: 337 ). 109 Vor dem Hintergrund dieser Bedingtheit verbleibt die Idee des freien, auto‐ nomen (männlichen und meist weißen) Individuums ein hochgradig kritikwür‐ diges Ideal, welches durch die Haitianische Revolution deutliche Anfechtungen erfährt. 110 Denn, so schreibt Nick Nesbitt, die revolutionären Sklav: innen waren sich darüber bewusst, dass keinesfalls alle Menschen frei waren und somit die liberale Grundannahme menschlicher Autonomie 111 nicht a priori vorausgesetzt werden konnte, sondern über die Einrichtung einer emanzipatorischen Gesell‐ schaft kontinuierlich zu erwirken war: En interprétant le concept français-créole de ‘liberté/ libete’ de façon autonome, les esclaves de Saint-Domingue en 1791 ont fait peser leur expérience vécue de l’esclavage sur cette abstraction. Ils n’ont pas procédé selon des principes étrangers et dogmatiques (la doctrine nord-Atlantique de liberté émanant de l’homme blanc propriétaire foncier), mais ont, au contraire, rejeté une telle autorité pour procéder comme si l’ordre universel du bien était discernable dans le monde (Nesbitt 2010: 237 f.). Neben der starken Wirkung des liberalen Autonomiegedankens lässt sich jedoch im Kontext der Revolutionen in Haiti und Frankreich auch ein vergemeinschaf‐ 1.4 Libète ou lamò?   — Freiheit als revolutionäres Vergemeinschaftungskonzept 67 <?page no="68"?> 112 Es erscheint naheliegend in dieser Ausrufung den „Kampf auf Leben und Tod“ aus He‐ gels Phänomenologie des Geistes wiederzuerkennen, in dem allein die Freiheit errungen werden kann (vgl. Buck-Morss 2011: 27, 80 ff.). Vor Susan Buck-Morss hatte bereits der afrikanische Historiker Pierre Franklin Tavarès eine ähnliche These aufgestellt, die, wie Joseph kritisiert, jedoch wenig Aufmerksamkeit erhielt (vgl. Joseph 2016). Zudem findet sich die Übertragung der Herr-Knecht-Dialektik auf den kolonialen Kontext bereits zuvor bei Fanon in Les damnés de la terre ([1961] 2011b), jedoch ohne direkte Bezugnahme auf Haiti. tender Effekt des Freiheitsbegriffes beobachten. „Das kollektive Bewußtsein, mit der Revolution ein neues ‚Zeitalter der Freiheit‘ zu begründen“ (van den Heuvel 1992: 101) und mit der vorherigen despotischen Ordnung zu brechen, entfaltete als kollektive Erzählung im Kontext der Französischen Revolution eine stark mobilisierende Wirkung (vgl. ebd.). Entlang eines emphatischen Verständnisses von Freiheit werden in den revolutionären Aushandlungsprozessen Grenzzie‐ hungen zwischen politischen Weggenoss: innen und Gegner: innen gezogen, damit erfüllte die heroisierende Anrufung der Freiheit zugleich integrative und distinktive Funktionen (vgl. van den Heuvel 1992: 18 ff.): In diesem Kontext war die Berufung auf ‚Freiheit‘ ein Motor des Patriotismus und Nationalismus, und die liberté verkörperte das wesentliche Identifikationssymbol des Bürgers mit der Revolution. Diese Betonung der gemeinschaftlichen Freiheit führte in der Theorie wie in der Praxis zu einer Einschränkung der individuellen Freiheitsrechte (van den Heuvel 1992: 20). Dieser vergemeinschaftende Diskurs der Freiheit bildete mit der Zeit immer stärker hegemoniale Tendenzen heraus, unter den auseinanderstrebende soziale Interessen ausgeklammert wurden (vgl. van den Heuvel 1992). Deutliche Aus‐ drucksformen dieses polarisierenden Gebrauchs finden sich in den Parolen „Liberté ou la mort“ bzw. „Vivre libre ou mourir“, welche sowohl in Paris als auch in Haiti zirkulierten. In der binären Gegenüberstellung zeigt sich ein existentieller Kampf, in welcher die Abwesenheit von Freiheit zum Äquivalent des Todes wird. 112 Der Tod als einzige Alternative zur Freiheit gilt ebenso für die Revolutionäre als Verfechter: innen der Freiheit wie für ihre Feinde (vgl. Röttgers 2011). Das Individuum gibt in einem (kollektiven) Kampf für die Freiheit sein Leben hin bzw. tötet jene, die seine Freiheit bedrohen. In dem Sterben des Individuums für Freiheitsrechte hebt sich aber die singuläre, autonome Vorstellung von Freiheit auf, da sie nur noch posthum und damit über das Individuum hinausgehend verwirklicht werden kann. Die Idee natür‐ licher Freiheitsrechte sind zwar an das Individuum als einzelner, selbständiger Teil einer universalen Menschheit geknüpft, die kämpferische Bezugnahme überschreitet jedoch die konkrete individuelle Existenz und erfolgt im Kollektiv. 68 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="69"?> 113 Agency zeigt hier sich u. a. in den Übersetzungsleistungen, mit welcher französische Postulate und Anordnungen in das haitianische kreyòl übersetzt wurden und die, die Interessen als auch die politischen Positionen der Aufständigen reflektieren: „If Bonaparte’s aim was to demand unquestioned obedience from his subjects in Saint-Domingue, then asking the ex-slaves to decide for themselves whether or not they were French citizens is the ultimate subversion of Bonaparte’s imperial power in the text. In addition to reformulating the definition of citizenship, the Creole writer also transforms the definition of liberty in a manner similar to Sonthonax’s translator and creates some tension between liberty granted and liberty gained” ( Joseph-Gabriel 2015: 119). 114 Der nationale Diskurs erwies sich dabei weitestgehend ignorant gegenüber dem Zusammenspiel von Körperpolitiken und Freiheit, wie Sheller herausarbeitet, indem sie in ihre Analyse Fragen von Sexualität, Reproduktion, Fürsorge sowie spirituelle und kreative Praktiken miteinbezieht: „My overall aim is to show not only that we need to attend to sexuality and the body within the study of citizenship but, even more crucially, thatwe need to broaden our understandings of the underlying meanings of Caribbean freedom and emancipation by recognizing that intimate inter-bodily relations are the fundamental basis for human dignity and thus for freedom in its widest sense […] Insofar as freedom is an embodied performance that requires racial, ethnic, gender, and sexual boundaries to be marked and articulated in public ways, any exercise of autonomy or agency is always in tension with state efforts to control sexuality, reproduction, family formation, kinship systems, landholding, and labor systems” (Sheller 2012: 22 ff.). In der Unabhängigkeitserklärung der Armée Indigène von 1804, welche den Titel Liberté ou la mort trägt, wird diese Wirkmächtigkeit einer kollektiven Befreiungserzählung deutlich: Après avoir fait connaître aux généraux assemblés ses véritables intentions d'assurer à jamais aux indigènes d'Haïti un gouvernement stable, objet de sa plus vive sollicitude : ce qu'il a fait à un discours qui tend à faire connaître aux puissances étrangères la résolution de rendre le pays indépendant, et de jouir d'une liberté consacrée par le sang du peuple de cette île; et, après avoir recueilli les avis, a demandé que chacun des généraux assemblés prononçât le serment de renoncer à jamais à la France, de mourir plutôt que de vivre sous sa domination, et de combattre jusqu'au dernier soupir pour l'indépendance (Maury 2010a). In dem historischen Dokument ist Freiheit nicht a priori gegeben, sondern wurde in einem Akt kollektiver Anstrengung 113 errungen, welcher das Kollektiv erst hervorbringt. Zugleich wird sich hier weniger auf ein positives und liberales Freiheitsverständnis bezogen, denn im Zentrum steht die konkrete, negative Freiheit als Abwesenheit von Sklaverei (vgl. Geggus 2016: 30). Damit fungiert der Kampf um die Freiheit als ein vergemeinschaftendes Moment und als Aus‐ gangspunkt einer nationalen Erzählung, die sich auf eine heroisierte Revolution bezieht (vgl. Trouillot 1990: 44). 114 1.4 Libète ou lamò?   — Freiheit als revolutionäres Vergemeinschaftungskonzept 69 <?page no="70"?> 115 Walter Mignolo erfasst diesen Ausschluss in der Unterscheidung zwischen humanitas und anthropos und schließt seine kritische Relektüre des Kosmopolitismus daran an (vgl. Mignolo 2018). 116 Das Wort humanité gewinnt im 18. Jahrhundert zunehmend an Präsenz und Bedeutung, ein Umstand für den die affektive und sentimentale Aufladung des Begriffes nicht unbedeutend ist (vgl. Duranton 2000: 23 f.). Hinter diesen emphatischen Anrufungen treten die Pflichten der Menschlichkeit nicht selten in den Hintergrund wie Duranton schreibt: „On n’ignore pas que le sentiment d’appartenance au genre humain implique des devoirs, qu’il y a des lois contraignantes pour l’homme en société. Mais on préfère les oublier au profit de ‘ cet enthousiasme du sentiment qu’inspire l’amour de l’humanité’ “ (Duranton 2000 : 23 f.). 117 Die begriffliche Trennung zwischen humanité und civilisation wurde zunehmend schwächer und humanité wurde ab 1770 „zum obersten zivilisatorischen Leitwort“ (vgl. Michel 1988: 17). 1.5 Radikaler Humanismus Diese Erzählung menschlicher Freiheit lässt sich nicht klar von einem Diskurs trennen, der immer wieder auf Begriffe des Menschlichen und der Menschlich‐ keit referiert. Denn nicht selten wurde Freiheit als vermeintlich grundlegende menschliche Eigenschaft unter dem Schlagwort humanité subsummiert (vgl. Duranton 2000). Unterdessen umfasst der Begriff der humanité mindestens drei Bedeutungen: erstens im ontologischen Sinne der menschlichen Natur bzw. der condition humaine, zweitens als moralischer Imperativ in Form menschlicher bzw. menschenwürdiger Verhaltensweisen und drittens als an‐ thropologische Generalisierung im Sinne einer Menschheit (vgl. Duranton 2000: 11 f.). Für alle drei Dimensionen drängt sich die Frage auf, wer als zur Menschheit gehörend anerkannt wird. 115 Gleichwohl im 18. Jahrhundert ein emphatischer Gebrauch des Begriff humanité zu beobachten ist, 116 so vollziehen sich doch parallel dazu rassistische Hierarchisierungen von Menschen bis hin zur gänzlichen Dehumanisierung bestimmter Gruppen und ihrem Ausschluss aus einer heroisierten Menschheit. Diese Dehumanisierung erfolgt nicht nur über die gewaltsamen Disziplinierungs-, Unterwerfungs- und Dominanzprak‐ tiken der Sklaverei und des Transatlantischen Sklavenhandels, sondern auch über Epistemologien und kulturelle Bilder. Im Zuge eines ‚Rasse‘-Diskurses, der versuchte Menschengruppen zu klassifizieren und zu hierarchisieren (vgl. Oehler-Klein 2015), wurde ein Menschenbild zelebriert, welches diesen als „Kultur- und Vernunftwesen, als eines der steten Vervollkommnung fähigen und aufgrund geistiger Erkenntnisleistung geschichtsprägenden Wesens, das den Grad der Glückseligkeit und Selbstbestimmung über Entwicklungsstufen errei‐ chen kann“ (Oehler-Klein 2015: 423) konstruierte. Jene Denkbewegung war fa‐ vorabel für Zivilisierungsbestrebungen 117 und (koloniale) Ausbeutungssysteme, 70 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="71"?> 118 Im engeren Sinne ist Humanismus keine der Epoche der Aufklärung entstammende Denkbewegung, sondern hat seine Ursprünge im 14. Jahrhundert bzw. wird in der (Weimarer) Klassik als Neuhumanismus wiederbelebt (Burkard 1999: 241). vermochte sie doch den Ausschluss bestimmter Gruppen von Menschen aus der humanité zu rechtfertigen. Die wirkmächtigen Anrufungen der humanité im Sinne von Menschlichkeit und Menschheit erfolgen häufig mit dem Begriff des Humanismus, an den sich auch die Kritik an eurozentrischen, imperialen und exklusiven Vorstellungen einer Menschheit und ihrer Geschichte richtet. Der Humanismus, obwohl im engeren Sinne kein genuines Konzept der Aufklärung (Burkard 1999: 241), 118 wird dabei häufig im Kontext dieser betrachtet, lassen sich schließlich Verbindungen zwischen humanistischen Weltanschauungen und Argumentationszusammenhängen der Epoche der Aufklärung herausstellen. Die Idee, „dass jede Person einen moralischen Eigenwert besitzt sowie über eigene Ziele und Zwecke verfügt“, sei dabei ein Kerngedanke des „ethischen Humanismus“ (vgl. Sturma 2014: 7). Die ideengeschichtliche Verschmelzung von Humanismus und Aufklärung tritt besonders in der Kritik am Humanismus deutlich hervor. So kritisiert Marina Garcés in Nouvelles Lumières radicales (2020), die humanistische Tradition des Okzidents, welche die wissenschaftli‐ chen und politischen Institutionen der Moderne begründe, als imperial, euro‐ zentrisch und patriarchal. Ein solcher Humanismus baue durchgängig auf dem Bild des weißen, bürgerlichen und europäischen Mannes auf und dominiere so sämtliche alternativen Konzeptionen, weshalb Garcés den Okzident dazu auf‐ fordert, den ‚Eroberungsuniversalismus‘ aufzugeben und zu lernen, sich selbst im Rahmen einer wechselseitigen Universalität zu denken (vgl. Garcés 2020: 75). In der Kritik, welche Garcés hier vornimmt, wird der Humanismus als Teil des Projektes der Aufklärung begriffen und darin assoziiert mit einem imperialen Universalismus (vgl. Lüsebrink 2021: 68). Als Konsequenz fordert sie einen neuen Humanismus, welcher nicht Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier, Bürger und Barbar, Gebildeten und Ungebildeteten vollführt (vgl. Garcès 2020; Sturma 2014: 46). Die Kritik an einer europäischen Tradition des Huma‐ nismus bzw. deren „fragwürdigen Instrumentalisierungen“ (Gieselmann/ Straub 2014: 7), verknüpft mit der parallelen Suche nach neuen, pluralen, polyvalenten und heterogenen Humanismen, findet sich nicht nur bei Garcés. So sprechen Gieselmann und Straub von unabgegoltenen Potentialen humanistischer Selbst- und Weltentwürfe, die „das „Abenteuer des menschlichen Zusammenlebens“ wenigstens in einigermaßen erträglichen Formen zu halten vermögen“ (Giesel‐ mann/ Straub 2014: 7) und dem Humanismus-Projekt als Versuch, „sich in einem sukzessiv dichter werdenden Netzwerk sozialer Begegnungen über Grundlagen und Ziele menschlichen Daseins zu verständigen“ (Gieselmann/ Straub 2014: 17). 1.5 Radikaler Humanismus 71 <?page no="72"?> 119 Ueckmann gibt in „Vers un nouvel humanisme transatlantique? “ einen Überblick über karibische und afrikanische Gegenentwürfe zu einem imperialen Humanismus, zu denen sie, wie Nesbitt ebenfalls (Nesbitt 2013), die Négritude zählt (Ueckmann 2018). Ein vergleichbares Ziel formuliert Susan Buck-Morss und verbindet das Projekt eines neuen Humanismus mit der Aufgabe die Universalgeschichte neu und unter Einbeziehung verdrängter Ereignisse, im Sinne einer globalen Öffent‐ lichkeit, zu konfigurieren (Buck-Morss 2011: 109). Gisela Febel und Natascha Ueckmann verweisen in ihrem Band Pluraler Humanismus auf die Karibik als „‘besseren Erben‘ des humanistischen Denkens“ (Febel/ Ueckmann 2018: 34) und als Ort neuer produktiver Theoretisierungen des Zusammenlebens. 119 Folglich entstehen Skizzen für neue, plurale und heterogene Humanismen in den letzten Jahren verstärkt auf Grundlage post-kolonialer bzw. dekolonialer Ansätze und in der Kritik an den dehumanisierenden, im Namen eines eurozentrischen Hu‐ manismus ausgeübten, Politiken. In der Diskussion um neue, dekolonialisierte Humanismen stellt das Werk von Frantz Fanon ein wichtiger Bezugspunkt dar. Fanons Vision einer Befreiung der ‚Damnés de la terre‘ durch die transformative Gewalt des antikolonialen Kampfes und die Geburt eines neuen Menschen be‐ greift Nick Nesbitt als Ausdruck eines revolutionären, militanten Humanismus: The project of such a post-racial, militant humanism would consequently be to transcend the systematic ‘dehumanization’ of racism and colonialism and to ‘create the ideal conditions of existence in a humane [humain] world’ […] This transformation is the basis for Fanon’s ‘humanism’, simultaneously a critique (of European humanism as an ideological justification of imperial violence) and defense (of, in the final words of Les Damnés de la terre, ‘un homme neuf ’ that would result from a true and total process of decolonization) (Nesbitt 2013: 192 ff.). Die Hinwendung zu Fanon gibt den Blick frei auf eine andere, humanistische Denklinie, welche humanistische Ansprüche gerade nicht auf ein bürgerliches Idealsubjekt kapriziert, sondern daraus Inspiration für eine radikale Neuord‐ nung des Gesellschaftlichen denkt. In deutlicher Abkehr von den ursprüng‐ lichen religiös-christlichen und bürgerlichen Traditionen des Humanismus schlagen der Sozialismus und von ihm beeinflusste geistige Strömungen einen Pfad ein, welcher „die Emanzipation des Menschen aus allen ihn erniedrigenden Verhältnissen“ (Burkard 1999: 241) zum Ziel hat. Es findet eine anthropologische Neukonzeption des Humanismus statt, die seinen „klassisch individualistischen Charakter“ zu überwinden sucht und der sich an seiner „politisch-soziale 72 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="73"?> 120 Hier lässt sich auch Jacques Stephen Alexis‘ literarisch-politisches Programm der Belle amour humaine (1957) verorten, auf das ich an späterer Stelle noch ausführlicher zu sprechen komme. Wirksamkeit“ (Burkard 1999: 241) messen lassen muss. 120 Gemeinsam ist diesen neueren Ansätzen, dass sie die etablierten, exklusiven Humanismen einer Generalüberholung unterziehen, um aus ihren Überresten und den kritischen Interventionen neue Humanismen zu schaffen, welche das Versprechen einer universellen, inklusiven menschlichen Vergemeinschaftung und einem guten, humanen Zusammenleben einlösen können. Ebenso wie der Ausschluss be‐ stimmter sozialer Gruppen aus einer freien, gleichen mit Rechten besehenen Menschheit in der Geschichte immer wieder vollzogen wurde, war auch die Anerkennung von Humanität und damit einhergehend die Aufnahme in eine imaginierte Weltgemeinschaft der Menschen Gegenstand politischer Kämpfe. Da das System, welches diese Kämpfe anfechten, auf Brutalisierung und Dehu‐ manisierung aufbaut, kann seine Veränderung laut Fanon nur durch absolute und zugleich transformative Gewalt errungen werden (vgl. Fanon [1961] 2011b; Nesbitt 2013: 246). Dieser Gewalt kommt es zu, eine neue ‚wahrhaft universelle‘ Menschlichkeit zu verwirklichen (vgl. Nesbitt 2013: 246). Im Zuge der Haitianischen Revolution fand eine solche Transformation statt, weshalb Marlene L. Daut die postrevolutionäre Ära in Haiti zum Ausgangspunkt ihrer Studie zum Black Humanism nimmt. In den Schriften Baron de Vasteys und ihrer Wirkung auf Abolitionionisten und Anti-Kolonialisten identifiziert Daut den Beginn eines Black Atlantic Humanism (vgl. Daut 2017: xviii), welcher sich als Alternative zu einem eurozentrischen, individualistischen Humanismus und dessen imperialistisch-zivilisatorischen Effekten herausbildete. Jener radikale Humanismus verfolgte dabei das Ziel, jene Philosophien der Aufklärung zu stören, welche die Grundlagen für koloniale Sklaverei und Rassismus boten: The definition of what we might call Black Atlantic humanism and its parameters are intentionally broad. The term describes an intellectual endeavour begun in the eighteenth century on both sides of the Atlantic with the principal aim to prove that black people were equal to the white people who were enslaving them (Daut 2017: xviii f.). In der Definition, welche Daut hier bietet, aktiviert der Black Atlantic Huma‐ nism die (aufklärerische) Vorstellung universeller Gleichheit und dekonstruiert zugleich philosophische Legitimation rassistischer Ausbeutung. Dabei birgt das Konzept des Black Atlantic Humanism eine vergemeinschaftende Dimen‐ sion, welche über kontinentale Grenzen hinausweist. In diesem Raum klingen Entmenschlichung und Verschleppung als konstituierende Erfahrungen einer 1.5 Radikaler Humanismus 73 <?page no="74"?> 121 Hier lässt sich eine radikale Umdeutung erkennen, in der ‚Blackness‘ anstelle von Unmenschlichkeit und Grausamkeit zum Zeichen für Menschlichkeit und Gerechtigkeit wird, wie Daut schreibt: „My understanding of the ‘modern humanism’ sparked and encouraged by eighteenthand nineteenth-century anti-slavery writers is, therefore, not derived from eighteenth-century philosophes, whose belief in probing the meanings of humanity extended only to white people. Rather, my sense of the meaning of the word ‘humanism’ is derived primarily from Black Atlantic writers of the twentieth century who used the term” (Daut 2017: xxxvi). transatlantischen, afrodeszendenten Diaspora weiterhin nach, werden aber nun zur Grundlage einer neuen, gemeinsamen (widerständigen) Humanität. In diesem konzeptuellen und revolutionären Umbau kommt Haiti eine zukunfts‐ weisende Position zu: Haitian intellectuals and political leaders were some of the first people of color to systematically deconstruct the racist perspectives of Western philosophers, and Haiti was the first postcolonial state in the Americas to insist upon freedom and equality for all of its citizens. The transformation of French colonial Saint-Domingue into sovereign Haiti contributed […] to contemporary ideas about the meanings of freedom and liberation. Rewriting early Haitian authors, alongside the Haitian revolutionaries themselves, back into the intellectual history of modern humanism is crucial to this project of tracing how Black Atlantic ideas have contributed to our modern sense of what it means to be free (Daut 2017: xxv). Dieser moderne Humanismus, welchen Daut hier umreißt, ist eng mit Kon‐ zeptionen universaler Freiheit verbunden. Er widerspricht hegemonialen Re‐ präsentationen des Humanen, in welchen Schwarze Personen zu Objekten degradiert werden und unterstreicht stattdessen, im Kontext eines gelungenen Befreiungsaktes, das politische Schwarze Subjekt und dessen Agency. Als Versprechen der Befreiung und der Gleichheit bietet ein solcher Humanismus Legitimationspotenzial für politische, antirassistische Forderungen und zielt auf eine globale Vergemeinschaftung, die nicht durch Staatsangehörigkeit und Nationalität beschränkt bleibt. In diesem Prozess wird nicht nur die Dehumanisierung Schwarzer Menschen vehement zurückgewiesen, sondern die Haitianische Verfassung erklärt sie 1805 aktiv zum Inbegriff von Menschlichkeit und Freiheit 121 (vgl. Daut 2017: xxvii). Grenzenloser Humanismus? — Kosmopolitisches Ideal und die Realität der Migration Bereits der Begriff Black Atlantic Humanism und der Kontext seiner Entstehung verdeutlichen, dass Narrative der Vergemeinschaftung nur bedingt an natio‐ 74 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="75"?> 122 Von diesem erhöhten Interesse für den Begriff Kosmopolitanismus, insbesondere auch als ‚dekoloniale Option‘ zeugen eine Vielzahl von Veröffentlichungen: Anthony Appiah: Cosmopolitanism. Ethics in a world of strangers (2006), Walter Mignolo: Cosmo‐ politanism and the De-colonial Option (2010), Seyla Benhabib: Another cosmopolitanism (2006). 123 Voltaire, Montesquieu und Hume verstanden sich als Kosmopoliten im Sinne ortsunge‐ bundener Intellektueller, deren Heimat dort liegt, wo sie sich „in freier Kommunikation mit Gleichgesinnten entfalten“ können (vgl. van den Heuvel 2015: 43). nalen und kontinentalen Grenzen orientiert sein können. Deterritorialisierung und Deportation brachten eine spezifische, moderne Erfahrung des déracine‐ ments hervor, welche von territorial gebundenen Konzepten wie citoyenneté oder Nationalität nicht eingeholt werden kann und die sich bis in die Gegenwart in Gestalt multipler Zirkulations- und Migrationsbewegungen fortsetzt. Achille Mbembe hebt die Relevanz und Kontinuität dieser Diaspora-, Migrations und Deportationserfahrungen für eine (Schwarze) Globalgeschichte hervor: Erstens […] ist die Geschichte der Schwarzen keine gesonderte Geschichte. Sie ist integraler Bestandteil der Weltgeschichte. Die Schwarzen sind mit demselben Recht Erben dieser Weltgeschichte wie die restliche Menschheit. Zeichnet man die Kette ihrer fernen Ursprünge nach, führt sie unausweichlich nach Afrika, während ihr Aufenthalt in der Welt vor allem von Bewegung, Zirkulation und Zerstreuung geprägt war. Da Bewegung und Mobilität strukturierende Elemente ihrer geschichtlichen Erfahrung darstellen, findet sie sich heute über die ganze Erde verstreut (Mbembe 2017: 189). Die von Mbembe beschriebene historische Erfahrung sowie die beschleunigten, globalen (Migrations-)Bewegungen der Gegenwart lassen verstärkt Gegenden der Welt miteinander in Beziehung treten und werfen Fragen nach Neuveror‐ tung in der Welt auf. Diese vielfältigen Bewegungen von Einzelpersonen und Gruppen befördern auf der Suche nach neuen Angeboten für Zusammenleben und Vergemeinschaftung jenseits des Nationalstaats eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kosmopolitismus sowie Vorstellungen vom Weltbürger: in‐ nentum, die eine Brücke ins Zeitalter der Aufklärung schlagen. 122 Aus der Er‐ fahrung zunehmenden intellektuellen Austausches zwischen europäischen In‐ tellektuellen im Zeitalter der Aufklärung verfertigte sich das „Wunschbild eines freien, grenzüberschreitenden Austausches von Menschen und Ideen“ (vgl. van den Heuvel 2015). Hier lässt sich eine gewisse Synthetisierung zwischen aufklärerischem Selbstverständnis und einer kosmopolitischen Einstellung be‐ obachten (vgl. van den Heuvel 2015: 43). 123 Das Ideal des Kosmopoliten ist zwar eindeutig auch an eine bestimmte Vorstellung von humanité geknüpft (vgl. van den Heuvel 2015: 43), weist zugleich jedoch unweigerlich exklusive, an sozialen 1.5 Radikaler Humanismus 75 <?page no="76"?> 124 Hier ist vor allem auf Anarchasis Cloots La république universelle ou Adresse au Tyrannicides (1792) und Immanuel Kants Schriften Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795) zu verweisen (vgl. van den Heuvel 2015). 125 Nwankwo identifiziert ‘race’, Nationalität und Humanität als die drei wichtigsten Kategorien über die Individuen sich und andere in der atlantischen Welt definierten(vgl. Nwankwo 2005: 10). Afrodeszendenten Menschen wurde jedoch nur erstere zuge‐ standen (vgl. Nwankwo 2005: 10). Status, Geschlecht, Einkommen und Hautfarbe geknüpfte, Züge auf. Der Zugang zur kosmopolitischen Vergemeinschaftung, die Teilhabe an einer citoyenneté mondiale erweist sich, damals wie heute, wenn auch in anderer Ausgestaltung, als Privileg, das zwischen dem Streben nach der Verwirklichung eines globalen Gemeinwohls und dem Ideal ungebundener, autonomer Individualität changiert (vgl. van den Heuvel 2015: 45). So bedeutet der Kosmopolitismus für die eine Gruppe die Verwirklichung einer (humanistischen) aufgeklärten Weltgemein‐ schaft, 124 im Sinne einer ‚universellen Weltrepublik‘ (vgl. van den Heuvel 2015: 50), während sie anderen, wie insbesondere Rousseau, als egoistische Aus‐ stiegsoption aus republikanischen und/ oder nationalistischen territorialen Ge‐ meinschaftsentwürfe erschien (vgl. van den Heuvel 2015: 46 f.). Beiden (europäi‐ schen) Betrachtungsweisen ist jedoch gemeinsam, dass sie kaum in der Lage sind Lebensrealitäten und historische Erfahrungen abzubilden, die Verschleppung, Vertreibung, Flucht und fundamentale Erfahrungen von sozialer, körperlicher und kultureller Entwurzelung sowie konsequenten Ausschluss von citoyenneté und Bürger: innenrechten beinhalten. So waren afrodeszendente Menschen von dem Zugang zu einer ‚kosmopolitischen Subjektivität‘ ausgeschlossen, wie ihnen auch nationale und menschliche ‚Subjektivität‘ verwehrt war, statt‐ dessen wurden sie auf eine vermeintliche ‚rassische‘ Identität/ Subjektivität festgeschrieben (vgl. Nwankwo 2005: 10 f.). 125 In Black Cosmopolitanism. Racial Consciousness and Transnational Identity in the Nineteenth-Century Americas (2005) zeigt Ifeoma Kiddoe Nwankwo die Zusammenhänge und Verflechtungen zwischen der Haitianischen Revolution, als einen wichtigen Wendepunkt für die Vorstellung von einer transatlantischen Black Community, und kosmopoli‐ tischen Bestrebungen auf: its [the Haitian Revolution] presumably contagious nature forced people of African descent throughout the Americas […] to name a relationship to the Haitian Revolution, in particular, and to a transnational idea of Black community, in general […] The fear was not just of people of African descent in a particular location rising up and rebelling against the power structure in that location, but rather of people of African descent from and in a variety of locations connecting with each other and fomenting a massive 76 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="77"?> revolution that might overturn the whole Atlantic slave system. In the wake of the uprising, people of African descent had to decide whether to define themselves as citizens of the world, specifically of the Black world that included the revolutionaries (Nwankwo 2005: 7). Wie bereits bei Daut im Hinblick auf einen Black Atlantic Humanism, steht auch bei Nwankwo die Haitianische Revolution am Beginn eines neuen Kosmopoli‐ tismus, welcher gerade nicht als Paradigma des vereinzelten Individuums, son‐ dern als die Bezugnahme auf eine Schwarze transnationale Vergemeinschaftung funktioniert, die im Kontext der Haitianischen Revolution notwendigerweise Revolutionär: innen miteinschließt. Anders als ein ’unmarkierter‘ weißer Huma‐ nismus und Kosmopolitismus, der keineswegs gezwungen war, zu herrschenden Verhältnissen in Opposition zu treten und durchaus in der Lage war, dem Ideal autonomer Individualität zu huldigen, verstehen sich die hier skizzierten Spielarten von Humanismus und Kosmopolitismus als Vergemeinschaftungs‐ entwürfe mit klarer politischer Tendenz. Ihre widerständige Kraft liegt darin, dass sie rassistischen Zuschreibungen widersprechen und über Praktiken der Solidarisierung zu einer kollektiven Befreiung beitragen. Als ein Gegenentwurf zum hegemonialen Kosmopolitismus, welcher mit der kolonialen Gewalt kolla‐ boriert, wurzelt der Black Cosmopolitanism in dem kollektiven Wissen und die Erinnerung an diese Gewalt (vgl. Nwankwo 2005: 13). Diese zeitliche Differenz bei der Übertragung in ein globalisiertes, im hohen Maße von Migration geprägtes 21. Jahrhundert darf keineswegs außer Acht gelassen werden. So erweist sich Kosmopolitismus hier als ein ambivalenter Bezugspunkt: Zum einen erscheint er als neuer transnationaler Raum ein Gegengewicht zum multinationalen Gefüge der Globalisierung zu bieten (vgl. Nouss 2015: 66). Zum anderen wird seine Beschränkung in der Anwendung auf aktuelle migratorische Phänomenen schnell offenbar, da hier die Kluft zwischen kosmopolitischen Normen, wie den Menschenrechten (Millan/ Zafer 2014: 312), und den national gebundenen Bürgerrechten, d. h. der Abhängigkeit ihrer Durchsetzung von der Zugehörigkeit zu einer politischen Vergemeinschaftung (Zhang 2014: 245), deutlich wird. Die Politikwissenschaftlerin Chenchen Zhang betrachtet das Postulat eines „Cosmopolitan Europe“ (Zhang 2014) vor dem Hintergrund eben jenes kom‐ plexen Verhältnisses von Menschenrechten und der Durchsetzbarkeit der Rechte von Non-Citizens. Ihre Analyse verweist dabei auf ein fundamentales Problem gegenwärtiger Kosmopolitismen, die in dem Versuch eine post-natio‐ nale Welt jenseits territorialer Grenzen und der Exklusivität der citoyenneté zu entwerfen, doch zwangsläufig durch Politiken der Staatsangehörigkeit und der Hautfarbe sowie durch Kapitalformen beschränkt werden und hinter diese 1.5 Radikaler Humanismus 77 <?page no="78"?> 126 Diese Erfahrung durchzieht die haitianische Geschichte vom Beginn des Sklavenhan‐ dels, über die Arbeitsmigration nach Kuba und in die Dominikanische Republik in der ersten Hälfte und den boat people in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bis hin zu gegenwärtigen Migrationsbewegungen nach Kanada, Europa und in die USA. zurückfallen. So verlangt das vermeintlich egalitäre Weltbürgertum mit Zugang zum Status der citoyenneté und Bewegungsfreiheit eben gerade zwei Bedin‐ gungen, die nicht nur für Sans- Papiers und Non-Citizens unerfüllt sind. Eine Wiederaufnahme kosmopolitischer Ideen in der Gegenwart kommt ohne die Einbeziehung von Erfahrungen der Migration und Deportation nicht aus, will sie sich einer Universalität menschlicher Erfahrungen annähern: A contemporary cosmopolitanism informed by this Enlightenment ideal remains challenged by the inherent conflicts between universal norms and sovereign statehood. As long as they disregard exclusionary and differentalist moments in the idea of universal rights, cosmopolitan responses too global migration are likely to remain largely limited to top-down efforts liable to reproduce existing power relations; they are unlikely to sufficiently appreciate the political significance of migrant agency […] Migrant subjectivity is continuously caught in the paradox between universality and particularistic categories of race, ethnicity, religion, and so forth (Zhang 2014: 256). Gegenwärtige Kosmopolitismen bewegen sich schlussendlich in einem Span‐ nungsfeld zwischen individualistischen Bestrebungen und kollektiven Erfah‐ rungen der Migration und der Verschleppung einerseits, sowie Bewegungsfrei‐ heit und Grenzregimen andererseits. „Homo sapiens est aussi et surtout un Homo migrator“ (Chamoiseau 2018: 44), schreibt der martinikanische Autor Patrick Chamoiseau 2017 in seinem Essay Frères migrants und erklärt damit Migration zu einer universellen Menschheitserfahrung. Diese Erfahrung ist dabei insbesondere auch eine haitianische, wie ein Blick in die Geschichtsbücher schnell vor Augen führt. 126 Eine Beschäftigung mit Entwürfen von Vergemein‐ schaftung und Visionen des Zusammenlebens in der haitianischen Literatur der Gegenwart kann sich dementsprechend nicht nur auf territorial gebundene Theoreme wie citoyenneté beziehen, sondern benötigt zugleich Konzepte, die in der Lage sind nationale Grenzziehungen hinter sich zu lassen und damit Migration, Exil und Verschleppung in ihrer Universalität anzuerkennen. 78 1 Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung <?page no="79"?> 127 Der Satz ist eine Anspielung auf ein Zitat Margaret Thatchers, in welchem die britische Premierministerin äußert: „Who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families” (vgl. Etzioni 2019: 712) und welche als Überspitzung (neo)liberaler Ansätze verstanden werden kann, die jedes, über das Individuelle, hinausgehende Phänomen weitestgehend negiert. 128 Juliane Spitta widmet sich der Romantisierung der Gemeinschaft als eine spezifisch deutsche Erscheinung ausführlicher (vgl. Spitta 2014: 16 ff.). 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen 2.1 No such thing as community? 127 - Grenzen und Möglichkeiten Gemeinschaft zu denken Im vorangegangenen Theorieteil wurde bereits der umfassende Wandel sozialer Formen ersichtlich, welche viele Weltteile zwischen 1650 und 1800 — oft unfreiwillig und gewaltsam — erfasste. Dort war die Rede von einer Transfor‐ mation der Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt sowie Individuum und Gruppe, der Herausbildung neuer Grundlagen des gesellschaftlichen Zu‐ sammenlebens und Formen der Vergemeinschaftung. Angestoßen durch diese Neubildung sozialer Formen im Kontext aufklärerischer Theoreme (vgl. Ger‐ tenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 30 f.) findet in der Moderne eine Ausdifferenzie‐ rung der zuvor weitestgehend synonym verwendeten Begriffe ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ statt (vgl. Gertenbach 2014: 132; Spitta 2014: 16). Im Zuge des sozialen, politischen und ökonomischen Umbaus scheinen Zusammenle‐ bensweisen und Weltbezüge verloren zu gehen — oder zumindest bedroht zu sein — die nun unter dem Begriff der Gemeinschaft subsumiert werden. Damit wird der drohende oder bereits erfolgte, schmerzhafte Verlust dem Gemeinschaftsbegriff — insbesondere im deutschsprachigen Imaginären 128 — sehr früh eingeschrieben. Im Verlaufe dieser affektiven Überformung wurde ‚Gemeinschaft‘ als ersehnte Zukunft oder betrauerte Vergangenheit außerhalb der Gegenwart verortet (vgl. Gertenbach 2014: 232) und prädestinierte den Aufstieg der Gemeinschaft zur „Leitformel der Kritik an der Moderne“ (Ger‐ tenbach 2014: 131). In dieser ‚Leitformel‘ artikuliert sich der Wunsch nach der Rückkehr zu „überschaubaren und vermeintlich intakten, vormodernen Gemeinschaften“ ebenso wie die zukunftsgerichteten Projektionen revolutio‐ närer Sozialität (vgl. Gertenbach 2014: 131). Gemeinschaft verspricht als reakti‐ <?page no="80"?> 129 Insbesondere in der deutschen Begriffsgeschichte wird die ‚Gemeinschaft’ häufig in Opposition zur ‚Gesellschaft‘ verstanden. In der Tradition dieser maßgeblich durch Fer‐ dinand Tönnies geprägten Dichotomie steht die organisch, vertraute, selbstzweckhafte Gemeinschaft, der als rational und nutzenorientiert begriffenen Gesellschaft entgegen (vgl. Bickel 2017: 200; Hegner 2020: 258). Tatsächlich ist Tönnies Typologie jedoch um einiges komplexer konzipiert, als es hier den Anschein haben mag, wie Bickel verdeut‐ licht: „Die Menschen bauen danach die soziale Wirklichkeit durch Willensakte auf, die jeweils aus zwei Grunddispositionen hervorgehen: aus der Haltung des ganzheitlichen Wesenwillens und aus der Position des im Gegensatz dazu analytisch und zweckrational eingestellten Kürwillens. Der Wesenwille bestimmt die Gemeinschaft, der Kürwille die Gesellschaft. In beiden Fällen ist die Ratio am Werk, nur jeweils auf verschiedene Weise: das eine Mal, im Falle des Wesenwillens, als Vernunft, integriert in die allgemeinen Lebenszusammenhänge, handelnd aus der Trias ‚Gefallen, Gewohnheit, Gedächtnis‘, das andere Mal, im Falle des Kürwillens als Verstand, isoliert und von außen her vermittels der Trias ‚Bedacht, Beschluß, Begriff ‘ den psychischen Apparat dirigierend“ (Bickel 2017: 200 f.). Einen ausführlicheren Überblick über die binäre Opposition von Gemeinschaft und Gesellschaft findet sich bei Gertenbach (Gertenbach 2014). 130 Dieser Krisendiskurs findet sich, wie Brink exemplarisch zeigt, trotz des deutlich von der deutschsprachigen unterschiedenen Rezeption des Begriffes in Frankreich (vgl. Bizeul 2014), auch in der französischsprachigen Literatur aufgegriffen (vgl. Brink 2013). vierter Kontrast zur Gesellschaft 129 „Versöhnung und Befriedung“ (Gertenbach 2014: 132) und scheint so einen Ausweg aus der konfliktuös, desintegriert und widersprüchlich empfundenen Gegenwart moderner liberaler Gesellschaften aufzuzeigen (vgl. Gertenbach 2014: 132). Diesem Befund folgend spricht die Romanistin Margot Brink von Gemeinschaft als einem (literarischen) Krisen‐ diskurs (vgl. Brink 2013). 130 Sowohl Brink, welche sich mit der Repräsentation der Gemeinschaft in Rousseaus literarischen Texten befasst, als auch Juliane Spitta, die in ihrer Genealogie des Gemeinschaftsdenkens bei Rousseau und Hobbes einsetzt, zeigen auf, dass der „originär moderne Begriff “ (Spitta 2014: 13) ‚Gemeinschaft‘ nicht außerhalb aufklärerischer Diskurse positioniert werden kann. Dementsprechend formuliert Spitta einleitend zu ihrer Studie: Die Geschichte des Gemeinschaftsdenkens ist mit Gleichheitsbestrebungen, mit Demokratisierung und menschenrechtlicher Universalisierung ebenso verbunden wie mit rassentheoretischen und nationalistischen Diskursen. Seit der französischen Re‐ volution war Gemeinschaft sowohl Teil von scheinbar antimodernen Abwehrkämpfen als auch von zukunftsgewandten Protest- und Alternativbewegungen […] Gemein‐ schaft wurde als Erbauungsbegriff mobilisiert als überhistorische Gewissheiten im Zusammenhang mit der Transformation der ständisch-feudalen in eine bürgerlich-ka‐ pitalistisch Ordnung in Frage standen (vgl. Spitta 2014: 12 f.). Von seinen Anfängen an formiert sich das Gemeinschaftsdenken dement‐ sprechend als ein Symptom krisenhafter Erfahrungen im Kontext sozialer 80 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="81"?> 131 Gleichzeitig macht eine Auseinandersetzung mit Rousseaus politischen Schriften auch sichtbar, dass wir hier vergemeinschaftende Elemente wie z. B. die Fiktion des Ur‐ sprungs finden (vgl. Exkurs: Gesellschaftsvertrag und citoyenneté bei Rousseau; Spitta 2014: 97 ff.). 132 So lässt sich eine lange Diskurstradition um die Existenz und den ontologischen Gehalt des Gemeinschaftlichen zurückverfolgen (vgl. Gertenbach/ Rosa/ Laux u. a. 2010). Jean-Luc Nancy selbst konstatiert sogar: „Die Gemeinschaft hat nicht stattge‐ funden oder anders gesagt, wenn man wohl annehmen darf, daß die Menschheit gänzlich andere Formen des sozialen Bandes als die uns bekannten erlebt hat (oder außerhalb der industrialisierten Welt noch lebt), dann hat die Gemeinschaft nicht so stattgefunden, wie wir sie uns vorstellen, wenn wir sie auf diese unterschiedlichen Gesellschaftsformen projizieren […] Die Gesellschaft und mit ihr Staat, Industrie und Kapital tauchten nicht auf, um eine bereits bestehende Gemeinschaft aufzulösen[…] Die Gesellschaft ist nicht aus dem Zusammenbruch einer Gemeinschaft entstanden […] Nichts ging also verloren und daher ist auch noch nichts verloren“ (Nancy 1988: 30 f.). Umbauprozesse. Die Aufklärung 131 bzw. die mit ihr einhergehende steigende Vergesellschaftlichung des Lebens wird als eine Gefahr für die kollektiven und vermeintlich natürlichen Lebensformen verstanden und Gemeinschaft so im starken Maße zu etwas Wahrem, das in der Vergangenheit intakt war und in Gegenwart/ Zukunft bedroht ist, stilisiert. Zugleich weisen — wie bereits im vorherigen Kapitel gezeigt wurde — auch die im Zuge aufklärerischer Diskurse virulent werdenden Konzeptionen des Zusammenlebens selbst in ihren staatli‐ chen, kontraktualistischen Ausprägungen (z. B. citoyenneté und contrat social bei Rousseau) in starkem Maße vergemeinschaftende Tendenzen auf (vgl. Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804; Libète ou lamò ? — Freiheit als revolutionäres Vergemeinschaftungskonzept; Radikaler Humanismus). Hier ließe sich mit Jean-Luc Nancy hinzufügen, dass „die Gemeinschaft […] also keinesfalls das [ist], was die Gesellschaft zerbrochen oder verloren hätte, sondern sie ist das, was uns zustößt — als Frage, Erwartung, Ereignis, Aufforderung —, was uns also von der Gesellschaft ausgehend zustößt“ (Nancy 1988: 31). 132 Weder die Dichotomie Gemeinschaft vs. Gesellschaft noch die Vorstellung feststehender ‚wahrer‘ Gemeinschaft erweisen sich folglich bei genauerer, analytischer Be‐ trachtung als zutreffend. Im klaren Widerspruch zu dem vorpolitischen Selbst‐ verständnis von ‚Gemeinschaften‘ sind diese keineswegs natürlich, beständig, organisch oder vollständig, sondern konstituieren sich auf der Grundlage wiederholten sozialen Handelns (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010; Spitta 2014: 13). In diesem Sinne entsprechen die realen Phänomene von Kollektivität und Zusammensein und -leben keinesfalls ihren eigenen, identifizierenden und verbindenden Erzählungen, vielmehr sind sie hochgradig fragil, prozesshaft und uneinheitlich (vgl. Spitta 2014: 13 f.). Soziale — z. T. sehr wirkmächtige — Gebilde, auf welche mit dem Begriff der Gemeinschaft rekurriert wird, 2.1 No such thing as community? - Grenzen und Möglichkeiten Gemeinschaft zu denken 81 <?page no="82"?> 133 Mit dieser im deutschen Kontext zu verortenden Linie und seiner Vorgänger setzt sich Juliane Spitta vertieft auseinander (vgl. Spitta 2014). 134 Walter Reese-Schäfer arbeitet vor allem mit kommunitaristischen Ansätzen, die eine andere Perspektive auf kollektive Phänomene aufzeigen und insbesondere in der nord‐ amerikanischen Tradition zu verorten sind (vgl. Reese-Schäfer 2019). Ohne tiefgehender in diese Debatten einzusteigen, so sei hier erneut darauf hingewiesen, dass sich in den deutsch-, englisch- und französischsprachigen Bezugnahmen auf und Theoretisie‐ rungen von Gemeinschaft bzw. community und communauté eklatante Differenzen finden lassen (vgl. Bizeul 2019). werden in starkem Maß über Imagination, Identifikation, Exklusion und Narra‐ tion realisiert. Es lassen sich somit insbesondere zwei Achsen der Kritik am Gemeinschaftsbegriff vorbringen: Zum einen lässt sich die Uneindeutigkeit des Begriffes, d. h. die Tatsache, dass dieser in den meisten Fällen Abgeschlossenheit, Einheit und Ursprünglichkeit suggeriert, wo doch eigentlich Konstruktion, Fiktion und Prozessualität vorherrschend sind, beanstanden. Zum anderen scheint die Frage geboten, ob das Denken von der Gemeinschaft, angesichts des in der Geschichte deutlich zutage tretenden zerstörerischen Potentials gemeinschaftlicher Entwürfe, überhaupt als emanzipatorisch und politisch wünschenswert gelten kann. Die Kritik an dem Begriff der Gemeinschaft und der Vorstellung von ihr speist sich nicht nur aus dem hohen Anteil Ima‐ ginären, Fiktionalem und Narrativen aus welchen Gemeinschaftserfahrungen im weitesten Sinne mühsam hervorgebracht werden, sondern entzündet sich konkret an den historischen Erfahrungen. Als eklatante Beispiele können hier u. a. die Vorstellungen von der ‚Volksgemeinschaft‘ 133 im Speziellen und Ideen der nationalen Identität im Allgemeinen sowie verwandte rassistische oder antisemitische Theoreme dienen, in denen die Aufwertung der ‚Eigengruppe‘ und die Abwertung — in manchen Fällen auch die Vernichtung — der geanderten Personen(gruppe) zentraler Bestandteil sind. Der identitätslogische Gehalt von Gemeinschaftlichkeit erweist sich als anfällig für totalitäre Tendenzen, denen das Singuläre und Differente untergeordnet werden muss. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht rät Spitta, anders als z. B. der Politikwissenschaftler Walter Reese-Schäfer (vgl. Reese-Schäfer 2019: 5 ff.), 134 von aktuellen theoretischen und politischen Bezugnahmen auf Gemeinschaft als Mittel emanzipatorischer Politiken weitestgehend ab: In den letzten Jahren hat sich der identitätspolitische Diskurs im internationalen Vergleich „normalisiert“ […] Nichtsdestotrotz teilen gegenwärtige Gemein-Diskurse ihre Ausrichtung auf das Vorpolitische, auf Identität, Einheit und gemeinschaftliche Identifizierung mit vergangenen Debatten. Besonders in Deutschland und Österreich ist die Fixierung auf eine an- oder abwesende Form gemeinsamer Identität, die Ori‐ 82 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="83"?> 135 Hitzler, Honer und Pfadhauer determinieren den Begriff der Gemeinschaft anhand vier Kriterien: „Als konstitutiv für Gemeinschaften jedweder Art betrachten wir a) die Abgrenzung gegenüber einem wie auch immer gearteten ͵Nicht-Wir‘, b) ein wo‐ durch auch immer entstandenes Zu(sammen)gehörigkeitsgefühl, c) ein wie auch immer geartetes, von den Mitgliedern der Gemeinschaft geteiltes Interesse bzw. Anliegen, d) eine wie auch immer geartete, von den Mitgliedern der Gemeinschaft anerkannte Wertsetzung und schließlich e) irgendwelche, wie auch immer geartete, den Mitgliedern zugängliche Interaktions(zeit)räume“ (Hitzler/ Honer/ Pfadenhauer 2009: 10). In eine ähnliche Richtung weist auch der Merkmalskatalog von Gertenbach, Laux, Rosa und Strecker, indem existierende soziale Zusammenschlüsse auf 1. ihr geteiltes Gut (z. B. Traditionen, Bräuche, Erinnerungen, Sprache, Werte, Territorien, Besitz, Gefühle, Blut bzw. Abstammung), 2. die Reichweite des gewählten Gemeinschaftsbegriffes und 3. das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Individuum untersucht werden (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010: 28). entierung am individuellen Subjekt als Modell der Identifikationspraxis und die Vision einer vom Politischen unabhängigen Existenzweise der Gemeinschaft ein wirkungs‐ mächtiges Unterpfand des Gemeinen. Diese Signifikations- und Traditionslinien sind ein Hindernis für den Versuch, den Gemeinschaftsbegriff in eine emanzipatorische politische Praxis einzubinden (Spitta 2010: 6). Trotz der notwendigen und zeitgemäßen Abkehr von abgeschlossenen identi‐ tären Gemeinschaftsvorstellungen werden Begriffe des geteilten Kollektiven benötigt, um zum einen die soziale Komponente der condition humaine abzu‐ bilden und zum anderen die Realität geteilter Wirklichkeiten, Räume, Praktiken und Zusammenhänge sprachlich erfassen zu können (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 91 f.). Des Weiteren erweisen sich die Sehnsüchte nach ‚der‘ Gemeinschaft als vermeintlich verlorenes Gut, ungeachtet der berechtigten Kritik, als hartnäckig und langlebig. Als „produktiver Integrations- und Dissoziationsbegriff “ wird unter dem Begriff der Gemeinschaft in der Spätmoderne „das problematische Gefüge zwischen Individuum und Allgemeinheit“ verhandelt und „das Subjektver‐ ständnis der politischen Philosophie“ auf die Probe gestellt (Morgenroth 2008: 9). Gemeinschaft avanciert so zu einem „Schlüsselbegriff heutiger Gesellschafts‐ theorie“ (Morgenroth 2008: 9). Wenn aus den genannten Argumenten Abstand von einem ‚klassischen‘ Gemeinschaftsbegriff 135 genommen wird, so stellt sich also die Frage wie Erfah‐ rungen und Formen nicht-individualisierten Seins sprachlich und theoretisch aufgegriffen und wie dem Umstand das „Menschen gemeinsam diese Welt ge‐ stalten“ (Spitta 2014: 23) Rechnung getragen werden kann. Dieses Problem stellt sich mit erhöhter Dringlichkeit, wenn an die Stelle der dekonstruierten Gemein‐ schaft nicht die radikal liberale Überzeugung atomistischer Individualitäten, 2.1 No such thing as community? - Grenzen und Möglichkeiten Gemeinschaft zu denken 83 <?page no="84"?> 136 So z. B. bei Nancy, der eine doppelte Abgrenzung vornimmt, indem er (neo)liberale wie auch kommunitaristische Positionen verwirft (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 158). Überhaupt sind vergleichbare und verstärkt dekonstruktivistische Annähe‐ rungen an den Begriff der Gemeinschaft gehäuft in Frankreich zu verzeichnen (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010; Germann/ Peter 2013; Spitta 2010). 137 Der Begriff der Vergemeinschaftung geht auf Max Weber zurück und zeigt eine Tendenz zur Prozessualisierung der Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Gertenbach 2014: 136) an. Mit dem Begriff der Vergemeinschaftung, bzw. der Vergesellschaftung, wird nicht nur — indem der herstellende Prozess mehr in den Fokus gerückt wird — mit der Vorstellung endgültiger, fester sozialer Formen gebrochen, die Rede von der Vergemeinschaftung ermöglicht es auch Mechanismen, Momente und Strukturen dieses Prozesses deutlich zu machen und dabei zu zeigen, dass soziale Formen immer wieder aufs Neue angerufen, bestätigt und konstruiert werden. welche sich aufgrund zweckrationaler Nutzenüberlegungen zu gesellschaftli‐ chen Formationen zusammenschließen, treten soll. Jene Komplexität erschwert den Versuch zu einer eindeutigen, abschließenden Definition zu gelangen und zeigt sich u. a. in der Vielfalt neuer soziologischer Beschreibungsversuche des Gemeinsamen. 136 Wiederholt wird hier versucht, über sprachliche Neuschöp‐ fungen und Renaissancen den Inhalt, die Bedeutung und die Berechtigung des Gemeinsamen abzubilden und auch die Gefahren und historische Erfahrungen kollektiver Identitäten mitzudenken (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010). Es erweist sich damit als schwer, jenseits eines alltäglichen Sprachgebrauches, in dem ‚Gemeinschaft‘ als Begriff so präsent ist (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 10), eine konzise, abschließende Definition dessen, auf was referiert wird, wenn von Gemeinschaft gesprochen wird, zu geben und zugleich den un‐ abgeschlossenen Konstruktionsprozess bei der Hervorbringung sozialer Formen sichtbar zu machen. Im Anbetracht dieser Diagnose erscheint es mir sinnvoll, anstelle des Begriffes ‚Gemeinschaft‘ von ‚Vergemeinschaftung‘ zu sprechen. 137 Anders als Gemeinschaft deutet das Wort ‚Vergemeinschaftung‘ nicht auf Abgeschlossenheit, Wahrheit und Eigentlichkeit hin, sondern fokussiert auf Prozess und Konstruktion (vgl. Spitta 2014: 21). In diesem Sinne lässt sich mit Juliane Spitta, die auch eine umfassendere Reflexion zu „Gemein-begriffen“ liefert, statt vom „Gemein-Sein“ von einem „Gemein-werden“ sprechen (vgl. Spitta 2014: 21). So baut die vorliegende Studie konzeptuell auf der Grundan‐ nahme auf, dass Erfahrungen von Kollektivität sowie geteilte Bezugspunkte und Zusammenleben zwar durchaus stattfinden und bedeutungsvoll sind, dass aber Gemeinschaft an sich weniger eine durchgängige Realität, als ein komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher Konstruktionsprozesse ist. Daneben trägt auch die Analyse der Mechanismen, Strukturen und Voraussetzungen von Vergemeinschaftungen sowie die Auseinandersetzung mit tradierten und eta‐ blierten Formen und Diskursen der ‚Gemeinschaft‘ zu einer Begriffsschärfung 84 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="85"?> 138 Die in diesem Kapitel vorgestellten räumlichen, zeitlichen, narrativen Dimensionen, sowie auch die damit verknüpften Mechanismen von Exklusion und Ausgrenzung greifen bei Vergemeinschaftungen ineinander und werden auch in der Analyse der literarischen Texte nicht immer klar voneinander zu trennen sein. 139 Damit orientiere ich mich in Teilen an der Struktur, welche Gertenbach, Laux, Rosa und Strecker für ihre Einführung zu den Theorien der Gemeinschaft gewählt haben (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010: 7 ff.). Inwiefern Literatur ein wichtiges Medium für Vergemeinschaftung darstellt, wird in Kapitel Haïti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg noch einmal ausführlicher beleuchtet. Als Einstieg sei auch Gemeinschaft in der Literatur. Kontexte und Perspektiven von Margot Brink und Sylvia Pritsch empfohlen (Brink/ Pritsch 2013). 140 Hitzler, Pfadenhauer und Honer sprechen von „wie auch immer geartete[n], den Mitgliedern zugängliche[n] Interaktions(zeit)räumen“ (Hitzler/ Honer/ Pfadenhauer 2009: 10), als eine der Bedingungen für Vergemeinschaftungen. Ich übernehme diesen Begriff, da er meines Erachtens sowohl die zeitlichen und räumlichen Dimensionen verdeutlicht als auch impliziert, dass Vergemeinschaftung ein komplexer Prozess und ein Ergebnis sozialer Interaktionen darstellt. 141 Oder wie Krystian Woznicki zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Denken Jean-Luc Nancys schreibt: „Was für Begriffe fallen einem zu Gemeinschaft ein? Ich habe mir diese Frage mehr als einmal gestellt. Hier nun das Ergebnis: die Begriffe, die ich mit Gemeinschaft assoziiere, lauten: Nähe, Wärme, Harmonie, Vertrautheit Gebor‐ genheit, Gewissheit, Sicherheit, Solidarität, Altruismus, Nächstenliebe, Freundschaft, Brüderlichkeit, Kumpanei, Kameradschaft, Zusammenhalt, Kollektivität, Einheit, Mo‐ nolinguismus, Konsens, Tradition, Volkstümlichkeit, Frieden, Authentizität, Reinheit, Transparenz […] Gemeinschaft scheint alles und nichts zu sein, aber in erster Linie eben alles. Alles auf einmal, alles zugleich, alles zusammen. Eine Agglomeration von Sinn. bei. Statt also von sich in den Texten realisierender oder präsentierender Gemeinschaft auszugehen, wird vielmehr das Phänomen und der Mythos Gemeinschaft in seine Einzelteile und Prozesse zerlegt. 138 Konkret bedeutet das, dass sich die folgenden drei Teilkapitel jeweils einem bestimmten konstitutiven Aspekt des Gemein-Werdens und seiner Operationalisierung für die literarische Analyse widmen. 139 In diesem Zusammenhang werden auf den folgenden Seiten Fragen an die literarischen Texte aufgeworfen, die die späteren Romananalysen implizit leiten werden, dabei jedoch nicht noch einmal im Fazit aufgegriffen oder explizit beantwortet werden. Der erste Teil wendet sich den Nah- und Interaktionsräumen (vgl. Hitzler/ Honer/ Pfadenhauer 2009) 140 sowie den in diesen Räumen auftretenden Personen und den zwischen ihnen stattfindenden Beziehungen zu. Diesem Fokus liegt die Annahme zugrunde, dass eine Vielzahl der als Gemeinschaft bezeichneten Zusammenhänge auf räumliche Nähe bzw. einen im Sinne einer Kohabitation geteilten, gemeinsamen Lebensraum zurück‐ gehen, aus der eine Kenntnis des Anderen bis hin zu emotionaler Nähe und Vertrautheit entstehen (können). Zugleich wird der Begriff der ‚Gemeinschaft‘ häufig mit Vorstellungen von Nähe, Wärme und Vertrautheit assoziiert, 141 2.1 No such thing as community? - Grenzen und Möglichkeiten Gemeinschaft zu denken 85 <?page no="86"?> Ein einziger großer Zusammenhang, der sich aus all den eben genannten Begriffen konstituiert“ (Woznicki 2009: 15). tatsächlich jedoch kommen viele (folgenschwere) Gemeinschaftskonzeptionen sowohl ohne faktische räumliche Präsenz als auch ohne die reale Kenntnis und Vertrautheit der ihnen zugerechneten Subjekte untereinander aus, die Vertrautheit, d. h. das gegenseitige ‚Kennen‘ ist in diesem Sinne vorgestellt (vgl. Die Rolle von Erzählungen, Imaginären und Narrativen). Nähe, ob räumlich oder emotional, kann insofern für Vergemeinschaftung nicht vorausgesetzt werden, findet sich aber in einigen Formationen wie z. B. familiärer, freundschaftlicher oder dörflicher Art häufig verwirklicht. Zugleich bringt Kohabitation nicht notwendigerweise Konvivenz hervor, vielmehr kann sie auch auf dem Status der Koexistenz verharren bzw. in eine Konkurrenz umschlagen. Formen des Zu‐ sammenlebens können lokal, in der Gegenwart und unmittelbar aber auch über mehrere Jahrhunderte, Orte und ohne gegenseitige Bekanntschaft stattfinden und zugleich Beziehungen hervorbringen. Inwiefern ‚reales‘, d. h. konkretes, materielles und räumliches Zusammentreffen, für die Repräsentationen von Vergemeinschaftungen in den literarischen Texten relevant ist und sichtbar gemacht werden kann, wird in dem Kapitel Interaktionsräume - räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung noch einmal ausführlicher Gegenstand sein. Daran anschließend beschäftigt sich das Kapitel Konstitutive Momente der Vergemeinschaftung mit den Konstruktionsmechanismen von Vergemeinschaf‐ tung, insbesondere im Hinblick auf temporale Aspekte. Zentral ist hierbei die Frage, wann und wodurch Erfahrungen von Zugehörigkeit und Vergemein‐ schaftung geschaffen werden und wie diese Zuordnungen aufrechterhalten werden. So wurde auf den hohen Anteil von Fragilem und Prozessualem bei der Vergemeinschaftung bereits hingewiesen. Gerade da soziale Formationen darauf angewiesen sind, ihre Zugehörigkeit performativ zu wiederholen, um zu bestehen, können bestimmte rauschhafte Ereignisse, ritualisierte Praktiken sowie Grenzziehungen als Marker für ‚Gemein-werden‘ gelten, die auch auf den literarischen Text angewendet werden können. Das letzte Teilkapitel Erzählen als vergemeinschaftende Praxis: Imaginationen, Mythen, Narrative und Fiktion stößt in einen prädestinierten Gegenstands‐ bereich kulturwissenschaftlicher Forschungen vor, indem es sich den Funk‐ tionen von Narrativen, Imagination und Fiktionen für die Ausbildung von Vergemeinschaftungen zuwendet. Ob im Fall von imagined communities, Grün‐ dungs- und Ursprungsmythen oder identitätsstiftenden Narrativen, soziale Formationen sind hochgradig narrativ konstruiert und überformt (vgl. Gerten‐ bach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010: 84 ff.). So weist Vera Nünning auf die Verschaltung 86 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="87"?> 142 Gesine Müller setzt sich in ihrer Habilitationsschrift Die koloniale Karibik ebenfalls ausführlich mit dem Zusammenleben im karibischen Kontext auseinander und knüpft daran auch die Frage wer historisch betrachtet als Mensch galt (vgl. Müller 2012a: 49 ff.). Müllers Studie bezieht sich dabei auf einen Untersuchungszeitraum von 1789-1886 und fokussiert insbesondere Zirkulations- und Transferprozesse in hispano- und frankophonen Literaturen (vgl. Müller 2012a: 5 ff.). 143 Sowohl das Fragen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung von großer Relevanz für den postkolonialen und Post-Plantation-Kontext sind, als auch das insbesondere in der angelsächsischen Karibikforschung der Begriff von Gemeinschaft im Sinne von community dezidiert verhandelt wird, zeigt sich an den Studien von von (Zusammen)Leben und Erzählen hin und spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit des Erzählens, um Erlebtes zu verstehen und mit Sinn zu belegen (vgl. Nünning 2012: 39). Im Bereich der politischen Theorie wird in dem Zusammenhang auch der Begriff des Politisch Imaginären verwendet, dessen Bedeutungsimplikationen Spitta folgendermaßen umreißt: Unter dem Politisch Imaginären werden die strukturgebenden Bilder und Narrative, die Mythen und die politischen Verfahren der Identitätsrepräsentation verstanden, durch die ein Gemeinwesen sich inauguriert und reproduziert, sich als Ganzheit imaginiert und die Vorstellung durch beständige Reinszenierung nach innen und außen vermittelt […] Damit sich eine soziale Formation als Gemeinschaft präsentieren und wahrnehmen kann, also einen Gemein-Begriff von sich bilden kann, sind wirk‐ lichkeitsschaffende Prozesse unerlässlich. Es müssen Narrationen entstehen, in denen sich die Einzelnen gleichsam in einer Einheit mit Anderen spiegeln und über die sie sich rückwirkend identifizieren (Spitta 2014: 34). Aus dieser politisch und sozial wirksamen Symbiose (vgl. Nünning 2012: 35) zwischen Erzählen und Vergemeinschaftung speist sich nicht nur die besondere Relevanz des Literarischen. Es lässt aus diesem Befund auch eine spezifische Aufmerksamkeit gegenüber dem literarischen Text eingespeiste Diskurse, In‐ tertexte, Figurenäußerungen und Überlagerungen für die späteren Textanalysen ableiten, da über diese Vorstellungen über das Wesen, den Ursprung, den Sinn und das Ziel sowie die Werte des Zusammen-Seins und der Bezogenheit transportiert werden. Nach diesem kurzen Überblick wird es nun auf den folgenden Seiten darum gehen, die dahinterliegenden theoretischen Ansätze und Schlüsselkonzepte der Vergemeinschaftung vorzustellen sowie ihre methodische Anwendbarkeit für die Textanalyse aufzuzeigen. Dabei ist ein Ziel, den spezifischen, post-kolonialen karibischen Kontext in der Auseinandersetzung mit tradierten Formen des Zu‐ sammenlebens 142 und der Vergemeinschaftung angemessen zu reflektieren und aufzugreifen. 143 Zugleich jedoch geht es nicht darum, ein vollständiges, neues 2.1 No such thing as community? - Grenzen und Möglichkeiten Gemeinschaft zu denken 87 <?page no="88"?> Valerie Loichot, Celia Britton und Raphaël Lambert. Während Britton in The sense of community in French Caribbean fiction (2010) Gemeinschaft im Sinne Nancy theoreti‐ siert und Loichot in Orphan narratives. The postplantation literature of Faulkner, Glissant, Morrison, and Saint-John Perse (2007) verstärkt auf der Grundlage von Glissant und Patterson arbeitet, fusioniert Lambert in Narrating the slave trade, theorizing community (2019) Glissant und Nancy. Insbesondere die ersten beiden Studien stellen wichtige Bezugspunkte für diese Arbeit dar, unterscheiden sich zugleich jedoch stark in ihrem Untersuchungsfokus und der methodisch-theoretischen Herangehenweise von dem vorliegenden Text. 144 Dezidierte Auseinandersetzungen mit post-kolonialer Literaturwissenschaft und Nar‐ ratologie finden sich stattdessen z. B. bei Birk/ Neumann: „Go-between: Postkoloniale Erzähltheorie“ (2002) oder bei Febel: „Postkoloniale Literaturwissenschaft. Methoden‐ pluralismus zwischen Rewriting, Writing back und hybridisierenden und kontrapunk‐ tischen Lektüren“ (2012). und komplexes Instrumentarium der post-kolonialen literarischen Analyse von Vergemeinschaftungen zu entwickeln, sondern vielmehr Ansatzpunkte und Ausgangsfragen für die Analyse an stelle von abschließenden methodischen Antworten zu liefern. 144 2.2 Interaktionsräume - Räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung 2.2.1 Kohabitation und Koexistenz Nicht wenige jener Zusammenschlüsse, die allgemein als Inbegriff von Gemein‐ schaftlichkeit gelten, zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Mitglieder durch eine bestimmte räumliche Nähe miteinander in Interaktion bzw. in Beziehung treten. Der geteilte (Lebens)Raum kann dabei eine wichtige Ausgangsbedingung für Vergemeinschaftung sein, wie z. B. im Fall von Dorfstrukturen oder häufig auch in familiären Zusammenhängen. Im Gegensatz zu Nationen, diasporischen oder politischen Gruppierungen weisen die Beziehungen in dörflichen und familiären Strukturen häufig ein hohes Maß an gegenseitiger Bekanntschaft und Unmittelbarkeit auf. Das Teilen eines Raumes, dessen Ressourcen und damit einhergehend auch die gleichzeitige Anwesenheit (Koexistenz) unterschiedli‐ cher Akteur: innen kann mit dem Begriff der Kohabitation bezeichnet werden. Aus einer solchen Kohabitation kann, wie Encarnación Gutiérrez Rodríguez darlegt, Konvivenz entstehen: The Romance genealogy is thus relevant, as the English translation „convivial” emphasises „joyful coming together” rather than the idea of a moral living together 88 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="89"?> 145 Gesine Müller spricht in diesem Zusammenhang im Rückgriff auf Ottmar Ette von ‚Wissensnormen des ZusammenLebens‘: „Darunter verstehe ich die explizite Vermitt‐ lung eines Programms vom guten oder idealen Zusammenleben“ (Müller 2012b: 194). Demgegenüber stehen ergänzend Wissensformen, bei welchen „die Vermittlung eines literarischen Gehalts von Zusammenleben“ im Fokus steht (vgl. Müller 2012b: 195). 146 Es ist eine ansteigende Beschäftigung mit Konvivialität und Konvivenz ab der 2000 Jahre, insbesondere nach dem Erscheinen von Paul Gilroys After Empire. Melancholia or convivial culture? ([2004] 2009) zu beobachten. In diesem fragt der post-koloniale Denker mit starkem Fokus auf Großbrittannien und das Commonwealth nach der Zu‐ kunft eines nicht imperial-kolonialen Zusammenlebens und inspiriert damit eine Reihe weiterer Veröffentlichungen zum Thema. So z. B. Ottmar Ette Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies (2012) und Hemer/ Povrzanović/ Frykman u.a.: Conviviality at the Crossroads (2020). 147 Der lakou (der Begriff stammt von dem französischen Begriff ‚la cour‘, der Hof, ab (vgl. Bollée/ Kernbichl/ Scholz u. a. 2018: 373 f.)) ist eine kollektive Struktur des Zusammenlebens und des Landbesitzes bzw. -bewirtschaftung, die verstärkt in den ländlichen Regionen Haitis vorzufinden ist und zurückweist auf das afrodiasporische, bossale Erbe (vgl. Moccombe 2018: 2). Auf diese Entstehungsgeschichte verweist auch Barthélémy: „Le terme vient du mot ‘la cour’ et désigne l’espace autour duquel sont disposées les habitations des différents ménages appartenant à la même unité familiale. Cette structure a parfois un caractère religieux et est alors dirigée par un ‘serviteur’ des lwa, souvent le patriarche de la famille. Elle peut être aussi tenue par une femme héritière des traditions depuis la fondation du lieu. Elle peut, enfin, correspondre à une simple organisation patriarcale, un ensemble polygamique où sont rassemblées des maisons des épouses groupées autour de l’habitation du mari“ (Barthélémy 2015: 57 f). that the Spanish „convivencia” carries. Concretely, it means „to live in the company of others, living in the same habitat”. While it is a consequence of cohabitation (in Spanish coexistencia),„convivencia” goes a step further than just describing the inhabiting of a commonplace. It also has moral implications as it emphasises a communal being in the world, one that is tied to a respectful and caring living together (Gutiérrez Rodríguez 2020: 107 ff.). Der geteilte Lebensraum und damit auch die geteilten Ressourcen können folglich als Ausgangspunkt für die Ausbildung kollektiver Formationen und gemeinsamer ethischer Normen 145 betrachtet werden. Bevor wir jedoch den weiteren Implikationen von Konzepten der Konvivenz und Konvivialität nach‐ folgen, 146 verharren wir zunächst noch einen Moment bei konkreten Formen des Zusammenwohnens und -lebens, indem wir uns zwei spezifische und weitverbreitete Ausprägungen dieser Nahraumerfahrungen — die Familie und das Dorf bzw. der lakou  147 — einschließlich ihrer spezifischen Ausgestaltung im haitianischen Kontext anschauen. 2.2 Interaktionsräume - Räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung 89 <?page no="90"?> 148 Auch Entwürfe von Familie besitzen mitunter einen konstruktiven Charakter und sind häufig von Vorstellungen der Einheit, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit geprägt, ebenso wie für das 'Vaterland' wird auch für die Familie Ehre, Liebe und Hingabe eingefordert. Angefangen bei dem bürgerlichen Vertrag der Ehe, welcher Vaterschaft und damit Anerkennung und Erbanspruch regelt, bis hin zu den familiären Normen, Traditionen und Machtbeziehungen, denen seine einzelnen Mitglieder, insbesondere Frauen und Kinder, unterworfen sind, unterliegen Familien strengen Regelungen, die die Zugehörigkeit zu dieser bestimmen. Der Zugang zur Familie wird durch affektive und/ oder biologische Beziehungen reglementiert und erweist sich nicht als unbegrenzt ausweitbar. Die Bindung der einzelnen Teile an das Gesamtgefüge erfolgt durch materielle und emotionale Abhängigkeiten und Verantwortlichkeiten, aber auch häufig über eine geteilte Strukturierung des Alltags, einschließlich Ritualen, sowie kollektiven Erinnerungs- und Erzählverfahren. 149 Augé verharrt nicht bei dieser Vorannahme, denn er dekonstruiert im weiteren Verlauf Gemeinschaftsbegriffe (vgl. Augé 2010: 31). 150 Mit dem entstehenden Kapitalismus werden diese Tätigkeiten im Rahmen der bürger‐ lichen Familie immer mehr zur ausschließlichen Aufgabe der feminisierten Individuen, welche im privaten und familiären Raum des Häuslichen zu verrichten sind. Gleich‐ zeitig waren und sind es vorrangig Kolonisierte und Rassifizierte sowie Mitglieder der armen Schichten, die diese Arbeit nicht nur für das eigene familiäre Umfeld, sondern darüber hinaus auch als Hausangestellte bei den bürgerlichen und weißen Familien verrichten (vgl. Notz 2011: 93). Während zuvor die Subsistenzwirtschaft noch die Einheit von Produktions- und Reproduktionarbeit bedeutet hatte, fand in der Neuzeit eine Ausdifferenzierung und Trennung zwischen diesen beiden Arbeitsbereichen statt. Unentlohnt, abgewertet und zu den natürlichen Eigenschaften der Frauen stilisiert, zementierte die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung ein Herrschafts- und Abhängigkeits‐ 2.2.2 Exkurs — Familie und lakou Verwandtschaftsbeziehungen sind vermutlich eine der häufigsten Formen des Zusammenlebens und stellen eine wichtige Sozialisationserfahrung für den bzw. die Einzelne dar. Bereits Tönnies referiert auf Familien ‚als Gemeinschaften des Blutes‘ (wobei im heutigen Sprachgebrauch der Begriff ‚Gemeinschaft der Verwandtschaft‘ vermutlich passender wäre) (vgl. Albrecht 2009: 330) und auch Marc Augé hebt hervor, dass die Familie in gewisser Weise als das ‚Paradigma einer Bluts- und Herzensgemeinschaft‘ 148 (Augé 2010: 25) verstanden wird. 149 Das Lexikon zur Soziologie weist die Familie als „eine universale soziale Einrichtung“ (Lenz 2020: 202) mit erheblichen Unterschieden in ihren regionalen und historischen Ausprägungen aus und formuliert die „Zusammengehörigkeit von zwei oder mehreren aufeinander bezogenen Generationen“ (Lenz 2020: 202) sowie Eltern-Kind- Beziehungen als Voraussetzung und das Leben in einem gemeinsamen Haushalt als häufige, aber nicht notwendige, Form. Durch jenes Zusammenspiel sind Orte familiären Zusammenlebens häufig durch ein hohes Maß sorgender, pflegender und sonstiger reproduktiver Arbeiten als auch durch gemeinsame Ökonomien und Arbeitsteilung geprägt. 150 Im Kontext dieser 90 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="91"?> verhältnis, welchem wir heute noch gegenüberstehen (vgl. Federici 2015: 94 f.). Die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz verdeutlicht in ihrem Aufsatz Zum Begriff der Arbeit aus feministischer Perspektive, dass Arbeit — und insbesondere Reproduktionarbeit bzw. Care-Arbeit — immer auch Beziehungsarbeit umfasst, welche auch materiell sich manifestierende Tätigkeiten psychisch durchdringt (vgl. Notz 2011). So stabilisieren familiäre Strukturen auf der Mikroebene gesellschaftlich-politische Verhältnisse wie z. B. anhand des Ineinandergreifens der patrilinearen Familie und der Gemeinschaft der Eigentümer bei Rousseau ersichtlich wird (vgl. Kuster 2009; Scherl 2016). Untersuchung erscheint mir neben der kolonialen Dimension häuslicher und fürsorgender Arbeiten und ihre Anschlussfähigkeit für post-koloniale Politiken, insbesondere die starke Relevanz dieser Tätigkeiten für vergemeinschaftende und lebenserhaltende Prozesse relevant (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2011; 2015). Fürsorgebzw. Reproduktionsarbeiten reichen von der Erziehung, der körper‐ lichen, geistigen und emotionalen Versorgung und Pflege von Familienangehö‐ rigen und dem engen sozialen Umfeld sowie der Erhaltung und Pflege der Wohn- und Lebensstätte bis hin zur Aufrechterhaltung des sozialen und kulturellen Lebens eines Gemeinwesens wie z. B. in der klassischen bürgerlichen Kleinfa‐ milie (vgl. Notz 2011: 1).Daran anschließend werden zudem über das Konzept ‚Familie‘ Land und Besitz an eine bestimmte, exklusive Gruppe von Menschen geknüpft. Wie Edouard Glissant im Traité du Tout-Monde (1997) herausstellt, wird durch die Bezugnahme auf die Genealogie und ihre Legitimität das Recht auf ein bestimmtes Land als Territorium behauptet. Ursprung und Abstammung stellen wichtige Elemente dar, die auch für traditionelle Familienmodelle von großer Relevanz sind, wie Glissant expliziert: Filiation et légitimité ont tissé la toile de la durée. Elles ont garanti qu’aucun discontinu ne viendrait rompre la certitude ni rompre la croyance. Elles ont établi le droit sur le territoire […] Le territoire de la puissance est invisible et ne tient à aucune relation particulière avec une terre, un sol, un foyer […] Des états, des religions, des doctrines, des nations, des tribus, des clans et des familles bâtissent leur irréductible entourement sur une telle certitude (Glissant 1997 : 81 f.). Die Legitimität und Sicherheit, die Glissant anführt, sind an den genealogi‐ schen Rückbezug auf einen mythischen Ursprung geknüpft, aus dem auch das ‚göttliche Recht auf Eigentum‘ entspringt (vgl. Glissant 1997: 35). Jener my‐ thisch-religiöse Rückbezug bis zu einer Genesis, aus der sich eine Art göttlicher Anspruch der Gemeinschaft speist, kennzeichnet atavistische (alteingesessene) Kulturen wie insbesondere die europäische (vgl. Glissant 1997: 35). Glissants Reflexionen verbildlichen die Verwobenheit von Abstammung bzw. Familie, Besitz und Land, Geschichte und Erzählung. Da die familiäre Ordnung vor allem 2.2 Interaktionsräume - Räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung 91 <?page no="92"?> 151 Im nachfolgenden Satz verweist sie zudem auf die Etymologie des lateinischen Wortes 'familia', welches ursprünglich die Dienenden im Haushalt bezeichnete (vgl. Loichot 2007: 15). Durch diese Gegenüberstellung zeichnet Loichot bereits zu Beginn die Gleichzeitigkeit von Lebensort, Arbeit und Herrschaft nach, durch die Familie und Sklaverei miteinander verwoben sind. Familie erscheint zunächst als ein Begriff welcher weniger tatsächliche biologische Verwandtschafts- und Abstammungsbeziehungen impliziert, sondern stärker die räumliche Gemeinschaftlichkeit und asymmetrische Arbeitsbeziehungen fokussiert. Abstammung entwickelt sich folglich erst später zu einem zentralen Aspekt von Familie (vgl. Loichot 2007: 15 f.). 152 Die Plantagen teilten, wie Loichot beschreibt, drei Merkmale: Sie waren hierarchisch, mit einer weißen herrschenden Elite an der Spitze und afrikanischen bzw. antillanischen 'Arbeiter: innen' am unteren Ende, organisiert; sie betrafen einen abgeschlossenen Ort und Sklaverei war allgegenwärtig: „Paradoxically, these structures meant to reinforce divisions resulted in the opposite effect, continuity. In the pyramidal structure […] the dividing line becomes vague because, for instance, mulattoes, often illegitimate offspring of the plantation owners, occupy positions of overseers that negate the absolute division. The fact that the Plantation is cut off from the outside, an enclosed space slaves can only exit in exceptional circumstances, also reinforces the proximity and interdependence of masters and slaves“ (Loichot 2007: 20). Wie Loichot also herausstellt, wird das spezifische Wesen des Ortes 'Plantage' bestimmt durch das gewaltsame Aufeinandertreffen und Verschmelzen einander gegenüberstehender und hierarchisierter Elemente. Die alles überschreibende Logik der Ausbeutung, die eine Hierarchisierung der in ihr agierenden Menschen, sowohl reproduziert, als sich auch über diese legitimiert, führt gleichzeitig zu Effekten, welche diese Logik durchkreuzen (vgl. Loichot 2007: 20). auch eine Eigentumsordnung ist, die auch Fragen von politischer Teilhabe, gesellschaftlicher Anerkennung und Arbeitsteilung betrifft, beeinflusste sie die strukturelle Beschaffenheit der Plantagengesellschaft. Die Auseinandersetzung mit der Inbzw. Exklusivität von Familienmodellen, wie im Falle von Schwarzen und anderen rassifizierten Menschen in der Plantagengesellschaft, berührt dementsprechend, jenseits von emotionalen, auch materielle Belange zutiefst. Valerie Loichot setzt sich in ihrer Studie Orphan narratives. The Postplantation literature of Faulkner, Glissant, Morrison and Saint-John Perse mit dem Begriff 'Familie' in der Plantagengesellschaft und den gewaltsamen Einwirkungen letzterer auf Verwandtschaftsverhältnisse und affektive Beziehungen intensiv auseinander. 151 In dem Kontext von Verschleppung, Entwurzelung und Zwang, welcher die koloniale Plantagenwelt 152 darstellt, finden affektive Verbindungen und biologische Verwandtschaften unter veränderten Bedingungen statt. Ver‐ schleppung, Sklaverei und Kolonisation haben über die körperliche Gewalt, der sie die kolonisierten und rassifizierten Subjekte aussetzten, tiefe Spuren in den Psychen der Einzelnen und den Strukturen der Gesellschaften hinterlassen, die sie hervorbrachten: 92 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="93"?> 153 Versklavte konnten im Plantagensystem weder Namen, Geschichten oder kollektive Erinnerungen noch ökonomische Werte in Form von Erbe selbstbestimmt an ihre Nachkommen übermitteln (vgl. Loichot 2007: 30). Über die Benennung, als die grund‐ legendste Form der Übermittlung zwischen Eltern und Kind, findet eine Verortung des Einzelnen in den kollektiven Strukturen und zugleich eine Einschreibung in eine Genealogie statt (vgl. Loichot 2007: 33). Die Praktiken der Plantagengesellschaft unterbrechen und zerreißen diese kollektiven, kulturellen Praktiken (vgl. Loichot 2007). Familie als eine Form der Vergemeinschaftung durchläuft folglich im kolonialen Kon‐ text einen tiefgreifenden, gewaltvollen Transformationsprozess, wie Valérie Loichot herausarbeitet. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Frage von Genealogien in den post-kolonialen karibischen Kulturen findet sich auch bei Natascha Ueckmann in Ästhetik des Chaos — "Créolisation" und "Neobarroco" in franko- und hispanophonen Literaturen (2014). 154 Im Modell der bürgerlichen Familie, die für die europäischen Herr: innen relevant waren, kulminiert in der Figur des Vaters d. h. in der patriarchalen Autorität, symbolische mit wirtschaftlicher Macht im Sinne unternehmerischer Leistung und vererbaren Famili‐ enbesitzes (vgl. Otto-Walter 2020). Die Teilhabe am (väterlichen) Eigentum erfolgt über juristisch legitimierte Anerkennung, die auch im symbolischen Akt der Benennung bzw. der Übertragung des väterlichen Namens seinen Ausdruck findet. Sklav: innen und auch freie Schwarze Menschen hatten in den seltensten Fällen Anteil an dem Vermögen der weißen Herr: innen, auch wenn diese biologisch ihre Väter waren. Im Falle der Plantagengesellschaft lässt sich darüberhinaus eine gesteigerte Form der Autorität ab‐ leiten (vgl. Loichot 2007), denn in der Person des Herrn verschmelzen ökonomische und familiäre Macht über die Sphäre der konkreten, biologischen Kernfamilie hinaus (vgl. Patterson 1982: 63). So besitzt der Sklavenhalter die totale Macht über die Versklavten, da keine anderen Personen Ansprüche und Macht über Letztere erheben kann (vgl. Patterson 1982: 26 f.). Diese ungeteilte Macht des weißen Herrn/ Vaters beraubt die versklavten Mütter und Väter ihrer elterlichen Autorität und drängt sie in eine Rolle als ‚ewige Kinder‘ (vgl. Patterson 1982: 65). Slavery threw slaves, masters, indentured workers, and their offspring into the same house [….] Within this house slavery built the four authors share a common inheritance of economic, sexual, and epistemic violence (Loichot 2007: 15). Weder besaßen versklavte Menschen sexuelle und reproduktive Freiheit, noch ließen sich biologische Verwandtschaftslinien klar zurückverfolgen, auch Schutz von und Sorge um Verwandte, Erziehung von Kindern sowie die Na‐ mensgebung lagen in den meisten Fällen nicht in der Hand der Versklavten, sondern letztlich in der Verfügungsgewalt der Plantagenbesitzer: innen (vgl. Loichot 2007: 16 f.). Zudem tauchten Sklaven und Sklav: innen trotz realer bestehender biologischer Verwandtschaft mit den weißen Herr: innen nicht in deren Stammbäumen auf (vgl. Loichot 2007: 15 f.). So waren Versklavte in der Plantagengesellschaft zum einen als Verschleppte aus ihren vorherigen afrikanischen Genealogien herausgerissen 153 und zum anderen als Illegitime aus der 'weißen' Genealogie ausgeschlossen (vgl. Loichot 2007: 2). 154 Wie Valerie 2.2 Interaktionsräume - Räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung 93 <?page no="94"?> 155 Orlando Patterson, auf den sich Loichot ausdrücklich bezieht, betont in seiner Studie immer wieder, dass der Status der Sklaven vor allem von ihrer natal alienation, d. h. ihre Abgeschnittenheit von jeglichen sozialen, kulturellen und genealogischen Bezügen außerhalb der Beziehung zu ihrem Herrn bestimmt ist: „If the slave no longer belonged to a community, if he had no existence outside of his masters, then what was he? The initial response in almost all slaveholding societies was to define the slave as a socially dead person” (Patterson 1982: 38 f.). Natal alienation im Sinne einer Entfremdung von der eigenen Herkunft und dem eigenen sozialen Kontext sowie social death stellen für Orlando Patterson zwei der wichtigsten Wesensmerkmale von Sklaverei dar (vgl. Patterson 1982). 156 Der Begriff community wird von Loichot, in Abgrenzung zum Begriff der Familie, für nicht (ausschließlich) verwandtschaftliche Beziehungsgeflechte verwendet. Meine Lesart ist hingegen stärker darauf ausgelegt Familien als spezifische Form der Verge‐ meinschaftung zu begreifen. Loichot eindrücklich an literarischen Texten nachzeichnet, bringt die doppelte — historische und familiäre — Herkunftslosigkeit 155 neue soziale, epistemologische und literarische Formate hervor: The dissolution of borders leads to group constructions that bypass the clearly defined units of family or novel. Community 156 becomes the primary group of reference for the individual subject […] In a context where community wins over family constructions, families overflow clear isolated units that would be defined by race or by univocal roles of kinship ( Loichot 2007: 18). Loichot fokussiert insbesondere auf die Rolle von fictive kinships (fiktiver Verwandtschaften), um angesichts existentieller Erfahrungen von Gewalt, Ver‐ waisen und Entwurzelung soziale Strukturen und Konstanten zu etablieren. Diese (narrativen) Verfahren und Strategien, welche Loichot für den nordame‐ rikanischen und antillanischen Kontext herausarbeitet, finden sich z.T. auch in den haitianischen Texten repräsentiert. Gleichsam skizziert sich in Haiti eine spezifische Situation, in der dörfliche, verwandtschaftliche und religiöse Vergemeinschaftungen im lakou zusammenkommen. Die lakous und die mit ihnen verknüpfte, fragmentierte Struktur Haitis entstand in unmittelbarer Folge der Erfahrungen der Sklaverei und der zen‐ trierten Macht der Plantagenbesitzer: innen (vgl. Gliech 2010: 20). Statt sich der Macht neuer Herr: innen und Plantagenbesitzer: innen nach der Revolution zu unterwerfen und daran anschließend die effiziente und arbeitsintensive Zuckerproduktion aufrechtzuerhalten, parzellierten die ehemaligen Sklav: innen die Plantagen und siedelten sich auf diesen an (vgl. Gliech 2010: 20; Casimir 2020: 238). Trotz der Versuche von Eliten in den Besitz möglichst großer Flächen von Land zu kommen, konnte die rurale Bevölkerung die Festschreibung von Bodenrechten sabotierten und einen Verlust ihrer Landflächen immer wieder 94 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="95"?> 157 Casimir hebt das widerständige, dekoloniale Potential dieser Strukturen hervor: „The Haitian peasantry — and those of the entire Caribbean — constituted themselves in opposition to the processes of integration and assimilation to the commodity-producing plantation. Their culture was and remains a response to slavery, a form of self-defense responding to the abuses inflicted by modern, colonial society. […] These included gender relations, family, the lakou, indivisible collective property, Vodou temples, rural markets, garden-towns, leisure, crafts, the arts. […] Taken together, all of these became specific tools for the class struggles of the Haitian peasantry. All the attempted attacks from the modern/ colonial world represented by the oligarchs of the country shattered against these ramparts.” (Casimir 2020: 351). In der Betonung der Bedeutung ruraler Kämpfe und Organisationsformen für die allgemeine Befreiung lassen sich Verbindungen zu Trouillots Haiti, state against nation (1990), aber auch dem indigénisme ausmachen. Michel-Rolph Trouillot verweist dabei insbesondere auf die Wichtigkeit der Landbevölkerung für einen dauerhaften Demokratisierungsprozess in Haiti. 158 Khaleem Mohammed-Ali beschreibt den konbit (auch coumbit) als Einheiten koopera‐ tiver Arbeit, basierend auf einem System von Geben und Nehmen: „There are several kinds of coumbites. Songs performed during work aroused unity and leadership and workers were rewarded with a meal at the end of the coumbite” (Mohammed-Ali 2001: 1). Über seine Entstehung kursieren verschiedene Annahmen. Während einige Ethnolog: innen seinen Ursprung klar auf dem afrikanischen Kontinent verorten, verstehen andere ihn als ein ‚neues‘, synkretistisches Ergebnis divergenter kultureller Einflüsse in Haiti (vgl. Mohammed-Ali 2001). durch Besetzungen und Widerstand verhindern (vgl. Gliech 2010: 20). So sind die haitianischen lakous häufiger als kleinbäuerliche Gemeinschaften in anderen Teilen Lateinamerikas und der Karibik im Besitz des Landes, welches sie kollektiv bewirtschaften (vgl. Smith 2001: 11). Im lakou treffen verschiedene Aspekte aufeinander: verwandtschaftliche Beziehungen, Kohabitation, gemeinsame Ökonomie bzw. Besitz und religiöse Vergemeinschaftung. Der gemeinsame Nahraum nimmt dabei eine wichtige Funktion ein und das Leben strukturiert sich u. a. durch vergemeinschaf‐ tende Elemente wie Praktiken der kollektiven Arbeit (konbit, vgl. Bollée/ Kern‐ bichl/ Scholz u. a. 2017: 193), der Festivität und der Religion. Diese Struk‐ turen, welche vorrangig auf die Kultur der bossale zurückgehen (vgl. Casimir 2020: 303 f.), stellen einen Gegenentwurf zu Produktions- und Sozialformen europäischer Provenienz (vgl. Moccombe 2018) dar. 157 Teil dieses Gefüge ist der konbit (vgl. Casimir 2020: 391), eine Form der kollektiven Arbeit, die meist von Gesang und Essen begleitet wird und die Jacques Roumain in Gouverneurs de la Rosée literarisch verewigt hat (vgl. Die ‚Entdeckung‘ des ländlichen Raums im roman paysan). 158 Im Hinblick auf diese Studie möchte ich vor allem auf den Umstand hinweisen, dass kollektive Arbeitsformen das Zusammengehörig‐ keitsgefühl und das Wissen um Interdependenz fördern, als Rituale das Zusam‐ menleben strukturieren und somit ein hohes vergemeinschaftendes Potential 2.2 Interaktionsräume - Räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung 95 <?page no="96"?> 159 Für Hurbon entspringt die Sehnsucht (spirituell) bewohnt zu werden ebenfalls aus dem uneingelösten Traum zu bewohnen. So schreibt er: „Dans l'impuissance à soutenir efficacement le rêve d'habiter, on est enclin à se rabattre sur le seul désir d'être habité, cette fois par des dieux. Jusqu'à l'indépendance, les esprits du vodou semblent avoir servi de dispositifs symboliques qui ouvrent à la vie. On s'adossait à eux dans la guerre antiesclavagiste pour sortir de la condition d'exilés et d'étrangers. Cette phase accomplie, on ne s'adresse plus à eux que pour mieux supporter une condition d'exilés dans ce qui est devenu une nation“ (Hurbon 2001a : 91). aufweisen. Die ländlichen Regionen weisen somit eine Organisation des Zusam‐ menlebens auf, die sich erheblich von dem städtischen Leben unterscheiden und die bis in die Gegenwart politisch und diskursiv degradiert bzw. marginalisiert wird. Dass Stereotype und Ausschluss der ländlichen Bevölkerungsgruppen deren politischen und sozialen Organisationsgrad verkennt, weist Jenny M. Smith in ihrer Studie When the hands are many. Community organization and social change in rural Haiti (2001) nach, die sich ethnografisch mit Gesangstra‐ ditionen und zivilen, bäuerlichen Organisationsformen auseinandersetzt (vgl. Smith 2001: 3 f.). Smith zeigt, kurz nach Ende der Diktatur, die Relevanz des ruralen Raums und seiner kulturellen Praktiken für demokratische Prozesse und Visionen des guten Zusammenlebens auf (vgl. Smith 2001). Der lakou, als Über‐ lagerung dörflicher und familiärer Strukturen, kann folglich als eine tradierte Form des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung in Haiti gelten, der sich vorrangig aus Kohabitation und Interaktions(zeit)räumen speist und dabei mitunter Wissensnormen des ZusammenLebens (Müller 2012b) formuliert. 2.2.3 Verortungen des Zusammenlebens in globaler Perspektive Wie sich also bereits andeutet - und wie in dem Kapitel Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz in literarischen Texten anhand der Romane deutlich werden wird - nehmen räumliche Vorbe‐ dingungen eine nicht unbedeutende Voraussetzung für das Zusammenleben ein. So stellt Yanick Lahens ihre Inauguralvorlesung am Collège de France unter den Titel Littérature haïtienne: urgence(s) d'écrire, rêve(s) d'habiter (2019) und bezieht sich damit auf den Essay Le rêve d’habiter. Entre nostalgie et utopie. (2001a) von Laënnec Hurbon. In diesem identifiziert der Soziologe Hurbon, in Anlehnung an die Philosophie Heideggers, den haitianischen Traum das Land und den eigenen Körper zu ‚bewohnen‘ als Reaktion auf die Erfahrung fundamentaler Ausbeutung, Entwurzelung und Deterritorialisierung im Zuge des Transnationalen Sklavenhandels (vgl. Hurbon 2001a: 90). Angetrieben von dem existentiellen Bedürfnis sich das Land und den eigenen Körper wieder anzueignen, d. h. zu bewohnen, wird über den lakou und die Zentren des vodou  159 96 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="97"?> 160 Daneben weist der Begriff des Habiter das Potential auf, nicht-menschliche Entitäten und spirituelle Ansätze in das Zusammenleben miteinzubeziehen, welches insbeson‐ dere in der Lektüre von Kettly Mars’ Kasalé zum Tragen kommen wird (vgl. Ansätze zu einer posthumanen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé (2003)). 161 Neben Sarr und Hurbon nimmt auch die Soziologin Encarnación Gutiérrez Rodríguez eine solche relationale Neubestimmung vor, indem sie Konvivialität im Sinne Glis‐ sants kreolisiert und dabei auch feministische Ansätze integriert: „Considering the spontaneous and relational character of our lives, but also our emotional and material dependence on others, makes us realize that we constantly transgress the imagined boundaries set by mono-cultural/ monolingual prescriptions. Relationalities are guided by needs, feelings, affects and desires that bring us together in unexpected ways […] Creolization is informed by transversal vital forces moving us in different directions and embracing the principles of interconnectedness and interdependence (Glissant, 1996). […] Creolization speaks about an affective being in the world - the sensibility that der Versuch unternommen, den Raum symbolisch zu besetzen (vgl. Hurbon 2001a: 91). Dieser Versuch die Erfahrungen der Entfremdung, der Entwurzelung und der prekären Existenz zu beenden, scheitert jedoch und der ursprüngliche rêve d’habiter bricht mit dem Ende der Duvalier-Diktatur wieder hervor (vgl. Hurbon 2001a: 92 f.) und verlangt nun in eine konkrete Utopie überführt zu werden: En suggérant de passer du rêve d'habiter à l'utopie concrète […] de l'habiter, nous ne faisons qu'insister sur la nécessité d'articuler le particulier à l'universel, et à ce niveau, ce n'est pas le repli sur soi, ni la nostalgie du chez-soi qui l'emporte, mais l'accueil de l'autre, l'ordre de la communication avec l'autre, de l'ouverture aux autres cultures, pour que l'habiter ne se réduise pas au seul rêve de l'appropriation privée, individuelle d'un morceau de terre […] Mais l'universel en question, on n'y accède que par la loi d'où chacun peut être reconnu dans son droit de vivre sur le même espace, c'est-à-dire peut produire cet espace comme sien, sans cesser de le tenir pour un lieu d'échange avec l'autre (Hurbon 2001a : 96 ff.). Hurbons utopischer Traum, auf den sich Lahens so explizit beruft, weist in Richtung einer Vision des Zusammenlebens, welches sich stark auf die räum‐ liche Umgebung bezieht, ohne aus dieser identitäre, exkludierende Maßstäbe zu generieren. 160 Ähnlich wie Hurbon entwickelt auch Felwine Sarr, der in seinem Essay Habiter le monde. Essai de politique relationelle (2017) ebenfalls den Begriff des (Be)wohnens aufgreift, von der lokalen Verortung ausgehend eine Vision universaler Kohabitation und Konvivialität. In seinem Aufsatz eröffnet Sarr Per‐ spektiven auf eine solche globale, konviviale Gesellschaft, welche gemeinsam den Planeten bewohnt und dabei Differenz anerkennt, Grenzen und identitäre Einschließungen abbaut und in der Lage ist neue Bezüge und Beziehungen aufzubauen (vgl. Sarr 2017). 161 Konvivialität (vgl. Guitérrez Rodríguez 2015; 2.2 Interaktionsräume - Räumliche Aspekte von Vergemeinschaftung 97 <?page no="98"?> nourishes the potential of conviviality. In this sense, creolization stands at the heart of a political and ethical project of conviviality” (Gutiérrez Rodríguez 2015: 97). 162 Handlungen der Fürsorge sind unbestreitbar wichtige vergemeinschaftende Akte. Zygmunt Bauman argumentiert in diesem Sinne, wenn er angesichts steigender Interdependenzen in einer globalisierten Welt, Fürsorge und Teilen zum Inhalt einer zukünftigen Gemeinschaft auserkoren: „Wenn es in einer Welt der Individuen eine Gemeinschaft geben soll, kann es nur (und muß es notwendigerweise auch) eine Ge‐ meinschaft sein, die auf Teilen und gegenseitiger Fürsorge beruht, eine Gemeinschaft, die Verantwortung übernimmt und sich darum kümmert, daß alle nicht nur die gleichen Recht haben, sondern auch im gleichen Maße in der Lage sind, diese Rechte in Taten umzusetzen“ (Bauman 2009: 181). 163 Wie bereits erwähnt, dienen diese Frage vor allem als Orientierung bei der Textanalyse, werden später aber nicht mehr explizit aufgeführt werden. 2020) und die Utopie d‘habiter sind dabei beide Denkweisen des Sozialen und Gemeinsamen, welche Beziehungen, Fürsorge und Relationalität priorisieren und dabei auf ein gelingendes, globales Zusammenleben fokussieren: L’humanité est une, mais plurielle. La politique est la mise en relation des hommes dans l’espace qu’ils partagent, ainsi que la gestion de la pluralité humaine. Vivre ne peut se faire qu’au milieu des Hommes, mais à condition d’y être reconnu et accepté par ces derniers. L’acte de reconnaissance et les conséquences qui en découlent (le soin, la réciprocité, les droits fondamentaux…) peuvent être signifiés par cette citoyenneté mondiale (Sarr 2017. 31 f.). Konkrete Formen des Zusammenlebens, ihr Umgang mit Differenz und Iden‐ tität, ihre Organisation von Arbeit, Fürsorge 162 und Ressourcen sowie ihre Be‐ züge zu Welt und Umwelt können dabei als Miniaturbilder des Zusammenlebens im großen globalen Stil betrachtet werden. Um diese konkreten Formen in den literarischen Texten herauszuarbeiten, sind folgende Fragen richtungsweisend: Welche Figuren treten miteinander in Kontakt und welche Bedeutung kommt gemeinsamen, geteilten Räumen dabei zu? Welche Beziehungen bestehen zwi‐ schen den Figuren? Welches Verhältnis unterhalten die Figuren zu dem, sie umgebenden Raum bzw. welche Tätigkeiten bestimmen dieses Verhältnis? Und welche Werte und Normen des Zusammenlebens werden in den Texten formuliert? 163 Anhand jener Fragen lassen sich insbesondere solche Formen von Vergemeinschaftung erfassen, die durch räumliche Nähe und Kohabitation geprägt sind. Vergemeinschaftung und Zusammenleben entstehen jedoch nicht notwendigerweise und ausschließlich aufgrund eines geteilten Lebensraums. Aus diesem Grund wird es im nächsten Kapitel um weitere Aspekte gehen, die konstitutiv für Vergemeinschaftungen sind. 98 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="99"?> 2.3 Konstitutive Momente von Vergemeinschaftung Wie wir bereits gesehen haben, ist es vorzuziehen statt von Gemeinschaft vom Gemeinwerden bzw. von Vergemeinschaftung (die beiden Begriffe werden im Folgenden weitestgehend synonym verwendet) zu sprechen, um so das Pro‐ zessuale, Unabgeschlossene und Nicht-identische sozialer Formationen besser abzubilden. So benötigt Vergemeinschaftung Ereignisse und Rituale durch welche die Bindung innerhalb der Gruppe geschaffen und erneuert wird. Ri‐ tualisierte Handlungen und ekstatische Kollektiverfahrungen einerseits, sowie Abgrenzung, Grenzziehungen und Exklusion andererseits, stellen konstitutive Elemente und Momente von Gruppenprozessen dar. Dementsprechend unter‐ teilen Gertenbach, Laux, Rosa und Strecker in ihrer Einführung in die Theorien der Gemeinschaft Vergemeinschaftung in drei grundlegende Aspekte: die Her‐ stellung eines Binnenraums durch Homogenisierung und Harmonisierung; die Distinktion und Differenzsetzung nach Außen und letztlich Imaginations- und Narrationsprozesse, die ebenfalls eine konstitutive Rolle einnehmen (vgl. Ger‐ tenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 66 f.). Da mir diese Einteilung als sinnvoll und vor allem hilfreich erscheint, um kollektiven Phänomenen näherzukommen, werde ich mich in den nächsten zwei Teilkapiteln vorrangig an dieser Systematisierung orientieren. Dabei soll es im Folgenden zunächst um die Mechanismen der In- und Exklusion und damit z.T. auch um die Dimension der Verzeitlichung in Vergemeinschaftungsprozessen gehen. 2.3.1 Mechanismen der Inklusion: Rausch, Ritual und Ekstase Kollektive soziale Zusammenhänge sind auf wiederholte, rauschhafte und ekstatische Erlebnisse angewiesen, um sich zu konsolidieren. In diesem Sinne finden sich selbst innerhalb vermeintlich rationaler sozialer Formationen sa‐ krale, religiöse und rauschhafte Elemente, die von essentieller Bedeutung für die Verfestigung und den Fortbestand der Gruppe sind (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010: 68 f.). Soziale Zusammenkünfte, d. h. „Momente kollektiven Erlebens und des Rausches, spezifische Ereignisse, Rituale und Praktiken“ (Gertenbach 2014: 140), entfalten eine starke affektive Wirkung auf die Anwesenden und sind deshalb unersetzlich für das Erzeugen von Gruppenidentifikation und kollektiver Bindung (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 71). Der französi‐ sche Soziologe und Ethnologe Emile Durkheim prägte für solche Erfahrungen „gemeinschaftliche[r], ekstatische[r] Aufwallung“ (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 71) den Begriff ‘kollektive Efferveszenz‘, dessen Effekte Durkheim folgendermaßen beschreibt: 2.3 Konstitutive Momente von Vergemeinschaftung 99 <?page no="100"?> 164 So führt Durkheim auch säkular-profane Ereignisse wie die Französische Revolution auf solche Zustände zurück: „Il y a des périodes historiques où, sous l'influence de quelque grand ébranlement collectif, les interactions sociales deviennent beaucoup plus fréquentes et plus actives. Les individus se recherchent, s'assemblent davantage. Il en résulte une effervescence générale, caractéristique des époques révolutionnaires ou créatrices […] Les changements ne sont pas seulement de nuances et de degrés; l'homme devient autre. Les passions qui l'agitent sont d'une telle intensité qu'elles ne peuvent se satisfaire que par des actes violents, démesurés: actes d'héroïsme surhumain ou de barbarie sanguinaire. C'est là ce qui explique, par exemple, les croisades et tant de scènes, ou sublimes ou sauvages, de la Révolution française. Sous l'influence de l'exaltation générale, on voit le bourgeois le plus médiocre ou le plus inoffensif se transformer soit en héros, soit en bourreau“ (Durkheim 2015: 305 f.). Or, le seul fait de l'agglomération agit comme un excitant exceptionnellement puissant. Une fois les individus assemblés il se dégage de leur rapprochement une sorte d'électricité qui les transporte vite à un degré extraordinaire d'exaltation. […] L'impulsion initiale va ainsi s'amplifiant à mesure qu'elle se répercute, comme une avalanche grossit à mesure qu'elle avance. […] Sans doute, parce qu'un sentiment collectif ne peut s'exprimer collectivement qu'à condition d'observer un certain ordre qui permette le concert et les mouvements d'ensemble, ces gestes et ces cris tendent d'eux-mêmes à se rythmer et à se régulariser ; de là, les chants et les danses. […] L'effervescence devient souvent telle qu'elle entraîne à des actes inouïs (Durkheim [1912] 2015 : 311 f.). Das rauschhafte, ekstatische Zusammensein, welches Durkheim aus seinen ethnografischen Beobachtungen ableitet, ist keinesfalls auf religiöse oder spi‐ rituelle Zusammenkünfte beschränkt, sondern ist ein sich wiederholender Be‐ standteil sozialer Formen. 164 In der erlebten Auflösung des Individuums in einer ekstatischen Gruppenerfahrung deutet sich bereits das destruktive Gewaltpo‐ tential massenhafter Verzückung an, welches vorwiegend im Zusammenspiel mit Abgrenzungs- und Ausgrenzungsmechanismen zum Tragen kommt. Im Zustand kollektiver Efferveszenz übersteigt das erlebte Geschehen die einzelnen Mitglieder der Gruppe, es kommt „im Inneren der Gemeinschaft zu einer rausch‐ haften Aufladung des Kollektivlebens“, welches die Gruppe erst hervorbringt und für die Einzelnen erfahrbar macht (Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 70 f.). Aufgrund ihrer begrenzten Erfahrbarkeit sind soziale Gruppen dazu gezwungen diese außeralltäglichen, nicht-rationalen Ereignisse zu wiederholen (vgl. Ger‐ tenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 74). In diesem Sinne stabilisieren sich Vergemein‐ schaftungen durch ritualisierte Kollektivereignisse (vgl. Hitzler/ Honer/ Pfad‐ enhauer 2009: 11 f.). In Anwendung auf den literarischen Gegenstand liefern Inszenierungen rauschhaften, ekstatischen und ritualisierten Erlebens im Text Anhaltspunkte, um Gemein-werden im Text zu erkennen. In diesem Sinne 100 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="101"?> können Tanz-, Gesangs-, Feier- und andere (Massen-)Szenen als mögliches Indiz für Vergemeinschaftung interpretiert und damit auch neu entstehende Gruppen erfasst werden. Für den Kontext der Romane lässt sich hier eine starke Präsenz spirituell-religiöser Anteile kombiniert mit festlichen und musikali‐ schen Elementen beobachten, deren Vergemeinschaftung nicht selten über das Menschliche und Materielle hinausgeht, wie in den Analysen noch deutlicher werden wird. Neben efferveszendenten Ereignissen auf der Handlungsebene sind für diesen Aspekt vor allem auch narrative Verfahren, welche mit eindeutig zuordbaren Erzählstimmen brechen, relevant. 2.3.2 Mechanismen der Exklusion: Grenzen und Differenzen Ergänzend zu der Stiftung von Binnengleichheit und rauschhafter Kollektivität spielt auch die Abgrenzung nach außen eine wichtige konstituierende Rolle für Vergemeinschaftung. Das Eigene und (vermeintlich) Identische steht gewisser‐ maßen in einem dialektischen Verhältnis zum Fremden und Differenten, denn erst durch die Bestimmung des Nicht-Identischen kann das Eigene behauptet und affirmativ verteidigt werden (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 79 ff.). In diesem Sinne ‚erschaffen‘ kollektive Zusammenschlüsse ihr eigenes Fremdes (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 77), wie Bernhard Waldenfels herausar‐ beitet: Daß etwas nur ein Selbes ist, indem es sich zugleich als Anderes von Anderem unterscheidet, gehört zu den Entdeckungen der platonischen Dialektik […] Der Kontrast von Selbem und Anderem, der einer jeden Ordnung der Dinge zugrunde liegt, geht hervor aus einer Abgrenzung, die eines vom anderen unterscheidet […] Der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden entspringt keiner bloßen Ausgrenzung, sondern einem Prozeß der Ein- und Ausgrenzung […] Eigenes, das gleichursprünglich mit dem Fremden auftritt und aus der Absonderung von Fremden entsteht, gehört einem Zwischenbereich an, der sich mehr oder weniger auf verschiedene Weise ausdifferenziert. Am Anfang steht nicht die Einheit einer eigenen Lebensform […] Nicht nur das Attribut ‚fremd‘, sondern auch das Attribut ‚eigen‘ hat einen relationalen Charakter (Waldenfels 2016: 113 ff.). Der phänomenologischen Ansatz Bernhard Waldenfels‘ betont die Notwen‐ digkeit der Grenzziehung zwischen Innen/ Eigenem und Äußerem/ Fremden für den Vergemeinschaftungsprozess. Die Grenze zum Nichtdazugehörigen ist dabei konstitutiv für die Gemeinschaft der Dazugehörigen und bleibt als Rest potenzieller Gewalttätigkeit eingeschrieben (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 76). Eigenes und Fremdes sind demnach nicht etwas Natürliches, 2.3 Konstitutive Momente von Vergemeinschaftung 101 <?page no="102"?> 165 Bei jener, der Schwarzen und afrodeszendenten Bevölkerung gegenübergestellte Gruppe handelt es sich nicht ausnahmslos nur euro-afrodeszendente Personen, sondern auch um Nachkommen syrischer Einwander: innen (vgl. Shelton 1993). Essentielles, vielmehr liegen sie in der Konstitutionslogik von Gruppen be‐ gründet (vgl. Hitzler/ Honer/ Pfadenhauer 2009: 15 ff.). Die identitätslogischen Einschließungen, welche sie hervorbringen, üben nicht nur einen möglichen Anpassungsdruck auf die Mitglieder aus, welche den Anforderungen und Festschreibungen der Gemeinschaft immer wieder aufs Neue entsprechen müssen, sondern bergen insbesondere für all jene, die als Andere, Fremde und Eindringlinge konstruiert werden, eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Dieses Konstitutionsmerkmal sozialer Gruppenbildungsprozesse illustriert nicht nur erneut deren Fragilität und Konstruktion, im Kontext der literarischen Analyse lenkt es zudem dem Blick auf Grenzziehungen, Thematisierungen von Differenz und Identität sowie auf binäre Oppositionen bzw. Feindbilder. Für den haitianischen Kontext lassen sich ebenfalls bestimmte Gegensatzpaare und gesellschaftliche Spaltungen herausstellen, mit denen sich Lyonel Trouillot in Haïti, (re) penser la citoyenneté (2001) kritisch befasst (vgl. Aktualisierungen von citoyenneté nach 1986). Zu diesen historisch gewachsenen Konfliktlinien zählen u. a. arm vs. reich, Stadtvs. Landbevölkerung, afrodeszendent vs. euroafro‐ deszendent, 165 vodou vs. Christentum sowie Duvalierist: in vs. Anhänger: in Aris‐ tides (vgl. Trouillot 2017). Dabei sind Grenzziehungen nicht überzeitlich und unterliegen Revisions- und Aktualisierungsprozessen (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 83). In jener Hinsicht geht es in der Aufzählung einiger verfestigter Oppositionen weniger darum, die haitianische Gesellschaft in feste, identitäre Partikularismen aufzuspalten, vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern diese oder vergleichbare Antagonismen in den Texten aktiviert werden. Dabei nehmen in den Texten Rhetoriken und Praktiken des Widerstandes und des Widersetzens — die über die Revolutionsgeschichte Haitis von Beginn an eingeschrieben sind — wichtige Funktionen für das Gemein-Werden ein, wie wir in dem Kapitel Zusammen-Leben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz in literarischen Texten noch sehen werden. Damit lässt sich bereits zu diesem Zeitpunkt vorwegschicken, dass sich Grenzlinien in den behandelten literarisierten Vergemeinschaftungen als durchaus flexibler, durchlässiger und veränderbarer erweisen. So wird sich für die literarischen und literarisierten Vergemeinschaftungen die Frage stellen, ob sie in der Lage sind Differenz, Opposition und Alterität auszuhalten und zu erhalten. 102 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="103"?> 2.3.3 Zur Rolle von Erinnerungen und Gedächtnis Ein weiterer wichtiger Bestandteil von Vergemeinschaftung, welcher sowohl den imaginären, narrativen Anteil als auch die zeitliche Dimension kollektiver Zusammenhänge abbildet, ist das kollektive Gedächtnis. Soziale Zusammen‐ schlüsse drücken sich nicht nur über ihre rituellen, geteilten Praktiken, ihre Abgrenzung nach außen und einen möglicherweise gemeinsamen (Interak‐ tions-)Raum aus, sie konstituieren und konsolidieren sich auch über geteilte Erinnerungen, mithilfe derer sich die Gruppe zeitlich verortet. Für diesen Aspekt ist der Begriff des kollektiven Gedächtnisses (memoire collective) zentral, der auf Maurice Halbwachs zurückgeht und die soziale Bedingtheit bzw. die Abhängigkeit von Erinnerungen von ihren jeweiligen sozialen Bezugsrahmen (cadres sociaux) betont (vgl. Erll 2008: 158 f). Über das kollektive Gedächtnis, das in seiner Reichweite zeitlich und räumlich auf eine bestimmte Gruppe begrenzt ist und sich in Form und Inhalt an der kollektiven Identität ausrichtet, (er)schafft und verfestigt die Gruppe ihr eigenes Selbstbild (vgl. Erll 2008: 160). Zudem zeigt „die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis […] an, dass der sich Erinnernde zur Gruppe gehört“ (Erll 2008: 160). Jan und Aleida Assmann haben Halbwachs‘ Konzeption des kollektiven Gedächtnisses noch weiter ausdifferenziert und unterscheiden zwischen einer kommunikativen und einer kulturellen Form (vgl. Erll 2008: 171). Während ersteres durch Alltagsin‐ teraktionen generiert wird und stärker an einen begrenzten zeitgeschichtlichen Kontext gebunden ist und dadurch auch flexibler und veränderlicher ist, handelt es sich bei dem kulturellen Gedächtnis hingegen um eine an feste Objektivationen gebundene, hochgradig gestiftete und zeremonialisierte, in der kulturellen Zeitdimension des Festes vergegenwärtigte Erinnerung. Ihr Gegenstand sind mythische, als die Gemeinschaft fundierend inter‐ pretierte Ereignisse einer fernen Vergangenheit (Erll 2008: 172). Auf diese Weise besitzt das kulturelle Gedächtnis eine wichtige stabilisierende Funktion für die Gruppe und ihre Identität (Erll 2008: 172). Im Kontext der post-kolonialen Karibik wurde das kollektive Gedächtnis der Versklavten durch Verschleppung und Versklavung jedoch so tiefgehend beschädigt, dass Glissant diesbezüglich von einer raturage, einer Ausstreichung der Erinnerung spricht (vgl. Ludwig 2018), die allerdings nicht ohne Spuren bleibt, wie Ralph Ludwig ausführt: La métaphore du raturage exprime le fait que cette mémoire fut refoulée, fracturée et traumatisée (Ueckmann 2014, 50-66). Celle-ci a été détruite en tant que totalité, mais elle n’a pas été entièrement gommée: il existe sans doute une transmission de la culture 2.3 Konstitutive Momente von Vergemeinschaftung 103 <?page no="104"?> africaine à la culture antillaise, même si les traces de mémoires culturelles africaines y sont incohérentes et transformées dans de nouveaux syncrétismes. Néanmoins sans ces traces, des phénomènes tels que, par exemple, le rêve diasporique du retour en Afrique qui a pendant longtemps existé en Haïti et aux Antilles en général, n’auraient pas d’explication (Ludwig 2018). Anknüpfend an Edouard Glissant verweist Ludwig an dieser Stelle auf die traces, die Spuren der Erinnerungen, welche in diasporischen Sehnsüchten und kulturellen Ausdrucksformen und Praktiken weiterhin präsent sind. In der Karibik, so führt Ludwig weiter aus, verbinden sich zudem zwei Erin‐ nerungstraditionen: einerseits die Schriftlichkeit europäischer Prägung mit ihren literarischen Kanons und Archiven, auf der anderen Seite mündliche Traditionen mit ihren Mythen, Riten und Griots (vgl. Ludwig 2018). In den behandelten literarischen Texten lassen sich häufig beide Traditionsstränge identifizieren, ohne dabei immer klar voneinander abgegrenzt zu sein, zudem kommt der literarischen Produktion eine wichtige Rolle bei der Arbeit am kollektiven Gedächtnis bei, wie in dem Kapitel Haïti — ein kurzer literaturge‐ schichtlicher Einstieg illustrieren wird. Auch der Raum und die Natur nehmen in den Texten häufig wichtige Rollen im Hinblick auf vergemeinschaftende Erinnerungen ein. Als „Ausdruck menschlicher Sozialität“ ist das kollektive Gedächtnis „Fundament kollektiver Praxis“ und ermöglicht die „Etablierung sozialer Raum-Zeit-Koordinaten“ (Karakalos 2020: 251). Diese spatiale Dimen‐ sion erweist sich für die im Kontext dieser Studie behandelten literarischen Texten als besonders bedeutsam, fungiert doch die natürliche Umgebung häufig als transgenerationeller historischer und spiritueller Erinnerungsraum, an dem sich die Erinnerungen an die Ahn: innen und der Dienst an den lwa mit der Präsenz historischer Widerstands- und Unterdrückungsgeschichte überlagert. Insbesondere für die literarischen Formen ruralen Zusammenlebens fungiert der Raum folglich als Mnemotop. Der Begriff des Mnemotop unterstreicht dabei die identitätsstiftende Funktion und die notwendige ‚Verräumlichung‘ des Gedächtnisses, die nicht selten transzendente Zusammenhänge miteinschließt und mit einer mythisch-memorialen Aufladung der Topografie einhergeht (vgl. Perthes 2015: 196 ff.). Um der Repräsentation von Vergangenheit und kollektiver Erinnerung in den Texten nachzuspüren, erweisen sich folgende Leitfragen als hilfreich: Über welchen Zeitraum erstreckt sich die Erzählung? Sind Binnenerzählungen in die Haupterzählung eingebettet, wer erzählt und inwiefern sind orale Übermitt‐ lungsstrategien relevant? Gibt es (intertextuelle) Verweise auf vergangene Epo‐ chen? Und welche Gegenstände oder Räume werden als bedeutsam inszeniert? Anhand jener Fragen wird bereits ersichtlich, wie eng gemeinschaftsbildende 104 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="105"?> 166 Rousseau destabilisiert über seine vertragstheoretische Fiktion die bestehenden so‐ zialen Strukturen religiös begründeter monarchistischer Herrschaft, bringt zugleich jedoch eine neue legitimierende Erzählung hervor. Prozesse an narrative Verfahren geknüpft sind, dieser spezifische Zusammen‐ hang wird im Folgenden, letzten Teilkapitel noch einmal ausführlich behandelt. 2.4 Erzählen als vergemeinschaftende Praxis: Imaginationen, Mythen, Narrative und Fiktion Bereits im Hinblick auf die Rolle memorieller, kultureller Praktiken zeichnete sich ab, dass Erzählungen und Narrative, Fiktionen, Imaginationen und Mythen eine bedeutende Rolle für Vergemeinschaftungen einnehmen. Narration stellt eine Grundlage für individuelle und kollektive Erinnerungen und Sinnstiftung dar (vgl. Erll 2008: 170). Bereits bei Rousseau im contrat social begegnet uns die Fiktion des Ursprungs (vgl. Exkurs: Gesellschaftsvertrag und citoyenneté bei Rousseau), mit der auf einen imaginierten, historischen Gründungsmoment zurückverwiesen wird. Fiktionen und Mythen im Sinne hervorgehobener, symbolisch aufgeladener und kollektiv tradierter Erzählungen stabilisieren „vorhandene soziale Struk‐ turen“ (Hartwig/ Pabst/ Stenzel 2007: 248 f.). 166 Begriffen als Gegenpol vernünf‐ tiger, messbarer Faktizität scheint der Mythos auf den fiktionalen, nicht-nach‐ weisbaren Gehalt von Wirklichkeitsrahmung und Weltbezug zu verweisen (vgl. Matuschek 2007: 524). Insbesondere über Gründungsmythen (mythes fon‐ dateurs) wird ein symbolisch aufgeladener Ursprung generiert, aus dem die betreffende Gruppe ihre Legitimation ableitet und die vor allem im territorialen bzw. nationalen Gemein-werden wirkmächtig ist (vgl. Glissant 1997; Spitta 2014: 48). Überhaupt stellt die Nation ein folgenreiches vergemeinschaftendes Konzept dar, dass auch nach Dekaden der Internationalisierung, Globalisierung und beschleunigter Migrationsbewegungen weiterhin in Grenzregimen, Regle‐ mentierungen von citoyenneté und Staatsbürger: innenschaft, aber auch in essen‐ tialisierenden ethnischen und nationalen Zuschreibungsverfahren wirkmächtig ist und das im folgenden Abschnitt näher betrachtet werden soll. 2.4.1 Exkurs - Imagined communities: Nation und Diaspora Die moderne Idee der Nation entsteht im Zuge territorialer Staatenbildung (vgl. Dann 2015: 353), so entwickelt sich die Nation im 18. und 19. Jahrhun‐ dert zu einem bürgerlichaufklärerischen Emanzipationsprojekt, welches den 2.4 Erzählen als vergemeinschaftende Praxis 105 <?page no="106"?> 167 So ist in den politischen Forderungen des Dritten Standes die Identifikation des Bürgertums mit der Nation eine zentrale Argumentationslinie, über die auch die Reprä‐ sentation und der Ausdruck des Gesamtwillens durch das Bürgertum begründet wurde (vgl. Fehrenbach 1986: 75). Des Weiteren wird das Postulat eines selbstbestimmten, souveränen, nationalen Verfassungsstaates gegen den absolutistischen Obrigkeitsstaat in Stellung gebracht. Im Hinblick auf die französische Rezeption des Begriffes ist zu betonen, dass hier vor allem der gemeinsame Staat und die Rechte der Bürger sinnprä‐ gend für die Vorstellung von der Nation sind (vgl. Fehrenbach 1986: 76). Im Gegensatz zu der deutschen ‚Kulturnation‘ rückt die französische ‚Staatsnation‘ verstärkt den ermächtigenden politischen Gründungsakt ins Zentrum und ist dementsprechend nicht durch die Vorstellung vom Völkischen geprägt. Der Begriff ‚Kulturnation‘ bezieht sich auf Staaten, bei welchen die Idee gemeinsamer Werte, Sprache, Kultur und Tradition zentral ist und so die Nation als ursprüngliche und natürliche Einrichtung verstanden wird (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010: 81). Im contrat social bei Rousseau und in der Französischen Revolution wird die Bedeutung des politischen Willensaktes, welcher die Nation begründet, offensichtlich. Doch obwohl ‚Nation‘ als Begriff im Französischen eine andere Genese erfahren hat, finden sich auch dort Anknüpfungspunkte für essentialisierende und patriotische Auslegungen des Begriffes, indem die Vorstellung von Nationalcharakteren weitverbreitet scheint (vgl. Fehrenbach 1986: 80). Zusammenschluss jenseits ständischer und religiöser Grenzen zugunsten des patriotischen Gemeinwohls propagiert (vgl. Dann 2015: 355). Etymologisch basiert das Konzept der Nation bereits auf der Vorstellung einer kollektiven, naturgegebenen Abstammung, welche durch den Nationalstaat ihre Realisie‐ rung findet. Der Begriff der Nation dient dabei immer häufiger als Konzept, unter dem eine Gruppe mit gemeinsamem Territorium, Sprache, Tradition und Geschichte subsumiert wird (vgl. Lamnek/ Recker/ Reinhold 2017: 459). Gewissermaßen ermöglichte die Anrufung der Nation — wie im Fall der Fran‐ zösischen Revolution 167 — erst die Emanzipation des Bürgertums und bildete auch für spätere Emanzipationsbewegungen einen wichtigen Bezugspunkt (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 149). So nimmt das „Losungswort nation“ „im politischen Vokabular von 1789 […] in mehrfacher Hinsicht eine strategische Schlüsselstellung ein“ (Fehrenbach 1986: 75) und wird „als ein dynamisches Prinzip, das kollektive Handlungen und Emotionen und Wünsche auszulösen vermochte […] zur Bekenntnisparole der Volksrevolution. Das entstehende Na‐ tionalbewusstsein war gleichermaßen Ausdruck wie Instrument der Mobilisie‐ rung von Massen zur Überwindung des Ancien Régime“ (Fehrenbach 1986: 76). Gleichzeitig bezeichnen Begriffe wie Patriotismus im 18.-Jahrhundert mehr „in einem ganz praktisch-moralischen Sinn die gemeinnützige Tätigkeit im Dienst für das Vaterland“ und weniger Gefühle „nationaler Identität“ (vgl. Fehrenbach 1986: 80). Folglich entsprechen laut Elisabeth Fehrenbach Emotionalisierungen des Nationalbewusstseins keinesfalls der Regel, vielmehr tritt die Nation „als Trägerin der politischen Kultur“ (Fehrenbach 1986: 82) auf, deren Wertesystem 106 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="107"?> nach innen wie nach außen auf Übereinstimmung und Konsens basiert. Trotz der Differenzierung, die Fehrenbach vornimmt, wird an diesen historischen Entwicklungen bereits ersichtlich wie der Begriff der ‚Nation‘ Einheit über Standes- und Konfessionsgrenzen generieren vermag und zugleich auch mit der Vorstellung einer legitimen Vergemeinschaftung verknüpft ist. Auch ohne die essentialisierenden Vorstellungen von einer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit der Nation wird auch hier die Nation als ein politisches Gemeinwesen darge‐ stellt, welches nach innen und außen Einheit verkörpert. Diese vorgestellte Einheit ist allerdings keineswegs naturgegeben oder vorpolitisch, vielmehr wird sie durch den Glauben an eine nationale Gemeinschaft erst erschaffen (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 81). Nationen werden demgemäß diskursiv hergestellt, erhalten ihre Wirkmächtigkeit jedoch gerade durch die Erzählung von ihrer Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Dementsprechend sind Nationen sind in einem besonderen Maße auf Mythenbildung und narrative Verfahren angewiesen, wie Yves Bizeul illustriert: Die Teilmythen […] werden meist zu einem großen einheitlichen Narrativ mit einem klaren, linear ablaufenden Plot zusammengeschnürt. Aus dem narrativen Zusammenschweißen einzelner nationaler Teilmythen sind unter aktiver Mitwirkung von Dichtern […] Literaten […] und vor allem Historikern […] die gewaltigen ‚Natio‐ nalmythen‘ […] entstanden […] Unter dem Begriff „Nationalmythos“ versteht man die einheitliche Meistererzählung des mythischen Ursprungs und Aufbaus einer Nation (vgl. Citron). Ihr Ursprung und ihre Genese werden in einer solchen Narration weit in die Vergangenheit zurückprojiziert […], in der es sie zwar eigentlich noch nicht gab, sie aber zumindest latent bereits vorhanden gewesen sein soll. Durch ein derartiges Narrativ verlieren die historischen Ereignisse ihren kontingenten Charakter und werden in eine Art säkulare Heilsgeschichte eingebettet (Bizeul 2014: 276). Bizeuls Ausführungen verdeutlichen noch einmal den Konstruktionscharakter von Vergemeinschaftungen, die Fiktion des Ursprungs und unterstreichen die besondere mythische Aufladung von Nationen. Da literarische Texte natio‐ nale Narrative hervorbringen und stützen, zugleich aber auch dekonstruieren können, nehmen Literaturen eine wichtige Funktion in nation-building-Pro‐ zessen ein. Für den post-kolonialen karibischen Kontext im Allgemeinen und Haiti im Spezifischen stellt sich die Frage nach nationaler Vergemeinschaftung noch einmal in veränderter Weise. So ist die Idee einer mythisch umnebelten Ursprungsgeschichte samt Abstammungserzählung und vorbestimmter Ver‐ bindung zwischen Territorium und Bewohnenden durch die Erfahrung von Diaspora, Verschleppung, Entwurzelung und Entfremdung korrumpiert. Die 2.4 Erzählen als vergemeinschaftende Praxis 107 <?page no="108"?> 168 Natascha Ueckmann resümiert Glissants Kulturmodell folgendermaßen: „Mit atavisti‐ schen Kulturen meint Glissant ein Kulturmodell, das auf einer Idee der Abstammung von einem mythischen oder religiösen Ursprung basiert und das den Anderen grund‐ sätzlich ausschließt, ‚wo die Gemeinschaft sich in Bezug auf eine Genesis begreift, eine Erschaffung der Welt, mit der sie im Absoluten durch eine Stammlinie verbunden ist, eine Kontinuität von Vater zu Sohn, ohne Unterbrechung, das heißt ohne Illegitimes‘ […] Ein solches Filiationsmodell ist eng verbunden mit einem göttlichen Gründungs‐ mythos und dem daraus abgeleiteten Anspruch auf Besitz der Welt und stellt somit eine Argumentationsgrundlage für Kolonisation und Eroberung dar“ (Ueckmann 2014: 119). 169 Angelehnt an diesen Befund analysiert Michel-Rolph Trouillot die Spannung und den Konflikt zwischen Staat und Nation als Ausdruck einer Spaltung zwischen ziviler gewalttätige und zerstörerisch-produktive Maschinerie der Sklaverei bringt auf den Antillen neue, kulturelle und soziale Phänomene hervor. Diese sind kein Ergebnis einer Genesis, eines mythischen, sondern eines historischen Ursprungs, wie Edouard Glissant hervorhebt: La mise en contact de ces cultures ataviques dans les espaces de la colonisation a donné naissance par endroits à des cultures et sociétés composites, qui n’ont pas généré de Genèse […] et cela pour la raison que leur origine ne se perd pas dans la nuit, qu’elle est évidemment d’ordre historique et non mythique. La Genèse des sociétés créoles des Amériques se fond à une autre obscurité, celle du ventre du bateau négrier. C’est ce que j’appelle une digenèse (Glissant 1997: 36). Angesichts dieser Abwesenheit eines Ursprungsmythos (vgl. Ueckmann 2014: 118) spricht Glissant im Hinblick auf die Karibik von kompositen an‐ stelle von atavistischen 168 Kulturen und ersetzt das „okzidentale Modell (Staat, Nation, Territorium)“ durch einen Entwurf „der Relation und des Ortes“, wel‐ ches der Pluralität und Relationalität des karibischen Raumes Rechnung trägt (vgl. Ueckmann 2014: 118). So handelt es sich bei den kompositen Kulturen im Sinne Glissants, Ueckmann zufolge, um „deterritorialisierte Kulturen, die mit der Ausbreitung des Okzidents durch das Aufeinanderprallen und die Vermischung vieler einander widersprechender gewachsener (atavistischer) Kulturen entstanden seien“ (Ueckmann 2014: 119). In Haiti, wo stärker als in dem restlichen frankokaribischen Raum entflohene Sklav: innen ihr Zusammenleben organisierten, ein bossales Erbe erhalten wurde und wo 1804 eine erfolgreiche Revolution das Ende der Kolonie Saint-Domingue und den Beginn des souve‐ ränen Staates Haiti bedeutete, zeichnet sich ein abweichendes Bild. In diesem Sinne liefert das Revolutionsgeschehen von 1791-1804 inklusive der Zeremonie am Bois Caiman durchaus Material für einen Gründungsmythos (vgl. Kleine 2008). Zugleich ist in diesem Mythos auch die Erzählung gesellschaftlicher Spaltung 169 zwischen euro-afrodeszendenter und afrodeszendenter Bevölkerung 108 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="109"?> Gesellschaft und politischer Verfasstheit: „The main argument of this book ist hat the Duvalierist state ermerged as the result of a long-term process that was marked by the increasing disjuncture between political and civil society […] While the state turned inward to consolidate its control, the urban elites who gravitated around that state pushed the rural majority into the margins of political life. Peasants were the economic backbone of the nation; yet peasants had no claim whatsoever on the state“ (Trouillot 1990: 15 f.). Angesichts dieser Beobachtung kommt Trouillot zu dem Schluss, dass der überfälligen Versöhnung von Staat und Nation, die Anerkennung der Bauernschaft vorausgehen muss (vgl. Trouillot 1990: 230). 170 Der literarische nation-building-Prozess und die Gründungsmythen Haitis werden in dem Kapitel Haiti— ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg noch einmal ausführlicher behandelt 171 Bizeul schreibt über den Republikanismus: „Der Mythos der republikanischen Nation gehört zu den Meistererzählungen, die ihre Inspiration aus dem ‚historizistischen Pro‐ metheismus‘ (Brun, 15) der Moderne gespeist haben und die eine performative Wirkung vorweisen. Nicht minder als die Vergangenheit ist auch die Zukunft Gegenstand des Nationalmythos“ (Bizeul 2014: 277). bereits enthalten (vgl. Bergeaud 2009; Müller 2012a; Barthelémy 2015). Die Gründungsgeschichte des haitianischen Staates rekurriert dementsprechend auf die Erzählung einer erfolgreichen Revolution und somit auf einer Widerstands‐ geschichte (vgl. Ueckmann 2014: 320 ff.). 170 Damit weist die nationale Erzählung Haitis Merkmale klassischer Mythen republikanischer Nationen auf, für die die Bezugnahme auf revolutionäre Ereignisse eine wichtige Rolle spielt (vgl. Bizeul 2014: 277). 171 Ein weiteres Strukturmerkmal nationaler Vergemeinschaftung, welches bereits auf den vorangegangenen Seiten implizit präsent war, ist ihre Vorgestelltheit. Wie Benedict Anderson 1983 prominent herausstellte, sind Na‐ tionen Imagined Communities. Stärker noch als andere soziale Formen erzeugen sie Vergemeinschaftung auf der Grundlage vorgestellter Gemeinsamkeiten und Wesenhaftigkeit, bei einer gleichzeitigen territorialen Ausdehnung, die eine Bekanntschaft ihrer einzelnen Mitglieder untereinander verunmöglicht (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010). Daher definiert Anderson Nationen folgendermaßen: It is an imagined political community — and imagined as both inherently limited and sovereign. It is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their follow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion […] The nation is imagined as limited because even the largest of them, encompassing perhaps a billion living human beings, has finite, if elastic, boundaries, beyond which lie other nations […] It is imagined as sovereign because the concept was born in an age in which Enlightenment and Revolution were destroying the legitimacy of the divinely-ordained, hierarchical dynastic realm […] Finally, it is imagined as community, because, regardless of the 2.4 Erzählen als vergemeinschaftende Praxis 109 <?page no="110"?> actual inequality and exploitation that may prevail in each, the nation is always conceived as a deep, horizontal comradeship (Anderson [1983] 2016: 6 f.). Die Vorgestelltheit von Nationen — und Gemeinschaften im Allgemeinen (vgl. Anderson 2016: 6) — welche im Zentrum von Andersons Überlegungen steht, baut auf Veränderungen in der Zeitwahrnehmung auf, welche sich durch Simultanität auszeichnet und für die kulturelle Erzeugnisse wie Kommunika‐ tionsmedien (Tageszeitung und Roman) eine wichtige Rolle spielen, da sie moderne Konzeptionen von Gleichzeitigkeit und Vernetzung transportieren (vgl. Mayer 2005: 16; Anderson 2016: 24 ff.). Auf diese Weise entstand der Ein‐ druck Teil eines Kollektives zu sein, welches sich trotz Anonymität gleichzeitig und verbunden durch die Geschichte fortbewegt (vgl. Anderson 2016: 24 ff.), ein Erleben, das insbesondere für Vergemeinschaftungen, „die nicht mehr über face-to-face-Interaktionen und persönliche Bekanntschaft bestimmt sind“ (Gertenbach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010: 85), unumgänglich ist. Auch diasporische Gruppen sind, ähnlich wie Nationen, eng mit der affek‐ tiven Aufladung festgelegter Territorien und der Vorstellung ursprünglicher Zugehörigkeit verknüpft. Der Begriff ‚Diaspora‘ hat seinen Ursprung in der jüdischen Geschichte und bedeutet übersetzt so viel wie ‚Zerstreuung‘ (vgl. Michel/ Wienold 2020: 146). Zunächst wurde mit dem Wort Diaspora auf die in Folge von Vertreibung und Versklavung weltweit verstreuten Angehörigen des Judentums Bezug genommen (vgl. Nieswand 2018: 1), mittlerweile jedoch findet der Begriff auch Anwendung auf Minderheitengruppen, die an anderen Orten leben, als jene, denen sie sich durch Sprache, Kultur, Religion oder Natio‐ nalität zugehörig fühlen (vgl. Michel/ Wienold 2020: 146). Zentrales Merkmal diasporischer Gruppen ist ihr identitätsstiftender, transgenerationeller Bezug zur realen oder mythischen Herkunftsregion sowie die sich daraus ableitende Loyalität (vgl. Nieswand 2018). Der Begriff der Diaspora impliziert dabei — wie bereits in seiner ursprünglichen Verwendung — meist durch Vertreibung, Verfolgung, Verschleppung erzwungene Erfahrungen von Migration (vgl. Kuhl‐ mann 2014: 8). In Abgrenzung zum Exil bezieht sich der Begriff Diaspora auf eine kollektive Erfahrung und Lebenssituation, zudem ist die emotionale Bindung an das Herkunftsland sowie der Wunsch nach Rückkehr bei diasporischen Gruppen ebenfalls vorhanden, jedoch weniger ausgeprägt als bei Exilierten (vgl. Kuhlmann 2014: 10): Anders als für Exilierte stellt das Heimatland für Diasporen nicht zwangsläufig einen Ort der physischen Rückkehr dar. Es bildet vielmehr einen wichtigen (geistigen) Bezugspunkt der eigenen individuellen und kollektiven Identität […] Diaspora ist ein 110 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="111"?> 172 Mayer liefert eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Diaspora-Begriff und untersucht verschiedene seiner Ausprägungen (Mayer 2005). Dort wird auch die Geschichte der Black Diaspora näher beleuchtet, während sie hier nur kurz gestreift und genannt werden soll. 173 Hall betont dass Hybridität zentral für Diaspora-Identitäten ist: „Diaspora does not refer us to those scattered tribes whose identity can only be secured in relation to some sacred homeland to which they must at all costs return, even if it means pushing other people into the sea. This is the old, the imperialising, the hegemonising, form of 'ethnicity' […] The diaspora experience as I intend it here is defined, not by essence or purity, but by the recognition of a necessary heterogeneity and diversity; by a conception of 'identity' which lives with and through, not despite, difference; by hybridity. Diaspora identities are those which are constantly producing and reproducing themselves anew, through transformation and difference“ (Hall 1998: 235). 174 Bruneau verwendet den Begriff in seinem Aufsatz, für aus Globalisierungsprozessen und sozioökonomischen Ungleichheiten (insbesondere Nord-Süd-Gefälle) resultie‐ rende Migrationsbewegungen, die ‚transnational communities‘ hervorbringen, die jedoch im Gegensatz zu diasporischen Formationen weniger von einer ‚Suche nach kultureller oder religiöser Einheit‘ (vgl. Bruneau 2010 : 47) geprägt sind: „Diasporas are organised around an unsettled nation-state problem; this is not the case of transnational beständiger, wenn nicht permanenter Zustand, der Generationen überdauern kann (Kuhlmann 2014: 11). Auch Nachkommen von im Transatlantischen Sklavenhandel aus Afrika ver‐ schleppten Menschen verstehen sich mitunter als Teil einer afrikanischen oder Black Diaspora (vgl. Mayer 2005) 172 und bestätigen damit, dass Erfahrungen bzw. Identitäten von Diaspora mehrere Generationen überdauern können. Die Einflüsse des Aufenthaltslandes ebenso wie das Erbe der Herkunftsregion führen nicht selten dazu, dass diasporische Gruppen eigenständige, hybride kulturelle Formen ausbilden (vgl. Hall [1990] 1998: 235; Kuhlmann 2014: 11) 173 wie im karibischen Raum, worauf Stuart Hall hinweist. Hall spricht zwar von einer unleugbaren ‚african presence‘ im karibischen Raum, zweifelt Afrika aber als identitären Ursprung und Ort tatsächlicher Rückkehr grundlegend an (vgl. Hall 1998: 231). ‚Afrika‘ verbleibt zwar ein notwendiger Teil des karibischen Imaginären, aber mehr im Sinne einer imagined community als als wirklicher Ort der ‚Heimkehr‘ (vgl. Hall 1998: 231). Auch im haitianischen kreyòl und im vodou ist dieser tradierte Wunsch nach Rückkehr in einigen Ausdrücken noch präsent, ungeachtet einer propagierten haitianischen Identität. In der Sehnsucht nach Rückkehr, der Bezugnahme auf einen (mythischen) Ursprung und der Identifikation, die über große Distanzen und Grenzen hinweg, viele diasporische Kulturen prägen, weisen sie sich ebenfalls als Imagined Communities aus (vgl. Mayer 2005). Im Hinblick auf Haiti sind vor allem die historische, afrodiaspori‐ sche Erfahrung und die Vielzahl haitianischer transnational communities  174 (vgl. 2.4 Erzählen als vergemeinschaftende Praxis 111 <?page no="112"?> communities that do not contest the home or host nation-state. A transnational community is economically oriented, and its political interest is restricted to the migration policies of both its home and host country” (Bruneau 2010 : 45). 175 Der Diaspora-Begriff erweist sich, trotz seiner hohen Frequenz in den Kultur- und Literaturwissenschaften, als häufig uneindeutig. Neben Ruth Mayer setzt sich auch Carsten Sinner ausführlich und kritisch mit den verschiedenen Ansätzen und Verwen‐ dungen des Begriffes auseinander, seine komplexe und detaillierte Darstellung kann hier jedoch nicht wiedergegeben werden (Sinner 2021). Für den Kontext dieser Arbeit wird trotzdem an dem Begriff der Diaspora festgehalten, wenn gleich damit auch kein einheitliches Phänomenen gemeint ist, vielmehr wird es darum gehen die Vorstellung von der Zugehörigkeit zu einer Diaspora als eine Form von Vergemeinschaftung herauszustellen. 176 Spitta stützt sich mit dem Begriff vor allem auf Schriften von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, Cornelio Castoriadis, Susanne Lüdemann, Albrecht Koschorke und Jürgen Link (vgl. Spitta 2014: 33 f.). Bruneau 2010: 43 ff.), u. a. in Montréal, Paris, New York und Miami, die Ergebnis einer Vielzahl von Migrationsbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert sind und die z.T. ebenfalls gemeinhin als Diasporen 175 bezeichnet werden, relevant. 2.4.2 Literatur als privilegierter Ort von Vergemeinschaftung Die Bedeutung von Mythen, Fiktion und Imagination für Kollektivphänomene wurde nun an mehreren Stellen sichtbar. Juliane Spitta bezeichnet dementspre‐ chend Gemeinschaft als eine „politisch imaginäre, diskursive Konstruktion jenseits von vorpolitisch-natürlicher Evidenz, ein kontingentes und gewordenes aber nicht beliebiges Konstrukt“ (Spitta 2014: 21) und bezieht sich dabei positiv auf postkoloniale und dekonstruktive Theorietraditionen. Im Anschluss an die Theorie des Politischen Imaginären  176 verweist sie auf die Notwendigkeit von wirklichkeitsschaffenden Prozessen durch die es sozialen Formationen erst möglich wird, sich als Gemeinschaft präsentieren und wahrnehmen zu können (vgl. Spitta 2014: 34): Es müssen Narrationen entstehen, in denen sich die Einzelnen gleichsam spiegeln und über die sie sich rückwirkend identifizieren. Das gilt für kleinere soziale Einheiten, besonders aber für politische Leitkategorien wie Gemeinschaft, Volk oder Nation, die ihre (Be)gründungsmythen rechtfertigen und ihre Ein- und Ausschlussklassifizie‐ rungen justieren müssen (Spitta 2014: 34). Dementsprechend lohnt es sich abschließend noch einmal auf das Verhältnis von Literatur und (Ver)Gemeinschaft(ung) einzugehen. Die beiden Literaturwissen‐ schaftlerinnen Margot Brink und Sylvia Pritsch sprechen in ihrer Einleitung zum Sammelband Gemeinschaft in der Literatur - Zur Aktualität poetisch-politischer 112 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="113"?> Interventionen mit Rückbezug auf Jean-Luc Nancy von der „Literatur als ein pri‐ vilegierter Ort an dem Gemeinschaft stattfindet“ (Brink/ Pritsch 2013: 9). Dieses enge Verhältnis zwischen Literatur/ Roman und Vergemeinschaftung realisiert sich auf verschiedenen Ebenen und auf verschiedene Weise im Text und in der außertextlichen Welt. Prink und Britsch verweisen auf zwei grundlegende Eigenschaften von Literatur im Hinblick auf Gemeinschaft, zum einen die Be‐ deutungsvielfalt, welche Literatur als „Medium einer nicht-identitären, offenen und unabschließbaren Gemeinschaftlichkeit“ inhärent ist, und zum anderen das Potential von Literatur als Teil des kulturellen Gedächtnisses, als Speicher-, Wissens- und Reflexionsmedium zu fungieren und als solches Geschichte, kulturelle Werte und Normen zu tradieren. Jener Unterscheidung gemäß kann Literatur in Bezug auf soziale Gruppen sowohl eine vergemeinschaftende Rolle einnehmen als auch eine dekonstruktive Funktion besitzen. Dabei ist nicht nur der transportierte Inhalt bedeutungstragend, sondern auch seine Form, wie Hartwig, Stenzel und Pabst herausstellen: Kulturelle Narrative ermöglichen die Tradierung von Vorannahmen und Grundüber‐ zeugungen einer Gemeinschaft. ‚Narrative‘ sind bestimmte Beschreibungs- und Dar‐ stellungsmuster (also nicht Inhalte! ), die in einer Kultur üblich und damit Ausdruck einer bestimmten Repräsentation sind, also eingeschliffene Weisen der Verarbeitung von Erfahrung (vgl. Fauser 2003, 87-91). Narrative haben eine zeitlich-lineare Ord‐ nung, die den Inhalt vorstrukturiert und damit grundlegend zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit beiträgt. (Hartwig/ Pabst/ Stenzel 2007: 250). Für eine analytische Betrachtung literarischer Repräsentationen und Inszenie‐ rungen von Vergemeinschaftung und Zusammenleben sind folglich formale Aspekte ebenso von Bedeutung wie inhaltliche. Dabei können literarische Texte als Grundlage für neue Narrative in der außertextuellen Welt dienen oder aber Narrative aus der realen Welt in den Text einflechten oder dekonstruieren. Um die Präsenz und Funktion vergemeinschaftender Imaginationen, Narrative und Mythen in den literarischen Texten herauszuarbeiten, lohnt es sich zu fragen, welche Figuren, Themen und Motive über die Textregie miteinander in Beziehung treten und ob der Text sich wiederholende Motive aufweist. Daneben kann auch die Beschäftigung mit Intertexten, Referenzen sowie Erzählstimmen und Figurenrede dabei unterstützen in dem Text eingeflossene Diskurse sichtbar zu machen. Im Rahmen dieser Untersuchung wird die Aufmerksamkeit ins‐ besondere auf der Präsenz von den, im ersten Kapitel Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung vorgestellten, ‚aufklärerischen‘ Konzepten in den literarischen Texten liegen. Aber auch spezifische haitianische Gesellschaftskonstellationen, literarische Strömungen und politische Diskurse 2.4 Erzählen als vergemeinschaftende Praxis 113 <?page no="114"?> besitzen eine hohe Relevanz, um den Verhandlungen von Konvivenz und Vergemeinschaftung in den Romanen nachzugehen. In dieser Konsequenz unternimmt das nächste Kapitel Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg eine kurze Reise durch die haitianische Literaturgeschichte unter dem Blickpunkt narrativer Vergemeinschaftung und literarisierter Konvivenz. 114 2 Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität - Grundzüge des Gemeinsamen <?page no="115"?> 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg Die Aufmerksamkeit der beiden vorangegangenen Kapitel lag zum einen auf der Konstellation Aufklärung-Kolonialismus (bzw. Haiti-Frankreich) und der daran geknüpften Universalisierung zentraler aufklärerischer Konzeptionen des Zu‐ sammenlebens und zum anderen in der Vorstellung und kritischen Diskussion theoretischer Ansätze und Schlüsselkonzepte der Vergemeinschaftung sowie ihrer methodische Anwendbarkeit für die Analyse literarischer Texte. Das vorliegende Kapitel nimmt diese konzeptuellen und methodischen Stränge auf und schlägt eine Brücke von der Haitianischen Revolution und ihren philosophisch-politischen Implikationen in die Gegenwart der Post-Du‐ valierzeit und bereitet damit den Weg in den Kern dieser Studie, die analytischen Lektüren in dem Kapitel Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemein‐ schaftung und Konvivenz in literarischen Texten, für welche die Periode ab 1986 zentral ist. In diesem Sinne kommen diesem Kapitel mehrere Funktionen zu. So gilt es konkrete politische Entwicklungen und Ereignisse ab 1804 und ihre enge Verwebung mit der literarischen Produktion darzustellen und zugleich einen Überblick über wichtige literarische Strömungen, Akteur: innen sowie Texte zu geben. Damit bewegt sich das Kapitel zwischen einer literarisch, historischen Einführung und einer Sondierung des literarischen Feldes in Haiti. Die Frage nach Entwürfen des Zusammenlebens in der aktuellen haitianischen Literatur, um welche diese Studie kreist, stellt sich vor dem Hintergrund einer politisch-historisch geformten Gegenwart und kann folglich nur mit dem Wissen um die prägenden (historischen) Ereignisse und Erfahrungen beantwortet werden. Eine entscheidende Zäsur für die haitianische Gegenwart — wenn auch nicht die einzige — stellt die fast 30 Jahre (1957-1986) dauernde Diktatur von François und Jean-Claude Duvalier dar. Mit ihrem Ende 1986 kann von einer neuen Brisanz sozialer und politischer Fragestellungen und Entwürfen des Zu‐ sammenlebens ausgegangen werden, wodurch die Zeit ab 1986 Untersuchungs‐ zeitraum relevant wird. Dieser Grundannahme folgend orientiert sich auch die Periodisierung auf den folgenden Seiten stärker als vermutlich allgemein der Fall für literaturgeschichtliche Darlegungen an politischen Ereignissen. Die Wechselwirkung zwischen politischem Raum und literarischem Werk nimmt dementsprechend eine besondere Stellung ein und wird durch die Exkurse zu exemplarischem Texten illustriert werden. <?page no="116"?> 177 Umfassender dargestellt findet sich die Fülle der haitianischen Literatur bei Hoffmann (1995a), Laroche (2007); Gouraige (2003); Dalembert/ Trouillot (2010); sowie bei Ménard (2011); Raffy-Hideux (2013) und Parisot (2018). 178 Dabei wurde die Auswahl der literarischen Texte auch, bis auf einige Ausnahmen, auf französischsprachige Texte beschränkt. Es ist mir aber ein Anliegen zu betonen, dass sich seit den 1970er Jahren auch eine wachsende Zahl an Veröffentlichungen kreyòlsprachiger Texte beobachten lässt, die für ein umfassenderes Bild der haitiani‐ schen Literatur unerlässlich sind (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 49 f.). Gleichwohl haben die folgenden Seiten nicht zum Ziel eine erschöpfende Li‐ teraturgeschichte Haitis wiederzugeben, noch der Vielfalt der literarischen Pro‐ duktionen und Produktionsbedingungen in ihrer komplexen Gänze gerecht zu werden. 177 Vielmehr ist dieses Kapitel von dem Wunsch geleitet, sich vorrangig den Entwicklungen der narrativen, romanesken Texttraditionen 178 zuzuwenden und dabei u. a. die Kontinuitäten militanten Schreibens im Sinne einer littérature engagée (vgl. Hartwig/ Pabst/ Stenzel 2007: 215)sowie die literarische Suche nach nationalen, kulturellen und politischen Vergemeinschaftungsformen und -narrativen vor allem auch im Hinblick auf das Fortwirken von Konzepten der Aufklärung herauszustellen. Dabei orientiere ich mich insbesondere an Yanick Lahens Antrittsvorlesung Littérature haïtienne: urgence(s) d'écrire, rêve(s) d'habiter (2019) am Collège de France im Jahr 2018 sowie an der Traversée littéraire (2010) von Louis- Philippe Dalembert und Lyonel Trouillot. Beiden Veröffentlichungen ist gemein, dass sie sowohl den „externen“ Blick einer akademisch geprägten Literaturkritik aus den nördlichen Machtzentren der Welt und seine exotisierenden, rassifizierenden und essentialisierenden Fall‐ stricke thematisieren, als auch die interne, vom eigenen literarischen Schaffen geprägte kritische Perspektive haitianischer Intellektueller und Autor: innen in ihre Betrachtungen mitaufnehmen. Diese reflexiv-alternierende Denk- und Schreibbewegung präsentiert sich bei Dalembert und Trouillot in der Form einer dialogischen Selbstbefragung: Lorsqu’on est écrivain haïtien et qu’on rencontre un public et des journalistes étrangers, on s’agace vite d’un certain nombre des questions auxquelles on a peu de chances d’échapper: […] — Vous parlez d’une île, voire d’une presqu’île, croyez-vous exprimer quelque chose d’universel ? Les réponses varient selon le tempérament. Mais l’enfer est le même […] Certains de ces questions, il faut l’avouer, sont parfois celles que tout écrivain se pose à luimême. […] C’est donc ailleurs qu’il faut chercher les réponses. En soi sans nul doute, mais certainement pas dans le miroir que l’Autre vous 116 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="117"?> 179 Dalembert und Trouillot fahren fort: „Un écrivain, comme tout un chacun, se construit secrètement, se perd de temps en temps, se retrouve et se reperd […] Ça, c’est sa vie, ses attaches, ses engagementshumains et citoyens. Son écriture, c’est son territoire. Un territoire qui fait forcement lien avec l’espace d’où il est parti […] Le lieu du départ recoupe toujours, ou presque, celui de l’enfance. On n’en finit jamais de faire les comptes avec l’enfance“ (Dalembert/ Trouillot 2010: 10). Diese Annäherung an das Herkunftsland über die Kindheit findet sich insbesondere in Dalemberts Literatur thematisiert (vgl. Kosmopolitische Unternehmungen zwischen vagabondage und Verflechtung — Louis-Phi‐ lippe Dalembert: L’île du bout des rêves (2003)). tend, en fonction de son humeur et de ses intérêts du moment. 179 (Dalembert/ Trouillot 2010: 9 f.). Die beiden haitianischen Autoren Louis-Philippe Dalembert und Lyonel Trouillot versammeln in diesem kurzen Abschnitt, der den Beginn ihrer litera‐ rischen Reise anzeigt, ein Konglomerat an Stereotypisierungen, Klischees und Exotisierungen, mit welchen das Schaffen haitianischer Autor: innen häufig bedacht wird. Jener hegemoniale, nicht selten weiße Blick konstruiert das literarische Schaffen ‚von den Rändern‘ mal als konsequent Anderes, Fremdes, mal sucht er die Texte für seine eigenen Zwecke und Weltinterpretationen zu vereinnahmen. Dieser Gefahr lässt Lyonel Trouillot in seinem Aufsatz „La construction des dogmes. Le typique et le général“ eine besondere Aufmerksam‐ keit zukommen: Le danger existe que le critique établisse comme typique et générale (souhaitable) la part qui lui convient. En théorie, la difficulté pour l’universitaire occidental travaillant sur Haiti consiste à combattre en lui-même toute tendance à lire la littérature et le référent en fonction de sa propre histoire, de son „universel“ à lui (Trouillot 2003: 13). Die unvoreingenommene Lektüre, welche Trouillot einfordert, wird, obwohl Maxime einer kritisch, post-kolonial informierten Analyse, lässt sich auch in dieser Untersuchung vermutlich nicht immer in Gänze realisieren, denn die Gefahr, bei der analytischen Betrachtung von Texten haitianischer Schrift‐ steller: innen der verführerischen „single story“ (Adichie 2009) zu verfallen und ausgetretenen, klischierten Pfaden zu folgen, ist groß. Demgegenüber verbleibt die Entledigung des Denkens von kolonialen, eurozentrischen (Alt)Lasten als zu erreichendes und verpflichtendes Ideal dieser Studie, trotz der zu erwartenden eigenen ‚blinden Flecken‘. Im Wissen um diese Untiefen werden verstärkt Stimmen aus Haiti, insbesondere literarische Akteur: innen, zu Wort kommen; widerstreitende Positionen und Kontroversen sichtbar gemacht werden und zu guter Letzt vermeintlich universelle Konzepte und Erklärungsansätze — wie z.T. bereits in der Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg 117 <?page no="118"?> 180 Nation-building (Nationenbildung) „Bezeichnung für den Prozess, in dem - meist auf Betreiben eines militärisch, administrativ, ökonomisch und/ oder kulturell überlegenen Herrschaftszentrums […] die Bevölkerung eines Territoriums durch Unterwerfung unter eine einheitliche staatliche Verwaltung, Durchsetzung bestimmter gemeinsamer kultureller (vor allem: sprachlicher) Standards und schrittweise Einbeziehung aller Bevölkerungsteile in den politischen Prozess (Ausdehnung des Wahlrechts) politisch und soziokulturell integriert wird“ (Klima 2020: 528). Im vorliegenden Text gilt die Aufmerksamkeit vor allem den kulturellen Aspekten des nation-buildings (Klima 2020: 528). Im vorliegenden Text gilt die Aufmerksamkeit vor allem den kulturellen Aspekten des nation-buildings. Unterdrückung geschehen — hinterfragt und mit dem Wissen um Kolonialismus, die Haitianische Revolution und fortbestehende globale Machtverhältnisse neu bzw. ‚gegen den Strich‘ gelesen werden. 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 3.1.1 Literarisches Nation-Building 180 nach 1804 Die Haitianische Revolution markiert die Geburtsstunde einer haitianischen Li‐ teratur und ist Schlüsselereignis eines universalisierenden Partikularismus (vgl. Die haitianische Revolution als Universalisierung von 1789). Spätestens mit der erfolgreichen Revolution und der darauffolgenden formalen Unabhängigkeit schreibt sich Haiti nicht nur in eine Universalgeschichte ein (vgl. Buck-Morss 2011), sondern formuliert zugleich mit der ersten Verfassung von 1805 die Direktiven für den Eintritt in ein neues anti-koloniales Zeitalter. Verstanden als moderne und pragmatische Texte regeln diese ersten textes fondateurs das Alltagsleben und beschreiben zugleich im republikanischen Sinne (vgl. Bizeul 2014: 277) die haitianische Nation und ihre aus der Geschichte erwachsende Mission (vgl. Fleischmann 2008: 162). Gerade da durch jene Verfassungstexte eine neue Vision des Zusammenlebens zu Papier gebracht wird (vgl. Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804), welche die Französische Revolution in ihrem universellen Anspruch überholt, kann eine haitianische Literaturgeschichte diese textes fondateurs nicht ignorieren. Demgemäß identi‐ fiziert Yanick Lahens in dem „acte universel“ (Lahens 2019: 29), welcher Haiti als Staats-Nation begründet, drei zentrale visionäre Tendenzen: La première Constitution va déjà mettre en acte un autre universel, sans référence à une logique du semblable […] intégrer l’Autre de manière remarquable […] elle inclura, 118 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="119"?> 181 Die Bedeutung der kolonialen Texte für eine post-koloniale, haitianische Literaturge‐ schichte hat die Romanistin Anja Bandau herausgearbeitet. In ihrem Aufsatz „Was können koloniale Texte zu den postkolonialen Studien beitragen? Der Fall der Hai‐ tianischen Revolution“ wendet sie sich vor allem frankophonen Dramen aus der Revolutionszeit zu (Bandau 2020). dans le„ nous“ national, en dehors de toute considération d’origine, de culture ou de phénotype, les troupes polonaises et les soldats prussiens qui s’étaient désolidarisés de l’armée napoléonienne pour rejoindre l’armée indigène. La deuxième nouveauté est une poli-tique d’hospitalité puisque toute personne qui, dans le monde, combattait pour la liberté pouvait trouver refuge en Haïti. [….] La troisième nouveauté est une fraternité agissante envers ceux qui, dans n’importe quel point du globe, luttaient pour leur indépendance (Lahens 2019: 29 f.). Die Verfassungstexte legen als erste Schriften der jungen, post-kolonialen Nation Haiti den Grundstein für eine politisch-literarische Kultur, welche über die Jahrzehnte in immer neuen Variationen zutage tritt und dabei einem uni‐ versalisierenden Anspruch auf Befreiung (zunächst) fernab identitätslogischer Einhegungen Rechnung zu tragen versucht. Ungeachtet dieses fulminanten, emanzipatorischen Aufschlags verwirklichte sich in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit die erhoffte Autonomie weder auf ökonomischer noch auf kultureller Ebene. Dieser Umstand lässt sich teilweise auf die (sozial-)psychologischen Nachwirkungen des kolonialen Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Abwertungssystems zurückführen, ist aber zugleich wohlkalkuliertes Ergebnis der Politik westlicher Kolonialmächte, welche Haiti aus „Sorge vor einem Dominoeffekt“ (Pollmeier 2020a: 25 f.) wirtschaftlich isolierten. Zudem verlangte Frankreich von seiner ehemaligen Kolonie ‚Reparationszahlungen‘ in Höhe von „150 Millionen Gold-Francs, d.-h. über 300 Prozent des haitianischen Nationaleinkommens von 1825 (heute ca. 40. Milliarden Euro)“ (Pollmeier 2020a: 26) als Bedingung für Haitis Anerkennung als Staat und eigenständiger ökonomischer Akteur. Die Tatsache, dass sich Haiti zu Beginn des 19. Jahrhundert in der besonderen Lage befand, die erste Schwarze Republik zu sein und zugleich als solche permanenter politischer Bedrohung und rassistischer Stigmatisierung ausge‐ setzt zu sein, prägt die sich neuformierende haitianische Literatur erheblich. 181 Deutliches Merkmal dieser spezifischen Situation Haitis ist eine literarische Aktivität von Haitianer: innen, in welcher die Bezugnahme auf französische, literarische Traditionen deutlich hervortritt: Au lendemain de l’Indépendance, il est vrai que nos premiers auteurs […] imitaient beaucoup les auteurs français des XVIIe et XVIIIe siècles, […] Et il est vrai aussi que 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 119 <?page no="120"?> la réalité haïtienne, la vie de tous les jours, la culture, le créole, le vaudou, ainsi que les traditions populaires, n’étaient pas présents dans leurs œuvres. En dehors des appels à l’unité en cas de nouvelle attaque de la part de l’armée française, c’était une littérature „nationale“ sans „la nation“, comme cela fut le cas pour les nombreuses sociétés postcoloniales (Dalembert/ Trouillot 2010 : 13). Wie Dalembert und Trouillot festhalten, sind im 19. Jahrhundert nur Teile der haitianischen Bevölkerung in der nationalen Erzählung repräsentiert. Während die europäischen Einflüsse und Anteile, d. h. die kreole Kultur, in den Vorder‐ grund geholt werden, werden die bossalen, afrikanischen Anteile und damit vor allem die populäre Kultur, verdrängt und ausgespart. Dementsprechend verbleibt auch die literarische Hervorbringung einer „communauté de citoyens“ (Lahens 2019: 43), welche Yanick Lahens ausmacht und die von einer frankophonen Minderheit ausgeht, exklusiv. Die Literatur dieser frühen Jahre ist ein Indikator für die Begrenztheit des (damaligen) nationalen Narratives, dem es eben nicht gelingt die Pluralität der Bevölkerung abzubilden. In den Augen vieler Intellektueller besteht dieses Defizit weiterhin, da bis heute das Versprechen eines inklusiven nationalen Diskurses uneingelöst bleibt, wie z. B. der Schriftsteller Frankétienne im Interview mit Dénètem Touam Bona zum Ausdruck bringt: On peut avoir un territoire, on peut avoir un gouvernement, on peut avoir un état, et ne pas être une nation. Nous avons raté le projet de fondation nationale: aujourd’hui, l’histoire nous présente la facture (Bona 2004 : 4). Trotz dieses intensiven Begehrens nach einer nationalen Vergemeinschaftung bleibt insbesondere das Verhältnis der sich aus der kolonialen Herrschaft befreienden Gesellschaft zu dem von den Kolonialstaaten importierten Nati‐ onskonzept und seiner Realisierung ein grundlegend problematisches und widersprüchliches (vgl. Castro Varela/ Dhawan 2015: 44 f.). Als ein solches Dilemma, welches soziale, kulturelle, ökonomische Unterschiede zugunsten einer identitären, nationalen Erzählung einebnet, zugleich jedoch für viele ehe‐ malige Kolonien das Vehikel zur Unabhängigkeit und Ausdruck antikolonialer Kämpfe wurde, zeigt sich das Nationsparadigma auch in Haiti. Die Literatur in Haiti steht folglich zunächst im Dienst der Erschaffung eines nationalen Narratives. Parallel dazu zeichnen sich auch schon früh Tendenzen einer sozial und politisch ambitionierten literarischen Produktion ab (vgl. Borst 2015: 6). Der besondere Stellenwert, welcher literarischen Werken in der haitianischen Gesellschaft schon von Beginn an zugesprochen wird, erklärt sich auch aus der spezifischen Position Haitis als erste Schwarze Nation (vgl. Fleischmann 2008: 172 f.). Die literarische Produktion wird so auch zu einer Strategie, um das 120 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="121"?> 182 So ist dem Text u.-a. ein Zitat von Lord Byron vorangestellt (vgl. Müller 2012a: 78 ff.) Vorurteil einer vermeintlichen intellektuellen Unterlegenheit Schwarzer Men‐ schen zu widerlegen und dem Ideal einer „République de citoyens éclairés“ (vgl. Fleischmann 2008: 172 f.) zu entsprechen. Auf diese Weise erfolgt bereits früh die Einschreibung eines idéalisme politique in die Literatur (vgl. Fleischmann 2008: 172 f.), welcher auch heute noch in vielen Texten präsent ist. Exkurs — Émeric Bergeaud: Stella (1859) So verhandelt bereits der erste haitianische Roman, Émeric Bergeauds Stella, welcher 1859 und damit 55 Jahre nach der offiziellen Staatsgründung erscheint, die Kritik an der Sklaverei und die Überwindung dieser durch den haitiani‐ schen Befreiungskampf. Stark von der französischen Romantik beeinflusst 182 (vgl. Müller 2012a: 80) und durchdrungen von einem emphatischen Freiheits‐ begriff allegorisiert der Roman die historischen Ausgangsbedingungen, die Interessenkonflikte zwischen afrodeszendenten und afro-euro-deszendenten Bevölkerungsgruppen und das Erbe der Aufklärung zum haitianischen Grün‐ dungsmythos (vgl. Ludwig 2015: 99). Dieser erste Roman verdeutlicht die trotz der formalen, politischen Unabhängigkeit fortdauernde dominierende Rolle Frankreichs als kultureller und geistesgeschichtlicher Bezugspunkt (vgl. Dalem‐ bert/ Trouillot 2010: 14). Bergeaud orientiert seinen Roman zwar an den histori‐ schen Ereignissen, konzipiert jedoch seine drei Hauptfiguren, die Brüder Remus und Romulus und die mysteriöse Frauenfigur Stella, auf eine Weise, die einer Vereinfachung und Individualisierung der komplexen Fakten gleichkommt (vgl. Fleischmann 2008: 170 f.). Indem der Autor die Handlungen des Schwarzen Romulus und des euro-afrodeszendenten Remus auf eine ‚psychologie raciale‘ zurückführt und die blonde, mit weißen Flügeln versehene, Stella zur Inkarna‐ tion einer überlegenen ‚französischen‘ Freiheit erhebt, die die Schwächen des Bruderpaares durch Evolutionismus entschuldigt, reproduziert er rassistisch inspirierte Erklärungsmuster der damaligen Zeit (vgl. Fleischmann 2008: 170 f.). Folglich integriert das Epos rassistische Bilder und Diskurse der damaligen Zeit, während die in Stella dargebotene Erzählung einer anti-kolonialen Revolution zugleich Einspruch gegen die vermeintliche Unterlegenheit und Geschichtslo‐ sigkeit nicht-weißer Menschen erhebt. Dementsprechend interpretiert Patrick Eser die epische Inszenierung der Revolution und ihrer Helden zum einen als einen widerständigen Gegendiskurs zu den rassistischen Abwertungen der jungen Republik in der kolonialen Welt des 19. Jahrhunderts und weist zum anderen auf die Problematik hin, welche mit den homogenisierenden 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 121 <?page no="122"?> 183 In dieser Tradition dekonstruiert Anténor Firmin in seinem Essay De l‘égalité des races humaines (1885) nicht nur Arthur de Gobineaus rassistische Thesen in dessen Schrift Essai sur l’inégalité des races humaines (1855), sondern tritt auch für eine Rehabilitation Afrikas ein: „One of the fundamental aims of the new nation was to present itself as a progressive, civilized modern state. As such, Haitian culture - philosophy, anthropology, and especially literature - became a primary site for self-promotion and indeed rehabilitation in the eyes of a suspicious, hostile world. As Anténor Firmin writes in the preface to his monumental 1885 rebuke of the racialist theories of Arthur de Gobineau, the Haitian intellectual was charged not only with promoting Haiti, but with ‘the rehabilitation of Africa’. Haiti was, to Firmin, the foremost example of what the ‘black race’ could achieve” (Munro 2012: 9). 184 Die Intention, rassistisch-koloniale Bilder über Haiti zu entkräften, trifft auch auf ein anderes Werk, welches Firmin engagierten Essai De l‘égalité des races humaines (1885) als leitmotivischen Schlüsseltext einflicht, zu. In dem 2017 erschienen Roman Avant que les ombres s’effacent folgt der Autor Louis-Philippe Dalembert dem polnischen Juden Ruben Schwarzberg auf seinen Fluchtwegen von Lodz, über Berlin und Buchenwald, Paris, bis hin in das sichere Exil Haiti. Firmins Essay begleitet Schwarzberg auf den Stationen seines Lebens ebenso, wie auch die vielen zufälligen, aber immer hilfreichen Begegnungen mit Haitianer: innen. Dalembert holt mit seinem Roman Haiti von den Tendenzen einer nationalistischen Ideologie und der Vereinnahmung des na‐ tionalen Willens einhergehen (vgl. Eser 2018: 110). So wird bei Bergeaud und auch bei der Betrachtung anderer literarischer Akteure der ersten 100 Jahre deutlich, dass die „weißere“, „europäischere“ Kultur Aufmerksamkeit und Auf‐ wertung erhält, während eine (positive) Repräsentation des afrikanischen Erbes weder stattfindet und noch wünschenswert scheint (vgl. Lahens 2019: 39). Für den politisch-literarischen Diskurs der post-revolutionären Zeit ist somit einerseits die Verdrängung afrodiasporischer bzw. afrodeszendenter Formen des Zusammenlebens und deren kultureller und religiöser Praktiken (z. B. vodou und kreyòl) aus dem literarischen Diskurs und andererseits die explizite Bezugnahme auf Frankreich, die Romantik und die Aufklärung (bzw. einiger ihrer Schlüsselkonzepte: Republik, Freiheit, citoyenneté) durch Intellektuelle wie Bergeaud charakteristisch. Die Einschreibung gesellschaftlicher Spaltungen und konkurrierender kultureller Bezüge in die frankophone Literatur Haitis erfolgt damit bereits zu Beginn. Parallel zu dem, sich in der Bezugnahme auf Frankreich und die Aufklärung ausdrückenden Wunsch nach der Anerkennung Haitis als ‚moderne Zivilisation‘, lassen sich auch Versuche — wie z. B. in den ersten Verfassungstexten (vgl. Eine neue soziale Ordnung? — Verfassungstexte ab 1804) — erkennen, Haitis Rolle als Begründerin eines staatlichen Antirassismus‘ zu etablieren (vgl. Munro 2012: 9; Lahens 2019: 43 ff.). 183 Haiti befand sich durch seinen Status als erster post-kolonialer Staat in der schwierigen Position rassis‐ tische Stereotype widerlegen und die Gleichheit aller Menschen zu beweisen zu wollen bzw. zu müssen, 184 während zugleich die Maßstäbe für Menschlichkeit, 122 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="123"?> angeblichen weltgeschichtlichen Rändern mitten in das politische Geschehen des Europas der 30er und 40er Jahre und schreibt es in einen weltweiten Kampf gegen den Faschismus ein (vgl. Pageaux 2018: 247). Auf diese Weise bricht er zum einen mit einer westlichen Betrachtungsweise, welche Haiti und seine Bewohner: innen nur als Opfer und Empfänger: innen von Hilfeleistungen aus Europa wahrnimmt und lässt zum anderen zwei diasporische Kollektiverfahrungen, die jüdische und die afrikanische bzw. karibische, miteinander in Resonanz treten. 185 Dieser Mechanismus ist, wenn es um Haiti geht, bis in die Gegenwart zu beobachten (vgl. Nuber 2021). Fortschritt und ‚Zivilisation‘ weiterhin von kolonialistischen Staaten bestimmt wurden (vgl. Munro 2012: 9). 185 3.1.2 Die amerikanische Besatzung als moment déclencheur und Zäsur Eine literarische Unabhängigkeit Haitis beginnt sich erst im 20. Jahrhundert abzuzeichnen, als mit dem indigénisme (Indigenismus) eine Abwendung von den französischen Vorbildern und literarischen Modellen vollzogen wird (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 14 f.). Wichtiger Ausgangspunkt für diese Verände‐ rung in der literarischen Kultur Haitis ist die USamerikanische Besatzung des Inselstaats in der Zeit von 1915 bis 1934, mit der die haitianische Gesellschaft eine tiefe Zäsur durchläuft. Die militärische Intervention wird zum Ausdruck einer ‚Kanonenbootdiplomatie‘ (gunboat dimplomacy) (vgl. Balutsansky/ Sou‐ rieau 2004: 16) im Kontext geostrategischer und ökonomischer Machtkämpfe zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland, in deren Verlauf die USA Haiti militärisch besetzen (vgl. Pollmeier 2020a: 30). Haitis Unabhängigkeit scheint in dieser Gemengelage von nur geringfügiger Bedeutung, denn in der fast 20 Jahre andauernden Okkupation kontrollierten die nordamerikani‐ schen Kräfte „Politik und Finanzwesen der Republik, führten Pressezensur ein, verstärkten in der Gesellschaft Rassismus und Segregation und setzen Präsidenten sowie Regierungsvertreter ab, wenn sie sich der amerikanischen Präsenz wiedersetzten“ (Pollmeier 2020a: 30). Auf diese Weise verschärfte das machtpolitische Fadenkreuz, in welches Haiti zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerät, in der Gesellschaft bereits bestehende Spannungen zwischen der euro-af‐ rodeszendenten und afrodeszendenten Bevölkerung (vgl. Balutansky/ Sourieau 2004: 17) und konfrontierte die haitianische Bevölkerung mit Rassismus und Repression in einem neuen, traumatischen Ausmaß. Diese gewaltvolle, impe‐ riale Präsenz manifestierte sich in Massakern, der Etablierung von Zwangsarbeit 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 123 <?page no="124"?> 186 Diesem Widerstand und seiner Symbolfigur Péralte setzt der 1937 geborene Schrift‐ steller Jean Métellus in seinem 1989 erschienenen Roman Les Cacos ein Denkmal. Anders als sein historisches Vorbild ist Métellus‘ Protagonist Alexandre Basalte jedoch nicht Militärfunktionär, sondern wie Métellus selbst Arzt. Gemeinsam mit politischen Gefährt: innen organisiert er die Aufstände, erschafft in den Bergen eine alternative Form des Zusammenlebens unter den Vorzeichen des Widerstandes und wird am Ende —hier folgt der Roman den historischen Fakten — verraten und ermordet. Die literarische Weitergabe und Bewahrung der Widerstandsgeschichte Haitis (vgl. Dalem‐ bert/ Trouillot 2010: 19) und das Erzählen alternativer Vergemeinschaftungsformen sind zentrale Bestandteile von Les Cacos. Métellus verfolgt mit dem Roman das Ziel Geschichte zu vergegenwärtigen und zurück in das kollektive Gedächtnis zu holen (vgl. Salien 1999). Dabei gilt Métellus’ Aufmerksamkeit besonders dem Wissen um das historische nordamerikanisch-haitianische Verhältnis und dem entschlossenen Widerstand gegen die Okkupation, welches ihm vor allem vor dem Hintergrund einer erneuten amerikanischen Invasion nach dem Ende der Duvalier-Diktatur unerlässlich scheint (vgl. Salien 1999). So erklärt Métellus in einem Interview: „Je pense que c'est une histoire qu'il fallait éclaircir… surtout à une période où le retour des Américains en Haïti semblait imminent. Et effectivement, les Américains sont revenus huit ans après pour remettre de l'ordre dans le pays, comme ils l'avaient déjà fait en 1915. J'ai voulu rappeler ce qui s'était passé jadis pour que l'on n'entre pas tête baissée dans une nouvelle occupation. Mais en '94, les Américains sont arrivés…“ (Salien 1999). 187 Emblematisch für die brutale Niederschlagung des Widerstandes wurde die Photogra‐ fien des toten, ausgestellten Körpers seines Anführers, Charlemagne Péraltes. 188 Das Ende der Besatzung 1934 wird von einigen Intellektuellen als „zweite Unabhängig‐ keit“ interpretiert (vgl. Hoffmann 2010: 113). (Corvée/ kovè) und der brutalen Niederschlagung des Aufstandes der Cacos. 186 In der Bewegung der Cacos, eines Zusammenschlusses der vorrangig aus dem Pla‐ teau Central stammenden Landbevölkerung, die mit Guerrillatechniken unter der Führung von Charlemagne Péralte die amerikanischen Kräfte bekämpfte (vgl. Balutansky/ Sourieau: 16), formierte und zeigte sich der Widerstand der ruralen Bevölkerung (vgl. Barthelémy 2015: 281). Ihr organisierter, militanter Widerstand war die größte Opposition, die der amerikanischen Besatzung entgegengebracht wurde und fand nach vier Jahren sein gewaltsames Ende. 187 3.1.3 Literarische Neuanfänge — Die Entwicklung vom bovarysme culturel zum indigénisme Die Besatzung Haitis markiert folglich eine Zäsur in der haitianischen Ge‐ schichte und stellt für die haitianische Historikerin Suzy Castor die erste von drei Entwicklungsphasen in Haiti im 20. Jahrhundert dar (vgl. Maurer 2020c: 64 f.). 188 Literarisch finden die politischen Ereignisse ihren Ausdruck im indigénisme, einer literarischen, nationalistischen Bewegung, welche die Abgrenzung zu dem frankophilen Elitismus der vorangegangenen Generation 124 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="125"?> 189 In dem Begriff haïtianité zeigt sich ein Wandel im nationalen Narrativ an: „Le terme haïtianité, que nous retiendrons, doit être ici entendu comme l’expression d’une ‘identité haïtienne […], une créolité, si on peut dire, qui ne recouvr[e] pas seulement la langue, mais aussi les mœurs, la vie sociale, les familles, la danse, la musique et la religion’. L’haïtianité constitue donc un tronc culturel commun d’expression et de représentation du monde, de l’individu et de la société de l’île caribéenne“ (Raffy-Hideux 2013: 10). 190 Dabei ist der indigénisme, insbesondere aufgrund einer vorgestellten nationalen Iden‐ tität (vgl. Trouillot 2017: 33 ff.), aber auch aufgrund seiner Instrumentalisierung wäh‐ rend der Diktatur, keinesfalls unbestritten, weshalb heutige Bezugnahme auf den Indigenismus eher kritisch ausfallen (vgl. Urioste-Buschmann 2018: 169 ff.) 191 Dalembert und Trouillot heben insbesondere diese zwei Daten für die Ausbildung des indigénisme hervor: die Gründung von La revue indigène 1927, die fünf Ausgaben lang für die Moderne und eine haïtianité eintrat und das Erscheinen von Jean-Price Mars‘ Ainsi parla l’oncle 1928 (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 14 f.). sucht und Position gegen die amerikanische Besatzung bezieht (vgl. Balu‐ tansky/ Sourieau 2004: 19). Konfrontiert mit den Übergriffen der vorwiegend weißen amerikanischen Marines formiert sich bei den haitianischen Intellek‐ tuellen eine Gegenbewegung, die sich angesichts der rassistischen Abwer‐ tungsstrategien und der neokolonialen Einflussnahme rückbesinnt auf eine ‚authentische‘ haitianische, afrodeszendente Kultur (vgl. Balutansky/ Sourieau 2004: 19). Der indigénisme propagiert die Moderne, eine haitianische Identität, haïtianité, 189 und wendet sich dabei verstärkt der populären Kultur, deren Formen sie in Literatur, Tanz und bildende Kunst zu integrieren sucht (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 14 f.), zu. Die haitianische Literatur wird durch den indigénisme nachhaltig verändert — „Dans l’histoire de la littérature haïtienne, il y a un avant et un après l’indigénisme“ (Dalembert/ Trouillot 2010: 14 f.) —, führt er doch zu einer Erprobung neuer literarischer Formen und Themen, was ihn auch heute noch zum Gegenstand von Debatten macht (vgl. Dalem‐ bert/ Trouillot 2010: 14 f.). 190 Neben der schmerzhaften Erfahrung der amerika‐ nischen Besatzung trug auch Jean Price Mars’ fundamentale Studie Ainsi parla l’oncle ([1928]2009), die großen Einfluss auf die Intellektuellen von La revue indigène (1927-1928) hatte, entschieden zur Entstehung des indigénisme in Haiti bei. 191 Dany Laferrière fasst die ethnographische Schrift und die von Mars entwickelte These des bovarysme culturel in seinem Aufsatz „Haiti: dix ruptures historiques et une littérature mouvementée pour fonder une mythologie amé‐ ricaine“ (Laferrière 2017) auf lakonische Weise zusammen: Ayant constaté que les Haïtiens faisaient appel de moins en moins à l’Afrique dans leur vie culturelle ou mondaine, l’écrivain entreprit un travail de terrain afin de découvrir les causes réelles de cette situation qu’il a qualifiée de „bovarysme culturel“. 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 125 <?page no="126"?> 192 In ihrem Roman Dans la maison du père (2000) verhandelt Yanick Lahens eben diese verschiedenen kulturellen Einfluss Haitis sowie die langgehegte Ignoranz und Abwertung des afrikanischen Erbes über die Emanzipationsgeschichte eines jungen, bürgerlichen Mädchens Anfang des 20.-Jahrhunderts (vgl. Urioste-Buschmann 2018). 193 Hier wird von afrodeszendent und afrodiasporisch gesprochen, da nicht alle dieser Bewegungen, eine (imaginierte) Rückkehr nach Afrika propagierten, jedoch das Wissen um die (diasporische) Verschleppung gleichwohl präsent ist. So illustriert z. B. der Begriff der haïtianité, dass es hier vorrangig um eine neue in Haiti verortete kulturelle Identität geht, welche zugleich jedoch im Bewusstsein einer afrikanischen Deszendenz ausgebildet wird 194 Die Harlem Renaissance ist eine moderne, afro-amerikanische kulturelle und literarische Bewegung im New York der 20er Jahre, über deren Ausgangsbedingungen Karrer schreibt: „Der New Yorker Stadtteil Harlem war durch Zuzug aus dem Süden zur größten Ansammlung von Schwarzen in den USA geworden. Neben vielen modernis‐ tischen und realistischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern der Zeit, die Harlem auch zu einer kulturellen Metropole für Schwarze machen wollten, gab es einige experimentelle Autorinnen und Autoren, die eher Einzelgänger in der Bewegung waren und der Avantgarde nahestanden“ (Karrer 2009: 134). Bovarysme culturel qu’il explique ainsi: à trop imiter une culture différente de la sienne on finit par perdre son âme. […] Il déplore l’état lamentable de la culture haïtienne qui se repose alors sur du vide. Une culture qui n’est ni française, ni africaine (Laferrière 2017: 169). Als Lösung für das kulturell-psychologische Problem des bovarysme plädiert Mars statt der Orientierung an westlich-weißen Maßstäben für eine Akzeptanz und Integration aller Bestandteile der haitianischen Kultur, die als einzige die Möglichkeit für den Karibikstaat bietet, voranzuschreiten (vgl. Dalem‐ bert/ Trouillot 2010: 16). Die Frage nach einer nationalen Identität verbleibt folglich weiterhin aktuell, erfährt nun jedoch eine Erweiterung durch die — zumindest ideelle — Integration des afrikanischen Erbes und afrodeszendente und rurale Lebensweisen erhalten Einzug in die französischsprachige Literatur Haitis. 192 Doch trotz dieser konkreten nationalen Bezugspunkte entwickelt sich der haitianische indigénisme keineswegs als eine von der restlichen Welt isolierte Strömung, vielmehr stehen er und seine Akteur: innen im engen Austausch mit anderen afrodiasporischen und afrodeszendenten 193 Strömungen ihrer Zeit wie der Harlem Renaissance  194 (ca. 1920-1930) und beeinflusste spätere Bewegungen wie die négritude (vgl. Laferrière 2017: 169; Parisot 2018: 16). Yolaine Parisot betont, dass Haiti, insbesondere in der Ethnologie, als Unter‐ suchungsfeld in den Fokus gelangt, die haïtianité so zum Ausdruck einer ‚authentischen Schwarzen Kultur‘ gerät und als solche in Resonanz mit der Harlem Renaissance und der négritude tritt (vgl. Parisot 2018 : 16). Am Beispiel des Indigenismus werden so mehrere Determinanten der haitianischen Literatur 126 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="127"?> und der konzeptuellen Wegführung dieser Studie deutlich: die starke und schnelle Wechselwirkung zwischen politischen Ereignissen und literarischer Verarbeitung, die Rolle der Literatur als ideologischer Kampfplatz, die fortwäh‐ rende literarische Suche nach einer kollektive Identität und nationaler bzw. kultureller Vergemeinschaftung und Entwürfen des Zusammenlebens sowie die Weltgewandtheit und der Internationalismus haitianischer Intellektueller. 3.1.4 Die ‚Entdeckung‘ des ländlichen Raums im roman paysan Eine zentrale Figur jenes Internationalismus ist der 1907 geborene Jacques Roumain, der als ‚polyglotter Kosmopolit‘ (vgl. Parisot 2018: 39) und überzeugter Marxist Freundschaften zu Schiftsteller: innen in verschiedenen Teilen der Erde, darunter Langston Hughes, Anna Seghers und Nicolas Guillén, unterhält (vgl. Parisot 2018: 40 f.) Parisot spricht von diesem Beziehungsnetz als ‘Konstellation Jacques Roumain‘, welches gleichermaßen Resultat seiner indigenistischen Haltungen als auch seiner internationalistischen Überzeugung ist (vgl. Parisot 2018: 40) und durch welches Roumain einen wichtigen Beitrag zu der haitiani‐ schen Literatur und Politik des 20.-Jahrhunderts leistet. - Exkurs — Jacques Roumain: Gouverneurs de la Rosée (1944) Roumains posthum veröffentlichter Roman Gouverneurs de la Rosée (1944) ist der am häufigsten zitierte haitianische Roman und für viele haitianische Autor: innen der Gegenwart weiterhin ein wichtiger Referenzpunkt. Die Erzäh‐ lung um den Helden Manuel, welcher nach mehreren Jahren auf Kuba in sein haitianisches Herkunftsdorf Fonds-Rouge zurückkehrt und dort mit Dürre und der Entzweiung des dörflichen Gemeinwesens konfrontiert ist, erzählt die Misere der Landbevölkerung als Ergebnis sozialer Konflikte, Ausbeutung durch lokale Machthaber und fortschreitender Umweltzerstörung. Trotz der widrigen Umstände gelingt es Manuel, der auf Kuba die Arbeiter: innenbewe‐ gung kennengelernt hat, die Dorfbevölkerung durch sein eigenes Opfer und sein Wissen wieder zu vereinen und mit Hilfe seiner Geliebten Anaïse die Quelle aufzuspüren, die das Land wieder fruchtbar werden lässt. Gouverneurs de la Rosée verhandelt Exilerfahrung, internationalistische Streikbewegungen und zeichnet zugleich ein Bild des ruralen Dorfes und seiner Menschen. Dabei lassen sich in dem Roman marxistische Elemente wie die kommunistische Reinterpretation des konbit ebenso finden, wie auch mit Manuel eine nahezu messianisch-religiöse Retterfigur (vgl. Britton 2010). Daneben zelebriert Rou‐ main mit Anaïse und Manuel das Ideal einer lebensspendenden, reinen Liebe. Roumain inszeniert in seinem letzten Werk auf meisterhafte Weise die Wieder‐ 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 127 <?page no="128"?> 195 Rassistische Dominanzverhältnisse seien, so führt Raffy-Hideux weiter aus, seien in dem Roman untrennbar verwoben mit der sozialen Unterdrückung in einem kapita‐ listischen System, so dass sich bei Roumain sowohl indigenistisch-nationalistische Tendenzen als auch progressiv-revolutionäre, vom Marxismus inspirierte, Anteile ausmachen lassen (vgl. Raffy-Hideux 2013: 212 f.). herstellung des Zusammenlebens zwischen tradierten Praktiken und neuen Wissensformen. Demnach erwächst die Erlösung für Fonds Rouge aus der Rückbesinnung auf tradierte, vergemeinschaftende Praktiken, welche die ideali‐ sierte Einheit wiedereinsetzen bei gleichzeitiger Offenheit für die notwendigen, fortschrittlichen Veränderungen. Auch Celia Britton nimmt in ihrer Studie The sense of community in french caribbean fiction (2010) Bezug auf Gouverneurs de la Rosée: The community is thus placed throughout the narrative in relation to a leader who saves it: an archetypal hero, Manuel combines the roles of leader, saviour, and teacher, leading them from resignation and dissension to a new confidence in their ability to work collectively to change their lives for the better […] The community he [Manuel] sets out to build will be a new, more self-conscious version of the original; it is not a question of creating something radically different, but of re-creating a lost intimacy and communion (Britton 2010: 19 ff.). Brittons Ausführungen verdeutlichen, wie stark Roumains Roman auf der Verwirklichung eines Ideals aufbaut, indem ein harmonisches Zusammenleben möglich ist und sich versinnbildlicht in der kollektiven Arbeit, über die die verloren geglaubte Einheit wiederhergestellt wird. Die didaktische Gestaltung des Romanes legt zwei Schlussfolgerungen, so Peggy Raffy-Hideux, nahe: Zum einen benötigt der Mensch die Fähigkeit, Natur und Schicksal zu beherrschen, um ein besseres Leben zu schaffen; zum anderen ist es für die Armen und Unterdrückten von Notwendigkeit sich zu organisieren und gemeinsam zu kämpfen (vgl. Raffy-Hideux 2013: 212 f.). 195 Zugleich zeigt sich an der Figur Roumains deutlich, dass im 20. Jahrhundert neben dem indigénisme auch der erstarkende Marxismus an Einfluss auf die haitianische Literatur gewinnt und auch die Vorstellungen von dem zu konstruierenden ‚Wir‘ verändert, wie Lahens betont: Le marxisme viendra prendre le relais de son indigénisme teinté de négritude pour dire le rêve de ce „nous“ sociopolitique commun qui s’étendra au „nous“ de l’Internationale socialiste (Lahens 2019: 53). Mit der verstärkten Präsenz marxistischer Ideen in der Karibik und Latein‐ amerika —1934 begründet Jacques Roumain die Parti Communiste Haïtien 128 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="129"?> — verändern sich auch Formen und Inhalte der haitianischen Literatur. Die intensive Auseinandersetzung mit nationalistischen und identitären Thema‐ tiken im Kontext des indigénisme wird um eine stärkere Reflexion sozialer Fragestellungen erweitert (vgl. Raffy-Hideux 2013: 15). Gewissermaßen setzt der réalisme socialiste jene Hinwendung zu der defavorisierten und ruralen Bevölkerung fort, welche mit dem indigénisme bereits begonnen hatte. Zugleich jedoch zeichnet sich das neue literarisch-politisch Programm durch eine starke Orientierung hin zu internationalistischen Forderungen und Narrativen aus (vgl. Raffy-Hideux 2013: 159). So zielen militante Poet: innen nicht mehr auf die nationale Gemeinschaft, sondern sind auf eine Vergemeinschaftung als proletarisch-bäuerlichen Schichten aus, welche längst keine nationalen Grenzen mehr kennt. Das Streben nach einer nationalen Identität/ Einheit wird so bis zu einem gewissen Grad durch die Forderung nach Vereinigung der Proletarier aller Länder ersetzt. Une ouverture vers l’Internationalisme se fait jour tandis que l’on étend la défense des pratiques socioculturelles des paysans au soutien des intérêts prolétariens. Les classes laborieuses, dans leur ensemble, font véritablement leur entrée dans le roman à la faveur d’écrivains comme Jacques Roumain, Anthony Lespès, Jacques Stephen Alexis ou encore René Depestre […] Le mouvement s’impose comme producteur d’une littérature résolument engagée et donne lieu à la production de nombreux romans paysans ou prolétariens (Raffy-Hideux 2013 : 15). Die arbeitenden und ausgebeuteten Massen werden mit dem réalisme socialiste und dem Genre des roman paysan (‚Bauernroman‘) zu Beginn des 20.-Jahrhun‐ derts literatur- und repräsentationswürdig. Die Literatur fungiert hier abermals und in gesteigerter Vehemenz als ästhetisches Mittel zum Erreichen politi‐ scher-gesellschaftlicher Ziele. Der Traum von einer sozialistischen Revolution und damit der Verbesserung der Lebensbedingungen verwirklicht sich trotz des literarischen und politischen Engagements haitianischer Intellektueller und Aktivist: innen jedoch nicht (vgl. Raffy-Hideux 2015: 282). An der Schnittstelle zwischen réalisme socaliste und indigénisme kann das Genre des roman paysan verortet werden. Der roman paysan, zu dem sich auch Gouverneurs de la Rosée zählen lässt (vgl. Hoffmann 1995b: 269), bezeugt das seit 1928 mit Ainsi parla l’oncle gewachsene literarische Interesse für die rurale Lebensrealität. Auf Jacques Roumains La montagne ensorcelée (1931) folgen eine Vielzahl von Veröffentlichungen, — so z. B. Jean- Baptiste Cinéas‘ Le Drame de la Terre (1933), dem Marie-Denise Shelton auch die alternative Genrebezeichnung Drame de la terre entlehnt (vgl. Shelton 1993: 55 ff.) — anhand derer der roman paysan an Kontur gewinnt. Léon-François Hoffmann zufolge ist unter dem ‚roman paysan‘ 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 129 <?page no="130"?> eine Erzählung vorzustellen, welche das Leben der Bauern in sein Zentrum stellt und sich dabei weitestgehend einer realistischen Darstellung bedient (vgl. Hoffmann 1995b: 267). Dieser Realismus schlägt sich u. a. darin nieder, dass das Landleben in seinen prekären, marginalen und lähmenden Aspekten und den daraus resultierenden Folgen wie Egoismus, Alkoholismus und den Rückgriff auf ‚la magie noire‘ gezeigt wird (vgl. Hoffmann 1995b: 266). Eng an die menschliche Misere geknüpft thematisiert der roman paysan auch die durch Entwaldung, Desertifikation und Trockenheit fortschreitende, ökologische Ver‐ wüstung (vgl. Raffy-Hideux 2013: 279 ff.) und wird dabei getragen von einem stark ausgeprägten politischen Willen, die miserablen Lebensbedingungen der ruralen Bevölkerung und die Verantwortung der haitianischen Eliten für diese Situation anzuklagen (vgl. Hoffmann 1995b: 267 ff.; Raffy-Hideux 2013: 279 ff.). In seiner Gesamtheit reflektiert der roman paysan die ökologischen, ökonomi‐ schen und moralischen Verhältnisse des bäuerlichen Lebens und hebt in diesem Kontext, lange bevor von einer Umweltbewegung gesprochen werden kann, die Verknüpfung menschlicher Misere und Naturzerstörung hervor. Damit greift er späteren Literarisierungen des Nexus Mensch-Umwelt wie der écocritique (vgl. Clavaron 2018: 193 ff.) vor. 3.1.5 (Literarische) Realitäten im 20.-Jahrhundert — Réalisme socialiste und réalisme merveilleux Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnet sich in Haiti durch eine starke Präsenz revolutionärer Ideen und literarischer Ansätze aus. So versuchen roman paysan und réalisme socialiste im Allgemeinen nicht nur sich der so‐ zialen Realität Haitis anzunähern, ihre Autor: innen entwerfen auch mögliche Handlungsoptionen in Richtung einer ‚besseren Zukunft‘ (vgl. Raffy-Hideux 2015 : 279 ff). Doch statt der erhofften Verbesserung der Lebensverhältnisse der proletarischen und bäuerlichen Bevölkerungsschichten ereignet sich im Jahr 1937 hingegen ein Massaker, als der dominikanische Diktator Rafael Leonidas Trujillo anordnet, haitianische Arbeiter: innen, die zum Arbeiten in die Domini‐ kanische Republik gekommen waren, umzubringen. Auf diese Weise werden im Oktober 1937 innerhalb von drei Tagen zwischen 15.000 - 20.000 Menschen, durch Soldaten grausam ermordet (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 24; Cour 2020). Dieses Ereignis, welches den brutalen Höhepunkt der konfliktreichen Beziehungen zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik darstellt, 130 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="131"?> 196 Der The Haiti Reader versammelt eine Vielzahl von Dokumenten hinsichtlich dieses Ereignisses, darunter literarische Texte, offizielle Schriften und einen Augenzeugenbe‐ richt (vgl. Dubois/ Glover/ Ménard u.-a. 2020). 197 Claire Heureuse hieß auch die Frau von Jean-Jacques Dessalines, die diesen ebenfalls überlebte (vgl. Dayan 2008: 47-48). Mit dieser Referenz zeichnet Alexis eine Verbindung vom 20. Jahrhundert zurück in die Revolutionszeit und stellt damit seinen Protagonisten in die Tradition des Revolutionärs Dessalines. hinterlässt als Kout kouto a (vgl. Cour 2020: 267) tiefe Narben im kollektiven Gedächtnis der Haitianer: innen. 196 - Exkurs — Jacques Stephen Alexis : Compère Général Soleil (1955) 18 Jahre später, im Jahre 1955, erscheint mit Compère Général Soleil die erste eindrückliche literarische Bearbeitung durch Jacques Stephen Alexis (vgl. Da‐ lembert/ Trouillot 2010: 24). Im Gegensatz zu späteren Thematisierungen des Er‐ eignisses, wie z. B. in L’autre face de la mer (1995) von Louis-Philippe Dalembert, welcher verschiedene Erinnerungsschichten und Migrationsepisoden mitein‐ ander verwebt, legt Alexis in seinem Roman seinen analytischen Fokus auf die Lebensbedingungen der (haitianischen) Arbeiter: innen. Armut und Prekarität, politischer Kampf, Streik, Repression und die Migration als einziger Ausweg, all diese möglichen Stationen des proletarischen Lebens versammelt Alexis in seinem Roman. Von der Gefängnisbekanntschaft mit dem Kommunisten Pierre Roumel über die Arbeit auf den Zuckerfeldern der Dominikanischen Republik, den Streik und das Massaker bis hin zum erwachenden ‚Klassenbewusstsein‘ zeichnet Alexis das Leben Hilarion Hilarius nach (vgl. Parisot 2018: 68). Compère Général Soleil bildet diese tragische, im Tod endende Irrfahrt Hilarions ab und kündet doch zugleich, über das Motiv der aufgehenden Sonne, des ‚Général Soleil‘, und das Überleben Hilarions Geliebter Claire Heureuse, 197 von der Hoffnung auf weltliche Erlösung (vgl. Parisot 2018: 68). Diese Hoffnungen auf eine gerechte und befreite (haitianische) Gesellschaft scheinen neun Jahre vor der Veröffentlichung von Compère Général Soleil zum Greifen nahe. Denn im Januar 1946 führt ein studentischer und syndikalistischer Generalstreik, u. a. angeführt von Jacques Stephen Alexis, dem späteren Fotografen Gérald Bloncourt und Réné Depestre, allesamt Mitglieder der literarischen Gruppe la Ruche — zum Ende des diktatorischen, pro-amerikanischen Regimes von Elie Lescot (vgl. Parisot 2018: 76). Im Zuge dieser politischen Umwälzung wird nicht nur erfolgreich ein von den USA gestütztes Regime gestürzt und Pressefreiheit etabliert, es formiert sich auch eine neue haitianische Arbeiter: innenbewegung (vgl. Munro 2012: 25). 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 131 <?page no="132"?> 198 Der französische Begriff loup-garou bezeichnet eigentlich einen Werwolf, da jedoch im haitianischen imaginaire die Figur des lougawou von der europäischen Vorstellung vom Werwolf abweicht, wird hier keine Übersetzung ins Deutsche vorgenommen um so die inhaltliche Differenz abzubilden. Detaillierter findet sich die haitianische Vorstellung vom, häufig weiblichen, lougawou bei Métraux dargestellt (vgl. Métraux 1958: 266 ff.). Doch die Euphorie über die Revolution von 1946 legt sich schnell, denn noch im gleichen Jahr übernimmt eine Militärjunta die Macht, der Noirist Dumarsais Estimé wird zum Präsidenten gewählt und verbietet als einer seiner ersten poli‐ tischen Entscheidungen die kommunistische Partei Haitis (vgl. Munro 2012: 25). In Reaktion auf die steigende staatliche Repression flüchten Bloncourt, Depestre und Alexis nach Paris ins Exil (vgl. Parisot 2018: 76 ff.). Diese Erfahrungen von 1946, das Exil Alexis, Depestres und Bloncourts sowie die Wahl Estimés zum Präsidenten wirkte sich umfassend auf die politischen Verhältnisse, aber auch auf die literarischen Formen der folgenden Jahrzehnte aus. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und den Eindrücken des Exils gewinnt Ende der 50er Jahre mit dem réalisme merveilleux eine weitere bedeu‐ tende literarische Neuerung an Einfluss. Ausgehend vom kubanischen Schrift‐ steller Alejo Carpentier, und aufgegriffen von Jacques Stephen Alexis, welcher dieses Konzept 1956 in Paris bei einem Kongress Schwarzer Künstler: innen und Autor: innen vorstellt (vgl. Raffy-Hideux 2013 : 16), avanciert der réalisme merveilleux zu einer der prominentesten literarischen Strömungen in Haiti. Der réalisme merveilleux unternimmt den Versuch das magische Imaginäre der populären Kultur und einen eher rationalistisch geprägten sozialistischen Blick auf die Realität miteinander zu versöhnen und auf diese Weise eine spezifisch haitianische Form der sociocritique auszubilden (vgl. Raffy-Hideux 2013: 16) und dabei, anders als der noirisme, der die Klassenfrage der Thematisierung von Race unterordnet, die internationalistische Idee nicht aufzugeben (vgl. Parisot 2018: 60). Im Falle von Haiti resultiert aus dieser Adaption populärer Weltbe‐ züge und Ausdrucksformen die Integration des Wunderbaren und Magisch-re‐ ligiösen, u. a. in Gestalt von Göttern und Geistern, zonbis und lougawou  198 (vgl. Raffy-Hideux 2013: 16). Das Alexis dabei seine Konzeption eines réalisme merveilleux vor allem im Sinne eine littérature engagée verstanden wissen will, wird bereits auf den ersten Seiten seines literarischen Manifests deutlich, denn dort heißt es: Ce siècle où s’est entamée l’éradication définitive de l’injustice et de l’exploitation […] où toutes les races […] toutes les patries s’élancent impétueusement à la conquête d’un standard de vie enfin humain, […] où égalité et progrès sont à l’ordre du jour, il est naturel que le contenu fondamental des œuvres d’art tende à atteindre l’ensemble 132 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="133"?> 199 In dem 1959 erschienenen Roman, eigentlich gedacht als Teil einer Trilogie, die jedoch unvollendet blieb, inszeniert Alexis mit dem Mechaniker Rafael, genannt El Gaucho, erneut einen (militanten) Proletarier als Hauptfigur. So steht die Liebesgeschichte zwischen dem Syndikalisten El Gaucho und der Prostituierten Eglantina, bekannt unter dem Namen Nina Estrellita, im Mittelpunkt. Der Roman erzählt die Annäherung zwischen den beiden Charakteren als „exploration sensuelle“ (Parisot 2018: 335), die sich jeweils in alternierenden Abschnitten einem menschlichen Sinn widmen. Von dem des problèmes qui se posent à l’homme de partout. Il y a par conséquent une rencontre inévitable aujourd’hui de l’art de tous les peuples sur le plan contenu esthétique: amour du réel, de la nature et de la vie, amour de la liberté, de la justice et de la vérité, amour de l’homme pardessus tout, en un mot, humanisme nouveau […] Il ne s’agit pas de témoigner seulement pour le réel et d’expliquer, il s’agit de transformer le monde […] L’artiste doit prendre parti, il doit être un combattant (Alexis 1956 : 10 f.). In diesem Ausschnitt aus dem Auftakt zu Alexis‘ 30-seitigen Plädoyer treten einige philosophische Traditionen der haitianischen Literatur deutlich zutage. Das Erbe der Aufklärung, welches in den Schlagwörtern égalité und progrés, liberté, justice, vérité ertönt, harmonisiert sich bei Alexis in einem humanisme nouveau. Diese Hinwendung zu einem neuen (radikalen) Humanismus speist sich zum einen aus dem idealistischen Projekt einer Aufklärung, die die Ver‐ wirklichung der Menschenrechte und die Realisierung von Gleichheit und Freiheit verfolgt und entspringt zum anderen aus der Quelle marxistischer Emanzipationsideen des 20. Jahrhunderts. Die unbestreitbare Präsenz kommu‐ nistischmaterialistischen Gedankenguts wird in dem Satz: „Il ne s’agit pas de témoigner seulement pour le réel et d’expliquer, il s’agit de transformer le monde“ (Alexis 1956: 11), deutlich, welcher eine auffällige Ähnlichkeit zu Karl Marx elften Feuerbachthese — „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern“(Marx [1845] 1990: 7) — aufweist. Alexis konstruiert demzufolge sein literarisches Programm auf dem Fundament zweier vorwiegend europäischer, philosophischer Emanzipations‐ projekte und zugleich im transnationalen Kontext einer afrodiasporischen und afrodeszendenten, literarischen Avantgarde. Sein réalisme merveilleux, den er zunächst vorrangig für Haiti postuliert, verbleibt demzufolge nicht in der rigiden Grenzziehung des karibischen Nationalstaates, sondern betont die Notwendig‐ keit weltumspannender menschlicher Solidarität (vgl. Alexis 1956: 23). Die politische Forderung nach einem radikalen, neuen Humanismus — nach der Belle Amour humaine (Alexis, [1957] 1971), wie in dem Kapitel La belle amour humaine und réalisme merveilleux — Die intertextuelle Präsenz von Jacques Stephen Alexis, ausführlicher behandelt werden wird — greift Alexis u. a. auch mit dem Roman Espace d’un cillement (1959) auf (vgl. Parisot 2018: 144). 199 In dem 3.1 Narrative Vergemeinschaftungen und literarische Traditionen vor 1957 133 <?page no="134"?> Augenblick einer zufälligen Begegnung in den Straßen Port-au-Prince bis hin zu der physischen Annäherung in der Sensation Bar, wo Nina arbeitet, folgt der Roman über die Spur der Sinne den beiden Figuren durch die Zeit der amerikanischen Besatzung. 200 Gary Victor verbindet in seinen Romanen um den Ermittler Dieuswalwe Azémar sub‐ versives Schreiben, das Genre des Kriminalroman und übersinnliche bzw. unerklärbare Begebenheiten und gehört zu einem der meistgelesenen Autor: innen in Haiti. Roman verknüpft Alexis die allgemeine Forderung nach einer radikalen Huma‐ nität mit der spezifischen, dialogischen Interaktion zwischen zwei (liebenden) Figuren und überträgt so ein universales, politisches Konzept auf die konkreten, persönlichen Beziehungen (vgl. Parisot 2018). Ein Verfahren, das sich auch in La belle amour humaine von Lyonel Trouillot (vgl. Jenseits der Individualités monstrueuses - Lyonel Trouillot: La belle amour humaine (2011)) beobachten lässt. In den häufigen Reminiszenzen auf Alexis und sein Werk (z. B. La belle amour humaine (2011) von Lyonel Trouillot, Belle merveille (2017) von James Noël, ebenso wie in den häufigen phantastischen Anteilen gegenwärtiger Erzähltexte (z. B. Kasalé von Kettly Mars ( [2003] 2007), Pays sans chapeau von Dany Laferrière (2013), Les cloches de la brésilienne (2008) von Gary Victor 200 zeigt sich das Fortwirken des réalisme merveilleux (vgl. Ulysse 2017). Dieses Fortwirken lässt sich auch z.T. aus der produktiven und vergemeinschaftenden Verbindung zwischen dem Unsichtbaren, Imaginierten und der materiellen Realität, welche der réalisme merveilleux eingeht, erklären. So zielt der réalisme merveilleux darauf ab, trotz der gesellschaftlichen Spaltungen, eine haitianische Realität abzubilden, in der ein kollektives, mitunter phantastisches imaginaire zu einem vereinigenden Refugium wird, wie Dalembert und Trouillot hervorheben: Le réalisme merveilleux se présente ainsi comme la forme devant rendre sensible „l’ invisible“, capable de vaincre le pouvoir de résistance des signes. […] Ce qu’il faut retenir du discours d’Alexis, c’est le poids de l’imaginaire dans le réalisme, sa capacité à se développer sans s’éloigner de la réalité et à s’ériger comme principe structurante de l’écriture. Le réalisme merveilleux serait ainsi une catégorie esthétique apte […] à embrasser les expériences diverses d’un peuple et à „atteindre […] à l’universel et à la vérité profonde de la vie“ (Dalembert/ Trouillot 64 f.). Trotz dieser Anerkennung, welche Alexis Schaffen weiterhin erfährt, scheint der emphatische Idealismus und die Hoffnung auf einen radikalen, neuen Hu‐ manismus, welcher seine Romane, aber vor allem seine Essays prägte (La belle amour humaine, 1957; Du réalisme merveilleux des Haïtiens), in den literarischen Produktionen der darauffolgenden Jahrzehnte von einer großen Ernüchterung abgelöst zu werden. So kündigt sich mit der Etablierung des Duvalierismus eine neue Ära in der Geschichte Haitis an, die, so formuliert es Peggy Raffy-Hideux, 134 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="135"?> 201 Noirism bezeichnet eine politische Ideologie, die einen Schwarzen Essentialismus vertrat, dabei nahezu ausschließlich auf die afrikanischen Wurzeln Haitis setzte und insbesondere mit der Diktatur Francois Duvaliers verbunden wird (vgl. Dubois/ Glover/ Ménard u.a.2020: 307). 202 Der Name Tonton Macoute bezeichnet eigentlich eines volkstümlichen Kinderschrecks und entstammt der ruralen Kultur. Ebenso die Bekleidung der Tonton Macoute: „C’est la grosse toile bleue avec le col rouge, c’est le vieux costume de paysan haïtien, le costume de Zaka, le dieu de l’agriculture. Duvalier prend ce symbole positif, l’extrait du passé et de l’imaginaire haïtien, et en revêt ses sbires“ (Bona 2004: 6). 203 Dieser wirkt bis heute nach, wie Raffy-Hideux betont: „La notion de communisme devient — même après Duvalier — „un mot valise dans lequel on range tout et rien à la fois. La paysannerie comme l’oligarchie duvaliériste y déplacent de manière opportune, tout ce qui menace leurs intérêts “ (Raffy-Hideux 2013: 234). mit den vorherigen Träumen von Fortschritt, Freiheit und Demokratie bricht, das soziale Gefüge angreift und die haitianische Realität fragmentiert (vgl. Raffy- Hideux 2013: 31). 3.2 Formen des Schreibens und des (Über)Lebens zwischen 1957 und 1986 Im Herbst 1957 kommt der Arzt François Duvalier an die Macht, nur sieben Jahre später wird er zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt. Duvalier, genannt Papa Doc, Adept eines noirisme,  201 sichert seine Macht durch die paramilitärische Organisation der Volontaires de la Securité nationale (VSN), die unter dem populären Namen Tonton Macoute  202 Schrecken unter der Bevölkerung und den oppositionellen Kräften verbreiten, vernichtet seine Gegner physisch und politisch und errichtet eine Gewaltherrschaft, die viele Haitianer: innen ins Exil zwingt. Die Erfahrung von Terror, Gewalt und Exil ist auch von großer Konsequenz für das Schaffen vieler haitianischer Literat: innen und Intellek‐ tueller. Während marxistisch, internationalistisch inspirierte literarische und politische Strömungen sich in den vorangegangenen Jahren produktiv auf das intellektuelle Klima Haitis ausgewirkt hatten, verebbt dieser Zulauf unter Duvalier sukzessive. Trotz der oberflächlich betrachtet geringen Differenz zwi‐ schen der noiristischen Rhetorik und dem Eintreten der sozialistisch geprägten Schriftsteller: innen für die Befreiung der bäuerlichen Klasse entwickelt sich der Kommunismus zum Feindbild der Duvalier-Diktatur (vgl. Raffy-Hideux 2013: 234). Diese Entwicklung trägt in weiten Teilen der Bevölkerung zum Bruch mit den sozialistischen Konzepten und Idealen herbei 203 und bringt so eine Ge‐ neration von engagierten Literar: innen in Bedrängnis (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 25 f.). Neben des repressiven politischen Klimas ist in den Jahren zwischen 3.2 Formen des Schreibens und des (Über)Lebens zwischen 1957 und 1986 135 <?page no="136"?> 204 Pollmeier verweist u. a. auf die Veruntreuung öffentlicher Gelder von der Höhe mehrerer Millionen US- Dollar durch Duvalier und seine Funktionäre (vgl. Pollmeier 2020a: 32). 205 Es wird vermutet, dass Jacques Stephen Alexis und seine Genossen Charles Adrien-Ge‐ orges, Guy Béliard, Hubert Dupuis-Nouillé und Max Monroe 1961 von Kuba nach Haiti mit einer Mission zurückkehren. Bekannt ist hingegen, dass dieses klandestine Unternehmen scheitert, die fünf Männer festgenommen und umgebracht werden, auch wenn Alexis’ Leichnam bis heute nicht gefunden wurde (vgl. Chemla 2002). 1957 und 1986 auch ein erheblicher Niedergang der Wirtschaft 204 bzw. eine wachsende politische und ökonomische Abhängigkeit des Staates und daran angeschlossen eine eklatante Verschlechterung der Lebensbedingungen zu be‐ obachten (vgl. Pollmeier 2020a: 31). Ungeachtet der zahlreichen Student: innen, Bauern und Oppositionellen, die in der Diktaturphase verfolgt, eingesperrt, gefoltert und getötet wurden, wird Francois Duvalier „in der Hochphase des Kalten Krieges und des Anti-Kommunismus“ durch die USA „vorbehaltlos unterstützt“ (vgl. Pollmeier 2020a: 31). Auch Jacques Stephen Alexis fällt — ebenso wie auch der Poet Raymond Jean-Francois — der Diktatur zum Opfer (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 27). 205 Viele engagierte, kritische Intellektuelle der damaligen Zeit versuchen diesem Schicksal zu entkommen und migrieren in die USA, nach Kanada oder Frankreich. Zu jenen Literat: innen, die ab den Sechzigerjahren außerhalb Haitis leben und schreiben, gehören u. a. René Depestre und Emile Ollivier, deren politisches Engagement nach dem Tod Alexis zunehmend riskanter wird, ebenso wie Marie Vieux-Chauvet, George Castera, Anthony Phelps und Dany Laferrière: Il s’agissait pour tous d’exil politique. […] de nombreux écrivains seront amenés à s’installer à l’étranger pour des raisons personnelles, familiales, économiques […] ils vont tous contribuer à enrichir […] la littérature haïtienne et à la faire connaître à l’étranger. Les critiques s’empresseront de les nommer „les écrivains du dehors“. Jamais, dans son histoire, le pays n’avait connu une fuite aussi massive de cerveaux […] d’un autre côté, il a fallu du temps pour que les écrivains […] restés au pays (Frankétienne, Jean-Claude Fignolé) produisent une œuvre, ou pour que d’autres reviennent (Philoctète, Cavé, Castera, Lyonel et Evelyne Trouillot […] Yanick Lahens…)[…] C’est peut-être ce qui a donné l’impression d’une littérature scindée en deux, l’une au dehors, l’autre au-dedans (Dalembert/ Trouillot: 75 f.). Die Trennung zwischen dehors und dédans, die sich in dieser Zeit etabliert, beschreiben Louis-Philippe Dalembert und Lyonel Trouillot vorrangig als eine von der Kritik geschaffene Unterscheidung. Festzuhalten bleibt jedoch, dass 136 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="137"?> 206 Mit ‚Papa Doc‘ ist Francois Duvalier gemeint, der Arzt war und von 1957-1971 Haiti diktatorisch regierte, sein Nachfolger und Sohn Jean-Claude wurde mit dem Beinamen ‚Baby Doc‘ bedacht. 207 Schriftsteller: innen wie Emile Ollivier oder Edwidge Danticat, die außerhalb Haitis leben und schreiben, verhandeln in ihren Texten diese condition migratoire/ exilée über die inhaltliche Ebene hinaus und leisten auf diese Weise, so Raffy-Hideux, einen Betrag zu einer Globalisierung und Denationalisierung der haitianischen Literatur bei: „Pour les romanciers du dehors, il s’agit de transférer hors de l’ile une parole nationale ou d’opèrer un traitement de l’ailleurs. […] le déracinement permet de ‘dessiner le passage d’une expérience culturelle aux théories littéraires contemporaines, et d’expliquer l’effacement du concept de littérature nationale’“ (Raffy-Hideux 2013 : 55 f.). 208 Zu diesen Bewegungen gehören Samba, Haïti Littéraire, Hounguénikon, Merdisme, Spiralisme, Pluréalisme, Cénacle de la Révue des Ecoliers, Mulatrisme culturel und Surplu‐ réalisme (vgl. Ferdinand 2004: 201 f.). Da die meisten dieser literarischen Gruppierungen und Strömungen nur von relativ kurzlebiger Dauer sind, werde ich nur auf den spiralisme sowie Haïti littéraire näher eingehen, die beide einen größeren Einfluss auf die haitianische Literatur hatten. Wer einen detaillierteren Eindruck von der Literaturproduktion zur Zeit Duvalier bekommen will, findet in Joseph. J. Ferdinands Aufsatz Doctrines littéraires et climats politiques sous les Duvalier (Ferdinand 2004) eine gute Zusammenfassung. mit der Regentschaft von Papa Doc‘ und ‚Baby Doc‘  206 das Exil zu einer wiederholten Erfahrung haitianischer Schriftsteller: innen wird und dass diese migratorischen Erfahrungen, wie Trouillot und Dalembert betonen, zu einer erhöhten Zirkulation haitianischer Texte außerhalb Haitis führen. Mit einigen Vorbehalten lässt sich an dieser Stelle von einer erneuten Internationalisierung der haitianischen Literatur sprechen, die sowohl in den Texten als auch in literaturwissenschaftlichen Instituten, Verlagshäusern, Festivals und den regen, literarischen Szenen Montréals, Miamis, Paris und New Yorks, Ausdruck hai‐ tianischer Communities, sichtbar wird. Martin Munro spricht hier von einer ‚neuen, kulturellen Explosion in der haitianischen Literatur‘, welche bereits mit dem Exil Depestres und Alexis ausgelöst wurde und sich durch die nach‐ folgende Generation von Autor: innen fortsetzt (vgl. Munro 2012: 26). 207 Zu den Autor: innen, die angesichts der politischen Situation dauerhaft das Land verlassen gehören u. a. Jean Métellus (Frankreich); Emile Ollivier, Anthony Phelps, Dany Laferrière, Gérard Etienne (Kanada) und Marie Vieux-Chauvet (USA). Während in verschiedenen Teilen der Welt weiter an haitianischen Literaturen geschrieben wird, entstehen parallel dazu auch in Haiti neue literarische Bewegungen. 208 Trotz der Abwanderung vieler Intellektuellen, Literat: innen und Künstler: innen verkommt Haiti in der Zeit zwischen 1957 und 1986, wie Dalembert und Trouillot betonen, keineswegs zu einer ‚kulturelle[n] oder 3.2 Formen des Schreibens und des (Über)Lebens zwischen 1957 und 1986 137 <?page no="138"?> 209 Obskurität, Chaos und Spirale stellen für Frankétienne grundlegende, universelle Prinzipen des menschlichen Lebens dar, wie er in einem Interview mit Dénètem Touam Bona zum Ausdruck bringt : „La spirale c’est l’esthétique du chaos, de l‘imprévisible, de l’inattendu, de la diversité […] au niveau de la littérature on en reste toujours à l’intrigue, à la narration, au portrait psychologique. Comment peut-on continuer à mettre en scène des personnages, des états d’âme, des vies anecdotiques, des coucheries mesquines…. Ce n’est pas ça la vie : la vie est chaotique, labyrinthique. Le soleil n’existe pas : la lumière, c’est une quête. Il fait nuit, même en plein midi, même en plein jour ! Parce que la nuit et les ténèbres constituent la texture même de la vie ! […] Nous portons la nuit en nous, avec tout ce que cela comporte de ténèbres et de douleurs, mais aussi d’aspiration à retrouver ne serait-ce qu’une lueur, ne serait-ce qu’une petite étincelle de lumière […] Voici donc une structure universelle, une figure prèsente dans tous les phénomènes fondamentaux de la vie et de la matière“ (Bona 2004 : 2). literarische[n] Wüste‘ (Dalembert/ Trouillot 2010: 76), vielmehr ist eine hohe Varianz im literarischen Schaffen zu beobachten (vgl. Ferdinand 2004: 202). Angesichts dieser Varianz und Fluktuation literarischer Gruppierungen und Strömungen erweist sich aus heutiger Sicht der spiralisme als langlebigste von ihnen. Mit dem spiralisme ‚erschaffen‘ Frankétienne, René Philoctète und Jean-Claude Fignolé angesichts eines repressiven Systems eine neue literarische Form: Ceux restés à l’intérieur du pays comme Frankétienne, Jean-Claude Fignolé, ou revenus comme René Philoctète, affrontent la dictature […] et apprenent à ‘se parler par signes’. Le spiralisme qu’ils inventent est une urgence esthétique pour ne pas mourir yeux crevés, langue coupée. La poésie et les romans de Frankétienne, la poésie de Philoctète, les romans de Fignolé explorent cette lettre aux prises avec la spirale du silence forcé (Lahens 2019 : 62). Diese urgence ésthétique trägt den lebensgefährdenden und zensorischen Schreibbedingungen in der Diktatur Rechnung, indem sie sich einer unhalt‐ baren Realität, den Verboten und dem Unsagbaren, über Umwege nähert (vgl. Raffy-Hideux 2013: 55). Der spiralisme kreist, als beinah schon symptoma‐ tisch-pathologisches Schreiben, um den kollektiven Abgrund des nicht sag-, nicht darstellbaren ohne zu einem Ende zu kommen, ohne einer klaren, direkten Linie zu folgen (vgl. Raffy-Hideux 2013: 55 f.) und verwirft dabei feste identitäre Ordnungen (vgl. Ueckmann 2014.). Wie Natascha Ueckmann schreibt, wider‐ setzt sich der spiralisme damit auch eindeutig dem Programm des indigénisme (vgl. Ueckmann 2014: 331 f.). Stattdessen privilegiert der spiralisme anstelle von festen Zuordnungen und Zuschreibungen „Prozesse des Fragens, Zweifelns und Suchens“ (vgl. Ueckmann 2014: 332) und stellt Obskurität ins Zentrum (vgl. Bona 2004: 2). 209 In den spezifischen, teilweise hermetischen Schreibverfahren, auf die wir bei den Vertretern des spiralisme stoßen, ist eine Reaktion auf die zu‐ 138 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="139"?> 210 So ist Claire Clamont, die Ich-Erzählerin und Tagebuchschreiberin von Amour, als ‚dunkelste‘ dreier Schwestern von der Gleichzeitigkeit der Sehnsucht zu ihrem weißen Schwager Jean Luze und dem plötzlich aufbrechenden Verlangen nach dem Schwarzen Duvalierfunktionär Calédu (vgl. Parisot 2018: 95 f.) getrieben. Auf diese Weise sind die rassistische Gesellschaftsordnung, bei Amour ebenso wie in Colère, in die sexuellen Begierden eingeschrieben. In zweiten Teil, Colère, gibt sich die junge Rose den sexuellen Gewaltphantasien eines Duvaliersympathisanten hin, um durch ihr Opfer den Besitz ihrer Familie zu retten und deren gesellschaftlichen Abstieg zu verhindern. Während die ersten beiden Teile weibliche Figuren und Erzähler: innen ins Zentrum rücken, verhandelt der letzte Teil Folie den Wahnsinn und das Dilemma unter einem brutalen und autoritären Regime zu leben und zu schreiben (vgl. Parisot 2018: 192). nehmende Repression des literarischen Ausdrucks unter Duvalier zu erkennen. So gehören Frankétiennes emblematische Spirale Dezafi (1975) —erster Roman in haitianischen kreyòl (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 76) — und seine franzö‐ sische Übertragung Les affres d’un défi (1979), welche über die Parabel einer Bevölkerung zonbifiée die Grenzen des Widerstandes ausloten, zu den wenigen narrativen Texten, die sich bereits während der Herrschaft der Duvaliers explizit mit der Diktatur auseinandersetzen (vgl. Balutansky/ Sourieau 2004: 21). Ein weiterer französischsprachiger Roman, auf den diese Beschreibung zutrifft, ist Marie Vieux-Chauvets Triologie Amour, Colère et Folie ([1968] 2014) (vgl. Balutansky/ Sourieau 2004: 21). In diesem vielgerühmten Werk seziert Chauvet Haitis Bourgeoisie unter dem Eindruck des Duvalier- Regimes. Dabei wendet sie sich in Amour und Colère verstärkt den familiären und amourösen Beziehungen entlang der Achsen von Race, Class und Gender zu. Die Duvalier- Dikatur, welche die sozialen Ausgrenzungspraktiken der afro-eurodeszendenten Bour‐ geoisie ebenso destabilisiert, wie sie deren über Generationen akkumuliertes Kapital angreift, beschleunigt den Verfall menschlicher Beziehungen, aber bleibt zugleich doch nicht der alleinige Ursprung von Gewalt. Repressive, eindeutig patriarchale Gesellschaftsverhältnisse bestehen bei Chauvet lange vor dem Aufstieg der Tonton Macoute. Trotz ihrer offensichtlichen Rivalität ist dem bürgerlichen Establishment und der „révolution duvaliériste“ gemein, dass beide den Kampf um Macht und Besitz auf dem weiblichen Körper austragen (vgl. Pa‐ risot 2018: 94). 210 Marie Vieux-Chauvets Triologie kommt einer psychologischen Studie der bürgerlichen Gesellschaft unter Duvalier gleich, die Dany Lafèrriere anerkennend als laboratoire beschreibt: Elle a installé son laboratoire pour étudier les arcanes de la dictature Papa Doc. Ses méthodes sont simples et nouvelles : aucun tabou, plus de frontière entre le privé et le public, et une violence de langage d’une folle puissance […] Chauvet trouve là son terrain d’étude : la violence. Violence du pouvoir, violence des hommes sur les femmes, violence d’une bourgeoisie pas moins répugnante que la clique des nouveaux 3.2 Formen des Schreibens und des (Über)Lebens zwischen 1957 und 1986 139 <?page no="140"?> maitres, et même violence des démunis sur les plus démunis. Étude clinique (Laferrière 2017: 171). Diese analytische Schonungslosigkeit, mit welcher Marie Vieux-Chauvet auf die Machtgefüge der haitianischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert blickt, bringt ihr die Anerkennung Simone de Beauvoirs ein, zwingt sie zur Flucht vor der ‚Rache‘ des Regimes nach New York und weckt weder bei den politischen Mächten noch bei Chauvets eigener bürgerlichen Klasse Sympathien (vgl. Parisot 2018: 193). In der Folge gerät die Trilogie nur wenige Monate nach ihrem Erscheinen bis zu ihrer Neuauflage im Jahre 2005 in Vergessenheit (vgl. Parisot 2018: 193). Trotz dieser fast 30-jährigen ‘Unsichtbarkeit’ (Parisot 2018: 193) gehört Amour, Colère et Folie heute mit zu den Klassikern haitianischer Literatur und markiert insbesondere für das weibliche literarische Schaffen in Haiti einen wichtigen Wendepunkt. Mit der Aufhebung der Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum erforscht Chauvet neue Möglichkeiten der literarischen ‚Analyse‘, wie sie heute u. a. auch in den Romanen Kettly Mars zu finden sind. So stellt Mars in ihrem Roman Saisons sauvages (2010) die Dominanzpraktiken der Duvalier-Diktatur und die Achsen der Macht in der haitianischen Gesell‐ schaft anhand der (politisch motivierten) sexuellen Beziehung zwischen der Dissidentinnengattin Nirvah und dem Regimefunktionär Raoul dar. Ähnlich wie Chauvet schreibt auch Mars dabei über sexuelle Tabus sowie moralische und gesellschaftliche Grenzziehungen hinweg, und schafft es auf diese Weise insbesondere weiblichen Lebensrealitäten nahezukommen. Neben dem spiralisme ist die Gruppe Haïti Littéraire, mit welcher Chauvet in einem engen Austausch stand, für die Duvalier-Jahre prägend. Bestehend aus Anthony Phelps, Davertige (Villard Denis), Serge Legagneur, Roland Morisseau, René Philoctète und Auguste Thénor entwickelt sich Haïti Littéraire 1961 aus der Association Samba (vgl. Chemla 2015: 26). Sie begründen die Revue Semences, publizieren mit hoher Produktivität Gedichte, halten das literarisch-kulturelle Leben zwischen verschiedenen Generationen aufrecht und distanzieren sich vom indigénisme und der négritude, während sie für eine Öffnung zur Welt und für den Surrealismus eintreten (vgl. Chemla 2015: 27). Dabei bleibt ihr Wirken nicht nur auf den literarischen Raum beschränkt, denn auch bildende Künstler: innen wie Davertige nehmen an den kulturellen Veranstaltungen teil und Anthony Phelps begründet 1961 das Radio Station Radio Cacique mit, deren Sendungen ebenfalls zu einem wichtigen Freiraum in dem repressiven Klima der Duvalierjahre werden ( vgl. Chemla 2015: 27). Die wichtige kulturelle, politische 140 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="141"?> 211 Hierin ließen sich auch, wie Prof. Dr. Gisela Febel anmerkte, Überlegungen zur Solida‐ rität zwischen Schrifsteller: innen sowie auch der vergemeinschaftenden Wirkung von Haïti littéraire einschließlich Station Radio Cacique anschließen. Eine Dimension, die in den in dieser Studie verhandelten Romanen kurz in dem Verweis auf verschiedene literarische Revuen in Passages anklingt (vgl. Grenzen des Kosmopolitismus’), die jedoch in dieser Studie darüberhinaus nicht weiter vertieft wird. und soziale Rolle, 211 die Haïti littéraire damit einnahm, resümmiert Anthony Phelps im Rückblick folgendermaßen: Malgré les répressions, malgré le climat de peur, la création, surtout dans les domaines de la poésie et de la peinture, la création était en pleine effervescence comme si inconsciemment, nous sentions le besoin de contrer l’invasion de l’obscurantisme de l’État, par des manifestations culturelles, le besoin de lancer un dernier cri créateur, contre la terreur qui s’installait et qui devait nous disperser vers d’autres cieux. […] Les rencontres entre créateurs et intellectuels non-gouvernementaux se multipliaient […] Et puis l’inévitable est tombé parmi nous […] Et ce furent les arrestations, les disparitions, l’exil (Phelps 2006). Wie die Aussage Phelps verdeutlicht, blieb das literarische Schaffen jedoch zu keiner Zeit unbehelligt von den Zugriffen der Diktatur. Exil und Flucht, herme‐ tische Schreibweisen und die Abwendung von explizit politischen Texten er‐ weisen sich in dieser Zeit als unterschiedliche Überlebens- und Anpassungsstra‐ tegien. Diese verschiedenen Umgangsweisen mit der Duvalier-Diktatur bringen in der Zeit zwischen 1957 und 1986 weiterhin militante Texte hervor, vergemein‐ schaftende Erzählungen und Narrative des Zusammenlebens scheinen jedoch darin an Strahlkraft verloren zu haben. Fast 30 Jahre des „se parler par signes“ (Lahens 2019: 62) und der Flucht scheinen 1986 ihrem Ende entgegenzugehen. Im Februar 1986 führen die seit 1985 fortdauernden Protesten der Bevölkerung zur Flucht Jean-Claude Duvalier ins französische Exil und zum Fall des dikta‐ torischen Regimes. Es kündigt sich ein neuer Abschnitt in der haitianischen Geschichte an. 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 1986 bricht mit der Flucht Jean-Claude Duvaliers ins Exil ein neuer Abschnitt in der haitianischen Geschichte an. Die neue Phase wird von haitianischen Intellektuellen, wie der Historikerin Suzy Castor und dem Soziologen Laënnec 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 141 <?page no="142"?> 212 So schreibt Daniel van Eeuwen: „La transition est une période intermédiaire, un intervalle durant lequel se produit un changement de régime politique […] L’intervalle, au sens strict, est caractérisé par une évolution vers l’ouverture d’espaces politiques et la reconnaissance du principe de citoyenneté“ (van Eeuwen 1996: 17). 213 Ménil setzt sich kritisch mit dem Konzept der Transition auseinander: „Il n’est pas sûr qu’elle ne repose sur un certain nombre de présupposés implicites, dont le premier serait précisément une précompréhension de la démocratie, univoquement déterminée selon les normes et les formes des démocraties occidentales […] Seraitce que des pays de ‘transition’ ou en ‘transition démocratique’ en serait encore à l’enfance de la démocratie“ (Ménil 1996: 359). Hurbon, unter dem Begriff der Transition bzw. der période de transition gefasst (vgl. Maurer 2020c; vgl. Hurbon 2001b). Entgegen eines engen Transitionsbe‐ griffes, welcher den unmittelbaren Zeitraum nach Ende der Diktatur im Hinblick auf die konkreten, konstitutionellen Schritte beschreibt, verwende ich im An‐ schluss an Suzy Castor einen weiten Transitionsbegriff, welcher davon ausgeht, dass die transition démocratique in Haiti weiterhin andauert. Castor vertritt, wie Hurbon, den Standpunkt, dass das Ziel der demokratischen Transformation und Transition in Haiti bisher nicht erreicht werden konnte: Seit 1986 bis heute suchen wie einen Weg, diese Ziele zu erreichen. Nämlich ein Land zu sein, dessen Institutionen gut funktionieren, in dem jede Frau und jeder Mann eine Bürgerin und ein Bürger ist, mit allen Rechten und Pflichten, die damit verbunden sind. Und ein souveränes Land zu sein (Maurer 2020b: 50). In diesem Auszug aus einem Gespräch zwischen Katja Maurer und Suzy Castor wird deutlich, dass 1986 den Eintritt in eine neue Ära markiert, in welcher Fragen der citoyenneté,  212 des Verhältnisses zwischen Bürger: innen und Staat, aber auch des Zusammenlebens in den Vordergrund treten. Daneben birgt die, dem Begriff der demokratischen Transition zugrundeliegende, Vor‐ stellung linear verlaufender Zeitlichkeit und das implizierte Telos, das Risiko abermals eurozentrische Weltsichten zu reproduzieren, in dem westlich-euro‐ päische politische Systeme zum Maßstab des ‚Fortschritts‘ erhoben werden (vgl. Hurbon/ Lumarque 1996: 9; Ménil 1996: 359). 213 Somit erweist sich der Transitionsbegriff keineswegs als unproblematisch, wie Hurbon und Lumarque anmerken (vgl. Hurbon/ Lumarque 1996: 9). Trotz der berechtigten und notwen‐ digen Kritik (vgl. Ménil 1996) werde ich von der Zeit ab 1986 als période de tran‐ sition sprechen. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht darum einen bestimmten Idealtypus politischer Verfasstheit als Parameter gelungenen Zusammenlebens zu propagieren, noch den Faden von der angeblichen Demokratieunfähigkeit 142 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="143"?> 214 An dieser Stelle scheint es mir wichtig klarzustellen, dass als demokratisch begriffene Strukturen nicht zwangsläufig mit den liberalen, kapitalistischen Demokratien des Globalen Nordens gleichbedeutend sein müssen. Tatsächlich ist zu fragen, inwiefern kapitalistische Gesellschaftssysteme überhaupt in der Lage sind (radikal-)demokrati‐ sche Prinzipien zu verwirklichen (vgl. Ménil 1996). 215 Unter dem Eindruck der ignoranten Unbeweglichkeit der politischen Eliten trotz der massiven Proteste großer Teile der Bevölkerung, die seit 2018 den Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse und grundlegende Reformen fordern, spricht Castor von einem gesellschaftlichen Tiefpunkt, der das Ergebnis einer „Vielzahl ungelöster Krisen“ (Maurer 2020b: 50) und komplexer Entwicklungen sei, die z.T. ihren Ursprung in den Jahren nach 1986 haben. Haitis und dem ‚gescheiterten Staat‘ weiterzuspinnen. 214 Vielmehr gilt es zum einen abzubilden, dass 1986 eine deutliche Zäsur darstellt — aber keineswegs ein endgültiger Bruch bedeutet, was sich u. a. daran zeigt, dass im Hinblick auf die derzeitige amtierende Partei PHTK wiederholt das Wort macoutisme fällt (vgl. Bonnet/ Trouillot 2021) — und zum anderen die unzähligen haitianischen Stimmen ernst zu nehmen, die ab 1986 politische, soziale, ökonomische und kulturelle Veränderungen in Richtung eines gerechteren, freieren und besseren Zusammenlebens fordern und dafür eintreten. 3.3.1 Déchoukaj und die Verfassung von 1987 Das Ende der Duvalier-Diktatur 1986, als eine Art ‚Nullpunkt‘ (Hurbon 2001b: 130), und der Beginn einer neuen Protestbewegung 2018 215 markieren einen Zeitraum, in dem Grundlagen der politischen Verfasstheit sowie Fragen der Vergemeinschaftung und des Zusammenlebens intensiv verhandelt werden. Hier ist insbesondere im theoretischen Diskurs eine Wiederkehr von politischen Konzepten der Aufklärung wie z. B. des contrat social und der volonté générale (vgl. Hurbon 2001b: 115) oder der citoyenneté (vgl. Bona 2004: 6) zu beobachten. Denn mit dem Ende der Diktatur besteht nicht nur die Notwendigkeit einer neuen Verfassung, sondern auch eine Dringlichkeit einer „reconstruction du lien social“ (Hurbon 2001b: 130) und daran geknüpft nach neuen Entwürfen von Vergemeinschaftung, wie Yanick Lahens schreibt: Cet espoir à faire pleurer de rage s’est amenuisé et la dictature duvaliériste teintée de noirisme à mis en lumière que toute rêve étroit de communauté, de langue, d’ethnie ou de classe mène à un chemin de sang. Ces générations se retrouvent en plein cœur d’un nouvel orage, taraudées par ces mêmes rêves d’habiter en faisant communauté, mais désormais averties (Lahens 2019: 64 f.). 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 143 <?page no="144"?> 216 Mit der Diskussion um eine littérature-monde en français erfolgte eine Infragestellung und Kritik an dem Konzept der francophonie und seinem nationalstaatlichen Fokus (vgl. Le Monde 2007). Der gleichnamige Essayband versammelt eine Vielzahl namhafter Autor: innen, darunter auch Lyonel Trouillot und Dany Laferrière (vgl. Almassy/ Le Bris: 2007). Die Verwendung dieses Schlüsselwortes soll in diesem Kontext die globale Bedeutsamkeit haitianischer Texte herausstellen ohne diese auf einen französischen und frankophonen Gehalt zu reduzieren. 217 Hurbon weist darauf hin, dass die Verfassung von 1987 zusammen mit der Wahl Aristides 1990 zum ersten Mal in der Geschichte Haitis der Bevölkerungsmehrheit Zugang zur citoyenneté garantieren (vgl. Hurbon 2001b: 193). So sind vorherige Ideologien mit ihrem Scheitern konfrontiert und die Grund‐ lagen kollektiver Identitäten brüchig geworden. Globale Transnationalisie‐ rungs- und Migrationsprozesse tragen dazu bei, dass die drängenden gesell‐ schaftlichen Fragen Haitis in starkem Maße auch außerhalb der nationalen Grenzen in Montreal, Paris oder New York verhandelt, literarisiert und theore‐ tisiert werden, damit rücken haitianische Schriftsteller und ihre Texte stärker in den Kontext einer littérature-monde (Almassy/ Le Bris2007). 216 Zugleich ist die Literatur nach fast 30 Jahren Exil und Zensur mit der Schwierigkeit konfrontiert, ihre Rolle neu bestimmen zu müssen. Für diese Vielzahl an Aushandlungs- und Reflexionsprozessen sowie gesellschaftlichen Dekonstruktions- und Konstruk‐ tionsvorgänge in den Jahren ab 1986 — aber auch über 2019 hinaus — stellt die Literatur ein wichtiges Medium dar (vgl. Bona 2004: 1). Schauen wir zunächst auf das Jahr 1986, wo Jean-Claude Duvalier am siebten Februar das Land verlässt und ein provisorischer Conseil national du gouvernement die Macht übernimmt. Der Rücktritt Duvaliers steht am Ende eines seit 1983 von der Bevölkerung gegen die Regierung geführten Kampfes (vgl. Hurbon 2001b: 148). So schließen sich in den Städten und auf dem Land Menschen unter dem Begriff déchoukaj (déracinement) mit dem Ziel, die macoutes zu entmachten und die Diktatur zum Rücktritt zu zwingen, zusammen (vgl. Hurbon 2001b: 199). Die ersten Monate nach Ende der Duvalier-Ära sind von konkreten politi‐ schen Schritten geprägt, welche zum Ziel haben ein demokratisches, politisches System in dem Karibikstaat aufzubauen. Jene Zeit kann als demokratische Transition im engeren Sinne verstanden werden. Zu diesen Schritten gehören die Entmachtung und juristische Verfolgung der macoutes, die Inkraftsetzung einer neuen Verfassung als auch die Durchführung demokratischer Wahlen (vgl. Hurbon 2001b). Das Festschreiben einer neuen Verfassung markiert auf beson‐ ders deutliche Weise die Vorstellung eines Neubeginns und bedeutet die Erneue‐ rung des Gesellschaftsvertrags. Am 29. März 1987 wird als wichtiger Schritt in diesem politischen Prozess eine neue Verfassung auf den Weg gebracht, welche grundlegende Bürger: innenrechte festschreibt, 217 die politische Marginalisie‐ 144 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="145"?> 218 Eines der größten ereignet sich 1987 in Jean-Rabel im Nordosten des Landes, wo zwischen 200 und 300 Bauern ermordet werden (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 1 60; Tet kole 2020: 429). rung der Bauern beendet, kreyòl als Amtssprache anerkennt sowie die Macht des Präsidenten beschränkt und Armee und Polizei voneinander trennt (vgl. Hurbon 2001b: 78). Des Weiteren führt die Verfassung auch die ‚Deduvalierisierung‘ weiter, indem sie unabhängige Wahlen festschreibt und ehemalige, bekannte Tonton Macoutes bzw. Unterstützer: innen des Duvalier-Regimes von jeglicher Beteiligung am Wahlprozess ausschließt (vgl. Hurbon 2001b: 78). Trotz dieser wichtigen Maßnahmen und dem formalen Ende der Diktatur bleibt die politische Macht im Staat weiterhin hart umkämpft. Hinzukommt, dass sich der Terror des macoutisme in die sozialen Praktiken eingeschrieben hat, denn immerhin ge‐ hörte zwischen den 1960er- und 1970er-Jahren um ein Fünftel der Bevölkerung zu den VSN (vgl. Raffy-Hideux 2013: 90). Vor diesem Hintergrund häufen sich die Auseinandersetzungen zwischen ehemaligen macoutes, der Landbevölkerung, dem Militär und anderen Akteuren und haben mehrere, vorrangig an der länd‐ lichen Zivilbevölkerung verübte, Massaker zur Folge. 218 Auch die Durchführung der ersten allgemeinen Wahlen 1987 wird nach Angriffen auf ein Wahlbüro, bei dem mehrere hunderte Menschen sterben, annulliert (vgl. Hurbon 2001b: 265). Parallel zu diesem gewaltsamen Ringen um politischen Einfluss nimmt mit der dechoukay auch die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit sehr physische und gewaltvolle Formen an, die Hurbon im Hinblick auf ein zukünftiges Zusammenleben als problematisch betrachtet: Le spectacle de ce qu’on a appelé les „dechoukages“ (déracinements) présuppose une interprétation sorcellaire des crimes et du mal en général, qui conduit à la recherche d’une justice expéditive, d’une vengeance à chaud et cathartique et finalement à l’illusion d’en finir une fois pour toutes avec le crime en détruisant par le feu le corps du supposé ou déclaré criminel, comme si donc le mal n’était qu’une force extérieure qui utilise le corps d’un individu comme support pour opérer ses ravages dans la société[…] Comment un vivreensemble est-il possible ? Ou enfin comment le pays peut-il devenir habitable ? (Hurbon 2001b: 68). Der Bruch mit dem vorherigen System und seinen Funktionären, das macht der Begriff déchoukaj unweigerlich klar, soll radikal vollzogen werden. Die Konsequenz, mit der die Diktatur über die Körper ihrer Repräsentant: innen ausgelöscht werden soll, zeigt sich in der Verfolgung und der öffentlichen Hinrichtungen ehemaliger Tonton Macoutes. Die déchoukaj kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Jahre der Duvaliers in den politischen Struk‐ turen und in der wirtschaftlichen Situation des Landes, welches nach der 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 145 <?page no="146"?> 219 In ihrem Roman The Dew Breaker (2004) wendet sich die amerikanisch-haitianische Schriftstellerin Edwidge Danticat diesen individuellen und kollektiven Narben in der Post-Diktaturphase zu. Im Zentrum des Romans steht ein ehemaliger macoute, welcher 1986 vor der déchoukaj in die USA flüchtete, wo er mittlerweile ein ruhiges Familienleben führt. Um diese zentrale Figur herum siedelt Danticat Geschichten auf verschiedenen Zeitebenen an, welche von der déchoukaj in den Straßen Port-au-Princes, den Opponenten des Duvaliersregimes und ihrem Verschwinden im Fort-Dimanche wie auch von der Tochter des Exilierten berichten, welche eines Tages feststellen muss, dass ihr Vater auf der Seite der Täter agierte und nicht, wie zuvor angenommen, Opfer war. Die Nachwirkungen und Narben der Vergangenheit sind nicht nur sichtbar in die Körper eingeprägt, sondern durchkreuzen die Beziehungsweisen und Erinnerungs‐ strukturen. In The Dewbreaker spiralisiert Edwidge Danticat, so schreibt Yolaine Parisot, das literarische Gedächtnis, um das Zeugnis des Unaussprechlichen zu fiktionalisieren (vgl. Parisot 2019: 248). 220 Ich danke Prof. Dr. Anne Brüske für den Hinweis auf die engen Bezüge zwischen Danticats The Dew Breaker, Roumains Gouverneurs de la Rosée und Pays sans chapeau von Dany Laferrière. Plünderung der Staatskassen durch das Regime Duvaliers hochverschuldet ist (vgl. Pollmeier 2020a: 32), weiterhin fortwirken (vgl. Hurbon 2001b: 70). Auch in den Psychen Einzelner und in dem kollektiven Bewusstsein hat sich die Diktatur als schmerzhafte Spur eingeschrieben. The Dewbreaker (2004), Roman der amerikanisch-haitianischen Schriftstellerin Edwidge Danticat und über den Titel eindeutige Referenz an Gouverneurs de la Rosée kann als Paradebeispiel für diese literarische Auseinandersetzung gelten. 219 Anders als Roumains mes‐ sianischer Held Manuel, der in Gouverneurs de la Rosée, auf den Danticat mit dem Titel ihres Romans eindeutig verweist, 220 das Gemeinwesen wiederherstellt, spaltet Danticats zentrale Figur der Dew breaker das Zusammenleben auf. Personifiziert in dem ehemaligen macoute vollzieht Danticat in ihrem Roman nach, wie ein politisches Gewaltsystem soziale Zusammenhänge zersetzt sowie physische und psychische Existenzen fragmentiert. Danticats The Dewbreaker liefert damit, wie viele Schriftsteller: innen ihrer Generation, einen Beitrag zur literarischen Aufarbeitung der Diktatur angesichts einer sich verschärfenden Spannung zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern (vgl. Raffy-Hi‐ deux 2013 : 92). 3.3.2 Die Amtszeit(en) Aristides 1991-2004 Der starke Wunsch nach einem endgültigen Bruch mit den vorherigen Struk‐ turen und die explizite Abgrenzung von den Jahren 1957-1986 prägt den politischen Diskurs der Folgejahre (vgl. Hurbon 2001b: 70). Der Name Fanmi Lavalas, den sich die Unterstützungsbewegung und spätere Partei Aristides 146 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="147"?> 221 In Haiti formiert sich die, aus Lateinamerika stammende, Theologie de la Libération vor allem in Basisgemeinden, genannt ti-légliz (kleine Kirche). Diese stellen, vor allem bei der Mobilisierung gegen Duvalier, wichtige Versammlungs- und Organisationsorte dar und wurden infolgedessen Zielscheibe der Tonton Macoute (vgl. Hurbon 2001b: 199 ff.). Über das transformative, vergemeinschaftende Potential dieser neuen katholischen Kirche in Haiti schreibt Hurbon: „Nouvelle forme d’appropriation du christianisme, elles préparent la voie à une démocratisation de la société […] tout en reconstruisant des solidarités qui ont disparu par suite du déracinement provoqué par un développement économique anarchique, les communautés de base invitent l’individu à prendre en main sa propre histoire, à porter un regard critique sur les structures de la vie sociale et politique et à mettre en œuvre une utopie de refondation du lien social, sur des bases autres que celle du despotisme“ (Hurbon 2001b: 209). gibt, verdeutlicht diese Vehemenz. Im haitianischen kreyòl bezeichnet das Wort Lavalas eine Art Flut oder Lawine, die alles mit sich reißt (vgl. Raffy- Hideux 2013: 89). Auch Literat: innen reagieren auf das Ende der Diktatur und die gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen 1986 und 1991. Anders jedoch als die politische Rhetorik der Lavalas, welche die Überreste der Diktatur fortzureißen hofft, machen sich viele Schriftsteller: innen an die Aufgabe, die Erinnerungen an die Diktatur mit literarischen Mitteln zu analysieren, zu konservieren und vor dem Verschwinden in einer kollektiven Amnesie zu bewahren: Après la chute du régime Duvalier, la littérature reprend ses droits de nommer, de montrer et de penser les affres de l’ordre totalitaire ainsi que les bouleversements sociaux. L’évocation constante de référents de l’Histoire récente participe de l’élaboration d’un réseau référentiel qui sert de base pour construire ce qui, a posteriori, forme une mémoire collective de la dictature. Il s’agit de mettre au jour une mémoire autour d’un morceau de l’Histoire que le régime […] a voulu effacer (Raffy-Hideux 2003 : 92). Während literarisch eine intensive Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit zu verzeichnen ist (vgl. Borst 2015), ist der politische Diskurs stark von der Suche nach einer neuen Perspektive geprägt. In dieser Suche nach neuen Orientierungspunkten erscheint der populäre Jean-Bertrand Aris‐ tide vielen als Hoffnungsträger. Aristide, ein Priester, steht der Befreiungs‐ theologie 221 nahe und erfreut sich insbesondere in den ärmeren Teilen der Bevölkerung großer Popularität. Schon vor 1986 aktiv in den Kampf gegen Duvalier involviert, gilt er als dezidierter Anti-Duvalierist. Seine politische und kirchliche Vergangenheit, sein Charisma und seine prophetischen Reden, in denen er sich immer wieder gegen Duvalier, die USA oder die Bourgeoisie positioniert, tragen zu einer großen Popularität bei den Massen bei (vgl. 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 147 <?page no="148"?> Bona 2004: 5). In der politischen und ökonomischen Instabilität, welche die Post-Duvalier-Periode bedeutet, erscheint Aristide als neue Heilsfigur, wozu auch der mystisch-autoritäre Populismus, mit dem er sich als Stimme des Volkes inszeniert (vgl. Raffy-Hideux 2013: 91), entschieden zu beiträgt: Tandis que Duvalier se voulait „Grand Electrificateur des âmes“ et recourait aux références constantes au vaudou pour sacraliser sa fonction et asseoir sa domination, „Titid“ — surnom donné par le peuple à Aristide —, „fanatise son auditoire avec ses discours simplistes émaillés de paraboles politico-religieuses“. Après la terreur des tontons macoutes, ce sont les „chimères“ qui prennent le relais. Au fond, Aristide substitue un mythe contestable — Lavalas — à un mythe contesté — duvaliérisme (Raffy-Hideux 2013: 91). Bei den Wahlen 1991 geht die Fanmi Lavalas mit Aristide als deutlicher Sieger hervor und formuliert als zentrale Ziele die Verbesserung der ökonomischen Le‐ bensbedingungen sowie die Aufhebung der Klassengesellschaft (vgl. Pollmeier 2020a: 33). Jedoch währt Aristides erste Präsidentschaft nicht lange, denn bereits einige Monate nach der Wahl findet ein Staatsstreich statt, der eine Militärjunta an die Macht bringt (vgl. Pollmeier 2020a: 33). Von da an befindet sich Aristide im amerikanischen Exil, während ein neues Regime unter Raoul Cédras die Macht über das Land ausübt, sich bereichert (vgl. Raffy-Hideux 2013: 91) und die UN, auch auf Druck Aristides hin, ein Embargo gegen Haiti verhängt, was insgesamt eine eklatante Verschlechterung der Lebensbedingungen zur Folge hat (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 160). Der Staatsstreich, die Gewalt und Unsicherheit unter der Militärregierung und die Rolle der USA und Frankreichs in der Absetzung Aristides wirken sich negativ auf den Demokratisierungsprozess aus. Exkurs — Lyonel Trouillot : Rue des Pas-Perdus (1996) Dieses Ringen um politische Macht, ökonomischen Einfluss aber vor allem auch um Deutungsmuster und Erinnerungen, welches die Jahre 1986-1996 aus‐ zeichnet, greift Lyonel Trouillot in dem Roman Rue des Pas-Perdus, welcher 1996 erscheint, auf. In dieser ‚polyphonen Erzählung‘ (Parisot 2018: 240) berichten die alternierenden Stimmen einer Bordellbesitzerin, eines Intellektuellen und eines Taxifahrers von „la nuit de l’abomination“ (Trouillot [1996] 2002) in den Straßen Port-au-Princes. Die ‚Nacht des Greuels‘ wird zum Sinnbild des Kampfes zwischen den Brigaden des „grand dictateur Décédé Eternellement-Vivant“ (Duvalier) und den „Cohortes du Prophète“ (Aristide) (vgl. Trouillot 2002: 27), in denen die zivile Bevölkerung aufgerieben wird. Die Namen, mit denen Trouillot die beiden politischen Opponenten bedenkt, werden zum Ausdruck der 148 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="149"?> religiösen Aufladung, welche den profanen Raum des Politischen ins Mythische verschiebt. Das fiktive, in einer Nacht konzentrierte, Aufeinandertreffen dieser zwei, nur scheinbar antagonistischen Blöcke, ist für Trouillot Mittel, um die Parallelen zwischen Duvalier und Aristide stärker hervortreten zu lassen (vgl. Hurbon 2001b: 163 f.), wie er 2003 in einem Interview mit Dénètem Touam Bona ausführt: Politiquement, l’aventure “Aristide“ ne pouvait être, […] dans ma lecture de la situation à l’époque, que la reprise en pire de François Duvalier. Ce qui a amené Aristide et Duvalier au pouvoir, c’est un discours de contestation porté, dans les deux cas, par des représentants des masses urbaines défavorisées […] Ce discours basé sur le ressentiment et le désir de revanche, […] recourt constamment au “Peuple“ (contre les bourgeois et les mulâtres), […] met à profit les frustrations de la masse et les clivages de couleur, François Duvalier le produit en 1956 […] ; Aristide le ressort en 1990 en y rajoutant des éléments puisés dans la théologie de la libération et dans sa propre existence de prêtre (Bona 2004 : 5). Trouillot veranschaulicht an jener Stelle des Interviews, wie auch in seinem Roman, die gesellschaftliche Spaltung, welche in den Jahren nach 1986 als strategisches Mittel zum Machterhalt weiter vorangetrieben wird. Anstelle eines vergemeinschaftenden Narratives, welches die Etablierung demokratischer Entscheidungsprozesse und gerechter Ressourcenverteilung sowie auch die Aufarbeitung vergangener (politischer) Verbrechen ermöglicht, erhöht der vor‐ herrschende politische Diskurs die Spannungen in der Gesellschaft, ohne jedoch tatsächlich grundlegende materielle und strukturelle Änderungen herbeiführen zu können. Im Anbetracht dieses zähen Kampfes durchläuft auch die Rolle der Intellektuellen einen Wandel. Ohnmächtig und angesichts des demagogischen Ringens um politischen Einfluss überflüssig, scheinen die Intellektuellen zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Dieses Scheitern illustriert Trouillot ebenfalls in Rue des Pas-perdus, wo der Intellektuelle in Gestalt eines Postbeamten, als ‚fauler Protestler‘ (vgl. N'Zengou-Tayo 2004: 332), nur noch von marginaler Bedeutung ist. Die neue Isolation der Intellektuellen ist, N’Zengou Tayo zufolge, Resultat der Randstellung, welche diese im Umsturz der Duvalier- Diktatur eingenommen haben (vgl. N'Zengou-Tayo 2004: 332). Demnach sind die er‐ hofften politischen Umwälzungen nicht mehr von Seiten der Intellektuellen und Schriftsteller: innen zu erwarten (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 336): Compared with earlier Haitian novel […] Trouillot’s protagonists […] have lost their faith in political engagement. More strikingly, the civil servant rejects the great collective historical project (“L’histoire” […]) for the benefit of the individual (“une histoire humaine” […]). Trouillot’s novels exude a melancholic pessimism 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 149 <?page no="150"?> about political involvement and the possibility of political change in Haitian society. Through his characters he claims the right to personal choices and non-involvement in politics. This goes against a long tradition in Haitian literature which links politics and literature (N’Zengou-Tayo 2004: 339). N’Zengou-Tayos Zeitdiagnose über die Zukunft einer haitianischen littérature engagée fällt 2004 ernüchternd aus, sieht sie Trouillots Figuren doch als emb‐ lematisch für die neue Rolle der Intellektuellen in Haiti an. Deren neue gesell‐ schaftliche Stellung impliziert zwar eine kritische, aufmerksame Beobachtung der politischen Entwicklungen, nimmt aber Abstand von jeglicher aktiven po‐ litischen Beteiligung (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 340). Damit scheint die vielbe‐ schworene enge Verbindung zwischen haitianischer Gesellschaft und Literatur mit Duvalier einen erheblichen Wandel zu durchlaufen. Trotz dieses eindeutigen Wandels, der in der Rolle der Intellektuellen und ihrer literarischen Repräsen‐ tation zu verzeichnen ist (vgl. Hurbon 2001b), so ist doch N’Zengou-Tayos Bestandsaufnahme, insbesondere im Hinblick auf die Person Lyonel Trouillot, nur eingeschränkt zutreffend. So verdeutlicht dieser in einer Pressemitteilung, als Mitglied des Collectif Non, eines Zusammenschlusses von Intellektuellen und Künstler: innen zur Verteidigung der Freiheit unter Aristide, sein Verständnis über das Verhältnis von literarischer Produktion und politischem Engagement: La première [mission, Anm. LB] est de se prononcer sur les violations des libertés que subissent les Haïtiens au quotidien. Est-il possible de continuer à écrire des romans ou, pour un musicien, à donner des concerts, si nous restons silencieux ? La deuxième mission est d’organiser des débats, des spectacles et des réflexions pour essayer de comprendre la cause du mal-être haïtien et redonner de l’espoir à ce peuple. Ce n’est pas une mission directement politique. Je suis écrivain et je veux revenir à mes livres (Bona 2004 : 9). Wie dieses Zitat noch einmal unterstreicht, kann für Trouillot — und auch für viele andere haitianische Literat: innen — literarisches Schaffen nicht un‐ abhängig und unbehelligt von politischen Verhältnissen geschehen, wie die nächsten Seiten bestätigen werden. 3.3.3 ‚Désenchantement‘ — das Ende der Regierungszeit Aristides 2004 Die Resignation, welche Trouillot nur zwei Jahre nach Aristides Amtsantritt in Rue des Pas- Perdus zum Ausdruck bringt, ist ein Gefühl, das für viele Hai‐ tianer: innen die Regierungszeit der Lavalas kennzeichnet. Während weder der Staatsstreich von 1991 noch die darauffolgenden drei Jahre der Militärherrschaft 150 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="151"?> 222 Die chimères gingen aus den Organisations populaires hervor, von denen viele zum Ende der Duvalierzeit hin entstanden und zu dem Sturz des Regimes beitrugen. Ursprünglich handelte es sich folglich um zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse, welche für soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe eintraten (vgl. Bona 2004: 9). den Optimismus der Bevölkerung hatten brechen können, folgt der Präsident‐ schaft Aristides schon bald eine tiefgehende Enttäuschung (vgl. Hurbon 2001b). Denn obwohl Aristide 1994 durch die USA unterstützt nach Haiti zurückkehrt und dort die Regierung übernimmt, stellt sich in den Jahren 1994- 2004, in den Aristides Partei an der Macht ist, keine nennenswerte Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bevölkerung ein. Statt der dringend notwendigen strukturellen Reformen und eines Ausbaus demokratischer Strukturen prägen politische Unsicherheit, wirtschaftliche Instabilität und Korruption diese Zeit. Laënnec Hurbon nennt diese Ernüchterung, welche ab 1996 eintritt, eine „phase de désenchantement“ (Hurbon 2001b: 128), die den Enthusiasmus der ersten Demokratisierungsphase ablöst. Zu den Faktoren dieser ‚Entzauberung‘ zählt Hurbon das Ausbleiben einer wirksamen Beschäftigungspolitik angesichts einer Arbeitslosigkeit von mindestens 60 Prozent bei der Erwerbsbevölkerung, ein kontinuierliches Absinken der Kaufkraft sowie eine extreme Langsamkeit bei der Durchführung von Reformen (vgl. Hurbon 2001b: 128 f.). Angeregt und un‐ terstützt durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank reagiert die Regierung mit der Privatisierung der staatlichen Unternehmen, was zur Neoliberalisierung des Staates führt und ebenfalls zur Ernüchterung beiträgt, wie Hurbon schreibt: Mais ce n’est point encore la source véritable du désenchantement, c’est plutôt la décomposition croissante de l’état dépourvu de boussole car le gouvernement qui le dirige ne semble encore accorder aucun poids aux médiations institutionnelle et n’offre aucun objectif commun à la société haïtienne. Il en résulte un sentiment aigu de la précarité de la vie, comme si trois ans après la restauration du régime constitutionnel, l’insécurité paraissait aussi grave qu’au temps de „l’ancien régime“ de Duvalier et de la dictature militaire (Hurbon 2001b : 129). Nur wenige Jahre nach dem Ende der Diktatur ist das Leben in Haiti wei‐ terhin hochgradig prekär und die politischen Akteure sind unvermögend neue, tragende Visionen des Zusammenlebens zu entwickeln und umzusetzen. Vielmehr tragen sie erheblich zu dem Zerfall des Staates und der sozialen Bindung bei (Hurbon 2001b: 168). Aristide inszeniert sich als „unfehlbare“ Stimme des Volkes (vgl. Hurbon 2001b) und sichert seine Machtposition mit Hilfe bewaffneter Gangs, den chimères  222 . Der Term ‚chimè‘ bezeichnet im haitianischen kreyòl einen Menschen, der Wut in sich trägt (vgl. Bona 2004: 1). 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 151 <?page no="152"?> Diese Wut instrumentalisiert Aristide in seinen populistischen Reden, welche stark von Ressentiments geprägt sind und zugleich Frieden und christliche Liebe suggerieren, für seine politischen Ziele (vgl. Bona 2004: 1). Das politische Versagen der Regierung unter Aristide und Gerüchte über Wahlbetrug führen in den Jahren 2000-2003 zu wachsendem Unmut bei der Bevölkerung. Statt wirtschaftlichem Aufschwung, einer Steigerung des Lebensstandards und der öffentlichen Sicherheit ist die so hoffnungsvoll begonnene Amtszeit Aristides Ausdruck des Scheiterns. Ab 2003 intensivieren sich die Proteste gegen Aristide, der nicht gewillt ist sein Amt niederzulegen. In dieser angespannten Situation wird 2004 das zweihundertjährige Jubiläum der erfolgreichen Revolution und Staatsgründung zu einem Zusammenstoß zwischen Demonstrant: innen, Polizei und chimères. Dieses gewaltsame Ereignis verstärkt die bereits bestehende Sorge um die Zukunft des Landes und markiert endgültig das Ende der ab den 1980er-Jahren präsenten Hoffnung auf Veränderungen (vgl. Sourieau/ Balu‐ tansky 2004: 11 f.). Nach anhaltenden Protesten, mehreren hundert Toten und unter Druck Frankreichs und der USA verlässt Aristide im Februar 2004 das Land. Im selben Jahr noch erscheint Lyonel Trouillots Roman Bicentenaire, der die Ereignisse um die Zweihundertjahrfeier aufgreift. - Exkurs — Lyonel Trouillot: Bicentenaire (2004) In seinem Aufbau folgt Bicentenaire der Einheit von Ort, Zeit und Handlung, wie sie die antike Dramentheorie vorsieht (vgl. Parisot 2018: 242). Bei Trouillot begleitet ein auktorialer Erzähler den tragischen Helden Lucien, dessen Tod bereits von Romanbeginn an unausweichlich feststeht, auf seinen Weg hin zu einer studentischen Demonstration. Sein Weg von seinem armen Wohnviertel am Rande Port-au-Princes hin zum Stadtzentrum bringt Lucien in Kontakt mit unterschiedlichen sozialen Schichten. Auf diese Weise gerät, 200 Jahre nach der Revolution, der Weg des Protagonisten zur „reflection of the ‚state of nation‘“ (Eser 2018: 115). In seiner literarischen Gesellschaftsanalyse arbeitet Trouillot mit einer Vielzahl an Allegorien und Metaphern. Eine dieser Allegorien, welche sich bereits bei Bergeauds Stella findet, ist das Bild des ungleichen Bruderpaares Lucien und Ezéchiel: Au contact de la jungle urbaine, les chemins de deux frères originaires du Plateau Central, Lucien, dit „l’étudiant“, et Ezéchiel, alias „le petit“, alias „Little Joe“, divergent : le crime en bandé désorganisée et droguée pour l’un, l’opposition pacifique pour l’autre […] L’écrivain cherche une voie […] Dans ce récit de l’urgence par excellence, l’écrivain recourt au mythe de la fratrie contradictoire […] Confrontée à l’urgence, la fiction haïtienne atteint un degré supplémentaire de spécularité, par lequel elle 152 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="153"?> interroge non plus la mimesis de l’œuvre, mais l’ethos et la praxis à l’œuvre (Parisot 2019 : 243). Folglich kann Bicentenaire mit Parisot durchaus als eine Fortführung einer litté‐ rature engagée verstanden werden und führt dem Leser zugleich mit dem Sterben Luciens das Scheitern idealistischer Zukunftsvisionen vor Augen. Die Spannung zwischen dem ungleichen Bruderpaar ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Situation, in der sich das System auf tödliche Weise jeglichem demokratischen Veränderungsprozess widersetzt und kriminelle Aktivitäten lukrativer für das Individuum scheinen als politisches Engagement und die Hoffnung auf Verän‐ derung. Während bei Stella die beiden Brüder Remus und Romulus als Akteure im historischen Prozess Einfluss auf den Verlauf der Geschichte haben, trifft dieser Befund weder auf Lucien noch auf Ezéchiel zu. Dementsprechend sind auch die demonstrierenden Student: innen nicht in der Lage, neue Visionen des Zusammenlebens zu entwerfen und Veränderung herbeizuführen. Für Eser drückt sich folglich in dem Dilemma mit der Vergangenheit auch der Konflikt mit der Zukunft Haitis aus, denn in den Student: innenprotesten zeichnet sich keine klare emanzipatorische Vision ab (vgl. Eser 2018: 115 f.). Anstelle einer Artikulation eines konkreten politischen Willens handele es sich, so Esers Statement in seinem Aufsatz „Dialectical Images of the Haitian Revolution in Haitian culture and literature“ (2018), bei den studentischen Protesten im Roman um eine existentialistische Bekräftigung der eigenen Subjektivität (vgl. Eser 2018: 115 f.). Obwohl Trouillot in Bicentenaire, keineswegs ein optimistisches Bild der Zukunft projiziert noch eine Vision des Zusammenlebens entwirft, lassen sich in Trouillots Schreiben durchaus Ansätze für ein transformatives Projekt entdecken, wie Eser nachzeichnet: At the same time, Trouillot, through his writings, wishes to motivate other Haitian writers and intellectuals to project complex images of the Haitian reality in an international scale in order to break down the domination of the Western stereotypes that present Haitians the ‘absolute alterity’ of Western modernity […] This, too, is one off the aspects of Lyonel Trouillot’s poetological concept which affirms the dynamic and transformative potential of literature […] Trouillot nevertheless stresses the potential of re-approbation and continuation of the resistance project, be it expressed on the cultural level or by direct political action (Eser 2018: 216). Eser betrachtet Trouillots literarische Praxis nicht nur im Kontext der lokalen politischen Verhältnisse, sondern liest sie als Kritik an einem globalen Zusam‐ menhang, in dem Haiti und seine Bevölkerung immer wieder als Andere kon‐ struiert werden. Zu diesem negativen Bild Haitis tragen auch die verschiedenen UN-Missionen und die über die Jahre ansteigende Präsenz von Hilfsorganisa‐ 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 153 <?page no="154"?> tionen in dem Land bei. So wirken sich diese, wie im Fall der MINUSTAH (Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haiti), einer UN-Intervention, die das Ende von Aristides Präsidentschaft begleitet und von 2004-2017, als längste UN- Mission, in Haiti agierte (vgl. Pollmeier 2020b: 126), häufig eher negativ auf das Land aus. Nicht nur wurde mit der Entsendung externer Sicherungskräfte und Militärs abermals das Bild Haitis als ‚Vorzeige‘-failed state der westlichen Hemisphäre bemüht, auch verübten die UN-Truppen u. a. Überfälle und sexuelle Übergriffe, trugen Verantwortung für die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung und verursachten den Ausbruch der Cholera 2010 (vgl. Pollmeier 2020b: 127). Durch das Erdbeben, welches sich am Nachmittag des 12. Januar 2010 ereignet, steht Haiti plötzlich für einige Wochen im medialen, globalen Inter‐ esse. Schätzungsweise 150.000 Menschen kommen bei dieser Katastrophe zu Tode, mehrere Millionen werden obdachlos und vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince werden große Teile in Schutt gelegt (vgl. Dalembert/ Trouillot 2010: 161). Aufgrund des Zentralismus sind mit Port-au-Prince auch mehrere neuralgische Punkte der Infrastruktur des Landes empfindlich getroffen. Diese Naturkatastrophe und die aus ihr resultierende humanitäre Notlage führen schnell zu internationalen Mitleidsbekundungen und Hilfsversprechen. Viele dieser Versprechungen erweisen sich im Nachhinein als Lippenbekenntnisse (vgl. Maurer 2020d: 79). 3.3.4 Literarische Produktion nach dem Erdbeben Trotz der Summe von 13 Milliarden US-Dollar, welche bis 2020 als Hilfszah‐ lungen zugesagt worden, wurde noch nicht einmal die Hälfte dieses Betrages ausgezahlt (vgl. Maurer 2020d: 79). Die internationalen Appelle an Solidarität und Humanität, welche die ersten Monate nach dem Erdbeben begleiteten, blieben in den besseren Fällen leere Versprechungen, in den schlechteren Fällen trugen sie sogar zu einer Verschlechterung der Situation bei, indem sie Abhängigkeiten verstärkten und die offiziellen Strukturen in Haiti unterliefen (vgl. Schuller/ Maurer 2020: 100). Im Anbetracht der vielen negativen Folgen ‚humanitären Handelns‘ zieht der Anthropologe Mark Schuller folgende Bilanz: Die internationale Hilfe hat nach dem Erdbeben vorhandene soziale Netzwerke und soziale Institutionen, die Tradition des Teilens und den Zusammenhalt der Familien zerstört. […] Für mich ist Haiti das Waterloo des NGO-Systems. Vorher galten die Nichtregierungsorganisationen als eine Art Zauberformel, um Probleme zu lösen […] Aber die Erfahrungen in Haiti haben ein für alle Mal deutlich gemacht, dass 154 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="155"?> 223 Der haitianische Regisseur Raoul Peck zeigt in seinem Dokumentarfilm Assistance Mortelle anhand von Film- und Interviewmaterial die ökonomischen Logiken der Hilfsindustrie und die Ohnmacht des haitianischen Staates gegenüber von Global Playern wie Coca-Cola oder westlichen Regierungen auf (vgl. Peck 2012). wir eine lokale Regierung brauchen, die in der Lage ist, die Prioritäten zu setzen (Maurer/ Schuller 2020: 100). Mit dem Erdbeben von 2010 verstärken sich soziale Schieflagen. Statt an einer Wiederherstellung und Verbesserung der Infrastruktur zu arbeiten und wichtige gesellschaftliche Strukturen zu stärken, sind Hilfsgelder mitunter längst in andere Kanäle abgeflossen oder marketingwirksam aber wenig hilfreich in pres‐ tigeträchtige Projekte umgesetzt worden. 223 Daneben werden in der Berichter‐ stattung über das Erdbeben stereotype Narrative über Haiti (re)aktiviert, die die Wahrnehmung des Unglücks und der darauffolgenden Entwicklungen rahmen. Zu diesen Klischees gehören, so Yanick Lahens, die Vorstellung Haiti würde einem Fluch unterliegen, dem es nicht entkommen kann (vgl. Lahens/ Pollmeier 2020: 69): Mit dieser Vorstellung ist der Gedanke verbunden, das haitianische Volk besitze eine außergewöhnliche Widerstandskraft, die es befähige, Elend zu überstehen. Dieser zweite Stereotyp, das mit dem Begriff „Resilienz“ umschrieben wird, ist besonders irreführend. Die Menschen in Haiti kämpfen um ihr Überleben, diese Haltung ist nicht Teil ihres Wesens, sondern durch die Umstände erzwungen (Lahens/ Pollmeier 2020: 69). Diese beiden Stereotype zwängen nicht nur die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse in ein eindimensionales Korsett, sie essentialisieren soziale Ungleich‐ heiten auch zu einer Eigenschaft der haitianischen Bevölkerung und wenden damit den Blick ab von der globalen Einbettung lokaler Probleme. Die über die Jahre zunehmende Verschlechterung der Lebensbedingungen nährt die medialen Bilder Haitis als failed state, Nation der Hilfsorganisationen oder verfluchter Staat. Zusammen mit der gestiegenen (medialen) Aufmerksamkeit für Haiti fordern diese hegemoniale Blickweisen in einer post-kolonialen Welt engagierte haitianische Gegenwartsliterat: innen heraus. Schriftsteller: innen wie James Noël, Lyonel Trouillot oder auch Yanick Lahens entwickeln in ihren Werken kritische Umgangsweisen mit diesen von außen herangetragenen Bildern und arbeiten an der Dekonstruktion tradierter Vorstellungen über den Inselstaat. Der Schriftsteller James Noël wählt das Erdbeben und das Leben und Schreiben sieben Jahre danach zum zentralen Thema seines Debütromans Belle 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 155 <?page no="156"?> 224 Zu diesem letzteren Fall gehört auch Kettly Mars Roman Aux frontières de la soif, wo die durch das Erdbeben hervorgerufene Misere im Hilfscamp Canaan zu dem Ort wird, an dem ein pädophiler Schriftsteller uneingeschränkt seinen Neigungen nachgehen kann. 225 Ebenso wie die Schriftstellerin Mars unterstreicht auch der Filmemacher Raoul Peck die sozialen und humanitären Folgen des Erdbebens. Dabei erforscht Peck mit filmischen Mitteln auch den politischen und ökonomischen Kontext, in dem die Naturkatastrophe zu einem humanitären Desaster wird und klagt dabei explizit die Internationale Entwicklungshilfe an (vgl. Peck 2020). Peck bearbeitet das Erdbeben in zwei Filmen, dem Dokumentarfilm Assistance mortelle (2013) und dem Spielfilm Meutre à Pacot von 2014. In seinem filmischen Kammerspiel Meutre à Pacot, inszeniert Peck die Umkehrung der gesellschaftlichen Positionen zwischen dem bürgerlichen Ehepaar, welches nun im Dienstbotengebäude haust und der jungen Geliebten des französischen NGO-Mitarbeiters Alex, die aus einfachen Verhältnissen stammend, nun im Haupthaus wohnt. Doch diese Umkehrung ist nur scheinbar und vorübergehend, denn während zwischen den beiden Frauen ein Hauch von Verständnis keimen zu scheint, sind es die männlichen Besitzansprüche auf weibliche Körper, welche am Ende alles entscheiden. Meutre in Pacot romantisiert weder amouröse Beziehungen, noch soziale Positionen nach dem Erdbeben und zeigt das Ereignis als Katalysator für Gewaltverhältnisse und gesellschaftliche Zersetzungsprozesse. Wie in Meutre à Pacot, stellen auch in Assistance mortelle die Hilfsorganisationen, verkörpert in dem Franzosen Alex, keineswegs altru‐ istische Instanzen dar, sondern zeigen vielmehr deutliche Anzeichen neokolonialer Machtverhältnisse. merveille (2017). Darin verhandelt er gleichsam zynisch und poetisch das indi‐ viduelle Trauma seines Ich-Erzählers Bernard und das kollektive Trauma einer Bevölkerung. In Belle merveille spielt Noël mit stereotypen Bildern und karikiert gleichsam das Versagen von NGOs und ‚Internationaler Gemeinschaft‘. Doch nicht nur James Noël, auch viele andere haitianische Schriftsteller: innen, unter ihnen Dany Lafèrriere, Yanick Lahens und Kettly Mars, verarbeiten das Beben in auto-fiktionalen und fiktiven Erzählungen sowie Testimonios. So wird in Je suis vivant (2015) von Kettly Mars das Erdbeben zu dem Schlüsselereignis, welches die Beziehungen einer bürgerlichen Familie erschüttert, nachdem der für lange Jahre in der Psychiatrie untergebrachte Bruder heimkehrt. Goudougoudou — unter diesem Namen erhält das Erdbeben Einzug in die Sprache — erscheint mal als über soziale, nationale Grenzen hinaus vergemeinschaftenden Ereignis, mal als traumatischer Einbruch unter dessen Trümmern die Spaltungen und Machtverhältnisse 224 noch deutlicher hervortreten. 225 156 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="157"?> 226 Diese Zeile entstammt dem Gedicht La lettre sous la langue des haitianischen Dichters George Castera aus dem Gedichtband Les cinq lettres ([1992] 2012). Im Rahmen des Kunstprojektes Vil poetik pa nan vyolans des Collectif Nous unter der Leitung des Schriftstellers und Theaterregisseurs Guy Régis Jr. erscheinen an den Wänden Port-au-Princes 2019 mehrere Graffitis des Gedichtes (vgl. Régis 2019). 227 Raffy-Hideux beschreibt das Konzept des nomadisme wie folgt : „Le terme ‘nomadisme’ permet de définir une littérature fondée sur des passages continuels entre le pays natal et le pays d’adoption, de constants déplacement sur un même territoire, mais également une traversée de soi-même parmi les autres, un va-etvient incessant entre haïtianité et américanité ou francité“ (Raffy-Hideux 2013 : 98 f.). 3.3.5 „On tire lamentablement dans ma rue“ 226 - Poetiken des Politischen Ungeachtet der Vielzahl der Exilierten, die 1986 nach Haiti zurückkehren, reißen die Migrationsbewegungen, vor allem nach Kanada, Nordamerika und Frankreich, in den Folgejahren nie vollständig ab. Insbesondere die politische und wirtschaftliche Instabilität trägt zu dieser Kontinuität bei. Zugleich jedoch ändern sich die Formen der Migration und die Nostalgie und die Sehnsucht nach Rückkehr, welche bestimmend für das Exil während der Zeit Duvaliers waren, treten in den Hintergrund. Stattdessen rücken mit Begriffen wie va‐ gabondage oder nomadisme  227 stärker Aspekte der Freiwilligkeit von Migrati‐ onserfahrungen in den Fokus (vgl. Raffy-Hideux 2013: 97). Autor: innen wie Dany Laferrière oder Louis-Philippe Dalembert betonen in ihrem Schaffen das kreative, produktive Potential und die Freiheit des nomadischen Umherziehens. So illustriert Dany Lafèrrieres letzte Veröffentlichung L’exil vaut le voyage (2020b), die trotz des Labels Roman eher einem (auto-)biografischen Lese- und Reisebericht gleicht, die Allgegenwärtigkeit exilierten Lesens und Schrei‐ bens. In diesem Kontext entwickelt sich die condition migratoire zur condition humaine, grenzüberschreitende Figuren in den Romanen nehmen zu und das Selbstverständnis als ‘citoyen du monde‘ rückt infolge wiederholter Reise-und Migrationsbewegungen in den Vordergrund (vgl. Raffy-Hideux 2013: 98 f.). Jene Literatur in Bewegung‘ (Raffy-Hideux 2013: 98 f.) lässt nationale und ethnische Identitätskonzepte brüchig werden und stärkt Transnationalisierungsprozesse ebenso wie einen kulturellen Pluralismus (vgl. Raffy-Hideux 2013: 98 f.). Auch einer Vielzahl von Dalemberts Romanen wie Mur méditerranée (2019), Avant que les ombres s’effacent (2017), L’île du bout des rêves (2003) oder L‘autre face de la mer (1998) ist gemeinsam, dass sie historische und gegenwärtige Migrationsphänomene literarisch verarbeiten und so Vorstellungen homogener kultureller Identität erodieren (vgl. Raffy-Hideux 2013: 98). Damit entfaltet sich das literarische Schaffen von Schriftstellern wie Dalembert und Laferrière 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 157 <?page no="158"?> 228 Katja Maurer schreibt zu dem Petro-Caribe-Abkommen: „2006 unterzeichnete die hai‐ tianische Regierung ein Katja Maurer schreibt zu dem Petro-Caribe-Abkommen: „2006 unterzeichnete die haitianische Regierung ein Petrocaraibe-Abkommen mit Venezuela, damals noch Präsident Chavez, um Erdöl zu 60 Prozent des Verkaufswertes zu kaufen und aus dem Erlös des Weiterverkaufs soziale Projekte zu finanzieren. Der Unterschied zwischen Einkaufs- und Verkaufswert wurde als Kredit auf 25 Jahre zu einem Prozent Zinsen gewährt“ (Maurer 2020b: 48 f.). Mittlerweile ist Haiti bei Venezuela erheblich verschuldet, während der Gewinn in private Taschen floß. Aus einem Projekt, dass die Verbesserung der Lebensqualität der Vielen zum Ziel hatte, wurde eine Geldquelle für wenige. vor dem Hintergrund einer veränderten haitianischen Realität der Migration, die sich in ihrer Färbung von vorangegangenen Formen exilierten Schreibens deutlich unterscheidet (vgl. Raffy- Hideux 2013: 97). Dass trotz der Stärkung transnationaler Tendenzen die Verbindung diaspori‐ scher Schriftsteller: innen zu Haiti in vielen Fällen bestehen bleibt, zeigt sich 2018, als große Teile der Bevölkerung gegen den Präsidenten Jovenel Moïse, die Korruption, die schlechten Lebensbedingungen und die Erhöhung der Benzinpreise demonstrieren und dieser Protest durch soziale Medien auch in der haitianischen ‚Diaspora‘ in Kanada, Frankreich und Nordamerika seinen Widerhall findet. Ausgangspunkt der Proteste ist eine Kampagne in den Sozialen Medien, die mit dem Slogan Kot Kob PetwoKaribe-a? (Wo ist das Petro-Ca‐ ribe Geld? ) das Verschwinden großer Summen Geld, welches im Rahmen des Petro-Caribe-Fonds eigentlich dafür vorgesehen worden war, die öffentliche Infrastruktur des Landes auszubauen, 228 anklagt. Als Petrochallenger — zu Beginn vor allem „junge, hochqualifizierte Professionelle“ (Boumba/ Maurer 2020: 186 ff.) — schlossen sich virtuell, aber auch zunehmend real (z. B. als Petro-Caribe-Nachbarschaften in den ärmeren Stadtteilen) immer mehr Men‐ schen in der Diaspora und in Haiti zusammen (vgl. Boumba/ Maurer 2020: 186 ff.). Entscheidungen des Präsidenten Jovenel Moïse wie die geplante Erhöhung der Benzinpreise steigerten Empörung und Unzufriedenheit der Bevölkerung und es kam im Herbst 2018 zu ersten Protesten. Diese entwickelten sich bald zu einer gesamtgesellschaftlichen über die nationalstaatlichen Grenzen hinausrei‐ chende Bewegung, deren Kritik und Forderung längst über das veruntreute Geld hinausreichten und deren Forderungen nach allumfassenden politischen Änderungen Edwidge Danticat in einem Artikel vom 10.10.2019 deutlich zum Ausdruck bringt: I know from speaking with many young people […] that they know Moïse is just the latest manifestation of bigger and broader structural and institutional problems. […] They want a more egalitarian, inclusive, and just society, where the rights of every 158 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="159"?> 229 Er verweist dabei auch auf die Graffitis von Vil poetik pa nan vyolans (vgl. Boumba/ Maurer 2020: 186 ff.). citizen will be respected. Not just the wealthy and well-connected but the urban and rural poor, too. They want the international community to stop meddling and pushing elections as a vehicle for change, only to rig them and saddle the country with leaders like Martelly and Moïse. They want Haitian-led solutions. They want institutions that work. They want an end to impunity. They want freedom from government and privately funded gangs, who routinely rape women and girls. They ultimately want accountability […] from everyone who has stolen or squandered the Petrocaribe money (Danticat 2019). Mit dieser Aufzählung weist Danticat deutlich darauf hin, dass die Proteste auf einer umfassenden Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen aufbauen, die soziale, ökonomische und politische Dimensionen umfasst und um die komplexen politischen Verwebungen zwischen lokalen und globalen Akteuren weiß. Vergleichbare Schlüsse zieht auch der Aktivist Nixon Boumba, der in der Protestbewegung das Potential zur Überwindung ideologischer Gräben und gesellschaftlicher Spaltungen sieht (vgl. Boumba/ Maurer 2020: 187). Im Oktober 2019 betont er in einem Interview: Die Menschen gehen auf die Straße, weil es keine Option für sie ist, so weiterzuleben, wie sie gerade leben […] Wir brauchen jetzt einen offenen Raum, indem wir darüber diskutieren können, worum es eigentlich geht. Wir müssen eine Vision entwickeln, mit der wie strategisch arbeiten können. […] Die Forderung nach dem Systemwechsel ist also keine ideologische Parole. Das muss passieren, weil das bestehende System keinerlei Antworten auf die Nöte der Menschen hat (Boumba/ Maurer 2020: 188 f.). Boumba betont neben der Bedeutung der sozialen Medien auch die Wichtigkeit von Kunst, Gedichten 229 und Musik als Kommunikations- und Protestmittel (vgl. Boumba/ Maurer 2020: 186 ff.). Über verschiedene Kommunikationskanäle werden die Forderung nach Rücktritt Moises sowie der Appell nach einer grundlegenden Reform des politischen Systems im Verlauf der Proteste immer zentraler. Auch die Frequenz, mit der die Menschen aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft auf die Straße gehen, nimmt stetig zu. Doch ungeachtet der weit‐ reichenden politischen Forderungen, welche die Protestierenden fomulieren, interpretieren westliche Medien die politische Krise bisweilen als humanitäre und verkennen damit die Handlungsmacht der haitianischen Bevölkerung (vgl. Maurer 2020a: 19). Wie bereits bei vorherigen Ereignissen werden auch dieses Mal stereotype Bilder Haitis reproduziert. Daneben sind die Demonstrierenden der Gewalt durch Sicherheitskräfte, allen voran der Polizei, ausgesetzt. Meh‐ 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 159 <?page no="160"?> 230 Der in Europa lebende haitianische Schriftsteller und Poet Jean d’Amérique zählt einige der Opfer der letzten Monate in seinem in der französischen Zeitung Liberation erscheinenden Artikel auf (vgl. D’Amérique 2021b). In seinem Debütroman Soleil à coudre (2021a) bezeugt D’Amérique eindrücklich die omnipräsente Gewalt im Leben der Zivilbevölkerung. rere Menschen sterben bei den Demonstrationen. Bei einem Massaker 2018 überfallen bewaffnete Banden das Viertel La Saline, vergewaltigen, verletzen und töten über 70 Menschen. Über die Hintergründe dieses Angriffs herrscht bis heute Unklarheit, eine Beteiligung der Regierung scheint aber als sehr wahrscheinlich (vgl. Maurer 2020b: 47 f.). Der Repression zum Trotz werden die Proteste weiter fortgeführt und die politischen Mittel des Protests ausgeweitet: Öffentliche Einrichtungen werden geschlossen und peyi lòk, der Generalstreik, ausgerufen. In der Zeit vom Herbst 2018 bis Anfang 2020 — die globale Pandemie führt auch in Haiti zu einer erheblichen Einschränkung des öffentlichen Lebens — ist eine erhebliche Mobilisierung der Bevölkerung gegen die politische, soziale und ökonomische Situation in Haiti zu beobachten, die über viele Monate aufrechterhalten wird. Das politische Bewusstsein und die alltägliche Misere, die sich in diesen Protesten ausdrücken, wird auch von haitianischen Schriftsteller: innen aktiv begleitet, die am 17.06.2019 in der bekanntesten fran‐ zösischsprachigen Tageszeitung Haitis, Le Nouvelliste, eine Lettre ouverte des écrivaines et écrivains haïtiens à la nation veröffentlichen. Den Brief, in dem das Ziel einer „société plus juste, solidaire et fraternelle“ samt notwendigen transformatorischen Schritten formuliert wird, unterzeichnen u.-a. auch Kettly Mars, Yanick Lahens, Frankétienne und Lyonel Trouillot (Le Nouvelliste 2019). Letzterer, Redakteur beim Le Nouvelliste, kommentiert in den Folgemonaten immer wieder das politische Geschehen und kritisiert darin vehement die Regierung Moises (vgl. Trouillot 2019; 2020). Trotz dessen, die Proteste in Haiti parallel zu anderen Demonstrationen in u. a. Chile, dem Libanon, Algerien und Ecuador stattfanden, erhalten sie entgegen anderen Bewegungen geringere Auf‐ merksamkeit und werden nur vereinzelt in diesem globalen Kontext betrachtet (vgl. Mediapart 2019). Während die Proteste, u. a. angesichts der pandemischen Situation, abflachen, ist gleichzeitig eine Zunahme von Kidnappings, (politisch motivierten) Attentaten und Morden zu beobachten, 230 durch welche sich die öffentliche Unsicherheit für die Bevölkerung noch einmal verstärkt und die allgemeinen Lebensbedingungen erheblich verschlechtern. In der nur be‐ dingt zu durchschauenden Gemengelage von Sicherheitsbehörden, banditischen Strukturen und politischen und wirtschaftlichen Eliten führen Kidnappings, Attentate und bewaffnete Zusammenstöße zu dem Tod mehrerer Personen aus der Zivilbevölkerung. Dazu zählen auch der Mord an dem Vorsitzenden 160 3 Haiti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg <?page no="161"?> der Anwaltskammer Monferrier Dorval, dem politisch aktiven Studenten Gré‐ gory Saint-Hilaire 2020 sowie an der Aktivistin Antoinette Duclaire und dem Journalisten Diego Charles 2021 (vgl. D’Amerique 2021b). Am 07.07.2021 wird Jovenel Moïse Haitis Präsident, der, wie viele Beobachter: innen betonen, einen großen Beitrag zur eskalierenden Gewalt und zur desolaten Lage Haitis geliefert hat, durch bewaffnete Kräfte in seinem Privathaus in Pétionville erschossen. Ihm folgt eine Übergangsregierung, der aktuell Ariel Henry vorsteht. Wird einmal Abstand genommen von den bereits erwähnten fatalistischen und kolo‐ nialen Deutungsmustern und den paternalistischen Versuchen, die haitianische Bevölkerung zwischen Resilienz und Resistenz zu entmündigen, so sind die Demonstrationen in ihrer lokalen Ausprägung und ihrem globalen Kontext als eine Bewegung hin zu neuen Formen des Zusammenlebens zu verstehen. Gewissermaßen nehmen sie ein gesellschaftliches Begehren wieder auf, wel‐ ches bereits den Beginn der Post-Duvalierperiode prägte und das materielle und soziale Gleichheit, öffentliche Sicherheit, den Schutz der individuellen Freiheitsrechte und die Erneuerung eines contrat social ebenso miteinschließt wie ein gerechtes und funktionierendes politisches System (vgl. Le Nouvelliste 2019). Zur Umsetzung dieser Ziele betonen Intellektuelle wie Lahens, Trouillot und Hurbon immer wieder die Wichtigkeit einer „nouvelle fondation du lien social“ (Hurbon 2001b: 125), die sich in den Anrufungen an eine engagierte, abstrakte citoyenneté (vgl. Bona 2004: 6; Peck 2020: 39) ebenso widerspiegelt wie in anderen konkreteren Vergemeinschaftungsformen. Diese Vergemeinschaf‐ tungsformen und Visionen des Zusammenlebens reichen, im Anbetracht einer diversen haitianischen Diaspora sowie im Kontext der Globalisierung, längst über nationale Grenzen hinaus (vgl. Hurbon 2001b: 235). Die im Folgenden exemplarisch behandelten Romane von Emile Ollivier, Kettly Mars, Louis-Philippe Dalembert und Lyonel Trouillot, die alle zwischen 1986 und 2011 erschienen sind, reflektieren die komplexen gesellschaftlichen Tendenzen dieser Umbruchszeit. Obwohl die Autor: innen unterschiedlichen Generationen angehören, so ist ihren Texten doch gemeinsam, dass sie alle‐ samt Fragen des Zusammenlebens literarisch verhandeln und mit Vergemein‐ schaftungsformen experimentieren. Meine Analysen werden sich dementspre‐ chend darauf konzentrieren Repräsentationen von Vergemeinschaftung in den Texten herauszuarbeiten, diese in ihren gesellschaftstheoretischen Kontext ein‐ zuordnen und die Texte auf (neue) Entwürfe und Visionen des Zusammenlebens hinzubefragen. 3.3 Haitianische Literaturen ab 1986 — Post-Duvalierzeit und ‚période de transition‘ 161 <?page no="163"?> 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz in literarischen Texten 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages (1991) 4.1.1 Émile Ollivier — Eine Écriture migrante zwischen Quebec und Port-au-Prince Der Schriftsteller Émile Ollivier gehört zu jenen haitianischen Schrift‐ steller: innen, welchen die Duvalier-Diktatur (1957-1986) ins Exil verschlug. Zuvor hatte seine Mitbeteiligung an der Organisation eines studentischen Streiks bereits zu seiner Inhaftierung geführt, folglich war er gezwungen, Haiti 1965 zunächst in Richtung Frankreich und später dann für Kanada (Quebec) zu verlassen (vgl. Chemla 2015: 51 f.). Quebec entwickelte sich über die Jahrzehnte bis hin zu seinem Tode im Jahre 2002 zum dauerhaften Aufent‐ haltsort Olliviers, wo er an der Université de Montréal lehrte und vor allem zu migrations- und erziehungssoziologischen Themen arbeitete (vgl. Chemla 2015: 51 f.). Neben seinen beruflichen Tätigkeiten engagierte er sich für das soziale und kulturelle haitianische Leben in Montreal (vgl. Spear: 1999) und veröffentlichte mit großem Erfolg, so belegen es die zahlreichen Preise und die Vielzahl seiner Leser: innen (vgl. Ndiaye 2002: 9 f.), literarische Texte. Nicht nur aufgrund dieser Doppelrolle, sondern auch hinsichtlich der Themen, welche Ollivier als Schriftsteller verhandelt, bietet sich eine Beschäftigung mit seinen Texten im Kontext dieser Studie besonders an. Trotz seiner literarischen Erfolge erhielt Ollivier von der Forschung erheblich weniger Beachtung, so stellt die Literaturwissenschaftlerin Christiane Ndiaye in der Zeitschrift Etudes littéraires fest : „Si ses lecteurs sont nombreux, la critique ne semble pas savoir sur quel pied danser devant cette ‘écriture métisse‘ et, jusqu’à présent, à plutôt opté pour le silence“ (Ndiaye 2002 : 9 f.). Ndiaye begründet diese vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit mit der besonderen Position, die Ollivier als Haitiano-Kanadier einnimmt. So bilden Haiti und Kanada/ Quebec, pays natal und pays d’acceuil (vgl. Pessini 2011: 338), beide wichtige Referenzpunkte für das Werk Olliviers, <?page no="164"?> 231 Peggy Raffy-Hideux führt diese verschiedenen Positionen zu Exil und Migration auf generationelle Unterschiede zurück. So schreibt sie: „Les romanciers de la première génération [zu dieser zählt sie u. a. Ollivier, Anm. LB] ont mis à profit un imaginaire façonné par l‘exil, l’errance et la mémoire, teinté d’une nostalgie lancinante et nourri du fantasme d’un retour au pays natal tandis que cette deuxième génération [ z. B. Dany Laferrière, Anm. LB] axe plutôt sa production sur la mémoire de l’enfance, de l’adolescence ou sur le retour réel mais non définitif au pays. Ces romanciers ‘n’habitent pas tous l’exil avec le même confort ou le même inconfort. Il y a un monde de différence entre l’acceptation résignée, joyeuse d’un Dany Laferrière et la nostalgie d’un Emile Ollivier’“ (Raffy-Hideux 2013 : 97). welches die Partikularitäten dieser ungleichen Räume, ihre Spannungen und ihre Interdependenzen immer wieder verhandelt: Toute la critique qui s’est penchée, à des titres différents, sur l’œuvre d’Émile Ollivier, s’accorde à souligner l’importance qu’ont eue, pour la production romanesque de cet auteur, le départ d’Haiti en 1965, l’éloignement du pays natal et les années d’exil au Canada […] C’est à partir de cette fracture que l’auteur a, lentement mais solidement, posé les pierres qui ont permis la construction d’une œuvre […] qui ne s’épuise pas dans le va-et-vient entre deux cultures, deux imaginaires, mais qui au contraire cherche, au fil des romans et des nouvelles, à établir des ponts, des passages, et des points de jonction et de coexistence (Pessini 2011: 337). Das vermittelnde Schreiben zwischen zwei ‚Welten‘ erwies sich als produktiv für Olliviers Literatur, der stärker als die meisten exilierten haitianischen Autoren: innen die Existenzialität von Migration (condition migratoire) zum Zentrum seines Schaffens machte. Während das Schreiben, Schaffen und Leben außerhalb Haitis eine Vielzahl von Autor: innen (vgl. Nicolas 2002: 224; Lafer‐ rière 2017: 173 ff.) aus Haiti betrifft, findet sich dieser Umstand doch in den jeweiligen Werken unterschiedlich thematisiert. 231 Während z. B. Louis-Philippe Dalembert mit seiner Konzeptualisierung der vagabondage (littéraire), wie wir in dem Kapitel Kosmopolitische Unternehmungen zwischen vagabondage und Verflechtung — Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves (2003) noch sehen werden, vor allem die selbstbestimmten und freien Aspekte fokussiert, perspektiviert Ollivier verstärkt die leidvollen, erzwungenen und irrenden Dimensionen. Ungeachtet dieser Differenz nimmt Dalembert in seinem Roman L’île du bout des rêves ausdrücklich Bezug auf Ollivier und Passages, indem er dem ersten Teil seines Romans einen Auszug aus Passages voranstellt: Le monde est constitué de deux grandes races d’hommes : ceux qui prennent racine (…) et ceux qui se prennent pour le pollen. (…) Ils sautent dans les voiliers de hasard, 164 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="165"?> empruntent d’aléatoires chemins, sans but, sans trajet préalablement déterminés. Émile Ollivier (Dalembert 2007). Der paratextuelle Verweis unterstreicht, wie stark die haitianische Literatur durch Mobilität, Zirkulationen und Migrationen geprägt ist, die jedoch selten dem Ideal eines liberalen, freiwilligen Kosmopolitismus entspricht, sondern allzu häufig Resultat zwangvoller Notwendigkeiten ist, die sich auch in Passages niederschlagen. Jene Notwendigkeiten, ob aus politischen oder ökonomischen Gründen, bringen Lebensrealitäten, d. h. eine condition migratoire, hervor, die von der euphemistischen Vorstellung von einem ‚Weltbürger: innentum‘ nur bedingt erfasst werden können. Die intensive Beschäftigung mit eben diesen Realitäten der Migration, mit Fragen der Identität und des de- und enracinement (Ent- und Verwurzelung, vgl. Ollivier 2002: 91 ff.) auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene kenn‐ zeichnet Olliviers literarisches Werk ebenso wie seine Arbeit als Soziologe oder sein gesellschaftspolitisches Engagement. Diese Auseinandersetzung mit der condition migratoire in ihrer existentiellen, globalen Bedeutung und Reichweite zeigt sich auch in Olliviers Selbstverständnis als Schriftsteller: L’écrivain, ou mieux l‘écrivain migrant, favorise la rencontre de cultures et de mondes différents. […] L’écrivain migrant n’appartient plus à un seul lieu puisque ce qui l’a conduit et poussé à prendre la plume est la rupture avec son terreau matriciel, avec son lieu d’origine. Les problématiques qu’il développe s’articulent autour de l’exil sous ses multiples facettes, de l’errance, de l’identité, de la mémoire (Pessini 2011 : 337 f.). Seine Positionierung als migrantischer Schriftsteller (écrivain migrant) ist pro‐ grammatisch für Olliviers intellektuelles und literarisches Schaffen. Wie er 2002 in dem Aufsatz „L’enracinement et le déplacement à l’épreuve de l’avenir“ darlegt, interpretiert Ollivier den écrivain migrant als Produkt einer Gegenwart, die sich durch ein gesteigertes Maß an Zirkulationen, an globalen Bewegungen, auszeichnet: „Après des siècles de sédentarisation, le nomadisme a repris“ (Ollivier 2002: 88). Im Kontext dieser erhöhten Zirkularität und Mobilität erhält (s)eine écriture migrante eine gesteigerte Bedeutung: En tant que Caraïbéen, appartenant à deux mondes, j’ai souvent l’impression qu’injonction m’est faite, en tant qu’intellectuel et écrivain, de jouer un rôle de médiation, de trait d’union, de passeur culturel, bref d’œuvrer à une ‘poétique de la relation‘ (Ollivier 2002 : 93). In diesem migrantischen Schreiben (écriture migrante) räumt Ollivier dem Begriff der Relation eine besondere Priorität ein und knüpft damit eindeutig an Edouard Glissant und dessen Konzeption eines Tout-monde, die das In-Be‐ 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 165 <?page no="166"?> 232 So schreibt Glissant : „J’appelle Chaos-monde le choc actuel de tant de cultures qui s’embrasent, se repoussent, disparaissent, substitent pourtant, s’endorment ou se transforment […] ces éclats, ces éclatements dont nous n’avons pas commencé de saisir le principe ni l’économie et dont nous ne pouvons pas prévoir l’emportement. Le Tout-Monde, qui est totalisant, n’est pas (pour nous) total. Et j’appelle Poétique de la Relation ce possible de l’imaginaire qui nous porte à concevoir la globalité insaisissable d’un tel Chaos-monde, en même temps qu’il nous permet d’en relever quelque detail, et en particulier de chanter notre lieu, insondable et irréversible“ (Glissant 1997 : 22). Munro interpretiert diese Bezugnahme auf Glissant von Seiten Olliviers weniger als freiwillige Entscheidung, als eine zwingende Notwendigkeit (vgl. Munro 2012: 149). Nichtdestotrotz erwiese sich eine Betrachtung von Ollivier Werk vor dem Hintergrund Glissants poetologischer und theoretischer Überlegungen durchaus als ein produktives Unterfangen, lassen sich bei Ollivier doch vermehrt positive Bezugnahmen auf Glissant ausmachen (vgl. Ollivier 1995). In der vorliegenden Arbeit wird auf diesen Aspekt jedoch nicht der Fokus gelegt. 233 Migration, Flucht und Deportation sind nicht auf die Moderne beschränkt, sondern finden sich auch in früheren Epochen. Die Besonderheit der Gegenwart liegt darin, dass zunächst die Erfahrungen der Shoa, des Kolonialismus, der Sklaverei sowie der Einhegungen und Proletarisierung der ländlichen Massen ein erhöhtes Maß an erzwungenenen (Migrations)bewegungen hervorgebracht haben und dass des Weiteren durch globalisierte (Arbeits-)märkte, Veränderung der klimatischen Bedingungen und globale Ungleichheiten, neben Krieg, Verfolgung und Vertreibung, weiterhin eine erhöhte Notwendigkeit zu Flucht und Migration besteht. 234 In Reaktion darauf fordert der martinikanische Schriftsteller Patrick Chamoiseau in seinem Essay Frères migrants (2018) eine Politik der Fürsorge (Politique du soin), die allein in der Lage sei, den gegenwärtigen globalen Anforderungen und dem ‚mensch‐ lichen Abenteuer‘ gerecht zu werden (vgl. Chamoiseau 2018: 118 f). Chamoiseaus Essay entsteht in einem imaginierten Austausch mit Edouard Glissants, wie der Autor selbst ziehung-treten der Welt als Ganzes bzw. das Eröffnen neuer Räume der Bezie‐ hungen propagiert, an. 232 Ähnlich wie Glissant konstatiert auch Ollivier in seinem Essay ein gesteigertes Inbeziehungtreten unterschiedlicher Regionen der Welt im Zuge von Globalisierungsprozessen und das verstärkte Auftreten von pluralen, diasporischen Subjekten (Ollivier 2002: 91), welche tradierte kollektive Identitäten und das eindimensionale bzw. Einheitsdenken (pensée unique, Ollivier 2002: 89) in Frage stellen. In diesem Zusammenhang werden Er‐ fahrungen von Migration, von déplacements (Verschiebung, Reise, Vertreibung) und déracinements zu den grundlegendsten Erfahrungen des gegenwärtigen globalen Menschseins 233 und die Fremden und Migrant: innen zum Sinnbild der Moderne (vgl. Ollivier 2002). Als ‚Objekt beunruhigender Fremdartigkeit‘ (Ollivier 2002: 94) und als Ausdruck der Verletzlichkeit menschlicher Existenz — die insbesondere vor dem Hintergrund (westlicher) Grenz-Regime des 20. und 21. Jahrhunderts viel mehr eine geschaffene als eine genuine Vulnerabilität ist — fordert der Migrant Identitätslogiken und Vorstellungen autonomer, unverletzlicher Individualität heraus. 234 Denn im Kontrast zu der Sicherheit der 166 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="167"?> voranstellt (vgl. Chamoiseau 2018). Vor dem Hintergrund eines Denkens der Relation heißt es bei Chamoiseau: „Ce qui vivent les migrants relève d’une seule aventure, très ancienne, qui continue encore : notre aventure humaine […] A travers eux, c’est toujours la vie qui vient, qui bondit, qui traverse, qui appelle, ce n’est jamais la mort […] Leur expériences s’additionnent et font partie du monde […] Seule une politique du soin porté à l’individu, permettant à chacun de se construire une radieuse dans le tissu grand déplié du monde, favorisera des régulations mondiales efficientes, lesquelles prendront soin à leur tour de la qualité des liens transsociétaux, de la préservation des biens communs, à commencer par notre petite planète. Seule une politique du soin porté à l’individu pourra quelque peu deviner cet autre imaginaire“ (Chamoiseau 2018 : 118 f.). 235 Mit Polyphonie ist eine Dialogizität und Vielstimmigkeit d. h. die ‚Kopräsenz hetero‐ gener Stimmen‘ im Sinne Bachtins (Bachtin [1979] 2015) gemeint (vgl. Deubel 2007: 153). bürgerlichen Existenz in einem Land des Globalen Nordens, garantiert durch den Schutz der ‚richtigen‘ Staatsangehörigkeit, ist das (illegalisierte) Grenzüber‐ schreiten hochgradig prekär, marginal und mitunter fatal (vgl. Zhang 2014). Eine Literatur, die diesen Erfahrungen entspringt, erstreitet neue Perspektiven auf Identität(en), Erinnerung und Gedächtnis, Verwurzelung und die condition humaine (Ollivier 2002). Die migrantischen Schriftsteller: innen sind, indem sie neue Formen des Zusammenlebens erschreiben, Ausdruck einer Zeit, die mit einer pensée unique und (vermeintlich) festen kollektiven Identitäten wie der Nation, der Religion oder der cité, d. h. der citoyenneté (vgl. Ollivier 2002: 92), bricht: Car ils écrivent d’une écriture dont les images migrent pour déjouer les stéréotypes, d’une écriture qui permet aux identités de se jouer et de se déjouer les uns des autres. […] Elle détotalisé ; elle institue un droit d’être autre, d’ici, d’ailleurs, par-delà, en déca, en devenir […] En ce sens, ils sont des messagers de liberté, colportant dans leur kaléidoscope toute la rumeur du monde (Ollivier 2002 : 95). Weit über die Partikularität diasporischer Subjektivitäten hinaus birgt die von Ollivier nachgezeichnete écriture migrante das Potential kollektive Identitäten auszubilden, die die komplexe Pluralität und Polyphonie 235 der gegenwärtigen Welt anerkennen (Ollivier 2002: 91). Jene Literatur, welche Ollivier hier in seinen Grundzügen skizziert, überschreitet demzufolge nicht nur geographische Grenzen, sondern auch Grenzziehungen zwischen Text und Gesellschaft, indem sie der Konfiguration neuer Formen der condition humaine und des Kollektiven in der extratextuellen Welt vorgreift. Die Romane von Émile Ollivier können als Beispiel für eine solche Literatur dienen, denn sie stellen immer wieder die Beziehung zwischen dem einzelnen Leben und der öffentlichen Sphäre heraus (vgl. Vitiello 2002: 51). Dieses gelingt Ollivier, der Literaturwissenschaftlerin Joëlle Vitiello zufolge, indem er in seinen Romanen individuelle Schicksale 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 167 <?page no="168"?> 236 Des Weiteren veröffentlicht Ollivier den Kriminalroman Les Urnes scellées (1995), den autobiografisch inspirierten Roman Mille eaux (1999) und La Brûlerie, der 2004 posthum erscheint, sowie mehrere Kurzgeschichten und Essays (vgl. Spear 1999). häufig im Kontext von Familienchroniken und ineinander verschlungenen Erzählungen entfaltet, enge Verknüpfungen von kollektiver Geschichte und individuellen Leben herstellt und so Geschichten und Geschichte zusammen‐ bringt (vgl. Vitiello 2002: 51). So zeichnet Olliviers Debütroman Mère-Solitude (1983) anhand der Familie Morelli die Geschichte Haitis nach und auch der darauffolgende Roman La discorde aux cent voix (1986) verhandelt anhand zweier verfeindeter Nachbar: innen die Historie des Landes ebenso wie auch seine sozialen Probleme (vgl. Spear 1999). 236 Demgemäß findet sich in Struktur, Erzählverfahren und Themen seiner Romane als auch in Olliviers literaturthe‐ oretischen Überlegungen eine hohe Präsenz von Fragen des Zusammenlebens sowie Literarisierungen von individuellen und kollektiven Identitäten oder wie Vitiello schreibt: L’errance géographique ou historique qui travaille les romans n’est jamais théorétique. Elle est ancrée dans la mémoire individuelle et collective, familiale et ancestrale. Les conditions qui propulsent le désir de partir sont toujours concrètes, qu’il s’agisse de l’exil politique, économique, ou le désir de fuir un quotidien devenu insupportable. Ollivier, dans ses allers et retours mémoriels, entre le lieu d’enfance et celui d’exil, entre des moments historiques fondateurs, entre l’individu et la communauté fouille et extrait, recrée, amis aussi transporte (Vitiello 2002 : 58). Vor diesen Hintergrund wurde für diese Untersuchung der Roman Passages ausgewählt, welcher auf besondere und zugleich für Ollivier charakteristische Weise Kanada/ Quebec und den pays natal, Haiti, miteinander verknüpft. Pas‐ sages wird 1991 veröffentlicht und fällt damit in eine Periode, die in Haiti stark von politischen Machtkämpfen nach dem Ende der Diktatur geprägt ist. 1991 ist eben jenes Jahr, in dem der demokratisch gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide nach einem Staatsstreich Haiti verlassen muss. Somit blickt Passages in einer Zeit, die in Haiti von Hoffnungen auf einen politisch-gesellschaftlichen Neuanfang und Enttäuschung zugleich geprägt ist, noch einmal auf die letzten Monate der Duvalier-Ära zurück, in denen Ollivier seine Erzählung situiert. Obwohl Ollivier zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits über 25 Jahre im kanadischen Exil lebt, steht die Erzählung unter dem Eindruck der politischen Entwicklungen in Haiti, der sie viel Raum einräumt. Demzufolge stellt Passages zum einen eine Auseinandersetzung mit den Perspektiven des politischen und persönlichen (Über)lebens in Haiti dar und befragt zum anderen grundlegend 168 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="169"?> 237 Dr. Florian Kappeler wies mich darauf hin, dass Amédée auch der Name einer Figur in Anna Seghers Drei Frauen aus Haiti ([1980] 1987) sei, die als haitianischer Migrant in Europa Straßen baue. Es ist sehr stark anzunehmen, dass Ollivier hier bewusst auf Seghers Figur verweist, da über Roumain bereits eine Verbindung zur deutschspra‐ chigen Literatur und eine Beziehung zu Seghers bestand (vgl. Nicholas 2003) und Ollivier mit Roumains Werk sehr gut vertraut war (vgl. Ollivier 2003). Die doppelte Figur des Amédée kann in diesem Sinne als Symbol nicht endender haitianischer Migrationbewegungen verstanden werden, deren Ziele (von Europa zu Nordamerika) sich verändern, während die schlechten Konditionen gleich bleiben. die migrantischen und migrierenden Existenzen zwischen Haiti und Kanada im Speziellen und in einer globalisierten Welt im Allgemeinen. Radikaler als die anderen drei Texte, verweigert Passages dabei dauerhafte, positive Formen von Vergemeinschaftung und Zusammenleben und zeugt von Desillusion angesichts der politischen Entwicklungen nach 1986. Demnach entwickelt der Roman auch keine Vision für eine bessere Zukunft, vielmehr kann Passages als eine Infragestellung der Wirkmächtigkeit von Konzepten wie Kosmopolitismus, Freiheit und citoyenneté aufgefasst werden. Ungeachtet dessen bietet sich Passages aufgrund seines zeitlichen Entste‐ hungskontextes, aber auch als ein literarischer Text, welcher sowohl auf der er‐ zählerischen als auch auf der inhaltlichen Ebene (vorgestellte) Gemeinschaften aufruft und dekonstruiert, für eine detaillierte analytische Lektüre im Kontext meiner Studie an. So verhandelt Passages prominente Fragen der Zugehörigkeit und des Zusammenlebens im Kontext einer écriture migrante — auf die später noch ausführlicher eingegangen wird —, mit welcher Ollivier Prinzipien einer neuen Literarität entwickelt, die über einen okzidentalen Kosmopolitismus und die Exklusivität der citoyenneté hinausweist und so neue literarische Perspekti‐ vierungen einer condition humaine als condition migrante vorzunehmen vermag. 4.1.2 Haiti, Miami, Montreal — Topografie(n) der Migration In den Mittelpunkt seines Romanes stellt Ollivier zwei Geschichten der Migra‐ tion und des Exils, die er virtuos zu einer Erzählung verwebt. Die Thematik des Exils steht folglich im Mittelpunkt des Romans, der sich dieser aus verschie‐ denen Perspektiven und in seinen vielfältigen Dimensionen widmet (vgl. Gau‐ thier 1997: 65). Seinen Anfang nimmt Passages in dem haitianischen Küstenort Port-à-l’Ecu, wo das dörfliche Gemeinwesen um Amédée 237 Hosange und seine Frau Brigitte Kadmon Hosange im Anbetracht miserabler Lebensbedingungen sich dazu entschließt ihr Land zu verlassen. Mit dem Ziel in Nordamerika ein besseres Leben zu beginnen und das Haiti der Duvalier-Diktatur hinter sich zu lassen, machen sich die Dorfbewohner: innen in dem selbstgebauten Schiff 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 169 <?page no="170"?> La Carminante (span.: Die Wandererin) zur Reise über den Atlantik auf. La Carminante erleidet Schiffbruch vor der nordamerikanischen Küste, den nur ein Teil der Dorfbewohner: innen, darunter Brigitte und Amédée, überleben. Amédée stirbt kurze Zeit später, während Brigitte sich trauernd dazu entschließt nach Port-à-l’Ecu zurückzukehren. Parallel dazu erfahren wir von einem Treffen in Montreal zwischen Leyda Malavy, Ehefrau des verstorbenen Normand, und Amparo Doukara, dessen Geliebter. Bei diesem Treffen entspannt sich ein Gespräch zwischen den beiden Frauen, in welchem Amparo von ihren letzten Tagen mit Normand erzählt. Normand, seines Zeichens ebenfalls haitianischer Herkunft und seit mehreren Jahren im Exil in Montreal lebend, stirbt auf der Reise mit Amparo nach Miami an den Folgen einer chronischen Krankheit. Zuvor trifft er bei dem Besuch im Geflüchtetenlager Krome auf Brigitte und nimmt ihren Bericht auf Audiokassette auf, wodurch die beiden Erzählstränge zueinanderfinden. Passages gliedert sich in drei größere Romanteile, bestehend aus mehreren Kapiteln mit häufigen Orts-, Zeit- und Erzähler: innenwechseln, welche Teil eben jenes transversalen, disruptiven und heterogenen Spiels mit Bedeutungen sind, welches Munro beschreibt (vgl. Munro 2012: 150). Insgesamt konstituiert sich der Roman aus zwei Geschichten und zwei Gesprächssituationen: Zum einen aus dem Testimonio Brigitte Kadmon Hosanges über die Flucht ihrer Dorfge‐ meinschaft von Haiti nach Nordamerika, welches der Exil-Haitianer Normand dokumentiert, und zum anderen aus dem Gespräch zwischen Normands Witwe Leyda und dessen Geliebte Amparo Doukara, in dem Amparo Normands letzte Tage in Miami Revue passieren lässt. Die ersten beiden Teile des Romans, Les quatre temps de l’avent und Bonjour les vents! , sind von dem Alternieren der beiden Erzählungen geprägt, bevor sie im dritten Teil Dans le silence ou la clameur! zusammengeführt werden (vgl. Gauthier 1997: 63). Während zu Beginn die beiden Figurengruppen sowohl räumlich als auch zeitlich noch klar voneinander abzugrenzen sind und die Kapitel zwischen der Insel Haiti und dem nordamerikanischen Kontinent wechseln, lösen sich diese Trennlinien mit der Ankunft der Schiffbrüchigen in Miami zunehmend auf. Hier treffen die verschiedenen Figuren und Geschichten aufeinander und schaffen so die Grundlage für eine gemeinsame Erzählung. Bei den Figuren des Romans handelt es sich ausnahmslos um migratorische, exilierte, karibische Subjekte, die bis auf Amparo alle aus Haiti stammen (vgl. Gauthier 1997: 62). Die Figuren Normand und Amédée stellen dabei Knotenpunkte da, um die sich zwei Figurengruppen konstellieren: Amédée Hosange und seine Frau Brigitte Kadmon Hosange, Noelzina und Phileus Corovan sowie weitere Dorfbewohner: innen bilden eine erste, im Romanverlauf 170 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="171"?> migrierende Gruppe, während Normand und Leyda Malavy, Amparo Doukara sowie Normands Bruder Ramòn und Régis eine Gruppierung darstellt, deren Migration bereits erfolgreich abgeschlossen ist und die seitdem in Nordamerika bzw. Kanada leben. Trotz ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen weisen die beiden zentralen männlichen Figuren Normand und Amédée auffallend gleiche Strukturelemente auf, so dass hier von einem Parallelismus (vgl. Ackermann 2007) zu sprechen ist. Dazu schreibt Gauthier: Un parallèle s’établit entre l’histoire d‘ Amédée et celle de Normand. Le premier, paysan attaché à sa terre, prisonnier de sa misère, décide de quitter le sol de ses aïeux pour chercher provisoirement le salut ailleurs ; l’autre, intellectuel, victime avec sa famille de l’assassinat du père, étouffé par le climat de violence, part aussi pour les mêmes raisons […] Finalement, les deux auront rendez-vous avec la mort dans le lieu intermédiaire qu’est Miami ; avec eux meurt le rêve du pays idéalisé, du retour à ses racines ; ils revivront cependant par le récit de leur compagne, Brigitte et Amparo (Gauthier 1997 : 67 f.). Die Erzählungen der beiden überlebenden Frauen, Brigitte und Amparo, stellen die Männer, Amédée und Normand, in den Mittelpunkt und retten mit ihren Zeugnissen die Erinnerungen an die Verstorbenen. Dabei ist augenfällig, dass sowohl Amédée als auch Normand sich in einer annähernd gleichen Geschlech‐ terkonstellation bewegen: Sie unterhalten Beziehungen zu jeweils zwei Frauen, wovon diese jedoch erst durch den Tod (von Normand bzw. den von Noelzina) erfahren. Normand in Montréal und Amédée in Port-à-l‘Ecu markieren die äußersten Polen einer Achse, in deren Mitte Miami liegt und entlang derer sich unterschiedliche Migrations- und Rückkehrbewegungen vollziehen. In jener Topografie der Migration stellen Haiti, Montreal und Miami Knotenpunkte und zugleich Zentren haitianischer Präsenz dar. Zugleich erscheinen die aufeinander zulaufenden Reisen Amédées und Normands, die beide in Miami den Tod finden, als Spiegelung des jeweils anderen und verstärken so die Unabgeschlossenheit der migrierenden Bewegungen. Durch diese sich überlappenden, spiegelnden und verwebenden Erzählungen gewinnt der Roman eine Komplexität, die sich auch in der Polyphonie und Mehr‐ deutigkeit des Titels Passages zeigt. Martin Munro weist in Exile and post-1946. Haitian literature. Alexis, Depestre, Ollivier, Laferrière, Danticat auf die sich überlappenden, ergänzenden und widersprechenden Bedeutungsdimensionen des Begriffes ‚Passage‘, die sich im Roman als spatiale, temporale und diskursive Phänomene realisieren (vgl. Munro 2012: 150), hin. Als Akt und Prozess der physischen und/ oder identitären Zustandsänderung (rites de passage d.h. Initia‐ tionsriten), als Passieren geografischer Grenzen, Vergehen von Zeit samt seiner 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 171 <?page no="172"?> 238 Der implizite Verweis des Romantitels auf die Middle Passage kann als ein besonderer Aspekt der spatialen Bedeutungsebene verstanden werden, und wird an späterer Stelle noch einmal ausführlicher Gegenstand der Betrachtung sein. 239 So ist in dem Unterkapitel IV. La Mort, das Aufeinandertreffen von (traumatischen) Erinnerungen und Normands Sterben zu beobachten (vgl. Ollivier 2001: 232 ff.) zu beobachten, welche die physische und zeitliche Instabilität des transitorischen Ort Miamis unterstreicht. Effekte auf das Individuum, als diskursive, textuelle Fragmente eines größeren narrativen Ganzen, aber auch als endgültiger Übergang im Sterben (vgl. Munro 2012: 150), ist die Passage Bestandteil des Romans. 238 Dabei impliziert ‚Passage‘ nicht selten — z. B. im Falle von Identitäten und Räumen — Grenzüberschreitung, ebenjene territoriale Grenzüberschreitung, die für Amédée und Normand im Roman mit einer weiteren Grenzüberschreitung, jener von Leben und Tod, einhergeht. Grenzüberschreitungen werden auf diese Weise zum allgegenwär‐ tigen Motiv des Romans. Im Netz der sich überlagernder Grenzüberschreitungen ist Miami, Topos der Begegnung, der Transition, der Erinnerung und des Todes zugleich. Die Stadt ist nicht nur Zentrum einer großen haitianischen ‚community‘, sie beendet auch die ‚Reisen‘ von Normand und Amédée mit dem Tod und transformiert damit die zuvor virilen, lebendigen, aktiven Körper zu lebloser, passiver Materie. Miami als transitorischer Raum ruft somit durch seine spezifische „dynamische Zeit-Raum-Relation auch eine körperliche Erfahrung von Instabilität“ (vgl. Borsò 2015: 260) und „eine besondere Beziehung zwischen vorübergehenden Zuständen und gegenwärtiger Dauer, zwischen Vergehen und Sich-materiell-am-Ort-Binden, zwischen spatio-temporaler Fluidität und Per‐ sistenz bzw. Konsistenz der konkreten Situation“ (Borsò 2015: 260) hervor. Die besondere Qualität Miamis als transitorischer Raum liegt insbesondere darin, ebenjene von Borsò angeführte Beziehung zwischen Fluidität und Konsistenz zu etablieren. Die Transformation, welche Amédée und Normand durchlaufen und welche sich bereits in einem Ineinanderfließen der Zeitebenen ankündigt, 239 ruft auch für die sie umgebenden Figuren Leila, Brigitte und Amparo grundlegende dauerhafte Veränderungen hervor. In Miami kreuzen sich diese verschiedenen Lebenswege, so dass Miami nicht nur transitorischer Raum, sondern auch zum Ort der Begegnung wird. In jener doppelten Funktion der Begegnung und der Transformation erzeugt Miami Konstellationen von Geschichten, Figuren und Begebenheiten, aus der Passages als Gesamterzählung hervorgeht, wie die Betrachtung des Aufbaus und der Erzählsituationen verdeutlicht. Obwohl alle Figuren Akteur: innen der gleichen erzählten Welt sind, weist der Roman verschiedene Erzählebenen auf, die jedoch erst zum Ende hin ersichtlich werden. So gesellt sich zu den Stimmen und Erzählungen von Brigitte und Amparo 172 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="173"?> eine weitere übergeordnete Erzählinstanz, die sich als Régis herausstellt. Als Erzähler verbindet Régis, der Freund und Vertraute Normands (vgl. Nicolas 2002: 252), die Erzählungen Amparos und Brigittes miteinander und ordnet sie durch weitere Informationen und Bewertungen zu einem Gesamtkontext. Diese Zusammenführung und damit letztlich auch die Übersetzung der beiden oralen Narrationen in ein schriftliches Zeugnis geschieht durch Régis. Als diskreter Erzähler, der sich erst zum Romanende hin offenbart (vgl. Gauthier 1997: 63), verknüpft Régis das Gespräch zwischen Amparo und Leyda, seine eigenen Erinnerungen an Normand und Brigittes Testimonio miteinander: Régis […] sert d’intermédiaire entre les différentes voix narratives, recollant les morceaux tant du récit d’Amparo sur le passé récent à Miami, de celui de Brigitte sur la mémoire de tout un peuple, que de l’histoire de Normand depuis son enfance à Port-au-Prince jusqu’à son séjour de convalescence à Miami, en passant par ses années d’exil à Montréal (Gauthier 1997 : 63). Sein Erzählen kommt dabei dem eines auktorialen und zugleich homodiegeti‐ schen (aber unsichtbaren) Erzählers gleich, welcher dementsprechend Zugriff auf sämtliche Gefühle, Träume und Erinnerungen Normands besitzt, wie Régis selbst zum Ausdruck bringt: Cette histoire, je peux la raconter dans ses moindres détails aujourd’hui que j’en ai recollé tous les morceaux, que les zones d’ombre se sont éclaircies, que je crois avoir décelé sous les mots d’attitudes des protagonistes, les motifs et les mobiles qui les ont actionnées. A l’image du souffleur qui, de son trou, voit les acteurs en scène et peut rendre compte de leurs omissions, de leurs ajouts et de leurs retraits, de cette partition à plusieurs voix, je sais tous les rôles. Je peux m’en faire l’écho (Ollivier [1991] 2001: 48). Durch diese Verknüpfung verschiedener Geschichten, Erzählformen und Stimmen sowie Orten und Ortswechseln bringt Ollivier einen polyphonen literarischen Text hervor, der zugleich von multiplen Ana- und Prolepsen ge‐ prägt ist. Insbesondere die Kapitel, welche Normands Wandern und Irren nach‐ zeichnen, weisen ein hohes Maß an Zeitsprüngen auf, indem z. B. der Bericht Amparos immer wieder durch Régis’, mitunter unmarkierte, Rückblenden und Erinnerungen unterbrochen werden (vgl. Ollivier 2001: 68). In dieser zeitlichen Gestaltung bleibt nicht nur die mündliche Quelle als Spur erhalten, sie trägt auch den verschiedenen Formen der Erinnerung und der Zeugschaft Rechnung, indem sie diese in Beziehung setzt, wie ich im Folgenden darlegen werde. 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 173 <?page no="174"?> 240 Martin Munro sieht insbesondere in Brigittes Narration einen Verweis auf orale, karibische Erzähltraditionen: „Brigitte’s account can therefore be read as a fragment of Haitian oral history. The traditional, oral aspects of her narration are, in fact, apparent throughout. The repetition of the line ‘There is the sea, there is the island’ is an typically oral device, designed to structure and shape the narrative […] Also, the content of her narrative is firmly rooted in tradition and folklore “(Munro 2012: 163). 241 Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis sind zwei Konzepte des kollektiven Gedächtnisses, welches die Kulturwissenschaftler: innen Jan und Aleida Assmann aufbauend auf den Überlegungen Maurice Halbwachs entwickelt haben. Während das kommunikative Gedächtnis auf Alltagsinteraktion angewiesen und damit eine zeitlich begrenzte Reichweite hat, zeichnet sich das kulturelle Gedächtnis durch seine zeremonialisierte und kulturalisierte Form aus (vgl. Erll 2008: 171 f.). 4.1.3 Relater et relier — narrative Verfahren der Sinnbildung Über die Inszenierung der homodiegetischen Erzählstimmen von Brigitte, Am‐ paro und Régis und deren Erzählformen thematisiert Ollivier in Passages sowohl auf der diskursiven als auch auf der inhaltlichen Ebene fortlaufend Fragen um Zeug: innenschaft und Zeugnis, Formen des Gedächtnisses und kollektiver Erinnerung(en). Dabei fällt zunächst auf, dass den weiblichen Figuren Brigitte und Amparo die Aufgabe zukommt, die Schicksale ihrer Toten, d. h. Amédée und Normand, mündlich zu bezeugen. 240 Die Berichte der Frauen repräsentieren ein mündlich vermitteltes, kollektives Gedächtnis, welches eng an traditionelle Wissensformen und kulturelle Praktiken anknüpft. Die beiden männlichen Figuren, Normand und Régis, hingegen sind es, die die momentgebundene Mündlichkeit der Frauen, das kommunikative Gedächtnis 241 der Oral History (Erll 2008: 166) aufzeichnen oder sie zu einem Schriftstück verarbeiten und damit in eine Dauerhaftigkeit, in ein (mögliches) kulturelles Gedächtnis über‐ führen (vgl. Zeitliche Dimension — Momente der Vergemeinschaftung). Diese Materialisierung konserviert die isolierten Einzelgeschichten und führt sie in einer Gesamterzählung zusammen, welche Zeugnis ablegt von der kollektiven Erfahrung von Migration, Exil und déracinement: Amparo demanda à Leyda ce qu’était devenu le récit des péripéties de Brigitte. Celle-ci avait enjoint Normand de le divulguer pour que la terre entière sache le prix que les pauvres gens payent dans leur quête désespérée d’un mieux-être […] Normand mort, je ressens l’extrême urgence de relater à sa place l’odyssée de Brigitte Kadmon. Quand je superpose le monde qui restitue Brigitte dans son récit au plan de l’aventure Normand-Amparo, la similitude est frappante (Ollivier 2001: 185 f.). Indem Régis als Erzähler die Berichte Amparos, Normands und Brigittes zusam‐ menbringt, führt er das Erbe Normands, der sich als Bewahrer des kollektiven Gedächtnisses‘ und Seismograph der Desillusion (vgl. Ollivier 2001: 205) begriff 174 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="175"?> und die Erinnerungen seiner Generation in ein Buch überführen wollte, weiter. Régis nimmt damit die Rolle eines écrivain public ein, welcher sich den Figuren ohne Stimme bzw. ohne Stimmrecht widmet, indem er von der ‚Geschichte einer Verwüstung‘ erzählt, deren letzte Zeug: innen sie sind (vgl. Harel 2005 : 223). Diese Geschichte, Passages, baut auf eben jenen betrauernden und bezeugenden Stimmen von Brigitte und Amparo auf, durch die Amédée und Normand erst Gestalt annehmen. Entgegen Régis, der als Figur gleichermaßen allwissend und unsichtbar (vgl. Nicholas 2002: 252) und so zwar als erzählende Stimme, aber nicht als Akteur/ Körper in der Erzählung präsent ist, nehmen die Körper der ‚Helden‘ Amédée und Normand zentrale Rollen als Akteure ein, können aber keine eigene Geschichte mehr hervorbringen. Um dem Vergessen zu entkommen, sind Amédée und Normand deshalb auf das Zeugnis, den Bericht und das Betrauern durch die Überlebenden angewiesen. Bezeugen, Betrauern, Berichten und In-Beziehung-Setzen stellen für Ollivier verschiedene Aspekte des Begriffes relater dar, dessen Bedeutung für sein literarisches Schreiben Ollivier in einem Essay mit dem Titel „L’enracinement et le déplacement à l’epreuve de l’avenir“ umreißt: La relation joue un rôle clé dans mon propos. Ce mot est pris ici dans un double sens : relater et relier. Relater en tant que témoin, à la fois celui qui observe et celui qui atteste ; relater ce qui est occulté, ce qui est refoulé, oublié, enfoui. Travail de deuil assurément, mais aussi travail de mémoire ; relier l’ici et le là-bas, l’autrefois, l’aujourd’hui et le demain. Et tout ceci dans la langue française, mais aussi contre la langue ; dans la clarté, mais aussi dans une sorte de chaos en prenant compte la polysémie sociale (Ollivier 2002). Olliviers Konzept des relater besitzt eine sozial-ethische Funktion, die über ein nüchternes Berichten hinausreicht. Als Trauer- und Erinnerungsarbeit entwi‐ ckelt sich dieses Berichten zum Zeugnis. Die Notwendigkeit Zeugnis abzulegen, zu bezeugen, rückt an die Stelle der schlichten Informationsweitergabe. Die Auf‐ gabe, marginalisiertes, verdrängtes und vergessenes Leben durch die Erzählung zu erhalten, erfüllt den Zweck, durch textuelle Erinnerungsorte ein kollektives Gedächtnis zu erzeugen, welches vergemeinschaftend wirkt. Zugleich erschafft das Erzählen des Verdrängten auch die Möglichkeit Mehrheitsgesellschaften und kollektive Vorstellungen zu dekonstruieren, indem es sichtbar macht, was nicht, nicht mehr oder noch nicht Teil der kollektiven Erzählung ist. Anhand der Erzählungen von Brigitte, Amparo und Régis illustriert Passages eben jenes bezeugende und dadurch auch vergemeinschaftende Potential des Erzählens. Neben dem Konzept des relater verweist Ollivier mit relier noch auf einen weiteren zentralen Begriff im Kontext seines Schreibens. Durch das Verfahren 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 175 <?page no="176"?> des relier, des Verbindens, Verknüpfens und Vernetzens, werden neue Bezüge zwischen Orten, Zeiten, Figuren und Geschichten hergestellt. Dieses verbin‐ dende Element lässt sich auch im Erzählen Régis’ wiederentdecken: Je reste aujourd’hui encore perplexe devant la suite des événements fortuits qui ont fait que deux histoires se déroulant sur deux registres différents, aient fini par cheminer côte à côte. Le hasard qui préside aux destins individuels en noue, dénoue, renoue les vagues […] Des existences qui ne semblaient avoir en commun que d’être soumises à l’inexorable écoulement d’un temps qui usait le rythme de leurs souffles, de leurs espoirs, se sont mêlées. Le parallélisme ne serait-il qu’apparence? (Ollivier 2001: 186). Hier ist es Régis selbst, der auf die Parallelen zwischen der Odyssee der Menschen aus Portà-l’Ecu und Normands Umherirren hinweist und damit die Praxis des relier verdeutlicht: Beide Charaktere Amédée und Normand brechen erwartungsvoll zu neuen Ufern auf, doch die Hoffnungen, welche beide hegen, werden zerschlagen und stattdessen ist es der Tod, der sie in Miami erwartet. Normands Geschichte und die Reise von Montreal nach Miami, die er unternimmt, spiegelt verzerrt das Leben Amédées und dessen Odyssee von Haiti nach Miami wider. Für beide Männer — und auch für Brigitte und Amparo — wird Miami zu einem Ort des Scheiterns (vgl. Nicholas 2002), markiert aber auch den Punkt, an dem sich die beiden Geschichten miteinander verweben. Doch die Verknüpfungen, welche der Roman herstellt, reichen weit über die zwei Geschichten, die sich im Miami des Jahres 1986 begegnen (vgl. Chemla 2015: 54), hinaus und beziehen ein ganzes Epos an Migrationen und Verschleppungen mit ein, welcher vom Lager Krome bis in die Zeit der Sklaverei zurückreicht: De l’enfermement de l’île à la prison de Krome, de l’inventaire des ratés au catalogue des renoncements, le même délicat problème de la migrance, un long détour sur le chemin de la souffrance. Passagers clandestins dans le ventre d’un navire, nous visitons non des lieux, mais le temps. […] Coureurs de fond, nous avons franchi cinq siècles d’histoire, opiniâtres et inaltérables galériens. […] Notre histoire est celle d’une perpétuelle menace d’effacement, effacement d’un paysage, effacement d’un peuplement : le génocide des Indiens caraïbes, la grande transhumance, l’esclavage et, depuis la mort de l’Empereur, une interminable histoire de brigandage. […] Et pourtant, nous franchissons la durée, nous traversons le temps, même si le sol semble se dérober sous nos pas (Ollivier 2001 : 184). Damit setzt Ollivier über seine Erzählerfigur Régis nicht nur die Geschichten von Brigitte, Amédée, Amparo und Normand in Bezug zueinander, sondern bettet sie auch in eine universelle Erzählung von Migration und Leiden ein. In dieser erscheinen Migration und Rückkehr in einer repetitiven, alternierenden, 176 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="177"?> 242 Hier deutet sich die vergeschlechtliche Dimension in den narrativen Verfahren an, so denn die weiblichen Figuren mit situativer, partikularer Mündlichkeit betraut werden, wohingegen die männliche Figur Régis nicht nur als ‚körperliche‘ Figur weitestgehend unsichtbar bleibt, sondern zugleich auch die Rolle übernimmt, den schriftlichen Ge‐ samtzusammenhang herzustellen und damit auch ein Allgemeines zu repräsentieren. sich unaufhörlich fortsetzenden und sich in den Figuren von Amédée und Normand spiegelnden Variation. Durch die Zeugnisse von Migration und Flucht, welche Brigitte und Amparo ablegen, und welche durch Régis in Beziehung zueinander gesetzt werden, wird das Erkennen der unausweichlichen Wieder‐ holung möglich. Relater und relier stellen dabei Praktiken der Beziehung bzw. des Sozialen dar und gerinnen zugleich zu literarischen, innertextlichen Verfahren. Relater als Trauer- und Erinnerungsarbeit (vgl. Ollivier 2002) erfolgt in Passages ins‐ besondere durch die mündlichen Berichte der beiden Frauen Amparo und Brigitte, während relier, d.h. das Verbinden und Verknüpfen der Ereignisse und Zeitschichten, vor allem in dem Schreiben Regis‘ repräsentiert ist. 242 Über diese zwei Dimensionen erzeugt der Roman Beziehungen zwischen den ver‐ schiedenen Figuren, aber auch zwischen der Gegenwart des Romans und einer realen Vergangenheit von Verschleppung, Flucht und Vertreibung. Auf diese Weise wird sowohl der überzeitliche Charakter der migratorischen Phänomene als auch die Kollektivität dieser Erfahrungen sichtbar. Ollivier erschafft somit einen literarischen Raum, innerhalb dessen Verdrängtes sichtbar gemacht und Vereinzeltes zurückgebunden wird an seinen sozialen Ursprung. Dieser Raum ermöglicht Erzählungen des Widerstandes und erschafft eine narrative Kollek‐ tivität, indem er Beziehungen initiiert und erhält. Solchermaßen finden relater und relier, Berichten und Verbinden, als Erzähltechniken und Verfahren der Sinnbildung ihren Eingang in Olliviers Passages, tragen so zur Konstruktion vom medialen, literarischen Gemein-werden bei und inszenieren Migration so als allgegenwärtige menschliche Erfahrung. 4.1.4 Der Niedergang des dörflichen (Zusammen-)Lebens in Port-à-l‘Ecus Die Thematiken von Vergemeinschaftung, kollektiver Identität und Zusam‐ menleben sind in Olliviers Roman auf diversen Ebenen präsent. Die Figu‐ rengruppe um Amédée entspricht als dörfliche Kohabitation herkömmlichen Vorstellungen von organischer Gemeinschaft am weitreichendsten. Bestehend aus den Bewohnern des haitianischen Küstenortes Port-à-l’Ecu zeichnet sich diese rurale Konvivenz durch eine enge Bindung an ihre landschaftliche Um‐ 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 177 <?page no="178"?> 243 Ollivier verweist hier auf den ersten bzw. zweiten November, der als Fèt gede im vodou gefeiert wird . Diese Feier ist den Toten sowie den lwa gede (eine Familie von lwa, die das Totenreich ‚beherrschen‘) gewidmet (vgl. Bollée/ Kernbichl/ Scholz u.-a. 2017: 118; Bollée/ Kernbichl/ Scholz u.-a. 2018: 639; Auzias/ Labourdette 2018: 69). gebung, gemeinsame Alltagspraktiken sowie eine Vertrautheit zwischen ihren Mitgliedern aus: Nous étions début novembre. La semaine avait passé à réjouir nos morts. Ces cérémonies étaient indispensables puisque nous ne savions pas combien de temps nous passerions loin d’eux. […] Les fêtes sont la splendeur des pauvres. Même si nous vivions par temps serré, nous ne sommes jamais pingres avec nos morts […] Et l’ambiance ! Une débauche de sons et de rythmes. Toute la nuit nous avons dansé […] Philéus Corvolan avait retracé les noms et les dates de naissance et de mort que le temps avait effacés sur les pierres tombales (Ollivier 2001: 99 f.). 243 Wie sich an dieser Stelle zeigt, ist das Zusammenleben in Port-à-l’Ecu geprägt durch gemeinsame Rituale und Feste, die die kollektive Identität erhalten, das Jahr strukturieren und den Toten eine besondere Bedeutung zusprechen. Das enge Verhältnis zwischen dem Boden und der diesen bearbeitenden Menschen bindet die Bewohner: innen materiell, körperlich und auch psychisch an die Umgebung (vgl. Harel 2005: 194), wie bereits die ersten Seiten des Romans nahelegen: Amédée avait juré qu’il mourrait sur sa terre non point par patriotisme, mais par paresse […] Le domaine était désormais livré aux dents rongeuses des cactus et de bayahondes qui servaient de décor à notre cauchemar éveillé. Un charnier peuplait notre vie. Malgré tout, malgré tous cela, Amédée se sentait en accord avec ce pays maudit, placé entre un horizon de rocailles et l’appel de mer. De cette terre, il savait tout, il avait tout vu, tout entendu (Ollivier 2001: 18 f.). Das Land fungiert hier nicht nur als Erinnerungsraum — worauf im nach‐ folgenden Teilkapitel noch einmal ausführlicher eingegangen werden wird — und natürliche Ressource, sondern erscheint zugleich als bedrohlich und dystopisch. Denn trotz seiner spirituellen und sozialen Bedeutung ist der Ort von fortschreitendem Verfall gezeichnet, der seinen Fortbestand und auch das Überleben seiner Bewohner: innen bedroht. Diese Bedrohung kündigt sich zunächst in einer plötzlichen und unerwarteten Trockenheit an, die sich nach dem Auftauchen und Tod eines ehemaligen Dorfbewohners im Dorf ausbreitet und Port-à-l’Ecu immer mehr zu einem unbelebaren Ort werden lassen (vgl. Raffy-Hideux 2013: 348). Mit der sich ausbreitenden Trockenheit, die die Lebens‐ grundlage der ruralen Kohabitation gefährdet, und der symbiotisch-symboli‐ 178 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="179"?> 244 Der ‘Wiedergänger’ lässt verschiedene Interpretationen zu: Als Sinnbild von Tod, Leiden und Bedrohung changiert seine Erscheinung zwischen der eines geisterhaften Boten aus einer bösen Unterwelt und einem ehemaligen Geflüchteten, dessen Aufent‐ halt auf der anderen Seite des Meeres (vgl. Ollivier 2001: 17) statt des erwünschten Reichtums Entbehrung, ‚höllisches‘ Leiden und den Tod brachte. Sein Auftauchen im Dorf kann dementsprechend ebenso als Fluch und Drohung wie auch als Warnung und Vorausdeutung des Verderbens, welches jenseits des Dorfes wartet, gelten. Zugleich lässt sich in der äußeren Erscheinung des revenants, sowie seiner Willenlosigkeit eine Analogie zur Zonbi-Figur erkennen (vgl. Dayan 2008: 36 f.), die im Dictionnaire étymo‐ logique des créoles francais d‘Amérique folgendermaßen beschrieben wird: „’zombie’ […] haï. Zombi‘revenant, être humain frappé de mort apparente et réveillé par le hougan après son enterrement […] living dead body without its soul“ (Bollée/ Kernbichl/ Scholz u. a. 2017: 391-392). Die Zonbi-Figur des haitianischen vodou unterscheidet sich jedoch deutlich von seiner populärkulturellen Repräsentation in westlichen Medien, der den Zonbi als untoten Kannibalen inszeniert. Delas übt in seinem Aufsatz „Le zombi, figure ultime de l’esclavage? “ (2007) Kritik an diesen westlichen Vereinfachungen der Figur und arbeitet die literarischen Repräsentationen des Zonbis bei Frankétienne und Depestre heraus. schen Beziehung von Mensch und Natur errinnert Passages stark an Gouverneurs de la Rosée und Motive des roman paysan. Ähnlich wie Fonds-Rouge, dem haitianischen Dorf in Roumains Roman, leben auch die Bewohner: innen in Port-à-l’Ecu in Rückgebundenheit an Traditionen und das zu bewirtschaftende Land (vgl. Munro 2012: 159). Dabei scheint in Passages, anders als bei Roumain, die Trockenheit in einem mysteriösen Zusammenhang mit dem Auftauchen eines ehemaligen Dorfbewohners zu stehen: Un midi réapparut au village, maigre, décharné, avec deux grands trous noirs à la place des yeux, un revenant du silence des enfers, un homme qui avait été expulsé de Port-à-l’Ecu des années auparavant. […] Le lendemain, on l’a trouvé mort dans le champ de maïs à la lisière de notre habitation, son coffret dans les bras. Aucune force humaine ne parvint à l’en extraire ni même à l’entrouvrir, si bien qu’il fallut l’enterrer avec son secret. […] A partir de ce jour où Célhomme a été mis en terre, l’eau a déserté Port-à-l’Ecu. […] L’agronome disait, lui, que l’abattage pratiqué de façon intensive, depuis que la scierie a été installée, avait détruit des barrières naturelles qui retenaient la terre et endiguaient l’écoulement des eaux. […] Le malheur avait croisé ses pieds sur nos poitrines (Ollivier 2001: 17 f.). 244 Auf den Tod von Célhomme, so erzählt es Brigitte, folgen neben der plötzlichen fatalen Trockenheit Massaker und mehrere tragische Todesfälle, Symptome sich verschlechternder Lebensbedingungen (vgl. Ollivier 2001: 56). Die Bedrohung für das Zusammenleben zeigt sich dementsprechend nicht nur als Ergebnis einer kapitulierenden Natur, sondern ist auch Ausdruck miserabler, prekärer 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 179 <?page no="180"?> Lebensbedingungen während der Duvalier-Diktatur, die immer stärker in das Leben im Dorf eingreift: La grande route, là-haut, d’où leur venait souvent la mort. Deux coups de feu, la vielle du mercredi du Cendres : Joseph Jean-Louis, le frère d’Odanis, abattu, le corps disloqué, jeté sur l’asphalte, le fils de Noelzina, Nicolas, un bambin de huit ans, un dimanche, littéralement projeté contre le grand mapou par un jeep Pajero qui ne s’est même pas arrêtée (Ollivier 2001: 55). Die Gründe für die fortschreitende Misere in dem Dorf sind bei Ollivier zwischen mysteriösem Fluch, der Ausbeutung und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen sowie der Gewalt der Duvalier-Dikatur zu finden. Anders jedoch als bei Gouverneurs de la Rosée, wo die Erlösung durch die Wiederkehr Manuels eintritt und die Rückkehr zur Praxis des konbit (vgl. Exkurs — Familie und lakou; Die ‚Entdeckung‘ des ländlichen Raums im roman paysan) sowohl die Wasserversorgung als auch die Einigkeit des Dorfes wiederherstellt, stellt sich für die Bevölkerung von Port-à-l’Ecu keine Rettung ein. Mit der Rückkehr des ehemaligen Dorfbewohners kündigt sich in Passages nicht wie bei Roumain die Rettung, sondern der Tod und der Niedergang der dörflichen Struktur an (vgl. Munro 2012: 152). In Passages versprechen weder der Staat oder ein politischer Zusammenschluss, noch Religion und Spiritualität oder die Natur, Rettung oder Hoffnung. Gewissermaßen wird so eine endgültige Zurückweisung des roman paysan vollzogen. Damit wird neuzeitlichen Gesellschaftsentwürfen ebenso eine Absage erteilt wie romantisierenden und politischen religiösen Heilsversprechungen. Diese Ausweglosigkeit, welche Brigitte bereits zu Beginn ihres Berichtes ein‐ leitet, indem sie Port-à-l’Ecu als Ort ohne Hoffnung auf Flucht und ohne Rettung (vgl. Ollivier 2001: 13) ankündigt, nötigt das Dorf zum Aufbruch. Anstelle des Bauern als widerständigen Akteur rückt die Flucht nach Nordamerika (vgl. Raffy-Hideux 2013: 287), die Ollivier als Ergebnis einer — vor allem männlichen — kollektiven Entscheidungsfindung zeigt: Amédée et les douze hommes se sont alors regardés et chacun, dans les yeux de l’autre, voyait déjà l’embarquement […] Il fallait partir, puisqu’il n’était plus possible de s’agripper à la terre, de protéger leur communauté […] puisqu’ils refusaient, eux, les plus rudes, les plus honorables, les plus orgueils, de redevenir esclaves (Ollivier 2001 : 31 f.) Die veränderten politischen und ökologischen Bedingungen verunmöglichen das Festhalten an den tradierten Lebensweisen und gefährden das Überleben der Gruppe. Aus dieser Situation erwächst die Notwendigkeit zur Flucht, da ohne 180 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="181"?> 245 So schreibt C.L.R. James in The black Jacobins. Toussaint L'Ouverture and the San Domingo revolution.: „As early as 1666, 108 ships went to the coast of Guinea and took on board 37,430 slaves, to a total value of more than 37 million, giving the Nantes bourgeoisie 12 to 20 per cent on their money. In 1700 Nantes was sending fifty ships a year to the West Indies […] Nearly all industries which developed in France during the eighteenth century had their origin in goods or commodities destined either for the coast of Guinea or for America“ ( James 2001: 59), und verdeutlicht so die Bedeutung, die Guinea für den Transatlantischen Sklavenhandel besaß. materielles, physisches Überleben keine Freiheit und somit die ‚Rückkehr in die Sklaverei‘ vorbestimmt scheint. Zugleich ist das Land jedoch nicht nur Wohnort und Basis für das physische Überleben, sondern vor allem auch spirituell besetzter Raum und lieux de mémoire und damit Grundlage für die Selbstverge‐ wisserung der dörflichen Vergemeinschaftung (vgl. Harel 2005: 200). Durch die enge Verbindung zwischen Individuum, sozialer Gruppe, Land und Gedächtnis führt der Bruch mit Port-à-l’Ecu zu einem Riss in der Vergemeinschaftung. Dieser Riss wird mit der abgeschlossenen ‚Passage‘ und der Ankunft in Miami, bei der nur noch ein kleiner Teil der ursprünglichen Besatzung am Leben ist, zu einer endgültigen Zäsur. In diesem Transformations- und Destruktionsprozess reaktiviert die Überfahrt über das Meer diasporische Wissensbestände, wie im Folgenden näher betrachten werden wird. 4.1.5 „Nous pourrons aller jusqu’en Guinée, si le cœur nous en dit“ — Diasporische Sehnsüchte Bevor die Flucht über das Meer das Ende der vorherigen ruralen Lebensweise endgültig einläutet, weist die dörfliche Kohabitation von Port-à-l’Ecu ein hohes Maß an kollektiver Organisation auf, wie sich insbesondere im gemeinsamen Bau des Bootes La Carminante, welches die Hoffnungen des Dorfes verkörpert (vgl. Vitiello 2002: 56), zeigt: Aucun voilier ne serait plus robuste que le nôtre; rien ne pourrait le casser (Ollivier 2001 : 103). La Carminante sera à toute épreuve et si, par bonheur, nous rencontrons des vents debout, nous pourrons aller jusqu’en Guinée, si le cœur nous en dit (Ollivier 2001 : 139). Die Erwähnung des afrikanischen Guineas durch Amédée unterstreicht die Stärke und Schaffenskraft der Vergemeinschaftung von Port-à-l’Ecu und deutet auch eine Art umgekehrte Middle Passage, ein Retour au pays natale,  245 an: It is difficult not to read their movement into the new passage as a continuation of a larger unfinished voyage, one that stretches back to the original Middle Passage. […] 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 181 <?page no="182"?> 246 Diese Textstelle kann sowohl als Ausdruck diasporischer Sehnsüchte und geographi‐ scher Entfernungen als auch als Ankündigung des drohenden Schiffsbruchs und des damit einhergehenden Todes vieler Dorfbewohner: innen im späteren Romanverlauf Even the name of the boat they construct […] ironically suggests a continuation of historical movement, of unrooted wandering (Munro 2012: 157 f.). Guinea als Ort, von dem aus viele der, in die Karibik verschleppten, späteren Sklav: innen stammten, symbolisiert den Ursprungs- und Bezugspunkt einer afrikanischen Diaspora, zu dem die Rückkehr unter den Bedingungen des Plantagensystems jedoch Fiktion bleibt. Der Begriff Diaspora, der ursprünglich aus der jüdisch-biblischen Geschichte entstammt, bezeichnet im Kontext dieser Studie (wie bereits in dem Kapitel Exkurs - Imagined communities: Nation und Diaspora dargelegt) „eine Gemeinschaft, die sich — durch Vertreibung oder Emigration — von einem ursprünglichen (oder imaginären ursprünglichen) Zentrum an mindestens zwei periphere Orte verteilte“ und für die die „Vorstel‐ lung eines gemeinsamen Ursprungs oder einer gemeinsamen Bestimmung“ (Mayer 2005: 13) sowie die Hoffnung auf Rückkehr weiterhin eine wichtige vergemeinschaftende Funktion besitzt. Vor einer diasporischen Folie betrachtet stellt Guinea, stellvertretend für den afrikanischen Kontinent, keinen beliebigen weit entfernten Ort dar, vielmehr kommt die Reise dorthin einer transgenera‐ tionellen, symbolischen Rückkehr zum Ursprung gleich. Dieser retour zum Ort der Vorfahren/ Ahnen beendet symbolisch die diasporische Erfahrung der Verschleppung (vgl. Mayer 2005: 80) und lebt in musikalischen, sprituellen und narrativen Praktiken fort. Der afrikanische Kontinent bleibt somit im kollektiven Bewusstsein der transplantierten Menschen und den aus der traite hervorgehenden afro-karibischen Gemeinschaften präsent. Aus dieser Präsenz konnten sich sowohl kollektive, (diasporische) Identitäten als auch Formen des Widerstandes, z. B. durch die Musik, erhalten und auch neu herausbilden, wie Mayer mit Rückbezug auf W.E.B. Du Bois betont: Die subtilen Übertragungs-, Fortschreibungs- und Imitationsprozesse bewirken für Du Bois ein unbewusstes und unterschwelliges Fortleben von afrikanischen Tradi‐ tionen in der Neuen Welt, und schaffen so eine Genealogie der Ausdrucksformen, der Erfahrungen und des Wissens, die unterhalb der dominanten hegemonialen Strukturen verläuft (Mayer 2005). Jenes Fortleben lässt sich auch in den kulturellen Praktiken der Kohabitation von Port-à-l’Ecu beobachten und geht einher mit dem Rückbezug auf ein imaginiertes Land der Ahnen, Guinea. 246 Das Land der Ahnen liegt jedoch nicht nur in der Ferne auf dem afrikanischen Kontinent, sondern wird von den 182 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="183"?> gelesen werden, denn Ginen steht stellvertretend für Afrika als Ursprungsort und Land der Ahn: innen (vgl. Bollée/ Kernbichl/ Scholz u.-a. 2017: 120). Dorfbewohnern zugleich auch in Port-à-l’Ecu verortet (vgl. Ollivier 2002: 19). Diese spirituelle und erinnerungssymbolische Überformung der Landschaft ist die Quelle der engen Verbundenheit zwischen den Dorfbewohnenden und ihrer Umgebung. Obwohl die diasporische Erfahrung in den kulturellen Praktiken des Dorfes noch spurenhaft, z. B. in der Bezugnahme auf ein verlorenes pays natale vorhanden ist, handelt es sich nicht mehr um eine Diaspora im engeren Begriffsverständnis, da der afrikanische Kontinent kein Sehnsuchts- oder Zufluchtsort mehr darstellt. Stattdessen lokalisieren sich Gedächtnis und Selbstvergewisserung der Bewohner: innen von Port-à-l’Ecu in der sie umge‐ benden Natur, wie die ersten Zeilen des Romans verdeutlichen: Il Y A LA MER, il y a l’île. Du côté de l’île, la mémoire n’est pas neuve ; elle n’est même plus très jeune. La moindre parcelle de terre peut être considérée comme un tertre magique où se sont réfugiés mânes des ancêtres, figures des héros de l’Indépendance, mystères, loas et dieux de sang. Montagnes et mornes, rivières ou estuaires, sources et lacs, routes ou sentiers, cases et crânes sont habités par la mémoire. Sans elle, pas de connaissance en profondeur (Ollivier 2001: 13). Die Landschaft fungiert hier als Mnemotop, d. h. als Raum, der hilft „den identitätsstiftenden Vergangenheitsbezug einer Gruppe oder Kultur sichtbar machen bzw. zu etablieren und aufrechtzuerhalten“ (Pethes 2015: 196). Hier fungiert demnach nicht eine spezifische Stelle als lieu de mémoire, vielmehr wird die gesamte insulare Sphäre zum Erinnerungsraum. Durch diesen Erinne‐ rungsraum stellt das Dorf gleichermaßen eine Verbindung zu der kollektiven Unabhängigkeitsgeschichte Haitis und der eigenen Familiengeschichte her, wie an der Figur Amédées ersichtlich wird: Amédée possédait une connaissance et une intelligence des êtres, une expérience intime et atavique des choses. La soixantaine largement entamée, cactus, oiseaux-mouches, fourmis rouges d’Amérique, jasmin de nuit, tuf, pierre à chaux, lui avaient au fil des années livré leurs secrets. Survivant d’un ordre archaïque, il avait la nostalgie des rites et des règles de l’ancien temps, héritage tenace. Au siècle passé, l’aïeul avant lui, avait eu la nostalgie de la Guinée (Ollivier 2001 : 19 f.). Mit dem Verlassen des insularen Erinnerungsraumes findet auch eine Ver‐ schiebung der kollektiven Verortung statt. Wo zuvor die Identität der Dorfbe‐ wohner: innen durch das Wissen um eine gemeinsame nationale Vergangenheit und die Bezugnahme auf die afrodiasporischen Ahn: innen bestimmt war, tritt 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 183 <?page no="184"?> nun der Verlust des Herkunftsortes hinzu und Haiti wird zum neuen Ziel einer ersehnten Rückkehr: Il nous faut abandonner une terre qui ne nous donne plus ni vivres pour apaiser notre faim, ni herbes pour nourrir notre bétail. Il en sera donc ainsi, Brigitte Kadmon Hosange. Je n’envisage pas un départ sans espoir de retour. Notre absence ne sera que provisoire. Nous reviendrons relever la tombe de nos ancêtres, donner à manger à nos morts et à nos loas (Ollivier 2001 : 53). Ils [Normand und Leyda, Anm. LB] ne croyaient pas quitter le pays pour longtemps […] A Montréal, ils ont continué à chanter, à danser la meringue de leur jeunesse. Ils ont nourri vingt ans de temps l’espoir d’un retour à „Jérusalem“, luttant avec ténacité contre l’oubli (Ollivier 2001 : 176). Die Sehnsucht nach einem realen oder mythischen Ursprungsort sowie das Narrativ von der erlösenden Rückkehr und des nur vorübergehenden Exils sind kennzeichnend für diasporische Gemeinschaften (vgl. Mayer 2005: 9) und finden sich, wie die Zitate verdeutlichen, bei den langjährigen, intellektuellen Exilierten Leyda und Normand ebenso wieder wie in den Erzählungen der neu angekommenen Dorfbewohnerin Brigitte. Im erneuten Migrationsprozess tritt Haiti an die Stelle von Guinea/ Afrika und wird zum ‚Jerusalem‘ zirkulie‐ render Subjekte. In dem Wort ‚Jerusalem‘ deutet sich bereits die symbolisch-re‐ ligiöse Aufladung des Herkunftsortes ab, die dem Diasporabegriff in seinen Ursprüngen innewohnt. Zusammen mit den kulturellen Praktiken und der Be‐ wahrung eines kollektiven Gedächtnisses nimmt Narration einer gemeinsamen Vergangenheit einen wichtigen Platz in der Herausbildung und Erhaltung der diasporischen Vergemeinschaftungen von Port-à-l’Ecu und Montreal ein. 4.1.6 Grenzen des Kosmopolitismus’ Wie bereits deutlich wurde, bilden sich diasporische Vergemeinschaftungen stark durch identitätsstiftende, kollektive Bezugspunkte heraus (vgl. Mayer 2005: 80). Indem sie sich über reale geographische Entfernungen hinweg und trotz diverser ‘neuer‘ Lebensumstände, weiterhin über eine Erzählung des gemeinsamen Ursprungs, als Vergemeinschaftung konstituieren, schreiben sie dem Imaginären, dem kollektiven Bewusstsein, eine zentrale Bedeutung zu. Vor jenem Hintergrund lassen sich diasporische Gemeinschaften als imagined communities (vorgestellte Gemeinschaften) im Sinne Benedict Andersons be‐ zeichnen (vgl. Mayer 2005: 14 f.). Anderson arbeitete in den 80er Jahren in Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism (1983) die Konstruiertheit von Nationen heraus und prägte in diesem Zusammenhang 184 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="185"?> den Begriff der Imagined Communities. Er geht davon aus, dass ein Großteil mo‐ derner Gemeinschaften imaginiert, konstruiert und zugleich sozial wirkmächtig sind (vgl. Erzählen als vergemeinschaftende Praxis — Imaginäres, Mythen, Nar‐ rative und Fiktion). Kommunikationsmedien, die moderne Konzeptionen von Gleichzeitigkeit und Vernetzung überhaupt erst ermöglichten, spielen für diese Konstruktionen eine wichtige Rolle, da durch sie unabhängige Ereignisse und Subjekte als verbunden und zugehörig zu einer kollektiven Identität imaginiert werden können (vgl. Mayer 2005: 16). Am Beispiel des Romans und der Zeitung legt er diese Repräsentationsprozesse dar: For these forms provided the technical means for ‘re-presenting’ the kind of imagined community that is the nation […] The idea of a sociological organism moving calendrically through homogenous, empty time is a precise analogue of the idea of the nation, which also is conceived as a solid community moving steadily down (or up) in history. An American will never meet […] more than a handful of his 240,000,000-odd fellow-Americans. He has no idea of what they are up to at any one time. But he has complete confidence in their steady, anonymous, simultaneous activity (Anderson 2016: 24 ff.). Die anonyme, simultane Aktivität einander unbekannter Individuen, welche Anderson beschreibt, begegnet uns auch in Passages. Auch hier werden, vermit‐ telt über Fernsehbilder, Radiotöne und leitmotivische Metaphern, imaginäre Gemeinschaften vorgestellt und konstruiert. In engem Zusammenhang mit den bereits behandelten diasporischen Vergemeinschaftungen, die sich „im Span‐ nungsfeld zwischen kosmopolitischer Losgelöstheit und einem radikalen Natio‐ nalismus, der sich nicht länger territorial definiert“ (Mayer 2005: 8) bewegen, entstehen hierbei haitianische bzw. nationale Gemeinschaftsentwürfe. Ähnlich wie in Andersons Analyse erfolgt auch im Roman das Aufrechterhalten bzw. der Rückbezug auf eine haitianische Identität und damit auf einen nationalen Gemeinschaftsentwurf vor allem medial vermittelt. So ist Haiti weniger als Ort der Handlung präsent, sondern (re)konstruiert sich, als imagined community, durch eine über Fernsehbilder und Radiotöne geteilte und erzählte Geschichte. Die affektive Bindung an das Herkunftsland, welche wir bei den Exilhaiti‐ aner: innen um Normand ebenso beobachten können wie bei der Besatzung von La Carminante, vollzieht sich vorrangig über das kollektive Gedächtnis, welches zum einen durch die im Einzelnen verankerten Geschichtserzählungen und zum anderen durch die zirkulierenden medialen Bilder lebendig bleibt. Diese Bilder lassen Normand auch in Miami an dem Sturz des Duvalier-Regimes teilhaben und halten so die empfundene Zugehörigkeit aufrecht: 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 185 <?page no="186"?> 247 Diese schmerzhaften Erinnerungen beziehen sich nicht nur auf das mal du pays, sondern gehen auch auf die traumatische Kindheitserfahrung, den Mord am eigenen Vater mitanzusehen, zurück. Die Erinnerungen an dieses Ereignis sucht Normand in Träumen heim (Ollivier 2001: 232 f.) 248 „Les amis de Normand étaient restés empoisonnée par l’obsession du retour au pays natal. Cette obsession, ils la distillent, la déversent dans cette revue. Normand passait son temps, s’échinait, se dépensait à créer des revues : Semences, Jonction, Poteaux […] La revue lui semblait plus vitale que l’air qu’il respirait […] un ersatz de l’impossible oubli […] ‘C’est d’ailleurs le prétexte d’un reportage sur la communauté haïtienne à Miami que Normand avait donné à ses amis pour justifier son voyage précipité’ “ (Ollivier 2001 : 80). Die Erwähnung von Normands kulturellen Aktivitäten in der haitianischen Diaspora kann als konkreter Hinweis auf Olliviers eigenen Tätigkeiten verstanden werden. Ferner erinnern die Titel der ersten beiden in ihrem botanisch inspirierten Vokabular stark an Glissantsche Begriffe der Créolisation. Daneben war Semences der Titel einer Revue, die während der Zeit der Duvalier-Diktatur von der Gruppe Haiti littéraire herausgegeben wurde (vgl. Munro 2012: 146 ff.; vgl. Phelps 2006), während es sich bei boutures um eine von 1999-2000 veröffentlichte haitianische Revue, in der sich auch Artikel von Ollivier finden (vgl. Île-en-île 2001), handelt. Normand écoutait distraitement les nouvelles de la planète cloutée d’affrontements, quand des images familières attirèrent son attention: la carte de sa moitié d’île, le palais national, le couple présidentiel (Ollivier 2001 : 131 f.). Trotz seiner langjährigen Abwesenheit, so wird in diesen Zeilen ersichtlich, fühlt sich Normand Haiti weiterhin zugehörig und vertraut, d. h., die imaginierte nationale Gemeinschaft behält über die geografische Entfernung hinweg ihr vergemeinschaftendes Potential. Elle [Leyda] avait participé à ce combat contre l’oubli, avait vécu ces années d’exil à côté de Normand, en perpétuant le souvenir du pays natal; une présence de tous les instants, une rémanence obsédante, pesante, un envoûtement dont il était difficile de se détacher […] Normand, lui, veillait sur ses blessures ; sa mémoire ne lui avait pas laissé le choix (Ollivier 2001 : 176 f.). 247 Die Erhaltung einer als Identität begriffenen Nationalität ist auf kollektive, kulturelle Praktiken und Erinnerungen angewiesen. Ebenso wie die Fernseh‐ bilder eine fiktive Teilhabe an einer fortschreitenden haitianischen Geschichte und Realität ermöglichen, scheinen auch literarische Revuen 248 und kulturelle Inszenierungen die fortdauernde haïtianité der Exilierten zu bestätigen: Un beau matin, Youyou n‘a pu supporter la vie à Montréal […] tout au fond de lui frémissaient encore la vielle ville de misère, la nostalgie de Port-au-Prince […] il ne pouvait se résigner à mutiler cette part de lui-même: „Il nous faut nous rapprocher du pays, disait-il, de façon à être prêts à reprendre place, si cela s’avère, un jour prochain, possible“. […] Au moins à Miami, raillait-il, on ne peut plus devenir américain. Les 186 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="187"?> Haïtiens, là, parlent leur langue, servent leurs dieux, chantent leur folklore et dansent leurs rythmes (Ollivier 2001: 177 f.). Haitianische Identität ist hier ganz eindeutig an Praktiken des kulturellen Le‐ bens gebunden und definiert sich in Abgrenzung zu einer americanité. Nationa‐ lität erscheint hier als ein inkorporierter Wesensbestandteil, der über schlichte Staatsangehörigkeit hinausgeht. Der Wunsch, diese Identität zu erhalten, ist so stark, dass Normand, wie Louise Gauthier schreibt, sich trotz seines kanadischen Passes weiterhin als Haitianer begreift: Normand, pour sa part, voyage avec un passeport canadien ; pourtant, à son arrivée à Miami, il déclare venir du Canada mais être Haïtien, ce qui lui vaut une hésitation de la part d’agent ; c’est finalement ce dernier qui s’écrira en reconnaissant le passeport : „Vous êtes canadien, que diable ! Puisque votre passeport est canadien“ (Gauthier 1997 : 67). Staatsbürger: innenschaft und Nationalität zeigen sich hier als zwei getrennte Phänomene: Erstere als rein formale, bürokratische Festlegung, letztere hin‐ gegen als affektiv besetzte Zugehörigkeit zu einer kollektiven Identität. Die Verankerung in einer kollektiven, haitianischen Identität wird als essentiell be‐ griffen und scheint zugleich im Exil permanent bedroht, sodass sie immer wieder inszeniert, bestätigt und erinnert werden muss. Die Fiktion einer nationalen, kulturellen Vergemeinschaftung ist indes nicht mehr auf eine geographische Verwurzelung angewiesen und wird auch als exterritoriale Enklave möglich, die neue kollektive Formen ausbildet. Die citoyenneté im Sinne von politischer Implikation und Identifikation mit einem Gemeinwohl ist dementsprechend im Fall von Normand im Bezug zu Haiti zu verorten, wie zum Beispiel anhand seines kulturellen und politischen Engagements zu beobachten ist. Doch trotz der starken Identifikationsmomente mit Haiti, welche sich sowohl bei Normand als auch bei der Bevölkerung von Port-à-l’Ecu zeigen, besitzt citoyenneté als Konzept für alle Figuren kein wirkliches politisches Potential mehr und verbleibt im besten Fall als fragmentierte, reduzierte und verstreute haitianische Identität (vgl. Munro 2012: 150). Damit treten an die Stelle der Bindung von citoyenneté an ein bestimmtes Territorium „neue haitianische Räume“: In a similar way, Ollivier rejects the concept of Diaspora, and prefers the term „new Haitian spaces” to describe the locales of Haitian exile: „for me, Haiti today is no longer 28 000 square kilometers. In the reconstruction of social and geographical spaces, there 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 187 <?page no="188"?> 249 Olliviers Beziehung zum Begriff der Diaspora erweist sich meines Erachtens als bisweilen komplex bis widersprüchlich. So lässt sich im Hinblick auf die textuellen Referenzen in Passages durchaus von einem diasporischen Bewusstsein bei den Figuren sprechen und Ollivier konstatiert zeitgleich auch in seinem essayistischen Werk eine Präsenz diasporischer Identitäten (vgl. Ollivier 2002: 91 f.). Daneben jedoch verwirft er an anderer Stelle, wie in der von Munro zitierten Passage, die Rede von einer haitianischen Diaspora. In dem vorliegenden Text wird deshalb die Strategie verfolgt, beiden Strängen d. h. Konzeptionen autonomer, deterritorialisierter haïtianité und diasporischen Sehnsüchten nach Rückkehr Raum zu geben. is a Haiti in Montreal, New York, and Chicago…So there is good reason to question this term diaspora” (Munro 2012: 150). 249 Diese fragmentierten, verstreuten und personalisierten Identitäten, welche Munro anführt, sind weiterhin an kollektive Identitäten und damit Versuche der Vergemeinschaftung geknüpft. Sie beschränken sich jedoch nicht auf einen definierten nationalen und lokalen Rahmen, sondern gehen über geographische Grenzen hinaus und weisen eine hohe Fluidität und Durchlässigkeit auf. Migrationen und andere Formen grenzüberschreitender Bewegungen, als kollektive Phänomene und individuelle Erfahrung (vgl. Nicolas 2002: 251), werden so zum Bindeglied zwischen verschiedenen Figuren und Gruppen. Jene Verflochtenheit wird auch in der Gestaltung des Erzähltextes sichtbar und ereignet sich mittels medialer Bilder, die als Leitmotiv(e) den Text infiltrieren und sowohl die Simultanität als auch die Vernetztheit bestimmter Phänomene und Ereignisse sichtbar machen. Eines dieser zentralen Motive sind die oiseaux migrateurs, welche wiederholt Thema der Fernsehnachrichten sind: La musique coulait, doux chuintement d’un ruisseau. Elle fut abruptement remplacée par un thème pompier. Et la voix du speaker mâle annonça : „Depuis trois semaines, l’hécatombe à West Point : des dizaines de milliers d’oiseaux migrateurs viennent agoniser sur les plages, atteints d’un mal mystérieux. Devant l’ampleur de cette catastrophe écologique, la réaction première a été d’accuser la pollution, une pollution exceptionnelle favorisant le développement d’un virus qui attaquerait des tribus de volatiles…“ (Ollivier 2001: 121). Als plötzlich auftauchendes Phänomen brechen die medialen Berichte über die, an den Küsten Floridas sterbenden, Zugvögel wiederholt in die Erzählung ein. Als Metapher für die vielen namenslosen Migrant: innen beenden sie ebenso das harmonische Dahingleiten klassischer Musik, wie sie auch die Fernsehbilder von Haiti ablösen: „Sur l’écran, aux images de l’île, succédèrent des centaines des cadavres d’oiseaux aquatiques jonchant une plage de Floride“ (Ollivier 2001: 132.). Zunächst nur akustisch, dann visuell, kündet das unerwartete und 188 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="189"?> 250 Die Parallele zwischen oiseaux migrateurs und den Exilierten, Migrierenden und Flüchtenden unterstreicht der Satz Amparos: „Oiseaux migrateurs, nous traversions plusieurs fois le globe“ (Ollivier 2001: 129). 251 Der abschließende Satz des Moderators, „Le rôle de nos centres de recherches et de protection aviaires n’est-il pas de prévoir ces phénomènes et de mettre en œuvre des mécanismes capable d’éviter ces catastrophes ? “ (Ollivier 2001: 133 f.), kann in diesem Kontext durchaus als ein Kommentar zu damaligen Fluchtkatastrophen interpretiert werden. 252 Das Stranden der Leichen geht im Verlauf der Erzählung dem Bericht über den Schiffbruch von La Caminante im Roman voran und doch wird schnell ersichtlich, dass es sich bei den leblosen Körpern um die Bewohner: innen von Port-à-l’Ecu handelt Der Abgleich der verschiedenen Zahlen, die Ollivier nennt, zeigen diese Evidenz auf: Von 67 Menschen, die mit La Caminante aufbrechen (vgl. Ollivier 2001: 138), treffen 43 als Leichen am Strand an (vgl. Ollivier 2001: 162) und 22 Überlebende werden in Krome interniert (vgl. Ollivier 2001: 174). ungeklärte Auftauchen der Zugvögel und ihr Dahinsiechen bereits die Tragödie an, welches sich ca. 30 Seiten später ereignet, als La Caminante Schiffbruch erleidet und tote Körper an den Strand von Miami gespült werden: Soudain, une grande agitation sur la plage. Amparo pousse un cri d’effroi. Les baigneurs pris de panique courent en tous sens. Normand se penche ; il voit émerger de l’eau des bras aux poings serrés. Sur la grève, des cadavres raides sont abandonnés par le reflux, pareils aux naufragés des légendes. „Jamais, dira Amparo à Leyda, jamais je n’oublierai le tumulte des mouettes […] je n’oublierai le spectacle de ces quarante-trois êtres humains en haillons, rigidifiés pour l’éternité“ (Ollivier 2001 : 162). Die Bilder toter Vögel an den Stränden Floridas sind bereits Vorboten der zukünftigen humanitären Katastrophe, mit der Ollivier eine ‚historische Epi‐ sode‘ (Hoffman 1995: 220) wieder ins öffentliche Gedächtnis ruft. So werden die oiseaux migrateurs zu migrants, deren Bilder ebenso durch die Nachrichten diffundieren, 250 wie es zuvor die Naturkatastrophe tat. Das Vogelsterben, dessen Ursprung im Anschluss in einer Fernsehdebatte unter Experten diskutiert wird, kann in Analogie zu den Debatten um Migration betrachtet werden, indem die migrierenden Subjekte unter den Blicken der Expert: innen zu Objekten werden. 251 Ähnlich eines Wissenschaftlers dokumentiert auch Ollivier die Zahlen der Flüchtenden, der Überlebenden und der Toten und macht so das Ausmaß der Tragödie sichtbar. 252 In der Metapher der Zugvögel, in Normands und Amparos Erinnerungen an ihre eigene exilierte Existenz und in den Verweisen auf den Atlantik als historischen Transit- und Transferraum, findet das Schicksal von La Caminante stellvertretend für die Vielzahl gescheiterter Fluchtversuche Widerhall. Durch die latente Anwesenheit medialer Bild wird die Gleichzeitigkeit der Duvalier-Diktatur und des Vogelsterbens in Szene ge‐ 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 189 <?page no="190"?> setzt, und somit, durch die Metapher der Zugvögel, eben jener Zusammenhang zwischen dem autoritären Regime Jean-Claude Duvaliers und den Ertrunkenen ersichtlich. Das Scheitern einer humanen und ökologischen Politik, manifestiert sich in ans Ufer getragenen Tier- und Menschenkörpern, erklingt dabei als vages Echo einer europäischen Kolonialisationspolitik: La foule hostile, agressive, martèle l’asphalte d’un pas guerrier. „A la mer ! A la mer ! “ hurlet-elle. […] Christophe Colombe était venu de la mer ; tous les malheurs de ce peuple lui sont toujours venus de la mer : Les négriers, les flibustiers, l’armada du général Leclerc, l’occupation américaine, les cyclones, la petite vérole, la syphilis, le sida. […] La conquête est à l’origine de tous ses malheurs (Ollivier 2001 : 219). Wie bereits zuvor mit dem Verweis auf Guinea, begegnen wir auch hier der komplexen Verknüpfung von Kolonialisierung und Versklavung und multiplen Migrationsphänomenen der Gegenwart (vgl. Gauthier/ Larose/ Mathurin u. a. 1985: 3). Vergangene koloniale Expansionspolitiken stehen bei Ollivier am Anfang späterer unheilvoller Entwicklungen, die neue drängende Notwendig‐ keiten zu flüchten hervorbringen. Die Vergangenheit des transatlantischen Sklav: innenhandels mit seinen weitreichenden Folgen eröffnete den karibischen Raum als Umschlagplatz für Menschen, Sprachen, Güter und Ideen. Für Émile Ollivier setzt sich diese besondere Konfiguration der karibischen Gesellschaften auch in der Gegenwart fort, wodurch sie zu ‚echten Fabriken von Migrant: innen‘ und zu ‚Gesellschaften der Passage und des Transits‘ werden (vgl. Gauthier/ La‐ rose/ Mathurin u. a. 1985: 5). Zum Speichermedium (Ette 2010b) dieser sich überkreuzenden, wiederholenden, spiegelnden und umkehrenden Bewegungen von der ersten Conquista über die Middle Passage hin zu den boat people der 1980er Jahre wird das Meer. Mit dem Black Atlantic, als „Begegnungsraum, als Kontaktzone und als Austauschsphäre“, wird der Fokus jenseits nationalstaat‐ licher Grenzziehungen auf das ‚Dazwischen‘ gelenkt (vgl. Mayer 2005: 81). In der Analogie zwischen Flüchtenden und Zugvögeln zeigt sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber humanitärer und ökologischer Katastrophe, welche diese als Teil einer absurden Normalität akzeptiert. Migrant: innen erscheinen in dieser Wahrnehmung als Andere, die wie Tiere massenhaft an Küsten versterben oder eingesperrt werden. Hier zeigt sich, dass dem Schicksal der Gruppe um Amédée nicht mit Konzepten von citoyenneté oder Kosmopolitismus nahegekommen werden kann, da der Zugang zu beiden Modellen für die Geflüchteten versperrt bleibt: Ever since Hannah Arendt’s (2000 [1949]) sharp criticism of universal human rights as a failure unless there a citizen rights to protect them through government, the question has been whether cosmopolitanism with its implicit universalism can include some 190 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="191"?> kind of citizenships. Both international law and nation states have failed to guarantee rights for the many victims of war that lost either their citizenship or their possibility to stay in their countries (Lettevall 2020: 92 f.). Während Ollivier in Passages Appelle an universale Bürger: innen- und Men‐ schenrechte unterlässt, Ideale gelingender Staatlichkeit verwirft sowie Vorstel‐ lungen eines freien kosmopolitischen Individuums eine Absage erteilt, so gelingt es ihm doch die migrierenden, exilierten und marginalisierten Figuren nicht der Singularität und der Vereinzelung preiszugeben, indem er Migration und grenzüberschreitende Bewegungen als omnipräsente, universale Erschei‐ nung inszeniert. So bleibt auch die den Text durchlaufende, fluide Vielheit der Fliehenden, Migrierenden und Irrenden nicht auf den karibischen Raum beschränkt, wie ein Radiobeitrag zum Ende des Romans verdeutlicht: Pour calmer mon impatience, j’allume la radio „Mille kilomètres de dérive en mer de Chine pour une cinquantaine de boat-people vietnamiens qui, terrassés par la faim, ont tué un de leurs compagnons et l’ont mangé “, annonce le speaker. Je presse sur le bouton digital. Je n’ai pas l’esprit à m’abreuver des bruits et des horreurs du monde (Ollivier 2001 : 244). Die translokale, mediale Öffentlichkeit, welche Ollivier durch das Verknüpfen und Verzahnen verschiedener Ereignisse und Figuren erzeugt, eröffnet den Blick auf Parallelen, Wiederholungen und Kontinuitäten. Das In-Beziehung-Setzen entfernter Teile der Welt fasst verschiedene Migrationsphänomene zu einem Gesamtkomplex zusammen. Ohne die Schrecken von Fluchterfahrungen zu ne‐ gieren, erklärt Passages Migration zu einem Normalfall modernen Menschseins, während gesicherte Lebensbedingungen und ungebrochene Zugehörigkeit zu einem Territorium privilegierte Ausnahmen bleiben, die in dem Roman auf keine der Figuren zutreffen. Auf diese Weise entwirft Ollivier eine neue Reprä‐ sentanz der Menschheit, die nicht mehr weiß, autonom und bürgerlich, jedoch hochgradig prekär, marginalisiert und mobil ist. 4.1.7 Politische Desillusion und Literarische Solidarität(en) Trotz dieser Tendenz entwirft Passages keine Perspektive auf eine bessere Zukunft oder soziale Utopie, stattdessen lässt Ollivier seine Figur Régis ange‐ sichts einer verstörenden Gegenwart Abstand nehmen von dem Lärm und den Schrecken der Welt (vgl. Ollivier 2001: 244). Von der einstigen revolutionären Aufbruchsstimmung im Geiste Depestres, Roumains und Alexis‘ (vgl. Munro 2012: 176), welche Normand und Regis Jugend prägte, sind bei Régis nur noch 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 191 <?page no="192"?> Fragmente vorhanden, während sie bei Normand weiterhin ein wichtiger Bestandteil seines Selbstverständnisses sind: Il [Normand] appartenait à cette génération imprégnée d’idéalisme révolutionnaire, qui devait presque tout à Marx, au Che, à la révolution cubaine. Une génération d’êtres tombés de haut et qui n’en finissaient pas […] de chercher opiniâtrement la juste place à accorder à la politique, à la vie quotidienne, à l’amour. Parce que leurs discours sur la réalité ne correspondaient pas à leur vécu, encore moins à leurs souhaits, ils trainaient avec eux une conscience malheureuse, perpétuellement insatisfaite. Normand, les derniers temps surtout, se croyait archiviste de la mémoire collective (Ollivier 2001 : 205). Diese Identifikation mit einem revolutionären Idealismus zeichnet Normand als Teil einer Generation aus und geht mit einer weiteren kollektiven Identität einher. Die Bezugnahme auf revolutionäre Ideen und rebellische Ereignisse stellt nicht nur einen wichtigen Bestandteil von Normands Leben dar, vielmehr taucht sie im Roman auch als konstitutives Element der haitianischen Geschichte auf. Sowohl in den Verweisen auf eine rebellische und gewaltvolle Vergangenheit als auch in den medialen Bildern einer widerständigen Gegenwart erfolgt eine Reinszenierung Haitis als revolutionäre Nation: Les vingt-huit années qu’avait duré le régime, parsemées de résistance, de révoltes et de luttes armes avortées, avaient donné leur plein de tueries et de carnages. La tempête qui devait bouleverser le pays commença aux Gonaives […] Ils sont debout, hommes, femmes et enfants à la mamelle ; ils avaient congédié la peur et, contre l’espoir hissé au zénith, soudain devenaient impuissants le gaz lacrymogène, la mitraille, les canons des tourelles. L’horloge de la révolte marquait l’heure juste (Ollivier 2001: 82 ff.). Der Fall des Duvalier-Regimes kündigt sich hier als ein historischer Moment an, der das Potential zu besitzen scheint, verschiedene soziale Gruppe zu einen und auf diese Weise mit der Ohnmacht und den Spaltungen der vorangegangenen Jahre zu brechen. Trotz dieses verheißungsvollen Neubeginns und einer bis zum Jahre 1804 zurückreichenden Geschichte des Widerstandes sieht Normand darin kein siegreiches Heldenepos, sondern eine Vergangenheit durchzogen von Rückschlägen, Desillusion und Resignation: „Agitation de surface! “ […] „En vérité, me dit-il, l’histoire bouge difficilement dans ce pays. […] On n’a jamais pardonné à ce peuple d’avoir cru, ce matin de 1804, à la liberté (Ollivier 2001: 221). In der Bewertung durch Normand und durch Amédée erscheint jeder Wider‐ stand der armen und prekären Bevölkerungsgruppen immer nur als ein kurzes 192 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="193"?> Auflodern eines besseren Lebens, bevor erneut stärkere Mächte ihre Interessen durchsetzen können: De tels agissements ne seraient-ils pas immanquables assimilés à la révolte? […] Dès que nous, paysans, nous levons la tête pour défendre notre terre contre les voleurs, les pillards, on nous la rabaisse avec un chapelet de coups de bâton. […] Nous nous sommes rebellés. Il nous est venu de la ville une cavalcade de chevaux alezans, montés par une cavalerie armée jusqu’aux dents, qui a parcouru les mornes, pillant, incendiant les maisons, violant les femmes (Ollivier 2001 : 28). Obgleich der Roman den Sturz der Duvalier-Diktatur 1986 durch die Aufstände der Bevölkerung aufgreift, scheint sich doch kein wirkliches Ende von Mi‐ sere und Unterdrückung abzuzeichnen. Stattdessen erzählt Ollivier fünf Jahre nach dem realen Ende Duvaliers von Resignation und Stagnation (vgl. Munro 2012: 155). Die traditionelle Trope von Widerstand, so schreibt Martin Munro, scheint durch einen endlosen Kreislauf repressiver Geschichte geschwächt und Passages als finale Erfüllung von Roumains prophetischer Vision: A devastated land and a disempowered people, for whom the promise of salvation through revolutionary politics or collective work is now irreversibly confined to the realms of myth. Similarly, the anticolonial trope of resistance is now powerless to bring about any real change, or even to engender hope (Munro 2012: 155). Obwohl ich Passages weniger als eine abschließende Realisierung propheti‐ scher Visionen begreife, so stimme ich Munro doch insofern zu, als dass der Roman keine Auswegsoption aus Tod, Flucht und Entwurzelung aufzeigt und auch kein erfolgreiches, durchgängiges Widerstandsnarrativ hervorbringt. Statt wirkliche Veränderung zu erwirken, ermöglichen widerständige Praktiken nur noch Momente kurzzeitiger Vergemeinschaftung. Munro spricht in diesem Kontext von einem ‚Adieu à la révolution‘, das einen Schlussstrich unter einen haitianischen Traum vom Sozialismus zieht (vgl. Munro 2012: 176 f). An die Stelle konkreter Kohabitation und Konvivenz wie noch in Port-à-l’Ecu treten imaginäre Gemeinschaften, deren Verheißungen nicht eingelöst werden können. Weder eine nationale Erzählung der fortschreitenden Geschichte oder die diasporische Hoffnung auf Rückkehr noch die Einlösung revolutionärer Versprechungen oder der Traum von der Flucht in ein besseres Leben erfüllen sich. Lucienne Nicolas liest diese desillusionierte Tendenz des Romans zudem als Ausdruck Olliviers persönlicher Enttäuschung vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen im Haiti der 1990er Jahre: Passages est donc un roman par lequel l’auteur manifeste son désenchantement face à une histoire qui n’évolue pas […] L’atmosphère est à l’incertitude dans ces années 1990 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 193 <?page no="194"?> de la publication de Passages où le processus démocratique se fait lentement en Haiti et où chaque lueur d’espérance finit par estomper. Ce n’est pas par hasard, comme le dit Émile Ollivier, si les personnages, Leyda, Amparo et Normand, appartiennent tous à la génération de ceux qui ont vécu les grandes espérances du début des années 1960. L’auteur exprime aujourd’hui sa déception après ses vaines attentes, et se fait ainsi le porte-parole de ses contemporains dans ce roman de la répétition des départs définitifs, des errances, des rêves avortés et de l’échec (Nicolas 2002 : 257). Die zeitliche Einordnung, welche Nicolas hier vornimmt, ermöglicht es einen Bezug zwischen Olliviers Roman und dem damaligen Zeitgeschehen in Haiti herzustellen. Passages zeigt auf, wie kollektive und individuelle Versuche, Akteur: in des eigenen Schicksals zu werden, fast ausnahmslos scheitern und dabei die anonyme Masse fragiler Leben und deren unzähligen Versuche, diesem zu entkommen, freilegen. Über die Verfahren des relater und relier erschafft Ollivier jedoch Beziehungen zwischen anonymen Gruppen an Ge‐ flüchteten und den konkreten Figuren der Romanhandlung, die gerade das Fehlen einer Vergemeinschaftung noch stärker hervortreten lassen. Ollivier versammelt in Passages eine Vielzahl vergemeinschaftender Momente sowie Formen (imaginierter) kollektiver Identität wie Dorfgemeinschaft und familiäre Abstammung/ Ahnen, Generation, Nationalität, Diaspora und migratorische Menschheit. Trotz dieser Anzeichen bilden sich jedoch weder konstante noch transitorische Vergemeinschaftungen heraus. Stattdessen zerfallen konkrete kollektive, soziale Formen — wie jene von Normand und seiner Generation geeint in einem revolutionären Idealismus oder wie jene von Amédée und den Bewohner: innen von Port-àl’Ecu — mit dem Tod der beiden Protagonisten. Mit dem Ende von Amédée und Normand, die beide die kollektiven Erinnerungen inkarnieren, lösen sich auch die Gruppen, denen sie angehörten, auf. So zeigt sich, dass auf der Ebene der Figuren kein positiver bzw. gelingender Versuch von Vergemeinschaftung zu erwarten ist. Allenfalls können wir von fluiden, imaginierten und fragilen Versuchen der Vergemeinschaftung sprechen. Diese werden jedoch weniger von den Figuren als solche erlebt, vielmehr erschließen sie sich erst im polyphonen Gesamtensemble von Olliviers Text. Gleichwohl flüchtet sich Ollivier auch nicht in das Phantasma eines liberalen, kosmopolitischen Individualismus als Alternative zu kommunitaristischen und kollektiven Lebenskonzeptionen, wie es sich in dem Kapitel Kosmopoli‐ tische Unternehmungen zwischen vagabondage und Verflechtung — Louis-Phi‐ lippe Dalembert : L’île du bout des rêves (2003) andeutet, sondern hinterfragt das Befreiungspotential von Migration und das damit einhergehende Verspre‐ chen ‚postnationaler‘ Identitäten (vgl. Munro 2012: 176). Überhaupt scheint die gegenüberstellende Auseinandersetzung zwischen kommunitaristischen, 194 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="195"?> 253 In dem gleichen Essay spricht Ollivier von der Lesbarkeit der Welt, zu der Literatur ihren Teil beizutragen hat : „A chaque fois qu’un livre permet d’améliorer la lisibilité du Monde, de susciter adhèsion des lecteurs et de participer à l’amélioration des sociétés et des cultures, il faut tenir cela pour un miracle“ (Ollivier 1995 : 233). kollektiven Konzeptionen und einem liberalen Individualismus bei Ollivier entschieden weniger Raum einzunehmen als in den Romanen von Trouillot und Dalembert wie sich in nachfolgenden Kapitel noch zeigen wird. Vielmehr verfolgt Olliviers Roman das Ziel, ‚die Lesbarkeit der Welt zu verbessern‘ (Ollivier 1995), 253 indem er in einen polyphonen Dialog mit der Welt tritt: Vivant dans une histoire mouvementée, il revient aux écrivains et à leur public de trouver, comme disait Nietzsche, „le chemin dans le cheminement“. Mais, alors, demanderez-vous, comment parvenir à repérer de nouvelles balises dans un monde où les repères se sont effondrés, les certitudes devenues obsolètes […] En retouchant terre et en renouant le dialogue avec le corps dans ses mutiples relations avec le monde (Ollivier 1995: 235). Anstelle also in Passages Entwürfe eines neuen, gelingenden Zusammenlebens zu entwerfen, spielen sich diese Formen in der außertextuellen Welt ab. Damit kann Passages als ein Roman verstanden werden, der in Teilen verwirklicht, was mit Richard Rorty als eine Form der (literarischen) Solidarität verstanden werden kann. Diese literarische Solidarität begreift Richard Rorty : nicht als ein Faktum […] das erst durch das Ausräumen von „Vorurteilen“ […] erkennbar wird, sondern als anzustrebendes Ziel. Es ist nicht durch Untersuchung, sondern durch Einbildungskraft erreichbar, durch die Fähigkeit, fremde Menschen als Leidensgenossen zu sehen. Sie wird dadurch geschaffen, daß wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, uns nicht vertrauter Arten von Menschen steigern […] Der Prozeß, in dessen Verlauf wir allmählich andere Menschen als „einen von uns“ sehen statt als „jene“, hängt ab von der Genauigkeit, mit der sie beschrieben wird […] Das ist eine Aufgabe nicht für die Theorie, sondern für Sparten wie […] Comic-Hefte, Dokumentarstücke und vor allem Romane (Rorty 2012: 15 f.). Die Bedeutung, welche Rorty der Literatur für die Verwirklichung eines solida‐ risch(er)en Zusammenlebens zuspricht, begründet sich neben ihrem Potential, Empathie und Inklusion hervorzurufen, auch darin, dass literarische Verfah‐ rensweise der Versuchung singulärer und absoluter Erklärungsversuche und Repräsentationsformen entsagen und zugleich utopisches Denken fortführen (vgl. Rorty 2012: 16). In diesem Sinne serviert uns Passages keine idealisierten, neuen Formen des Zusammenlebens, vielmehr unternimmt der Roman den 4.1 Von der condition humaine zur condition migratoire — Emile Ollivier : Passages 195 <?page no="196"?> Versuch, marginale Existenzen sichtbar und ‚lesbar‘ werden zu lassen, indem in Passages die Condition migratoire, als prekäre und vulnerable Existenz, auf allen Ebenen als die condition humaine par exellence präsent ist. Olliviers Schreibverfahren zielen darauf ab, über die Dialoge zwischen Text, Autor und Leser: innen neue Beziehungen zur Welt zu etablieren, aus denen neue soziale Formen entstehen können, denn wie Simon Harel schreibt: Les écrits d’Ollivier […] font du migrant un sujet libre mais également porte par le discours d’autrui. En fait, ces écrits refusent avec passion et véhémence que le sujet migrant (réfugié, exilé, sans-papiers) soit oublié et privilégient la création de sites d’appartenance où l’écrivain public se fait le porte-parole actuel et vivant d’un nouveau récit de soi sans complaisance[…]Il faut comprendre que l’écriture migrante, malgré ses formes polynarrative et aterritoriale trace la voie d’un compromis honorable qui ruse avec la potentialité de la subversion et permet aussi, en vertu d’un aménagement bien réel de trouver pour soi et pour les autres un lieu habitable dont l’écriture représenterait l’espace partagé (Harel 2005: 225 f.) Literatur offenbart sich hier als espace partagé, als Speichermedium und Ort der Begegnung zugleich, welches dem Vergessen entgegenwirkt. In diesem Sinne zeigt sich vergemeinschaftendes Potential, wenn überhaupt, nicht in der Literatur, sondern durch jene Literatur, die neue Erinnerungsorte schafft. Hier zeigen sich die Verbindungen zu Rorty, denn wie Markus Wiefarn in der Auseinandersetzung mit diesem betont, besitzt Literatur und im Besonderen der Roman ein Potential, Lesende mit einer Vielzahl von bisher unbekannten oder missachteten Perspektiven zu konfron‐ tieren […]Rortys Gemeinschaften werden nicht rational begründet und erweitert, sondern empathisch — sie sind in erster Linie Lesegemeinschaften beziehungsweise Gemeinschaften von Lesern, die sich wechselseitig durch das Medium der Literatur wahrnehmen und bewerten (Wiefarn 2013: 284 f.). Im engeren Sinne entwickelt Ollivier in Passages weder Entwürfe des Zusam‐ menlebens in einem post-diktatorialen Haiti noch beruft er sich (positiv) auf Vorstellungen von Kosmopolitismus, citoyenneté oder Freiheit. Vielmehr können die Lebens- und Irrwege seiner Figuren als kritische Kommentare zu den Verheißungen ebenjener emphatischen Konzepte europäischer Provenienz verstanden werden, die für die marginalisierten, prekären Massen jenseits einer okzidentalen citoyenneté kaum zugänglich sind. Trotz jener Tendenz zu Dekonstruktion deuten Olliviers beziehungsstiftenden und vernetzenden Erzähltechniken darauf hin, dass die Hoffnung auf kollektive Weltzusammen‐ hänge und Erfahrungen und daraus entwachsende Vorstellungen einer diversen, 196 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="197"?> 254 Unter posthumanistisch verstehe ich auch in Anknüpfung an Rosi Braidotti „die Ablehnung einer Artenhierarchie“ und den Versuch Beziehungen zum „vielfältigen Anderen“ aufzubauen, die eben nicht auf die menschliche Spezies begrenzt bleiben, sondern „nichtanthropomorphe Elemente“ miteinschließt (vgl. Braidotti 2016). multiplen Menschheit nicht gänzlich aufgegeben ist und jenseits der single-story (Adichie 2009) als eine Aufgabe der Schreibenden und Lesenden verbleibt. 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen 254 Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé (2003) 4.2.1 Intime Schreibweisen des Politischen bei Kettly Mars Kettly Pierre Mars, Autorin, Feministin und aktuell Direktorin des Centre PEN in Port-au- Prince, stammt aus einer haitianischen Mittelschichtsfamilie und tritt, obwohl sie bereits früh ihre Begeisterung für die Literatur entdeckt, erst 1996 mit 38 Jahren und damit vergleichsweise spät als Schriftstellerin in Erscheinung. In jenem Jahr erhält sie den Prix du Concours Jacques-Stephen Alexis de la Nouvelle für Soleils contraires (vgl. Spear 2003). Sieben Jahre später veröffentlicht sie ihren ersten Roman Kasalé (2003) und publiziert von da an regelmäßig Romane mit internationalem Erfolg. Ihre Texte sind neben dem frankophonen Ausland vor allem auch in Deutschland bekannt, wo ein großer Teil ihrer Romane in dem auf haitianische Literatur spezialisierten Verlag Litradukt übersetzt und verlegt wird. Mars, 1958 geboren, gehört zu einer Generation haitianischer Autor: innen, die unter der Regentschaft von François und Jean-Claude Duvalier aufwachsen und deren Schreiben von dieser Erfahrung eklatant geprägt ist (vgl. Mars/ Ménard 2011: 229). Kettly Mars hat sich mit Romanen wie L’heure hybride (2005), Fado (2008), Sai‐ sons sauvages (2010) oder Au frontières de la soif (2013) und Je suis vivant (2015) als eine Schriftstellerin etabliert, die Sexualität, Begehren und vor allem die Lebensrealitäten von Frauen schonungslos und gleichzeitig mit viel Gespür für Widersprüche und Nuancen in ihren Erzähltexten thematisiert. Dabei betrachtet Mars die Leben ihrer Protagonist: innen immer im Kontext gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, die sich nicht selten in Form von Gewalt und Missbrauch bis in die intimsten, privatesten Beziehungen hinein auswirken. Der private Raum ist bei Mars selten ein unpolitischer, friedlicher Ort, vielmehr ist er eben jener Schauplatz, an dem sich Machtverhältnisse und Dominanzstrukturen wie unter einem Brennglas konzentrieren. Diese Politisierung des Privaten kann als Teil eines feministischen Schreibprojektes (vgl. Vorbe 2012) begriffen 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 197 <?page no="198"?> werden, indem weibliche Figuren nicht nur als Insignien der Macht gehandelt werden, sondern nicht selten selbst ihrem Begehren nach Macht und Sexualität Ausdruck verleihen (vgl. Borst/ Mars 2018: 118). Auf diese Weise wird der Raum affektiver und intimer Beziehungen Ort von Aushandlungen und Kampfplatz zugleich, ein Merkmal Mars‘ Romane, über das Joëlle Vitiello schreibt: Le politique fait partie non d’une trame séparée, mais de la trame quotidienne des personnages, s‘insérant dans les réactions les plus infimes comme les plus déterminantes. […] Le politique est présent sans être nécessairement représenté comme tel (Vitiello 2011 : 371). Dieses Schlachtfeld privater Beziehungen, auf dem minutiös und zugleich mit einer passionierten Rohheit die Machtspiele des Gesellschaftlichen ausgetragen werden, offenbart sich in den meisten von Mars‘ Romanen. Besonders deutlich wird diese intime, körperliche Beschreibung des Politischen in Saisons sauvages, ein Roman, in dem Mars die komplexen Verstrebungen und Bruchstellen von Race-, Class- und Gender-Achsen zur Zeit der Duvalier- Diktatur anhand einer Familie seziert. Saisons sauvages kann in der Tradition von Marie Vieux-Chauvet und ihrem bekanntesten Werk, der Trilogie Amour, Colère et Folie (1968), gesehen werden, wie Yves Chemla unterstreicht: „Kettly Mars se revendique d’une affiliation intellectuelle à l’œuvre de Marie Chauvet, par ce point de vue plus particulierement et plus résolument féminin dans l’écriture“ (Chemla 2015 : 187). Amour, colère et folie wickelt, ähnlich wie Saisons sauvages, die autoritären, politischen Verhältnisse entlang einer bürgerlichen Familie auf und legt dabei die rassistischen und patriarchalen Strukturen und Besitzverhältnisse frei. Ähnlich wie die Duvalier-Diktatur in Kasalé und Saisons sauvages die poli‐ tische Bühne darstellt, auf der sich die persönlichen und familiären Dramen produzieren, nimmt Mars in Aux frontières de la soif (2013) und Je suis vivant (2015) das Erdbeben von 2010 zum Anlass, um die Realität der aus der Misere geborenen Prostitution Minderjähriger im ersten Fall oder die komplexen Beziehungen einer bürgerlichen Familie, im zweiten Fall, zu examinieren. Wendepunkte und Phasen der haitianischen Geschichte sind bei Mars niemals nur Kulisse, sondern bringen - im Sinne des feministischen Paradigmas: ‘Das Private ist politisch‘ (vgl. Stövesand 2013: 71) - spezifische Beziehungsformen hervor. Dabei sind es ausdrücklich weibliche Figuren, auf welche Mars in ihrem Schreiben einen besonderen Fokus legt, wie sie selbst in einem Interview mit Thomas Spear sagt: J’ai un intérêt à aller voir comment ça se passe, comment on vit tout ça. Et comment les femmes vivent tout ça, parce que je suis une femme, et parce que je suis une femme écrivaine, une condition qui a subi jusqu’à présent des contraintes que j’essaie 198 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="199"?> 255 Im Gegensatz zu Mars‘ späteren Romanen hat Kasalé eine entschieden geringere Auf‐ merksamkeit in akademischen und journalistischen Kreisen erhalten. Dieser Umstand lässt sich auch daran ablesen, dass Kasalé seit 2007 nicht mehr neu aufgelegt wurde. d’analyser, d’envisager, de comprendre et de ne pas subir moi-même, de m’affranchir de certaines choses (Mars/ Spear 2010). Die zentrale Stellung, welche weibliche Figuren und ihre Lebensrealitäten in ihren Romanen einnehmen, geht einher mit einer auffallend expliziten Thema‐ tisierung von Sexualität und Begehren, aber auch von sexualisierter Gewalt, (Kindes)Missbrauch und Inzest. Sexuelle Akte erfüllen selten das verklärte Ideal romantischer, liebender Vereinigung, denn sie offenbaren viel häufiger destruk‐ tive Lüste, sind Verkörperungen ökonomischer Tauschwerte und werden zu Materialisierungen gesellschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse. Das Spiel mit dem Tabu und die Präsenz des Sexuellen in Mars‘ Romanen wird so zu einem politischen Werkzeug, wie Kettly Mars mit Bezug auf Saisons Sauvages erläutert: Mais ne voir que l’aspect des situations sexuelles décrites dans l’histoire dont il est question est en effet très réducteur. L’érotisme ici est un parti pris, sa présence ajoute au malaise du roman. Le sexe est une arme de guerre et un instrument de subjugation psychologique bien connu. Nous retrouvons dans les dictatures des phénomènes humains comme la soumission à l’autorité ou la servitude volontaire qui vont à l’encontre de nos illusions démocratiques (Le Nouvelliste 2010). Auch in Kasalé  255 finden sich diese drei Tendenzen, d. h. der Fokus auf weibliche Figuren, die Verflechtung des Privaten und Politischen sowie die explizite Thematisierung von Sexualität und die Präsenz macht- und gewaltvollen Be‐ gehrens, wieder. Zugleich — und darin unterscheidet sich dieser erste Roman von seinen Nachfolgern — richtet Mars mit Kasalé ihren literarischen Blick auf den ruralen Raum Haitis, dessen dörfliche Strukturen sie porträtiert. Konzipiert als eine Kohabitation vorwiegend weiblicher Figuren umkreist Kasalé die Frage nach dem Erhalt dörflichen Zusammenlebens im Anbetracht konkurrierender Glaubensformen und fortschreitender Umweltzerstörung. Anders als Passages bezeugt Kasalé nicht die Auflösung tradierter ruraler Lebensformen, vielmehr reaktualisiert der Roman diese. Dabei greift der Roman Thematiken des kollek‐ tiven Gedächtnisses, der Marginalität und des Ausschlusses auf, und skizziert über weibliche Beziehungsgeflechte neue Formen der Widerständigkeit. Indem in Kasalé die Integration der natürlichen und spirituellen Welt erfolgt und so Grundzüge einer posthumanen Konvivenz umreißt, zeichnet Mars einen Gegenentwurf zu rationalistisch-bürgerlichen Familien- und Gesellschaftsfor‐ 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 199 <?page no="200"?> 256 Zur genaueren Einordnung des roman paysan siehe Die ‚Entdeckung‘ des ländlichen Raums im roman paysan. 257 Einige der Namen geben bereits Aufschluss über die soziale Stellung bzw. zentrale Charakterzüge der Figuren. So verweist der Name ‚Sophonie‘ auf Weisheit und Klugheit, während ‚Nativita‘ bereits die genealogische Verbindung der Figur mit Kasalé über ihre Geburt vorwegnimmt. Auch die männlichen Figuren tragen Namen, die sie im sozialen Raum verorten: Demetrius, als Sohn der Fruchtbarkeits- und Erdgöttin Demeter, stellt einen Bezug zur antiken Mythologie her und unterstreicht die enge Verbundenheit mit der natürlichen Umgebung. Der Name (N)athanel hingegen entstammt dem Hebräi‐ schen und bedeutet ‚Gottesgeschenk‘ worin ein Zusammenhang zu der metaphysischen Natur der Figur sowie dessen ungeklärte Herkunft hergestellt wird (vgl. Mars 2007: 29). Bei dem historischen Abner hingegen handelt es sich um einen General der Armee König Sauls und damit Gegenspieler König Davids, der im Alten Testament erwähnt wird (vgl. Jullien 2003a: 31). mationen, was Kasalé für eine detaillierte Betrachtung im Kontext dieser Arbeit attraktiv macht. 4.2.2 Kasalé : Eine reécriture des roman paysan ? Mars‘ Debütroman Kasalé nimmt bezüglich seiner Thematik und seines Aufbaus Anleihen am roman paysan  256 (vgl. Chemla 2015: 186). In Anlehnung an diese Tradition wendet sich Mars dem Leben und Sterben in dem ländlichen lakou Kasalé zu. Kasalé, Schauplatz der Romanhandlung und namensgebend für die Geschichte, ist ein kleiner Ort, der unterhalb Carrefours nahe der Rivière froide in dem Umland der Hauptstadt Port-au-Prince liegt (vgl. Mars 2007: 16). Fernab der Stadt und jenseits jeglicher „notion d’urbanisme“ (Mars 2007: 24) leben hier in Armut die junge, ledige Mutter Sophonie mit ihren Kindern, die alte vodou-priesterin Antoinette, genannt Gran’n, Großmutter von Sophonies ver‐ storbener Liebe Démétrius, sowie ihre Nichte Nativita samt Enkelkindern und einige weitere Dorfbewohner: innen, darunter die umherziehende, attraktive Espéranta. 257 Trotz der Anwesenheit einiger männlicher Figuren spielt sich das dörfliche, kollektive Leben weitestgehend zwischen den Generationen von Frauen ab. Dieses Zusammenleben erfährt in der Gewitternacht, mit welcher die Erzählung einsetzt und die die Bewohner: innen von Kasalé erstaunt und zerstört zurücklässt (vgl. Mars 2007: 7), eine grundlegende Umwälzung. Jene Umwälzung ist nicht nur von großer physischer, sondern auch von symbolischer Kraft und belegt die Erzählung von Beginn an mit einem übersinnlichen Geheimnis: L’histoire commence comme une énigme: Sophonie découvre qu’elle est enceinte, alors qu’elle est célibataire et que l’arbre planté à la naissance de l’ancienne, 200 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="201"?> 258 Ein Teil der kursivierten Begriffe und Ausdrücke finden sich am Ende des Buches in einem Glossar zusammengefasst und übersetzt, der restlich Teil bleibt jedoch für nicht mit dem kreyòl und den Praktiken des vodou Vertraute, unklar. 259 Der kay-misté oder auch caye-mystère (Maison des Mystères) ist der Ort, der den lwa geweiht ist und an welchem die Zeremonien stattfinden (vgl. Métraux 1958: 327; Mars 2007 : 238; Dayan 2008). 260 Der Mutismus kann sowohl der Ausdruck von Ohnmacht und Ablehnung als auch von der Unmöglichkeit der Darstellung des Erlebten gesehen werden (vgl. Renger 2010), z. B. vor dem Hintergrund traumatischer Erfahrungen, wie Natascha Ueckmann im Hinblick auf Frauenfiguren bei Gisèle Pineau herausarbeitet (vgl. Ueckmann 2014: 490 f.). Im Kontext der Erzählung verweist das Verstummen jedoch weniger auf eine explizite Antoinette, dite Gran’n, est désormais tombé. Vers les hauteurs, la kay-mistè, maisonnette dédiée aux esprits, s’est effondrée (Chemla 2015: 186). 258 Antoinette, praktizierende vodouisante und mit heilendem Wissen ausgestattet, ist jene, welche diese zunächst unerklärlichen Zeichen zu deuten vermag. Als älteste Bewohnerin und Bewahrerin der Geschichte des lakous erahnt sie ihren baldigen Tod, angekündigt durch den umgestürzten Baum, und weiß ebenso um die Notwendigkeit den kay-mistè,  259 einen Ort der Spiritualität und des kollektiven Gedächtnisses, wiederherzustellen. Trotz des Respekts und der Anerkennung, die Gran’n/ Antoinette aufgrund ihres Alters und ihrer Fähigkeiten von den Dorfbewohner: innen entgegengebracht werden, brechen entlang konkurrierender Glaubenskonzepte die Differenzen des Gemeinwesens auf. Während Antoinette sich die Bewahrung und Weitergabe der vodou-Prak‐ tiken und Wissensformen zur Aufgabe gemacht hat, hängt ihre Nichte Nativita den christlichen Lehren des Père Daniel an. Dessen Scheinheiligkeit wird trotz der vermeintlichen Sympathie und Güte, mit der der Glaubensvertreter gezeichnet wird, im weiteren Verlauf der Erzählung schnell offenbar: Le mariage eut pour conséquence majeure d’éloigner pour lui tout espoir de rentrer dans les ordres. Mais ce handicap ne refroidit aucunement son ardeur pour les choses saintes. Daniel laissa à son épouse le soin de trois enfants qu’elle lui donna, pour poursuivre avec encore plus d’assiduité sa vocation pastorale (Mars 2007: 67). Damit erweist sich Daniel, anders als Antoinette, eben nicht als jene positive, verlässliche elterliche Figur, welche sein Name vermuten lässt (vgl. Lafleur 2017: 88). Antoinette hingegen ist seit der Gewitternacht von dem Wunsch getrieben, den kay-mistè zu rekonstruieren. Dafür benötigt sie das Geld, das sie Nativita geliehen hat, welches diese aber nicht mehr besitzt. Dieser Inter‐ essenkonflikt sowie Nativitas radikale Ablehnung der Traditionen des vodou (vgl. Mars 2007: 79) führen nicht nur zum Streit zwischen den beiden Frauen, sondern sind auch Auslöser für Nativitas plötzlich einsetzende Stummheit 260 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 201 <?page no="202"?> Gewaltgeschichte, sondern erscheint als eine Art Verselbstständigung von Nativitas Geheimnis und ihrer Weigerung Antoinette die Wahrheit über das Geld zu erzählen. Als handele es sich hierbei um eine Bestrafung durch die lwa findet Nativita erst durch den vodou wieder zu ihrer Stimme, d. h. in dem sie sich sowohl Sophonie als auch dem spirituellen Erbe der Dorfgemeinschaft gegenüber öffnet wird sie wieder zu einem hörbaren Teil des Zusammenlebens 261 Mit der Weitergabe des Wissens an Sophonie, die anders als Nativita und Antoinette nicht von den ersten Bewohnern der Habitation Salé abstammt und als ‚Fremde‘ nach Kasalé kommt (Mars 2007: 86), vollzieht sich eine Öffnung und Erneuerung der Gemeinschaft. Die Zugehörigkeit und Aufnahme in die Gemeinschaft erfolgt dabei jedoch nicht bedingungslos: „Quand une femme n’était pas du lakou, elle devait garder une certaine discrétion, un décorum, manière d’être acceptée avec le temps. En restant à sa place, en rendant de menus services aux autres, elle s’achetait un certificat d’adoption […] Seule Gran’n la recevait de tout son cœur, depuis son installation“ (Mars 2007: 17 f.). Mit der Zeit und durch ihren Beitrag zum Dorfleben verbessert sich Sophonies Status und durch ihre Heilkenntnisse wächst das Vertrauen der anderen Frauen in sie (vgl. Mars 2007: 158). Über Sophonie und ihre Verbindung zu Athanaël erneuert die Gemeinschaft ihre spirituelle Verankerung über den Tod von Antoinette hinaus, denn die mit Traumwissen ausgestattete Sophonie kann das Werk Antoinettes weiterführen und so ihren Beitrag zum Erhalt des lakous leisten. 262 Die Sonnenbrille, Erkennungszeichen der Tonton Macoute, sowie Abners Auftreten lösen schnell Mutmaßungen über seine Zugehörigkeit zu den MVSN unter den Dorf‐ bewohner: innen aus: „Il est plutôt foncé de peau, les cheveux crépus coupés assez ras, de taille moyenne. Il porte toujours des lunettes de soleil, dit Sophonie. Pas une seule fois je n’ai eu l’opportunité de voir le fond de ses yeux.—Ah! Je crois le connaître ! s’exclama Dilia. Son nom est Abner. Chuuut… moins fort, lui dit Sophonie en montrant Espéranta de la tête. Toutes les filles parlent de lui, continua Dilia chuchotant. Effectivement, il a l’air bizarre. Personne ne sait d’où il vient, ni même où il loge. Il est contre-maître, parait-il. On le (vgl. Mars 2007: 147). Parallel dazu wird der lakou seit der Gewitternacht von einer verheerenden Trockenheit heimgesucht, welches das Leben in dem Dorf zusätzlich erschwert. Es ist Sophonie, die als ‚Zugezogene‘ im lakou nur geduldet wird 261 (vgl. Mars 2007: 18), die in dieser angespannten Situation die spirituelle Nachfolge Antoinettes antritt und durch ihr Wissen Nativita von ihrer Stummheit zu erlösen vermag. Obwohl Sophonie keine Verwandtschaft mit den Einwohner: innen Kasalés und deren Ahn: innen aufweist, steht sie doch in einer besonderen Beziehung zu der spirituellen Welt des lakous, ein Umstand, der seinen deutlichsten Ausdruck in ihrer Liebe zu dem Künstler und halb Mensch, halb Geist Athanël findet. Während Athanël Teil positiver Naturkräfte ist, repräsentiert der Vorarbeiter Abner, welcher mit den Bauarbeitern an der großen Brücke nach Kasalé kommt, die Allianz zwischen der weltlich-politi‐ schen Gewalt der Duvalier-Diktatur und einem diabolischen, metaphysischen Bösen. So zeichnen ihn nicht nur seine Kleidung und die charakteristische Son‐ nenbrille, 262 auch die maskulin-dominante Ausstrahlung und seine gewaltvollen 202 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="203"?> prétend VSN, il porte le gros-bleu les jours de fête. Personne ne lui connait d’amis. Oui, en vérité, un type fort inquiétant […] En tout cas, commenta Dilia, fais bien attention à toi, chère. Des bruits… circulent au sujet de cet individu. Il parait que l’autre soir, à la tête du vieux pont, il a emmené une fille. Tu sais, ces filles qui viennent se vendre la nuit, Eh bien, personne ne l’a revue depuis…“(Mars 2007 : 103 f.). sexuellen Übergriffe auf Espéranta und Sophonie weisen ihn als Tonton Macoute aus. Bei seinem Übergriff auf Sophonie wird Abner durch das Eingreifen spiritueller Kräfte getötet, während Espéranta verstört durch die Begegnung mit Abner Kasalé verlässt. Letztlich können die Arbeiten am kay-mistè durch das unerwartete Auftauchen einer größeren Geldsumme doch noch durchgeführt werden und nachdem Rodrigue, Nativitas Bruder, nach mehreren Jahren der Abwesenheit nach Kasalé zurückkehrt, kann Antoinette beruhigt sterben. Mit dem Tod Abners, der Wiederherstellung des spirituellen Lebens durch die Wissenweitergabe von Antoinette an Sophonie und mit dem Wiedereinsetzen des Regens kann auch die Konvivenz in Kasalé erneut gelingen. Kettly Mars entwickelt ihren Roman in 60 Kapiteln, die chronologisch geordnet sind und in personalen Erzählsituationen von den jeweiligen Figuren berichten. Dieses figurennahe Erzählen wird immer wieder durch Kapitel unterbrochen, in denen eine auktoriale Stimme die Geschehnisse in der natürlichen Umgebung des lakous beschreibt. Auf diese Weise erhält die Natur, insbesondere der cachiman (ein Baum aus der Gruppe der Stachelannone, eng verwandt mit dem Corossol (vgl. Bollée/ Kernbichl/ Scholz u. a. 2017: 148)), als handlungstragende Instanz Einzug in die Geschichte. Der große Raum, den die Naturbeschreibungen in dem Roman einnehmen, sowie die bereits eingangs beschriebenen Eigenschaften der Erzählung weisen ihn als eine reécriture des roman paysan aus, wie Peggy Raffy-Hideux in ihrer Studie Les réalismes haïtiens contemporains. Récit et conscience sociale (2013) herausstellt. Diese Aktualisierung des Genres wird besonders anhand der wiederholten Verweise auf Gouverneurs de la Rosée sowie in dem Aufgreifen bestimmter Genremerkmale deutlich (vgl. Raffy-Hideux 2013: 322 ff.). Zu diesen Charakteristika zählen die Wahl des ruralen lakous als Handlungsort, die Darstellung des Lebens der armen, ländlichen Bevölkerung, die Integration der Natur und der Landschaft als allegorische Bilder des Leidens und des Widerstandes sowie die Thematisierung der Umweltzerstörung als Folge kapitalistischer Modernisierungs- und Ausbeutungsprozesse. So schreibt Raffy-Hideux: Dans Kasalé, on retrouve nombre de symboles explorés plus tôt par Roumain et Alexis : les arbres musiciens, l’eau de la source ou encore les images de la fertilité […] Les oppositions temporelles — le temps des coumbites et le tarissement de la vie 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 203 <?page no="204"?> —, la rupture géographique — ville et campagne —, ou encore les conflits religieux —catholicisme et vaudou — sont mis à l’honneur […] Avec Kasalé, ce n’est plus l’histoire du héros prométhéen qui va chercher le feu sacré mais bien l’histoire des loas qui offrent leurs services aux croyants, car le héros prométhéen, révolté contre la fatalité, a été supplanté par l’homme dans la vérité de sa lâcheté, sinon de son impuissance (Raffy-Hideux 2013 : 329 f.). Wie Raffy-Hideux konstatiert, wendet sich Mars ab von der Erzählung eines messianischen Protagonisten, durch dessen altruistische und weise Handlungen die Misere aufgehoben wird. Stattdessen arbeitet Mars‘ Roman mit einer starken Präsenz des kreyòl (Chemla 2015: 186) und beruft sich auf spirituelle Wissenskomplexe, weiblich codierte kollektive Praktiken und ein Ethos des Zusammenlebens, welches die menschliche Sphäre überschreitet. Auf diese Weise setzt sich Mars nicht nur durch ihre spezifische Schreibverfahren von dem traditionellen, vor allem männlich geprägten, roman paysan ab, ihr gelingt es auch die Kultur des ruralen Raums und die Lebensrealitäten weiblicher Figuren zu integrieren, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden. 4.2.3 Kohabitationen zwischen menschlichem und aborealen Leben Kasalé erzählt von einer kleinen dörflichen Kohabitation, die zwischen tra‐ dierten, spirituellen Glaubenspraktiken und importierten neuen religiösen Dogmen nach ihrer eigenen kollektiven Verortung fragt. Verortet ist dieses Gemeinwesen, das führt uns vor allem Mars‘ Sprache und die große Bedeutung mystisch-natürlicher Erscheinungen und Ereignisse vor Augen, in der örtlichen Natur, mit der sie in enger Wechselwirkung steht. Präzise platziert Mars den Ort Kasalé in der Topografie Haitis und bettet das menschliche Zusammenleben in die Prozesse der nicht-menschlichen Umwelt ein: Kasalé, vu de la route, est un relais de verdure, l’un des derniers poumons de la périphérie sud de la capitale. On ne croirait pas qu’au cœur de ces mornes vivent depuis des décennies des lakou aux histoires silencieuses. Au fur et à mesure de la montée, la fraîcheur, le calme du lieu exercent un effet lénifiant sur celui qui laisse l’effervescence de l’autoroute. La rivière, maitresse des lieux, rappelle aux visiteur d’abandonner derrière lui la ville et ses incohérences. Ici règnent les grands arbres, l’eau, la terre, les esprits et les pierres (Mars 2007 : 16). Bereits auf den ersten Seiten skizziert sich Kasalé, als letzte grüne Oase, im Kontrast zu der widersprüchlichen Stadt. Beherrscht von der Riviére froide, ihren Geistern, den Bäumen, der Erde und dem Gestein, folgt dieser rurale 204 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="205"?> Raum seinen eigenen Regeln nach. Es scheint beinahe so, als würde ein verhei‐ ßungsvolles ‘Zurück zur Natur‘ von den Flüssen und Bäumen zu den Lesenden herüberraunen. Die ländliche Idylle, in diesem Punkt folgt Mars der Tradition des Genres des roman paysan, ist jedoch sowohl auf der ökologischen als auch auf der sozialen Ebene bedroht. Auslöser hierfür stellt die Errichtung einer Brücke dar, die eine Vielzahl von Bauarbeitenden nach Kasalé bringt und das sensible Gleichgewicht stört (vgl. Raffy-Hideux 2013: 324). Raffy-Hideux liest diese Störung als ‚Einbruch der Moderne‘ in einer der letzten Bastionen bäuerli‐ cher Lebensweise, dem lakou (vgl. Raffy-Hideux 2013: 324). Das Dorf Kasalé wird zum Sinnbild einer fast schon verlorenen Welt und deren idealisierten Zusam‐ menlebens. In jenem Aspekt zeigen sich starke Parallelen mit der, insbesondere in Krisenzeiten aufbrechenden, Vorstellung von der homogen-harmonischen, ursprünglichen und organischen Gemeinschaft, die häufig als bereits verlorenes Ideal fantasiert wird. Die damit verbundene Sehnsucht nach dem Gestern und nach einem Leben in Einklang mit der Umwelt, den Geistern und den Traditionen motiviert insbesondere die Erzählung der Matriarchin Antoinette. Zugleich ist Antoinette auch jene Figur, die die Fäden des sozialen Lebens zusammenhält. In diesem Zusammenleben sind Natur, kollektives Gedächtnis und ritualisierte Praktiken, in denen die Achtung der lwa und der Ahn: innen zum Ausdruck kommt, eng verwoben. Damit nimmt Antoinette eine ähnliche gemeinschafts- und gedächtnisstiftende Funktion ein wie die Figur des Amédée in Olliviers Passages. Auch in Kasalé fungiert die unmittelbare räumliche Umgebung als Mnemotop, im Gegensatz jedoch zu dem Roman von 1991 werden bei Mars einzelne Elemente, insbesondere der cachiman und der Fluss, aus dem natürlichen Gesamtensemble herausgehoben und erscheinen nicht länger nur als tote Objekte, vielmehr treten sie als belebte bzw. beseelte Teile des lakous auf, wie folgende Beschreibung des cachimans verdeutlicht: Sophonie aperçut le cachiman dont le contour fondait dans la buée montant de la rivière. Une masse des feuilles étonnées […] L’arbre reposait sur son flanc, la chevelure renversée trainant dans l’eau. Il allait bientôt lâcher prise, glisser sur la pente raide, boueuse, emporté par la rivière. La poignée de racines le retenant encore à la terre ne tiendrait pas très longtemps. Sophonie scruta le ciel incertain, tachant d’y déchiffrer la raison du malaise qui plainait sur le lakou […] Sous le coup de l’émotion, elle crut voir une forme humaine gisant sur la terre humide, les bras ouverts défiant le ciel (Mars 2007: 10). An dieser Passage ist nicht nur auffällig, dass Sophonie den umgestürzten Baum als unheilvolles Zeichen liest, sondern insbesondere, dass in der Darstellung des Baumes auf Verben und Adjektive zurückgegriffen wird, die ein fühlendes 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 205 <?page no="206"?> 263 In einer europäisch-okzidentalen literarischen Tradition verkörpert der Baum Welt, Natur, den Menschen in seiner Einzelheit wie in der Gemeinschaft, sowie den Idealzustand menschlichen Daseins (vgl. Moenninghoff 2010: 36). Prägend für diese Symbolbildung „sind die stabile Beschaffenheit des B., seine Verwurzelung im Boden, seine vertikale Ausrichtung, seine verästelte und verzweigte Gestalt sowie seine Fruchtbarkeit“ (vgl. Moenninghoff 2010: 36). 264 Zu den Bedeutungen, die bestimmten Baumarten zugeschrieben werden (vgl. Sheller 2012: 202 f.). 265 Um die Besonderheit botanischer Symbolwelten für den frankokaribischen Raum noch einmal zu unterstreichen, sei an dieser Stelle zudem kurz auf Glissants Roman Mahagony (1987) und die Figur des Rhizoms in seiner Poétique de la rélation (1990) verwiesen, die ebenfalls beide aboreale Strukturen verwenden. 266 Eine wichtige Referenz stellt hier Alexis‘ Les arbres musiciens (1957 [1992]), bei dem es sich ebenfalls um einen roman paysan handelt und der sich zudem mit der Campagne anti-superstitieuse auseinandersetzt (vgl. Raffy-Hideux 2013). Subjekt voraussetzen bzw. die Physis eines menschlichen Körpers nachbilden. Auf diese Weise wird eine Personifizierung des Baumes vollzogen, die über den weiteren Erzählverlauf aufrechterhalten wird und die zum einen auf die enge Verbindung zwischen der moribunden Antoinette und dem Baum verweist und zum anderen Teil einer Schreibpraxis ist, die versucht die Grenzen zwischen humaner und nicht-humaner Natur zu überschreiten, was an späterer Stelle noch einmal ausführlicher zur Sprache kommen wird. Die enge Verwebung zwischen dem Werden und Vergehen des cachiman, der bereits zu Beginn der Geschichte durch das Unwetter zu Fall gebracht wird, und dem Leben und Sterben Antoinettes wird im Buch an mehreren Stellen sichtbar: Mais Antoinette, devant la déroute du cachiman, réalisa ce matin-là que le temps prenait un virage. Elle comprit que comme l’arbre déraciné, sa vie ne tiendrait plus longtemps […] Cette histoire du cachiman et d’Antoinette, la famille et les anciens de la cour la connaissaient. Elle était une sorte de légende, un mythe (Mars 2007: 13 f.). Errichtet bei ihrer Geburt, repräsentiert der Baum das Schicksal der alten Frau, bleibt aber zugleich in seiner symbolischen Bedeutung nicht auf Antoinette beschränkt, verweist er doch auf tieferliegende kulturelle Muster. 263 Bäume, sowohl spezifische Baumarten 264 als auch aboreale Gewächse an sich, 265 werden in der literarischen 266 und spirituellen Kulturs Haitis wertvolle Kräfte und Funktionen zugeschrieben. Dementsprechend widmet Mimi Sheller den ‚aboreal landscapes‘ in ihrer Studie Citizenship from below (2012) ein eigenes Kapitel. In diesem verweist sie auf Bäume als wichtigen Teil einer ‚liberation flora‘, eines militanten medizinischen Pflanzenwissens, welches von afrikanischen, 206 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="207"?> 267 Zugleich waren florale Landschaften immer auch Teil von Kolonialisations-, Expedi‐ tions- und Exploitations projekte, wie Sheller ebenfalls aufgreift (vgl. Sheller 2012: 188). 268 Das Wort ‚bwa‘, (vgl. Bollée/ Kernbichl/ Scholz u. a. 2018: 138 f.), welches u. a. Wald bedeutet und welches auch in traditionellen vodou-Gesängen sehr präsent ist, illustriert die Bedeutsamkeit aborealer Landschaften. 269 Der Mapou ist nicht nur bewohnt von Geistern, ein Exemplar dieser Art steht auch an der Stelle, wo die Zeremonie von Bwa Kayiman abgehalten wurde, zudem erwies sich diese Sorte in der Vergangenheit als sehr widerständig angesichts von Naturkathastro‐ phen (vgl. Sheller 2012: 201): „In the eyes of some, the mapou at Bwa Kayiman remains a powerful symbol of the resistance of the Haitian people to foreign domination, slavery and exploitation, marking the continuity of African traditions and ancestral spirits“ (Sheller 2012: 201). indigenen und Marron-Kulturen entwickelt wurde (vgl. Sheller 2012: 187). 267 Daneben besteht der Baum als Sinnbild familiärer und genealogischer Verwur‐ zelung, Zeugnis des (einzelnen) Lebens — so wurde nicht selten die Plazenta nach der Geburt eines Kindes unter dem Baum vergraben — sowie als Ort der unauflöslichen Verbindung von Mensch und Natur fort (vgl. Sheller 2012: 189). Bäume werden damit auf mehreren Ebenen in das menschliche Leben integriert, ohne auf utilitaristische oder ästhetische Aspekte reduziert zu werden. Auch in Kasalé findet sich diese Integration realisiert, denn in der Humanisierung des Baumes und seinem, parallel zu Antoinettes, verlaufenden Schicksal treten die Verwachsungen zwischen menschlichem und aborealen Leben deutlich hervor. Während Antoinette entkräftet und fantasierend entlang der Schwelle des Todes wankt, ‚ringt‘ auch der Baum darum, endgültig davongetragen zu werden: Quelque part dans un lakou, un arbre hésite entre deux dimensions. La terre ne le retient plus tout à fait. L’eau ne parvient pas à l’emporter. Il repose dans l’embrasement du vent, soutenu par les fils invisibles du soleil. Un grand arbre, avec des fruits tels des cœurs qu’on entend battre faiblement la nuit. Personne n’y touche. On respecte son agonie. Certains en sont obsédés depuis la dernière pluie. Il ne se passe pas une nuit sans qu’il ne hante les rêves des uns ou des autres (Mars 2007: 144). Zugleich nehmen Bäume in der haitianischen Kulturgeschichte wichtige spiritu‐ elle und politische Funktionen ein, sei es der Mapou vom bwa  268 kayiman  269 oder der Palmenbaum auf der haitianischen Flagge — eine Version des revolutionären Freiheitsbaumes (vgl. Sheller 2012: 201 f.). In beiden Fällen repräsentieren Bäume eine Widerstandsgeschichte, in der spirituelle Praktiken und politische Hand‐ lungen miteinander verflochten sind. In diesem Sinne verweist der allegorische Baum auf der Flagge nicht nur auf eine transatlantische Tradition (vgl. van den Heuvel 1992: 21), sondern ist zugleich auch Ausdruck vodouesker Traditionen, wie Sheller schreibt: 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 207 <?page no="208"?> In Haiti [the liberty tree] may tap into a much older cultural equivalent — the potomitan […] The potomitan stands in the middle of the peristyle and is symbolic of a path linking „the heavenly and the earthly worlds”; encircled by two snakes symbolizing Dambala and Ayida Wedo, it „resembles the tree of life,” and offerings are placed at its base (Gombrich 1979: 199; Hurbon 1995; Ozouf 1988: 240). Some images commemorating emancipation show the chains of slavery being buried at the base of a liberty palm on which an emancipation proclamation is pinned […] Perhaps, then, for the Haitian peasantry the palm was embraced as a national symbol of founding liberty not because it echoed European Liberty Trees, but because it very effectively represented the sacred origins of their nation and suggested Aizan’s spiritual protection (Sheller 2012: 202). In dem Bild des Baumes treffen sich unterschiedliche Bedeutungsebenen, die für den Roman Kasalé und seine Interpretation relevant sind. Anhand des cachiman wird nicht nur die Fusion menschlichen und pflanzlichen Lebens sowie das Zu‐ sammentreffen von materieller und spiritueller Welt verhandelt, der Baum trägt auch das Wissen um eine spirituell-politische Widerstandskultur weiter, die bis weit in die Kolonialisationszeit zurückreicht (vgl. Raffy-Hideux 2013: 324 f.). Diese Kultur und die Erinnerung an sie geraten angesichts der fortschreitenden Präsenz christlicher Missionare, der gewaltvollen Angriffe durch ein diktato‐ riales politisches System, aber auch durch Urbanisierung und Industrialisierung in Bedrängnis. So wird mit dem Fall des cachiman und dem angekündigten Tod Antoinettes eine neue Ära eingeläutet, deren Ausgestaltung noch ungeklärt ist. Bereits in Jacques Stephen Alexis Les arbres musiciens fungieren die Bäume als Symbol widerständiger Kraft (vgl. Raffy-Hideux 2013: 324 f.). Während der Baum als Leitmotiv bei Alexis in eine marxistische Euphorie integriert wird, schreibt sich bei Mars bereits ein ‚dystopischer Unterton‘ ein (vgl. Raffy-Hideux 2013: 324), wie Raffy-Hideux ausführt: Kasalé est un roman paysan actuel qui semble se construire en opposition à la tradition du réalisme socialiste haïtien. En effet, les mêmes symboles y sont convoqués mais exploités avec une orientation différente. Ainsi, les arbres musiciens alexisiens, allégories de la résistance humaine sont remplacées par l’arbre cachiman, symbole de l’entre deux mondes, réel et spirituel, et dont la fin proche est annoncée […] La forêt des arbres musiciens s’efface au profit de l’arbre unique […] emblème de la puissance surnaturelle (Raffy-Hideux 2013: 324 f.). Raffy-Hideux liest Kasalé als Bruch mit dem haitianischen, sozialistischen Realismus. Obwohl ihr in diesem Punkt zuzustimmen ist und Mars’ Roman, wie in dem Kapitel Weibliche Gegen(welt)entwürfe und posthumanistische Aspekte noch zu sehen sein wird, marxistische Ideen eher als Relikte einer vergangenen 208 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="209"?> 270 Mambo bezeichnet eine Priesterin des vodou (vgl. Mars 2007). 271 Hounsi ist der Name für jene Eingeweihten des vodou, welche den Priester: innen assistierend zur Seite stehen und im Tempel dienen (vgl. Métraux 1958: 59; Mars 2007: 237). 272 Diese matrilineare Weitergabe kann, da Sophonie und Antoinette biologisch nicht verwandt sind, als ein Beispiel fictiver kinships gelten. So etabliert sich angesichts fehlender, spiritueller Erben eine Beziehung zwischen den beiden Frauen, welche diese Lücke zu schließen vermag und so das Zusammenleben aufrechterhalten kann. Zeit inszeniert, so lässt sich Kasalé doch nicht auf den Status einer Erzählung übernatürlicher Omnipräsenz und vereinzelter Widerständigkeit reduzieren. Stattdessen entwickelt Mars in Kasalé alternative, in der Tendenz posthumane Formen von Kollektivität und Identität. Während Antoinettes Konzeption des Zusammenlebens die unsichtbare und sichtbare natürliche Umwelt konsequent miteinschließt, verwerfen Nativita und ein nicht unbedeutender Teil der Bewohner: innen die religiösen Praktiken und Welterklärungsansätze der Mambo  270 als unbedeutende Legende (Mars 2007: 15). Doch Antoinette ist aufgrund ihrer spirituellen Funktion sowie ihres Heilwissens für das Leben in Kasalé von großer Wichtigkeit (vgl. Mars 2007: 13). Als hounsi  271 steht sie in engem Kontakt mit den vergangenen Generationen Kasalés und bewahrt ähnlich eines lebendigen Speichermediums die kollektiven Erinnerungen und das (ZusammenLebens)Wissen (Ette 2010a) des Ortes. Dieses inkorporierte, orale Wissen, welches seine Verankerung, wie bereits bei Pas‐ sages, in der Natur findet, gibt sie im Verlauf der Erzählung matrilinear weiter: 272 En ce lieu sommeillait sa mémoire, sous chaque arbre, chaque rocher fiché dans les mornes, dans chaque crevasse, chaque trille d’oiseau. Ici, dans la terre froide du lakou où reposaient tant des familles (Mars 2007: 13). In der Beziehung, welche Antoinette zu ihrer Umwelt unterhält, fließen indivi‐ duelles und kollektives Gedächtnis und die Geschichte Haitis zusammen und gehen eine Verbindung mit den Naturgewalten und transzendentalen Mächten ein. Die Grenzen zwischen Natur und Mensch, vergangenem Leben und gegen‐ wärtigem Geschehen, zwischen empirischer Wirklichkeit und übernatürlichen Erscheinungen scheinen in dem sinnlichen Erleben Antoinettes beinah voll‐ ständig aufgehoben. Als Erinnerungsort, als sinnlicher Erfahrungsraum und als eigener Teil der Vergemeinschaftung wird die Natur zum Mittel kollektiver und individueller Selbstvergewisserung: En retournant à Terre-Rouge, Antoinette refaisait tous les chemins de sa vie. Cette promenade la ramenait au temps de sa vérité. Au temps de ses convictions. […] Quand ils pouvaient regarder leur destin en face […] en disant: „Je suis d’ici, mon sang coule 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 209 <?page no="210"?> 273 In der Rückkehr nach Terre-Rouge steckt aufgrund der, in einigen Regionen des Kontinents verbreiteten Bodenfarbe, ein Verweis auf die imaginäre Rückkehr nach Afrika, die wir bereits in Passages in der Bezugnahme auf Guinea beobachten konnten. Zudem spielt Terre-Rouge auch auf das Dorf Fonds-Rouge, Ort der Handlung in Gouverneurs de la Rosée an (vgl. Raffy-Hideux 2013: 324). dans chacun de ces arbres, ma chair est pétrie de la boue de ces mornes. Je suis l’eau enfermée dans ces roches, mes yeux sont des bourgeons de soleil.“ […] Voilà mon pays! Voilà ma naissance! Mon Kasalé, ma Terre-Rouge! […] Je marche vers les esprits de mes ancêtres […] Je retourne à ma mémoire, à vous mes amis, vous dont le souvenir demeure ici, vivant et tenace comme l’écorce autour des troncs. Je reviens prendre possession de ma terre, de son ventre d’où je sors. […] Je reviens vous dire que la corde qui nous lie au même destin ne s’est jamais rompue… (Mars 2007: 1110 f.). 273 Trotz der Bezugnahme auf die ‚rote Erde‘ zeigt sich in der Passage deutlich, dass Antoinette eindeutig in Kasalé verwurzelt ist und keineswegs von diaspo‐ rischen Sehnsüchten bestimmt wird. Stattdessen wird Kasalé zum gemeinsamen Habitat von Menschen, belebter und unbelebter Natur sowie Geistern und Ahn: innen. Diese Kohabitation wird über tradierte Glaubens- und Erinnerungs‐ praktiken aufrechterhalten und kann als eine in Ansätzen posthumanistische verstanden werden. Damit rückt der vodou als Glaubens- und Wissenssystem an die Stelle von politischen Konzeptionen des Sozialen wie der citoyenneté und dem contrat social. Während jene gesellschaftlichen Formationen nur das Menschliche inkludieren, schließt der durch Antoinette vertretene ‚konviviale Vertrag‘ die Natur und die spirituelle Welt mit ein, woraus Verpflichtungen der Menschen gegenüber diesen erwachsen. Jenseits der Dichotomie von Natur und Kultur, Körper und Geist wird die nicht-menschliche Umwelt hier weniger als ein gegenübergestelltes Anderes, sondern vielmehr als Teil einer kosmischen Gesamtheit begriffen, welches neben Bäume auch das Wasser, als Kraft der Erneuerung, selbstverständlich miteinschließt, wie wir im nächsten Teil nach‐ verfolgen werden. 4.2.4 Gewalt, Erkenntnis und Neuanfang - Die verschiedenen Aspekte von Wasser Neben dem Baum stellt auch das Element des Wassers in seinen verschiedenen Formen ein wichtiges Motiv in dem Roman dar, welches die Lesenden durch die Erzählung leitet und in welchem die Beziehungen zwischen menschlicher, natürlicher und spiritueller Welt am deutlichsten werden. So geben die Wet‐ terphänomene zu Beginn und zum Ende des Romans, das zwischenzeitliche 210 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="211"?> 274 Bei Lasirène handelt es sich um eine maritime Gottheit, die allgemeinhin dem Bild der Meerjungfrau entsprechend abgebildet wird, jedoch, wenn sie in einer heiligen Stätte auftaucht, häufig die Gestalt einer jungen, koketten Frau annimmt (vgl. Métraux 1958: 91) und manchmal auch mit Erzuli assoziert wird (vgl. Métraux 1958: 109). Daneben werden weibliche Wassergottheiten nicht selten auch mit sexueller Initiation und Heilungsprozessen in Verbindung gebracht (vgl. Benedictty-Kokken 2015: 343). 275 Spirituelle und natürliche, nicht-menschliche Welt lassen sich in Kasalé nicht gänzlich voneinander trennen, da die Präsenz der lwa sich nicht selten in Naturelementen wie Bäumen, Wasser oder auch Steinen manifestiert. Ausbleiben des Regens und die dadurch hervorgerufene Trockenheit sowie die Traumbegegnungen mit dem Meer und Lasirène, 274 den Takt der Handlungen vor. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Wassers reflektieren den Rhythmus der Handlung. In den Gewittern und starken Regenfällen, mit denen Kasalé beginnt und endet, tritt das Wasser als eine Gewalt auf, die fundamentale Umbrüche auf den Weg bringt und neue Zeiten ankündigt: Pendant l’avers d’hier au soir, la rivière a enflé […] l’eau bourgeonnait et déparlait, comme si elle prenait vie. Je peux jurer que nul au lakou n’a fermé l’œil la nuit dernière. L’eau a retrouvé son chemin, pété le barrage de la compagnie du pont et dans sa course elle a englouti le cachiman, elle l’a avalé tout d’une pièce dans ses entrailles (Mars 2007: 233). Der zeitliche Abschnitt zwischen den beiden Gewittern — bevor das Wasser und das Leben wieder ihren Weg finden — kann als eine Zwischenzeit verstanden werden, ein Schwellenzustand, in dem nicht nur verschiedene religiöse und soziale Formen miteinander konkurrieren, sondern in dem auch durch den na‐ henden Tod Antoinettes die Verbindung zwischen menschlicher Welt einerseits und spirituellen und natürlichen Leben andererseits 275 abzureißen droht. Mit dem Versiegen des Wassers (vgl. Mars 2007: 167) scheinen auch andere vitale Prozesse zum Stillstand verdammt. Ebenso wie das soziale Gleichgewicht in Kasalé durch die von Abner ausgehende Gewalt und die Spannungen zwischen den Bewohner: innen bedroht ist, ist auch das ökologische Zusammenwirken gestört. Dieser liminale Stillstand findet seine Repräsentation in dem ausblei‐ benden Regen: Depuis la chute du cachiman, pas une goutte de pluie n’était tombée sur la terre de Kasalé et des environs […] Mais à part la chaleur, une vague inquiétude retenait Kasalé dans ses plis. Le lakou vivait une expectative indéfinissable. Le cachiman ne tombait pas. Antoinette ne mourrait pas […] A genoux, le kay-mistè attendait la main qui le relèverait. On voulait voir éclater l’apparente trêve entre Gran’n et Nativita […] 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 211 <?page no="212"?> 276 Als ein weiterer frankokaribischer Roman, welcher stark mit der Präsenz des Wassers arbeitet, wäre hier Edouard Glissant Roman La Lézarde ([1958] 1984) nennen, indem Thematiken der Militanz, der Erinnerung und der Genealogie entlang des martikani‐ schen Flusses Lézarde verhandelt werden. (Ich danke Natascha Ueckmann für diesen Hinweis). Comme la pluie, on attendait une nouvelle, un rebondissement, un événement même minime (Mars 2007: 133 f.). Der Mangel an Regen und der sinkende Wasserstand im Fluss behindern den Fortgang des Lebens in Kasalé (vgl. Raffy-Hideux 2013: 325 f.), da sie dem Dorf und seinen Bewohnenden das notwendige Wasser entziehen, weshalb dieser Zustand schnellstmöglich überwunden werden muss. Wie schon Port-à-l’Ecu in Olliviers Passages ist auch Mars‘ Kasalé Schauplatz ökologischer Ausbeutung und deren Folgen. Die auf den Sturz des Kay-Misté folgende Trockenheit (vgl. Mars 2007: 133) reiht sich ein in eine Geschichte ökologischer Verwüstungen, welche über Passages bis hin zu Gouverneurs de la Rosée zurückreicht. In allen drei Romanen ist die anhaltende Trockenheit ein Anzeichen einer prekären Gegenwart, in welcher die alten sozialen Praktiken und Zusammenhänge vom Strudel der Veränderungen untergraben und die tradierten landwirtschaftlichen Arbeits- und Lebensweisen porös und überflüssig zu werden scheinen. Obwohl repetitives literarisches Symbol in einer Vielzahl haitianischer Romane, stellen Trockenheit und Dürre keine reine Metapher dar, vielmehr handelt es sich um reale Symptome der ökologischen Verwüstung in der haitianischen Gegenwart, wie aus einem Interview mit Mars selbst hervorgeht: Pourtant Kasalé demeure une blessure pour moi car c’est une zone qui connait actuellement un processus de désagrégation sous l’effet de l’érosion et de la misère. Ecrire le roman Kasalé était pour moi une façon de retenir un peu de ces temps où il faisait bon vivre à Carrefour, retenir un peu de mes racines, de ma mémoire (Mars 2007: 231). Der dystopischen Symbolik eines ausgedörrten Lebensraums steht die lebens‐ spendende Qualität des Wassers in Gestalt der Rivière froide gegenüber, dessen Flusslauf am Anfang und am Ende des Romans steht (Vitiello 2011: 372). Das Motiv des Wassers taucht in dem Roman als übermächtige Kraft und zugleich, auch hier knüpft Mars abermals an Roumain an, als physische und spirituelle Quelle auf (vgl. Jean-Charles 2011: 166). Ebenso wie bei Gouverneurs de la Rosée handelt es sich auch bei Kasalé um eine Erzählung, die motivisch vom Wasser 276 getragen wird und in der, ebenso wie bei Roumain, die Thematik der Trockenheit einen engen Bezug zu, wie auch einen Verweis, auf die Kontinuitäten kapitalis‐ 212 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="213"?> tischer und kolonialer Ausbeutung in der haitianischen Geschichte herstellt (vgl. Vitiello 2011: 372): Parler d‘eau en Haïti revient à parler de l’histoire, souvent occultée, de la déforestation du pays sur la longue durée, depuis les plantations intensives des débuts de la colonisation, jusqu’aux exploitations abusives de la SHADA [Société haïtano-américaine de développement agricole] […]. Que les déluges appauvrissent encore le sol ou que les rivières s’assèchent et cessent d’inonder les champs cultivés, il y va de l’avenir de la communauté. Les enjeux sont importants: il s’agit de survie, mais aussi de la mémoire de la communauté, de son existence même, de son passé, qui se dépendent, comme l’eau et la nature (Vitiello 2012: 372). Die Bedrohung des Zusammen- und Überlebens durch Dürrezeiten ist ein häufiger Stoff im roman paysan. Kasalé greift diese Themen auf, findet aber zugleich andere Antworten und Lösungen als jene, die Roumain in Gouverneurs de la Rosée und Ollivier in Passages anbieten. So wählt die Kohabitation in Kasalé nicht die Flucht, — stattdessen kehrt der ehemalige Auswanderer Rodrigue zu seinen geografischen und religiösen Ursprüngen zurück — sondern findet in der erneuerten Verbindung zur spirituellen und natürlichen Welt einen Ausweg (vgl. Raffy-Hideux 2013: 325 ff.). Auch von Gouverneurs de la Rosée, in dem das Liebespaar Manuel und Anaïse die Quelle findet und so im konbit das Dorf Fonds-Rouge wiedervereint, distanziert sich Mars mit ihrem Roman, denn der Eingriff des Menschen in den natürlichen (Wasser)Lauf erweist sich als nutzlos und der Kraft des Wassers nicht gewachsen (vgl. Mars 2007: 60). Die verschiedenen Erscheinungsformen des Wassers in dem Roman trans‐ portieren dabei zentrale symbolische Funktionen des Wassers, als Bild des Ur‐ sprungs (u. a. ersichtlich an Sophonies Schwangerschaft); als Symbol von Leben, Tod und Reinigung, wie sich insbesondere in den starken Regenfällen zu Beginn und am Ende zeigt; sowie als Metapher für das Unbewusste, welches verstärkt in den Träumen vom Meer hervortritt (vgl. Gretz 2010: 414). Das Wasser ist folglich nicht nur Metapher für das materiell-biologische Leben, es repräsentiert zugleich im Zusammenspiel mit dem Traum einen Ort der Begegnung zwischen lwa und Menschen. Seine Qualität als Kommunikations- und Begegnungsraum zwischen der spirituellen Welt der lwa und der materiellen, menschlichen Welt lässt das Wasser zu einer Sphäre (metaphysischer) Erkenntnis werden, in der die lwa ihr Wissen mit den Menschen teilen. Diese Funktion des Meeresraums wird anhand eines Traumes, der Nativita auf Anweisung Sophonies widerfährt und der erheblich zur Heilung Nativitas Heilung beiträgt, ersichtlich: Sans savoir pourquoi, Nativita plongea à son tour, surprise de pouvoir nager […] L’eau devenait de plus en plus profonde […] Nativita était seule […] Aucun son ne sortait 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 213 <?page no="214"?> 277 Bereits Alfred Métraux schreibt: „Les esprits s’entretiennent volontiers avec leurs fidèles par le moyen de songe. On trouverait difficilement un vaudouiste qui n’ait reçu la visite nocturne d’un loa à un moment ou l’autre de son existence […] Les esprits viennent constamment leur donner des conseils, des recettes médicales“ (Métraux 1958: 127 f.). 278 Die besondere Herkunft Athanaël wird durch den Umstand, dass er als Findelkind von ungewisser Herkunft in Kasalé aufgenommen wurde, unterstrichen. Bei (N)Athanaël, handelt es sich wie bei Abner um eine Bibelreferenz. Der Name bedeutet ‚Gottesgabe‘ und (N)Athanaël ist im Neuen Testament einer der ersten Gefolgsmänner Jesus (vgl. Jullien 2003b: 360). 279 Agwe/ Agoué ist der Geist, welcher das Meer beherrscht und mit Lasirène/ Erzulie liiert. Alfred Métraux schreibt über Agoué: „Parmi les loa qui règnent sur la nature, celui dont de ses lèvres, le poids de l’eau gardait sa parole emprisonnée dans sa poitrine […] Réveillée à ce moment-là, Nativita ressentit encore dans ses membres les mouvements de l’eau. Quel rêve étrange…étrange et beau! Un rêve qui lui laissait une grande lumière dans la tête […] Alors c’est vrai, pensa-t-elle. Le bain de feuilles a marché… Je me suis retrouvée sous l’eau, j’ai vu marassa, les guérisseurs. Tout naturellement, Nativita comprenait que son rêve n’était pas un ‘simple’ rêve […] Elle acceptait de plonger dans le filet de ce monde occulte qu’elle voulait fuir. Les circonstances douloureuses qu’elle traversait lui rappelaient l’existence d’une autre vie derrière les formes que les yeux voyaient (Mars 2007: 160 ff.). Trotz ihrer abwehrenden Haltung gegenüber dem vodou lässt sich die erst‐ ummte Nativita durch die lwa in die Unterwasserwelt entführen. Dieser Ort ist nicht nur von beeindruckender Schönheit, er ist zugleich eine Sphäre, in der der träumende Mensch den lwa begegnen und Hilfe und Rat für sein reales Leben erhalten kann. Die Erkenntnis liegt somit nicht nur unter dem Wasserspiegel, sondern auch jenseits der materiellen Realität und ist eben nicht durch rational-empirische Zugriffe verfügbar. Der Traum als alternatives Verfahren der Wissensproduktion besitzt — nicht nur — im vodou eine lange Tradition 277 (vgl. Métraux 1958) und findet sich auch in L’île du bout des rêves aufgegriffen. Ob in Form des nächtlichen Traumes wie bei Nativita oder als unerwarteter ‚Ohnmachtsanfall‘ wie bei Athanaël (vgl. Mars 2007: 32 f.), das Meer und seine übernatürlichen Bewohner: innen brechen immer wieder in die Realität der Dorfbewohner: innen ein. Im Falle von Athanaël ist eine besonders starke Verbindung mit den lwa und Kräften der Meeres- und Wasserwelt zu beobachten, die sich bereits früh in seinen Augen, welche die Farbe der Rivière froide haben (vgl. Mars 2007: 8), andeutet. Schon als Kind unterscheidet sich Athanaël, 278 in seiner künstlerischen Schaffenskraft und seiner Zurückgezogen‐ heit, von den anderen Dorfbewohner: innen. Bereits in seinem ersten Traum trifft er auf Lasirèn/ La Sirène, der Herrin des Wassers und Frau von Agwe.  279 214 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="215"?> le domaine est le mieux délimité est Agoué […] La mer, sa faune et sa flore ainsi que les bateaux qui la sillonnent et ceux qui vivent de ses ressources sont placés sur sa juridiction […] Comme beaucoup de génies aquatiques, Agoué-taroyo a le blanc pour couleur symbolique. C’est pourquoi on lui prête l’apparence d’un mulâtre au teint très clair et aux yeux verts comme la mer“ (Métraux 1958: 89 ff.). Dementsprechend verweist nicht nur der Name Athagwe auf Athanaëls Herkunft, sondern auch seine wasserblauen Augen. Diese spricht ihn mit Athagwe an und offenbart ihm seine Identität als Sohn des Wassers (vgl. Mars 2007: 32). Mit dieser double-nature (Mars 2007: 128), — Halb-Mensch, Halb-lwa — besitzt Athanaël/ Athagwe die Macht über das Wasser, die Fähigkeit Steine zu formen und die dunklen Seiten der Menschen zu erkennen (vgl. Mars 2007: 33). In dieser Funktion kommt es Athanaël/ Athagwe zu, die kollektiven Erinnerungen zu bewahren und das Leben weiterzutragen: — Tu as conçu une fille pour l’eau car l’eau est la mémoire. Tu as donné un corps à la terre, un nouveau maillon s’ajoutera à la chaîne. Prends soin de ton œuvre et garde-toi pur. Le reste ne t’appartient pas (Mars 2007: 33). Das Mädchen, welches Athanaël dem Wasser geschenkt hat, ist das Kind, welches Sophonie gebären wird. Athanaël/ Athagwe, Sohn des Meeresgottes (vgl. Raffy-Hideux 2013: 340), und seine Liebe zu Sophonie symbolisieren die fruchtbare Verbindung zwischen Natur, Mensch und lwas, und deuten so auf eine hoffnungsvolle Zukunft dieses Zusammenlebens hin. Die Verbindung ist zwar erotischer Art, kommt dabei jedoch ohne jegliche realen körperlichen Berührungen zwischen Athanaël und Sophonie aus, da diese aufgrund einer von Athanaël ausgehenden Kälte unmöglich sind (Mars 2007: 184 f.). Die meta‐ physische und zugleich sexuelle Verbindung zwischen den beiden nimmt ihren Anfang in der Gewitternacht, in der Sophonie infolge eines Traumes schwanger wird und der trotz der späteren konsensuellen Beziehung zwischen Athanaël und Sophonie gewaltvoll ist: Cette nuit-là, Sophonie tomba grosse au plus fort de l’averse. Un rêve liquide posséda son corps au moment où la rivière débordant de ses berges déracinait le cachiman sur l’arrièrecour de Gran’n. Elle se souvient seulement d’une cascade humaine déferlant sur son cri, martelant son ventre, pilonnant ses fesses, comme le courant énervé, quand il bute contre les roches dans une rage d’écume (Mars 2007 : 7). Mars’ Sprachwahl in dieser Eingangsszene bedient drei verschiedene Register: die Arbeit der Wassermassen, handwerkliche Tätigkeiten und große, physische Krafteinwirkungen. Auf diese Weise wird in dem sexuellen Akt nicht nur bereits auf die Arbeit und die Natur von Sophonies Gegenpart verwiesen, 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 215 <?page no="216"?> Mars inszeniert die (hetero)sexuelle Begegnung auch als Akt der gewaltvollen Inbesitznahme und ‚Bearbeitung‘, die im Kontrast zu der späteren, sanften Beziehung zwischen Sophonie und Athanaël steht. Meines Erachtens zeigt sich in diesen ersten Sätzen und auch in Sophonies Rolle als Trägerin des Kindes ein patriarchaler Rest, indem sexuelle Vereinigungen nicht nur als gewaltvoll und überwältigend beschrieben werden, sondern indem Mutterschaft als weiblicher Beitrag zum Metaphysischen verklärt wird. Der weibliche Körper wird von Sophonie eben nicht als Leib wieder angeeignet, vielmehr verbleibt er Medium und Transportmittel mit Hilfe dessen die göttlichen Aufgaben erfüllt werden können: La dernière fois…tu m'as parlé d'une fille que j'aurais donnée à l'eau, d'un corps portant l'offrande de mon fruit à la terre […] — Je te comprends si bien, Athagwe. La décision d’utiliser ton corps d’homme pour perpétuer la médiation entre ceux d’en bas et ceux d’en haut vient des esprits de la hiérarchie supérieure […] Tu ne pourras jamais assouvir avec moi tes besoins d’homme. Une femme saura recevoir ton débordement. Elle existe, elle porte ton fruit, elle t’attend… (Mars 2007: 128 f.). Während Sophonie also die positive Mutterrolle auszufüllen vermag und darin auch den Schutz der lwa erhält, wird Espéranta, die ihre Sexualität ungehemmt auslebt, nicht nur durch Abner vergewaltigt, sie ist mit dieser Erfahrung auch allein und verlässt Kasalé überstürzt (vgl. Mars 2007: 194 ff.). Anhand jener zwei Frauenfiguren, die beide Zielscheibe von Abners Übergriffe werden, entsteht der Eindruck, dass nur durch den Kontakt zur spirituellen Umwelt Schutz vor patriarchaler Gewalt zu erwarten ist. So ist es Sophonies Beziehung zu ihrer natürlichen Umwelt und zu den lwa, die ihr in dem entscheidenden Moment die Kraft gibt, sich Abner zu widersetzen: Alors, une force libérée envahit son âme. Pas une force physique. Elle se transformait plutôt, elle acceptait d’être. Sophonie décida de ne pas mourir, pas de la main d’Abner. Elle ne résista plus. […] Abner relâcha son étreinte, désarçonné par la mollesse de sa victime […] elle rejeta loin d’elle ses pantoufles de caoutchouc. Une onde de chaleur monta de la plante de ses pieds dans tout son corps. La vibration de terre la pénétra. Alors un nom inconnu lui vint à l’esprit, qu’elle appela dans sa tête: „Athagwe ! …Athagwe! … Le terre crie vers toi […] que l’eau sorte du ventre de la terre pour protéger la vie! “ (Mars 2007 : 208). 216 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="217"?> 280 Espéranta erscheint als eine Negativfolie für die im lakou existierenden Vorstellungen von Weiblichkeit zu fungieren : „Elle n’avait pas d’enfants, n’en voulait pas, ce qui aux yeux des génitrices de Kasalé représentait une attitude tout à fait contre nature. Une bourgresse du lakou, en juste droit d’être jalouse, allait même jusqu’à prétendre qu’Espéranta apportait au bòkò les embryons qu’elle ne menait jamais à terme, pour monter des maléfices afin d’attraper encore plus d’hommes“ (Mars 2007 : 18). 281 Bendiccty-Kokken weist ausdrücklich darauf hin, dass Possession auch als eine Praxis der Selbstermächtigung im Kontext extremer Ohnmachtserfahrungen verstanden werden kann: „Possession is not only a common concept, but one shared especially by persons and communities that undergo severely damaging changes, which are often first and foremost related to material ‘dispossessions’, to property being stolen, to lands being occupied, to human bodies being taken as ‘property’, as ‘chattel’“ (Benedictty-Kokken 2015: 20). Im Gegensatz zu Espéranta, 280 die weder Teil des Gemeinwesens ist noch in Verbindung steht mit ihrer spirituellen Umgebung, kann Sophonie im Moment der Attacke auf die Kräfte der Natur zurückzugreifen und durchläuft eine physische Verwandlung, die es Sophonie ermöglicht Abner zu besiegen. Da Sophonie, bevor ihr Körper sich in einen Wasserstrudel transformiert, Athagwe anruft, lässt sich diese temporäre Verwandlung als eine Form der Possession  281 (Besessenheit) lesen, die es Sophonie gestattet ihren Körper zu bewahren und vor der Inbesitznahme durch Abner zu schützen. Sophonies Rettung ist möglich, weil sie nicht auf Abschottung und Autonomie, sondern auf Relation und Verbindung bzw. auf das Erbe des vodou zurückgreift und zudem mit Athanaël einen mächtigen Verbündeten hat. Wasser fungiert hier zum einen als Medium menschlicher und spiritueller Verbindung, zum anderen manifestiert sich durch das Element ein kraftvoller Widerstand, demgegenüber Abner, trotz seiner diabolischen Anteile, machtlos ist. In seiner Gesamtheit zeigt das Wasser die Veränderungen, Konflikte und Entwicklungen ökologischer, politischer, spiritueller und persönlicher Art an. So können das Leben und der Fluss ihren normalen Gang erst weitergehen, nachdem die Wiederherstellung des sozialen Gefüges und die Erneuerung der spirituellen Ordnung, die im Zentrum des folgenden Abschnitts steht, geglückt sind. 4.2.5 Religiöse Verortung und konkurrierende Weltbezüge in Kasalé Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, findet das Leben in Kasalé erst nach der Wiederherstellung der religiösen Stätten und der Erneuerung der Verbindung zwischen der Welt lwa und jener der Menschen wieder seinen normalen Fortgang. Denn die Frage nach der Gestalt der Ver‐ gemeinschaftung und der kollektiven Identität überschreitet in Kasalé das 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 217 <?page no="218"?> Menschliche und wird zur Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner natürlichen sowie spirituellen Umwelt. Obwohl diese ‚historische‘ Ordnung am Ende des Romanes reinstalliert wird, werden wir zunächst Zeug: innen eines aufbrechenden Konfliktes um die religiöse Verortung des lakous, der sich vor allem in dem Streit zwischen Antoinette und Nativita manifestiert. Letztere bezieht sich dabei vor allem auf christliche Glaubenslehren und verurteilt die vodoupraktiken als okkultes, restriktives System. Bei den Traditionen, auf welche Antoinette sich bezieht, handelt es sich hingegen nicht nur um religiöse Ausdrucksformen, vielmehr organisiert sich entlang der lokalen lwa de Guinée das gesamte kollektive Gedächtnis einschließlich des Zusammen- und Überlebenswissens des Ortes: Le vodou à Kasalé est une affaire de famille. Ce lakou est un démembré où nous servions nos lwa de Guinée, nos lwa-famille, hérités en même temps que le domaine. […] Si la famille éclate, le culte dépérit. Tout dépend de nous. Une affaire de sang, de responsabilité aussi. Les traditions se meurent de notre oublie, de notre propre mort (Mars 2007: 62). Über die lwa de Guinée, die — so ist es dem Glossar am Ende des Buches zu entnehmen — die Geister der Ahn: innen darstellen, besteht eine eindeutige Linie zurück zu den ersten, aus Afrika verschleppten, Bewohner: innen des Terrains (vgl. Mars 2007: 86), welche in der engen, lokal verankerten Verknüpfung von spiritueller Praxis, familiären Strukturen und gemeinschaftlicher Arbeit zusammenlebten (vgl. Métraux 1958: 50), die den lakou in seinen Ursprüngen ausmachte: A lakou is a community of people and houses organized and gathered around a common yard under the direction of a ougan (Vodou priest), manbo (priestess), or family elder that promoted and promotes an egalitarian existence rooted in the Vodou religion and ancestor worship, land ownership arrangements, and working the soil (Mocombe 2018: 1). Das Zusammenleben kann folglich nicht ohne die identitätsstiftenden und mé‐ moriell bedeutsamen rituell-spirituellen Handlungen und Erzählungen gedacht werden. Doch trotz ihrer wichtigen sozialen Funktionen sind die tradierten Glaubens-, Wissens- und Erinnerungsformen in der Gegenwart des Romans be‐ droht. Diese gegenwärtige Bedrohung durch eine wachsende Verdrängung der alten Glaubensformen durch ein erstarkendes Christentum und die Stadtflucht der Landbevölkerung (vgl. Mars 2007: 62) ruft bei Antoinette Erinnerungen an 218 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="219"?> 282 Tatsächlich kam es in der haitianischen Geschichte mehrmals zu vergleichbaren Kam‐ pagnen so 1896 organisiert durch den katholischen Klerus, zwischen 1915-1934 unter der US-amerikanischen Besatzung und 1941 erneut organisiert durch die Regierung und katholische Kräfte (vgl. Hurbon 2001b: 233 f.). 283 Vaisseaux wird im Anhang als „objets, ustensiles rituels“ übersetzt (vgl. Mars 2007). 284 Der Zeitraum der Campagne rejeté überschneidet sich in Teilen mit dem nationalsozia‐ listischen Massenmord an den europäischen Juden und Jüd: innen, zugleich bedeutet der Begriff ‚holocaust‘ soviel wie Brandopfer (vgl. Smilde 2021), was im Kontext des in Brandsetzen der (lebenden) kulturellen Objekte, die zugleich als Repräsentanten der Ahn: innen fungieren, gelesen werden kann und ist ein Hinweis auf unterschiedliche, z.T. widerstreitende und sich überlagernde kollektive Erinnerungen. Zugleich erscheint die Verwendung des Wortes ‚holocauste‘, da mit diesem Begriff allgemeinhin ein spezifischer Genozid von erschreckenden Ausmaßen bezeichnet wird, doch als etwas unpassend und birgt die Gefahr die Shoa zu banalisieren. 285 Jacques Stephen Alexis liefert mit Les arbres musiciens eine ausführliche, literarische Kritik an der Campagne anti-superstitieuse und den dahinterliegenden ökonomischen wie politischen Interessen (vgl. Alexis 1992). die Campagne anti-superstiteuse der Jahre 1939-1942 (vgl. Hurbon 2001b: 233), 282 auch bekannt als Campagne rejeté, wach: Ils sont venus avec des soldats fusils au poing, ils ont tout détruit : nos kay-mistè, nos vaisseaux 283 , nos croix, nos tambours. Nous avons juste eu le temps d’enterrer quelques objets, tout le reste est partie en flammes. La fumée de cet holocauste est restée prisonnière du ciel pendant plusieurs jours. Le plus dure a été de constater que nos propres frères et sœurs se sont retournés contre nous. […] Depuis, rien n’a jamais été pareil. Pendant quelque temps, nous avons dû pratiquer dans la totale clandestinité. […] C’est pourquoi moi j’ai voyagé dans tout le pays, servant dans des villages où la campagne rejeté n’avait pas tout à fait détruit nos croyances et nos objet de culte (Mars 2007 : 61 f.). 284 Durch die Figur der Antoinette nimmt Mars Bezug auf die, unter dem großen Einfluss der katholischen Kirche und der Mitbeteiligung der Regierung unter Elie Lescot sowie lokaler ländlicher Akteure (vgl. Olivier 2012) durchgeführte Campagne anti-superstitieuse, welche das Ziel hatte die Bevölkerung zur Aufgabe sämtlicher vodouesker religiöser Praktiken zu drängen. 285 Mit dem Erstarken des kirchlichen Einflusses wird die jahrzehntelange Koexistenz katholischer, protestantischer und vodouesker Glaubenssysteme aufgekündigt (Mars 2007: 61) und letztere als Aberglaube in die Klandestinität verbannt. In diesem Zusammenhang wurden eine Vielzahl von spirituellen Orten und Artefakten zerstört. Dass sich die Interessen und Diskurse hinter diesem Kampf um Wissens-, Glaubens- und Lebenskonzepte nicht allein mit einer Gegenüberstellung von Aberglauben und Aufklärung erklären lässt, wird in 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 219 <?page no="220"?> 286 Der Begriff ‚bossale‘ wurde konträr zum Wort ‚créole‘ verwendet und bezeichnet Sklav: innen, die von afrikanischen Kontinent kamen und damit nicht bereits in das System der Plantage hineingeboren wurden (vgl. Barthelémy 2015: 207 f.). Nicht nur während der Zeit der societé de plantation, sondern auch im Verlauf der Revolution und darüber hinaus in der neu entstehenden, post-kolonialen haitianischen Gesellschaft, spielte diese Unterscheidung wiederholt eine wichtige Rolle, wie Gérard Barthelémy in Créoles — Bossales: Conflit en Haiti (2000) zeigt. der Analyse Jacques Roumains sichtbar, der die Campagne anti-superstitieuse auf dahinterliegende politische Motive befragt (vgl. Roumain 2018b). Vor dem Hintergrund, dass die französische, katholische ‚Hierarchie‘, welche für die Kampagne nicht unbedeutend war, das Vichy-Regime und damit faschistische Kräfte unterstützte, deutet Roumain in konsequenter materialistischer Manier die Kampagne als Ausdruck ökonomischer und totalitärer, faschistischer In‐ teressen und nicht als ein Emanzipationsprojekt im Sinne der Aufklärung (vgl. Roumain 2018b). Vielmehr, so Roumain, provoziere die Kampagne eine Uneinigkeit in der haitianischen Bevölkerung, welche nicht nur künstlich, sondern zudem angesichts der politischen Situation unangebracht sei (vgl. Roumain 2018b). Die Auseinandersetzungen um religiöse Hegemonie bildet somit ein Ringen um Deutungshoheiten und Einflussbereiche ab, mit dem auch ein Kampf um kulturelle Identitäten, gemeinsame Werte und das kollektive Gedächtnis verbunden ist. Die Frage, wie die eigene Herkunft narrativiert und das Wesen bzw. die Geschichte der Gruppe perspektiviert werden, ist untrennbar mit dieser Auseinandersetzung verwoben (vgl. Lafleur 2017: 48). Die Marginalisierung und Dämonisierung des vodou und der ruralen Kultur und Sprache kann nicht unabhängig von der Exklusion der Landbevölkerung von der politischen Teilhabe, die erst 1987 durch die neue Verfassung beendet wurde, betrachtet werden (vgl. Hurbon 2001b: 233 ff.). Denn in die Praxis und das Imaginäre des vodou sind die Erinnerungen an ein afrikanisch-bossales  286 Erbe eingelassen, so dass die Geschichte des vodou und, vor allem die widerständige, Geschichte Haitis nicht unabhängig voneinander gedacht werden können (vgl. Barthelémy 2015: 179; Vitiello 2011: 372). In den Verschränkungen von vodou, Strukturen des Zusammenlebens wie der lakou, Kreolsprache, familiärer Bezie‐ hungen und landwirtschaftlicher, kollektiver Arbeit realisiert sich das rurale Leben in Opposition zu den städtischen, vorwiegend europäisch geprägten Formen (vgl. Hurbon 2001b: 135 f.). Antoinettes Festhalten an den Traditionen kann nur vor diesem Hintergrund richtig interpretiert werden, nämlich nicht als ein reaktionäres Konservieren obsolet gewordener Konventionen, sondern als Aufrechterhalten marginalisierter Formen des Zusammenlebens und eines widerständigen geschichtlichen Erbes: 220 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="221"?> Ce lieu de culte est pour elle [Antoinette] un lieu sacré non seulement de pratique mais aussi de mémoire. Les lwas sont pour elle la conscience de la communauté […] il ne fait aucun doute que la pratique des lwas est liée au bien-être communautaire […] L’indépendance de la nation est ici directement liée à la pratique vodouisante. Le culte ne disparaît pas. Il reste comme une présence en palimpseste de tous les instants dans la vie quotidienne à travers les recettes médicales, les conseils familiaux etc. (Vitiello 2011: 372 f.). Trotz der vergleichsweise langen und ‚nationsbildenden‘ Tradition des vodou lebt die konfliktuöse Spannung zwischen Katholizismus und vodou auch mehr als 30 Jahre nach der Kampagne in Kasalé fort. Dieser fortwirkende Riss findet seinen Ausdruck auch in eben jenem, die Romanhandlung bestimmendem Konflikt zwischen Nativita und ihrer Tante Antoinette (vgl. Mars 2007: 116). Gleichwohl vermögen diese eklatanten sozialen Spannungen nicht die solidari‐ schen Bande, auf welchen das Leben in Kasalé aufbaut, aufzulösen. 4.2.6 Ökonomien des Mangels und Ökonomien der Fürsorge Diese solidarischen Bande sind konstituierender Bestandteil einer vorwiegend weiblichen Sozialformation, die jenseits staatlicher Strukturen und ökonomi‐ scher Sicherheit in prekären Verhältnissen besteht. Joëlle Vitiello nennt Kasalé vor diesem Hintergrund eine ‚weibliche Entgegnung auf Gouverneurs de la Rosée‘ (vgl. Vitiello 2011: 371). Tatsächlich fällt bei der Lektüre auf, dass die Erzählung mehrheitlich durch weibliche Figuren bestimmt ist, denn der lakou Kasalé ist vor allem eine Kohabitation von Frauen und Kindern, während Männer für das soziale Leben kaum zentrale Funktionen besetzen bzw. schlicht nicht anwesend sind. So tragen der Handwerker Valbrun und der zurückge‐ kehrte Rodrigue zwar zu der Wiedererrichtung des kay-misté bei (vgl. Mars 2007: 221 f.) und auch dem Père Daniel kommt durch sein Amt ein gewisser moralischer Einfluss zu, jedoch sind die meisten handlungsrelevanten Entwick‐ lungen und Entscheidungen bei den weiblichen Figuren Nativita, Antoinette und Sophonie angelegt. Die männlichen Figuren, auch wenn sie im Fall von Abner und Athanaël wichtige Funktionen erfüllen, treten demgegenüber eher in den Hintergrund, wie auch Vitiello hervorhebt: La question du genre est subtilement représentée dans Kasalé. Le village est peuplé avant tout de femmes. Ce sont les conservations des femmes qui sont rapportées au lakou ou sur le bord des rues où s’installent les marchandes. Les femmes expriment leurs désirs, qu’il s’agisse d’Esperanta pour Abner, ou Madame Sainval pour Athanaël. 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 221 <?page no="222"?> Même parmi les divinités, c’est une incarnation féminine qui guide la destinée d’Athanaël (Vitiello 2011: 375). Dementsprechend ist der Roman majoritär weiblich perspektiviert und narra‐ tiviert, denn durch die Augen und aus den Mündern von Nativita, Gran’n/ Antoinette, Espéranta und Sophonie erfahren die Lesenden von den Ereignissen in Kasalé, den Begehrlichkeiten und Abneigungen der Bewohner: innen, aber auch von der materiellen Prekarität des Dorflebens. Armut, ökonomische Nöte und Mangel sind nahezu im Leben aller Figuren präsent. Ohne jegliche finanzielle Absicherung lebt der Großteil der Familien von den Einkünften des jeweiligen Tages durch den Verkauf von Nahrungsmit‐ teln, sexueller Dienstleistungen oder durch die monatlichen Geldsendungen von migrierten Familienmitgliedern (vgl. Mars 2007: 82). Auch für Sophonie stellt sich die Erfüllung materieller, essenzieller Bedürfnisse als eine fortdauernde Anpassungsleistung an sich verändernde Umstände am Rande des Existenzmi‐ nimums dar: Abandonner la vente du pain? Hors de question. Elle vivait de son petit commerce. Les affaires étaient bonnes, surtout ces jours-ci, grâce au chantier. […] Avec l’argent de la vente, elle trouvait de quoi acheter de la nourriture, faire des menues dépenses pour elle et les gosses, après avoir mis de côté de quoi s’approvisionner le lendemain. […] Avant l’ouverture du chantier, quand la vente du pain ne rapportait pas assez, elle faisait des jobs de lessive et de repassage pour certains résidents des environs du marché. Mais ce travail l’épuisait (Mars 2007: 101). Mit dem Bau einer neuen Brücke eröffnen sich für die Bevölkerung Kasalés kurzzeitig neue Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen (Mars 2007: 43), doch nichtsdestotrotz bleiben die Arbeitsbedingungen im höchsten Maße prekär. Die Reproduktion von Leben unter diesen fragilen Umständen ist nur durch die unermüdliche und allgegenwärtige unbezahlte (oder unterbe‐ zahlte) Arbeit der Frauen möglich, die von der Fürsorge, über das Geldverdienen bis zum spirituellen Erhalt der Vergemeinschaftung reicht. Materieller Mangel durchzieht die Erzählung und prägt die Beziehungen der Figuren zueinander, und wird von Mars doch zugleich mit einer subtilen Selbstverständlichkeit in der Form von alltäglichen Handlungen wie z. B. dem Brotverkauf, erzählt (vgl. Vitiello 2011: 374). In diesem instabilen Netz aus Improvisation und Prekarität ist die femme poto mitan eine zentrale Figur, die einen Großteil der produktiven und reproduktiven Arbeitslast trägt und — trotz der großen ökonomischen Differenzen zwischen den Ländern — in den Departements d‘outre-mer wie Martinique und Guadeloupe ebenso geläufig ist wie auf Haiti (vgl. Lefaucheur 2018): 222 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="223"?> 287 Das peristyle ist ein offener, überdachter Anbau des houmfò (oder auch kay-misté, an dem der Großteil der Zeremonien und Tänze stattfinden (vgl. Métraux 1958: 66 f., 329). Si le terme peut être employé comme synonyme de „la mère antillaise“ et appliqué à toutes les mères et grand-mères, il caractérise en effet avant tout celles qui doivent „être la mère et le père“ parce que c’est dernier est „absent ou inconnu au bataillon“. Si cette situation était fréquente dans la moitié du XXᵉ siècle, ce n’était cependant pas le cas de toutes les mères antillaises: la femme poto mitan, c’était avant tout la mère prolétaire, souvent ouvrière agricole ou domestique, qui n’avait d’autre capital pour élever ses enfants que sa „vaillance“, la force de ses bras ou, parfois l’agilité de ses doigts de couturière (Lefaucheur 2018 : 86). Der Umstand, dass die Soziologin Nadine Lefaucheur in ihrer Beschreibung der femme poto mitan an einer Stelle die Vergangenheitsform verwendet, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese familiär-ökonomische Struktur weiterhin die Lebensrealität vieler Frauen, vor allem jener aus den populären Milieus, auf den Antillen prägt. Das Narrativ der starken, aufopferungsvollen femme poto mitan versucht die meist unfreiwillige und ausgebeutete Position vieler Frauen zu einem Ideal zu verklären und das Agieren der Frauen von seiner ökonomischen Notwendigkeit zu trennen. Auf diese Weise wird die Analyse des intersektionalen Ineinandergreifens von Machtverhältnissen bei der Herausbildung prekärer Lebensverhältnisse zugunsten eines heroisierten Frauenbildes aufgegeben. Vor jenem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass feministische Autor: innen und Wissenschaftler: innen den Übergang von der poto mitan zu einem egalitäreren Modell fordern (vgl. Lefaucheur 2018: 94) oder wie die Bloggerin Tschipie schreibt: „Moi, femme antillaise poto mitan, je démissione de mes fonctions! “ (Lefaucheur 2018: 94). Zugleich verweist die Herkunft des Begriffes poto mitan (oder auch poteau mitan) auf ein charakteristisches Bauelement sakraler Stätten (vgl. Métraux 1958: 329; Sheller 2012: 202). Der poto mitan, ein Pfeiler in der Mitte des pe‐ ristyle,  287 gilt als Weg bzw. Verbindung zu den Geistern und ist damit Teil des sakralen Interieurs. In der Zusammenschau der profanenalltäglichen, der religiösen und der architektonischen Implikation des Begriffes wird die Vorstellung von der Frau als zentraler, stützender und zugleich heiliger bzw. idealisierter Pfeiler des spirituellen und sozialen Lebens erkennbar. In Kasalé sind es insbesondere die Figuren Antoinette und Sophonie, welche diesem Idealbild entsprechen. Es wird ersichtlich, dass der entscheidende Teil der vergemeinschaftenden Tätigkeiten von den weiblichen Figuren erledigt wird. Geburt, Versorgung und Erziehung der Kinder, Pflege und Heilen der Alten und Kranken, wie im Falle von Antoinette und Nativita, Bewahren des kollektiven 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 223 <?page no="224"?> Gedächtnisses und Weitergabe der Erinnerungen, Dienst an den lwas sowie Konfliktlösung fallen allesamt in den weiblichen Aufgabenbereich und gesellen sich zu der Notwendigkeit Geld zu verdienen, von der in Kasalé nahezu kein und keine Bewohner: in ausgenommen ist (vgl. Mars 2007: 43). Die wenigen Männer hingegen, die sich regelmäßig in Kasalé aufhalten, sind nicht in der Lage diese anfallenden Aufgaben zu übernehmen wie im Fall des Priesters Père Daniel, der trotz seiner mit Väterlichkeit assoziierten Sanftheit und seiner Rolle als vermeintliches spirituelles Oberhaupt, wie Lafleur schreibt, im privaten Bereich als Vater versagt (vgl. Lafleur 2017: 88): Pour accomplir sa „mission“, il abandonne sa femme et ses enfants. […] Tout en étant considéré comme un modèle de vertu pour ses fidèles, il rejoint le stéréotype de ces hommes incapables d’engagements rencontré par Sophonie et Espéranta. Par ailleurs, le couple dans les romans, échappe aussi au modèle traditionnel. Athanaël […] père de l’enfant de Sophonie […] ne peut pas vivre sous le même toit que Sophonie et ne peut la toucher qu’en rêve. Même s’il se préoccupe de la jeune femme et affirme qu’il prendra soin de ses enfants, il reste en dehors de sa réalité quotidienne. Elle reste seule à assumer ses résponsabilités familiales (Lafleur 2017: 88). Auch wenn demgegenüber die Figur des Athanaëls das Bild einer positiven Männlichkeit entwirft, die statt destruktiv und toxisch zu wirken, heilt, schützt und erschafft, heben sich auch in der Beziehung zwischen Sophonie und dem Bildhauer die vergeschlechtlichen Arbeitsverhältnisse nicht auf. Die Unmög‐ lichkeit den Bereich des Häuslichen sowie körperliche Nähe mit Sophonie zu teilen, ist Folge von Athanaëls metaphysischer, göttlicher Natur. Auch wenn Athanaël im Vergleich zu den anderen männlichen Figuren eine wichtige spirituelle Funktion erfüllt, so verbleiben doch auch hier die grundlegenden vergemeinschaftenden Handlungen und die Sorgeverantwortung bei den weib‐ lichen Figuren: Les femmes à la lessive se mettaient à couvert sous les arbres, plus question de rester au milieu du courant […] Altagrâce, en nage, mettait la dernière main au repas. Sa nièce Sherline l’aidait […] Un à un, les gamins des cases alentours approchaient, attirés par l’odeur du manger. Les mères quittaient leurs occupations pour aller au ravitaillement. On ne voyait pas beaucoup d’hommes à Kasalé à cette heure. Ils travaillaient sur les chantiers ou déambulaient dans les mornes, travaillant leurs carrés de terre ou surveillant leurs pâturages. Gran’n, sous sa galerie, agitait un carton devant son visage […] Les petits-enfants de Nativita, comme à l’ordinaire, jouent bruyamment sur son perron […] Un journée comme les autres, adultes et enfants groupés à l’ombre dentelée du flamboyant. Altagrâce commenca le service (Mars 2007: 47 f.). 224 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="225"?> 288 „Les hommes venaient parfois se ravitailler au comptoir d’Altagrâce dont l’occupation paraissait plus un sacerdoce qu’un véritable commerce […] Son souci étant surtout de procurer aux enfants et aux adultes au moins un repas chaud par jour. Ceux qui pouvaient payer lui versaient quelques pièces, les autres lui apportaient leur contribution dès que leurs affaires allaient mieux“ (Mars 2007 : 25 f.). Die gemeinschaftsstiftende Wirkung der, vorrangig von Frauen, verrichteten Fürsorgearbeit offenbart sich in dieser emblematischen Szene, in welcher sich Kinder und Frauen zum Essen unter dem flamboyant (Feuerbaum) versammeln. In dem gemeinsamen Mahl materialisiert sich die menschliche Vergemeinschaf‐ tung, aber auch die Verbindung zwischen Mensch und den Göttern (vgl. Rudtke 2010: 216 f.). Ebenso wie Antoinette gegenüber den Ahn: innen und den lwa, verrichtet auch Altagrâce über die tägliche Essenszubereitung einen Dienst an dem Kollektiv. 288 Dieser Dienst erhält das Zusammenleben und den kollektiven Körper nicht nur physisch, sondern erneuert über das ritualisierte Zusammen‐ kommen auch moralisch das Kollektiv. Gleichzeitig ist das Essen nicht nur sichtbarer Ausdruck notwendiger (elterlicher) Sorgetätigkeiten, es legt auch den materiellen Mangel in Kasalé offen. Es ist dementsprechend zu beobachten, dass die Bewohner: innen von Kasalé Strukturen etablieren und Ressourcen bereitstellen, die einen Umgang mit dem materiellen Mangel ermöglichen und zugleich an die weiblichen Traditionslinien des lakous anknüpfen (vgl. Mocombe 2018: 1). Kleingewerbe, räumliche Enge und eingeschränkte Privat‐ sphäre sowie gemeinsame Erziehung und Aufsicht der Kinder (vgl. Chemla 2015: 186) sind elementare Bestandteile dieses Gemeinwesens, das aufgrund einer kollektiven Organisation von reproduktiven Tätigkeiten überhaupt nur existieren kann. Statt westlich-bürgerlicher Kleinfamilienstrukturen und der Teilung zwischen privat-reproduktiver und öffentlichproduktiver Arbeit sind wir mit einer Organisation konfrontiert, bei der sämtliche Aufgaben den Frauen zufallen und von diesen untereinander aufgeteilt werden und in der jede ihren Teil zum Gemeinwohl beiträgt. Die Konvivialität, welche in Kasalé entworfen wird, unterscheidet sich so radikal von bürgerlichen Formen oder aufklärerischen Konzepten wie citoyen‐ neté. Statt einer über Verfassung und contrat social garantierten und durch die Trennung zwischen politischer und privater Sphäre realisierten liberté civile organisiert sich das Zusammenleben in dem lakou entlang biologischer, materieller und spiritueller Notwendigkeiten, ohne dabei das Individuum zu fokussieren. Dementsprechend erfahren jene Figuren, — Abner und Espéranta — welche diesen Notwendigkeiten nicht im Sinne eines kollektiven Wohls entsprechen und vielmehr ihre eigenen libidionösen und materiellen Bedürf‐ nisse priorisieren, Ausschluss, Zurückweisung und Tod. Gleichwohl sind die 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 225 <?page no="226"?> 289 Eindeutige Verweise auf die historische Figur finden sich in der Beschreibung durch Rodrigue: „Chaque année, dans son discours de célébration du jour de l’Indépendance, le chef de l’État, flottant dans sa redingote noire, nasillard, terriblement myope, promettait au peuple la reconstruction imminente des routes nationales“ (Mars 2007 : 209). solidarischen Strukturen nicht in der Lage, die grundlegende Prekarität der Le‐ bensverhältnisse aufzuheben. Stattdessen sind die einzelnen weiblichen Figuren weiterhin mit einer Vielzahl an Anforderungen konfrontiert: A onze ans, Jasmin laissait doucement l’enfance. Sophonie ne le voyait pas. Son souci majeur était de combattre la faim dans le ventre de ses enfants. Elle luttait contre les parasites dans leurs tripes et sur leur cuir chevelu. Elle luttait contre l’ignorance en se sacrifiant pour les envoyer à l’école. Elle leur évitait de trop chaud, le trop froid et ne ménageait pas le ceinturon ou la pantoufle pour dresser leurs mauvaises courbes. La présence de Jasmin venu chercher dans son lit un refuge contre les grimaces des ombres lui rappelait qu’il n’avait pas seulement faim de riz aux pois […] Tout à coup, ce soir, la vie lui demandait d’être autre chose, d’être une mère (Mars 2007 : 223 f.). Nativita, Altagrâce, Antoinette und Sophonie, sie alle leben somit in einer Realität, welche eine Vielzahl von materiellen, emotionalen und reproduktiven Anforderungen an sie stellt. Dabei illustriert das Zusammenleben in Kasalé auf sehr exemplarische Weise, dass dieser Simultanität von Fürsorgepflicht und Verantwortung für die physischen Bedürfnisse nur in dem sozialen Gefüge, welches der lakou bietet, möglich ist beizukommen. Diese konviviale Organisa‐ tion des Alltags ist zugleich durch die außerhalb des Dorfes herrschenden Regeln und männlich codierte Gewaltsysteme immer wieder bedroht. 4.2.7 Männlich codierte Gewaltsysteme — Einschreibungen der Diktatur Neben den negativen Auswirkungen anhaltender Trockenheit, sozialer Kon‐ flikte sowie prekärer materieller Verhältnisse stellt der gewaltvolle Zugriff der Duvalier-Diktatur, verkörpert in der Figur Abners, eine der Hauptgefahren‐ quellen für den lakou und seine Bewohner: innen dar. Als zeitlicher Kontext von Mars‘ Roman lässt sich das Jahr 1969, und damit die Zeit der Diktatur von François Duvalier, 289 identifizieren (vgl. Vitiello 2011: 377). Auf subtile Weise integriert Mars die bedrohliche Stimmung dieser Zeit und die gesellschaftlichen Formen und Konsequenzen, welche das repressive Regime hervorbrachte, in ihre Erzählung. So sind sowohl die Bedrohung durch die Tontons Macoutes als auch die Schrecken des Verschwindens und Verschwindenlassens latent im kollektiven Bewusstsein präsent, ohne notwendigerweise eine explizite sprach‐ 226 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="227"?> liche Repräsentation zu finden. Denn obwohl die Gespräche der Figuren nur selten, und wenn, dann auf subtile Weise, auf die Eingriffe der Diktatur in den Alltag zu sprechen kommen, lassen sich die ökonomischen, körperlichen und psychischen Dimensionen der politischen Verhältnisse unweigerlich erahnen, wie die Perspektive Rodrigues im Folgenden verdeutlicht: Le voyage n’en finissait pas, car aux postes militaires […] il avait fallu mettre pied à terre, pour l’inspection du véhicule par des militaires nonchalants secondés de VSN zélés […] Rodrigue rongeait son frein pour ne pas enfoncer à coups de poing dans le crâne du chauffeur des notions de respect d’autrui. Il s’énervait en même temps de cette montée de sentiments agressifs, car depuis longtemps il avait appris à les sublimer. Une manière de survivre […] Il souffrait sans dire un mot, sachant qu’il exposerait peut-être sa vie à protester contre la conduite du chauffeur. Qui sait, l’homme au volant du camion était peut-être fils, neveu, beau -frère, cousin d’un macoute, ou macoute lui-même […] chaque citoyen se prenait pour l’État et seul le sang lavait tout impertinence envers son autorité (Mars 2007 : 209 f.). Das repressive und gewalttätige Auftreten der Diktatur ruft, so wird an der Stelle deutlich, bei der Bevölkerung einen Zustand permanenter Angst hervor und durchdringt selbst die einfachsten Alltagshandlungen. Über die Figur des Rodrigue führt Mars den historischen Kontext und die Situation außerhalb Kasalés in die Erzählung ein (vgl. Vitiello 2011: 376). Seine Reflexionen und Beobachtungen führen die Omnipräsenz der Tonton Macoute und die Willkür‐ lichkeit der staatlichen Repression vor Augen, die jegliche offene diskursive Auseinandersetzung unmöglich macht. Der Einzelne kommt in diesem System nicht mehr als gleicher und freier Bürger, der sich in den Anderen als Teil des geteilten Gemeinwesens erkennt, vielmehr tritt er als alleinige Inkarnation des Staates oder diesem als Untertan unterworfener vor. Vor jenem Hintergrund stellt die citoyenneté weder ein positives noch hilfreiches Bezugskonzept dar, vielmehr werden Strategien des Schweigens und des Rückzugs virulent. Dem‐ entsprechend erscheinen auch Kasalé und seine Bewohner: innen auf den ersten Blick isoliert vom politischen Kontext, wie auch von der restlichen Welt (vgl. Lafleur 2017: 20). Doch trotz seiner Abgeschiedenheit trägt auch Kasalé Spuren der gewaltsamen politischen Zugriffe davon, die im Verlauf der Erzählung an die Oberfläche treten. Dabei ist die Diktatur — bis zu dem Auftauchen Abners — weniger als reale Instanz im Dorfleben präsent, vielmehr offenbart sie sich in Gestalt von Wunden und Leerstellen, die die Abwesenheit der verschwundenen, 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 227 <?page no="228"?> 290 Der Fort Dimanche war ein berüchtigtes (Folter-)Gefängnis und einer der bekanntesten Orte staatlichen Terrors 291 Die Kleidung der Tonton Macoute ist zudem inspiriert durch den lwa der Landwirtschaft, Zaka: „Qu’est ce que le costume de Tonton Macoute? C’est la grosse toile bleue avec le col rouge, c’est le vieux costume du paysan haïtien, le costume de Zaka, le dieu de l’agriculture. Duvalier prend ce symbole positif, l’extrait du passé et de l’imaginaire haïtien, et en revêt ses sbires, les Tontons Macoutes“ (Bona 2004). inhaftierten und exilierten Menschen bezeugen, wie im Falle von Nativitas Enkel Eddy, dessen Vater in den Fort Dimanche 290 verschleppt wurde: Eddy commençait à trouver agaçantes les questions de Jasmin. Il lui rétorqua en faisant une geste vague de la main: —Je ne sais pas où est-ce qu’il est mon père. Les grandes personnes disent qu’un jour, alors que ma mère attendait Bèbète, il a été emmené dans un endroit qu’on appelle Fort- Dimanche. Je n’en sais pas plus. Jasmin ne tarissait pas de questions. — Mais qui l’a emmené et pourquoi? Ne vient-il jamais vous rendre visite? —Tu ne comprends donc rien, lui lança Eddy, agacé. C’est les tontons macoutes qui l’ont emmené! Tu me laisse tranquille à la fin? —Ah, fit Jasmin, les tontons macoutes… Ce mot disait tout. Il symbolisait la face hideuse de la vie. Un mot, peut-être le seul, qui faisait autant peur aux enfants qu’aux adultes (Mars 2007: 82 f.). Das unbestimmte Wissen um die Schrecken des politischen Gewaltsystems ist bereits bei den Kindern, Jasmin und Eddy, verankert, ohne dass diese über kon‐ kretes Wissen zu den politischen Zusammenhängen verfügen. So repräsentiert die Figur des Tonton Macoute im Imaginär eigentlich eine „volkstümliche Figur, die unartige Kinder in den Sack steckte“ (Bernecker 1996: 153), 291 wird im Verlauf der Herrschaft von François Duvalier jedoch zum Inbegriff der repressiven und gewaltvollen Machterhaltung durch die paramilitärischen Milice de Volontaires de la Sécurité Nationale (MVSN). In Kasalé existiert ein diffuses Wissen um die Diktatur, dass sich aus mündlichen Berichten, historischen Fakten um die systeminhärente Gewalt und den schmerzhaften Erinnerungen an die Ver‐ schwundenen und Exilierten zusammensetzt. Während das Zusammenleben in Kasalé an die weiblichen Figuren gebunden ist, zeigt sich die Diktatur vor allem über männliche Figuren vermittelt. So ist es die Diktatur, die das Verschwinden von Eddys Vater, das Exil Rodrigues und das Auftauchen Abners bedingt. Zum einen durch die politisch bedingte Abwesenheit der Männer und zum anderen durch die maskulin-patriarchale Gestalt, welche das Regime annimmt und 228 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="229"?> 292 „Espéranta était une prédatrice, il lui fallait du sang sous ses griffes. D’autres passaient leur vie à travailler pour subsister, tandis qu’elle passait la sienne à chasser les hommes, dans le même objectif. […] Espéranta savait reconnaitre un homme, un vrai, quand elle en rencontrait un. Cette fois, encore, son instinct ne la trompait pas, celui-là en valait au moins deux. D’un seul coup d’œil enveloppant, elle inventoria le poitrail velu sous la salopette de gros bleu, les pectoraux au tracé ferme, le cou épais et court, les épaules tombantes, les hanches étroites. Manman ki fèm ! Une vraie force de la nature. Détail non moins intéressant, ses mains ne ressemblaient pas à des mains de manœuvre. Il n’avait pas non plus leur tête abrutie“ (Mars 2007 : 45f.). zelebriert, verschärft der politische Kontext das Geschlechterverhältnis, wie Joëlle Vitiello ausführt: La menace qui plane partout est perçue comme une incarnation du mal. Le personnage qui incarne ce mal dans le livre est Abner […] Le dialogue en demi-teinte entre les enfants Eddy et Jasmin dans le lakou témoigne du silence qui entoure les disparitions et l’incertitude du destin des victimes. Nul autre personnage ne mentionne les conséquences (économiques, affectives) de la disparition du père d’Eddy dans les prisons de Fort-Dimanche pour la famille. Mais le fait que la communauté soit composée essentiellement de femmes seules avec leurs enfants, le silence ambiant, tout ceci traduit les effets pernicieux d’un régime totalitaire et rend d’autant plus nécessaire la perpétuation des croyances auxquelles se livre Antoinette pour soutenir les siens (Vitiello 2011: 376). Die Diktatur ist in dem Roman vorrangig männlich codiert und verstärkt durch die Abwesenheit der Väter, wie auch durch die patriarchal verfasste systemati‐ sche Gewalt, die Prekarität und Vulnerabilität weiblicher Lebensformen. Dem‐ entsprechend zeichnet sich auch Abner, Symbolfigur der Diktatur, durch eine besondere betonte Maskulinität aus. Als ‚wahrer Macho‘ (vgl. Mars 2007: 123) fällt der Vorarbeiter Abner durch eine Aura dominanter und gefährlicher Virilität auf, welche auf Sophonie abschreckend wirkt, bei Espéranta hingegen das Begehren weckt. 292 Obwohl wir in Espérantas lüsternen, weiblichen Blick auf den männlichen Körper einer selbstbewussten Äußerung weiblichen Begehrens begegnen, ist die spätere physische Begegnung zwischen Abner und Espéranta kein Ort sexueller Selbstbestimmung. Denn indem Abner Espéranta vergewal‐ tigt, legt er es darauf an, sie eben nicht als eigenständiges Subjekt anzuerkennen, sondern sie vielmehr zu einem unterworfenen Objekt (vgl. Lafleur 2017: 91) zu degradieren. Durch die Figur des Abners illustriert Mars die geschlechtsspezifi‐ sche Dimension der politischen Gewalt der Duvalier- Jahre. Gewalt, Dominanz und Sexualität gehören in dieser Repräsentation der Diktatur, welche ihre Macht bis in die intimsten Räume hinein ausübt, untrennbar zusammen. 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 229 <?page no="230"?> Femizide, wie sie sich im Verschwinden der Sexarbeiterin erahnen lassen, Misogynie und Vergewaltigung gehören, so verdeutlicht Mars, zum selbstver‐ ständlichen Repertoire politischer (diktatorialer) Gewalt. Ebenso wie in die weiblichen Körper dringt Abner auch gewaltvoll in das soziale Leben der Vergemeinschaftung ein. Auf diese Weise übersetzt sich die Stimmung der Diktatur in die bedrohliche Präsenz und Überwachung durch Abner und dessen unbedingtem Willen zu bekommen, was er begehrt (vgl. Vitiello 2011: 376). Während die Gerüchte um Abner, seine Erscheinung und seine penetranten Blicke noch eine gewisse subtile Abstraktheit und Flüchtigkeit aufweisen, materialisiert sich in der Vergewaltigung Espérantas sowie in der versuchten Vergewaltigung Sophonies der Sadismus Abners in seiner konkreten zerstöre‐ rischen Form. Dass dieses Abner inhärente Böse nicht nur Begleiterscheinung einer diktatorisch und patriarchal verfassten Welt ist, wird in dem Moment deutlich, als Espéranta nach dem Ereignis mit Abner ihre Kleidung im Fluss wäscht: La toile était encore raide de la semence asséchée d’Abner […] Elle percevait un mouvement dans le tissu. Un grouillement, une présence vivante […] Elle découvrit, avec une horreur sans nom, une portée de minuscules êtres, pareils à des têtards ondulants entre les fibres du tissu, chacun gros comme l’ongle de son petit doigt. Dépourvus de pieds et de mains, ils portaient une queue et une tête démesurée, flanquée de deux petits yeux proéminents et noirs. A l’endroit qui semblait leur tenir lieu de front s’élevait un frêle appendice en forme de corne. Espéranta tenait entre ses mains des petits monstres qui, sous l’effet de l’eau, enflaient à vue d’œil! Et cette nation de diables était passé à travers son corps, avait séjourné au plus secret de son anatomie! […] Ces petits choses horribles venaient de la semence d’Abner! Son instinct ne l’avait donc pas trompée, elle avait eu affaire à une bête! (Mars 2007: 196 f.). In jener marque d’un mal suprême (Vitiello 2011: 376) offenbart sich, dass Abners Bösartigkeit einen diabolischen, übernatürlichen Ursprung hat und weit über das Weltlich- Politische hinausreicht. Dabei werden sowohl die politische als auch die diabolische Gewalt über den Körper der Frau ausgeübt. Sexualität kann in diesem Kontext nur durch Zerstörung und Schmerz ausgelebt werden (vgl. Vitiello 2011: 376) und ist dabei zugleich Ausdruck eines politischen Systems, welches dominanter Männlichkeit huldigt. In der Figur des Tonton Macoute kumulieren drei Formen des Bösen und Gewalttätigen, denn Abner ist erstens Repräsentant eines politischen Gewaltsystems, zweitens Symbol männlicher Gewaltausübung über Frauen und ihre Körper durch den männlichen Blick ebenso wie durch konkrete sexuelle und physische Gewalt und drittens In‐ karnation eines genuin, metaphysisch-diabolischen Bösen. Diese ontologische 230 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="231"?> 293 Kuba nimmt eine wichtige Rolle als revolutionäres Hinterland ein. Mit Rodrigues Flucht nach Kuba knüpft Mars an ein wiederholtes literarisches Motiv an, indem Kuba als Zu‐ flucht und Politisierungsort erscheint. Ob Roumains Manuel, der Schriftsteller Jacques Stephen Alexis oder jener namenlose Protagonist in Louis-Philippe Dalembert L’île du bout des rêves, Kuba wird immer wieder als Ort, von dem die jungen Revolutionäre nach Haiti zurückkehren, inszeniert. Bösartigkeit der Figur legt die Erzählung schrittweise frei und zieht damit auch eine Verbindung zur Instrumentalisierung des vodou durch François Duvalier (vgl. Mintz/ Trouillot 1998: 144; vgl. Hurbon 2001b: 174). Zugleich widersetzt sich Mars’ Roman Versuchen, das Diabolische erneut als vermeintlichen Bestandteil in die Kultur des vodou einzuschreiben, indem sie über die Figuren Sophonie, Athanaël und Antoinette das widerständige, bewahrende und produktive Potential der spirituellen Handlungen für ein Zusammenleben stark macht. Denn in dem lakou Kasalé, wo spirituelle Traditionen des Widerstands und des Zusammenlebens matrilinear weitergegeben und aufrechterhalten werden, gelingt es den endgültigen Zugriff des Bösen, verbildlicht an der erfolgreichen Gegenwehr, auf die Abner bei dem Versuch Sophonie zu vergewaltigen stößt, abzuwenden. Damit formuliert Mars 17 Jahre nach Ende der Ära der Duvaliers einen Entwurf ländlicher Konvivenz, der weiblichen Perspektiven eine große Bedeutung zuspricht und auf diese Weise patriarchale (politische) Strukturen kritisiert und Fürsorgearbeit sichtbar macht. Zudem verhandelt Mars in ihrem Roman Vorstellungen vom Zusammenleben, die über das Menschliche hinaus‐ weisen, wie im folgenden, letzten Kapitel noch einmal herausarbeitet wird. 4.2.8 Weibliche Gegen(welt)entwürfe und posthumanistische Aspekte Entgegen vieler ihrer (vorrangig) männlichen Kollegen situiert Mars in Kasalé das gelingende Zusammenleben nicht entlang zentraler politischer Konzepte wie citoyenneté, Freiheit oder Gleichheit. Vielmehr beruft sie sich auf vorder‐ gründig dem Privaten und dem Apolitischen zugeschriebenen Bereichen wie der Fürsorge und den menschlichen Beziehungen sowie der Spiritualität und der Natur, während sie dem revolutionären Enthusiasmus durch die Figur Rodrigues eine Absage erteilt. Mit dem Rückkehrer Rodrigue, der als junger Revolutionär nach Kuba 293 flüchtete und Jahre später nach Haiti zurückkehrt, verweist Mars abermals auf Roumains Held Manuel (vgl. Vitiello 2011: 377). Im scharfen Kontrast jedoch zu der messianisch-marxistischen Erlöserfigur Manuel kehrt Rodrigue als gealterter und politisch desillusionierter Mann zurück: 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 231 <?page no="232"?> 294 Das es sich bei der Begegnung zwischen Rodrigue und Destina um eine schicksalhafte Bestimmung handelt, legt der Name der Mambo nahe. Après sa période cubaine, il résidait depuis huit ans dans son domaine de Quartier-Morin, exploitant la terre, une petite distillerie, entouré des trois filles que lui donna sa compagne. Il vivait une sorte de bonheur bucolique, loin des pressions et dangers de la politique (Mars 2007: 214). Statt der Hoffnung auf Aufhebung der Ausbeutungsverhältnisse, dem Glauben an das Kollektiv oder das erlösende Opfer für die Gruppe, wie es noch Gouver‐ neurs de la Rosée zelebriert, findet sich das Glück für Rodrigue im Privaten und der Rückkehr zu den spirituellen Wurzeln, welches er in der Heirat mit der Mambo Destina 294 findet (vgl. Mars 2007: 214). Anhand der Figur Rodrigues werden wir Zeug: innen der Desillusion einer ganzen Generation, die zuvor noch an die Erlösung aus dem Elend durch eine revolutionäre, soziale Bewegung glaubte und die im Falle Rodrigues einige Jahre später die Wahl zwischen der eigenen oder der fremden Diktatur hat (vgl. Vitiello 2011: 377). Stattdessen verknüpft Mars in der Figur Rodrigues Revolution und spirituelle Praktiken: Bien vite cependant, un vent de révolte souffla sur les immenses champs de canne de l’ile […] Cette atmosphère subversive seyait bien aux pulsions révolutionnaires de Rodrigue. Il s’enrôla dans la résistance estudiantine […] Rodrigue rêvait souvent qu’un jour, sur son île aussi, la voix des opprimés se lèverait comme celle d’un seul homme pour renverser tous les diktats, toutes les iniquités. Et puis, à Cuba, il y avait la santeria […] Il retrouvait dans les cérémonies menées […] dans les sanctuaires secrets de la luxuriante campagne cubaine, la même conception omnisciente du monde qui le rattachait à ses fondements afro-caribéens (Mars 2007: 212). Entgegen klassischen materialistischen Doktrinen bedingen sich bei Mars Widerstand und Spiritualität. Spirituelle Praktiken wie der haitianische vodou oder der kubanische santería erscheinen dabei weniger als eine nationale Partikularität, vielmehr sind sie Ausdruck vielfältiger karibischer Widerstands‐ kulturen. Anstelle des konbit und ‘der Vereinigung der Proletarier aller Länder‘ tritt bei Mars, fast 50 Jahre nach dem Ende der Kubanischen Revolution, die Wiederherstellung der gemeinschaftlichen, spirituellen Tradition: La tâche de Rodrigue relève donc de la délégation spirituelle plutôt que de la mission idéologique comme celle imputée à Manuel. Il est d’ailleurs révélateur que Rodrigue se remémore la santeria de Cuba comme d’une force et que lui-même ait été guidé par sa foi vaudou dans le combat […] Cette présentation du héros idéologue tranche considérablement avec le parti pris de Manuel qui fustige les pratiques religieuses 232 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="233"?> comme acte de révolte […] Dans Kasalé, le paysan ne semble pouvoir se relever qu’à la faveur du merveilleux vaudou. L’ „Hombre Total, le représentant d’une ère nouvelle“, celui „qui ne sera plus exposé à la perte de sa personnalité, à l’aliénation, parce qu’il connaît sa place dans la collectivité, sa tâche d’ouvrier révolutionnaire“ semble avoir laissé place à une révolte sourde, à la résignation et au silence dans un pays totalitaire (Raffy-Hideux 2013: 333 f.). Trotz der bedeutsamen Rolle, welche der vodou für die Entwicklung der Hai‐ tianischen Revolution besaß (vgl. Mintz/ Trouillot 1998), verfolgt die in Kasalé verhandelte Spiritualität keinen Umsturz materieller und sozialer Verhältnisse mehr, sondern ermöglicht im besten Fall eine Form der Widerständigkeit ange‐ sichts der Widrigkeiten des Lebens und der Zugriffe männlich-patriarchaler und christlicher Dominanz. Statt in konkreten Akten physischer Gewalt und statt in Gestalt des Archetyps einsamer, resistenter Helden ist der im Roman zu beobachtende Widerstand der Vergemeinschaftung stärker im Bewahren, Weitergeben und Überleben zu verorten. Entgegen männlich kodierter, de‐ struktiver Militanz inszeniert der Roman Beziehungen der Fürsorge und der Verantwortung als Gegenbild zu den repressiven politischen Verhältnissen (vgl. Vitiello 2011: 378). Dieser, den Roman unterlaufende, weiblich codierte Diskurs des Überlebens und der Bewahrung von Leben und Zusammenleben findet seinen deutlichsten Ausdruck in der Schwangerschaft Sophonies und ihrer Auseinandersetzung mit dieser: Effrayée d’abord par l’idée, elle accepta au fur et à mesure que le jour naissait. Cela lui semblait une chose normale, logique. C’était son devoir, sa responsabilité, comme celles que la vie te dépose dans les mains et que tu ne peux fuir. Comme quand tu mets un enfant au monde et qu’il n’a que toi, rien que toi pour lui forger de toutes pièces un destin. Alors tu dois trouver les ressources jusqu’au fond de ton être pour faire face à ta nouvelle responsabilité. Tu dois réagir même quand tu voudrais fuir. Tu as donné la vie, comme elle t’a été donnée. Tu ne peux rompre la chaine. […] Tu avales ta peur, tes larmes et tu prends la vie dans tes bras. Les invisibles lui commandaient d’agir (Mars 2007: 157). Die ‚wunderliche Schwangerschaft‘ (grossesse miraculeuse), welche Sophonies Körper erfasst, stellt dabei abermals einen Bezug zu Gouverneurs de la Rosée her (vgl. Vitiëllo 2013: 375), erinnert sie doch an die Schwangerschaft Anaïse‘, die zum Ausdruck einer ungewöhnlichen Liebe sowie zum Hoffnungssymbol für das Weiterleben des Gemeinwesens und ihres revolutionären Helden Manuels wird (vgl. Vitiëllo 2013: 375). Sophonies Schwangerschaft hingegen ist nicht das Symbol einer sich fortpflanzenden revolutionären Idee, stattdessen inkarniert sie die Beziehung zwischen den Welten und den Wert allen Lebens, welche 4.2 Ansätze zu einer posthumanistischen Konvivialität — Kettly Mars: Kasalé 233 <?page no="234"?> 295 Jean-Bertrand Aristide war nicht nur ebenfalls Geistlicher, er teilt mit Père Daniel auch Eloquenz und Charisma (vgl. Hurbon 2001b: 174; Philoctète 2016: 291 ff.). jedoch nur durch das aufopferungsvolle und widerständige Überleben der weiblichen Figuren aufrechterhalten werden kann (vgl. Raffy-Hideux 2013: 330). Demzufolge verhandelt Kasalé, wie Raffy-Hideux schreibt, eine spirituelle, im Femininen begründete, nicht-menschliche Revolution (vgl. Raffy-Hideux 2013: 330). Obwohl Raffy-Hideux hinsichtlich Mars‘ Absage an genuin politische Orga‐ nisationsformen beizupflichten ist, so erweist sich Mars’ Kommentar bezüglich des Spirituellen doch als durchaus differenzierter. Betrachten wir den zeitlichen Entstehungskontext des Romanes, so zeigt sich hier nicht nur eine Anklage der Duvalier-Diktatur und dessen manipulativen Missbrauchs des spirituellen Hinterlandes, sondern in der Figur des ‚sanften‘, aber unfähigen Pére Daniel auch eine offensichtliche Kritik an der Scheinheiligkeit und Unfähigkeit der Politik Aristides. 295 In dieser Abwendung von den herrschenden politisch-re‐ ligiösen Diskursen kreist Mars‘ Porträt eines kleinen ruralen lakous somit um die Frage, wie gutes Zusammenleben gelingen kann und welchen Platz dabei tradierten spirituellen Praktiken zukommt. Der Aushandlungs- und Ver‐ söhnungsprozess zwischen vodou und christlicher Lehre geht einher mit der Aushandlung divergenter kollektiver Erzählungen und Weltsysteme. Während in der okzidentalen Lehre eine klare Trennung zwischen Natur und Kultur, d. h. auch zwischen Mensch und Umwelt, vorgenommen wird, ermöglichen das vo‐ doueske Weltverständnis Antoinettes und die leiblichen Erfahrungen Sophonies eine Integration des Nicht-Menschlichen und des nicht (mehr) Materiellen in die Vergemeinschaftung. Am Ende des Romans sind es vor allem jene Wissens‐ formen, Praktiken und Beziehungen, die ein rationalistisches-szientistisches Weltbild überschreiten, welche gelingen. Solchermaßen betrachtet, finden wir in Kasalé eine Öffnung hin zu relationalen Ansätzen, die anthropozentrischen Betrachtungen aufbrechen, wie sich mit Daniel Graziadei und seiner Studie zu Insel(n) im Archipel anschließen lässt: Die animistischen und ökokritischen Elemente der Texte scheinen dabei die dop‐ pelte Funktion einer Hinwendung zu lokalen Spezifika der non-humanen Umwelt sowie eines Anschlusses an ein zeitgenössisches Problembewusstsein bezüglich der Konsequenzen des Eintritt ins Anthropozän zu erfüllen […] Die Strategien einer ökokritischen Anthropomorphisierung der […] Inselwelten im erd- oder weltweiten Verbund lassen sich […] mit Ette als durchweg auffindbares ZusammenLebensWissen und ÜberlebensWissen lesen. Dabei ist jedoch entscheidend, dass es nicht um rein 234 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="235"?> 296 2021 stand Dalemberts letzter Roman Milwaukee Blues auf der Shortllist für den Prix Goncourt (vgl. Houot 2021). menschliches, anthropozentrisches Überleben geht, sondern um eine erfolgreiche Konvivenz in einer in hohem Maße relationalen Geosphäre (Graziadei 2017: 350 f.). Das Gemeinwesen, welches sich im Romanverlauf verändert und neu verfestigt, greift eben jene Tendenz einer über das Menschliche und damit auch über den Humanismus hinausgehenden Konzeption des Zusammenlebens auf. Dabei wird durch Träume und Anrufungen der Natur auf alternative Formen der Wis‐ sensproduktion und der Kommunikation zurückgegriffen. Diese Formen sind wie das plötzliche Verschwinden des cachiman und das erneute Anschwellen des Flusses (vgl. Mars 2007: 232) alle Zeichen eines Zusammenwirkens der verschiedenen Subjekte, Elemente und Kräfte in Richtung eines Gemeinwohles. In jener Konsequenz baut die in den Roman zum Ausdruck kommende Vision des Zusammenlebens nicht auf Vorstellungen von der Bezwingung des Anderen durch physische Überlegenheit und Idealen einer rationalen, anthropo- und androzentrischen Autonomie auf, sondern privilegiert Ansätze der Interdepen‐ denz und Relationalität. Diesem Zusammenschluss ist es möglich, das genuin Böse und Diabolische zu besiegen und so diese Form des Zusammenlebens und des In-der-Welt-Seins, dank der Fähigkeiten von Antoinette und Sophonie, zu erhalten. 4.3 Kosmopolitische Unternehmungen zwischen vagabondage und Verflechtung — Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves (2003) 4.3.1 Schreibbewegungen bei Louis-Philippe Dalembert Seit Ende der 1980er Jahre lebt der Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert außerhalb Haitis, wo er 1962, zur Zeit der Duvalier-Diktatur, geboren wurde. Trotz längerer Aufenthalte in Israel, Deutschland, Italien und Frankreich und der Tatsache, dass er seit über 40 Jahren nicht mehr auf der Karibikinsel lebt, wird Dalembert von dem Literaturbetrieb und der Wissenschaft allgemeinhin als haitianischer Autor gehandelt (vgl. Houot 2021). 296 Diese zwei Aspekte von Dalemberts Biografie, Haiti als kulturelles Hinterland und imaginaire als auch das Reisen, die vagabondage, finden sich als Determinanten seines literarischen Werkes wieder: 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 235 <?page no="236"?> 297 Ebenso wie ‚nomadisme‘ verweist auch der Begriff der ‚errance‘ auf Edouard Glissant, der in Poetique de la Relation (1990) von einer ‚pensée de l’errance‘ spricht (vgl. Loic 2006; Cooreman/ Gyssels 2008; Ueckmann2014). Über die Glissants errance-Begriff schreibt Borsò: „Den Begriff ‚errance‘ […] nutzt […] Édouard Glissant in Tout-monde als topographisches Prinzip der temporären Verortung im Raum […] Das Seiende als Relation ersetzt das identitätslogische ‚être-racine‘ (‚Sein als Wurzel‘; Glissant 1997, 114). Der Ort wird performativ produziert, d. h. er geht aus der Verortung von Subjekten in einem in Bewegung befindlichen Seienden hervor“ Son œuvre témoigne de l‘ appel du voyage, voire même d’un vagabondage certain, physique et matériel, mais aussi, et surtout, culturel et intellectuel, qui d’après lui permet de sortir du conformisme […] Cet écart par rapport aux normes communément admises, il faut bien aussi le considérer comme une pratique de l’écriture, qui passe de genre en genre (Chemla 2015 : 209 f.). Vagabondage beschränkt sich folglich bei Dalembert nicht nur auf eine bio‐ grafische Randnotiz, sie wirkt bis in sein literarisches Schaffen hinein, wo es zur vagabondage littéraire (Vignoli 2016) gerinnt. Als literarische Praxis findet diese vagabondage littéraire (vgl. Vignoli 2016) ihren Ausdruck nicht nur in den intertextuellen Verweisen und in der vielsprachigen Präsenz in den Erzähltexten, sondern spiegelt sich bei Dalembert auch in den Figuren und ihren Lebensgeschichten (vgl. Vignoli 2016: 30) wider: La mise en fiction du vagabondage physique de l’auteur se traduit par une mosaïque de personnages qui partagent la même volonté de rejeter toute stabilité et de sillonner des espaces divers (Vignoli 2016: 30). Über dieses vagabondierende Schreiben gelingt es Dalembert ein literarisches Netz zwischen verschiedenen kulturellen Räumen und Zeiten hinweg zu ent‐ spannen und sich dabei von benachbarten Konzepten wie Exil, errance  297 oder nomadisme abzugrenzen. Im Gegensatz zu diesen Bewegungsfiguren, die allesamt Erfahrungen von Leid und Zwang beinhalten, insistiert Dalembert in seiner Konzeption von vagabondage auf der bewussten und angenommenen Entscheidung (vgl. Cooreman/ Gyssels 2008: 133). Obwohl Dalemberts Konzept der vagabondage somit eindeutig positiv konnotiert ist, finden sich in seinem schriftstellerischen Werk nicht wenige Romane, die verstärkt Geschichte(n) der erzwungenen, traumatischen und gewaltvollen Bewegungen von Menschen in den Blick nehmen. Hierzu zählen u. a. der 1998 erschienene Roman L’autre face de la mer, welcher die haitianischen Erfahrungen der Arbeitsmigration und des Massakers von 1937 und der Middle Passage zu einem vielstimmigen, transgenerationellen Palimpsest verwebt; die Erzählung Avant que les ombres s‘ effacent aus dem Jahre 2017, welcher die Flucht eines jüdischpolnischen 236 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="237"?> Arztes in die Karibik nachzeichnet; sowie der 2019 mit dem Prix de la Langue française ausgezeichnete Roman Mur méditerranée, der die Fluchtgeschichten dreier Frauen von Eritrea, Syrien und Nigeria nach Europa thematisiert. Obwohl Dalembert in diesen Romanen Flucht, Migration und Verschleppung vorrangig über einzelne Figuren und deren Familien erzählt, sind die individuellen Geschichten in den Kontexten größerer, kollektiver (Flucht)Bewegungen zu verorten. Der in dieser Studie näher behandelte Roman L’île du bout des rêves (2003) un‐ terscheidet sich in zwei Punkten gründlich von den drei genannten Texten. Zum einen stellt er statt erzwungener Bewegungen frei gewähltes Vagabundentum ins Zentrum; zum anderen verbleibt diese vagabondage des Protagonisten ein individuelles Phänomen, das eben nicht auf ein historisches Kollektivereignis verweist. Migrationsbewegungen als kollektive, historische Erfahrungen finden in dem Roman nur eine beiläufige Erwähnung, ohne größere Auswirkungen auf die Handlung zu haben. Die transhistorische Präsenz von Bewegungen, (Kultur)Kontakten und Zirkulation bleibt jedoch zentral und verknüpft sich mit einer weiteren zentralen Thematik des Romans, die Frage nach dem Verhältnis von individueller Freiheit und Gemeinwohl sowie daran geknüpft der Suche nach der condition humaine zwischen kollektiven und individuellen Kosmopolitismus. Damit behandelt der Roman ebenso wie Emile Olliviers Passages grenz‐ überschreitende Bewegungen, Reisen und Migration als grundlegende, unaus‐ weichliche menschliche und historische Erfahrung, welche über Generationen nachhallt. Anders jedoch als Ollivier, der kosmopolitische Versprechen und Verheißungen ungebundener Freiheit und Autonomie dekonstruiert, karikiert Dalembert liberale und kommunitaristische Stereotype, entwirft ephemere, transitorische Gemeinschaften und diskutiert anhand dieser Fragen das Ver‐ hältnis von Individuum und Kollektiv. Über diese Auseinandersetzung liefert Dalemberts Roman einen impliziten Kommentar zu Konzepten des Zusammen‐ lebens wie Kosmopolitismus und citoyenneté, aber auch zu den verschiedenen Aspekten von Freiheit in einer Vielschichtigkeit, die ihn für eine Analyse im Rahmen meiner Studie prädestinieren. 4.3.2 ‘Quête de trésor, Quête de soi’ — Die Ilusion des Abenteuerromans Wie bereits dargelegt, nehmen Reisen und vagabondage eine wichtige Rolle in Louis- Philippe Dalemberts Werk ein. Dieser Befund gilt auch für den Roman L’île du bout des rêves, dessen Protagonist, ein namenloser Ich-Erzähler, sein 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 237 <?page no="238"?> 298 Allerdings bleibt diese Freiheit materiell weitestgehend prekär, da die Gelegenheitsjobs keine finanzielle Absicherung schaffen. In dieser Besitzlosigkeit zeigt sich deutlich die Differenz zwischen der Freiheit des Protagonisten und klassischen Konzeptionen bürgerlicher Freiheit wie z. B. bei Rousseau, die immer Eigentum zur Grundlage nimmt. 299 Der Name Dante ruft unverzüglich Assoziationen mit Dante Alighieri und mit seinem bekanntesten Werk Divinia Commedia (1321) auf, in diesem reist und irrt der Protago‐ nist (Dante) durch Fegefeuer, Hölle und Paradies (vgl. Auerochs 2007: 201; Dante [1312] 2009). Trotz seines ausnahmslos diesseitigen Romans nimmt Dalembert über diesen sprechenden Namen einmal mehr Bezug auf das Religiöse, die Reise und Exil, aber auch auf Italien und das Mittelmeer als kulturell-literarischen Raum. 300 Dalembert entwirft Zana als eine eigenwillige, unabhängige Frau, die ihren eigenen Bedürfnissen folgend mit dem Protagonisten in (sexuellen) Kontakt tritt (vgl. Dalembert 2007: 250). Der Name Zāna bezeichnet im Albanischen die Schutzpatroninnen der Helden und Musen der Berge, mit denen verglichen zu werden für männliche Helden die größte Auszeichnung darstellt (vgl. Bellinger 2000: 559). Die Mysteriosität, die sich in ihrem Namen andeutet, kennzeichnen auch die Begegnungen zwischen dem Protagonisten und Zana. Zana stellt somit eine beinah mythische Erscheinung dar, welche sich der Kontrolle und dem Verständnis des Helden entzieht. 301 Auf die Bedeutung dieser historischen Figur für die Erzählung wird in dem Teil ‚The power of the erotic’ — Historische Verflechtungen und erotisches Kapital noch genauer eingegangen. 302 Erzulie oder auch Ezili ist eine wichtige weibliche lwa, die mit Sexualität und Liebe assoziiert wird: „Ezili, known in written representations as the ͵Black Venus’, ͵the Tragic Mistresss’, or ͵the Goddess of Love’ […] Far more specific in her attributes […] Ezili recalls the violent yoking of decorum and lust. Served by her devotees with the accoutrements of libertinage […] the spirit carries the weight of a history that testifies to the union of profligacy and virtue, thus making a mockery of piety. For not only does Ezili […] signal the transcending of violation and whoring through infinite love, but she also tells a rather banal and keenly materialist story” (Dayan 2008: 58). Leben mit Gelegenheitsjobs auf Schiffen zwischen der Karibik, dem Atlantik und dem Mittelmeer verdingt. Seitdem er vor vielen Jahren nach dem Tod seiner Großmutter sein Herkunftsland verlassen hat, ist er weder an Sprache noch Familie oder einen Ort gebunden (vgl. Dalembert 2007: 45). 298 Einzig zu Dante, 299 seinem langjährigen in Italien lebender Freund, und zu der mysteriösen Zana, 300 mit der sich seine Wege immer wieder kreuzen, hält er Beziehungen aufrecht. Über Zufälle gelangt er nach Santiago de Cuba, wo er in einer Hafenkneipe auf den vermeintlichen, spanischen Schriftsteller José Manuel F., genannt JMF, trifft, der dem Erzähler das Angebot macht, Teil einer abenteuerlichen Suche nach dem historischen Schatz der Pauline Bonaparte 301 auf der haitianischen île de la Tortue zu werden. Auf der Insel angekommen finden der Protagonist und JMF Quartier bei den kanadischen Pères Blancs (vgl. Dalembert 2007: 109) und lernen auf ihren Erkundungstouren einen belgischen Barbesitzer mit bewegter politischer Vergangenheit; Erzulie, 302 eine alternde Sexarbeiterin; die amerikanische Agentin ‚Luz/ La Domincaine‘ und die verführerische Esmeralda 238 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="239"?> 303 Den sprechenden Namen der weiblichen Figuren, die diese zu Trägerinnen partikularer, konkreter Eigenschaften werden lassen, stehen männliche Figuren gegenüber die sich durch Namenlosigkeit (der Protagonist), ein Ankronym des Namens ( JMF) oder ihre Herkunft (‚Le Belge‘) auszeichnen und somit nicht bereits durch ihren Namen mit Eigenschaften bedacht werden. Diese Namenlosigkeit kann als Zeichen einer unmar‐ kierten universalen Position gelesen werden kann und bietet damit auch die Möglich‐ keit, wie im Fall von JMF und dem Protagonisten Ideen und politische Positionen zu verkörpern. Dieser Aspekt der Figurenkonstellation ist z.T. auch anschlussfähig an das Verhältnis von Erzählen und vergeschlechtlichem Körper bei Passages (vgl. Relater et relier — narrative Verfahren der Sinnbildung). (Ich danke Florian Kappeler für diesen Hinweis.) kennen. Mit Esmeralda tritt eine weitere weibliche Figur in das Leben des Protagonisten, die, ebenso wie Zana, frei über ihre Sexualität und ihr Leben verfügt und mit der der Erzähler eine Affäre beginnt. Die Namen der weiblichen Figuren sind dabei nicht unerheblich, sondern unterstreichen die Rollen und Charaktere ihrer Träger: innen. So lässt der Name Luz, welcher Licht bedeutet, zugleich Assoziationen mit Luzifer, der Inkarnation des Bösen in der biblischen Erzählung, als auch Verknüpfungen mit den Licht- und Schattenmetaphoriken der Aufklärungsdiskurse zu. Luz ist somit zugleich Gegenspielerin der Gruppe um JMF und dabei als Spionin daran interessiert die Geheimnisse der anderen ans Licht zu holen und ihre eigene Identität im Dunklen zu halten. Auch der Name Esmeralda weckt Assoziationen an eine der zentralen Figuren in Victor Hugos Nôtre Dame de Paris ([1831] 1986), mit welcher Dalemberts Esmeralda Schönheit und Eigenwilligkeit ebenso teilt wie auch die Existenz als Ausgeschlossene und Reisende. 303 Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass JMF kein Schriftsteller aber Anführer einer Rebell: innengruppe ist, zu der auch Esmeralda gehört und die für die Unabhängigkeit Puerto Ricos kämpft. Ge‐ meinsam verfolgen sie das Ziel den Ich-Erzähler für ihren Kampf zu gewinnen. Nach einigem Zögern entschließt sich der Protagonist die Rebell: innen bei ihrem Vorhaben einen Waffendeal auf der Insel abzuschließen, zu unterstützen und gemeinsam mit dem Père Albert, Erzulie und dem belgischen Barbesitzer gelingt es der Gruppe nicht nur den Schatz zu finden, sondern auch die amerikanische Agentin Luz zu enttarnen. Während die Widerstandsgruppe weiter an der Umsetzung ihrer politischen Ziele arbeitet und die Insel in Richtung Puerto Rico verlässt, setzt der Protagonist seine vagabondage in Richtung Rom fort. Die Bedeutung, die Reisen und grenzüberschreitende Bewegungen auf inhalt‐ licher Ebene in L’île du bout des rêves zukommen, wird auch durch den Aufbau des Textes aufgegriffen. So gliedert sich der Roman in drei Mouvements und eine Art Epilog mit dem Titel Et dieu reconnaîtra les siens. Jedem der drei Mouvements ist ein Zitat in einer anderen Sprache (Französisch, Spanisch, Italienisch) 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 239 <?page no="240"?> 304 Zu diesem intertextuellen Verweis siehe Émile Ollivier — Eine Ecriture migrante zwischen Quebec und Port-au-Prince. 305 Das Zitat, im Original: „Tuez-les tous ! Dieu reconnaîtra les siens”, wurde Arnaud Almaric zugeschrieben, der mit diesem Satz das Massaker an der nicht-katholischen Zivilbevölkerung der südfranzösischen Stadt Béziers, während des Albigenserkreuz‐ zuges im 13. Jahrhundert gerechtfertigt haben soll (vgl. L’histoire 1990). Während das Massaker historisch belegt ist, bestehen an dem Ausrufs Almarics erhebliche Zweifel, wie Alain Demurger schreibt (vgl. Demurger 2006: 159). Im Kontext von Dalemberts Roman zeigt sich die göttliche Anerkennung jedoch gerade nicht im Kontext eines mordenden, christlichen Dogmatismus, sondern in der offenen, freien Zukunft des Protagonisten fernab religiöser Glaubenssätze und politischer Ideologien. Anstelle des strafenden Gottes rückt die Bibel, wichtige Reisebegleiterin des Protagonisten, als Erinnerungsobjekt, Geschichtensammlung und Notizbuch in den Fokus und wird auf diese Weise profanisiert. vorangestellt, die allesamt die Thematik des Vagabundierens und der Einsamkeit aufgreifen und deren Quellen ebenso französische und italienische Chansons wie auch Emile Olliviers Passages  304 und die Gedichte des mexikanischen Poeten Octavio Paz sind. Der Begriff des Mouvement kommen vier Bedeutungsdimen‐ sionen zu, welche für den Kontext des Romans relevant sind: Mouvement als einzelne, physische Bewegung, wie im Fall des umherreisenden Protagonisten; Mouvement als kollektive Bewegung im Zuge von Migration und Flucht, wie sie z. B. in den Verweisen auf historische Migrationsbewegungen präsent ist; Mouvement als Ereignis der kollektiven Erhebung und Organisation findet sich in der puerto-ricanisches Unabhängigkeitsbewegung, der JMF angehört, reprä‐ sentiert; sowie Mouvement als ein Element einer musikalischen Komposition, die vor allem in der formellen Gestaltung und den intertextuellen Verweisen auf Musikstücke hervortritt. Dalemberts Roman trägt somit Spuren aller vier Formen von Mouvements in sich und zeigt auf, wie die verschiedenen indivi‐ duellen und kollektiven Bewegungen zu weiteren (politischen) Bewegungen zusammenfließen. Der Epilog hebt sich von diesem Motiv ab und verweist mit dem ihm voran‐ gestellten Zitat Et Dieu reconnaîtra les siens  305 auf einen historisch-religiösen Kontext, der ihn von den anderen drei Abschnitten elementar unterscheidet. Diese Referenz an die Geschichte des Christentums fügt sich ein in einen den Roman durchfließenden Diskurs über Glaube und Religion, der sich häufig in Bezugnahmen auf die Bibel äußert. Bibel und Christentum stellen dabei eine Verbindung mit seiner verstorbenen Großmutter und seiner Kindheit her: J‘avais ouvert mon balluchon pour prendre la bible aux pages écornées, fidèle compagne de mon vagabondage autour du monde […] Sa lecture rapproche les échos de ce temps où la mer était le seul horizon qui s’offrait à ma vue. Et les yeux noyés de 240 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="241"?> caractère de ma grandmère le seul regard de femme qui m’ait jamais caressé. Tout comme cette édition fatiguée du Livre des livres est l’unique héritage qu’elle m’ait légué (Dalembert 2007: 300). Die Bibel als Referenz, Projekt und Geschichts- und Geschichtenbuch (vgl. Chemla 2011: 392) bzw. die an sie geknüpften Kindheitserinnerungen sind in den Romanen Dalemberts ein rekurrierendes Element (Dalembert/ Snoussi 2004). Als solches treten sie in die Position eines „pays-temps“ und eines Ruhepols, an dem der Vagabund Wurzeln schlagen kann (vgl. Vignoli 2016). Zugleich offenbart sich in dieser spezifischen Einbeziehung von Sprachen, Musikstücken, Gedichten und Passages aus dem Alten Testament Dalembert spezifisches ‚vagabondierendes‘ Schreiben. Teil dieser écriture ist auch das Spiel mit Genrezuschreibungen, wie sie sich vor allem zu Beginn des Romanes, der von einer Vielzahl von Referenzen an das Genre des Abenteuerromans geprägt ist, zeigt: Après deux à trois heures, qui s‘écoulèrent sans nouvel incident, le voilier vint échouer sur une plage de la Grande Inagua. Aucune trace de vie humaine. Du sable. Rien que du sable […] Bref, il fallait compter sur nos propres forces (Dalembert 2007 : 35). Trotz dieses anfänglichen Eindruckes, der sich, wie im obigen Beispiel, über Inszenierungen von Schiffbruch, Schatzsuche (vgl. Dalembert 2007: 75) und Naturgewalten (vgl. Dalembert 2007: 28) verfestigt, vollzieht sich im Verlauf der Erzählung eine Wandlung von der Schatzsuche („quête au trésor“) hin zu einer Suche nach dem Selbst („quête de soi“) (vgl. Vignoli 2016: 32). Der Abenteuerroman, so definiert ihn Axel Dunker, ist „ein auf Spannung ausgerichteter Roman, in dem ein zentraler Held sich auf eine Vielzahl unvor‐ hersehbarer Ereignisse einlässt, die er letztlich erfolgreich übersteht“ (Dunker 2009a: 1). Bei diesem Helden handelt es sich in der Abenteuerliteratur zumeist um ein männliches Subjekt, welchem es aufgrund seiner Überlegenheit gelingt, den sich ihm darbietenden Gefahren zu widersetzen und Hindernisse zu über‐ winden (vgl. Dunker 2009a). In dieser romanesken Konfiguration werden psychologische Spannungen […] in sinnlich Wahrnehmbares umgesetzt, überführt in ein festes Repertoire an Stoffen, Motiven und Figuren: Schiff und Schiffbruch, einsame Inseln, Naturgewalten, wilde Tiere und böse Menschen gehören zum Grundbestand des Abenteuerromans (Dunker 2009a: 1). Schon im Titel verweist Dalembert mit der Insel auf einen verbreiteten Topos der Abenteuerliteratur, die in enger Beziehung zu der Erzählung vom reisenden, mitunter irrenden Helden, wie er im klassischen Abenteuerroman zu finden ist (vgl. Gutzeit 2010), steht. Bereits in Homers Odyssee (Homer ([8./ 7. Jh.v. Ch.] 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 241 <?page no="242"?> 306 Hier führt auch ein Weg von den Robinsonaden zurück zu Rousseaus Zivilisationskritik und seinem Erziehungsprogramm sowie der Idealisierung ‚natürlichen‘ Menschseins (vgl. Plummer 2007: 565). 307 Robinsonaden sind eng mit dem Abenteuerroman verknüpft und entstehen als Roman‐ typus in Anlehnung an Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Als zentrales Motiv steht bei diesem Typus die einsame Insel, auf die ein Individuum oder eine Gruppe meist unfreiwillig verschlagen wird (vgl. Dunker 2009b) im Zentrum. Patricia Plummer spricht von mehreren hundert Adaptionen und Übersetzungen, die v. a. im 18. und 19. Jahrhundert vorrangig in Europa entstehen und verweist darauf, dass das Motiv bereits vor der Neuzeit u.-a. in Homers Odyssee zirkulierte (vgl. Plummer 2007). 2014)) und Thomas Mores Utopia (More [1516] 2008) kommt dem insularen Raum eine wichtige Funktion zu, spätestens aber mit Klassikern der Reise- und Abenteuerliteratur wie Daniel Defoes Robinson Crusoe (Defoe, [1719] 2007)) oder Robert Louis Stevensons Treasure Island (Stevenson [1883] 2011) avanciert die Insel zu einem hochgradig aufgeladenen Motiv der (europäischen) Literatur. Als solches symbolisiert sie ebenso Isolation, Gefahr, Fremde und Zivilisationsferne, 306 wie sie auch das Paradies, Schätze, Überfluss und die Utopie anderer gesellschaftlicher Zustände (vgl. Warning 2015) zu verheißen vermag (vgl. Broser 2010). Die Insel ist zentraler Schauplatz einer Vielzahl von Robinsonaden, 307 einer Untergattung des Abenteuerromans (vgl. Grimm 2007: 2), und verbindet Reisebericht, Utopie und Abenteuerroman miteinander (vgl. Plummer 2007). Der geistesgeschichtliche Entstehungskontext dieser lite‐ rarischen Tradition wird im nächsten Teilkapitel noch einmal ausführlicher dargelegt, vorerst soll es darum gehen, wie Dalembert Abenteuerroman und Robinsonade in seinem Text aufgreift. Neben dem Titel, der Insel als Ort der Handlung und dem Motiv der Schatzsuche sind hier vor allem der Sprachduktus und die vielfältigen Anspielungen auf die Piraterie des 17./ 18. Jahrhunderts, mit denen Dalembert seine Geschichte um einen namenlosen, männlichen Protagonisten verwebt, relevant: A l‘en croire, et là il [ JMF] prit un air de conspirateur, baissa la voix jusqu’ à me forcer à me pencher vers lui, l’un de ces documents, qui lui était tombé sous la main tout à faire par hasard, indiquait l’emplacement exact d’une jarre remplie de louis d’or qui aurait appartenu à Pauline Bonaparte (Dalembert 2007: 75). Wie in dieser Passage, die das Motiv des verschollenen Schatzes, einen klassi‐ schen Stoff der Abenteuererzählung, wie er z. B. bei Robert Stevenson zu finden ist, aufgreift, finden sich vor allem im ersten Teil (Premier Mouvement) des Romans vielfältige Referenzen an inhaltliche Motive der Abenteuerliteratur. Doch ebenso wie JMF nur vorgibt, Schriftsteller von Piratenromanen und auf der Suche nach einem Schatz zu sein, täuscht auch der Roman nur vor 242 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="243"?> 308 Diese Interpretation erweist sich als anschlussfähig an die in dem Kapitel vorgestellten Überlegungen zu dem im Roman verhandelten anti-imperialistischen Diskurs und wird dort noch einmal ausführlicher diskutiert. 309 The Tempest (Shakespeare 2006) fand in den post-kolonialen Studien aufgrund der Präsenz kolonialer Narrative und Bilder viel Beachtung, befördert auch durch die Bearbeitung des Stoffes durch Aimé Césaire in Une tempête (Césaire [1969] 1997) (vgl. Loomba/ Orkin 2003: 4). Abenteuerroman zu sein (vgl. Dalembert/ Snoussi 2003). Leser: in und Protago‐ nist folgen gewissermaßen beide einer Illusion nach, die sich im Verlauf des Romanes immer weiter dekonstruiert (vgl. Vignoli 2016: 32). Die Illusion wird ausdrücklich in dem ersten Mouvement genährt und dieser erste Leseeindruck entsteht vorrangig durch die Häufung von Pro- und Analepsen im ersten Teil des Romans, welche die Handlung mehrmals verzögern und so Spannung erzeugen bzw. erhalten (vgl. Grimm 2007: 1 f.). Hinzu kommt, dass sich insbesondere der erste Teil des Romans durch eine sprachliche Gestaltung auszeichnet, die stark an den mündlichen Erfahrungsbericht angelehnt ist — z.-B. ersichtlich an der überdurchschnittlichen Verwendung des Wortes bref — und damit Unmit‐ telbarkeit und Authentizität des Erzähltextes vermittelt (vgl. Chemla 2015: 220). Diese Merkmale treten jedoch im Erzählverlauf sukzessive in den Hintergrund und lassen den Aspekt der Selbstbefragung bzw. die dem Roman von Beginn an eingeschriebene Kritik an globalen Machtverhältnissen stärker sichtbar werden. Die Anspielungen an das Genre des Abenteuerromans können im Kontext jener Kritik als Aufforderung, die heutigen imperialistischen Ausläufer kolonialer Phantasmen zu hinterfragen, gedeutet werden. 308 So überschreitet auch eine europäische Erzählformation wie der Abenteuerroman das Feld des Literarisch-Ästhetischen und trägt zur Verbreitung verschiedener Konzeptionen der Moderne bei, wie die folgenden Kapitel aufzeigen werden. 4.3.3 Mythen der Autonomie von Odysseus bis Robinson Im Metzler Lexikon Literatur stellt Patricia Plummer deutlich heraus, dass textuelle Vorläufer der Robinsonaden wie William Shakespeares The Tempest  309 (Shakespeare [1611] 2006) oder das sechste Buch von H. J. Ch. v. Grimmelshau‐ sens Simplicissimus (Grimmelshausen [1669] 2001) „im 17. Jahrhundert vor dem Hintergrund der europäischen Entdeckungsreisen und kolonialen Expansion“ entstanden (vgl. Plummer 2007: 656). Somit steht die Erzählung vom Stranden auf — einer mehr oder weniger einsamen — Insel bereits vor Robinson Crusoe im Zeichen kolonialer Expansionen, verfestigt sich jedoch in Folge von Defoes Roman noch einmal: 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 243 <?page no="244"?> 310 Auf Rousseaus und Marx‘ Lektüren des Robinsons geht Juliane Tauchnitz näher ein (vgl. Tauchnitz 2018: 443 f.). 311 Hierin liegt auch die Rezeption durch Rousseau begründet: „Während des 19. Jahr‐ hunderts war die Mythisierung des Robinson Crusoe vor allem von der praktischen Instruktion in der Tradition Rousseaus geprägt. In seinem Erziehungsroman Emile ou de l'éducation (1762) empfiehlt Rousseau eine gekürzte Version des Textes als beste Abhandlung über die natürliche Erziehung des Menschen. Rousseaus Fürsprache lancierte Defoes Text ins Zentrum einer von aufklärerischen Werten beflügelten Welle der Kinderliteratur“ (Kley 2014: 324). 312 Dementsprechend finden sich auch in der deutschsprachigen Romanistik intensive Auseinandersetzungen mit der Insel als literarischer Topos und/ oder den Robinsonaden so z. B. bei Graziadei (2015; 2017; 2018), Großklaus (2017) oder auch bei Tauchnitz (2018) . Defoe schildert, wie Robinson Crusoe sein 28 Jahre dauerndes Exil auf einer Insel fernab von der westlichen Zivilisation meistert. In einem in der Form der Ich-Erzäh‐ lung gehaltenen fiktiven Tagebuch legt der Protagonist minutiös Rechenschaft ab über sein Befinden sowie die Planung und Durchführung seiner Taten. Sein Überlebens‐ kampf geht mit einer symbolischen Kolonisierung der Insel und der Christianisierung des Ureinwohners Freitag einher. Der Roman ist daher gleichermaßen Erlebnisbericht, moralisch-religiöses und ökonomisches Traktat. Die Lektion vom erzieherischen Wert von Arbeit, Disziplin, Willensstärke und Gottgefälligkeit bestimmte die Rezeption und Nachahmung des Werkes und beeinflusste die didaktischen, moralischen und ökonomischen Theorien von J.-J. Rousseau […] K. Marx und W. Morris (Plummer 2007: 656). 310 Weit davon entfernt eine harmlose Reiseerzählung zu sein, kreuzt Robinson Crusoe, ebenso wie viele der ihm nachfolgenden Robinsonaden, Zivilisations‐ kritik und utopische Verheißung des ‚einfachen Lebens‘, 311 koloniale Phantasien und Projekt(ion)e, das Erproben „neuer Identitäts- und Gesellschaftsentwürfe“ (Kley 2014: 324) sowie Erziehung und Disziplinierung im Kontext der sich ankündigenden kapitalistischen Moderne. Deshalb spricht Antje Kley zu Recht von Robinson Crusoe als einem „der wirkmächtigsten Gründungsmythen der modernen bürgerlichen Kultur“ (Kley 2014: 323). Es überrascht daher nicht, dass die Robinsonaden auch ein wiederholter Topos post-kolonialer Rewritings sind, wie z. B. in Patrick Chamoiseaus L' empreinte à Crusoé (2012) oder in John M. Coetzees Foe (1986) (vgl. Graziadei 2015). 312 Jenseits von diesen zeitgenössi‐ schen, kritischen Adaptionen handelt es sich bei dem klassischen Helden der Robinsonade im Speziellen und des Abenteuerromans im Besonderen meist um eine männliche Figur, der es gelingt allen Widrigkeiten zu trotzen und am Ende über Naturgewalten, Widersacher: innen und andere dramatische Ereignisse zu triumphieren. Damit illustriert der Held des Abenteuerromans ein Ideal 244 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="245"?> autonomer, furchtloser und potenter Männlichkeit, welches sich auch auf der narrativen Ebene in der Form eines personalen Ich-Erzählers niederschlägt. Der Pastiche L‘île du bout des rêves imitiert diese Erzähltradition und karikiert sie zu‐ gleich, indem sie das Verlangen des Helden nach Freiheit und Autonomie durch Wiederholungen hyperbolisch überspitzt. Zugleich scheinen seine liberalen Ideale für den vagabonde individualiste (Dalembert 2007: 243) durch dauerhafte Bindungen an Orte und Menschen jederzeit bedroht, die es folglich um jeden Preis zu vermeiden gilt: Mon refus avait aussi un autre motif : la peur de cohabiter avec une femme. L’expérience m’avait appris que ces histoires commencent souvent en toute liberté. Mais on se retrouve très vite pieds et poings liés (Dalembert 2007 : 52). Dalemberts namenloser Held weist in seinen individualistischen Bestrebungen Parallelen zu dem bei Adorno und Horkheimer verhandelten Paradigma des bürgerlichen Subjekts auf, welches sich nur in absoluter Autonomie realisieren kann. Dieses Paradigma eines autonomen, freien und rationalen Subjektes bildet sich mit den aufklärerischen Diskursen des 18.-Jahrhunderts heraus und findet seinen festen Platz im bürgerlichen Liberalismus. 1947, zwei Jahrhunderte später und vor dem Hintergrund der Erfahrung des Holocausts, weisen die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in dem Aufsatz „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ aus der Dialektik der Aufklärung — Philosophische Fragmente auf die Nähe zwischen eben jenem aufgeklärten europäischen Sub‐ jekt und dem Abenteuerroman hin (vgl. Adorno/ Horkheimer 2003: 53). Der antike Vagabund Odysseus, „Held der Abenteuer [,] erweist sich als Urbild eben des bürgerlichen Individuums“ (Adorno/ Horkheimer 2003: 50), wie Horkheimer und Adorno ausführen: Der listige Einzelgänger ist schon der homo oeconomicus, dem einmal alle Ver‐ nünftigen gleichen: daher ist die Odyssee schon eine Robinsonade. Die beiden prototypischen Schiffbrüchigen machen aus ihrer Schwäche — der des Individuums selber, das von der Kollektivität sich scheidet — ihre gesellschaftliche Stärke. Dem Zufall des Wellengangs ausgeliefert, hilflos isoliert, diktiert ihnen ihre Isoliertheit die rücksichtslose Verfolgung des atomistischen Interesses […] Daher gehört zur univer‐ salen Vergesellschaftung, wie sie der Weltreisende Odysseus und der Solofabrikant Robinson entwerfen, ursprünglich schon die absolute Einsamkeit, die am Ende der bürgerlichen Ära offenbar wird. […] Beide vollbringen es nur vollkommen abgetrennt von allen anderen Menschen. Diese begegnen beiden bloß in entfremdeter Gestalt, als Feinde oder als Stützpunkte, stets als Instrumente, Dinge (Adorno/ Horkheimer 2003: 69). 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 245 <?page no="246"?> Der vagabonde individualiste aus L’île du bout des rêves steht in dieser bis zu Robinson und Odysseus zurückreichenden Tradition. Auch für ihn liegt die Gefahr in der Überwältigung durch andere Gewalten und Mächte. Wo Odysseus den Sirenengesängen lauscht und sich der Macht der Kirke entwindet, flieht die Romanfigur vor nahezu jeglicher Form emotionaler Verbindung und begegnet der aufgewühlten karibischen See: Coincé entre les caprices de l’Atlantique et ceux de la mer Caraïbes […] Le Cubain me fit signe d’abattre la grand-voile qui s’était enroulée autour du mât. Manœuvre peu aisée en vérité, car j’avais passé l’age de jouer la vigie. Perché à mi-mât, un fil d’acier noué autour des reins, j’entrepris de lutter contre la ténacité des éléments (Dalembert 2007: 27 f.). Ähnlich seiner literarischen ‚Vorgänger‘ lebt auch er ein Leben, das stark von Einsamkeit, Distanz zu anderen Menschen, Abenteuern und stetigen (Reise)Be‐ wegungen geprägt ist. Entgegen dem Odysseus in der Lesart der Dialektik der Aufklärung zielt das Streben der Hauptfigur von L’île du bout des rêves jedoch nicht auf die Rückkehr in die Heimat zu Frau, Kind und Besitz ab, sondern hat die Existenz als freies, ungebundenes, nomadisches Individuum zum Zweck: Ma conviction, trempée un coup dans l’amertume […], un coup dans l’utopie, c’est que je devais avoir des ancêtres nomades. Solitaires et nomades. Des hommes et des femmes qui avaient passé leur vie à franchir les frontières comme on abat un mur entre deux peuples. Et plus le temps passait, plus s’ancrait en moi l’idée que la solitude et le nomadisme participent de la condition même de l’humain. Vagabond jusqu’au bout de la fatigue (Dalembert 2007: 248 f.). Trotz der deutlichen Parallelen rückt Dalembert an der Stelle entschieden von den bereits genannten emblematischen Figuren der Reisenden ab. Anstelle der Hoffnung auf Heimkehr (vgl. Janka 2015: 301 ff.) entwirft Dalembert ein stark von kosmopolitische Ansätzen geprägtes Menschenbild. In diesem trägt der namenslose Ich-Erzähler zwar liberal-bürgerliche Ideale von männlich codierter Autonomie und Freiheit weiter (vgl. Kley 2014: 325), verwirft jedoch in der gleichen Bewegung Konzepte wie Ehe und Familie, Nation und Besitz durch sexuelle und räumliche Freizügigkeit. Der Kosmopolitismus des Protagonisten lässt nationale und andere territorial gebundene Vergemeinschaftungsformen wie citoyenneté hinter sich und stellt die Notwendigkeit von Grenzen infrage, da sie seiner Konzeption vagabundierender, menschlicher Existenz grundlegend widersprechen. Diese Infragestellung reicht bis hin zu einer Ignoranz des Faktischen, wie sich in dem folgenden Dialog mit JMF offenbart: 246 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="247"?> 313 Entgegen dieser an mehreren Stellen zum Ausdruck gebrachten Haltung der Haupt‐ figur, erweisen sich die weiblichen Figuren in L’ile du bout des rêves als durchaus vielfältiger und differenzierter, wie wir in dem Kapitel The power of the erotic‘ — Historische Verflechtungen und erotisches Kapital noch genauer sehen werden. —On a tout de même une conscience, qui va au-delà de ces questions de citoyenneté. Qu’estce que tu en dis, toi, quand t’arrête à une frontière au seul vu de ton passeport ? —Qu’il m’en faudrait un autre pour voyager plus librement ! —C’est tout ? C’est comme ça que tu résous le problème ? — Qu’est-ce que tu veux ? Je suis pas le sauveur de l’humanité, moi (Dalembert 2007: 213). Ähnlich wie Ollivier legt auch Dalembert seiner erzählten Welt eine Viel‐ zahl an Figurenbewegungen zugrunde. Wo Ollivier jedoch materielle Zwänge und Notwendigkeiten unterstreicht, fokussiert Dalembert individuelle Bewe‐ gungs-Freiheit. In jener solitären Ausprägung enthält der Kosmopolitismus des Ich-Erzählers kaum noch politische Implikationen, da er sich nur noch sehr eingeschränkt in Relation zu seiner Umwelt erfährt und folglich auch permanente Ausprägungen von Kohabitation und Konvivenz für ihn weitest‐ gehend bedeutungslos bleiben. Stattdessen richten sich die Handlungen des Protagonisten auf die Erfüllung der eigenen unmittelbaren Bedürfnisse aus: Vivais ouvert à tous les possibles. M’arrêtait le temps d’un amour ou d’une amitié. L’essentiel était de voir du pays, me payer un chambre d’hôtel, manger à ma faim, étreindre par moments un corps de femme. Tout cela peut sembler étrange, mais depuis le départ de la terre natale, j’avais appris à être un individu. Rien qu’un individu. Autrement dit, un être sans passé ni histoire, au regard des autres (Dalembert 2007: 45). Frauen tauchen in dem Blickfeld des männlichen Protagonisten vor allem als sexuelle Körper und Objekte der Bedürfniserfüllung auf. Die dauerhafte Bezie‐ hung zu Frauen 313 als reale Gegenüber hingegen scheint unmöglich, fungieren sie doch in dem Weltbild des Ich- Erzählers als Gegensatz zu einem freien Leben (vgl. Dalembert 2007: 174). Dieses vermeintliche Ende (männlicher) Freiheit verbirgt sich in der Forderung nach Verantwortungsübernahme, mit der diese, so der Erzähler, versuchen den männlichen Part gegen dessen Willen an sich zu fesseln: Avec les femmes, je crains toujours cet instant où les choses deviennent moins ludiques, trop sérieuses. Où il faut prendre ses responsabilités, comme elles disent… Esmeralda m’avait pourtant juré être une femme libre. Pas du genre en tout cas à vouloir retenir un homme, surtout contre son gré (Dalembert 2007: 230). 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 247 <?page no="248"?> 314 An dieser Stelle kann eine erneute Verbindungslinie zu der Dialektik der Aufklärung gezogen werden. So heißt es dort: „Als Repräsentantin der Natur ist die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft zum Rätselbild von Unwiderstehlichkeit und Ohnmacht ge‐ worden. So spiegelt sie der Herrschaft die eitle Lüge wider, die anstelle der Versöhnung der Natur deren Überwindung setzt“ (Adorno/ Horkheimer2003: 79). 315 Daniel Graziadei befasst sich in seinem Aufsatz „Donne Decolonized: The Sinking of the Island of Conviviality into the Mare Tenebrosum“ (2018) mit der Inselmetaphorik bei John Donne vor dem Hintergrund der Isolation im Kontext der Karibik. Diese Perspektive wird ebenfalls in ‚The power of the erotic‘ — Historische Verflechtungen und erotisches Kapital aufgegriffen werden. In dieser Aussage wird die eingeschränkte Perspektive des Protagonisten auf Frauen ersichtlich, die stark von sexistischen Tendenzen geprägt ist, Frauen auf stereotype Geschlechterbilder reduziert und verbindliche Beziehungen als Bedrohung seiner Freiheit erlebt. 314 4.3.4 Widerstreitende Begriffe von Freiheit zwischen libertären Kosmopolitismus und kollektivem Befreiungskampf Anhand der beiden zentralen Figuren JMF und dem Protagonisten verhandelt Dalembert in seinem Roman unterschiedliche Konzeptionen der condition hu‐ maine, die die Narration als Metadiskurs durchziehen. Während der Protagonist in seiner vagabondage und seiner Anbetung der Freiheit eine Extremform des liberalen Individualismus verkörpert, repräsentiert der Rebell JMF einen Idealtypus des Kommunitaristen: — Je te l’ai dit, je voulais te sauver malgré toi. Offrir un sens à ta vie, arrimer ton vagabondage à un objectif plus noble que la dérive pure. […] —L’individu ne compte pas quand il s’agit du collectif, cher ami. Je dirais même plus: il n’existe pas, c’est une vue de l’esprit. Rappelle-toi John Donne: „Nul homme n’est une île complète en soy-mesme ; tout homme est un morceau du continent, une part du tout.“ (Dalembert 2007: 243 f.). 315 Die Auszüge aus einem Dialog, in dem JMF den „vagabond individualiste“ (Dalembert 2007: 243) davon zu überzeugen versucht, der Widerstandsgruppe beizutreten, illustrieren JMFs Weltsicht. Diese steht jener des Protagonisten diametral gegenüber, stellt sie doch die Existenz des Individuums und damit die Grundlage jedweder liberalen Überzeugung radikal infrage. Für JMF ordnet sich das Dasein des Einzelnen konsequent den Zielen des Kollektivs unter. Trotz ihrer konträren Menschenbilder und Weltsichten sind für beide Figuren Begriffe von Freiheit konstituierend. Während wir bei dem namenlosen Ich-Erzähler einen 248 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="249"?> 316 Repräsentationen revolutionärer und militanter Diskurse finden sich in allen vier Ro‐ manen in Form von Intertexte, Figuren und Figurenrede aufgegriffen. Dabei wird dieser Bezug nicht selten mit Migrationsbzw. Exilerfahrungen verknüpft und Cuba scheint nimmt in vielen dieser Verweise eine nicht unbedeutende Rolle als revolutionäres Hinterland ein (vgl. Politische Desillusion und Literarische Solidarität(en); Weibliche Gegen(welt)entwürfe und posthumanistische Aspekte). 317 Zugleich etabliert sich die allegorische Repräsentation von Revolution bzw. Freiheit als Frauenfiguren im Zuge der Ereignisse um 1789 (vgl. van den Heuvel 1992: 21 f.). 318 Dort heißt es: „Le couple, c’est comme les révolutions : ils se forment dans l’enthousiasme et se défont dans le désenchantement“ (Dalembert 2007 : 175). liberalen, d. h. stark an das Individuum gebundenen, positiven Freiheitsbegriff vorfinden, zielt JMFs Freiheitsideal vorrangig auf die Freiheit von Gruppen bzw. von imaginierten Gemeinschaften. In dem Kampf um die Befreiung von Puerto Rico (vgl. Dalembert 2007: 237), für welchen JMF und Esmeralda stehen, zeigt sich nicht nur die Wirkmächtigkeit imaginierter nationaler Gemeinschaft, deren Recht auf Freiheit und Autonomie an die Stelle des Individuums tritt, sondern auch, dass Narrative der Freiheit und Befreiung eine vergemeinschaftende Wirkung entfalten können, wie wir bereits im Kontext der Haitianischen Revolution beobachten konnten (vgl. Libète ou lamò? — Freiheit als revolutionäres Vergemeinschaftungskonzept). Dabei ist JMFs Diskurs von einem emphatischen Revolutionsbegriff 316 geprägt, wie hier in einem Streitgespräch mit dem Prot‐ agonisten zum Ausdruck kommt: — Et ça, tu ne peux pas le cacher. La Révolution, le désir de Révolution, tu sais, c’est comme une femme que tu as dans la peau. Ce n’est pas parce qu’elle t’a cocufié que tu vas t’éloigner de tout ce qui porte jupon. —J’ai envie d’être dans le pieu d’aucune meuf qui m’a encorné, mec. Et puis, pour moi, y’a que le principe de liberté qui compte, chacun fait ce qu’il veut. —Desillusion ! Amertume, cher ami. Je te dirai plus : lors même que tu ne retombes pas dans ses draps, tu n’arrêtes pas de penser à elle. Mieux vaut, dans ce cas, être dans ses bras, au moins on passe un bon moment (Dalembert 2007: 245). Die Liebe zur Revolution wird von JMF ebenso wie von dem vagabond individua‐ liste mit der amourösen Beziehung zu einer Frau gleichgesetzt (vgl. Dalembert 2007: 175). 317 Während JMF jedoch in seinen Ausführungen auf die Unausweich‐ lichkeit und Verbindlichkeit dieser Beziehungen abhebt, nutzt sein Gegenpart den Vergleich, um die Enttäuschungen und die Einschränkungen individueller Freiheiten, welche mit amourösen und politischen Bindungen einhergehen, herauszustellen (vgl. Dalembert 2007). 318 Beide Formen der Sozialität und der Vergemeinschaftung, die Liebe und der politische Kampf, stellen in der Welt des Protagonisten eine Gefahr für die Autonomie und die Freiheit des Subjekts dar, 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 249 <?page no="250"?> 319 Dieser Aspekt wird in dem Fazit dieser Untersuchung in dem Unterkapitel In Erwartung einer Belle amour humaine noch einmal Gegenstand ausführlicherer und weitreichen‐ derer Reflexionen sein. da sie dauerhafte Bindungen und Verantwortlichkeit sowie die Unterordnung individueller Bedürfnisse unter ein gemeinsames Gut bedeuten. Die Liebe zu einer Frau und die Liebe zur Revolution bergen beide die Gefahr — im Sinne einer „Zweideutigkeit zwischen Glück und Zerstörung der Autonomie“ (vgl. Adorno / Horkheimer 2003: 77) — der Überwältigung des Individuums. Dieser Gedankenbewegung nachfolgend lehnt Dalemberts Protagonist konsequent sämtliche (dauerhaften) Formen der Vergemeinschaftung, ob in revolutionärer Gestalt oder bürgerlicher Art wie Nation, Familie und Ehe, ab. Die Ablehnung, die der Protagonist an dieser Stelle kollektiven Zielen und Verantwortung entge‐ genbringt, erweist sich als Resultat von jahrelangen, diversen Enttäuschungen (vgl. Dalembert 2007: 248), in denen der Autor in einem Interview mit Monia Snoussi auch einen autobiografischen Anteil anerkennt: „Ce qui est douloureux, c’est de lutter et en fin de compte de ne sauver que soi.“ Une chose est de le savoir intellectuellement, autre chose est de le vivre. De là sans doute cette forme de désenchantement qui traverse L’île du bout des rêves. On sent le narrateur à la fois désabusé et méfiant vis-à-vis de toute implication politique, de tout militantisme actif. (Dalembert/ Snoussi 2004). Die Ernüchterung, welche Dalembert hier anführt und die sich auch in dem radikalen Individualismus seiner Romanfigur niederschlägt, ist kein Alleinstel‐ lungsmerkmal von L’île du bout des rêves. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Phänomen, das bei Ollivier in den Figuren von Régis und Normand ebenso wie auch in Kasalé und La belle amour humaine auftaucht, und das deshalb als eine Zeitdiagnose vor dem Hintergrund haitianischer und globaler politischer Entwicklungen gelten kann. 319 Ungeachtet seiner eigenen Erfahrungen gibt Dalembert in seinem Roman keiner der beiden entgegengesetzten Positionen von JMF und dem Ich-Erzähler Vorrang und überführt stattdessen die Entschei‐ dung zwischen Opferbereitschaft und Selbstaufgabe für das Kollektiv einerseits und einem liberalen und individualistischen Kosmopolitismus andererseits in eine ephemere und prekäre Form der Vergemeinschaftung, die sich auf der Grundlage von Zufällen und Mouvements im Verlauf des Romans auf der île de la Tortue bildet und die im Folgenden näher betrachtet werden soll. 250 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="251"?> 4.3.5 Überzeitliche Zirkulationen im karibischen Raum: koloniale Pirat: innen und anti-imperialistische Hydra Wie wir bereits gesehen haben, weisen Abenteuerroman und Robinsonaden eine gedankliche und historische Nähe zu Bildern und Narrativen des Kolonialismus auf. Die Naturbeherrschung, die für die Autoren der Dialektik der Aufklärung eine so prominente Rolle in der Ausbildung des bürgerlichen Subjekts einnimmt, hat auch hier eine wichtige Funktion inne. So kann die „Gewalt gegen die Natur in sich […] und gegen die draußen“ (Adorno/ Horkheimer 2003: 54), zu welcher Odysseus bzw. das bürgerliche Individuum gezwungen sind, auch als jene gelten, welche in den ‚zivilisatorischen‘ Missionen des Kolonialismus zu Tage tritt. Das, was sich als bürgerliches Subjekt mit der Aufklärung Selbstbe‐ wusstsein und Autonomie verschafft, vollendet dieses Individuationsprojekt um den Preis der Abspaltung, die bis zur Unterwerfung all dessen gereicht, was als Natur zuvor bestimmt wurde. Diese Natur, die in der Vorstellung ungebändigt, verfügbar und wild ist, bedarf in der kolonialen Logik der zivilisatorischen Entdeckung, Verwertung und zivilisatorischer Zurichtung Unternehmungen, an denen Abenteurer: innen, Pirat: innen, Seeleute und Händler: innen in großen Stile mitwirkten. So schreibt der martinikanische Theoretiker und Schriftsteller Aimé Césaire in seinem Discours sur le Colonialisme ([1950] 1955): Cela revient à dire que l’essentiel est ici de voir clair, de penser clair, entendre dangereusement, de répondre clair à l’innocente question initiale : qu’est-ce en son principe que la colonisation ? De convenir de ce qu’elle n’est point […] d’admettre une fois pour toutes, sans volonté de broncher aux conséquences, que le geste décisif est ici de l’aventurier et du pirate, de l’épicier en grand et de l’armateur, du chercheur d’or et du marchand, de l’appétit et de la force, avec, derrière, l’ombre portée, maléfique, d’une forme de civilisation qui, à un moment de son histoire, se constate obligée, de façon interne, d’étendre à l’échelle mondiale la concurrence de ses économies antagonistes (Césaire 1955: 8 f.). Césaire, Mitbegründer der antikolonialen, literarischen Bewegung Négritude, betrachtet die Figuren von Pirat: innen und Abenteurer: innen im Kontext der Ausbreitung und der Etablierung kolonialer Ausbeutungs- und Unterdrück‐ ungsverhältnisse im 17. Jahrhundert. Denn in den ‘heldenhaften‘ Geschichten weißer Europäer, die ausziehen um die Welt zu ‘entdecken‘ und zu beherrschen, werden rassifizierte, kolonisierte und sexualisierte Figuren zu Projektionsflä‐ chen, vor denen die Erzählungen ‘zivilisatorischer‘, heroischer Missionen noch heller leuchten. 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 251 <?page no="252"?> 320 Der französische Begriff ‚flibustier‘ meint soviel wie Seeräuber: innen bzw. Frei‐ beuter: innen, die häufig im Auftrag von europäischen (See)Mächten handelten 321 Dementsprechend ordnet die dekoloniale Politikwissenschaftlerin Françoise Vergès die Gemeinschaften der Pirat: innen neben der marronage und anderen autonomen Gemeinschaften in die Geschichte utopischer Praktiken ein, welche so radikal mit der Ordnung der Mächtigen brechen, dass sie weiterhin die Idee des Möglichen in sich tragen und als emanzipatorischen Utopien ‚von unten‘ die Gleichheit in den Mittelpunkt ihres Projektes stellen (vgl. Vergès 2017: 245). Pirat: innen, Flibustiere 320 und Freibeuter: innen stellen vor diesem Hinter‐ grund eine besonders ambivalente Gruppe dar (vgl. Ette 2005: 172). Populär und idealisiert in einer Vielzahl von literarischen und filmischen Werken, „schöpft [das Piratentum] sein mythisches Potenzial wesentlich aus dem Antagonismus zwischen anarchischer und stark hierarchischer Lebensform“ (vgl. Nell 2014: 297 ff.). In diesem Spannungsfeld vermögen die Pirat: innen Widerstand, Freiheit und Gerechtigkeit ebenso zu verkörpern wie Grausamkeit, Verrat und gewaltsame Aneignung. Dementsprechend bewegen sie sich „in einem Grenzraum zwischen Natur und Kultur, in dem Fragen des Rechts und der Gewalt, der Gier und des Glückes gleichermaßen verhandelt werden“ (vgl. Nell 2014: 297) und sind dabei Teil der Herausbildung ökonomischer und politischer Machtstrukturen wie auch Gegenorte 321 zu „normierten Staats- und Wirtschaftsformen“ (vgl. Nell 2014: 297 ff.). Die Periode der Freibeuter: innen und Pirat: innen im 17. Jahrhundert ereignete sich zwar weitestgehend vor dem Aufstieg Hispaniolas zur kolonialen Plantagengesellschaft und Perle des Antilles, fällt aber zusammen mit den ersten kolonialen Inbesitznahmen durch europäische, vorrangig französische und spanische, Siedler: innen und trägt so bereits entscheidende Vorzeichen der kolonialen Besiedlung und Aneignung in sich (vgl. Bernecker 1996: 24 ff.). Folglich ist den Geschichten der Pirat: innen eine koloniale Dimension eingeschrieben, welche sich auch im Abenteuerroman und dem Topos der Insel motivisch wiederholt: Unterwerfung wilder Natur, Entdeckung unbekannter leerer Landstriche, Überlegenheit der europäischen Held: innen, exotische Schätze bzw. Ausbeutung von Ressourcen (vgl. Arndt/ Kassel 2019). Der île de la Tortue, Hauptort der Romanhandlung und seit Mitte des 17. Jahr‐ hunderts ein wichtiger Stützpunkt des westindischen Piratenwesens (vgl. Ber‐ necker 1996: 25 f.; Mintz/ Trouillot 1998: 134), kommt in den Überkreuzungen von Piratennarrativen und kolonialer Geschichte der Karibik eine Schlüsselrolle zu. So ist sie ehemalige Pirateninsel und kurzzeitiger Aufenthaltsort der Pauline Bonaparte, Schwester Napoleons Bonapartes und Ehefrau des französischen Ge‐ nerals Charles Victor Emmanuel Leclerc, welcher mit der Niederschlagung der Haitianischen Revolution beauftragt war und an den widerständigen Truppen 252 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="253"?> 322 „Obwohl eine beträchtliche Minderheit der Piraten im Sklavenhandel gearbeitet hatte und damit Bestandteil der Versklavungs- und Deportationsmaschinerie gewesen war und obwohl Piratenschiffe gelegentlich Ladung aufbrachten (und verkauften), zu der auch Sklaven gehörten, waren sowohl freie alsversklavte Afrikaner und Afroame‐ und dem Gelbfieber scheiterte, zugleich. In diesem Spannungsfeld wird die île de la Tortue nicht nur als ein Feld gegenwärtiger Kämpfe, sondern auch als ein zugleich umkämpfter, cineastisch und literarisch inszenierter Ort im imaginaire universel (Dalembert 2007: 160) entworfen, an welchem historisches Wissen um die Zeit der Seeräuber (vgl. Dalembert 2007: 225) und populäre Piratenbilder miteinander kulminieren: Dans ma tête, heureux répit, doutes et espoir pactisèrent pour céder la place aux mille et une légende colportée des siècles durant sur l’ancien repaire des pirates. Ramenées du plus lointain de l’enfance par le zef qui me fouettait le visage. De vieux films en noir et blanc. De lectures fébriles au sommet d’un arbre fruitier, à l’abri des bruits de la maison et du voisinage… (Dalembert 2007: 24). Diese verschiedenen historischen Schichtungen und Geschichten scheinen immer wieder an verschiedenen Stellen im Roman hindurch (vgl. Dalembert 2007: 37 ff.) und präfigurieren so den karibischen Raum. In jener Funktion schaffen sie eine Verbindung mit den Kindheitserinnerungen des Protagonisten, greifen mediale Bilder und Erzählungen über die Karibik auf, verweisen aber zugleich auch auf eine vielgestalte Geschichte von Kolonialismus, Vernetzung und Widerstand. In der Gesamtheit betrachtet, vereint die Piraterie emanzipato‐ rische, anti-imperialistische Widerstandspraktiken und den opportunistischen Profit an dem transatlantischen Sklav: innenhandel und kolonialisierenden Po‐ litiken zugleich in sich. Dabei hallt in ihren Geschichten die Kolonisation schmerzhaft nach (vgl. Césaire 1955: 9), denn beteiligt an der „Destabilisierung bestehender Ordnungen und [der] Konstitution neuer Mächte“ (Nell 2014: 298) trugen sie zu Kolonialismus und Sklav: innenhandel und damit zur „Globalisie‐ rung der Ökonomie“ (Nell 2014: 298) bei. Der Nachhall wird zugleich immer wieder auch durch die Erzählung von einer „von Piraten aufgebauten auto‐ nomen, demokratischen, multirassischen Gesellschaftsordnung auf See, einer alternativen Lebensweise“ (Linebaugh/ Rediker 2008: 352), welche auch eine Gefahr für den Sklavenhandel bedeutete, gebrochen. Vergemeinschaftungen von Pirat: innen konnten mitunter ein Gegenort zu bestehenden imperial-kolo‐ nialen Hierarchien darstellen und als solcher Raum für resistente politische und soziale Formen schaffen, indem sie afrodeszendente Menschen als aktive und selbständige Akteur: innen in die ‚Gesellschaftsordnung des Piratenschiffes‘ aufnahmen (vgl. Linebaugh/ Rediker 2008: 180). 322 Aus dieser Perspektive be‐ 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 253 <?page no="254"?> rikaner auf Piratenschiffen aktiv und zahlreich vertreten […] Auf fast allen Piraten‐ schiffen gab es ‚Neger und Mulatten‘, und es kam selten vor, dass sie von den vielen Kaufleuten und Kapitänen, die ihre Anwesenheit kommentierten, als Sklaven bezeichnet wurden“ (Linebaugh/ Rediker 2008: 180). trachtet, verweist das Piratenschiff auf die Überzeitlichkeit von Zirkulationsbe‐ wegungen zwischen den Ozeanen. Ebenso wie Güter, Menschen, Geschichten und Sprachen zirkulieren auch die Ideen des Widerstandes zwischen den verschiedenen geografischen Polen und überspannen somit ebenso nationale wie auch natürlich-geografische Grenzen. In diesem Gewebe fungieren die Reisenden, Piraten, Vagabunden, Rebellen und Migranten als Kommunikations- und Verbindungskanäle, durch die Ideen verbreitet und Kämpfe geteilt werden. Von Beginn an verhandelt der Roman durch zeitgeschichtliche Verweise die politischen Interventionen der Vereinigten Staaten in Ländern des globalen Südens, darunter der Vietnamkrieg (vgl. Dalembert 2007: 268) oder die ameri‐ kanische Militärbasis auf Guantanamo auf Kuba: Un large détour nécessaire pour s’éloigner de Guantánamo et éviter les eaux territoriales étatsuniennes interdites à toute embarcation venant de Cuba. Sans interrompre sa manœuvre, notre accompagnateur décocha une bordée d’injures en direction de la base militaire, avant de prêter une oreille distraite au verbiage de JMF. Un véritable moulin à paroles, qui déferlaient pareilles à des ondes ininterrompues […] Une fois lancé, impossible de l’arrêter (Dalembert 2007: 20). Bereits auf der Überfahrt von Kuba nach Haiti tritt die Antipathie der Figuren gegenüber dem außenpolitischen Handeln Nordamerikas deutlich zutage. Auf diesem politischen Nährboden entwickelt sich das Ziel der Rebell: innen um JMF, Puerto-Ricos Unabhängigkeit von den USA zu erkämpfen im Verlauf der Geschichte zum gemeinsamen Anliegen sehr diverser Figuren wie dem kanadi‐ schen Pater Albert, der haitianischen Prostituierten Erzulie, einem belgischen Barbesitzer und dem Protagonisten. Gemeinsam ist all diesen Charakteren, dass sie eine anti-imperalistische Haltung teilen, die die USA zur Metonymie globaler Herrschaft und Ungleichheit erklärt und so einen ausgeprägten Antiamerika‐ nismus vertritt. Jene politische Grundeinstellung, welche an einigen Stellen zutage tritt, ver‐ festigt sich im weiteren Verlauf zu einem, im weiteren Sinne, gemeinsamen Gut, welches kooperative Handlungen hervorzubringen vermag. Die verschiedenen Figuren werden dabei durch unterschiedliche Motive in ihren Handlungen bestimmt. So sehnt sich Erzulie nach Rache für den Tod ihres eigenen Sohnes im Vietnamkrieg (vgl. Dalembert 2007: 267 ff.), während der belgische Barbesitzer 254 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="255"?> 323 Pfadenhauer, Hitzler und Honer betonen dabei jedoch zugleich, dass sie Abgrenzung gegenüber einem „Nicht-Wir“ weiterhin wichtiger Bestandteil bleibt (vgl. Hitzler/ Honer/ Pfadenhauer 2009: 15 ff.). 324 Gertenbach, Laux, Rosa und Strecker beziehen sich an dieser Stelle neben Hitzler, Honer und Pfadhauer vor allem auch auf den französischen Soziologen Michel Maffesoli, der von „néo-tribus (Neo-Tribalismus)“ (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010). spricht Dieser Term impliziert allerdings auch in weitaus höherem Maße „nicht-Rationale“ und „archaische“ Elemente, die jedoch im Falle von L’île du bout des rêves weniger ins Zentrum gerückt werden (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u.-a. 2010). bereits auf eine militante Karriere im Untergrund zurückblickt und von dem Streben nach globaler Gerechtigkeit angetrieben wird: Le Belge nourrissait une haine viscérale contre toute forme d’injustice. Or la leur visait à rendre justice à tout un peuple. N’oublie pas, ajouta-t-il, que le Belge a été sous-marin de l’ANC, a risqué sa vie en luttant contre l’apartheid en Afrique du Sud, alors qu’il aurait pu se contenter des privilèges que lui conférait sa peau blanche (Dalembert 2007: 254). Dieser geteilte Antiimperialismus ermöglicht eine kurzfristige Einigkeit und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteur: innen, führt jedoch nicht zu der Herausbildung einer stabilen Vergemeinschaftung oder Widerstands‐ bewegung, wenngleich JMF eine solche herbeisehnt. Stattdessen bleibt der Zusammenschluss zeitlich auf den Aufenthalt auf der île de la Tortue und die Unterstützung der Rebellengruppe begrenzt. Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht von dauerhaften Vergemeinschaftungen sprechen, wohl aber von einer ephemeren, interessengeleiteten posttraditionalen Vergemeinschaftung, die we‐ niger auf einheitlichen Identitätskategorien als auf einer geteilten Vision und einem gemeinsamen Widerstand basiert. Als Posttraditionale Vergemeinschaf‐ tung verstehen Ronald Hitzler, Anne Honer und Michaela Pfadenhauer dabei vor allem auch situative Gemeinschaften, welche nicht mehr im Widerspruch zur Gesellschaft stehen und wesentlich durch ihren selektiven und teilzeithaften Charakter gekennzeichnet sind (vgl. Hitzler/ Honer/ Pfadenhauer 2009: 8 ff.; Ger‐ tenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 61 f.). 323 Es handelt sich also keinesfalls mehr um eine allumfassende, identitätskonstruierende Form der Vergemeinschaftung, sondern um zeitlich und räumlich bzw. thematisch begrenzte Ausprägungen. Demnach entwirft Dalembert zum Ende hin eine „orts- und zeitgebundene“ Vergemeinschaftungsform, in der „das nomadische Dasein postmoderner Indivi‐ duen“ (vgl. Gertenbach/ Laux/ Rosa u. a. 2010: 63) für einen Moment aufgehoben scheint. 324 Pfadenhauer, Hitzler und Honer betonen dabei jedoch zugleich, dass sie die Abgrenzung gegenüber einem „Nicht-Wir“ weiterhin wichtiger Bestandteil bleibt (vgl. Hitzler/ Honer/ Pfadenhauer 2009: 15 ff.), wie sich in der 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 255 <?page no="256"?> 325 So erweist sich Deterritorialität als charakteristisches Merkmal posttraditionaler Ver‐ gemeinschaftungen: „Bei aller Unterschiedlichkeit, die Jugend-, Freizeit und Populär‐ kulturen, ethnische Vergemeinschaftungen wie die Diaspora, politische Vergemein‐ schaftungen sozialer Bewegungen und religiöse Vergemeinschaftungen aufweisen, zeichnen diese sich doch allesamt dadurch aus, dass sie aus lokalen Gruppen bestehende translokale und deterritoriale Netzwerke bilden, die einen gemeinsamen Sinnhorizont teilen, der durch medienvermittelte Kommunikation aufrechterhalten wird. Für alle Ausprägungen deterritorialer Vergemeinschaftung — unabhängig davon, ob sie vor‐ rangig durch Kommerzialität, Ethnizität, Politisierung oder Religiosität geprägt sind — gilt, dass die Zugehörigkeit auf einer Wahlentscheidung, d. h. auf einer freiwilligen Positionierung beruht und nicht aus Tradition resultiert, weshalb diese angemessen ablehnenden Haltung gegenüber den USA zeigt. So entfaltet der anti-imperia‐ listische und antiamerikanische Diskurs, trotz der begrenzten zeitlichen Dauer des Zusammenschlusses, eine enorme Bindekraft: C’était à qui l’emporterait sur l’autre. Tout y passait : les Taïnos, l’injustice dans le monde, l’impérialisme des nations du Nord, dont les Etats-Unis incarnaient toute l’arrogance (Dalembert 2007 : 161). Der Topos amerikanischer Arroganz, welcher insbesondere JMF immer wieder bemüht, erklärt die USA zum Stellvertreter globaler Ungerechtigkeit, verein‐ facht auf diese Weise ein komplexes politisches Zusammenspiel — zugleich war die Karibik Ziel vielfältiger (militärischer) Interventionen der USA, wodurch sich ihr negatives Image z.T. erklären lässt — und übt dabei eine stark emotiona‐ lisierende Wirkung aus. Vereint auf Grundlage dieser Weltsicht bildet sich hier Vergemeinschaftung, im weiteren Sinne, entlang der Achse des Widerstandes gegen ein mächtiges Zentrum heraus. Gleichzeitig wird dieser gegenwärtige Kampf in die Geschichte vergangener Widerstandsbewegungen gegen koloniale Politiken und kolonialisierende Staaten eingeschrieben und Kontinuitäten zwi‐ schen der Vergangenheit und der Gegenwart nachgezeichnet: Cela dit, les peuples conquérants ont toujours existé dans l’histoire de l’humanité. Hier, les Égyptiens, puis les Romains. Y a pas très longtemps, vous autres Européens régniez sur l’Amérique, l’Afrique, l’Océanie et l’Asie réunies. Aujourd’hui, c’est le tour des Ricains (Dalembert 2007: 191). Während der vagabond individualist diese Kontinuitäten jedoch als gegeben und unveränderlich hinnimmt, erwächst für JMF daraus eine politische Verant‐ wortung und die Notwendigkeit eines internationalen politischen Kampfes, der Verbindungen zwischen verschiedenen Erdteilen und kulturellen Räumen schafft, wie u. a. in der Diversität und der Multiethnizität der Figuren, welche JMF unterstützen, in Ansätzen ersichtlich wird: 325 256 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="257"?> durch das Attribut der Posttraditionalität etikettiert, sind“ (vgl. Hitzler/ Honer/ Pfaden‐ hauer 2009: 22). — Que fais-tu alors de la solidarité entre les peuples ? Ce n’est pas parce que je serai Canadien que je ferais peu cas de la situation d’un Kurde ou, tiens, d’un Portoricain, pour prendre un exemple plus proche. — Le monde a toujours tourné autour de ses intérêts, mec. T’y crois, toi, à cette histoire de solidarité entre les peuples ? Allez, me force pas à parler de ces conneries (Dalembert 2007: 191). In diesem Dialog zeigt sich nicht nur einmal mehr die Differenz zwischen JMF und dem Protagonisten, er führt vor allem auch die unterschiedlichen Weltwahrnehmungen vor Augen. Während letzterer die freie Zirkulation von Individuen entbunden von jeglicher nationalen oder ethnischen Zugehörig‐ keit zelebriert, visioniert JMF einen militanten Internationalismus, der jedoch weiterhin Vorstellungen von kultureller, nationaler oder ethnischer Identität verhaftet bleibt. Alternativ zu diesen beiden Positionen zeigt Dalembert in seinem Roman eine weitere Perspektive auf, eine Form der widerständigen Organisation, die sich aus der hohen Mobilität, Zirkulation und Diversität der einzelnen Akteur: innen als auch aus ihrer geteilten Opposition zu bestehenden Machtstrukturen speist. Das Bild der vielköpfigen Hydra, einer unberechen‐ baren, multiethnischen Unterschicht, für die die Ozeane, Schiffe, Hafenstädte und Inseln wichtige Erfahrungs- und Kontakträume darstellten, welches die Historiker Linebaugh und Rediker in Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks (2008) vor dem Hintergrund eines Korpus historischer und literarischer Dokumente entwickeln, kann hier als Inspiration dienen. Denn ebenso wie bei Dalembert, wo sich auf der île de la Tortue allerhand ausgestoßene, marginalisierte und subversive Gestalten, die gemeinsam den Versuch unternehmen eine imperiale Macht anzugreifen, zusammenfinden, beschreiben Linebaugh/ Rediker die Zusammenballung aus rassifizierten, besitz‐ losen, vagabundierenden, rebellierenden Figuren (samt Pirat: innen und Wie‐ dertäufern), welche der imperialen Hydrarchie eine oppositionelle Hydrarchie entgegensetzten (vgl. Linebaugh/ Rediker 2008: 169): Die Grundlagen dieser Tradition wurden von - um einen englischen Offizier in der Karibik zu zitieren — „den Ausgestoßenenen aller Nationen“ geschaffen: den Sträflingen, Prostituierten, Schuldnern, Vagabunden, entflohenen Sklavinnen und Sklaven und Schuldknechten, religiösen Radikalen und politischen Gefangenen, die allesamt in die neuen Siedlungen „jenseits der Grenzlinie“ ausgewandert oder dorthin verbannt worden waren (Linebaugh/ Rediker 2008: 172; Hervorhebung L.B.). 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 257 <?page no="258"?> 326 Linebaugh und Rediker verwenden den Ausdruck vor allem im Hinblick auf den multiethnischen Charakter aber auch hinsichtlich seines rebellischen Potentials (vgl. Linebaugh/ Rediker 2008: 231). 327 Dazu führen Linebaugh und Rediker aus: „Die Kämpfe der Seeleute der Revolutions‐ epoche um Verpflegung, Sold und Rechte und gegen Pressung und brutale Disziplin fanden ihren ersten autonomen Ausdruck unter den Bukanieren Amerikas […] diese gemeinen Seeleute [schufen] ihre eigene Tradition […] Diese Tradition, die von der Obrigkeit als das genaue Gegenteil von Gesetz und Disziplin betrachtet wurde, rühmte sich eines ausgeprägten Freiheitsbegriffs und einer klassenbedingten Feindseligkeit gegenüber Schiffsherren, -eignern und Gentleman- Abenteurern. Darüber hinaus zeichnete sie sich durch demokratische Kontrollmechanismen und Versorgung für die Verletzten aus“ (Linebaugh/ Rediker 2008: 172). 328 Der Begriff Multitude geht auf Antonio Negri und Michael Hardt (2004) zurück, die die Multitude in der Gegenwart als notwendige Basis für Veränderung und Befreiung Die hohe Ähnlichkeit, welche die von Linebaugh und Rediker zitierten ‚Ausge‐ stoßenen aller Nationen‘ in ihrer Zusammensetzung mit Dalemberts Figuren aufweist, ist auffällig und legt nahe, die Charaktere als eine moderne Variante des ‚buntscheckigen Haufens‘ 326 im Kontext einer globalisierten Gegenwart und fortlaufenden imperialistischen Bestrebungen zu lesen. Der frühe globale Kapitalismus setzte verschiedene Teile und Bevölkerungsgruppen der Erde mit‐ einander in Beziehung (vgl. Linebaugh/ Rediker 2008: 166). „Die schiere Größen‐ ordnung seines eigenen Unternehmens zwang den europäischen Imperialismus, Massen von ganz unterschiedlichen Männern und Frauen auf Schiffen zusam‐ menzusperren […] und schuf damit gleichzeitig die Bedingungen für einen Erfahrungsaustausch unter den Massen von Arbeitskräften, die auf diese Weise in Bewegung gesetzt worden waren“ (Linebaugh/ Rediker 2008: 166). Damit entstanden vor dem Hintergrund des transatlantischen Sklav: innenhandels, der Schuldknechtschaft und der Proletarisierung von großen Bevölkerungsgruppen neue Kommunikationswege und Lebensweisen, die zugleich die Lebensreali‐ täten der ausgebeuteten Massen mitunter über Generationen durch die Erfah‐ rungen von Disziplinierung, Ausbeutung, Verschleppung, Gewalt und Tod prägten. Die ungeheuerliche Zirkulation von Menschen und Gütern zwischen den Kontinenten brachte die unvermeidliche Zirkulation von Ideen und letztlich auch neue Sprach-, Organisations-, Gemeinschafts- und Widerstandsformen mit sich (vgl. Linebaugh/ Rediker 2008: 163 ff.). 327 Zwar realisiert sich auf der île de la Tortue keine neue Tradition des Widerstandes oder ein dauerhafter Zusam‐ menschluss, noch erfolgt die Etablierung einer utopischen Vergemeinschaftung auf der Insel oder auf dem Schiff, jedoch verwirft der Roman keinesfalls gänzlich solidarische Formationen. Statt eines örtlich gebundenen Gegenentwurfs zu neo-kolonialen, globalen Machtverhältnissen ist es vor allem die Vision einer Multitude  328 (Hardt/ Negri 2004) der permanenten Überschreitung nationaler, 258 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="259"?> ansehen (vgl. Hardt/ Negri 2004: 99). In Abgrenzung zu anderen Konzepten von Kol‐ lektivität weisen Hardt und Negri die Multitude als explizit plural und multiple aus und grenzen sie somit von homogenisierenden Begriffen wie z. B. dem Volk ab (vgl. Hardt/ Negri 2004: 99): „The multitude, designates an social subject, which acts on the basis of what the singularities share in common. The multitude is an internally different, multiple social subject whose constitution and action is based not on identity or unity […] but on what is has in common“ Hardt/ Negri 2004: 100). In ihrem Buch Gemeinschaft jenseits von Identität? beschreibt Jutta Spitta den von Spinoza entlehnten Begriff als „Figur der lebendigen Menge uneinheitlicher singulärer Vielfalt, die […] nicht mit tradierten soziologischen Kategorien […] bezeichnet werden kann“(vgl. Spitta 2014: 299). Dabei betont Spitta, dass es nicht um eine „bereits bestehende ontologische Grundlage […] sondern das Sein der Menge im Prozess gemeinsamen Werdens“ geht (vgl. Spitta 2014: 299). geografischer und identitärer Grenzziehungen, die sich in L’île du bout des rêves ankündigt. Dalemberts Roman greift viele der Elemente auf, welche auch für die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks von großer Bedeutung sind, darunter Kommunikations-, Kontakt- und utopische Räume wie das Schiff, die Insel und die Hafenstadt sowie marginale, mobile und grenzüberschreitende Figuren wie Vagabund: innen, Pirat: innen, Rebell: innen und Prostituierte (vgl. Linebaugh/ Rediker 2008). Dieses Ensemble aus Figuren und Räumen bringt ein Geflecht aus Bewegungen hervor, welches die Verbreitung von Ideen und die „Zirkulation von Erfahrungen“ (Linebaugh/ Rediker 2008: 166) erst ermöglicht. Gleichwohl finden sich die Verstrebungen nicht nur auf Ebene der Figuren wieder, auch in den erzählten Orten, den intertextuellen Verweisen, den Bezügen auf historische Ereignisse und Akteur: innen und den literarischen, heteroglossen Versatzstücken, welche den Erzähltext prägen, sind sie präsent. Die Inseln der Karibik werden in Bezug gesetzt zum Rest der Welt, eine Ansicht, die Dalembert in einem Interview noch einmal unterstreicht: On est tous venus d’ailleurs, même si les peuples caraïbes, les sociétés amérindiennes ont laissé des traces évidentes dans l’Haïti d’aujourd’hui. La migration participe donc de l’identité même de l’identité de le Haïtien et plus largement du Caribéen (Cooreman/ Gyssels 2008: 143). Auf diese Weise wird nicht nur der plurikulturelle Charakter des Karibikraums examiniert, sondern auch die dem Roman und der Karibik eingeschriebene Ge‐ schichte des Widerstandes tritt an die Oberfläche. So schreibt der französische Literaturwissenschaftler Yves Chemla: Roman sur la manipulation, L’île du bout des rêves renvoie alors une autre image d‘Haïti et plus largement de la région de la Caraïbe, qui est celle de la lutte continuée contre les forces d’oppression (Chemla 2015 : 220). 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 259 <?page no="260"?> 329 Der Titel ist eine Anspielung an Audre Lordes Essay Uses of the erotic. The erotic as power (1978), indem Lorde auf das politische und widerständige Potential eingeht, welches für Frauen in der eigenen Erotik, jenseits männlicher Vereinnahmung, liegen kann. 330 Mit Ottmar Ette lässt sich hier von einem „Kräftefeld“ sprechen, in dem „die unter‐ schiedlichsten historisch akkumulierten Bewegungen“ gespeichert werden und wel‐ ches, die Insel zu einem Bewegungs-Ort macht, „dessen historisch gespeicherte mobile Muster und Vektoren stets abrufbar bleiben“ (vgl. Ette 2005: 148). Damit entwirft Dalembert die Karibik und spezifischer die île de la Tortue als einen Raum pluraler historischer und gegenwärtiger Widerstandsbewegungen und als Ort des Zusammentreffens und bricht somit aus dem Topos der ein‐ samen, isolierten Insel aus (vgl. Graziadei 2017). In dieser Neuverortung nehmen historische und zeitgenössische Reisende — insbesondere weibliche, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden — eine wichtige Rolle ein, denn ihre Bewe‐ gungen rufen Grenzziehungen ebenso hervor, wie sie Grenzen durchqueren und porös werden lassen. Auf diese Weise entsteht ein Gewebe neuer transnationaler und -kontinentaler Verbindungen, welches über den geografischen Inselraum hinausweist. 4.3.6 ‚The power of the erotic‘ 329 — Historische Verflechtungen und erotisches Kapital Das Zentrum der Handlung, die haitianische Insel île de la Tortue, wird in dem Meer an Reise-, Migrations- und Zirkulationsbewegungen zu einem Ort, an dem sich die verschiedenen ‚Mouvements‘ kreuzen und sammeln. 330 Die Insel als ein Ort, der symbolisch zugleich Zuflucht und Rettung, Isolation und Gesellschaft, Zivilisationsferne und Selbstbegegnung verheißt (vgl. Broser 2010: 168-169; Gut‐ zeit 2010), entwickelt sich zu einem transnationalen Knotenpunkt. Die Karibik erweist sich hier als ein besonders geeigneter Ort, denn sie repräsentiert nicht nur den ersten Ort des Zusammentreffens zwischen Europäern und indigener bzw. afrikanischer Bevölkerung, sondern auch schon Ende des 18. Jahrhunderts, im Zuge der Haitianischen Revolution […] einen Ort der Selbstbefreiung und dient gegenwärtig als Laboratorium für soziale Praktiken, die einen neuen Humanismus postulieren (Ueckmann 2014: 35). Als ein solcher Knotenpunkt fungiert die Insel nicht als dauerhafter Ort einer utopischen oder dystopischen, zukünftigen Vergemeinschaftung, sondern als Schauplatz temporärer Interaktionen, die jedoch von dort in die Welt ausstrahlen. Entgegen des Robinson-Topos nutzt Dalembert das Bild der Insel als Ort isolierter Einsamkeit und als paradiesisches Refugium, um sie in einen Ort der Begegnung („lieu de rencontre“, vgl. Dalembert/ Snoussi 2004), welcher 260 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="261"?> 331 Der Begriff der Kippfigur im Bezug auf die Insel als Inselwelt und Insel-Welt geht ebenfalls auf Ottmar Ette zurück und wird u. a. in dem Aufsatz „Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik“ entwickelt (vgl. Ette 2005: 137). 332 Auf diese Geschichte Guantanamos im Zusammenhang mit der Insel-Welt verweist auch Ottmar Ette: „Camp Delta bildet folglich eine Insel innerhalb einer Insel auf in Austausch und Beziehung zum Rest der Welt steht, umzuwandeln. Dieser Verortung folgend spricht Daniel Graziadei von der Insel als oszillierende oder kippende Raumfigur, 331 zwischen Isolation und Vernetzung (vgl. Graziadei 2017: 23), die besonders im Verbund der „archipelagisch vernetzten ‚Inselwelt‘ “ (vgl. Graziadei 2015: 425) zum Tragen kommt. Graziadei bezieht sich in seinen ‚nissopoetischen‘ Ausführungen in großen Teilen auf den Romanisten Ottmar Ette, der ebenfalls das (widerständige) Vernetzungspotential des karibischen Raumes herausstellt: Auch in diesem Sinne übersteigt die Karibik die Grenzen ihres eigenen Meeres und siedelt sich in einer fraktalen Geometrie an, die auf keine simplen Kausalbeziehungen zu reduzieren ist. Ihre gemeinsame Grundlage ist vielmehr ein komplexes transkul‐ turelles Lebenswissen und Überlebenswissen, das auf die Erfahrung heterotoper Pluralität gründet (Ette 2005: 176). Diese These Ettes findet sich in L’île du bout des rêves bestätigt, denn ebenso wie Sprachen und Intertexte (so z. B. Robinson Crusoe, The Tempest, Passages oder die Bibel) nutzt Dalembert in dem Roman auch Orte, um Mouvements und Zirkula‐ tionen, Verflechtungen und Heterogenität abzubilden. So zitiert der Roman eine Fülle an (Hafen)Städten und Ländern wie Santiago de Cuba, Puerto Rico, Neapel, Paris und New York. Die vielzähligen Ortswechsel, insbesondere zu Beginn des Buches, illustrieren dabei zugleich den kosmopolitischen Charakter des Prot‐ agonisten, wie sie auch auf die Vernetztheit der verschiedenen Weltregionen und Kulturräume verweisen und dabei vor allem den mediterran-europäischen und den karibisch bzw. atlantisch-amerikanischen Raum, die für den Autoren Dalembert beide hoch frequentierte und bedeutsame Orte kultureller, ethnischer und sprachlicher Begegnungen darstellen, miteinander in Beziehung setzen (vgl. Dalembert/ Snoussi 2004). Zugleich bietet sich trotz der Vernetzungsprozesse die Möglichkeit Grenzen zu überschreiten nicht für alle Figuren gleichermaßen dar. Während der Protagonist und die Rebellengruppe scheinbar mühelos die Kontinente wechseln, endet die Migration für Erzulies Sohn und Teile der Bevölkerung Haitis in Misere und Tod: Souvent, […] ils apercevaient la Terre promise sans pouvoir y entrer. Interceptés par les gardes-côtes étatsuniens, ils étaient traînés manu militari à Guantanamo 332 , désormais 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 261 <?page no="262"?> einer Insel, die Teil der karibischen Inselwelt, aber auch des Netzwerks der US-ameri‐ kanischen Streitkräfte ist. Guantánamo Bay war zuvor schon als Auffanglager und Ver‐ schiebebahnhof nicht zuletzt auch für haitianische boat people zu trauriger Berühmtheit gelangt, doch bildet Camp Delta insoweit eine neue Qualität, als es sich als rechtsfreie Insel verstehen lässt, auf der weder US-amerikanisches noch internationales — und seit der Übernahme durch die USA auch kein kubanisches — Recht gelten“ (Ette 2005: 171). plus une vaste prison en plein air qu’une base militaire […] Le reste du temps, les trois-quarts de ces aventuriers de l’espoir ne franchissaient pas le cap du Passage du Vent: ils finissaient dans l’estomac des requins (Dalembert 2007: 115). Dementsprechend verwirklicht sich die Vision einer kosmopolitischen Welt aus freien, vagabundierenden Individuen, welche bei dem Ich-Erzähler durch‐ scheint, zwar nicht, aber indem Dalembert durch seine vagabondage littéraire über Sprachen, Epochen, Genres und Kulturräume hinweg eine Art Netz aufspannt und verschiedene Akteur: innen in Bezug setzt, entsteht ein loses, ephemeres Gewebe, welches die Beschränktheit national-territorialer Grenzzie‐ hungen aufzeigt. Dieses Gewebe bietet eine gewisse Heterogenität und Permea‐ bilität auf, die neben eher männlichen geprägten Piraten- und Abenteuerfiguren auch anhand der (zirkulierenden) weiblichen Figuren sichtbar wird. So fügen neben den Referenzen an das Piratennarrativ auch die intradiegeti‐ schen Einschübe, mit denen JMF das Leben Pauline Bonapartes Revue passieren lässt, der Romanhandlung eine weitere historische Dimension hinzu: Pauline n‘ avait pas dix-sept ans quand elle épouse le jeune et brillant adjudant général Victor Charles-Emmanuel Leclerc. […] Napoléon était le plus sensible au charme de Pauline […] Il lui passait ses moindres foucades. Même celle, devenu Premier Consul, de la laisser suivre son mari, commandant du corps expéditionnaire qui s’apprêtait à partir mater l’insurrection de Saint-Domingue, lors le plus beau fleuron de l’empire colonial français […] Elle allait voir de près ces Antilles lointaines et ces esclaves nègres dont débattait tout Paris: l’Assemblée, les journaux, les philosophes. Humanistes d’un côté. Partisans de l’esclavage de l’autre, dont les idées finirent ailleurs par triompher (Dalembert 2007: 77 f.). Über Pauline wird somit ein direkter Bezug zu St. Domingue/ Haiti und dem Befreiungs- und Unabhängigkeitskampf der Sklav: innen hergestellt. Obwohl jenes wichtige revolutionäre Ereignis im Gegensatz zu Paulines amourösen Abenteuern nur eine Randnotiz bleibt, so umreißt Dalembert doch in knappen Zügen die Gleichzeitigkeit kolonialer Interessen und humanistischer Ideale im Paris des 19. Jahrhunderts. In dieser brisanten Gemengelage repräsentiert Pauline dabei als Ehefrau des Generals der französischen Kolonialarmee die imperiale Seite. Als weiße, adelige und reiche Frau kann Pauline auf die 262 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="263"?> 333 Fanon betrachtet Sexualität vor allem auf der Basis der Psychoanalyse und ordnet sowohl das Begehren des Schwarzen Mannes nach der weißen Frau als auch das Begehren der weißen Frau nach dem Schwarzen Mann, in den Kontext kolonialer Be‐ gehrensstrukturen ein. Das rassistische Bild vom Schwarzen Mann steht dabei im engen Zusammenhang mit der kolonialen Imagination seiner besonderen männlichen Potenz, welches im Bewusstsein der weißen Frau als Angst und Lust zugleich verankert ist und deren Konkurrenz der weiße Mann hasserfüllt befürchtet. Schwarze Körper werden in diesem Spiel als imaginierter Ort unbegrenzter Triebhaftigkeit und unbeschränkter Sexualität begehrt und gleichzeitig abgewehrt. Der Schwarze Mann ist bei Fanon vor allem auch von dem drängenden Bedürfnis wie ein ‚Weißer’ anerkannt zu werden und über den Körper der weißen Frau seinem abgewerteten Schwarzsein zu entkommen, getrieben (vgl. Fanon [1952] 2011a: 111 ff.). menschlichen und materiellen Ressourcen der Insel zurückgreifen und diese ohne Skrupel zu ihrem Vergnügen nutzen. Die Macht, die mit ihrer sozialen Stellung einhergeht, zeichnet sich nicht nur an ihren Reisen zwischen den Kontinenten ab, sondern drückt sich vor allem im erotischen Kapital aus. Indem Pauline ihre eigene Attraktivität und ihren Status sowohl zu sexueller Erfüllung als auch zur Machtdemonstration einsetzt, profitiert sie von den kolonialen Hierarchien. Diese kolonialen (Begehrens)verhältnisse kristallisieren sich in folgender Szene heraus: Sa passion favorite, celle qui la portait au comble de l’éréthisme, était de se faire masser par les mains dures et calleuses d’un esclave, tout en jouissant du coin de l’œil de la turgescente frustration de l’homme […] Pauline sourit devant l’inédit de la situation, mais pas l’officier présent dans les parages. D’un violent coup de sabre, il arrêta net le mouvement du poignet et du sexe. Et tandis que l’esclave, vidé de son sang, agonisait aux pieds de l’objet convoité, la belle Pauline récompensa enfin le vaillant chevalier, amoureux tant de fois éconduit (Dalembert 2007 : 79 f). Trotz ihrer nachgeordneten Stellung als Frau verschaffen Pauline ihr sozialer Status und ihre Hautfarbe eine Machtposition, die es ihr ermöglicht mit den aus den rassistischen Ordnungen geschöpften Begehrlichkeiten zu spielen. So liegt die Befriedigung ihrer „passion favorite“ weniger in der körperlichen, sondern vor allem auch in den Phantasmen, welche mit dem Bild vom Schwarzen Sklaven einhergehen (vgl. Fanon 2011a: 197 ff.). Wie Fanon in Peau noire, masques blancs ausführlich darlegt, ist sowohl das Begehren der weißen Frau nach dem Schwarzen Mann als auch dessen Begehren nach der weißen Frau von dem ko‐ lonial-rassistischen Machtverhältnis durchzogen (vgl. Fanon 2011a), in dessen Kontext auch die ‚beschützende‘ Reaktion des weißen Generals betrachtet werden muss. 333 Während Pauline also zum einen koloniale Machtverhältnisse erotisch (re)inszeniert, setzt sie sich zum anderen über die aus diesem Verhältnis 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 263 <?page no="264"?> 334 Das Napoleon anordnete „Leclerc solle alle weißen Frauen, die mit Schwarzen ge‐ schlafen hatten, aus Saint- Domingue“ (Buck-Morss 2011: 154) ausweisen, verdeutlicht die Rigidität mit welcher über die Einhaltung sexueller Grenzen gewacht wurde, und unterstreicht dabei die Bedrohlichkeit weiblicher Promiskuität. 335 Bei Tribadismus handelt es sich um eine nicht-penetrative, lesbische Sexualtechnik, aufgrund derer homosexuelle Frauen häufig auch mit dem Namen Tribaden bedacht wurden (vgl. Haggerty/ Zimmermann 2003: 280 f.). entstammenden Grenzziehungen hinweg, indem sie ihre sexuellen Beziehungen auch auf die nicht-weißen Generäle der Armée indigène Alexandre Pétion und Henri Christophe, ausdehnt (vgl. Dalembert 2007: 79). Obwohl beide, Pétion und Christophe als (spätere) Heldenfiguren der Haitianischen Revolution in die Geschichtsschreibung eingehen und damit in Opposition zum imperialen Frankreich stehen, scheinen für Pauline daraus keine Reglementierungen be‐ züglich der sexuellen Aktivität zu erwachsen. Gewissermaßen verbirgt sich hinter diesen sexuellen Begegnungen von Seiten der rassifizierten Generäle sowohl „le désir ardent de venger la race“ (Dalembert 2007: 80), das in dem Überschreiten rassistisch markierter Linien liegt, als auch ein Begehren, welches eben jenen rassistischen Verhältnissen entspringt, auf deren Abschaffung die Haitianischen Revolution abzielte. 334 Paulines Promiskuität ist damit ebenso wie das Piratennarrativ von widersprüchlichen Tendenzen geprägt: Imperiale Ordnungen und koloniale Regime werden konsolidiert und gleichzeitig he‐ tero-normative Sittlichkeitsgebote z. B. durch le tribadisme  335 (vgl. Dalembert 2007: 79) verletzt und patriarchal-christliche und rassistische Grenzziehungen unterlaufen und durchque(e)rt: Elle changeait d’amant comme de crinoline […] Bref, c’est de cette nouvelle période libertine, quand les gens s’étonnaient de l’absence de progéniture, que date une des phrases provocatrices qu’elle affectionnait tant: „Les enfants ? Je préfère en commencer cent que d’en finir un seulʺ (Dalembert 2007: 83). Ob wie im Falle von Pauline, in dem Sexualität vom Zweck der Fortpflanzung enthoben und die ‘weibliche‘ Aufgabe der Reproduktion verweigert wird oder wie bei der Figur der Erzulie, die — indem sie den Schatz der Pauline entdeckt und Luz enttarnt — den Plänen der Rebellengruppe zum Gelingen verhilft (vgl. Dalembert 2007: 266 f): Promiskuitive Frauenfiguren nehmen eine wichtige Funktion in dem Roman ein. Gewissermaßen fungieren sie in ihren grenzgän‐ gerischen, von hoher räumlicher und sozialer Mobilität geprägten Aktivitäten sowie in der Gleichzeitigkeit von herrschaftsstabilisierendem und - destabili‐ sierendem Verhalten als eine Art weibliche Ergänzung zum Pirat: innenmotiv. Ähnlich wie Pirat: innen stellen auch Frauen und Sexualität eine Gefahr für 264 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="265"?> 336 Hier stehen vor allem konsensuelle, sexuelle Handlungen im Fokus; die Tatsache, dass das Plantagensystem zu großen Teilen auch aus der Vergewaltigung weiblicher Sklav: innen bestand, aus der sich ebenfalls demografische Entwicklungen ergaben, wird an dieser Stelle nicht diskutiert. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, wie sexuelle Begegnungen vermeintlich geschlossene ‚Rassen‘-Kategorien aufbrechen, Zugänge zu kulturellen, sozialen und finanziellen Kapital ermöglichen konnten und klare Zuschreibungen verunmöglichten. bestehende Grenzen und (Besitz)Ordnungen dar. Diese Grenzen reichen von den christlich-bürgerlichen Moralvorstellungen der Ehe über die Grenzen der Autonomie des liberalen, männlichen Individuums hin zu den Grenzen rassistischer Ordnungen. Durch ihre Unkontrollierbarkeit birgt Sexualität die Gefahr, Vermischung, Entgrenzung und Auflösung hervorzubringen und damit Grenzziehungen zu unterlaufen. Da sowohl patriarchale Besitzordnungen als auch das Sklaverei- und Plantagensystem stark auf Exklusivität und rigiden Grenzziehungen zwischen Eigen- und Fremdgruppe — Schwarz vs. weiß, adelig vs. bürgerlich etc. — aufbaut, vermag ‚Vermischung‘ diese Trennlinien zu verwischen und damit auch die dahinterliegenden Machtverhältnisse zu unter‐ laufen. 336 Statt geografische Grenzen zu durchschreiten und Ozeane zu durch‐ messen, vagabundieren Erzulie, Pauline und Esmeralda zwischen verschiedenen Liebhaber: innen, ohne jedoch jemals ihre sexuelle Freiheit aufzugeben: Esmeralda, elle, ne dissocie pas son grand goût pour l’acte d’amour de la cause à laquelle se résume sa vie : la lutte pour la libération et l’indépendance de Porto Rico […]. Il n’y a aucune dichotomie entre le sérieux qu’elle y met et le fait d’assumer une sexualité libre et multiple. (Dalembert/ Snoussi 2003). Die Soziologin Mimi Sheller lenkt in ihrem Buch Citizenship from below. Erotic agency and Caribbean freedom (2012) das Augenmerk auf verkörperte Praktiken, durch die Menschen Freiheit leben und die Sheller als erotic agency begreift (vgl. Sheller 2012: 6). Reproduktive, amouröse und sexuelle Fragen stehen dabei nicht außerhalb der politischen Sphäre, vielmehr sind sie, wie Sheller darlegt, genuiner Bestandteil von politischen Zugehörigkeiten wie Nationalität oder citoyenneté (vgl. Sheller 2012: 21): The claiming and performance of citizenship is at its core a negotiation of freedom that is based on how bodes are used (one aspect of personal freedom), how bodies are socially interrelated with other bodies (one aspect of civic freedom), and how state practices regulate and legislate the uses of and relations between bodies (one aspect of sovereign freedom), with the regulation of sexuality being key here […] Insofar as freedom is an embodied performance that requires racial, ethnic, gender, and sexual boundaries to be marked and articulated in public ways, any exercise of autonomy 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 265 <?page no="266"?> or agency is always in tension with state efforts to control sexuality, reproduction, family formation, kinship systems, landholding, and labor systems (Sheller 2012: 27 f.). Es lässt sich also zu dem Schluss kommen, dass Dalembert in seinem Roman nicht nur Vorstellungen autonomer, männlich codierter Ungebundenheit auf‐ greift, auch weiblicher Freiheit im Sinne reproduktiver und sexueller Selbstbe‐ stimmung wird viel Raum eingeräumt. Hier zeigt sich nicht nur eine beson‐ dere Spielart der Freiheit, die die aufklärerischen Konzeptionen subjektiver Freiheiten erheblich ausweitet und ergänzt, sondern die auch in der Lage ist vorwiegend territoriale Vergemeinschaftungen wie citoyenneté und Nation infrage zu stellen. So markiert (selbstbestimmtes) weibliches Begehren in L’île du bout des rêves die Autonomie der Frauenfiguren, zugleich bleibt die Rolle von Sexualität als Gegenstand ökonomischer und politischer Geschäfte erhalten. Nichtsdestotrotz sind es am Ende nicht die männlichen Abenteurer mit ihren Karten und Messgeräten, sondern die alternde haitianische Prostituierte Erzulie, welche durch ihre Kontakte als Kupplerin die wichtigen Hinweise liefert, die zur Ent‐ tarnung der Agentin ‚Luz/ La Domincaine‘ führen (Dalembert 2007: 264 f.) und durch deren im Traum erlangtes Wissen der Schatz gefunden wird. Rationalwissenschaftliche Methoden der Wissensgenese werden folglich intuitiven und spirituellen Wissensformen wie z. B. dem Traum gegenübergestellt, wobei es letztere sind, welche die Wahrheit an das Licht bringen. In diesem Wissen und einer promiskuitiven, weiblichen Praxis wird auch eine Form der Komplizen‐ schaft zwischen der alten, haitianischen Prostituierten Erzulie und der adeligen, (längst verstorbenen), imperialen Pauline Bonaparte möglich: Pauline Bonaparte qui venait souvent flotter dans ses rêves, lui prodiguait des conseils, se montrait plutôt généreuse à son égard pour quelqu’un qui passait pour être une pingrerie hors pair avec ses serviteurs. Solidarité entre putes, sans doute. La nuit d’avant justement, Pauline lui était apparue en rêve, ses lèvres nimbées d’un étrange sourire complice (Dalembert 2007 : 271 f.). Demnach trägt die Promiskuität der Frauen einen entscheidenden Teil zu der Entwicklung der Ereignisse bei und besitzt ebenfalls ein hohes Maß an sub‐ versivem und grenzüberschreitendem Potential. Susan Buck-Morss spricht in jenem Zusammenhang von dem „Konzept der Porosität, das unkontrollierbare Verbindungen sichtbar macht“ (Buck- Morss 2011: 153). Die Unkontrollierbar‐ keit sexueller Begegnungen bedeutete sowohl eine Gefahr für die rassistischen Grenzziehungen des 18. Jahrhunderts als es auch ökonomische und politische Strukturen veränderte, denn 266 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="267"?> die gemeinsamen Erfahrungen, die Millionen heterogener, zuvor in keiner Weise mit‐ einander verbundener Menschen im ausgedehnten sozialen Feld rund um den Atlantik machten, stellte eine Gefahr für alle bestehenden Ordnungen der Bedeutung dar. […] Da Geschichten entlang von Netzwerken reimaginiert wurden, die gleichzeitig sexuell, sozial, ökonomisch und politisch waren, spielten auch mythische Impulse eine Rolle (Buck-Morss 2011: 155). Auf diese netzwerkhafte Reimagination von Geschichten treffen wir auch in dem Roman L’île du bout des rêves, in dem die unkontrollierbare Vielheit mögli‐ cher Begegnungen, Überschneidungen und Verflechtungen das Feld sozialer Be‐ züge immer weiter ausdehnt und eine Form der prekären Vergemeinschaftung vor dem Hintergrund eines liberalen Kosmopolitismus hervorbringt. Dieser liberale Kosmopolitismus, welcher sich in der Hauptfigur zentriert und sich auf verschiedenen Ebenen des Romans widerspiegelt, wird durch Figuren wie JMF immer wieder angefochten und ermöglicht zugleich ephemere solidarische Zusammenschlüsse, die sich jedoch wieder in Bewegungen auflösen, bevor sie ein nachhaltig widerständiges Potential ausgebildet haben. Zugleich hält Dalemberts Roman über die eingeflochtenen historischen Widerstandserzäh‐ lungen Sehnsüchte nach einer grenzenlosen und egalitären Welt wach, wie sie auch in dem Essai Habiter le monde. Essai de politique (2017) des senegalesischen Soziologen Felwine Sarr anklingen : Habiter le monde, c’est habiter pleinement ses géographies et pour cela pouvoir y circuler librement. […] Habiter le monde, c’est se concevoir comme appartenant à une espace plus large que son groupe ethnique, sa nation, le continent que vous a vu naitre […] C’est pleinement habiter les histoires et les cultures de l’humanité […] Ne plus être d’une culture particulière, mais partir de celle-ci pour habiter les imaginaires multiples, riches et féconds des langues du monde, de ses mythes (Sarr 2017: 28 ff.). Dalemberts Roman greift eben diese Vision des habiter auf und übersetzt sie in eine literarische Form, die von den Möglichkeiten und Grenzen des Vagabundierens in einer vielsprachigen, post-kolonialen Welt kündet. Dabei ent‐ stehen temporäre und doch zugleich solidarische Beziehungen zum anderen, die ethnische und nationale Grenzen in frage stellen, verschiedene kulturelle Räume und Bilder miteinander verbinden und sich damit das Recht herausnehmen den Globus in seiner menschlichen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt zusammen zu bewohnen. 4.3 Louis-Philippe Dalembert: L’île du bout des rêves 267 <?page no="268"?> 337 Trouillot verwendet diesen Begriff in seinem Essay Haïti, (re)penser la citoyenneté (2001). 338 Sein älterer Bruder ist der bereits verstorbene Anthropologe Michel-Rolph Trouillot, seine beiden Schwestern Jocelyne und Evelyne Trouillot sind ebenfalls Schriftstel‐ lerinnen. Mit letzterer zusammen hat Trouillot auch das Centre Marie Morisette begründet, welches eine Bibliothek bereithält und Lesungen sowie Schreibateliers veranstaltet und dabei insbesondere auch den Zugang für unterschiedliche Bevölke‐ rungsschichten ermöglichen möchte (vgl. Maurer/ Pollmeier 2020: 177 f.). 4.4 Jenseits der Individualités monstrueuses  337 — Lyonel Trouillot: La belle amour humaine (2011) 4.4.1 Lyonel Trouillot — Literarisches Schreiben als Kommentar zur (politischen) Gegenwart Der 1956 geborene Lyonel Trouillot gehört zu den bekanntesten und vielzi‐ tierten haitianischen Autor: innen der Gegenwart und ist das jüngste von vier Kindern einer intellektuellen, bürgerlichen Familie. 338 Trouillot begreift sich selbst als ‚ein citoyen, der schreibt‘ (vgl. Chemla 2015: 139) und schreibt neben literarischen Texten hinaus auch politische Kommentare für die haitianische Tageszeitung Le Nouvelliste (vgl. Trouillot 2019; Le Nouvelliste 2019; Le Point 2019). Seine journalistischen und literarischen Arbeiten zeigen ebenso wie sein Engagement für das Collectif Nou, welches gegen Aristide mobilisierte (vgl. Bona 2004), oder die Gründung des Centre Culturel Anne-Marie Morisset 2012 (vgl. Maurer/ Pollmeier 2020) Trouillots Interesse für die politischen Entwicklungen des Landes. Die Positionierungen, die Trouillot vornimmt, bleiben dabei nicht auf haitianische Medien beschränkt, so nahm er in letzter Zeit vermehrt in französischsprachigen Medien wie A.O.C (Trouillot 2020b) und Mediapart (Mediapart 2019) Stellung zu den anhaltenden Protesten in Haiti gegen das Regime von Jovenel Moïse. Neben der Analyse haitianischer Realitäten ist Trouillot auch ein scharfer Kritiker westlicher Macht- und Wissensregimes und insbesondere derer Folgen auf politische, ökonomische und soziale Prozesse in Haiti und in anderen postkolonialen Staaten. Dieser Umstand wird z. B. in seinem Artikel in der Zeitschrift A.O.C (Analyse, Opinion, Critique) deutlich: En Haïti, des gens meurent au quotidien. Pour sauver la face, il y a encore quelques représentants de la „communauté internationale“ qui soutiennent le pouvoir. Du point de vue de la population, il n’y a pas de réconciliation possible entre Haïti et la folie Moïse/ PHTK […] „On tire lamentablement dans ma rue“ écrivait le poète Georges Castera il y a quelques années. C’est encore le cas. Et personne n’en parle dans le monde, à part quelques voix isolées […] L’Occident „démocratique“ devrait peut-être 268 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="269"?> 339 Ausführlich setzt sich Trouillot hiermit z.b. in dem Aufsatz „La construction des dogmes. Le typique et le général“ (2003) auseinander, hier heißt es z.B.: „En théorie, la difficulté pour l’universitaire occidental travaillant sur Haiti consiste à combattre en lui-même toute tendance à lire la littérature et le référent en fonction de sa propre histoire, de son „universel“ à lui “(Trouillot 2003 : 209). 340 U.a. verfasste Lyonel Trouillot, wie auch sein Bruder Michel-Rolph Trouillot, Texte für Manno Charlemagne, dessen Song Banm yon ti limyé titelgebend für diese Arbeit war (vgl. Words without borders (2021). 341 So wurde sein Roman La belle amour humaine 2011 für den Prix Goncourt nominiert und ein Teil seiner Erzähltexte wurden ins Deutsche und Englische übersetzt (Spear 2001). Zudem veröffentlichte Trouillot wie auch Dany Laferrière einen Aufsatz in dem vieldiskutierten Essayband Pour une littérature-monde (Almassy/ LeBris 2007). 342 Eine solche forderte Jean-Paul Sartre 1947 in seinem Essay Qu’est-ce que la littérature ? (Der Aufsatz erschien zuerst in der Zeitschrift Les Temps Modernes und rief viel Kritik hervor, auf die Sartre in der Buchausgabe von 1948 reagierte (vgl. Sartre 2006).) Ausgangssituation für Sartre ist dabei zunächst die Feststellung, dass sprechen handeln, da die Dinge, die benannt werden, nicht mehr die gleichen sind und somit enthüllt werden. Enthüllung und Veränderung hängen dabei untrennbar miteinander zusammen, worüber sich der/ die engagierte Schriftsteller: in, der/ die die Illusion „ein unparteiisches Gemälde der Gesellschaft und des Menschseins zu machen“ aufgegeben hat, bewusst ist (vgl. Sartre 2006: 26). Daran anknüpfend haben die Schriftstellenden die Aufgabe den Menschen die Welt und die Menschen jenseits von Mystifikationen zu enthüllen, damit diese ihre Verantwortung für die enthüllten Gegenstände übernehmen können (vgl. Sartre 2006: 27) und nehmen somit eine Rolle als Vermittler ein (vgl. Sartre 2006: 62). Dabei sind sie jedoch nicht losgelöst von ihrem Menschsein, d. h. ihrem sozialen Position aus der auch ein mögliches Publikum und ein bestimmtes Bezugsystem sich ergeben, wie Sartre am Beispiel des afro-amerikanischen Autoren Richard Wright diskutiert (vgl. Sartre 2006: 63 ff.). Als Konsequenz ergeben sich hieraus folgende Anforderungen an eine engagierte Literatur, die Würde der Sprache wieder‐ se demander l’origine de son indifférence et de son mutisme sur le combat politique du peuple haïtien pour plus de justice sociale, plus de liberté et d’égalité (Trouillot 2020b). Die Doppelmoral des Westens und der internationalen Gemeinschaft, welche Trouillot hier in seinem Artikel angreift, ist ein Thema, das an verschie‐ denen Stellen in seinen journalistischen Arbeiten, aber auch in seinen litera‐ rischen Werken, zur Sprache kommt. Vor allem die stereotypen Betrachtungs‐ weisen, welche ‘westliche‘ (Literatur)wissenschaftler: innen, Tourist: innen und NGO-Mitarbeiter: innen Haiti und seiner Bevölkerung entgegenbringen, ist dabei wiederholter Gegenstand seiner Essays. 339 Auch sein literarisches Werk, das von Gedichten über Liedtexte 340 hin zu mehreren Romanen reicht, greift diese Themen auf und erhält über die Grenzen Haitis Aufmerksamkeit. 341 Trouillots Schaffen kann demnach in die Tradition einer littérature engagée gestellt werden. 342 Dieser Umstand zeigt sich u. a. in der dezidierten Auseinan‐ 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 269 <?page no="270"?> herzustellen, ihr Publikum zu entmystifizieren, Partei gegen alle Ungerechtigkeiten zu ergreifen und auch eine neue gerechtere (sozialistische) Welt zu schaffen (vgl. Sartre 2006: 224). 343 Dieser Aspekt wird in der dialogischen Struktur von La belle amour humaine, besonders ersichtlich, wie wir im Weiteren noch sehen werden. 344 Sartres Reflexion ist, z. B. hinsichtlich der Beziehung zwischen Leser: innen und Autor: innen, um einiges detaillierter und komplexer , als hier wiedergegeben. Eine angemessene Behandlung des Verhältnisses zwischen Sartres Konzept und Lyonel Trouillot wäre jedoch eine eigenständige Arbeit und würde dementsprechend den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Insbesondere die Frage, inwiefern Trouillot Sartres Literaturkonzept erweitert bzw. erneuert könnte hier noch neu Perspektiven eröffnen. dersetzung mit aktuellen Missständen, aber auch in der historischen Einbettung dieser Thematiken, wie sie sich insbesondere in seinen Erzähltexten zeigt. Dabei folgt die Form, ähnlich wie es auch Sartre beschreibt (vgl. Sartre 2006: 29), dem Gegenstand nach 343 und ist keineswegs Selbstzweck. Gleichzeitig nimmt Trouillot, wie z. B. in Haiti. Une Traversee littéraire oder in Interviewauszügen (vgl. Cadeddu 2014) schon ersichtlich wurde, immer wieder eine Reflexion seiner eigenen Rolle als haitianischer Schriftsteller vor. Als solcher wendet er sich ebenso an eine kritische, frankophone Öffentlichkeit als auch an ein haitianisches Publikum und übt aus einer explizit linken Perspektive Kritik an globalen wie lokalen Ungerechtigkeiten. Seine eigene literarische Aufgabe resümiert er dementsprechend folgendermaßen: Je me dis souvent qu’il faut faire des livres aussi laids que le réel et en même temps essayer d’y mettre l’idée qu’on peut quand même transformer ce réel. C’est à la fois un peu naïf et très réaliste. C’est Éluard qui disait : « Si nous le voulions il n’y aurait que des merveilles », mais, hélas, nous n’avons pas produit que des merveilles. Poser l’hypothèse des merveilles à partir de la laideur du réel (Cadeddu 2014: 1). Mit dieser Aussage lässt sich an Sartres Satz : « La fonction d’un écrivain est d’appeler un chat un chat. Si les mots sont malades c’est à nous de les guérir“ (Sartre 1948-: 281) anschließen, worin sich abermals die Nähe zwischen dem Sartreschen und Trouillots Literaturverständnis zeigt, welche trotz der unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontexten in denen beide schreiben, besteht. 344 Trouillots Romane behandeln vorzugsweise das Haiti der Gegenwart samt seiner divergierenden sozialen Realität. Das führt dazu, dass seine Figuren nicht selten den ärmeren sozialen Klassen und den quartiers populaires (vgl. Raffy-Hideux 2013: 314) Port-au-Princes - so z. B. in Les enfants des héros (2002), Bicentenaire (2004), La belle amour humaine (2011), Ne m’appelle pas capitaine 270 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="271"?> 345 Mit Einschränkungen gilt das auch für Bicentenaire, wobei hier die Hoffnung auf Wandel, verkörpert in der Figur des Protagonisten Lucien auf der Straße stirbt (vgl. Eser 2018). (2018) und Antoine de Gommier (2021) - entstammen. Im Fall von Bicentenaire, La belle amour humaine, Ne m’appelle pas capitaine und Rue des Pas Perdus (1996) kontrastiert Trouillot die Lebensrealität der armen Mehrheit durch einzelne Figuren aus dem reichen, bürgerlichen Milieu Haitis oder aus dem Globalen Norden. Auf diese Weise gelingt es ihm soziale Spaltungen in der haitianischen Gesellschaft, aber auch die Ungleichheiten von globalem Ausmaß in seiner Literatur zu verdichten ohne Zukunftsperspektiven eine grundlegende Absage zu erteilen. Hoffnungen auf die Überwindung dieser gesellschaftlichen Schief‐ lagen lassen sich ansatzweise in Ne m’appelle pas capitaine und weitreichender in La belle amour humaine entdecken. So realisieren sich in beiden Romanen Formen der solidarischen Kohabitation und der Konvivenz, wenngleich jene auf ein Stadtviertel oder Dorf begrenzt bleiben. Gemeinsam ist diesen beiden Romanen, 345 dass sie zentral um die Möglichkeiten des guten Zusammenlebens angesichts unhaltbarer Zustände kreisen und offensiv fragen, wie ein solches zu realisieren sei. Gegenüber dieser Problemstellung finden sich in La belle amour humaine die Antworten am deutlichsten formuliert, denn hier skizziert der Autor eine Utopie des dörflichen Zusammenlebens in der von Armut und Ungleichheit geprägten Welt der Gegenwart. In diesem Kontext greift Trouillot die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv auf, reflektiert philosophische Traditionen wie den Humanismus und diskutiert die Kodifizie‐ rung von Grundlagen der Konvivenz. Die Vielschichtigkeit und Komplexität, mit welcher Trouillot in La belle amour humaine sozialpolitische Themen verhandelt, prädestinieren den Roman für eine ausführliche analytische Lektüre im Rahmen dieser Studie. 4.4.2 Dialogisches Erzählen in La belle amour humaine Als ein wichtiger Referenzpunkt für La belle amour humaine erweist sich die Duvalier-Diktatur, deren Machtstrukturen Trouillot im Roman eindeutig thematisiert und in der er einen Teil des Romangeschehens zeitlich verortet. Indem der Roman ein Tableau gelingenden Zusammenlebens und realisierter Gerechtigkeit entwirft und damit als eine Entgegnung gegenüber vergangener politischer Gewalt- und Unrechtssysteme fungiert, reflektiert La belle amour hu‐ maine drängende gesellschaftliche und politische Fragen der Post-Duvalier-Ära wie die Suche nach neuen gemeinsamen, sozialen Formationen und deren ethi‐ schen, politischen Grundlagen. In dieser Funktion kann der Roman durchaus als 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 271 <?page no="272"?> 346 Ein Aspekt, auf den ich an späterer Stelle in dem Teilkapitel Ecriture und Kodifizierungen des Zusammenlebens noch einmal genauer eingehen werden 347 Das Dorf Anse-à-Foleur existiert tatsächlich, allerdings sind die verfügbaren Informa‐ tionen zu dem Ort überaus spärlich. 348 Beide Thomas und Frantz übernehmen wichtige Rolle in dem Dorfgefüge: So sichert der Maler Frantz Jacob durch seine Bilderverkäufe das finanzielle Überleben des Dorfes und schafft gleichzeitig auch eine Repräsentanz der dörflichen Gemeinschaft in der Außenwelt (vgl. Trouillot 2011: 107). Auch Thomas, der sowohl in Port-au- Prince als auch in Anse-à-Foleur lebt, nimmt durch seine verschiedenen Tätigkeiten als Touristenführer, Maler und Chauffeur von Anaïse eine Vermittlerfunktion zwischen verschiedenen Orten und Personen ein. Beide Figuren, Thomas ebenso wie Frantz Jacob, stellen durch ihre Tätigkeiten Verbindungen zwischen Anse-à- Foleur / Haiti und dem Rest der Welt her, tragen aber auch zum ökonomischen Überleben bei. eine Ergänzung dessen gelesen werden, was Trouillot bereits zehn Jahre zuvor in seinem Essay Haïti, (re) penser la citoyenneté als Kernelemente einer gelingenden (haitianischen) Gesellschaft formuliert hatte. 346 Im Zentrum des Romans steht das kleine Küstendorf Anse-à- Foleur im Norden Haitis, 347 zu dem der Touris‐ tenguide Thomas, originär aus dem Dorf, die zwanzigjährige Touristin Anaïse begleitet. Anaïse, die selbst in einem reichen, westlichen Land aufgewachsen ist, besucht Haiti und Anse-à-Foleur auf den Spuren ihres verstorbenen Vaters, der in Anse-à-Foleur als einziger Sohn des Unternehmers Robert Montés aufwuchs und nach dem mysteriösen Tod seines Vaters das Dorf für immer verließ (vgl. Trouillot 2011: 153 f.). Robert Montés und sein Freund, der Militär Pierre-André Pierre, sind Männer mit Macht und Einfluss, die sie zu ihren Gunsten und zu Lasten der Dorfbevölkerung gewaltsam anwenden (vgl. Trouillot 2011: 109 ff.). Damit stellt die Anwesenheit der beiden Männer und ihrer Häuser, „les belles jumelles“ (Trouillot 2011: 44), eine permanente Bedrohung für das friedliche Zusammenleben im Dorf dar. Der Terror, welchem die Dorfbewohner: innen ausgesetzt sind, findet ein überraschendes und unerwartetes Ende, als ‚les belles jumelles‘ samt Montès und Pierre eines Tages durch ein Feuer vernichtet werden (vgl. Trouillot 2011: 14 f.). Die Dorfgemeinschaft um Thomas‘ Onkel, dem Maler Frantz Jacob (vgl. Trouillot 2011: 14), 348 den Philosophen Justin und Solène — der ersten Liebe von Anaïses Vater (Trouillot 2011: 122 f.) — zeigt wenig Interesse daran, das mysteriöse Ableben der beiden Männer aufzuklären und kehrt wieder zu dem Frieden ihres dörflichen Zusammenlebens zurück (vgl. Trouillot 2011: 13 ff.). Über zwanzig Jahre später lernt Anaïse das Leben in Anse-à-Foleur, auf ihrer Reise und vor allem auch durch die Erzählungen Thomas’ kennen. Bei der feierlichen Beisetzung Frantz Jacobs zum Romanende hin enthüllt Thomas dessen letztes Werk La belle amour humaine. Durch die Begegnungen mit den Dorfbewohner: innen und das Gemälde erfährt Anaise nicht nur mehr über ihren verstorbenen Vater , sondern gelangt auch zu einer neuen Sicht auf das 272 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="273"?> 349 Hier lässt sich auch eine Parallele zur Aufklärung ziehen, da dialogische Formen, ob faktisch oder fiktiv, eine wichtige Textfigur für philosophische Diskurse waren (vgl. Rieger/ Vickermann-Ribémont 2003). Vickermann-Ribémont und Rieger verweisen dabei auf „das Gespräch zwischen den Geschlechtern“ und den „Dialog zwischen den Kulturen“ als zwei „Dimensionen des Dialogischen“ und heben hervor, dass der Dialog „den Wissensprozeß auch als offen belassen und so gegenüber dem zu vermittelnden Wissen als ‚Projekt der Aufklärung‘ betonen“ (Rieger/ Vickermann-Ribémont 2003: 8) kann. Leben und zu einem neuen Verhältnis zu ihrer Umwelt. Der Roman ist in drei Kapitel, Anaïse, Thomas und La belle amour humaine, untergliedert. Die Namen der einzelnen Kapitel sind dabei bereits ein Hinweis auf den Gesprächsverlauf, welcher die Erzählung bestimmt. So wendet sich im ersten Teil ‚Anaïse‘ Thomas als personaler, homodiegetischer Erzähler auf ihrer Autofahrt nach Anse-à-Fo‐ leur in einem Monolog an seine Beifahrerin Anaïse (vgl. Cadeddu 2015: 214 ff.). Diese nimmt im zweiten Teil, welcher den Titel ‚Thomas‘ trägt, die Fäden der Erzählung auf und spannt sie, mittlerweile im Dorf angekommen, in Form eines inneren Monologs, weiter (vgl. Trouillot 2011: 137 f.). Anaïse bezieht sich in ihrem Teil auf Thomas‘ Bericht und reflektiert zudem ihre Erlebnisse im Dorf ebenso wie ihr bisheriges Leben (vgl. Trouillot 2011: 139 f.). Im dritten Teil ‚La belle amour humaine‘, der vor allem die Beerdigungsfeier von Frantz Jacob beschreibt, werden die verschiedenen thematischen und motivischen Fäden zusammengeführt und es findet nun eine Annäherung zwischen Anaïse und Thomas statt. Wo in den beiden vorangegangenen Teilen noch personale Erzählsituationen vorherrschend waren, die vorrangig die Perspektiven der zwei Hauptfiguren wiedergaben (vgl. Cadeddu 2015: 217), bricht der Schlussteil mit dieser Form und löst eben jene vorgängige Distanz zwischen den Figuren in einer auktorialen Erzählstimme auf. Die Differenzen und Spannungen zwischen Anaïse und Thomas, die in den Monologen noch deutlicher erkennbar waren, werden in diesem dritten Teil zwar nicht beseitigt, wohl aber zusammen in der Belle amour humaine integriert (vgl. Trouillot 2011: 161). Durch die polyphone Erzählweise gelingt es Trouillot verschiedene Posi‐ tionen abzubilden, differenten Stimmen Gehör zu verschaffen und zugleich Möglichkeiten der Verständigung, der Relation und der Anerkennung des Anderen aufzuzeigen (vgl. Parisot 2006: 221; Cadeddu 2015: 215). Die dialogische Struktur ist eine etablierte Methode des philosophischen Erkenntnisgewinns, aber auch stilistisches Mittel der Inszenierung von „emanzipierter bürgerlicher Öffentlichkeit“ (von Bernstorff 2007: 152) 349 und textueller Offenheit. Damit inszeniert Trouillot einen Austausch zwischen den Vertreter: innen zweier sozialer Gruppen, welcher normalerweise selten in dieser gleichberechtigten Form zustande kommt. Über den Dialog zwischen Anaïse und Thomas und der 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 273 <?page no="274"?> 350 Paula Cadeddu liest die dialogische Grundstruktur des Romans mit starkem Bezug zu der Poétique de la Relation Edouard Glissants (Glissant [1990] 2007) (vgl. Cadeddu 2015). Annäherung der beiden Figuren im letzten Teil erfolgt nicht nur die Integration der Fremden in das dörfliche Gemeinwesen, es wird auch eine Beziehung zwischen Anaïses Welt und dem abgeschiedenen Anse-à-Foleur, Haiti und dem Okzident hergestellt: La rencontre entre Thomas — représentant de la nouvelle génération d’Haïtiens et Anaïsedescendant de l’ancien peuple colonisateur — sera pour Lyonel Trouillot l’occasion de redessiner le rapport entre son pays et l’Occident, ce même Occident qui cherche depuis longtemps à imposer au monde un universel de transparence et qui doit se confronter aujourd’hui à une réévaluation de la multiplicité […] à travers ses choix narratifs, Lyonel Trouillot a su mettre en Relation Haïti et l’Autre de manière inédite, grâce à l’existence d’un „tu“ différent […] capable de rester à l’écoute, curieux vis-à-vis de l’Autre, n’ayant aucun intérêt à imposer soi-même (Cadeddu 2015 : 204 f.). 350 Dialog, Beziehung und Verständnis fungieren hier als Gegenbilder zu der destruktiven Gewalt von Montès und Pierre, die zum Ziel hat, andere zu dominieren (vgl. Trouillot 2011: 97 f.). Die zentrale Bedeutung dialogischer und offener Beziehungs- und Kommunikationsformen findet sich in auch in dem Satz, „J’aimerais écouter et comprendre“ (Trouillot 2011: 30), aufgegriffen. Der Satz, Auszug aus einem Brief, den Anaïse vor ihrer Ankunft an Frantz Jacob geschickt hatte, wird von Thomas zitiert, ist er für den Guide doch Ausdruck all dessen, was Anaïse positiv von den Tourist: innen unterscheidet (Crochet/ Livinal 2017: 6). Anders als letztere, die meinen sich das Recht auf eine unqualifizierte Meinung zu dem Land erkaufen zu können (vgl. Trouillot 2011: 29), überlässt Anaïse den Menschen vor Ort das Wort und unterbricht so das hegemoniale Monologisieren. Dem letzten Kapitel ‚La belle amour humaine‘ kommt in dem Roman eine besondere Stellung zu, nicht nur, weil in diesem auf inhaltlicher Ebene Fäden zusammengeführt und Geheimnisse gelüftet werden, sondern vor allem da hier die Widersprüche und Spannungen zwischen Anaïse und Thomas aus den vorangegangenen Kapiteln harmonisiert werden, indem sich die beiden Figuren im letzten Kapitel diskursiv und körperlich annähern. Hier kann von einer dia‐ lektischen Struktur gesprochen werden, in der die Monologe von Thomas und Anaïse in einem positionellen und inhaltlichen Spannungsverhältnis zueinan‐ derstehen, welches im dritten Kapitel und damit in dem kollektiven Dorfleben 274 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="275"?> 351 Welche im folgenden Teilkapitel La belle amour humaine und Réalisme merveilleux — Die Intertextuelle Präsenz von Jacques Stephen Alexis Gegenstand einer ausführlichen Betrachtung sein wird. sowie dem Konzept der Belle amour humaine  351 aufgehoben wird. Im dritten Teil werden so jene neue Beziehungs- und Sichtweisen vollzogen, die sich bereits in den vorangegangenen Kapiteln angekündigt haben: Le but étant celui de retraces des nouveaux équilibres entre Identité et Altérité, une dialectique nouvelle, d’égal à égal, qui reste cependant encore à construire […] La Belle amour humaine trace le chemin d’une rencontre bâtie non seulement sur l’importance du dialogue mais plus particulièrement sur la nécessité d’offrir à l’Autre […] „un temps d’écoute“ ( Cadeddu 2015: 202 f.). Dialogizität, die damit verbundene Polyphonie und die dialektische Dreiglied‐ rigkeit weisen zusammen auf einen Entwurf des Zusammenlebens hin, in welchem dem Anderen/ Fremden ein Platz zukommt und der nicht auf Beherr‐ schung, aber auf Gegenseitigkeit und Anerkennung basiert. Damit greift La Belle amour humaine Grundzüge dessen auf, was Trouillot in seinem Essay als Grundlage für eine zu rekonstruierende citoyenneté in Haiti formuliert und die in den nun folgenden Teilkapiteln noch stärker im Fokus stehen werden. 4.4.3 La belle amour humaine und réalisme merveilleux — Die intertextuelle Präsenz von Jacques Stephen Alexis’ Werk La Belle amour humaine ist nicht nur titelgebend für den Roman und dessen fi‐ nales Kapitel, sie bezeichnet zugleich auch ein für Anse-à-Foleur grundlegendes Konzept des Zusammenlebens, konkretisiert und verewigt im letzten Gemälde des Malers Frantz Jacobs: Mon oncle a une thèse. Ce n’est d’ailleurs pas qu’une thèse. C’est une chose très concrète que Solène et moi nous l’aidons à réaliser. Il l’appelle : la belle amour humaine. Selon lui, chacun y tient sa place. Et il ne faut pas demander à quelqu’un d’y occuper la place d’un autre […] C’est déjà pas mal d’occuper une place dans le paysage. Tous n’y entrent pas (Trouillot 2011: 42). Die Belle amour humaine als ästhetisches Prinzip und als Konzept des Zu‐ sammenlebens verlangt ihre Umsetzung im alltäglichen Leben wie auf der Leinwand. Dabei ist ihre Verwirklichung nie das Werk eines Individuums, sondern wie das Gemälde, welches von Solène, Thomas und Frantz erschaffen wurde, immer Ergebnis kollektiver Arbeitsprozesse (vgl. Trouillot 2011: 131 f.). 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 275 <?page no="276"?> 352 Ob es sich um Mord (aus Rache oder um den Bilderverkauf nicht zu gefährden), einen zufälligen Unfall oder doch um eine Art Wunder (‚merveille‘) handelt, bleibt in dem Roman ungeklärt, wobei für alle Interpretationen Hinweise zu finden sind. So heißt es : „Nous avions tous des raisons de souhaiter leur mort. Ton grand-père et le colonel avaient découvert la supercherie. Toutes ces toiles que j’avais peintes et que mon oncle avait signées. […] Mais ton grand-père et le colonel, ton grand-père en particulier, ils pouvaient révéler la vérité à ces messieurs dames de la capitale et ruiner notre petit commerce […] Ton grand-père et le colonel, ils ne faisaient pas partie du paysage. C’est pour cela qu’ils sont morts. Mais je ne les ai pas tués […] Tout ce que nous avons fait, c’est de ne pas les inclure dans le tableau“ (Trouillot 2011: 131 f.). Der Kern der Belle amour humaine liegt darin, nur jenen Elementen/ Lebe‐ wesen eine Daseinsberechtigung zuzusprechen, die bereit sind sich in das Gesamtensemble einzufügen bzw. ihren Teil dazu beizutragen. In dem Umstand, dass der Einzelne immer in Bezug zum Gesamtgefüge, zur Vergemeinschaftung, betrachtet wird, ist die kommunitaristische Ausrichtung von Trouillots Dorf erkennbar. Das Individuum gilt zwar in seinen Eigenschaften und seinem Beitrag als einzigartig und sein Leben als schützenswert, seine Freiheiten und Rechte besitzen jedoch nicht mehr Gewicht als das Wohlergehen der Gruppe. Dementsprechend findet die Belle amour humaine ihre Grenzen gegenüber jenen, welche nicht vereinbar sind mit dem Gesamtgefüge, wie im Falle von Pierre und Montès: Je dessinais sur sa dictée mais […] il s’énervait, me criait que c’était mauvais, faux, que l’image du colonel et de l’homme d’affaires […] venait flanquer du laid sur sa vision. Il disait vouloir peindre la belle amour humaine et que la toile serait une œuvre réaliste. Seulement la réalité refusait de se conformer. Alors Solène et moi, on s’est dit… (Trouillot 2011: 168 f.). Trotz der Andeutungen im obigen Zitat wird die Rolle, welche Solène und Thomas für das Verschwinden von Montès und Pierre gespielt haben, im Roman nicht gänzlich aufgeklärt. Deutlich wird hingegen der enge Zusammenhang zwischen dem Entstehungsprozess des Kunstwerkes und den Entwicklungen in der Realität, in dem auch die letzte, undurchdringbare Ursache des Todes der beiden Männer zu liegen scheint (vgl. Gannier 2012: 21 f.). 352 Pierre und Montés, beide Repräsentanten der Macht im Duvalierstaat, sind ästhetische und moralisch-politische Fremdkörper in der Kohabitation von Anse-à-Foleur, die durch das Gemälde abgebildet wird. Letzteres fungiert als kollektives Erinne‐ rungsstück (vgl. Gannier 2012: 21), welches die Vergangenheit bezeugt, und als verheißungsvolle Vision des (zukünftigen) Zusammenlebens. Dabei handelt es sich in beiden Fällen um eine selektive Auswahl, die moralischen Maßstäben nachfolgt und deshalb Anaïse‘ verstorbenem Vater (Trouillot 2011: 168) und 276 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="277"?> 353 Die Hauptreferenz ist hier unbestritten La belle amour humaine, jedoch findet sich in der Erwähnung von „Nina ou Estrellita“ (Trouillot 2011: 99) ein Querverweis auf Alexis L’espace d’un cillement (1959) deren Protagonistin eine Sexarbeiterin in Port-au-Prince den Namen Nina Estrellita trägt 354 So heißt es zu Beginn bereits : „A la mémoire de Jacques Stephen Alexis, le maître“ (Trouillot 2011). 355 Diese Liebesthematik, welche ebenfalls in dem Roman verhandelt wird, ist für meine Fragestellung von geringeren Interesse und wird deshalb hier vernachlässigt. auch der ‚Fremden‘ Anaïse „einen kleinen Platz“ (vgl. Trouillot 2011: 169) zuspricht, Montès und Pierre jedoch gewaltsam aus Realität, Kunst und Erinne‐ rung ausbrennt. Um die moralischen Grundlagen sowie die enge Verbindung, welche Kunst und Politik hier eingehen, zu verstehen, lohnt es sich der intertextuellen Spur nachzufolgen, welche Trouillot in seinen vielfältigen 353 Referenzen an Jacques Stephen Alexis und dessen Werk, dem Text eingeschrieben hat. Diese tritt bereits auf den ersten Seiten des Buches durch ein Zitat Alexis, in dessen Gedenken Trouillot den Roman stellt, 354 offen zutage: „Voilà dix ans que j‘attends ma première nuit d’amour, la nuit qui me réveillera et m’amènera au jour“ (Trouillot 2011: 9). Während dieses Zitat vor allem mit Anaïse Vater, der, bevor er das Dorf für immer verlässt, noch eine Liebesnacht mit Solène verbringt, in Bezug gebracht werden kann, 355 erweist sich für den Fokus meiner Lektüre vor allem die Referenz auf einen Text Alexis` aus dem Jahre 1957, die ebenjenen paradigmatischen Titel La belle amour humaine trägt, als produktiv. Der Text Alexis’ ist eine Ansammlung von Wünschen für das Jahr 1957 und fordert einen neuen Humanismus ein (vgl. Alexis 1957: 2). Letzterer ist für Alexis unweiger‐ lich anti-kolonial, marxistisch und transnational (vgl. Newman 2019: 3) und auch untrennbar mit Fragen des künstlerischen und intellektuellen Schaffens verbunden: Ce sont les créateurs de toutes disciplines […] qui sont responsables, pour la plus grande part de la conscience des hommes. […] Seule la réalité pratique et la vérité dans tous ses aspects peuvent être les inspiratrices d’un art humain, donc d’une société plus morale. […] Par un humanisme plus profond et plus quotidien, par une meilleure harmonisation des facultés humaines, par une optique plus juste et plus morale de l’homme et de la vie, que 1957 soit un rayonnement de lumière, de sourire, d’amour, de liberté, de douceur et de paix sur le plus beau visage que nous connaissions dans l’univers, le visage de l’homme. 1957 peut être une grande année de la Belle amour humaine (Alexis 1957 : 6 ). Diesem Auszug entsprechend kommt den Künstler: innen eine entscheidende Rolle in der Ausbildung, Verbreitung und Realisierung einer neuen Belle amour 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 277 <?page no="278"?> 356 Wie deutlich sich bei Alexis ein entsprechendes Literaturverständnis finden lässt, arbeitet Scott Newman heraus, wenn er von Alexis revolutionärer Vision haitianischer Literatur spricht: „It can become world literature by reimagining a way of being human that has historically been neglected or athropied in the West“ (Newman 2019: 2). 357 Diese Haltung ist auch in Du réalisme merveilleux des Haitiens präsent, in dem Alexis formuliert: „L’artiste doit prendre parti, il doit être un combattant“ (Alexis 1956: 11). 358 In einem Interview mit Paola Cadeddu formuliert Trouillot sein eigenes Literatur‐ verständnis, welches dem entspricht, was auch in dem Roman zu beobachten ist, folgendermaßen : „Je me dis souvent qu’il faut faire des livres aussi laids que le réel et en même temps essayer d’y mettre l’idée qu’on peut quand même transformer ce réel. C’est à la fois un peu naïf et très réaliste […] Poser l’hypothèse des merveilles à partir de la laideur du réel“ (Cadeddu 2014 : 2). 359 So lässt sich die Hässlichkeit Montès und Pierres als Ansammlung unterschiedlicher Eigenschaften verstehen. Zu diesen gehören : der unbedingte Wille zu dominieren und humaine, eines neuen Humanismus, zu. Kunst besitzt somit die Aufgabe, indem sie die Realität wiedergibt und zugleich Zukunftsperspektiven aufzeigt, zu einer moralischen und gerechteren Welt beizutragen (vgl. Alexis 1957: 5). Indem Kunst, insbesondere Literatur, 356 eine eindeutige gesellschaftliche Wirkung zugesprochen wird, distanziert sich Alexis eindeutig von eskapistischen, rein ästhetischen Kunstauffassungen (vgl. Alexis 1957: 5). 357 In der Tendenz finden wir diese Positionierung auch in Trouillots Roman verwirklicht, wo die Realität der Kunst und der ersehnten Realität nachgebildet wird, indem das Hässliche vernichtet wird (vgl. Trouillot 2011: 154, 169). 358 In jenem Sinne erfüllt das Gemälde in Anse-à-Foleur nicht vorrangig eine visuelle Funktion, sondern ist die Manifestation einer ästhetischen und moralisch-humanistischen Vision. In diesem Fall ist die Realität nicht die Summe aller tatsächlichen Ereignisse und Kausalitäten, vielmehr handelt es sich um eine verortete Utopie, in welcher das Schöne/ Harmonische (d.-h. das Gemälde) gleichbedeutend mit dem Guten/ Wahren (das Leben in Anse-à-Foleur) ist. So bedingen sich Kunst, Realität und soziale Utopie gegenseitig oder wie Odile Gannier schreibt: Ce qui domine par-delà les coups du sort et les méchancetés, c’est le désir et le pouvoir de s’en sortir […] par le miracle parfois, grâce à la solidarité des hommes de bonne volonté ; par l’art qui les relie tous, enfin (Gannier 2012 : 16 f.). Angesichts dessen erweist sich Hässlichkeit weniger als ein ästhetischer als vielmehr als ein politisch-sozialer Störfaktor und ist darin gleichbedeutend mit der destruktiven, gewaltvollen und dominierenden Präsenz Montès und Pierre. ‚Hässlichkeit‘ wird so durch den Maler nicht an sich definiert, sie konturiert sich als Negativfolie einer Vergemeinschaftung, in der das Wohl aller verwirklicht werden soll. 359 Gleichbedeutend mit der Ausbreitung von Licht, Lachen, Liebe, Freiheit und Frieden ist die Belle amour humaine Sinnbild des friedlichen, 278 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="279"?> nur den eigenen Interessen zu folgen, Gewalt zu verherrlichen und anzuwenden und so letztlich, jegliches Streben nach Gemeinwohl zu verneinen. 360 Das Trouillot diesen radikalen (linken) Humanismus teilt, wird in einem Interview mit der Nachrichtenplattform Mediapart deutlich: „Oui, que pouvons-nous faire? capter quelques fragments. Que dire dans ce grand concert de voix qui fait le discours humain? Pour parler il faut écouter l’autre, être en relation avec ce qu’il ressent, ce qu’il pense. Aujourd’hui, le monde a évolué vers la droite, j’ai écrit un livre communiste, d’une certaine manière, pas au sens stalinien, au sens noble. C’est pourquoi il est dédié à Jacques Stephen Alexis, un homme politique de gauche que l’on considérerait aujourd’hui comme d’extrême gauche et qui avait ce rêve d’une voix individuelle dans une quête de bonheur collectif […] C’est un discours que l’on pourrait penser naïf aujourd’hui, dans notre époque un peu blasée, déterminée par l’individualisme. Lui pensait une humanité fraternelle, dont je veux rêver” (Bonnet/ Beray/ Marcandier 2011). 361 Diese Notwendigkeit hebt Trouillot immer wieder hervor: „We in Haiti are not yet at the age (I hope that it is a very short age in the western world) where art has tired of the quest for ideas, for meaning, or for utopias” (Dorcely / Trouillot 2007: 168). glücklichen Lebens unter Menschen. Während dieses bei Alexis noch als unbe‐ stimmter Wunsch für die Zukunft verhandelt wird, finden wir bei Trouillot be‐ reits einen konkreten, humanistisch geprägten Entwurf vor. In Abgrenzung zu einem hegemonialen, europäischen Humanismus, der bestimmte Gruppen ins „Hinterzimmer“ verwies (vgl. Alexis 1957: 2), versteht Alexis den notwendigen, neuen Humanismus als Liebe zum und Vertrauen in den Menschen (vgl. Alexis 1957: 2). Allen Vertreter: innen der menschlichen Spezies spricht er die Fähigkeit zur Vernunft, zur Emotionalität und zur Empfindsamkeit zu, deren harmonische und lebendige Verwirklichung Ziel einer zukünftigen Menschheit sei und in der Liebe, Freiheit, Moral, Freude, Glück und Respekt zentrale Werte sind (Alexis 1957: 3 f.). In der Kenntnis um Alexis Werk und seine politische Haltung kann sein Humanismus als ein radikaler Humanismus bezeichnet werden, der nicht bei einem humanistischen Bildungsideal stehen bleibt, sondern den radikalen Umbau der materiellen und politischen Grundlagen anstrebt. 360 Elemente dieses radikalen Anspruchs finden sich auch in Trouillots Denken und Schreiben, denn auch dort wird der Literatur eine wichtige Rolle bei der gesellschaftlichen Transformation (vgl. Eser 2018: 115 ff.) und bei der „preparation of social change“ (Dorcely/ Trouillot 2007: 168) zugeschrieben. La belle amour humaine ist als ein politischer Kommentar zu verstehen, die sich des Wunderbaren bedient um eine notwendige, visionäre Zukunft 361 zu entwerfen. So enthält La belle amour humaine neben eines vorrangig realistischen Erzähltenors auch Elemente des Wunderbaren, was die Erzählung in die Nähe des réalisme merveilleux rückt (Gannier 2012: 17). In diesem Umstand liegt eine weitere Referenz an Alexis, der mit seiner programmatischen Schrift Du réalisme merveilleux des Haïtiens 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 279 <?page no="280"?> 362 Newman setzt sich ausgiebig mit Alexis‘ réalisme merveilleux auseinander und verweist dabei auch auf Jean-Claude Fignolés Kritik an Alexis, der den haitianischen sozialen und kulturellen Raum als ‚otherness‘ konstruiere (vgl. Newman 2019: 9 f.). 363 Diese neuen Formen sollen dabei ‚dem Volk‘ und dessen ‚nationaler Kultur‘ entsprechen (vgl. Alexis 1956: 30), wobei Alexis keine Hierarchisierung zwischen den ‚Völkern‘ vornimmt (vgl. Alexis 1956: 17 ff.; Ulysse 2017: 11 f.). Die Rede von ‚Volk‘ und ‚nationaler Kultur‘ löst insbesondere aus einer deutschen Perspektive einige Befremdung aus, muss zugleich jedoch im Kontext der spezifischen haitianischen Geschichte und nicht Sinne eines völkischen Denkens, wie es vorrangig in Deutschland zu finden ist, verstanden werden. So schreibt Newman: „Alexis marvellous realism combines cultural nationa‐ lism with a regionalist point of view, casting the Carribean as a nexus of multiple, global cultures […] the result of the transatlantic slave trade and colonialism “(Newman 2019: 4 f.). Eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung mit diesen Aspekten des réalisme merveilleux findet sich bei Ulysse (2017). (1956) als einer der Wegbereiter des réalisme merveilleux gilt. Auch der Essay steht im Zeichen eines neuen egalitären und humanen Zeitalters, eines neuen Humanismus, und verwebt politischen Auftrag und ästhetisch-kulturelles Pro‐ gramm miteinander: Il ne s’agit pas de témoigner seulement pour le réel et de l’expliquer, il s’agit de transformer le monde […] L’artiste doit prendre parti, il doit être un combattant (Alexis 1956: 11). Im Fall von Haiti hört die Kunst auf das Reelle nur zu bezeugen und zu erklären, sondern wendet sich mit dem réalisme merveilleux neuen transformativen Ausdrucksformen zu (Alexis 1956: 11 f.). 362 Der neue Humanismus, Synonym für die Liebe zur Realität, zur Natur, zum Leben, zur Freiheit, zur Gerechtigkeit, zur Wahrheit und vor allem zum Menschen, findet seinen Ausdruck laut Alexis in der aktuellen Kunst (vgl. Alexis 1956: 11). 363 Für die Kunst Haitis konstatiert Alexis im Vergleich zum Okzident eine Stärkung wunderbarer Elemente: L’art haïtien présente en effet le réel avec son cortège d’étrange, de fantastique, de rêve de demi-jour, de mystère et de merveilleux ; la beauté des formes n’y est pas en quelque domaine que ce soit, une donnée convenue, une fin première, mais l’art haïtien y atteint par tous le biais, même celui de ladite laideur […] notre art a nous tend à la plus exacte représentation sensuelle de la réalité […] Cet art ne recule pas devant la difformité, le choquant, le contraste violent, devant l’antithèse, en tant que moyen d’émotion et d’investigation esthétique et étonnant résultat, il aboutit à un nouvel équilibre […] Vive un réalisme vivant, lié à la magie de l’univers, un réalisme qui ébranle non seulement l’esprit, mais aussi le cœur et tout l’arbre des nerfs! (Alexis 1956 : 31 f.). 280 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="281"?> 364 Prof. Dr. Gisela Febel wies mich darauf hin, dass der code de lois auch als „ironisch wir‐ kende Assonanz“ zum code noir gelesen werden oder aber auch durch die phonetische Nähe als code de loas verstanden werden kann. 365 Hier lassen sich mindestens zwei juristische Spuren nachverfolgen: Zum einen liegt eine Parallele zum Codex Justinianus nahe, wie Mark Cruse schreibt: „Justin, the village philosopher, is nicknamed ‘Socrates‘ — he thus stands for enlightened order, philosophy, and the Justinian code that became the foundation of medieval European law“ (Cruse 2013 : 481). ). Zum anderen lassen sich in der ‚union libre‘ auch Anklänge an den contrat social und juristische Spuren der Aufklärung vermuten (vgl. Rousseau 2003c: 378 ff.). Während bei Alexis die Hässlichkeit noch als ästhetisches Problem erscheint, ist bei Trouillot das Hässliche schon aus diesem Kontext herausgelöst und zeigt sich als politisch-soziales Missverhältnis, das insbesondere vor der historischen Erfahrung der Diktatur nicht mehr tolerierbar ist. Zugleich werden im Motiv des Gemäldes und der Kunst die wunderbaren, fantastischen Elemente in Trouillots Erzählung sichtbar, scheinen Gesang und Malerei doch über eine nahezu magische Wirkung gegen die Übergriffe und die Präsenz der Gewalttäter Montès und Pierre zu verfügen (vgl. Trouillot 2011: 110 ff.; 130 f.). In diesen Akten scheint sich die von Alexis benannte „divorces entre la pensée et l’action“ (Alexis 1957) aufzuheben, während sich ihr letzter Ursprung dabei rationalistischen Logiken entzieht und damit ein Mysterium bleibt (vgl. Trouillot 2011: 23), das auch der aus der Stadt entsandte Ermittler nicht aufzuklären weiß (vgl. Trouillot 2011: 24 f.). 4.4.4 Ecriture und Kodifizierungen des Zusammenlebens Während das Gemälde eine künstlerische und mythische Annäherung an das Zusammenleben in Anse-à-Foleur darstellt, präsentiert der Code des Dorfbe‐ wohners Justins einen stärker theoretisch-abstrakten Zugang zum Gemeinwohl. In der bereits beschriebenen Wechselwirkung von Kunst und Wirklichkeit sind mythische Elemente ein wichtiger Bestandteil, dahingegen knüpft das ‚juristische‘ Schreibprojekt Justins, der code des lois  364 als zweiter Pfeiler des Zu‐ sammenlebens in Anse-à-Foleur, an schriftkulturelle, europäische Traditionen 365 an: Justin, le législateur bénévole et autodidacte, avait travaillé jusqu’à l’aurore sur son code des nouvelles lois usuelles au service du bonheur, au chapitre essentiel portant sur l’union libre, le don, la réciprocité et autres vertus quotidiennes. Tout excité et fier de ses propositions, il avait installé sa chaise devant la mer pour attendre le lever du jour en buvant du thé de corossol (Trouillot 2011 : 13 f.). 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 281 <?page no="282"?> 366 Die Isolation von Montès Sohn hat ihre Ursprünge in seiner Unkenntnis der kulturellen Praktiken und der Sprache der Dorfbewohner: innen sowie in der väterlichen Erziehung (Trouillot 2011: 149 ff.). Diese Trennung kann als Ausdruck real existierender sozialer Spaltungen in Haiti gelesen werden, die Trouillot auch in einem Interview aufgreift: „But in Haiti, still being a very divided country that includes social structures as closed as apartheid, the dilemma remains the difficulty for the individual to exist in a positive relationsship with the community. I believe that difficulty is exposed in my work and the works of many Haitian writers nowadays“ (Dorcely/ Trouillot 2007: 168). Durch Justin (lat.: der Gerechte), der bereits durch seinen Namen für diese Aufgabe prädestiniert scheint, gibt sich das dörfliche Gemeinwesen seine eigenen Gesetze. Hierbei ist auffällig, dass die Grundsätze und Werte des Dorfes nicht nur stillschweigende Übereinkommen oder Konventionen sind, sondern tatsächlich verschriftlicht und damit festgeschrieben und objektiviert werden. Dabei werden die Gesetze durch den Transfer von der konkreten, mündlichen Sprechsituation in die abstraktere, schriftliche Sphäre zwar externalisiert (vgl. Haferland 2007: 517), zugleich jedoch wird dieser Dokumentations- und Konser‐ vierungsprozess von lebendigen Diskussionen begleitet (vgl. Trouillot 2011: 35, 49). Die konvivialen Praktiken im Dorf und der Gesetzestext stehen dement‐ sprechend in einem engen Austauschverhältnis, das zur ständigen Erweiterung des Dokumentes führt. In seiner Funktion als Gesetzgeber nimmt Justin einen besonderen Platz in der Topografie des Zusammenlebens ein, wie sich an der Lage seines Hauses zeigt: Il habite l’entrée du village. Ce n’est pas exactement un passage obligé. Ce n’est pas comme une douane, un péage ou un poste de frontière. On appelle le coin d’ombre où il a construit sa maisonnette: La Belle Entrée (Trouillot 2011: 106). Der erste Kontakt mit Anse-à-Foleur erfolgt somit als eine Begegnung mit der Gastfreundschaft Justins (Trouillot 2011: 106 f.) und der ethischen Grundlagen des Dorflebens. Auch für Anaïse‘ Vater wird la belle entrée zu einem wich‐ tigen Anlaufpunkt und Justin zu seinem einzigen Vertrauten 366 (vgl. Trouillot 2011: 150), was bei seinem Vater auf Ablehnung stößt (vgl. Trouillot 2011: 108 ff.). Justins Haus stellt für Anaïse Vater ein Gegenentwurf zu der Welt seines Vaters und dessen Freund, seinem Paten Pierre, dar. Letzterer überhäuft den Jungen mit Militärspielzeug, um ihn schon früh in das Befehlen und Dominieren einzuführen (vgl. Trouillot 2011: 108 f.). Jenem Erziehungsprogramm widersetzt sich der junge Montès, indem er das gesamte Spielzeugarsenal im Meer versenkt, was Montès und Pierre auf Justins Einfluss, zurückführen, wie Thomas Anaïse erzählt: 282 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="283"?> 367 Wenn gleich Rousseau dem Gemeinwohl große Bedeutsamkeit zumisst, so tut er das doch vor der Prämisse der genuinen Autonomie des menschlichen Individuums und nicht unter Annahme natürlicher Soziabilität, wie es in Anse-à-Foleur der Fall ist. Dementsprechend bleibt die individuelle Freiheit ein sehr zentraler Bestandteil seiner Konzeption. Ton père, Robert Montès junior, il a pris seul sa décision sans en parler à qui que ce soit. Ton grand-père et le colonel lui cherchaient un complice. Ils ne lui reconnaissaient même pas le droit d’agir seul. Ils sont allés chez le chef de section lui ordonner de procéder à l’arrestation de Justin (Trouillot 2011: 109). Diese Episode wird für Montès und Pierre zu einem Vorwand Justin, dessen Aktivitäten ihnen schon von Beginn an missfallen (vgl. Trouillot 2011: 105), anzugreifen und endgültig zu beseitigen. Denn durch Justin und seinen Code be‐ kräftigt das Dorf seinen Status als autonomer, rechtmäßiger und eigenständiger politischer Zusammenhang und widerspricht damit den Machtbegierden von Montès und Pierre. Der politische Akt der Gesetzgebung erfolgt in Abgrenzung zu der zentralistischen Organisierung des Duvalierstaates und entwirft eine alternative Verfassung, einen alternativen Gesellschaftsvertrag. Anstelle von (militärischer) Gewalt, Geld und dem Sieg des Individuums über das Kollektiv legen Justins Gesetze den Schwerpunkt auf das Gemeinwohl und den Fortbestand des Zusammenlebens. Diese Gesetze finden, so implizieren Thomas Erzählungen, von den Dorfbewohner: innen Zustimmung, ohne dass sie aufgezwungen werden (vgl. Trouillot 2011: 110). Das (kollektive) Glück fungiert als allgemeine Richtlinie für die einzelnen Artikel des Gesetzestextes (vgl. Trouillot 2011: 13), worin sich eklatante Unterschiede zu dem contrat social und anderen bürgerlichen, kontraktualistischen Ansätzen zeigt, bei denen das Primat der individuellen-bürgerlichen Freiheit und Autonomie gilt. 367 Von großer Bedeutung für Justins Konzeptualisierung hingegen ist die Verantwor‐ tung des Einzelnen für den Anderen und das Kollektiv, worin sich sowohl kommunitaristische Tendenzen als auch eine soziale Praxis, welche Gegensei‐ tigkeit fokussiert, erkennen lassen (vgl. Borst 2013; Cadeddu 2015: 201 f.). In diesem Sinne sind Geben und Gegenseitigkeit wichtige Bestandteile des Lebens in Anse-à-Foleur (Trouillot 2011: 13 f.), in dem jede und jeder Mitverantwortung für das Glück und die Freuden des Anderen trägt (vgl. Trouillot 2011: 32, 55). Es lässt sich somit konstatieren, dass Justins Grundsätze zwar an Traditionen der Aufklärung anknüpfen, sich jedoch in ihrer Ausgestaltung erheblich von der bürgerlichen Prägung dieser unterscheiden. Weder liegt dem Zusammenleben in Anse-à-Foleur die Struktur der bürgerlichen Familie noch Besitz oder eine Idea‐ lisierung indvidueller Freiheiten zugrunde, womit eine deutliche Abgrenzung 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 283 <?page no="284"?> 368 „Produire des discours publics opposée aux discours d’exclusion“ (vgl. Trouillot 2011: 135 f.). zu der Vergemeinschaftung bei Rousseau zu vermerken ist. Stattdessen stellen Justins Code, die Belle amour humaine und das Zusammenleben in Anse-à-Fo‐ leur eine grundlegende Absage an sämtliche Ausprägungen der individualités monstrueuses dar, die Trouillot in Repenser la citoyenneté so vehement angreift: L’individualité monstrueuse, c’est cette incapacité de concevoir le bien, l’empathie, „le juste“ comme moteur de l’action et conduite de vie […] Aucun n’est lié à l’autre, à l’espace habité dans une relation positive. Aucun ne reconnaît le principe de la citoyenneté (vgl. Trouillot 2001: 11 ff.). Im Anbetracht des negativen Bildes, welches Trouillot in seinem Essay zeichnet, kann Anse-à- Foleur als solidarischer Gegenentwurf, als utopische Vision gelten, in der sich reziproke Beziehungen einer neuen citoyenneté im ruralen Raum realisieren. Auf diese Weise bringt Trouillot mit dem Roman ebenjenen inkludierenden Diskurs hervor, den er von der Literatur und der Politik einfor‐ dert (vgl. Trouillot 2001: 69 f.; 135) 368 und der in einer desillusionären Gegenwart eine bessere Zukunft verheißt: C’est vrai que notre Justin, il a décidé depuis longtemps que le présent est comme il est et finalement sans importance. C’est demain qu’il regarde. Il cache ses peines et garde ses joies en réserve. Il n’en a qu’une en réalité. […] — De quoi parlions-nous ? Quand il te posera sa question pour te souhaiter la bienvenue […] si tu lui réponds: De l’avenir, il sera le plus heureux des hommes (Trouillot 2011 : 115 f.). Justins Verheißung einer glücklicheren Zukunft führt das utopische Verspre‐ chen Alexis fort und bricht so mit Diskursen der Ausweglosigkeit und Verdam‐ mung. Auf diese Weise weist der Roman ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben und 25 Jahre nach der Diktatur in Richtung einer humanistischen Utopie, welche den vorangegangenen Ausgrenzungen und Gewaltexzessen ein Ende setzt. 4.4.5 Das utopische Potential der ‚Peripherie‘ Wie wir bereits gesehen haben, folgt das Zusammenleben in Anse-à-Foleur ei‐ genen Regeln und Werten nach, die den Machtstrukturen der Duvalier-Diktatur und insbesondere seiner beiden Vertreter Pierre und Montès entgegenstehen. Anse-à-Foleur kann in ökonomischer, politischer und räumlicher Hinsicht als marginal bezeichnet werden. Mit seiner geographischen Randlage befindet 284 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="285"?> 369 Die Marginalität des ländlichen Raums besitzt in Haiti eine llange Geschichte und trennte die Bauern von der Stadtbevölkerung: „͵Creole makes a clear distinction between nan bouk (in town) and andeyo (on the outside, i.e., in the country)‘. Stigmatizes even to the point of having ͵peasant’ stamped on their birth certificates […] they are marginalized, defined as ͵exiles’ or ͵outlaws’ “ (Dayan 2008: 78 f.). 370 The absence of the state in these novels underscores another important element in postquake Haitian literature: the contrasts and conflicts between center and periphery. Historically, Haiti has been marked by stark separations between town and country, coastal and inland territory, national and regional authorities […] Since the 1930s, however, Port-au-Prince has become the country’s cultural, political, and economic center. As in other Global South countries, this rapid urbanization has come at the cost of rising crime, extortion, hunger, poverty, and violence. For many Haitians, the earthquake’s devastation of Port-au-Prince is one more sign of a pathologically expanded center unable to govern itself or the rest of the country”(Cruse 2013: 474 f.). sich das Dorf außerhalb des Gesichtsfeldes der duvalieristischen Macht und auch nach Ende der Diktatur sichert die Abgeschiedenheit dem Dorf seine Eigenständigkeit. 369 Nur fernab der Stadt und damit auch des Staates, 370 in der „le bruit a remplacé l’espoir“ (Trouillot 2011: 16), scheint es möglich zu sein eine Alternative zu den bestehenden politischen und sozialen Strukturen aufzubauen und zu bewahren: Le ministre tempêtait : —C’est quoi, Anse-à-Foleur? —Nous vérifions, monsieur le ministre. […] —Le Nord-Ouest, monsieur le ministre. Leur frontière, c’est la mer, monsieur le ministre. —C’est qui, Anse-à-Foleur ? —Personne […] Une poignée d’habitants sans fortune et sans patronyme (Trouillot 2011 : 43) Ins Blickfeld der politischen Autoritäten rückt der Küstenort erst mit dem Tod von Montès und Pierre. Zuvor hingegen erwecken weder die Übergriffe auf Justin durch Montès und Pierre noch die Misere der Bevölkerung das Interesse der politischen Verantwortlichen, woran sich zeigt, dass die nationalen und globalen Zentren der Macht nur Interesse für ihre Bewohner: innen hegen, wenn diese ihre machtpolitischen Interessen gefährden: C’est une chose que tu dois savoir, toi qui as voyagé et vécu au cœur des métropoles: les centres n’aiment pas le lointain, sauf à le conquérir. […] Les centres, il en existe de plus puissant que d´autres. Ma ville n´est rien face à ta ville. Mais tous les centres se ressemblent. Ils ne supportent pas les errements de la marge. […] Les gérants du 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 285 <?page no="286"?> 371 Paola Cadeddu bindet Trouillots Figuren an die Realität der Duvalier-Diktatur zurück und schreibt : „ Ces deux personnages représentent deux phénomènes qui ont parasité la société haïtienne : si d’un cote le colonel Pierre André Pierre — derrière lequel nous pouvons aisément reconnaître le célèbre tortionnaire Albert Pierre plus connu sous le nom de ‘Ti-Boule ‘ — symbolise la violence du corps militaire lié au régime duvaliériste, de l’autre cote, l’homme d’affaires Robert Montés représente la corruption et la violence des certains représentants de la bourgeoisie qui ont spolié sans aucun scrupule leurs propres concintoyents [sic ! ]“ (Cadeddu 2015 : 209). 372 „Mais plus ils progressaient dans leurs façons d’être respectives, se bonifiaient avec le temps, plus ils ressentirent ce besoin de complicité, comme les partenaires qui forment un vieux couple se transforment au fil des ans en une seule entité“ (Trouillot 2011 : 104). monde qui ont fixé les lois de la géographie […] ils n’ont qu’un seul principe: le centre, ça se mérite, le lointain, ça se surveille. C’est la loi du plus fort (Trouillot 2011: 47 f.). Der Begriff des centre verkörpert hier Konzentration von Macht und den unbedingten Wunsch Kontrolle und Herrschaft auszuüben. Dabei verweisen die beiden Begriffe centre und marge nicht nur auf ein Kräfteverhältnis innerhalb eines Staates, sie weisen zugleich auch auf ein globales, post-koloniales Macht‐ gefälle hin. So wird „das Verhältnis zwischen einem imperialen ‚Zentrum‘ […] und der kolonialen ‚Peripherie‘“ im Handbuch Literatur & Raum (2015) als proto‐ typisch und dominant für den Begriff des Postkolonialen angeführt (vgl. Döring 2015: 138). Dementsprechend ist Anse-à-Foleur, als armes, abgeschiedenes, haitianisches Fischerdorf, welches es wagt eigene politische Vorstellungen zu entwickeln und umzusetzen in einer doppelten Peripherie zu verorten. In dieser steht die Dorfgemeinschaft nicht nur der Hauptstadt Port-au-Prince, Zentrum der politischen Befehlsgewalt, sondern auch den reichen globalen Machtzentren des Okzidents spannungsreich gegenüber. Der colonel Pierre-André Pierre und der homme d’affaires Robert Montès sind sowohl in ihren gesellschaftlichen Funktionen als auch aufgrund ihrer Verhaltensweisen, mit denen sie die lokale Bevölkerung terrorisieren, Reprä‐ sentanten des Zentrums (vgl. Cruse 2013: 478) und der Macht im Duvalierstaat (vgl. Cadeddu 2015: 209). 371 Die Komplizenschaft zwischen ökonomischer und militärische Macht, welche ein korruptes (vgl. Trouillot 2011: 67 ff.) und gewalt‐ volles politisches System stützt, materialisiert sich eindrücklich in der Bezie‐ hung zwischen Montès und Pierre. 372 Zwischen dem afro-eurodeszendenten Robert Montès, Spross einer etablierten bürgerlichen Familie (vgl. Trouillot 2011: 69 ff.), und dem afrodeszendenten Aufsteiger Pierre André Pierre (vgl. Trouillot 2011: 75 ff.) etabliert sich trotz der erheblichen sozialen Unterschiede eine lebenslange Freundschaft: 286 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="287"?> 373 Es handelt sich hierbei um eine Ansammlung von Macht, von der alle anderen, vor allem die Frauen und die Dorfbewohner: innen, ausgeschlossen sind. Einzig Montès Sohn, Anaïse Vaters, hat die Aussicht in diesen männlichen Bund aufgenommen zu werden, verweigert sich aber dieser Komplizenschaft (vgl. Trouillot 2011: 80). Leurs origines et leurs manières, leurs tempéraments, leurs habitudes sociales, tout les éloignait l’un de l’autre et les prédisposait à devoir s’affronter sans réserve ni pitié dans l’exercice des vielles querelles de couleur, d’origine et de stratégies de domination, souvent meurtrières et sordides, qui avaient opposé tout le long de l’histoire nationale noiristes et mulâtristes, ‘nationaux’ et ‘libéraux’, aristocratie terrienne et bourgeoisie de comptoirs, héritiers et self-made-men […] Rien, mis à part la cruauté, ne pouvait justifier l’amitié (Trouillot 2011 : 63 ff.). Mit diesen zwei Figuren präsentiert Trouillot nicht nur zwei Formen der Macht, er dekonstruiert auch die Gegnerschaft zwischen den beiden politischen Lagern, da sie am Ende beide in der Kollaboration und Unterstützung des Regimes münden. Die vermeintliche Opposition bürgerlicher, euro-afrodeszendenter Schichten zum noiristischen Duvalier- Regime bestätigt sich hier nicht. Die Konzentration von Macht, Gewalt und Reichtum in den beiden Figuren Montès und Pierre übersetzt Trouillot in das Bild der Belles Jumelles. Die ‚schönen Zwil‐ linge‘, identische Residenzen der beiden Freunde in Anse-à-Foleur, lassen sich als Metapher für die marassa, die machtvollen Zwillinge im vodou, verstehen, die ähnlich wie Montès und Pierre über außergewöhnliche Kräfte verfügen. So schreibt Métraux über den culte des jumeaux, dass Zwillinge, tot oder lebendig, in dem Ruf ständen entrückt, gewalttätig und überaus empfindlich zu sein, wie sich an ihren extremen Reaktionen auf unerfüllte Wünsche und Begierden zeige (vgl. Métraux 1958: 130). Die Analogie zu den marassa, die Trouillot über die Belles Jumelles herstellt, erweitert die weltlich-politische Macht der beiden Männer durch eine spirituell-symbolische Komponente. 373 Doch nicht nur die innerhaitianischen Zentren sind bedrohlich, auch im Tourismus zeigen sich Ten‐ denzen negativer Einflussnahme. In den Begegnungen zwischen Tourist: innen aus dem Globalen Norden und der lokalen Bevölkerung, von denen der Guide Thomas berichtet, fusionieren neo-koloniale Bilder mit ökonomischen Abhän‐ gigkeitsverhältnissen. Von diesen ungleichen (Tausch)Verhältnissen profitieren die reichen Tourist: innen, denn Sex (vgl. Trouillot 2011: 32), die Illusion der Selbstverwirklichung (vgl. Trouillot 2011: 35), ‚exotische Authentizität‘ oder selbstgefällige Wohltätigkeit (vgl. Trouillot 2011: 141) werden zu Waren, durch die die lokale Bevölkerung ihr materielles Überleben zu sichern sucht: Faire comme une vraie touriste, chercher ici le nirvana et tomber en extase devant la première pacotille qui attire le regard dans une boutique d’artisanat. Si tu préfères la 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 287 <?page no="288"?> pauvreté comme source d’émerveillement, prépare ta camera et je te conduirai dans les anciens beaux quartiers aujourd’hui en ruine […] Émue par le spectacle, tu pourras verser toutes les armes de la charité. Après, pour changer, tu pourras passer quelques jours dans un hôtel de plage à manger des fruits frais et à boire du lait de coco. Là, tu mettras la main sur un étalon noir et te payeras pas cher une ‘expérience sexuelle’ (Trouillot 2011: 31 f.). Die Produktion und Reproduktion von Bildern, ob in Form von Kunstwerken oder von kolonialen Fantasien, steht im Mittelpunkt dieses Kommerzes, der der Bevölkerung nur einen geringen Handlungsspielraum einräumt und zu Ver‐ suchskaninchen, Subalternen oder Opfern stilisiert (vgl, Trouillot 2011: 34). Statt egalitärer Begegnungen werden Lebensgeschichten, Träume, Armut, Körper und Kunst durch die Tourist: innen konsumiert (vgl. Trouillot 2011: 33 f.) und zu Objekten der Begierde reduziert. Die dichotome Konstruktion ‚peripherer‘ und ‚zentraler‘ Welt(en)Teile ist für die historische und die gegenwärtige Konsumption fundamental (vgl. Sheller 2004: 1 f.). Das fortdauernde ‚consuming the Caribbean‘ (Sheller [2003] 2004) erstreckt sich dabei gleichermaßen auf pflanzliche Nahrungsmittel, stimulierende Substanzen, kulturelle Produkte und Wissensbestände wie auf menschliche Körper und Natur bzw. Landschaften in ihrer Gesamtheit (vgl. Sheller 2004: 3 f.) und sind Ausdruck globaler Machtver‐ hältnisse: The ties that bind the Caribbean to other places, I argue, are premised on everyday practices of consumption that occur through economies of movement, touch, and taste in overlapping fields of economic consumption, political consumption, and cultural consumption (Sheller 2004: 4). Anse-à-Foleur/ Haiti existiert dementsprechend keinesfalls losgelöst von den Logiken des Wertes einer kapitalistischen Welt, die ihren Profit aus den Ländern des Globalen Südens zu ziehen versucht, ohne etwas zurückzugeben, wie Thomas anprangert: Là-bas, je suis un peu un touriste qui profite gratuitement de leur disponibilité […] Je prends sans donner […] N’y vas pas non plus juste parce que tu as besoin d’eux pour construire ta légende, trouver ton équilibre et ton juste chemin. Si tu vas là-bas, il te faudra trouver quelque chose à leur donner (Trouillot 2011 : 35). Entgegen den Prinzipien der Reziprozität, welche Trouillot in seinem Essay thematisiert und welchen auch in Justins Gesetzen große Bedeutung zugespro‐ chen wird, sind die Beziehungen zwischen den Tourist: innen und der lokalen Bevölkerung auf Einseitigkeit aufgebaut und für Haiti von keinem nachhaltigen positiven Nutzen. Für die Tourist: innen dienen ihre Erlebnisse in dem Land nach 288 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="289"?> 374 „Elles auront sur leurs collègues l’avantage d’avoir visité un pays du Sud […] Un imprudent introduit dans une conversation le thème de la vie à l’autre bout du monde, du génie de pauvreté et des tares des insulaires. Elles parlent alors d’autorité, font leur intéressante, revendiquent les vertus de la connaissance sensible“ (Trouillot 2011 : 36). 375 In diesem Zusammenhang ist auf Dany Laferrières Roman Vers le Sud (2006) zu verweisen, welcher Sextourismus zur Zeit der Diktatur in den Blick nimmt und dabei auch koloniale Fantasien weißer Tourist: innen entlarvt (vgl. von Gleich 2017). ihrer Rückkehr in ihre reichen Herkunftsländer zur Aufwertung der eigenen Person und des eigenen Lebenslaufes und sind somit profitabel. Im neoliberalen Konkurrenzkampf werden diese Erfahrungen zu einem Wettbewerbsvorteil 374 und immaterielle Güter wie Erfahrungen, Erlebnisse und Wissen erfahren eine Übersetzung in die materiellen Welten Europas und der USA. Die Bilder und Erzählungen von dem ‚Süden‘ 375 geben dabei weniger Aufschluss über haitiani‐ sche Lebensrealitäten, als dass sich in ihnen ein koloniales Begehren nach dem beliebig verfügbaren ‚Anderen‘ konstituiert, welches sämtliche Begegnungen, ob im touristischen Sektor oder im Bereich humanitärer Hilfe, zwischen den beiden Welten determiniert: Avec ‘La Belle amour humaine’, Lyonel Trouillot s’offre la possibilité de dénoncer assez âprement une nouvelle forme de colonialisme : le tourisme, cette domination qui n’est pas directement politique, mais sûrement économique, idéologique et culturelle […] Lyonel Trouillot met en relief […] ce besoin de retrouver la réconfortante banalité du cliché empêchant de voir la réalité pour ce qu’elle est. Ce qui oblige le Tiers-monde à se prostituer et vendre son propre stéréotype pour peu d’argent (Cadeddu 2015 : 210 ff.). Die Anklage, die in Trouillots Roman von Thomas erhoben wird, greift dabei Kritik am Verhalten des Okzidents auf, die Trouillot selbst in seinen Interviews und Essays unermüdlich anführt (vgl. Marrenberg 2020) und die von vielen hai‐ tianischen Intellektuellen, Künstler: innen und gesellschaftliche Akteur: innen geteilt wird. Trouillot geht in La belle amour humaine über Analyse und Kritik hinaus und eröffnet eine neue Perspektive auf das Verhältnis zwischen Zentren und Rändern, Norden und Süden. Einige Aspekte dieser Neuperspektivierung wurden bereits in den vorange‐ gangen Teilkapiteln anhand der dialogischen Form und in der Belle amour humaine sichtbar (vgl. Cadeddu 2015: 219 f.), ein weiterer Aspekt zeigt sich in 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 289 <?page no="290"?> 376 Die Figur der Anaïse stellt hierbei ein Sonderfall dar, denn obwohl sie Anse-à-Foleur als Fremde besucht und aus einer reichen, westlichen Metropole stammt, ist sie über ihren Vater mit dem Dorf verbunden. Aufgrund dieser Tatsache kommt sie nicht ausschließlich als Touristin in das Dorf und schafft in dieser Rolle eine Verbindung zwischen Zentrum und Anse-à-Foleur, der Kindheit ihres Vaters und der Gegenwart. 377 „The transformative power of the village’s values is further evidenced by the story of the detective who is sent to investigate the fire. Upon returning to the capital empty-handed, he retires and opens a bar there called Anse-à-Foleur, thereby illustrating Thomas’ observation that ‘Il faut croire qu’il est des lieux qui restent en toi, qui t’habitent pour toujours, une fois que tu y as mis les pieds’ “ (vgl. Cruse 2013 : 479). der Art, mit der die Dorfbewohner: innen ihren Besucher: innen aus den Zentren, insbesondere Anaïse 376 und dem Enqueteur, begegnen: Tu seras reçue comme toute personne qui vient en bien mérite d’être reçue. Tu auras droit à tout le peu dont ils disposent […] et tu repartiras bredouille ou enrichie d’un je ne sais quoi qui te poursuivra toute ta vie (Trouillot 2011 : 28). Dans le vieux bourg d’Anse-à-Foleur, on ne brusque pas les arrivants, ils décident eux-mêmes des changements qui leur sont nécessaires. Deux jours avaient suffi pour convaincre l’enquêteur (Trouillot 2011: 49). Statt sich durch die Zentren in der Form ihres Zusammenlebens verändern und korrumpieren zu lassen, gelingt es den Bewohner: innen von Anse-à-Foleur ohne Zwang die Leben und die Einstellungen ihrer Besucher: innen zu verändern. 377 Der übermächtigen Zentren und Machtbeziehungen zum Trotz geht hier ein Transformationspotential von den Rändern aus, mit welchem an bell hooks Gedanken dem Aufsatz „Choosing the margin as a space of radical openness“ (1989) angeknüpft werden kann: This space of radical openness is a margin […] I was working in these statements to identify marginality as much more than a site of deprivation, in fact I was just saying the opposite: that it is also the site of radical possibility, a space of resistance. It was this marginality that I was naming as a central location for the production of a counter hegemonic discourse that is not just found in words but in habits of being and the way one lives […] It offers to one the possibility of radical perspective from which to see and create, to imagine alternatives, new worlds […] This is an intervention. A message from that space in the margin that is a site of creativity and power, that inclusive space where we recover ourselves, where we move in solidarity to erase the category colonised / coloniser. Marginality as site of resistance. Enter that space. Let us meet there […] We greet you as liberators (hooks 1989: 19 ff.). Die radikalen Möglichkeiten, von denen hooks spricht und die das Potential besitzen neue, widerständige Orte jenseits antagonistischer Positionen zu er‐ 290 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="291"?> schaffen, lassen sich auch in Trouillots Roman beobachten. In diesem etablieren sich zwischen dem enqueteur und den Dorfbewohner: innen sowie Anaïse und Thomas neue Beziehungen, welche die Spaltungen zwischen Zentrum und Rän‐ dern aufzubrechen´versprechen. Auf diese Weise skizziert sich in Anse-à-Foleur ein inklusiver Raum, der neue Perspektiven eröffnet und alternative Weisen des Zusammenlebens aufzuzeigen vermag, dabei jedoch keineswegs jenseits bestehender Machtverhältnisse existiert, gegen die er sich zu behaupten hat. Widerstand bleibt daher ein wichtiges Element, weshalb sich der folgende, letzte Abschnitt den kollektiven und widerständigen Praktiken zuwendet. 4.4.6 Vom konbit zum Gesang — Formen des Widerstands und vergemeinschaftende Praktiken in Anse-à-Foleur Trouillot entwirft in La belle amour humaine nicht nur eine Vision gelingender Konvivenz, sondern verortet diese zudem ausdrücklich auf dem Land abseits der großen Städte. Indem er den ruralen Raum zum Zentrum seiner Romanhandlung erklärt und dessen Lebensrealitäten wiederholt thematisiert, knüpft er an das, insbesondere für den indigénisme wichtige, literarische Genre des roman paysan an. Arme bis miserable ökonomische Verhältnisse, eine zerstörerische, zerstörte oder lebensspendende Natur und eine angesichts dessen weitestgehend hilf‐ lose Landbevölkerung charakterisieren viele Vertreter dieses Genres. Trouillot übernimmt einige der Ansätze, bricht aber mit der stereotypen Darstellung der Landbevölkerung. Dafür stellt er über den Namen Anaïse, den Trouillots Protagonistin mit der Geliebten von Roumains Helden Manuel teilt, einen Bezug zu dem roman paysan Gouverneurs de la Rosée her, der sich für die Lektüre von La belle amour humaine als überaus wichtig erweist. In Roumains Roman aus den 1940er Jahren ist es, wie Celia Britton schreibt, die verlorene Einheit des Dorfes Fonds-Rouge, die wiederhergestellt werden muss. Das gelingt im Rückgriff auf tradierte Praktiken, Opferbereitschaft und kollektive Arbeit, welche die Spaltung und Misere der Gegenwart überwinden. In Anse-à-Foleur hingegen verwirklicht sich bereits das ideale Zusammenleben und die Störung dieser Harmonie ist zum Zeitpunkt der Erzählung bereits seit mehr als 20 Jahren überwunden. Wo bei Roumain der „Leader, saviour and teacher“ (Britton 2010: 19) Manuel stirbt und sein Opfer zur gelingenden Gemeinschaft führt, müssen ins Anse-à-Foleur die Eindringlinge sterben, damit das Dorf seinen Frieden beibehält. In beiden Werken erfolgt die Annäherung an die weitgehend abgeschlossene dörfliche Vergemeinschaftung über eine Figur, die zwar verwandtschaftlich mit dem Dorf verbunden ist, doch dieses als fremde bzw. entfremdete Person betritt. Im Fall von Roumains marxistischen 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 291 <?page no="292"?> 378 Diese Desillusion und Absage an das politische Engagement der eigenen Jugend findet sich auch in den drei anderen analysierten Romanen, in Trouillot Schreiben wird diese Auseinandersetzung mit diesem Verlust und die Suche nach neuen (politischen) Zusammenhängen jedoch am deutlichsten verhandelt. 379 In gewisser Weise geben Roman und Autor beiden Gruppen Unrecht. Weder scheint gesellschaftlicher Wandel überflüssig, noch scheint er unmöglich geworden zu sein, wie sich in der Geschichte Anse-à-Foleurs zaghaft andeutet. Und auch der Schriftsteller Trouillot argumentiert vehement gegen die Allgegenwärtigkeit der Alternativlosigkeit: „C’est le point de vue d’un citoyen d’Haïti et du monde. […] La littérature qui m’intéresse, c’est la littérature qui tente la voie de la subversion […] Je ne veux pas appartenir à cet âge de la fin de l’histoire, de la fin de l’idéologie, de la fatalité du marché comme nouveau dieux. Donc si les gens qui sont habités par cette pensée — qui est pour moi une non-pensée — pensent que ce que je dis appartient au passé, je revendique ce passé-là ! Sauf que c’est un passé qui ne va pas mourir aussi tôt“ (Cadeddu 2014: 1 f.). Helden Manuel bringt dieser durch seine Erfahrungen und sein Wissen neue Antworten und Lösungen in sein gespaltenes Heimatdorf Fonds-Rouge (vgl. Britton 2010: 28). Im Gegensatz dazu ist es in La Belle amour humaine Anaïse, die voller Fragen nach Anse-à-Foleur kommt und auf der Suche nach einem (politischen) Ideal ist: Moi, je veux choisir. Non pas un lieu. Mais, comme le dit ton oncle, dans tous ces mondes qui font le monde, quel usage faire de ma présence ? A quoi vais-je donner l’adhésion de mon rire ? A quoi adresserai-je mon refus, ma colère ? A l’université […] un prof nous a proposé comme thème pour une discussion : Contre quoi peut-on encore se révolter aujourd’hui ? Le mot révolte a paru excessif à bon nombre de mes camarades […] Ma mère porte en elle la nostalgie du radicalisme. En regardant les nouvelles, quand passe une révolution, un changement d’importance dans un pays lointain, une ancienne lueur s’allume dans ses yeux et elle s’agite dans le salon (Trouillot 2011 : 139). In der Frage nach dem eigenen Beitrag zur Welt wird nicht nur Anaïse‘ eigene Suche sichtbar, sie erforscht auch die Notwendigkeiten und Möglichkeiten widerständigen bzw. revolutionären Lebens in der Gegenwart und hält dadurch die Verbindung zu dem politischen Schreibens Roumains und Alexis aufrecht. So wie sich Anaïse von den anderen Tourist: innen unterscheidet, grenzt sie sich auch in diesem Aspekt von Teilen ihrer Generation ab, denen der Be‐ griff der Revolte zu übertrieben scheint. In der nostalgie de radicalisme, die Anaïse‘ Mutter befallen hat, verbirgt sich hingegen die Diagnose über eine Generation, deren Ideale den Enttäuschungen und dem Älterwerden weichen mussten. 378 Zwischen dieser Elterngeneration, die ihre vorangegangen Ideale und Kämpfe verloren hat, und ihrer eigenen Generation, der Rebellion über‐ flüssig erscheint, 379 ist Anaïse eine Suchende. Wie Cadeddu zu Recht anmerkt, 292 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="293"?> 380 Auf den ersten Seiten beschreibt Thomas den Arbeitsalltag in Anse-à-Foleur auf eine Weise, die als eine haitianische Version der kommunistischen Gesellschaft verstanden werden kann. So heißt es bei Marx und Engels in der Deutschen Ideologie (1846) über die überträgt Trouillot auf diese Weise den ‚revolutionären Funken‘ auf eine junge Frau aus dem Okzident: Il est intéressant de constater que ce vœu révolutionnaire que Lyonel Trouillot a souvent adressé aux Haïtiens, dans ce roman, c’est à Anaïse qu’il le confie. C’est Anaïse qui parle de révolte, comme à signaler un changement déjà en cours (Cadeddu 2015 : 219). Diese Übertragung ist insofern auffällig, da Trouillot mit Anaïse nicht nur eine junge Frau, sondern auch eine Figur auswählt, die durch ihre familiäre Herkunft Haiti und den Okzident verbindet und zugleich von dem Widersa‐ cher des Dorfes, Montès, abstammt. Anaïse verkörpert somit die Möglichkeit egalitärer Begegnungen und bricht auf diese Weise, wie bereits ihr Vater, mit der Dominanzkultur Robert Montès. Ihre Revolte führt Anaïse dabei weg von der individuellen Existenz und an diese geknüpften Fragen von Identität und Herkunft hin zu einer globalen und kollektiven Perspektive. In jener Hinsicht erscheint es mir reduktionistisch La belle amour humaine nur als Entwicklungs‐ roman oder Quête de bonheur zu interpretieren (vgl. Crochet/ Livinal 2017), da in diesen Lesarten die kollektive Dimension zugunsten einer Fixierung auf das Individuum eingeebnet wird. Denn Anaïse Frage nach dem Sinn richtet sich, ebenso wie das Kunstwerk oder das Zusammenleben in Anse-à-Foleur, keinesfalls auf ein isoliertes Individuum, sondern zielt auf das Leben in seiner kollektiven Dimension und als kollektives Werk ab (vgl. Trouillot 2011: 131), wie der blinde Maler bereits vor Anaïse Ankunft vorhersieht: Mais mon oncle pense que tu es spéciale, que ce que tu cherches au fond, plus qu’une origine, ce pourrait être un idéal. Que la vraie question que tu te poses, en passant par de longs chemins, c’est celle qu’il avait faite à l’enquêteur : quel usage faut-il faire de sa présence au monde ? (Trouillot 2011 : 39). Wo die Suche nach der Herkunft in die Vergangenheit gerichtet ist und Be‐ ziehungen auf gemeinsame Ursprünge beschränkt, eröffnet die Frage nach dem Ideal den Blick in Richtung Zukunft und in Richtung des anderen. Voraus‐ setzung für gelingendes Zusammenleben ist hier nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, vielmehr zählen das Teilen einer gemein‐ samen Vision und der eigene Beitrag zu dessen Verwirklichung. Im Falle von Anse-à-Foleur ist die Vision unweigerlich kollektiv — in Ansätzen sogar kommunistisch 380 — und steht damit in einem starken Gegensatz zu der Welt, aus 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 293 <?page no="294"?> kommunistische Gesellschaft: „Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesell‐ schaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will — während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Engels/ Marx [1846] 1990 : 33 ff.). In Anse-à-Foleur verwirklicht sich dieser Zustand folgendermaßen : „S’il faut aller dans le détail de ce que firent ceux qui ne sont ni marins ni femmes de marins, ni réductibles à cette première fonction, le métier de marin n’interdisant point d’être par ailleurs tambourineur, joueur de dés ou philosophe“ (Trouillot 2011 : 13). In Anse-à-Foleur ist folglich die Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit aufgehoben und eine gewisse Freiheit in der Wahl der Tätigkeiten/ Arbeiten möglich. Das Dorf differiert darin von der Organisation der Arbeit in den reichen Länder, wo sich die unterjochende Macht der Arbeit von der in der Deutschen Ideologie die Rede ist, zeigt: „Même dans les pays d’où tu viens où les biens matériels sont chose tellement courante qu’on oublie de sourire à la lumière du jour et de prendre le temps de saluer le passant. […] On dit que dans les pays d’où tu viens, le travail, c’est comme la caserne“ (Trouillot 2011: 133). der Anaïse und die Tourist: innen kommen und in der der Tod ein individuelles Versagen (vgl. Trouillot 2011: 55) und das Leben ein ständiger Konkurrenzkampf ist (vgl. Trouillot 2011: 91). Entgegen dieser gesellschaftlichen Konfiguration, die das Individuum verklärt, proklamiert der Roman Kollektivität als existentielle Bedingtheit und Sinn des Menschenseins. Damit skizziert Trouillot in dem Roman eine Utopie, die westliche (neo)liberale Vorstellungen konterkariert und ihnen die Vision eines neuen, kollektiven Zusammenlebens entgegenhält, indem sie Interdependenzen und die Grenzen des Individualismus (vgl. Trouillot 2011: 91) exponiert und damit die Grundlage bürgerlicher Gesellschaftsentwürfe verwirft. Diese Haltung bringt Trouillot auch in einem Interview mit Nadève Ménard zum Ausdruck: „Je pourrais reprendre ce vieux diction socialiste: Je respecte l‘individualité, mais j’ai horreur de l’individualisme. Et je pense qu’il faut sortir l’écriture de l’individualisme“ (Ménard 2011c: 460). Anstelle einer écriture, die den Individualismus hofiert, verwebt Trouillot in La belle amour humaine künstlerische Ausdrucksformen wie Tanz, Malerei oder Gesang mit kollektiven Praktiken des Widerstands. So tritt die dörfliche Vergemeinschaf‐ 294 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="295"?> 381 Tatsächlich handelt es sich bei den gesungenen Zeilen, um die Aneinanderreihung verschiedener kreyòler Sprichwörter: So kann „Bat chen-an tan mèt li” übersetzt werden mit „Celui qui frappe un chien doit s’attendre à la justice de son maître” (vgl. Haiti-Référence 2001). „Kalbas pa donnen joumon“ bedeutet ungefähr „Eine Kalebasse bringt keinen Kürbis hervor“ und kann als gleichbedeutend verstanden werden mit „Tel père, tel fils“ (vgl. Agence de Coopération culturelle et technique 1987: 16). Justin liefert auf den Druck des Colonels eine Interpretation der Zeilen, welchen diese auf den konkreten Kontext in Anse-à-Foleur übertragen und als Drohung auffassen (vgl. Trouillot 2011: 112 f.). (Ich danke Junior Borgella für die entscheidenden Hinweise und die Übersetzungshilfe.) 382 Dieses Bild des vodou als ‘böser’ ‘Hexen’Kult ist immer noch weit verbreitet und verkennt die politische Dimension des vodou ebenso, wie dessen Komplexität, worauf schon Mintz und Trouillot hinwiesen: „Many outsiders, in observing and commenting on Vodou, reduce ist compass from what the would call ‘religion’ to ‘witchcraft’. By ‘witchcraft’ is commonly meant ‘black magic’, or the harnessing of malevolent forces with the object of causing harm to other human beings”(vgl. Mintz/ Trouillot 1998: 129). tung in den Momenten besonders deutlich hervor, in denen sie sich (durch künstlerische Mittel) widersetzt, wie die folgende Passage illustriert: Le chef de section a ravalé son crachat et, malgré lui, il a aidé le colonel à soulever la cuvette dans laquelle le philosophe législateur ne pouvait plus bouger ses pieds coulés dans le béton pour jeter l’ensemble à la mer. C‘est alors qu‘ils ont aperçu le village entier, les hommes et les femmes, les adultes et les enfants, tous […] Chacun tenait une bougie et tous chantaient un air dont les occupants de la barque ne captaient que des fragments (Trouillot 2011: 112). Es ist der gemeinsame Gesang des versammelten Dorfes, welcher Justin schluss‐ endlich vor dem Tod bewahrt (vgl. Trouillot 2011: 113). Hierfür ist nicht nur die Überzahl der Dorfbewohner: innen und ihre entschlossene Präsenz verantwort‐ lich, sondern es ist im Text angelegt, dass es insbesondere der kreyòle Text des Gesangs ist, der auf die beiden Aggressoren eine einschüchternde Wirkung hat. So wird der Text vom Colonel, der sich als „grand initié“ (Trouillot 2011: 112) ausgibt, fälschlicherweise 381 als Fluch interpretiert. Diese Interpretation ruft bei den beiden Männern stereotype Vorstellungen über vodou als gefährliche, spirituelle Praxis 382 auf und führt so zu ihrer Einschüchterung und ihrem Rückzug (vgl. Trouillot 2011: 112). Die Szene entlarvt nicht nur die Unkenntnis des Colonels, sondern Trouillot spielt hier mit klischierten Bilder über den vodou und zeigt wie die Dorfbewohner: innen diese Vorstellungen subversiv für sich nutzen. Widerstand drückt sich somit nicht in Form bewaffneter Rebellion aus, vielmehr manifestiert er sich in kulturellen, künstlerischen und spirituellen Formen der Subversion. Kollektiver kreyòler Gesang, der im Roman an zwei Stellen zentral ist, erfüllt damit als Widerstandstechnik, Medium des 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 295 <?page no="296"?> 383 Beide Szenerien spielen sich nicht nur auf dem bzw. mit Blick auf das Meer ab, sondern beide Male inkarniert das Meer den Ort der Toten. So wird der Leichnam des Malers mit einer Barke aufs Meer hinausgeschickt (vgl. Trouillot 2011: 164 ff.) und damit eine umgekehrte Middle passage inszeniert und auch Justin soll seinen Tod im Meer finden (vgl. Trouillot 2011: 112 f.). Ausdrucks und vergemeinschaftendes (ritualisiertes) Moment mehrere Funk‐ tionen zugleich. Diese vielschichtige Bedeutung des Gesang veranschaulicht sich sowohl durch die Situationen, in denen der Gesang auftritt, als auch in seinem sprachlichen Inhalt und in dem Prozess des Singens selbst, der mehrere Stimmen zu einer vereint. Auch im zweiten Beispiel, in dem Anaïse dem Gesang des Dorfes anlässlich der festlichen Beisetzung Frantz Jacobs beiwohnt, sind die vergemeinschaftenden und expressiven Aspekte präsent: Les chants montent en volume […] Solène bat le rassemblement. Tous ou presque chantent […] Il lui explique que les chants sont à la fois gais et tristes, alternent le rêve et la douleur, la mélopée et la promesse […] Et elle écoute les voix qui pleurent une étrange mélopée qui semble monter du sol comme une blessure de la terre. Regarde les corps cassés qui balancent lentement comme au souvenir d’anciennes traversées, comme enchaînés ensemble, comme un seul corps défait, accroupi ou agenouillé sur la plage (Trouillot 2011: 164 f.). In dieser Szene werden wir Zeug: innen zweier Prozesse: Zum einen lässt der Gesang die einzelnen Körper und Stimmen — ganz im Sinne der Durkheim’schen kollektiven Efferveszenz — zu einem Ganzen verschmelzen , d. h. der Gesang erschafft einen kollektiven Körper. Zum anderen materialisiert sich in dem kollektiven Körper die eingeschriebene Erinnerung an die Middle Passage. Das Meer, der Ort, an dem die Zeremonie stattfindet, ist zugleich der lieu de mémoire der Verschleppung, so dass auf diese Weise Tod, 383 Meer, Erinnerung aber auch Vergemeinschaftung und Widerstand eng miteinander verschlungen sind. Im Gesang, der die Beisetzung von Frantz Jacob begleitet, wird an das kulturelle Gedächtnis und kollektive, spirituelle Praktiken angeknüpft. Das Motiv des Gesangs, als Symbol und Praxis der Vergemeinschaftung (vgl. Britton 2010: 19), stellt eine weitere Parallele zu Gouverneurs de la Rosée dar. Während Roumain sich jedoch vor allem auf das Erbe des konbit, einer kollektiven Arbeitsform, die häufig von Gesang begleitet wird, bezieht, hebt Trouillot stärker vodoueske und künstlerische Elemente hervor. Damit knüpft er an eine lange afrokaribische Tradition der Subversion und des Widerstandes an, die Eingang in die populäre, 296 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="297"?> 384 Der in dem Roman verarbeitete populäre chante chwal ist ein expliziter Verweis auf den vodou, denn chwal (cheval) bezeichnet eben jenen vodouisant, welcher durch den entsprechenden lwa besessen wird (vgl. Hebblethwaite 2011: 3). kreyòle Kultur Haitis fand (vgl. Alexis 1956: 13 f.) und deren Lieder zugleich eng mit den Zeremonien des vodou verknüpft sind: 384 Solène danse. Au milieu du cercle, elle tourne sur elle-même […] Et dans ce corps qui danse et qui chante, toute l’énergie de la révolte, toute la rudesse et toute l’élégance d’un corps, d’une voix, d’une vie qui réclament leur droit au plain-chant. Une voix, un corps pour dire honneur à la vie (Trouillot 2011 : 166). Solènes Körper visualisiert das widerständige Potential, welches in der Musik und dem Tanz liegen und welches auch dem vodou eingeschrieben ist. Der festliche Abschied von Frantz Jacob stellt das Finale des Romans dar, denn an dem Abend werden das Gemälde La belle amour humaine — und damit bis zu einem gewissen Grade auch die Todesumstände von Montès und Pierre — enthüllt und Anaïse erfährt ihre Aufnahme in das Gemeinwesen Anseà-Foleurs, welche symbolisch durch ihre ‚Integration‘ in das Bild und den gemeinsamen Gesang repräsentiert wird: Solène lui demande de chanter quelque chose. Sans s’excuser, parce qu’on n’a pas à s’excuser de ne pas être pareille aux autres, elle chante une chanson à elle, un vieil air de Dinah Washington. Et peu importe s’ils ne comprennent pas la langue, elle aura mis sa part de voix. Il faut mettre sa part de voix, c’est une des lois proposées par Justin […] A quel chant donner sa part de voix ? (Trouillot 2011: 167). In dem Gesang zeigt sich hier die Offenheit des Zusammenlebens in Anse-à-Fo‐ leur, welches nicht durch identitäre Einhegungen begrenzt ist, sondern Andere und Fremde wie Anaïse oder den enquêteur aufzunehmen und zu integrieren. Damit ist der Gesang nicht nur Ausdruck und Mittel der Vergemeinschaftung, er steht auch stellvertretend für ein geteiltes Gut und für die gelingende Konvivenz. Über die Gesamtheit seines Romans entwirft Trouillot so den ländlichen Raum als utopische Gegenwelt, welche gleichermaßen afrodeszendente, bossale Elemente wie kontraktualistische und okzidentale Ansätze zugunsten eines Gemeinwohls zu integrieren vermag. In dieser radikal humanistischen Vision werden Kunstformen ebenso zum Medium der Erkenntnis und des Widerstands wie Dialog und philosophische Reflexionen. Dabei werden regionale und globale Machtverhältnisse zwar eindeutig benannt und angegriffen, zugleich jedoch die Individuen nicht auf ihre Herkunft und ihre gesellschaftliche Position beschränkt. Stattdessen weist Trouillot dezent in Richtung eines transnatio‐ nalen, solidarischen Humanismus, welcher identitäre und individualistische 4.4 Lyonel Trouillot: La belle amour humaine 297 <?page no="298"?> Einschließungen aufzubrechen und so erneut Hoffnungen auf eine andere Zukunft zu wecken vermag. 298 4 Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz <?page no="299"?> 385 Die Aufklärung nimmt hier nicht nur deshalb die Position einer Vergleichsperiode ein, weil ihre Ideen auch heute noch prägend für viele politische Diskurse und Konzepte sind, sondern vor allem, da mit dem Transatlantischen Sklav: innenhandel auch Kon‐ zepte und Ideen zwischen den Kolonien und Frankreich zirkulierten, die die jeweiligen Gesellschaften veränderten, wie sich in der Haitianischen Revolution ebenso zeigte wie in der Französischen Revolution. Zugleich ist in Haiti ab 1986 ein verstärkter Bezug auf Konzepte wie citoyenneté, contrat social oder auch Humanismus zu verzeichnen, der eine Einbeziehung der Aufklärung ebenfalls nahelegt. In der Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung werden diese Überlegungen ausführlicher dargelegt. 5 Fazit Zwei Wochen nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïses im Juli 2021 spricht die Schriftstellerin Yanick Lahens in einem Artikel in der französischen Tageszeitung Le Monde von der Jugend Haitis, „die danach verlangt, endlich eine Gemeinschaft zu bilden und citoyens zu werden“ (vgl. Lahens 2021). Dieses Zitat unterstreicht die seit 1986 konstante Dringlichkeit der in dieser Studie behandelten Thematiken der Vergemeinschaftung und des Zusammenlebens. Wie divers konviviale Entwürfe in der Literatur der Post-Diktaturzeit sind, haben die Romane Passages (1991), Kasalé und L’île du bout des rêves (beide 2003) sowie La belle amour humaine (2011) aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, wie variantenreich sich die literarischen Texte sowohl zum Diskursfeld Aufklärung bzw. den herausgearbeiteten Schlüsselkonzepten citoyenneté und contrat social, Freiheit, Humanismus und Kosmopolitismus, als auch zu der haitianischen (Literatur-)Geschichte positionieren. Am Anfang dieser Studie stand das Interesse an dem konvivialen Potential der haitianischen Literatur seit 1986. Erstens wurde danach gefragt, welche Bilder der Vergemeinschaftung und Entwürfe von Zusammenleben in den haitiani‐ schen frankophonen Romanen ab 1986 verhandelt werden und auf welche Weise diese die Übergangsphase nach der Diktatur reflektieren; zweitens, inwiefern die Texte dabei Konzepte bzw. Denktraditionen der Französischen Aufklärung aufgreifen 385 und drittens, welche Antworten auf aktuelle Herausforderungen in der haitianischen Gesellschaft, aber auch welche Entwürfe für ein globalisiertes Zusammenleben in einer post-kolonialen Gegenwart sich im literarischen Raum finden lassen? Hinter diesen Fragen steht die These, dass die in den Romanen verhandelten Vergemeinschaftungen und Entwürfe des Zusammenlebens die Rolle des Indi‐ viduums auf eine Weise verhandeln, die einem bürgerlichen bzw. liberalistischen <?page no="300"?> Individualismus westlicher Traditionen widerspricht. Dabei jedoch, so der zweite Teil der These, verfallen diese alternativen Entwürfe keinesfalls einem starren Kommunitarismus und abgeschlossenen, kollektiven Gebilde, sondern bringen innovative Formen hervor, die Vernetzung, Interdependenzen und Kollektivität privilegieren und so der post-kolonialen Vergangenheit, der Prä‐ senz unterschiedlicher kultureller Einflüsse, aber auch der starken Verbreitung kollektiver Lebensformen in Haiti, Rechnung tragen. Die vorangegangenen close-readings der Romane haben in dieser Hinsicht bereits Antworten geliefert und diese These weitgehend bestätigt. Im Folgenden sollen nun die Ergebnisse der Analysen zunächst noch einmal kondensiert aufgegriffen und entlang der Leitfragen zueinander in Bezug gesetzt werden. Hierbei werden Parallelen und Differenzen zwischen den einzelnen Texten herausgestellt, bevor abschließend zu den daraus abzuleitenden lokalen und globalen Perspektiven übergegangen wird. 5.1 Topografien des Zusammenlebens Die vier Romane erscheinen mit unterschiedlicher zeitlicher Distanz zu 1986 und setzen sich auf heterogene Weise mit den Herausforderungen und Problemen dieser Zeit auseinander. Die Diktatur und ihr Nachwirken nehmen in den Romanen, mit Ausnahme von L’île du bout des rêves, eine gewichtige Rolle ein. Ein häufig wiederkehrender Ausgangspunkt für Vergemeinschaftung in den Romanen sind der ländliche Raum und dörfliche Strukturen. Die lakous Port-à-l’Ecu (Passages), Kasalé und Anse-à-Foleur (La belle amour humaine) sind Beispiele ruraler Kohabitationen, in denen sich biologische und wahl‐ verwandtschaftliche Beziehungen überlagern. Dieses Zusammenspiel bringt eine spezifische Form des Zusammenlebens basierend auf geteilten Interakti‐ onsräumen, einem häufig als Mnemotop sich manifestierenden, kollektiven Gedächtnis, sowie (religiösen) Ritualen und Festen hervor. Letztere sind in allen drei Romanen, insbesondere aber in Passages und Kasalé, stark von dem bossalen Erbe geprägt und zeichnen sich durch Präsenz des kreyòls (bspw. in Form von Gesängen), Ausübung des vodou und Dienst an den lwa, sowie afrodiasporische Referenzen aus. Entsprechend der weit zurückreichenden Spaltung zwischen pays en dehors und den urbanen Zentren findet die Aufrechterhaltung des Zusammenlebens unabhängig von staatlichen bzw. externen Strukturen statt, wenngleich in Kasalé und La belle amour humaine finanzielle Unterstützung durch migrierte ehemalige Dorfbewohner: innen erfolgt. Der Staat als Garant für Infrastruktur, Schutz und materielle Grundlagen ist nicht vorhanden, statt‐ 300 5 Fazit <?page no="301"?> dessen tritt er in Gestalt von Stellvertretern, als repressive Gefahr für die ländlichen Strukturen in Erscheinung und verstärkt so das ohnehin bereits prekäre und marginale Leben. Die Bedrohung des Zusammen- und Überlebens ist ein Topos, der bei Ollivier (Passages), Mars (Kasalé) und auch bei Trouillot (La belle amour humaine) auftaucht, wenn auch das Ausmaß und die Gestalt der Bedrohung differieren. In Passages geht die Gefahr von einer plötzlich einsetzenden Dürre und zunehmender Gewalt aus, der lakou Kasalé gerät durch den Bau einer Autobahnbrücke, die Übergriffe eines Tonton macoutes und das in Ungleichgewicht geratene Zusammenspiel zwischen spiritueller, menschlicher und natürlicher Welt in Bedrängnis. In La belle amour humaine bedroht die Präsenz zweier Repräsentanten der Diktatur die Harmonie in Anse-à-Foleur. Die Diktatur und damit die staatlichen Gewaltstrukturen tragen in allen drei Fällen zu der Bedrohung der konvivialen Strukturen im ruralen Raum bei. In diesem Szenario lassen sich nicht nur Elemente des roman paysan erkennen, auch Michel-Rolph Trouillots Studie Haiti, State against Nation - The origins and legacy of duvalierism (1990) erweist sich hinsichtlich des zeithistorischen Kontext als wichtige Referenz. Der Anthropologe Trouillot fordert nicht nur, die Spaltung zwischen städtischen Eliten und Landbevölkerung zu überwinden, sondern vor allem die Perspektiven und Bedürfnisse der ruralen Bevölkerung endlich anzuerkennen und in kommende politische Projekte zu integrieren. Vergleichbare Tendenzen lassen sich auch in den Romanen ablesen, die einer‐ seits das Spannungsverhältnis zwischen marginalisierten lakous und der von der Hauptstadt ausgehenden Gewalt nachzeichnen und andererseits tragfähige Ent‐ würfe für die Zukunft ebenfalls im ländlichen Raum ansiedeln. Die Reaktionen auf die Bedrohungsszenarien, denen alle drei lakous ausgesetzt sind und denen Port-à-l’Ecu, Kasalé und Anse-à-Foleur sehr unterschiedlich begegnen, geben dabei zusätzlich Aufschluss über mögliche zukünftige Vergemeinschaftungen und Entwürfe des gelingenden Zusammenlebens. So skizziert Mars in ihrem Roman ein Zusammenleben, welches die Natur ebenso mit einschließt wie die spirituelle Welt der Ahn: innen. In dieser stark weiblich geprägten Vergemeinschaftung, in der reproduktive, vergemeinschaf‐ tende Tätigkeiten allgegenwärtig sind, werden die Natur und die lwa dank der Rückkehr zu den tradierten bossalen Traditionen zu mächtigen Verbündeten im Kampf gegen die Zugriffe staatlicher, männlich codierter Gewalt. Zudem ver‐ spricht die Reaktualisierung tradierter und marginalisierter Lebensformen eine Alternative zu den Zumutungen der modernen Welt samt ihrem zerstörerischen Potential. Anstelle von Herrschaft und Dominanz privilegiert diese tendenziell posthumane Konvivenz das Erschaffen und Bewahren des Lebendigen und propagiert eine Philosophie, in der der Mensch nicht unangefochten Zentrum 5.1 Topografien des Zusammenlebens 301 <?page no="302"?> und Herrscher, sondern immer nur Teil eines größeren Ganzen ist, dessen Gesetzen er unterworfen bleibt. Lyonel Trouillot wählt mit La belle amour humaine einen anderen Fokus, wenngleich auch hier religiöse Rituale und das Erbe des vodou, insbesondere in Form von Gesängen, aufgegriffen werden. So legt er die Schwerpunkte auf Kunst als transformative, widerständige Kraft, auf einen radikalen Huma‐ nismus in der Tradition von Jacques Stephen Alexis und eine Philosophie des Zusammenlebens, die Kollektivität und Dialogizität privilegiert. Obwohl die konviviale Philosophie des Dorfes über Sprichwörter und populäre Lieder stark an eine orale, kreyòle Kultur anknüpft, integriert sie dabei zugleich auch schriftkulturelle Elemente wie sich z. B. in dem Kodex zeigt, in dem die Regeln für ein glückliches und harmonischen Zusammenleben festgehalten werden. Trouillot inszeniert eine kollektive Widerständigkeit, die zwischen réalisme merveilleux und Humanismus changiert, afrodeszendente Elemente mit europäischen Traditionen fusioniert und sich dabei trotzdem eurozentrischen Vereinnahmungen verweigert. Beiden lakous, Kasalé und Anse-à-Foleur gelingt es letztlich, den Angriffen zu trotzen und, wenn auch weiterhin unter prekären Bedingungen, zu einer friedlichen Konvivenz zurückzukehren. Demgegenüber entscheiden sich die Bewohner: innen von Port-à-l’Ecu in Passages, das Land zu verlassen und in Nordamerika ein neues Leben zu beginnen. Flucht bleibt als einzige Möglichkeit, da weder Staat, Religion noch Natur oder Widerständigkeit, Aussicht auf Befreiung bieten. Doch der Versuch der Armut und der Gewalt dauerhaft zu entkommen, scheitert und die zuvor bestehende Vergemeinschaftung löst sich durch Tod und Migration auf. Passages, der 1991 erscheint und sich den letzten Monaten der Duvalier- Diktatur widmet, vermittelt wenig Hoffnung auf gesellschaftlichen und politischen Wandel für Haiti. Anstelle einer tragenden Vision des Zusammenlebens oder eines Entwurfs zur Vergemeinschaftung steht am Ende des Romans ein literarisches Dokument, welches das Unglück der Figuren bezeugt und so marginale Existenzen sichtbar (und lesbar) macht. Ollivier erschafft durch literarische Verfahrensweisen im Sinne des Bezeugens, Betrauerns, Berichtens — von Ollivier als relater (vgl. Ollivier 2002) bezeichnet — und des Verbindens, Verknüpfens und Vernetzens — bei ihm relier genannt — ein literarisches Netz, dessen Beschaffenheit trotz der Abwesenheit bzw. des Verlustes von Kollektivität auf der Handlungsebene, Beziehungen zwischen den Figuren hervorbringt. Durch rekurrierende Motive, wie die oiseaux migra‐ teurs, Doppelungen von Figuren- und Figurenkonstellationen, das Einflechten unterschiedlichster Fluchtgeschichten und das Spiel mit Fernsehaufnahmen und Radiobeiträgen setzt Ollivier vergangene und gegenwärtige Migrationsbe‐ 302 5 Fazit <?page no="303"?> wegungen zueinander in Beziehung. Obgleich dieses textuelle Gewebe keine Zukunftsperspektive auf der Ebene der Figuren hervorbringt, bietet es auf der Rezeptionsebene die Möglichkeit, Verbindungen und Bezüge zwischen unterschiedlichen Geschichten und Figuren herzustellen und sie damit eben nicht der Vereinzelung zu überlassen. Damit kann Passages als ein Text gelesen werden, der verwirklicht, was Richard Rorty als eine Form der (literarischen) Solidarität versteht (vgl. Rorty 2012; Wiefarn 2013). Jene ermöglicht aus den Dialogen zwischen Text, Autor und Leser: innen Beziehungen zur Welt zu etablieren, aus denen neue soziale Formen entstehen können. In diesem Sinne realisiert sich Vergemeinschaftung bei Passages statt im Text durch den Text. Ungeachtet dieses Potentials ist zu beobachten, dass in Passages ebenso wie in L’île du bout des rêves abstraktere Formen der Vergemeinschaftung und mit ihnen Narrative und Imaginationen stärker in das Zentrum rücken. Diese Beobachtung geht auf den Umstand zurück, dass in beiden Romanen — anders als Kasalé und La belle amour humaine, die rurale, in Haiti lokalisierte Vergemeinschaftungen beschreiben — diese Kohabitationen im Zuge von Mi‐ grations- und Reisebewegungen aufgegeben werden. Somit treffen Figuren aufeinander, die weder kulturelle Praktiken und Rituale noch einen gemein‐ samen Lebensraum teilen, und wenn überhaupt, dann nur für eine begrenzte Zeit miteinander in Interaktion treten, wodurch die Bedingungen für eine ko‐ habituelle Vergemeinschaftung nicht mehr erfüllt sind. Daraus folgt, dass diese ephemeren Formen noch stärker auf Imaginationen und Narrative angewiesen sind, da diese in der Lage sind Gemeinsamkeiten zu diskursivieren und so Identifikation und Bindung herzustellen, wie z.B: . der in L’île du bout des rêves verhandelte Anti-Amerikanismus und Anti-imperialismus illustriert. In diesem Aspekt zeigt sich die, in dem Kapitel Mechanismen der Exklusion: Grenzen und Differenzen bereits ausgeführte, integrative und vergemeinschaftende Wirkung von Feindbildern und äußerer Bedrohung bzw. Bedrohungsszenarien, wie sie auch in den anderen drei Romanen in mehr oder weniger expliziter Form präsent sind und die z.T. etablierte Konfliktlinien wie z. B. vodou vs. Christentum (Kasalé) oder Stadtvs. Landbevölkerung (La belle amour humaine) aufgreifen. Parallel dazu jedoch werden, insbesondere bei Dalembert und Ollivier, durch intertextuelle Verweise Bezüge zu Kolonial- und Widerstandsgeschichte, zu aktuellen Migrations- und Unabhängigkeitsbewegungen, aber auch zu anderen Regionen der Welt wie z. B. zum Mittelmeerraum hergestellt und auf diese Weise unterschiedliche kollektive Erfahrungen und Erinnerungen miteinander vernetzt. Durch diese Verflechtungen erscheinen die erzählten Begebenheiten und ihre Figuren nicht mehr als geschichtslose, singuläre Ereignisse und Individuen, sondern werden eingeschrieben in einen globalen Zusammenhang. 5.1 Topografien des Zusammenlebens 303 <?page no="304"?> 386 In diesem Vorgehen lassen sich auch Parallelen zu anderen Romanen Dalemberts wie z. B. Avant que les ombres s’effacent (2017), in dem Haiti zum Zufluchtsort für verfolgte Juden und Jüdinnen wird, erkennen. Die Effekte dieser Verflechtungen können differieren. In Passages und L’île du bout des rêves führen sie dazu, Haiti in das Weltgeschehen einzubinden und dabei historisch und topografisch als bedeutsam zu situieren. 386 Damit inszenieren Dalembert und Ollivier Haiti jenseits einer vermeintlichen insulären Isolation als selbstverständlichen Teil dieser Welt. Entgegen Narrativen, die Haiti repe‐ titiv als exotisch-monströsen Sonder- und Unfall außerhalb jedweder Vernunft oder jedes Zusammenhangs platzieren, zeigen die beiden Romane sowohl die (historische) Bedeutsamkeit als auch die globale Vernetztheit der Karibikinsel auf. In diesem Kontext fungiert Migration als ein wichtiger beziehungsstiftender und verbindender Faktor. Dalemberts L’île du bout des rêves unterscheidet sich in mehreren Punkten erheblich von den anderen drei Romanen. Zu nennen sind hier vor allem die Abwesenheit einer tradierten dörflichen Kohabitation und die geringere Prä‐ senz von Figuren haitianischer Herkunft. Erheblich optimistischer als Ollivier setzt Dalembert Migrations- und Reiseprozesse in Szene und arbeitet dabei stark mit Intertextualität, mit mobilen Figuren sowie mit unterschiedlichen Orten. In diesem Zusammenhang thematisiert L’île du bout des rêves, expliziter als die anderen Romane, das Verhältnis zwischen liberalem Individualismus und mili‐ tantem Kommunitarismus. Vergemeinschaftung, in dem Roman wiederholter und ausdrücklicher Gegenstand von Kritik, erfolgt bei Dalembert nur vorläufig d. h. in einer ephemeren Form, die nicht auf vorgängigen Identitätskategorien oder dauerhafter Kohabitation, sondern auf einer gemeinsamen anti-imperia‐ listischen Überzeugung — und damit auf einem geteilten Feindbild — basiert und eine kurzzeitige Kooperation ermöglicht. Dieser Zusammenschluss ist orts- und zeitgebunden und seine ‚Mitglieder‘ zeichnen sich durch die Diversität ihrer sozialen Positionen und Lebenswege bei einem gleichzeitigen gemeinsamen Ziel aus, worin sich Parallelen zu der von Hardt und Negri theoretisierten Multitude erkennen lassen. Neben dem kosmopolitischen, liberalen Individua‐ lismus des namenlosen Protagonisten und dem militanten Kommunitarismus JMFs schafft Dalembert mit dieser Figuration eine dritte Option, die in einem solidarischen, temporären Zusammenschluss besteht, der keinem Identitäts‐ denken verpflichtet ist und der seine Voraussetzungen in der hohen Mobilität der Figuren hat. Stellvertretend für die Karibik und Haiti wird die Île de la Tortue in diesem Kontext zum Treff- und Kulminationspunkt der Reise- und Widerstandsbewegungen, die von dort aus in die Welt ausstrahlen. Dabei wird die Haiti als gegenwärtiger Schauplatz und auch als ein Ort repräsentiert, an dem 304 5 Fazit <?page no="305"?> sich historische, literarische und cineastische Bilder und Motive, changierend zwischen Stabilisierung und Destabilisierung von Herrschaftsverhältnissen, überlagern. Indem Dalembert mit dem Genre der Abenteuerliteratur spielt und den Text mit Versatzstücken aus der populären Musik und aus unterschiedli‐ chen Sprachen anreichert, verknüpft er heterogene kulturelle und sprachliche Räume miteinander und verdeutlicht die Beschränktheit nationaler, sprachli‐ cher und kultureller Grenzziehungen. Die Porosität ebenjener Grenzen wird insbesondere auch durch eine Vielzahl promiskuitiver Frauenfiguren illustriert, die in der Auslebung sexueller Freiheit rassistische und andere dominante Grenzziehungen unterlaufen. Damit spielen grenzüberschreitende Bewegungen verschiedenster Art und Form, ähnlich wie schon in Olliviers Passages, eine wichtige Rolle für den Handlungsverlauf und die Figurenkonzeptionen in L’île du bout des rêves und beide Romane stellen so die Omnipräsenz und Universalität von Migration heraus. Obwohl Mars und Trouillot Migration nicht in das Zentrum ihrer Romane stellen, so bleibt auch in ihren Texten diese Thematik nicht ausgespart d. h. migrierende bzw. migrierte Figuren sind in allen vier Texten präsent. Sie treten u. a. als Rückkehrer: innen auf, wie Rodrigue in Kasalé oder der revenant Célhomme — aber auch in gewisser Weise Normand und Amédée — in Passages. Damit wird Migration weniger als ein endgültiger, abgeschlossener Prozess, sondern vielmehr als wiederholte Bewegung inszeniert. Während der revenant ein Symbol gescheiterter bzw. traumatischer Migration ist und Unglück in das Dorf bringt, findet Rodrigue erst mit seiner Rückkehr nach Haiti und damit zu seinen spirituellen Wurzeln Frieden und privates Glück. Da auch Antoinette ihre menschliche Existenz erst mit dem Wiederauftauchen Rodrigues in Kasalé hinter sich lassen kann, erscheint dessen Rückkehr als eine notwendige Bedin‐ gung für die spirituelle Aussöhnung. Durch die Gestalt des Rückkehrers Rodrigue, aber auch die Figur der ‚Fremden‘ Anaïse, die Haiti auf den Spuren ihres Vaters besucht, wird ein externer Blick auf Haiti bzw. die dörflichen Strukturen geworfen. In Kasalé fokussiert dieser Blick vor allem die Stimmung und die Lebensbedingungen unter Duvalier. Auch Anaïse kommentiert die Armut der Bewohner: innen von Anse-à-Foleur. An diese Beobachtungen schließt sich jedoch in ihrem Dialog mit Thomas eine Reflexion über das Zusammenleben in dem haitianischen lakou einerseits und die ungleichen Verhältnisse zwischen Globalem Norden und Globalem Süden andererseits an. Durch den Austausch mit Thomas und den Bewohner: innen Anse-à-Foleurs erhält Anaïse wichtige Impulse, die ihr eine kritische Perspektive auf den Individualismus und die Marktlogik ihrer Herkunftsgesellschaft eröffnen und der jungen Frau stattdessen eine neue, 5.1 Topografien des Zusammenlebens 305 <?page no="306"?> kollektive und solidarische Konzeption des Menschseins und des Zusammenle‐ bens als Alternative zu bestehenden Ungleichheits- und Dominanzverhältnisse aufzeigen. Im Kontakt zwischen Anaïse, Thomas und den Bewohner: innen Anse-à-Foleurs wird eine weitgehend egalitäre Begegnung und ein Nachdenken über Formen des Zusammenlebens modelliert, in der haitianische Perspektiven auf das Land relevant sind und gehört werden und reduktionistische Stereotype und Exotisierungen klar benannt werden. Beide Figuren, Anaïse und Rodrigue — ebenso wie der enquêteur in La belle amour humaine — finden in Haiti bzw. den jeweiligen lakous Antworten auf essentielle Fragen und ihren Platz in dem ruralen Zusammenleben. Obwohl materielle und politische Missstände durch diese Figuren deutlich benannt werden, treten die Bewohner: innen von Kasalé und Anse-à- Foleur nicht als moralisch, sozial oder intellektuell Unterlegene auf. Vielmehr zeichnen sich die Bewohner: innen der lakous durch ihr konviviales Wissen aus, welches in anderen Teilen der Welt nicht (mehr) zugänglich ist. In diesem Sinne erfolgt die Erneuerung des Zusammenlebens nicht in den vermeintlichen Zentren, sondern entsteht in den randständigen, vernachlässigten ruralen Zonen. 5.2 Von Haiti aus denken: Rekonfigurierte Aufklärung Die in den Romanen entworfenen Formen von Vergemeinschaftung stellen Bezüge zu dem kulturellen afrodeszendenten Erbe her, parallel dazu lässt sich in den Texten jedoch auch eine Auseinandersetzung mit zentralen Konzepten der Französischen Aufklärung nachweisen. Alle Texte diskutieren dabei in expliziter (L’île du bout des rêves) oder weniger expliziter Weise (Kasalé) das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, ohne jedoch jemals einem un‐ eingeschränkten liberalen Individualismus den Vorrang zu geben. Anstelle einer klaren Affirmation lässt sich somit eher von einer Relektüre und Reaktualisie‐ rung von citoyenneté/ contrat social, Freiheit, Humanismus und Kosmopolitismus sprechen, in denen Vergemeinschaftungen und Visionen des Zusammenlebens Prämissen der Staatlichkeit und des liberalen Individualismus überschreiten. Insbesondere Fragen der citoyenneté werden in der Zeit nach 1986 virulent. Die Tatsache, dass erst mit der Verfassung von 1987 die Trennung zwischen der Land- und Stadtbevölkerung aufgehoben wurde und erstere damit endlich vollständige Bürger: innenrechte erlangte, ist hier entscheidend. In Passages und Kasalé, die beide von der Zeit der Diktatur handeln, werden die Implikationen dieses Ausschlusses ersichtlich, doch auch in La belle amour humaine, ein Text, der auch von der Zeit nach Duvalier erzählt, lässt sich kein egalitäres 306 5 Fazit <?page no="307"?> Verhältnis zwischen urbanem und ländlichem Raum erkennen. Der Erfolg einer inklusiven und egalitären citoyenneté scheint somit in den Romanen auch nach 1986 zweifelhaft. Entsprechend der Opposition zwischen Stadt und Land ist das politische Gemeinwesen in keinem der vier Romane auf der institutionell-staatlichen Ebene zu verordnen, vielmehr finden die Aushandlungen des bien commun und der volonté générale auf der Ebene der konkreten Kohabitationen Anse-à-Foleur, Port-à-l’Ecu und Kasalé dissoziert von dem offiziellen staatlichen Handeln statt. Gleichwohl lässt sich von einem contrat social im weiteren Sinne bzw. einer Kodifizierung des Zusammenlebens nur bei Mars und Trouillot sprechen. Im ersten Fall ist eine Art Pakt zwischen den Bewohner: innen Kasalés, der Natur und den Ahn: innen zu erahnen, der vor allem in der Achtung und der Fortführung der vodou-Traditionen besteht und der durch die Wiedererrichtung des kay-misté und der Weitergabe Antoinettes Wissens an Sophonie erneuert wird. Der vodou wird als ein Glaubens- und Wissenssystem illustriert, das eine Form des Zusammenschlusses und eine Ethik des Zusammenlebens zu stiften vermag und eine säkulare Konzeption des Politischen ersetzt. Diese Konfiguration tritt zum einen als eine posthumanistische auf und überschreitet so Konzeptionen des atomistischen menschlichen Subjekts, zum anderen zeigt sich in ihr die Übermacht des Unsichtbaren und Spirituellen, ohne die in Kasalé kein gelingendes Zusammenleben möglich ist. In seiner explizit nicht andro- oder anthroprozentrischen Ausformung, der nicht vorhandenen Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre — die insbesondere für Rousseaus Geschlechterordnung elementar ist — der Abwesenheit von patriarchalen Be‐ sitzordnungen und von Vorstellungen autonomer Einzelsubjekte, grenzt sich Mars‘ Text deutlich von einer citoyenneté im Rousseau’schen Sinne ab. Eine stärker weltliche Ausrichtung zeigt sich hingegen bei Lyonel Trouillot. Exemplarisch entwirft der Autor mit La belle amour humaine eine zu konstru‐ ierende citoyenneté, die durch gegenseitige Verantwortung gekennzeichnet ist, die dem Wohlergehen und Glück aller als bien commun eine hervorgehobene Bedeutung einräumt und damit den in Trouillots Essay Haïti, (Re)penser la citoyenneté kritisierten individualités monstrueuses (vgl. Trouillot 2017) eine Absage erteilt. Mit dem Code Justins erfolgt eine Verschriftlichung der Normen des Zusammenlebens, die zwar, wie bei Rousseau, keine religiöse Begründung sucht, sich aber trotzdem in ihren Grundannahmen und Ausformungen eklatant von dessen contrat social unterscheidet. Als grundlegend für die condition hu‐ maine wird hier nicht das Individuum, sondern das Kollektiv bzw. Kollektivität angenommen. Folglich wird Vorstellungen freier, autonomer Individualität als Naturzustand konsequent widersprochen. Hinzu kommt, dass es sich bei den 5.2 Von Haiti aus denken: Rekonfigurierte Aufklärung 307 <?page no="308"?> Bewohner: innen Anse-à-Foleurs keineswegs um citoyen: nes im Sinne eines bürgerlichen, männlichen Idealtypus‘ handelt, sondern um die prekär lebenden Bewohner: innen eines Küstendorfes im Globalen Süden. Ein wichtiger Aspekt von citoyenneté bei Trouillot, der sich in seinem Roman ebenso wie in dem Essay (Re)penser la citoyenneté findet, ist die reziproke Anerkennung und die Gleichheit der zum Gemeinwesen gehörenden, welche er der Kohabitation zugrunde legt und die sich zugleich nicht vor den Anderen und Fremden verschließt. Hinweise auf eine solche Offenheit finden sich La belle amour humaine in der Aufnahme des enquêteurs und Anaïse’. Beide Begebenheiten deuten darauf hin, dass die Vergemeinschaftung von Anse-à-Foleur Differenz und Alterität bis zu einem gewissen Grade auszuhalten bzw. zu integrieren vermag und damit in Ansätzen realisiert, was Trouillot bereits in seinem Essay formulierte. Zugleich jedoch wird anhand der Opponenten Montès und Pierre ersichtlich, dass diese Integrationsfähigkeit nicht unbegrenzt ist und die Vergemeinschaftung wehrhaft bleibt. Im Hinblick auf Repräsentationen von citoyenneté und contrat social unter‐ scheiden sich Passages und L’île du bout des rêves von den beiden anderen Texten. Dieser Umstand lässt sich vor allem auf die verstärkte Inszenierung von Mobilität, Migration und damit einhergehend die Abwesenheit langfristiger, lokalisierbarer Kohabitationen und Vergemeinschaftungen bei Dalembert und Ollivier zurückführen. So erscheint citoyenneté bei Ollivier als schlichte (kana‐ dische) Staatsangehörigkeit, die in einem Spannungsverhältnis zu der über kulturelle Praktiken und Herkunft vermittelten Identifikation als Haitianer: in, steht. Nicht nur fallen Nationalität und citoyenneté an dieser Stelle ausein‐ ander, auch scheint letztere kaum noch vergemeinschaftendes und politisches Potential zu entfalten. Diese Entwicklung wird anhand der Figur Normands deutlich, der im kanadischen Exil mit kanadischem Pass lebt und dessen gesellschaftliches Engagement und politische Implikation zugleich weiterhin im Kontext der haitianischen Diaspora stattfindet und damit immer auf Haiti ausgerichtet bleibt. In diesem Zusammenhang zeigt citoyenneté sich verstärkt in exterritorialen Formen, die auf diasporischen Imaginationen gründen. Haiti als Nation ist damit nicht länger auf ein konkretes Territorium festgelegt, sondern wird durch mediale Bilder, Migrationen und kulturelle Praktiken in die Welt transportiert und aufgespalten. Auf diese Weise wird der Sinn und die Legitimität von national-territorialen Grenzziehungen infrage gestellt. Es zeigt sich allerdings sehr deutlich, dass Konzeptionen von citoyenneté, insbesondere auch in der Dimension der Staatsbürger: innenschaft, für die Gruppe um Amédée weder tragfähig noch erreichbar ist, da sie als Geflüchtete kein verlässliches Territorium für sich beanspruchen können. 308 5 Fazit <?page no="309"?> Über den kosmopolitischen Protagonisten verweist auch Dalembert in seinem Roman auf die Beschränktheit territorialer Grenzziehungen, zugleich zeigt er jedoch auch anhand der Gruppe um JMF die fortwährende Bindungs‐ kraft nationaler Erzählungen auf. So reklamiert der Protagonist zwar gewisser‐ maßen eine citoyenneté mondiale für sich, die kein Interesse an der Bindung an einen bestimmten Ort aufweist, zugleich werden aber in den Kämpfen der Gruppe um JMF sowohl das Identifikationspotential einer imaginierten nationalen Gemeinschaft, als auch die Wirkmächtigkeit territoritaler Grenz‐ ziehungen und die Exklusivität einer citoyenneté mondiale deutlich, deren Freiheitsversprechen und Partizipationspostulat sich nur für wenige Figuren einlöst. Während, mit Ausnahme von L’île du bout des rêves individuellen Freiheits‐ begriffen in den Texten wenig Aufmerksamkeit bzw. Zustimmung geschenkt wird, finden sich Vorstellungen kollektiver Freiheit in den Texten u. a. über die häufigen Bezugnahmen auf Haitis revolutionäre Vergangenheit, deutlicher repräsentiert. Hierbei scheinen Aspekte von Freiheit als Abwesenheit von phy‐ sischem Zwang und politischer Gewalt — so bei Trouillot und Mars, wo sie ihren deutlichsten Ausdruck in der Behauptung eigenständiger konvivialer Formen jenseits der Diktatur findet —, aber vor allem auch als Bewegungsfreiheit, wie bei Dalembert und Ollivier thematisiert, relevant. Damit wird negativer Freiheit, insbesondere in ihrer kollektiven Reichweite, eine weitaus größere Bedeutung zuerkannt, als Formen der Einflussnahme und damit der positiven Freiheit. Bewegungsfreiheit findet sich vornehmlich in Passages thematisiert, wo die Bewohner: innen Port-à-l’Ecus sich entscheiden, ihren lakou zu verlassen, um der wachsenden Gewalt und Armut zu entgehen. Bei diesem Entschluss handelt es sich auf der einen Seite zwar um eine Reaktion auf eine ausweglose Situation, auf der anderen Seite wird jedoch eine kollektive Entscheidung gefällt, in der sich die agency der Figuren ausdrückt. Ganz in diesem Sinne wird die Entscheidung zur Flucht von den Bewohner: innen als eine Verweigerung wieder Sklav: innen zu werden, präsentiert. Freiheit formiert sich hier gleichermaßen als ein kollektiver Zustand, der durch die Abwesenheit von Sklaverei und die Sicherung der eigenen Lebensbedingungen gekennzeichnet ist, und als die Möglichkeit Entscheidungen für den Erhalt dieses Zustandes zu treffen bzw. den eigenen Herkunftsort zu verlassen. Diese Freiheit gleicht dabei keinesfalls einer bürgerlichen Freiheit, wie der, für den Großteil der Passagiere tödliche, Ausgang der Überfahrt unmissverständlich demonstriert. Dem Tode buchstäb‐ lich abgerungen erfährt der revolutionären Ausspruch „Liberté ou la mort“ bzw. „Libète ou lamò“ damit eine neue Wendung. 5.2 Von Haiti aus denken: Rekonfigurierte Aufklärung 309 <?page no="310"?> Im Kontrast zu diesem tragischen Ausgang finden wir bei Dalembert einen Protagonisten vor, dessen Begriff von Freiheit ausschließlich auf das Individuum angewendet wird und in der konsequenten Ablehnung jeglicher Form von Ver‐ bindlichkeit, Verantwortung oder Einschränkung besteht. Diese radikale Inter‐ pretation von Freiheit als individuelles Gut findet in dem Roman ihren Ausdruck in dem permanenten Wechsel von Aufenthaltsorten und Sexualpartner: innen. Im Weltbild des namenlosen Ich-Erzählers bestätigt sich, trotz dessen Ableh‐ nung bürgerlicher Institutionen (z. B. Nation oder Ehe) und der materiellen Unsicherheit in welcher der Protagonist lebt, eine liberale Idealvorstellung von männlich codierter Autonomie und Freiheit, in denen Frauen und mensch‐ liche Beziehungen zum Synonym für Unfreiheit geraten. In der Konfrontation zwischen diesem vagabonde indvidualiste und der Figur des JMF kontrastiert Dalembert liberalen Individualismus mit einem kommunitaristischen Denken, welches das individuelle Opfer für das Kollektiv voraussetzt. Auf diese Weise werden zwei Konzeptionen von Freiheit verhandelt: Eine, die danach strebt das Individuum jeglicher Verpflichtung zu entledigen und eine, die Freiheit, als kollektive Selbstbestimmung und damit nur in vergemeinschafteter Form denkt. Der Roman gibt jedoch keiner der beiden Formen den Vorrang und definiert damit auch die condition humaine nicht abschließend. Die Auseinandersetzung mit der condition humaine und humanistischen Ansätzen ist sowohl angesichts deren unheilvollen Verwobenheit mit kolonialen Diskursen, als auch aufgrund der Geschichte Haitis von besonderem Interesse und erfolgt in den Texten häufig als Rekonfiguration bzw. Aktualisierung. Ein Beispiel für eine solche Rekonfiguration bietet z. B. Olliviers Passages, dessen Figuren nahezu alle durch Flucht- und Migrationserfahrungen geprägt sind. Migrationen auf der Figurenebene, aber auch die motivische Gestaltung des Textes, führen nicht nur dazu, dass Flucht und Grenzüberschreitung in dem Roman allgegenwärtig sind, sie präsentieren diese auch als eine unaus‐ weichliche menschliche Erfahrung. Flucht und Migration sind in der Realität des Romans nicht länger eine Ausnahme, vielmehr stellen sie den Normalfall dar. Auf diese Weise inszeniert Passages den Menschen als Migrant: in und überschreibt die condition humaine in eine condition migratoire. Eine solche Welt steht im Widerspruch zu dem Ideal territorial und staatlich gebundener Vergemeinschaftung — und damit auch dem Ideal des citoyen — und der Zuschreibung eindimensionaler kollektiver Identitäten. Zugleich lässt Ollivier diese déracinements nicht in einem euphorischen Kosmopolitismus aufgehen, vielmehr verdeutlicht er anhand seiner Figuren, dass citoyenneté und Kosmo‐ politismus für einen Großteil von ihnen unerreichbar und damit wirkungslos bleiben. Jenseits schützender Staatlichkeit und der Illusion kosmopolitischer 310 5 Fazit <?page no="311"?> Freiheit tritt am Beispiel der Bevölkerung Port-à-l’Ecus die Vulnerabilität und Prekarität menschlichen Daseins deutlich hervor. Ollivier widerlegt so gewis‐ sermaßen die Erzählung vom weißen, bürgerlichen, männlichen und freien Subjekt als Inkarnation des Menschen und entwirft stattdessen ein neues Bild eines prekären, marginalisierten und mobilen Subjekts. Eine Erweiterung des klassischen Humanismus nimmt auch Mars in ihrem Roman vor, denn Kasalé bricht mit einer anthropozentrischen Perspektive auf die Welt. Weder auf der Handlungsnoch auf der narrativen Ebene verbleibt der Mensch als einzige Referenz, denn über die Personifikationen von Bäumen oder Wasser, die Aufnahme unsichtbarer Kräfte und Kreaturen in den Kreis der Akteur: innen und Erzählperspektiven vollzieht sich ein Erzählen, das den Humanismus in Richtung einer posthumanistischen Konvivenz überschreitet. Indem Grenzen zwischen Mensch, lwa/ Geistern und Natur aufweichen, verflüs‐ sigen sich auch Erkenntnisweisen und Formen der Wissensproduktion, die nun nicht länger nur auf faktischmaterielles Wissen beschränkt bleiben, sondern Traumzustände und den submarinen Raum selbstverständlich miteinbeziehen. In diesem Aufeinandertreffen widerspricht das von Mars entworfene Bild klassischen, aufklärerischen Paradigmen wie der Trennung zwischen Natur und Mensch, dem Ideal des autonomen, bürgerlichen (männlichen) Subjekts und einem säkularen Weltverständnis. Statt der Bezwingung des anderen werden Beziehungen der Interdependenz und Relationalität priorisiert, und damit andro- und anthropozentrischen Weltbeziehungen eine Absage erteilt. Anders als Mars und Ollivier bezieht sich Trouillot mit Jacques Stephen Ale‐ xis’ Essay La belle amour humaine explizit auf einen radikalen (marxistischen) Humanismus, doch auch bei ihm lässt sich eine Auseinandersetzung mit dem Humanismus nachweisen. Alexis‘ Aufsatz fungiert dabei als Schlüsseltext, mit dessen Zitat sich Trouillot in die Tradition engagierter haitianischer Literatur einschreibt und dessen Titel er zugleich als Maxime des Zusammenlebens in Anse-à-Foleur auserwählt. Das Prinzip der ‚Schönen Menschenliebe‘ weist dem Einzelnen einen Platz in der Welt bzw. der Konvivenz zu, unter der Bedingung, dass dieser bereit ist den Platz der Anderen zu respektieren, keinen Zwang auszuüben und sich in das Gemeinwesen einzufügen. Die menschliche Existenz wird somit als immanent kollektiv entworfen, ohne dabei den Einzelnen zu ne‐ gieren oder zu unterdrücken. Das einzelne Subjekt wird in diesem Zusammen‐ hang gerade nicht als autonom und losgelöst von anderen begriffen, sondern als Teil eines größeren Zusammenhang verstanden, den es zu schützen gilt. Es wird deutlich, dass dem Gemeinwesen in Anse-à-Foleur ein humanistischer Ansatz zugrunde liegt, der Widerständigkeit und Wehrhaftigkeit nicht ausschließt und nicht in identitärer Geschlossenheit mündet. 5.2 Von Haiti aus denken: Rekonfigurierte Aufklärung 311 <?page no="312"?> Auch L’île du bout des rêves verhandelt die condition humaine, entwickelt dabei jedoch weniger Alternativentwürfe. Eher wird danach gefragt, ob die menschliche Existenz in ihrer Essenz individuell oder kollektiv sei, eine Fragestellung, auf die der Roman keine abschließende Antwort formuliert. Dalemberts Figuren sind mehrheitlich Reisende und Migrierende aus unter‐ schiedlichen kulturellen Kontexten und mit disparaten Geschichten, die durch grenzüberschreitende Bewegungen miteinander in Beziehung treten. Auf der île de la Tortue treffen diese heterogen Figuren wie in einem Mikrokosmos auf‐ einander, konzentrieren so verschiedene sprachliche, kulturelle und historische Formen an einem Ort und illustrieren so eine kosmopolitische Ausrichtung. Gewissermaßen wird dadurch die Welt in ihrer Gesamtheit bewohnt und ter‐ ritoriale Grenzziehungen sowie nationale Identitäten werden permanent tran‐ szendiert. Trotzdem sind nationale Kategorien und Pässe keineswegs obsolet geworden, wie die puerto-ricanischen Autonomiebestrebungen und Fragen der Reisefreiheit verdeutlichen. Anders als bei Ollivier markiert Migration bei Dalembert nicht das Ende von Vergemeinschaftung, vielmehr stellt sie sich im Verlauf des Romans als Möglichkeitsraum für globalisierte, transnationale Solidaritäten und für neue kulturelle und soziale Formen heraus. Dieser, im wei‐ teren Sinne kosmopolitische, Entwurf bei Dalembert unterscheidet sich deutlich von einem bürgerlichen Kosmopolitismus, wobei ein wichtiger Unterschied in der materiellen Prekarität der meisten versammelten Figuren liegt. Einerseits bricht der Roman, vor allem in Gestalt seines Protagonisten, nicht mit indivi‐ dualistischen Implikationen und nationalen Einschränkungen der kosmopoliti‐ schen Idee. Andererseits jedoch werden Möglichkeiten grenzüberschreitender kooperativen Handlungen und die Welt als gemeinsamer Lebensraum, dessen kosmopolitisches Bewohnen möglich und als wünschenswert ist, skizziert. 5.3 In Erwartung einer Belle amour humaine Obwohl die Romane unterschiedliche Akzente setzen und sich nicht auf eine ein‐ zige Form der Vergemeinschaftung oder Vision des Zusammenlebens reduzieren lassen, bestätigt sich in der Zusammenschau aller vier Romane, dass keiner von ihnen vorbehaltlos einen radikalen Individualismus oder Vorstellungen einer autonomen menschlichen Existenz als ultima ratio gelten lässt. Stattdessen inszenieren die Romane in unterschiedlicher Intensität und Deutlichkeit Kollek‐ tivität, Interdependenz, Vulnerabilität und Vernetzung als Quintessenz mensch‐ lichen Daseins. Der These, dass die in den Texten verhandelten Vergemeinschaf‐ tungen und Entwürfe des Zusammenlebens, zum einen einem bürgerlichen bzw. 312 5 Fazit <?page no="313"?> 387 Es lässt sich wohl eine Präsenz von Konzepten der Aufklärung nachweisen, explizite intertextuelle Verweise auf Texte oder Akteur: innen der Aufklärung lassen sich jedoch nicht finden. liberalistischen Individualismus westlicher Traditionen widersprechen und zum anderen trotzdem nicht einem starren Kommunitarismus und abgeschlossenen, kollektiven Gebilden verfallen, kann somit eindeutig entsprochen werden. Es konnte dabei zugleich - im Anschluss an den zweiten Teil der Ausgangsthese - gezeigt werden, dass und wie die Texte, innovative soziale Formen hervor‐ bringen, die Vernetzung, Interdependenzen und Kollektivität privilegieren. Trotz der deutlich vorgebrachten Kritik am Individualismus und am liberalen Menschenbild, propagieren die Romane keineswegs einen absoluten Kommu‐ nitarismus oder geschlossene Vergemeinschaftungen. Essentialistische Zuord‐ nungen sind für die Texte somit in nur sehr geringem Maße von Belang. Statt sich aufgrund von Identitätskategorien oder Herkunft exklusiv dem Anderen gegenüber zu verschließen, weisen die Vergemeinschaftungen in Kasalé und in La belle amour humaine eine auffällige Offenheit bzw. Integrationsfähigkeit gegenüber den Fremden auf, wenngleich auch Konfliktlinien, Grenzziehungen und Exklusion weiterhin wirken. Im Anbetracht dessen bleibt die Bereitschaft zur Anpassung bzw. die Zustimmung zu dem konvivialen Vertrag bzw. der konvivialen Vision Voraussetzung für die Aufnahme der Fremden. Diese Tendenzen zeichnen sich auch in den narrativen Strategien ab, die bei Trouillot und Mars von Polyphonie und Dialogizität geprägt sind und bei Ollivier und Dalembert verschiedene narrative Schichten und Geschichten ver‐ einen. In den pluralen Erzähler: innenstimmen und Erzählperspektiven schlagen sich die unterschiedlichen, bereits ausführlich genannten, Entwürfe des Zusam‐ menlebens nieder. Neben der Verwendung polyphoner und multiperspektivischer Erzählweisen ist auch eine Präsenz intertextueller Verweise, festzustellen. 387 Durch diese Verfahren werden Kollektivität, Vernetzung und Interdependenz inszeniert, sowie gleichzeitig der Homogenität und Abgeschlossenheit einer Vergemein‐ schaftung widersprochen. Je stärker Migration und Bewegung konstitutiv für das Romangeschehen werden, desto weniger lassen sich, wie in L’île du bout des rêves, klare Grenzen zwischen dem Außen und dem Innen der Vergemeinschaftung ziehen. Parallel dazu verweisen fast alle Romane auf Migrationsbewegungen, wobei — mit Ausnahme von Kasalé — Haiti nicht als isolierter Ort, sondern mit dem Rest der Welt durch Beziehungen, Reisen und Migration verbundener Raum inszeniert wird. Die Thematisierungen der Welt bzw. des Weltgeschehens sind dabei nicht selten mit einer Kritik an globalen Machtgefällen und Ungleichheiten verbunden, die sich bei Trouillot 5.3 In Erwartung einer Belle amour humaine 313 <?page no="314"?> als explizite Kritik am Tourismus zeigt. Trotz dieser in die Texte eingespeisten Kritik, eine Auseinandersetzung mit der Duvalier-Diktatur und dem Rekurs auf eine nationale (Widerstands)Geschichte, ist zu beobachten, dass in den untersuchten Texten der revolutionäre Befreiungsdiskurs der 1960er und 70er Jahre nicht mehr greift. Ungeachtet der eindeutigen Referenzen an diese Zeit und den Raum, den widerständige Praktiken und politische Opposition als vergemeinschaftendes Moment einnehmen, zeugen die Texte von Desillusion, Enttäuschung und Nostalgie. Aus der Sicht von Dalemberts Ich-Erzähler, aber auch aus der Perspektive von Normand, Rodrigue und Anaïses Mutter scheint die Revolution, und mit ihr die Hoffnung auf radikale Veränderung, endgültig gescheitert und durch negative Gefühle abgelöst worden zu sein. Diese Tendenz lässt sich in allen vier Texten ablesen, wenngleich Dalembert und Trouillot noch stärker an der Möglichkeit einer politischen, widerständigen Bewegung festhalten. Revolutionäre Befreiungsdiskurse scheinen damit vorläufig geschei‐ tert zu sein — sie verbleiben als nostalgischer Rest— konviviale Entwürfe sind jedoch weiterhin vorhanden. Daraus lässt sich ableiten, dass politische Rückschläge und Enttäuschungen sehr wohl ihren Eingang in die Literatur nach 1986 gefunden und die Empfäng‐ lichkeit für Befreiungsdiskurse — wie sie für Jean-Bertrand Aristide charakte‐ ristisch waren —eingebüßt haben. Der rurale Raum wird als Ort privilegiert, an dem und von dem aus neue bzw. zukünftige Formen des Zusammenlebens gedacht und gelebt werden können. Dabei ist die Distanz zu den städtischen und staatlichen Strukturen nicht gleichbedeutend mit Isolation, sondern geht einher mit einer Vernetzung mit anderen Weltteilen durch Migrationsbewegungen und (Widerstands-)Geschichten sowie der Bereitschaft ‚Fremde‘ aufzunehmen. Staatliches Handeln wie auch westliche, (neo)liberale Paradigmen erscheinen zu keinem Zeitpunkt als Lösung für die materiellen, politischen und sozialen Probleme, vielmehr werden Veränderungen der unmittelbaren Lebensrealität ‚von unten‘ angestrebt, ohne allerdings auf einen radikalen Umsturz abzuzielen. Gleichwohl formuliert die Literatur durchaus Visionen eines zukünftigen, egalitären Zusammenlebens, dass sowohl von vergangenem Unrecht wie der Diktatur als auch von eurozentrischen, (neo)liberalen Vereinnahmungen Dis‐ tanz nimmt und neue Beziehungen zwischen Individuum und Kollektiv, Mensch und Natur anstrebt. Die Dringlichkeit neuer Beziehungen besteht dabei jedoch nicht nur für das post-diktatoriale Haiti, sondern kann auch, angesichts der Krisenhaftigkeit der Gegenwart und ihren diversen sozialen, ökologischen, politischen und ökonomischen Herausforderungen, für die restliche Welt reklamiert werden. Die Notwendigkeit dieses zu tun, ergibt sich nicht nur aus dem Anspruch Haiti 314 5 Fazit <?page no="315"?> nach der langen Zeit der Ignoranz, Verachtung und des Paternalismus westlicher Mächte, einen angemessenen Platz in der Globalgeschichte einnehmen zu lassen, sondern auch aus der Dringlichkeit, theoretischen, literarischen und weiteren Formen der Wissensproduktion außerhalb Europas und Nordamerikas mehr Bedeutung zu verschaffen. Es ist es an der Zeit die Kohabitation des gleichen Planeten in eine Form der Konvivenz zu verwandeln, die die existentielle Interdependenz menschlicher Existenz anerkennt und diese weder in konkurrierenden, monströsen Individua‐ lismen noch in repressiven, eindimensionalen und abgeschlossenen Kollektiven aufzulösen sucht. Die haitianische Literatur kann hier theoretische Ansätze erweitern, Grenzen und Möglichkeiten neuer sozialer Formen erkunden und liefert so wichtige Impulse für das unabgeschlossene Projekt eines humaneren, egalitären und dekolonialen Zusammenlebens. Dabei ist die Literatur Zeugin der Verwüstungen, Verluste und Enttäuschungen, die das Projekt der Konvivenz über die Jahrhunderte davongetragen hat und verbleibt zugleich ein Ort, an dem die Hoffnung auf ein Zeitalter der ‚Belle amour humaine‘, nie gänzlich aufgegeben wird. 5.3 In Erwartung einer Belle amour humaine 315 <?page no="317"?> 6 Danksagung La vie n‘est jamais rien qu‘un ouvrage collectif (Trouillot 2011: 131). Das Leben ist niemals etwas anderes als ein kollektives Werk, schreibt Lyonel Trouillot in La belle amour humaine und dieser Satz trifft auch auf die vorlie‐ gende Studie zu. Diese wäre ohne die Zeit, die Anregungen, die Kritik und die Unterstützung ganz unterschiedlicher Menschen so niemals möglich gewesen und dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Vor allem möchte ich mich ganz herzlich bei Prof. Dr. Natascha Ueckmann bedanken, die durch ihre einmalige, anregende und engagierte Betreuung, aber auch durch die Offenheit und Herzlichkeit, mit der sie mich auf meinem akademischen Weg unterstützt hat, sehr viel zu dem Abschluss dieses For‐ schungsprojektes beigetragen hat. Ebenso bedanken will ich mich bei Prof. Dr. Gisela Febel, insbesondere für ihre intellektuelle Begleitung und die hoch‐ produktiven Fragen und Kommentare, die mir immer wieder Blickachsen in intellektuelles Dickicht geschlagen und mich vorangebracht haben. Des weiteren gilt mein Dank den anderen Mitgliedern des Forschungsprojektes Transatlantische Ideenzirkulation und -transformation: Die Wirkung der Aufklä‐ rung in den neueren frankokaribischen Literaturen: Prof. Dr. Ralph Ludwig für sein unerschöpfliches Wissen über den frankokaribischen, kreolen Raum und die verlässlichen Literaturtipps, Dr. Marie-Thèrese Mäder für die verlässlichen Lektorate und lange Telefonate, Johanna Nuber für das Teilen ihres Wissens und ihrer Ressourcen und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der Universität Bremen, die die notwendigen Strukturen bereitgestellt haben. Ein großes Danke an Dr. Florian Kappeler für germanistisches Backup, Lese- und Diskussionsbereitschaft, an Dr. Alexander Neupert-Doppler und Dr. Lisa Doppler, für Textlektüren, theoretischen Input, und das schöne Beispiel wie Denken aussehen kann und an Linn Brunke für die Geduld, tatsächlich jeden einzelnen Satz zu lesen! Un grand merci à Junior Borgella pour les indications décisives, les traductions, le partage, pour la patience face aux questions infinies et pour tout le reste. Und ganz generell, danke auch an Dagmar Brunke, Jürgen Brunke, Hannelore Kischer†, Helga Brunke† und all jene Menschen aus Haiti, Deutschland und Frankreich, die auf die eine oder andere Weise zu dieser Studie beigetragen haben. Merci, Danke, Mèsi anpil <?page no="319"?> 7 Bibliografie Ackermann, Irmgard (2007): „Parallelismus“, in: Günther Schweikle und Irmgard Schweikle: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, S.-570. Adichie, Chimamanda Ngozi (2009): The danger of a single story. Ted Talk. Online verfügbar unter https: / / www.hohschools.org/ cms/ lib/ NY01913703/ Centricity/ Doma in/ 817/ English%2012%20Summer%20Reading%20-%202018.pdf, zuletzt geprüft am 12.10.2020. 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Jahrhunderts 2016, 250 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8043-6 Band 41 Sara Izzo Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext 2016, 358 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8059-7 Band 43 Herbert Huesmann Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots Eine literarische Suchbewegung 2017, 550 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8125-9 Band 44 Elisabeth Schulze-Witzenrath Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute 2017, 422 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8162-4 Band 45 Martina Stemberger La Princesse de Clèves, revisited Re-Interpretationen eines Klassikers zwischen Literatur, Film und Politik 2018, 699 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8187-7 Band 46 Rita Schober - Vita. Eine Nachlese Ediert, kommentiert und mit Texten aus Archiven und dem Nachlass erweitert von Dorothee Röseberg 2018, 366 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8227-0 Band 47 Susanne Becker Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé 2019, 311 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8289-8 Band 48 Dietmar Hüser / Ansbert Baumann (Hrsg.) Migration|Integration|Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs in den langen 1960er Jahren 2020, 300 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8294-2 Band 49 Andreas Gelz / Christian Wehr Biofictions ou la vie mise en scène Perspectives intermédiales et comparées dans la Romania 2022, 263 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8376-5 Band 50 Olivier Baisez / Pierre-Yves Modicom / Bénédicte Terrisse (Hrsg.) Empörung, Revolte, Emotion Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies 2022, 277 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8492-2 Band 51 Luise Hertwig Bibliodiversität im Kontext des französischen Ehrengastauftritts Francfort en français auf der Frankfurter Buchmesse 2017 Die ganze Vielfalt des Publizierens in französischer Sprache? 2023, 458 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-381-10211-2 Band 52 Lisa Brunke Banm yon ti limyè: Vergemeinschaftung und Zusammenleben in haitianischen Romanen nach 1986 2024, 349 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-381-10881-7 <?page no="353"?> lendemains ISBN 978-3-381-10881-7 1986 endete in Haiti die gewaltvolle Duvalierdiktatur. In den darauffolgenden Jahrzehnten setzt sich die haitianische Literatur nicht nur mit der vergangenen Gewalt auseinander, sondern sucht auch nach neuen Formen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung. Dieser Suche geht die vorliegende literaturwissenschaftliche Studie anhand der vier französischsprachigen, haitianischen Romane Passages von Emile Ollivier, Kasalé von Kettly Mars, L’île du bout des rêves von Louis-Philippe Dalembert und Lyonel Trouillots La belle amour humaine nach. Im Fokus steht dabei auch das Fortwirken von Einflüssen aus der Aufklärung und der Haitianischen Revolution von 1804. Brunke Banm yon ti limyè Lisa Brunke Banm yon ti limyè: Vergemeinschaftung und Zusammenleben in haitianischen Romanen nach 1986 edition lendemains 52